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Finnland
= Finnland = Finnland (finnisch [ˈsuɔmi], schwedisch Finland [ˈfɪnland]), amtlich Republik Finnland (finnisch Suomen tasavalta, schwedisch Republiken Finland), ist eine parlamentarische Republik in Nordeuropa, seit 1995 Mitglied der Europäischen Union und seit April 2023 Mitglied der NATO. Finnland grenzt an Schweden, Norwegen, Russland und die Ostsee. Mit etwa 5,5 Millionen Einwohnern auf einer Fläche fast so groß wie Deutschland gehört Finnland zu den am dünnsten besiedelten Ländern Europas. Der Großteil der Bevölkerung lebt im Süden des Landes mit der Hauptstadt Helsinki sowie den Großstädten Espoo, Tampere, Vantaa und Turku. Die beiden Amtssprachen sind Finnisch und Schwedisch, wobei 88,7 % der Bevölkerung finnisch- und 5,3 % schwedischsprachig sind (siehe unten). Die einsprachig schwedische Inselgruppe Åland hat einen weitreichenden Autonomiestatus. Seit dem Ende der letzten Kaltzeit ist Finnland nachweislich von Menschen besiedelt. Ab der Völkerwanderungszeit kam Finnland über den sich ausweitenden Ostseehandel stärker in Kontakt mit dem übrigen Europa; im Hochmittelalter wurde es christianisiert. Finnland war jahrhundertelang ein Teil Schwedens. Es geriet im 18. Jahrhundert zunehmend in den Einflussbereich des expandierenden Russischen Kaiserreiches und wurde ihm 1809 als Großfürstentum Finnland eingegliedert. Mit der Einführung des Frauenwahlrechts 1906 war Finnland das erste Land in Europa, in dem das aktive Frauenwahlrecht auf nationaler Ebene eingeführt wurde, und weltweit war es nach Neuseeland und Australien der dritte Staat. Beim passiven Wahlrecht ist Finnlands Spitzenstellung noch deutlicher: Erstmals weltweit wurden Frauen in ein Parlament gewählt. Der Sturz des russischen Zaren (Nikolaus II. dankte Mitte März 1917 ab) und die Oktoberrevolution 1917 ermöglichten Finnland die Loslösung von Russland. Am 6. Dezember 1917 beschloss das finnische Parlament die finnische Unabhängigkeitserklärung. == Geographie == Das Staatsgebiet liegt in Fennoskandinavien und hat eine Fläche von 338.472 km². Davon sind 303.948 km² Landfläche und 34.524 km² Binnengewässer, dazu kommt eine Meeresfläche von 52.433 km². Finnland ist somit etwas kleiner als Deutschland (357.588 km²). Auf einer geographischen Breite zwischen 60° und 70° liegend, zählt es zu den nördlichsten Ländern der Erde. Ein Drittel Finnlands liegt nördlich des Polarkreises. Die Nord-Süd-Ausdehnung des finnischen Festlandes beträgt von Nuorgam bis Hanko 1157 km, die längste Ost-West-Distanz von Ilomantsi nach Närpes 542 km. Bei der Gliederung des Landesgebiets wird bereits etwa ab der Höhe des Oulujärvi (deutsch auch Oulusee, nordwestlich der Stadt Kajaani) von Nordfinnland gesprochen. So kann Oulu, genau in der Mitte des Landes gelegen, als nordfinnische Stadt bezeichnet werden; die Landschaft um Jyväskylä heißt trotz ihrer südlichen Lage Mittelfinnland. Die längste Staatsgrenze ist die 1344 km lange Grenze zwischen Finnland und Russland. Im Norden grenzt Finnland über 736 km an Norwegen. Die 614 km lange Grenze zu Schweden im Nordwesten bilden die Flüsse Könkämäeno, Muonionjoki und Tornionjoki. Weitere 1250 km sind Seegrenzen.Im Westen und Süden grenzt Finnland an Nebenmeere der Ostsee, im Westen an den Bottnischen Meerbusen, im Süden an den Finnischen Meerbusen. Fast alle finnischen Flüsse und Seen gehören zum Einzugsbereich der Ostsee, nur der jenseits des Maanselkä gelegene äußerste Nordosten des Landes entwässert zum Nordpolarmeer. Durch die geringe Verdunstung und den steten Süßwasserzufluss sind die Meeresgewässer Finnlands wesentlich weniger salzig als die Weltmeere: Mit einer Salinität von weniger als 0,3 % ist etwa die Bottenwiek, der nördliche Teil des Bottnischen Meerbusens, so brackig, dass sich auch Süßwasserfische in ihr finden. Das hervorstechendste Merkmal der Landschaft Finnlands ist ihr Seenreichtum, der dem Land auch den Beinamen Land der tausend Seen eingebracht hat. Nach offizieller Zählung gilt ein Binnengewässer mit einer Fläche von mindestens 5 Ar als See, so dass das finnische Umweltministerium die Zahl der finnischen Seen auf 187.888 beziffert; rund 56.000 Seen haben eine Größe von mindestens einem Hektar. Die Gesamtlänge der Ufer der finnischen Seen beträgt mindestens 186.700 km, die Anzahl der Binneninseln beläuft sich auf 98.050. === Geologie === Der Felssockel Finnlands besteht überwiegend aus den präkambrischen Gesteinen des Baltischen Schildes (Gneise, Granite und Schiefer). Gebirgsbildungen liegen in Finnland rund eine Milliarde Jahre zurück, sodass sich das Relief heute recht flach darstellt. Nur vereinzelt haben besonders harte Quarzite der Erosion so weit standhalten können, dass sie sich als Berge von der Umgebung abheben. Die heutige Landschaft ist entscheidend durch die Gletscher im Eiszeitalter geprägt worden. Gletscher bedeckten bis vor rund 10.000 Jahren das gesamte heutige Finnland, trugen Gesteine ab und schufen bei ihrem Rückzug weitläufige Moränenlandschaften, die wiederum durch Schmelzwasser umgeformt wurden. Typische glazial geprägte Landschaftsformen sind Rundhöcker als Abtragungsform, Drumlins und Oser als Aufschüttungsformen. In Moränenrücken wie dem Suomenselkä im Westen und dem Salpausselkä im Süden erreichen die glazialen Sedimente eine Mächtigkeit von teils über 100 Metern. Das Schmelzwasser bildete mit dem Ende der Eiszeit den Ancylussee, den Vorläufer der heutigen Ostsee, und bedeckte weite Teile des Landes. Dieses Gewässer brach vor 7000 Jahren zur Nordsee durch. Durch den Rückgang des Wasserspiegels und die gleichzeitige isostatische Landhebung erhoben sich in den folgenden Jahrtausenden immer weitere Landmassen aus den Fluten. Im Binnenland sammelte sich Schmelzwasser in Gletschermulden und älteren Verwerfungen, wodurch die finnischen Seen entstanden. Die anhaltende Landhebung ist noch heute ein landschaftsformender Prozess. So steigt die Meeresküste Österbottens um bis zu 8 Millimeter pro Jahr aus der Ostsee hervor. Dort kommt es aus diesem Grund auch fast jedes Frühjahr zu Überschwemmungen, weil die Flüsse zur Küste hin kaum noch Gefälle haben und sich Schmelzwasser im Binnenland staut. Auch mussten im Laufe der letzten Jahrhunderte Städte wie Pori und Vaasa teils mehrfach um einige Kilometer nach Westen verlegt werden, da ihre Häfen verlandeten. Das am weitesten verbreitete Sediment an der Oberfläche ist der Till, auch dies ein Erbe der Eiszeit. Da es in Finnland nur an wenigen Stellen Kalkstein oder Marmor gibt, sind die glazialen Ablagerungen oft kalkfrei. Die daraus entstandenen Böden neigen daher zur Versauerung. In den tieferliegenden Regionen, die in der Ancylusseephase und den späteren Ostseevorläufern unter Wasser lagen, sind die glazialen Sedimente oft von Seeablagerungen überdeckt worden. Diese sind hingegen meistens karbonathaltig. Dank dieser fruchtbaren Lehmböden, aber auch wegen des vergleichsweise milden Klimas konzentriert sich der Getreideanbau auf die Küstenregionen West- und Südfinnlands. Im Binnenland sind die Böden durch Bodenversauerung und Vertorfung wenig für den Ackerbau geeignet und machen einen verstärkten Einsatz von Düngekalk erforderlich, der in mehreren Kalksteinbrüchen wie in Pargas, Lohja und Lappeenranta gefördert wird. Während die finnischen Eisenerzlagerstätten fast erschöpft sind, finden sich noch bedeutende Vorkommen an Kupfer, Nickel, Zink und Chrom. In den 1860er Jahren folgte auf den Fund von Gold im Flusssand des Kemijoki ein regelrechter Goldrausch in Lappland. Bis heute wird an den Flüssen Lapplands teils durch Handwäsche, teils industriell Gold gewaschen, eine große Untertagemine befindet sich in Pahtavaara bei Sodankylä. Weitere, größtenteils noch unerschlossene Goldvorkommen sind über das gesamte Land verteilt, zuletzt wurde 1996 bei Kittilä eine auf Vorräte von 50 Tonnen Gold geschätzte Lagerstätte entdeckt. Außerdem ist Finnland der größte europäische Exporteur von Talk. Dieses vor allem in der Papierindustrie benötigte Mineral wird derzeit in Sotkamo und Polvijärvi in großem Umfang abgebaut. Weitere in Finnland gewonnene Industrieminerale sind Wollastonit, Dolomit, Apatit, Quarz und Feldspat. === Klima === Das finnische Klima ist kaltgemäßigt. Finnland liegt an der Grenze zwischen maritimer und kontinentaler Klimazone. Die Tiefdruckgebiete der Westwindzone können feuchte und wechselnde Wetterlagen mit sich bringen. Andererseits schirmt das Skandinavische Gebirge Finnland vom Atlantik ab, sodass stabile kontinentale Hochdruckzonen für kalte Winter und vergleichsweise heiße Sommer sorgen. Die Ostsee, die Binnenseen und insbesondere der Golfstrom machen durch ihren mäßigenden Einfluss das Klima in Finnland deutlich milder als in anderen Orten auf denselben Breitengraden. Kuopio liegt etwa auf derselben Breite wie das sibirische Jakutsk, hat aber eine um fast 13 °C höhere Jahresdurchschnittstemperatur. Die Niederschlagssumme beträgt in Südfinnland 600–700 mm. Im Norden ist sie deutlich niedriger, was aber durch die geringe Verdunstung aufgrund der kühlen Temperaturen kompensiert wird. Der wenigste Niederschlag fällt im ganzen Land im März, der meiste im Juli oder August. Das Klima des Landes wird wegen der Nord-Süd-Ausdehnung von über 1000 Kilometern nach Norden hin deutlich kälter. Während die durchschnittliche Jahrestemperatur im Süden 5 °C beträgt, so sind es im Norden Finnisch-Lapplands nur noch −2 °C. Auch die Dauer der thermischen Jahreszeiten ist stark von der Lage abhängig: Dauert der Winter im südwestfinnischen Schärengebiet nur 100 Tage, herrscht er in Lappland bis zu 200 Tage lang. Im kältesten Monat, dem Januar oder Februar, liegt die Durchschnittstemperatur zwischen −4 und −14 °C. Die kälteste jemals in Finnland gemessene Temperatur betrug −51,5 °C in Pokka bei Kittilä am 28. Januar 1999. Eine bleibende Schneedecke fällt meist zwischen Ende Oktober und Anfang Januar. Sie entwickelt eine Dicke von 20–30 cm im Süden bzw. 60–90 cm im Osten und Norden und schmilzt zwischen Ende März und Ende Mai. Die Seen frieren zwischen November und Dezember zu und tauen oft erst zwischen Mai und Juni wieder auf. In kalten Wintern können der Bottnische und der Finnische Meerbusen fast vollständig zufrieren und müssen mit Eisbrechern freigehalten werden. Der Sommer dauert in Südfinnland von Ende Mai bis Mitte September, in Lappland beginnt er einen Monat später und endet einen Monat früher. Die Temperaturunterschiede zwischen Nord- und Südfinnland sind im Sommer bei Durchschnittstemperaturen zwischen 12 und 17 °C im Juli weniger stark ausgeprägt. In Süd- und Mittelfinnland gibt es zwischen 10 und 15 Sommertage, an denen die Temperatur über 25 °C steigt, im Norden und an den Küsten sind es 5–10. Die höchste jemals in Finnland gemessene Temperatur betrug 37,2 °C am 28. Juli 2010 in Liperi.In den Gebieten nördlich des Polarkreises scheint im Sommer die Mitternachtssonne, im Winter herrscht die Polarnacht (kaamos). Zur Zeit der Sommersonnenwende wird es selbst im Süden des Landes nicht vollkommen dunkel (sogenannte weiße Nächte), in Utsjoki an der Nordspitze Finnlands geht die Sonne 73 Tage lang gar nicht unter. Entsprechend steigt dort im Winter die Sonne für 51 Tage kein einziges Mal über den Horizont; auch in Südfinnland geht sie am kürzesten Tag nur für sechs Stunden auf. Vor allem im Norden erscheinen im Winter Polarlichter. === Naturräume === Finnland lässt sich in fünf landschaftliche Großräume einteilen: die Küstenebenen Südfinnlands, die Küstenebenen Österbottens, die Finnische Seenplatte im Landesinneren, das Finnische Hügelland im Osten und Lappland im Norden. Die südfinnische Küstenebene erstreckt sich von Satakunta über Uusimaa bis zur russischen Grenze. Sie ist vergleichsweise arm an Seen und landwirtschaftlich geprägt. An der Westküste schließt sich der Großraum Österbottens an. Das flache Gebiet wird von zahlreichen Flüssen durchschnitten und wird ebenfalls intensiv landwirtschaftlich genutzt. Die Küste Finnlands ist eine reich gegliederte Schärenküste mit einer Gesamtlänge von fast 40.000 km und über 73.000 Inseln mit einer Größe von mindestens 500 m². Gemessen an ihrer Anzahl stellen die Inseln des Schärenmeers vor Turku den größten Archipel der Welt dar. Die Inseln der autonomen Inselgruppe Åland liegen zwischen 15 und 100 km vom finnischen Festland entfernt. Die Moränenrücken Salpausselkä im Süden und Suomenselkä im Westen sind die beiden Hauptwasserscheiden des Landes und trennen die Küstengebiete von der Finnischen Seenplatte (Järvi-Suomi) im Landesinneren. Das moor- und waldreiche Gebiet ist mit seinen ca. 42.200 Seen die größte Seenplatte Europas. Binnengewässer bedecken hier rund 18 % der Gesamtfläche. Hier haben auch die wichtigsten Ströme der südlichen Landeshälfte, der Kokemäenjoki, der Kymijoki und der Vuoksi, ihren Ursprung. Der größte See des Landes ist mit einer Fläche von rund 4400 km² der stark zergliederte Saimaa-See im Südosten. Das Finnische Hügelland (Vaara-Suomi) erstreckt sich im Osten des Landes von Nordkarelien über Kainuu bis in die südlichen Teile Lapplands. Charakteristisch sind die zahlreichen Anhöhen, von denen sich aber nur einzelne wie der Koli (347 m) in Nordkarelien als Berge von der Umgebung abheben. Im Norden geht das Hügelland in den Großraum Lapplands über. In Lappland dominieren weitläufige Wald- und Moorlandschaften, aus denen sich baumlose Fjells (tunturi) wie der Pallastunturi (807 m), der Yllästunturi (718 m) oder der Pyhätunturi (540 m) erheben. Die Gegend um den Inarijärvi in Nordostlappland weist eine hohe Seendichte auf. Der längste Fluss Finnlands ist mit rund 560 km der Kemijoki, der einen großen Teil Finnisch-Lapplands entwässert. Seine Quellflüsse entspringen wie die der anderen großen Flüsse Nordfinnlands (Tornionjoki, Iijoki und Oulujoki) in den Höhenlagen an der finnischen Nord- und Ostgrenze. Im Norden Lapplands steigt das Gelände zum Skandinavischen Gebirge hin an. An seinem Hauptkamm hat Finnland jedoch nur im äußersten Nordwesten in der Gemeinde Enontekiö Anteil. Hier liegen auch alle Eintausender des Landes. Die höchste Erhebung Finnlands ist mit 1324 m der Haltitunturi unmittelbar an der Grenze zu Norwegen. == Natur == In Finnland kamen um 2002 rund 42.000 Arten von Tieren, Pflanzen und Pilzen vor, darunter 65 Säugetierarten. Alles in allem ist die Artenvielfalt geringer als in südlicheren Gebieten, die Wildnis Finnlands bietet aber zahlreichen Tieren Lebensraum, die im Rest Europas selten anzutreffen sind. Das Jedermannsrecht gestattet in Finnland allen Menschen, sich unter bestimmten Einschränkungen frei in der Natur zu bewegen. Auch das Sammeln von Beeren und Pilzen und das Angeln sind gestattet. Jagd und Fischerei sind in Finnland weit verbreitete Beschäftigungen. Sechs Prozent der finnischen Bevölkerung besitzen eine Jagdlizenz. === Flora === Finnland ist das waldreichste Land Europas: 86 % der Landfläche sind bewaldet. Dabei treten von Norden nach Süden drei Vegetationszonen auf. Der größte Teil Finnlands gehört zur borealen Nadelwaldzone (Taiga). Kennzeichnend sind die kurze Vegetationsperiode, nährstoffarme Böden, auf denen die Bäume nur langsam wachsen, das Vorherrschen von Nadelholzgewächsen und eine geringe Anzahl an Baumarten. Es dominieren Kiefern (50 %) und Fichten (30 %), die häufigste Laubbaumart ist die Birke (16,5 %). Der Boden ist mit Blaubeersträuchern und Moosen bedeckt, nach Norden hin auch mit Flechten. Nur an der Südwestküste und auf den vorgelagerten Schären herrschen Mischwälder vor. Hier wachsen auch Baumarten, die in Finnland sonst nicht vorkommen, wie die Eiche. Der äußerste Norden Lapplands ist weitgehend baumlos, in niedrigen Lagen wachsen nur noch gedrungene Birken, in höheren Lagen herrscht eine tundraartige Vegetation vor. Ein Drittel der Landesfläche Finnlands bestand ursprünglich aus Moorland, etwa die Hälfte dieser Fläche wurde in den vergangenen Jahrhunderten zur Kulturlandgewinnung trockengelegt. Im Süden dominieren torfreiche Hochmoore, nördlich davon Aapamoore. Der größte Teil des Moorlandes ist mit Bruchwäldern bedeckt. === Fauna === Elche sind trotz intensiver Bejagung in ganz Finnland sehr zahlreich. Obwohl alljährlich über ein Drittel der Elche erlegt wird, bleibt der Bestand nach Ablauf der Jagdsaison stabil bei über 100.000 Tieren. Für den Straßenverkehr stellt die große Elchpopulation eine Gefahr dar, weil es immer wieder zu Unfällen mit den Tieren kommt. Im Norden des Landes trifft man allenthalben Rentiere an. Die rund 200.000 Rentiere sind halbdomestiziert und laufen das Jahr über frei herum, im Spätherbst treiben ihre Besitzer die Tiere zusammen und suchen die Schlachttiere heraus. Weitaus seltener ist das wilde Waldren. Einst in weiten Teilen Finnlands verbreitet, wurde es Ende des 19. Jahrhunderts ausgerottet, ehe seit den 1950er Jahren wieder eine kleine Population aus Russland nach Kainuu und Nordkarelien einwanderte. In Süd- und Westfinnland sind aus Amerika eingebrachte Weißwedelhirsche in größerer Zahl heimisch geworden. Die Raubtierpopulationen wachsen durch den Erfolg von Schutzmaßnahmen schon seit Jahren; die Anzahl der Braunbären und Luchse liegt heute bei je über 1000 Individuen, die der Wölfe bei etwa 200. Inzwischen dürfen sie wieder in begrenztem Maße bejagt werden. Im finnischen Teil Lapplands lebt eine Restpopulation von etwa 150 Vielfraßen. Der Polarfuchs war einst im ganzen Land recht häufig, wurde aber durch Pelzjäger zu Beginn des 20. Jahrhunderts fast ausgerottet. Der Rotfuchs ist hingegen bis heute sehr häufig anzutreffen, seit einigen Jahrzehnten auch der Marderhund, der sich von Russland aus verbreitet hat. Die Saimaa-Ringelrobbe kommt weltweit nur im Saimaa-Seengebiet vor. Diese seltene Süßwasser-Unterart der Ringelrobbe konnte durch gezielte Schutzmaßnahmen vor dem Aussterben gerettet werden und ist daher auch das Symboltier des Naturschutzes in Finnland. Besonderen Schutz genießt auch das Gleithörnchen, das in der Europäischen Union nur in Finnland und Estland vorkommt. Zur Vogelwelt Finnlands gehören über 430 Arten, darunter Steinadler und Seeadler, daneben Hühnervögel wie Auerhuhn, Birkhuhn, Haselhuhn und Moorschneehuhn sowie zahlreiche Wasservogelarten. Aufgrund der zahlreichen Gewässer, vor allem der Finnischen Seenplatte, besitzt Finnland mit 67 Spezies eine bemerkenswerte Fischfauna. Bei Sportfischern sind vor allem Hechte (finnisch ‚hauki‘), Barsche und Zander, die in den vielen Binnengewässern und der salzarmen Küstenregion der Ostsee in großen Mengen und Gewichten abwachsen, beliebt. Raubfische genießen wegen ihres starken Bestandes in Finnland keine Schonzeit, so dass sie auch im Winter beim Eisangeln erbeutet werden können. Auch spielen Salmoniden wie Bachforelle, Arktische Äsche, Lachs, Seesaibling, Amerikanischer Seesaibling, Meerforelle und Regenbogenforelle eine große Rolle für den Angeltourismus und die kommerzielle Fischerei. Von untergeordneter Bedeutung sind Friedfische wie Karpfen, aufgrund ihres hohen Wärmebedürfnisses nur in wenigen Gewässern im Süden des Landes vorkommend, Brassen, Rotaugen, Rotfedern, Alande und Schleien. Im Freiwasser der großen Seen trifft man Felchen und Maränen an. Weitere Fischarten sind Aalquappe, Stint, Laube, Hasel, Zährte, Güster, Döbel und Karausche. == Geschichte == === Ur- und Frühgeschichte === Die früheste sicher nachgewiesene Besiedlung auf dem Gebiet des heutigen Finnland stammt aus der Zeit nach Ende der letzten Eiszeit rund 8500 v. Chr. Ursprung und Sprache der frühesten Bewohner Finnlands sind unklar. Durch Zuwanderung in den folgenden Jahrtausenden wurden neue Kulturen eingeführt, und spätestens um 5000 v. Chr. sprachen die Bewohner Finnlands hauptsächlich frühe finno-ugrische Sprachen. Um 3200 v. Chr. sickerten Zuwanderer aus dem baltischen Raum ein, die eine frühe indogermanische Sprache sprachen, sich allmählich mit der Stammbevölkerung vermischten und deren Sprache annahmen. Der sprachliche Einfluss der Zuwanderer war mitverantwortlich für die Herausbildung des Unterschiedes zwischen der urfinnischen Sprache im Küstengebiet und der samischen Sprache im Binnenland. Die Wurzeln der finnischsprachigen Bevölkerung waren Gegenstand wiederholter Kontroversen und können bis heute nicht als geklärt gelten. Nach traditioneller Auffassung wird das Gebiet östlich des Urals oder die Gegend der Wolgaschleife für die Urheimat der Finnen gehalten. In der neueren Forschung überwiegt die Ansicht, dass die Vorfahren der Finnen vor Jahrtausenden in mehreren Wellen aus verschiedenen Richtungen einwanderten, eine Jagd- und Ackerbaukultur einführten und die jagenden und sammelnden Samen nach Norden verdrängten oder mit diesen verschmolzen. Die steinzeitliche Bevölkerung Finnlands bestand aus Jägern und Sammlern. Im Südwesten herrschte die Suomusjärvi-Kultur, die zwischen ca. 5000 und 4200 v. Chr. von der Kultur mit Kamm-Grübchen-Keramik abgelöst wurde. Ab ca. 3200 v. Chr. werden Ausläufer der Schnurkeramik-Kultur in den südwestlichen Küstengebieten angenommen, die ab ca. 2300 v. Chr. in die Kiukainen-Steinhügelgräber-Kultur übergeht. Mit der Bronzezeit um 1700 v. Chr. begannen, ausgehend von den Küstenregionen, Ackerbau und Viehzucht. Von 100 v. Chr. an nahm der Handel mit Mitteleuropa zu. Während der Zeit der Völkerwanderung kamen die finnischen Küstenregionen durch den Ostseehandel zu Wohlstand, der sich in der Zeit der Wikinger ab dem 8. Jahrhundert weiter verstärkte. Um die Jahrtausendwende verdichteten sich über den Osthandel die Beziehungen Ostfinnlands zu Nowgorod. Mit den Handelsverbindungen kam die Bevölkerung Finnlands auch in Kontakt mit dem christlichen Glauben, im Westen mit dem römisch-katholischen, im Osten mit dem orthodoxen. === Finnland als Teil Schwedens === Die Anbindung Westfinnlands an Schweden war ein allmählicher Vorgang. Die erstarkten Mächte Schweden und Nowgorod traten aus politischen, wirtschaftlichen und religiösen Gründen in Wettbewerb um das von den Finnen bewohnte Gebiet. Beide Staaten unternahmen ab dem 12. Jahrhundert mehrere mehr oder weniger militärische Kreuzzüge in die Region. Die Grenze zwischen beiden Mächten und damit die Ostgrenze Finnlands wurde erstmals 1323 im Vertrag von Nöteborg festgelegt. Die Tätigkeit der Kirche, die Siedlungsbewegungen schwedischer Einwanderer sowie die Reichsgesetzgebung und -verwaltung trugen dazu bei, dass die neuen Gebiete als Österland einer der vier festen Landesteile Schwedens wurden. Ab 1362 hatte Österland das Recht zur Teilnahme an der schwedischen Königswahl. Die Christianisierung Finnlands war mit der Gründung des Domkapitels Turku 1276 formell abgeschlossen, die alte Mythologie konnte sich aber noch für Jahrhunderte neben dem Christentum behaupten. Während des Mittelalters entstand in Finnland eine ständische Gesellschaft europäischen Stils, ein Städtewesen und eine katholische Kirchenorganisation. Vom Ende des 14. bis zu deren Zerfall Anfang des 16. Jahrhunderts war Finnland als Teil Schwedens Bestandteil der Kalmarer Union. In der Herrschaftszeit Gustavs I. Wasa von 1523 bis 1560 entwickelte sich Schweden zu einem starken Zentralstaat, der die Grundlage für die Großmachtstellung des Reiches im 17. Jahrhundert bildete. Ebenfalls unter Gustav Wasa wurde im Zuge der Reformation der Katholizismus durch das evangelisch-lutherische Bekenntnis abgelöst. Während der Großmachtperiode gelang es Schweden, sein Gebiet in Kriegen mit Dänemark, Polen und Russland im Umkreis der Ostsee zu erweitern. Finnland, das während dieser Zeit von Kriegshandlungen verschont blieb, wurde enger in die Reichsverwaltung integriert. Unter der Leitung des Generalgouverneurs Per Brahe des Jüngeren wurden mehrere Städte neu gegründet, in Turku die Akademie und ein Hofgericht geschaffen sowie ein Postwesen aufgebaut. Während des 18. Jahrhunderts schwand die Machtstellung Schwedens, besonders im Großen Nordischen Krieg (1700–1721), als Finnland russisch besetzt wurde (1714–1721). Nach Abschluss des Friedens von Nystad endete die Besetzung Finnlands, aber auch die Großmachtstellung Schwedens. In einem weiteren russisch-schwedischen Krieg, dem sogenannten Krieg der Hüte (1741–1743), wurde Finnland erneut besetzt, und im anschließenden Frieden wurde die russische Westgrenze bis an den Fluss Kymijoki vorgeschoben. === Finnland als Großfürstentum im Russischen Reich === Im Zuge des Vierten Koalitionskrieges verbündete sich Russland unter Zar Alexander I. mit Frankreich gegen Großbritannien und das mit diesem verbündete Schweden. 1808 griff Russland Schweden an und begann damit den Finnischen Krieg, als dessen Resultat Schweden im Vertrag von Fredrikshamn 1809 weite Gebiete an Russland abtreten musste. Zu diesen Gebieten gehörten neben dem damals die heutige Südhälfte Finnlands umfassenden Kernfinnland auch die Ålandinseln sowie Teile Lapplands und Västerbottens. Aus diesen und den bereits 1721 und 1743 eroberten Gebieten wurde das Großfürstentum Finnland gebildet, das Teil des Russischen Reiches war, aber eine weitgehende politische Autonomie genoss. Insbesondere wurden die hergebrachten schwedischen Gesetze ebenso wie in weiten Teilen die herrschende Verfassung aufrechterhalten. Auch blieb Finnland beim gregorianischen Kalender, der in Schweden 1753 eingeführt worden war. Helsinki wurde 1812 zur Hauptstadt erklärt (bis dahin Turku). Die erste Hälfte des 19. Jahrhunderts war von einer gewissen politischen Starre geprägt. Nach dem Landtag von Porvoo 1809, mit dem das russische Großfürstentum Finnland konstituiert wurde, wurde der Landtag als ständische Volksvertretung von den Zaren bis 1863 nicht mehr einberufen, die Politik konzentrierte sich auf die Verwaltung bei unveränderter Gesetzeslage. Während dieser Zeit erwachte aber auch ein finnisches Nationalbewusstsein und es wurden zahlreiche Anstrengungen zur Stärkung der finnischen Identität unternommen, ohne dass sich diese zunächst gegen die Zarenherrschaft gerichtet hätten. In der zweiten Hälfte des Jahrhunderts kam die finnische Politik in Bewegung, insbesondere durch die größere Freizügigkeit unter Zar Alexander II. Die Beseitigung hergebrachter Wirtschaftsbeschränkungen belebte die Wirtschaft. Ab den 1860er Jahren kam die Industrialisierung in Fahrt, angetrieben vor allem durch die Holzwirtschaft und die in großer Zahl gegründeten Sägewerke. Die hierdurch notwendige gesetzgeberische Tätigkeit wurde durch die ab 1863 regelmäßige Einberufung des Reichstags ermöglicht. Dem erstarkten finnischen Nationalbewusstsein traten ab dem Ende des 19. Jahrhunderts russische Bestrebungen einer Zentralisierung des Reiches und einer Russifizierung der zu diesem gehörenden Gebiete entgegen. Das sogenannte Februarmanifest Zar Nikolaus’ II. von 1899 schränkte die autonomen Rechte Finnlands spürbar ein. Dies hatte einen zähen politischen Konflikt zur Folge, zu dessen Zuspitzungen die Ermordung des Generalgouverneurs Nikolai Bobrikow 1904 und, im Zusammenhang mit der Russischen Revolution 1905, ein umfassender Generalstreik im Herbst 1905 gehörten. Infolge des Generalstreiks sagte Nikolaus die Wiederherstellung der Autonomie sowie die Schaffung einer nichtständischen Volksvertretung zu. 1905 beauftragte Zar Nikolaus II. den finnischen Senat, ein neues Gesetz auszuarbeiten, das das allgemeine Wahlrecht für Männer vorsehen sollte. Aufgrund der Proteste auf den Straßen und der Haltung der Sozialdemokraten nahm der eingesetzte Ausschuss auch das Frauenwahlrecht in seinen Gesetzentwurf auf. Am 20. Juli 1906 ratifizierte Nikolaus II. das Gesetz. Damit war Finnland das erste Land in Europa, in dem das aktive Frauenwahlrecht auf nationaler Ebene eingeführt wurde, und weltweit war es nach Neuseeland und Australien der dritte Staat. Beim passiven Wahlrecht ist Finnlands Spitzenstellung noch deutlicher: Erstmals weltweit wurden Frauen in ein Parlament gewählt. Zu dem 1907 neugeschaffenen Parlament hatten alle Finnen ab 24 Jahren gleiches Wahlrecht. Die während des Generalstreiks zutage getretenen politischen und sozialen Spannungen konnten jedoch nicht beseitigt werden. Die Russifizierungsbemühungen wurden 1909 wieder aufgenommen. Mit dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs, an dem finnische Soldaten, von einigen Freiwilligen abgesehen, nicht teilnahmen, kam das politische Leben aber zunächst zum Erliegen. === Unabhängigkeit und Kriege === Nach der Februarrevolution in Russland und der Absetzung des Zaren und der dadurch beendeten Personalunion wurde der Wunsch nach Unabhängigkeit immer größer. Als nach der Oktoberrevolution die neue russische Regierung den Völkern Russlands das Recht auf Sezession einräumte, erklärte das finnische Parlament am 6. Dezember 1917 Finnlands Unabhängigkeit. Diese wurde von Sowjetrussland am 18. Dezemberjul. / 31. Dezember 1917greg. und danach von zahlreichen anderen Staaten anerkannt. Den Ablösungsprozess von Russland begleiteten schwere innere Konflikte, die am 27. Januar 1918 in einem sozialistischen Umsturzversuch gipfelten. In einem dreimonatigen Bürgerkrieg behielten letztlich die bürgerlichen „Weißen“ die Oberhand. Im Jahr 1919 gab sich Finnland eine republikanische Verfassung. Mit Sowjetrussland wurde 1920 ein Friedens- und Grenzvertrag unterzeichnet, aufgrund dessen die Grenzen Finnlands mit dem früheren Großherzogtum übereinstimmten, Finnland aber zusätzlich das Gebiet Petsamo mit dessen eisfreiem Zugang zum Nordmeer zugestanden wurde. Im Verhältnis zu Schweden entstand Streit um die strategisch bedeutsamen Åland-Inseln. Eine Entscheidung des Völkerbundes sprach die Inseln schließlich 1921 Finnland mit der Maßgabe zu, dass sie eine weitgehende Autonomie erhielten. ==== Der Winterkrieg 1939/40 ==== Der 1939 geschlossene deutsch-sowjetische Nichtangriffspakt wies Finnland der sowjetischen Interessensphäre zu. Im Herbst 1939 konfrontierte die Sowjetunion Finnland mit Gebietsforderungen in der Karelischen Landenge und begründete das mit angeblich unabdingbaren Sicherheitsinteressen für Leningrad. Finnland widersetzte sich der Forderung, daraufhin griff die Rote Armee am 30. November 1939 das Nachbarland an mit dem mutmaßlichen Ziel der Besetzung des gesamten finnischen Staatsgebiets. Der kriegerische Überfall (Winterkrieg) wurde von den zahlen- wie materialmäßig deutlich unterlegenen finnischen Streitkräften zunächst gestoppt. Erst nach einer entscheidenden sowjetischen Offensive im Februar 1940 durchbrachen die sowjetischen Soldaten die finnischen Stellungen. Am 13. März 1940 kam es zu einem Friedensvertrag, bei dem Finnland zwar seine Unabhängigkeit bewahren konnte, aber große Teile Kareliens abtreten musste, darunter die damals zweitgrößte Stadt des Landes Wyborg. Die Finnen verloren insgesamt ca. 70.000 Menschen; die sowjetischen Verluste sind bis heute nicht geklärt. ==== Fortsetzungskrieg und Separatfriedensschluss mit der Sowjetunion 1941–1944 ==== Als Deutschland unter Bruch des Nichtangriffspakts am 22. Juni 1941 die Sowjetunion angriff, trat Finnland in Kooperation mit Deutschland in den Krieg ein, der in Finnland als Fortsetzungskrieg bezeichnet wird. Die finnische Armee eroberte nicht nur die verlorenen Gebiete zurück, sondern drang auch tief in das zur Sowjetunion gehörige Gebiet Ostkareliens ein. Mit den Erfolgen schien das Ziel erreichbar, die von vielen Finnen als Volksgenossen angesehenen ostseefinnischsprachigen Volksgruppen des Gebiets in einem Großfinnland zusammenzuführen. 1944 musste sich Finnland jedoch nach den Erfolgen der Roten Armee aus den besetzten Gebieten zurückziehen und sah sich erneut der drohenden sowjetischen Besetzung gegenüber. Am 19. September 1944 schloss es mit der Sowjetunion den Separatfrieden von Moskau, der den Fortsetzungskrieg beendete. Die Gebietsverluste des Winterkrieges wurden bestätigt, zudem musste das Gebiet Petsamo abgetreten werden. Der Separatfrieden verpflichtete Finnland, die deutschen Truppen aus dem Land zu vertreiben, und so schloss sich der finnisch-deutsche Lapplandkrieg an, in dessen Verlauf die sich zurückziehenden deutschen Truppen große Teile Lapplands völlig zerstörten. Der Krieg endete am 27. April 1945 mit dem Abzug der letzten deutschen Soldaten aus Kilpisjärvi. Der Kriegszustand mit den Alliierten wurde durch den Pariser Friedensvertrag von 1947 endgültig beendet. === Seit 1945 === In der Nachkriegszeit und insbesondere im Kalten Krieg nahm Finnland eine Sonderstellung im Spannungsfeld zwischen den Blöcken ein. Das Land hatte sich im Krieg seine Unabhängigkeit und die marktwirtschaftliche Wirtschaftsordnung bewahrt, die Sowjetunion behielt aber großen Einfluss auf die finnische Politik. Finnland verfolgte einerseits eine strikte Neutralitätspolitik, andererseits eine insbesondere durch Präsident Juho Kusti Paasikivi vorangetriebene Politik der Versöhnung mit der Sowjetunion. 1948 wurde mit der Sowjetunion ein Freundschafts- und Kooperationsabkommen geschlossen, das durch mehrmalige Verlängerung bis zum Ende der Sowjetunion in Kraft blieb. Konflikte mit dem östlichen Nachbarn wurden durch intensive, oftmals inoffizielle Kontakte der finnischen Politik mit Moskau vermieden. Diese Politik, die verschiedentlich den Eindruck des vorauseilenden Gehorsams erweckte, wurde hauptsächlich von westdeutschen Politikern der Unionsparteien pejorativ Finnlandisierung genannt. Der prägende Politiker im Nachkriegsfinnland war Urho Kekkonen, von 1956 bis 1982 Präsident der Republik Finnland. Er nutzte die seinerzeit weitreichenden verfassungsmäßigen Befugnisse des Präsidenten für einen autokratischen Führungsstil und betrachtete die Pflege der Beziehungen zur Sowjetunion weitgehend als seine Privatangelegenheit. 1973 ließ er seine Amtszeit durch ein parlamentarisches Ausnahmegesetz verlängern, obwohl an seiner Wiederwahl in den regulären Wahlen kaum ein Zweifel bestand. Insgesamt wird der Amtszeit Kekkonens daher ein Demokratiedefizit bescheinigt. Der Präsident konnte sich aber während der gesamten Periode der Unterstützung der Wählermehrheit sicher sein. Als einer seiner bedeutendsten Erfolge gilt die 1975 in Helsinki abgehaltene KSZE-Konferenz, die neben ihren Auswirkungen auf den Verständigungsprozess in Europa auch die Stellung Finnlands als neutraler Staat festigte. Der Zerfall der Sowjetunion stürzte Finnland, dessen Wirtschaft sich zu einem großen Teil auf den Osthandel stützte, Anfang der 1990er Jahre in eine schwere Wirtschaftskrise. Zugleich erhielt das Land größeren außenpolitischen Spielraum. 1992 nahm Finnland Verhandlungen über seinen Beitritt zur Europäischen Gemeinschaft auf, die 1995 in eine Vollmitgliedschaft in der heutigen Europäischen Union mündeten. Finnland war einer von zwölf Staaten, die zum 1. Januar 2002 den Euro als Bargeld einführten; er ersetzte die Landeswährung Finnische Mark. Durch die zunehmende Globalisierung nahm im Laufe der 2000er Jahre die Abhängigkeit der finnischen Wirtschaft vom Weltmarkt zu. Die Weltwirtschaftskrise 2009/10 traf Finnland relativ stark; 2009 ging das Bruttoinlandsprodukt um 8,3 % zurück. Trotz einer Erholung in den Folgejahren lag das BIP 2016 inflationsbereinigt immer noch unter dem von 2008.Der Überfall Russlands auf die Ukraine wurde auch in Finnland als eine Zäsur wahrgenommen. In Meinungsumfragen befürwortete nach Beginn des russischen Angriffskriegs auf die Ukraine eine deutliche Mehrheit der Finnen den Beitritt zur NATO. Am 12. Mai 2022 sprachen sich Premierministerin Sanna Marin und Präsident Sauli Niinistö in einer gemeinsamen Erklärung für den „unverzüglichen Beitritt“ ihres Landes zur NATO aus; nach einer Ankündigung am 15. Mai beantragten Finnland und Schweden am 18. Mai gleichzeitig die Mitgliedschaft in der NATO. Am 5. Juli 2022 unterzeichneten alle 30 NATO-Botschafter die Beitrittsprotokolle und bis zum 31. März 2023 ratifizierten die Parlamente aller NATO-Mitgliedsstaaten die Protokolle. Am 4. April 2023 trat Finnland der NATO bei. == Bevölkerung == === Demografie === Finnland hat eine Bevölkerung von etwa 5,5 Millionen Menschen und ist mit einer Bevölkerungsdichte von rund 16,3 Einwohnern pro Quadratkilometer dünn besiedelt. Dabei ist die Bevölkerung sehr ungleich verteilt. Während die nördliche Provinz Lappland mit 1,8 Einwohnern pro Quadratkilometer fast menschenleer ist, konzentrieren sich etwa 40 % der Bevölkerung auf die Provinz Südfinnland mit 62,6 Einwohnern pro Quadratkilometer. Allein rund 1,638 Millionen Menschen leben in der Landschaft Uusimaa rund um Helsinki. Weitere Ballungsräume sind die Städte Tampere, Turku und Oulu mit ihren Einzugsgebieten. Die Bevölkerungsentwicklung ist bis heute von einer andauernden, aber nicht gleichmäßig hohen Landflucht geprägt; vor allem junge Menschen ziehen zur Ausbildung und Arbeit in die Städte, wodurch die ländlichen Gemeinden besonders in Ost- und Mittelfinnland unter Bevölkerungsschwund und Überalterung zu leiden haben. Während zum Beispiel 2005 landesweit rund 36 % der Bevölkerung unter 30 Jahren alt war, waren es im ostfinnischen Suomussalmi nur 28 %. Das jährliche Bevölkerungswachstum betrug 2020 +0,1 %. Dieses wurde negativ durch einen Sterbeüberschuss und positiv durch Immigration beeinflusst. 2020 stand einer Geburtenziffer von 8,4 pro 1000 Einwohner eine Sterbeziffer von 10,0 pro 1000 Einwohner gegenüber. Die Anzahl der Geburten pro Frau lag 2020 statistisch bei 1,4. Die Lebenserwartung der Einwohner Finnlands ab der Geburt lag 2020 bei 82,1 Jahren (Frauen: 85, Männer: 79,4). Der Ausländeranteil ist mit rund 4 % im Vergleich zu den Nachbarländern Norwegen und Schweden gering, hat sich aber seit dem Ende des Kalten Krieges vervielfacht. Der Grund für diese niedrige Zahl ist zum einen die bis heute recht restriktive Einwanderungspolitik des finnischen Staates, zum anderen war Finnland zur Zeit der großen Arbeitsmigration in den ersten Jahrzehnten der Nachkriegszeit insbesondere im Vergleich zu Schweden wirtschaftlich schwach und selbst eher Auswandererland als Einwanderungsziel. Nach 1945 wanderte über eine halbe Million Finnen aus, meist nach Schweden. Ihre Spitze erreichte diese Entwicklung um 1970, als in Schweden Hochkonjunktur herrschte, in Finnland die geburtenstarken Nachkriegsjahrgänge auf den Arbeitsmarkt drängten und jährlich rund 40.000 Finnen nach Schweden umsiedelten. In der Folge hat der Auswandererstrom stark nachgelassen. Heute verlassen jährlich rund 10.000 bis 15.000 Menschen das Land, ein Verlust, der durch die Zuwanderung von knapp 20.000 Menschen überkompensiert wird. === Sprachen === Finnlands Amtssprachen sind Finnisch (als Sprache der Bevölkerungsmehrheit) und Schwedisch (als Sprache der finnlandschwedischen Minderheit); daneben gibt es weitere offiziell anerkannte sprachlichen Minderheiten. Landesweit geben 88,7 % der Bevölkerung Finnisch und 5,3 % Schwedisch als Muttersprache an. Die schwedischsprachige Bevölkerung konzentriert sich auf die Küstenregionen im Süden und in Österbotten sowie auf die Provinz Åland. Das Finnlandschwedische unterscheidet sich vor allem in Aussprache und Wortschatz von dem in Schweden gesprochenen Reichsschwedischen. Die schwedischsprachige Minderheit entstammt der vom 12. Jahrhundert bis 1809 dauernden Zugehörigkeit Finnlands zu Schweden. Sie entstand einerseits durch Zuzug aus dem schwedischen Mutterland und später auch aus Mitteleuropa (die meisten mitteleuropäischen Einwanderer übernahmen die schwedische, nicht die finnische Sprache), andererseits durch Assimilation vor allem der gehobenen finnischen Bevölkerungsschichten. Der Wechsel vom Finnischen zum Schwedischen war attraktiv, weil bis ins 19. Jahrhundert Schwedisch neben Latein die einzige Kultur- und Verwaltungssprache und die Sprache der Oberschicht des Landes war, während Finnisch vor allem von der bäuerlichen Bevölkerung gesprochen wurde. Im Mittelalter betrug der Anteil der Finnlandschweden schätzungsweise 25 %.Die Sprachpolitik Finnlands wurde seit dem 19. Jahrhundert durch teilweise erbitterte Auseinandersetzungen um das Verhältnis zwischen der finnischen und der schwedischen Sprache bestimmt. Heute sind beide Sprachen durch die finnische Verfassung als Amtssprachen festgeschrieben. Jede Gemeinde gilt entweder als finnischsprachig, schwedischsprachig oder zweisprachig. Eine Gemeinde gilt als zweisprachig, wenn die schwedischsprachige Minderheit einen Bevölkerungsanteil von mindestens acht Prozent hat oder aus mindestens 3000 Personen besteht. Nach der zum Jahr 2022 gültigen Einteilung sind von den 317 Gemeinden in Finnland 16 rein schwedischsprachig (alle in der Provinz Åland) und 33 zweisprachig, davon 15 mehrheitlich schwedischsprachig und 18 mehrheitlich finnischsprachig. Die übrigen Gemeinden sind ausschließlich finnischsprachig.Eine Besonderheit der finnischen Sprachpolitik ist zudem, dass Finnland als einziges Land der Europäischen Union das Recht auf den Gebrauch der Gebärdensprache in seiner Verfassung verankert hat, wobei entsprechend der Gesetzgebung finnische und finnlandschwedische Gebärdensprache seit 2015 separat behandelt werden. Besonderen Schutz als ethnische Minderheit genießen die Samen, die heute v. a. in den nördlichen Regionen Lapplands leben. Die drei in Finnland offiziell geschützten samischen Sprachen sind Nordsamisch, Inarisamisch und Skoltsamisch. Sie werden von etwa 1750 Bürgern Finnlands als Muttersprache gesprochen und haben einen amtlichen Status in den Gemeinden Enontekiö, Inari und Utsjoki sowie im Nordteil der Gemeinde Sodankylä. In diesen Gemeinden leben rund 4000 der 7000 von der samischen Verwaltung als ethnische Samen eingestuften Finnen. Zur Überwachung der Stellung der samischen Sprachen und zur Verwirklichung einer sprachlichen und kulturellen Selbstverwaltung wurde 1996 mit dem Sámediggi eine eigene parlamentarische Vertretung der Samen in Finnland gegründet. Seit etwa 500 Jahren ist eine kleine Gruppe von heute rund 10.000 Roma (2008) in Finnland ansässig, die sich in ihrer Kleidung deutlich von der finnischen Mehrheitsgesellschaft und von den übrigen europäischen Roma unterscheiden. Roma-Frauen unterliegen dem Gebot der Gemeinschaft, eine bestimmte Tracht zu tragen. Die Roma wurden früher von Teilen der finnischen Bevölkerung abfällig als mustalaiset („die Schwarzen“) bezeichnet. Heute hat ihre Sprache, Romani, einen Status als offizielle Minderheitensprache.Darüber hinaus leben heute etwa 800 Tataren im Land, deren Vorfahren zwischen 1870 und 1920 nach Finnland kamen. Durch Einwanderung aus dem Ausland sind heute auch zahlreiche andere Ethnien in Finnland vertreten, jedoch ohne einen besonderen Status zu besitzen. Die Russen in Finnland stellen mit fast 49.000 Sprechern die größte sprachliche Minderheit des Landes. Zu ihnen gehören auch zahlreiche finnischstämmige Zuwanderer aus Karelien und dem Ingermanland, denen seit den 1990er Jahren das Recht auf „Rückkehr“ nach Finnland zugestanden wurde. Karelisch hat offiziellen Status als eine nicht-regionale nationale Minderheitssprache entsprechend der Europäischen Charta der Regional- oder Minderheitensprachen. Man rechnet mit etwa 5000 Karelischsprechern auf der finnischen Seite, darunter überwiegend ältere Personen. Als Folge der Bevölkerungsmobilität in der Nachkriegszeit und späterer interner Migration leben Karelier heute verteilt im gesamten Land, und Karelisch kann nicht mehr als die Sprache einer geographisch abgegrenzten lokalen Sprechergemeinschaft angesehen werden. === Religion === Seit 1923 ist die Religionsfreiheit in der finnischen Verfassung garantiert. Die Evangelisch-Lutherische Kirche und die Orthodoxe Kirche sind per Gesetz als Volkskirchen festgeschrieben und genießen besondere Vorrechte. Ihre Mitglieder zahlen eine Kirchensteuer in Höhe von 1 bis 2,25 % ihres Einkommens, zudem erhalten die Volkskirchen staatliche Zuwendungen für soziale und karitative Zwecke und Instandsetzungsaufgaben. Obwohl die finnische Gesellschaft weitgehend säkularisiert ist, sind rund 70 % der Bevölkerung konfessionell gebunden (Stand Ende 2020). Die Mehrzahl der Finnen (fast 68 % der Gesamtbevölkerung) gehört der Evangelisch-Lutherischen Kirche Finnlands an. Die Zahl ist seit Jahren rückläufig, ebenso die der Gottesdienstbesucher. Nur 2 % der Kirchenmitglieder besuchen wöchentlich eine Kirche, rund 10 % einmal monatlich. Die meisten Gläubigen besuchen Gottesdienste nur an hohen Feiertagen wie Weihnachten und Ostern oder zu familiären Anlässen wie Taufen, Hochzeiten und Bestattungen. Dennoch genießt die Kirche hohes Ansehen in der Bevölkerung und stellt insbesondere in ländlichen Gebieten ein wichtiges soziales Netzwerk dar. In manchen ländlichen Gegenden dominieren Erweckungsbewegungen das Gemeindeleben. In Nordfinnland ist der Laestadianismus weit verbreitet, insgesamt hat er in Finnland rund 120.000 Anhänger. Vor allem in Teilen Savos und Österbottens sind pietistische Gruppen stark vertreten. Der seit 1923 autonomen Orthodoxen Kirche Finnlands gehören rund 60.000 Menschen in 24 Gemeinden an, also rund 1,1 % der Bevölkerung. Das orthodoxe Christentum verbreitete sich seit dem Mittelalter von Nowgorod aus vor allem nach Karelien. Während der russischen Herrschaft bildeten sich mit dem Zuzug russischer Beamten und Militärs auch orthodoxe Gemeinden in den Großstädten des Landes, deren Nachkommen, die „alten Russen“, heute rund 3000 Köpfe zählen. Als Finnland nach der Niederlage im Zweiten Weltkrieg große Teile Kareliens an die Sowjetunion abtreten musste, wurden auch zehntausende Orthodoxe aus Karelien umgesiedelt und über ganz Finnland verstreut. Seit 1990 hat sich die Anzahl der orthodoxen Christen durch die Einwanderung von „neuen Russen“ aus den Nachfolgestaaten der Sowjetunion deutlich erhöht. Nicht zur evangelischen Volkskirche gehören die verschiedenen Pfingstkirchen, denen 2010 mindestens 50.000 Menschen angehörten. Zudem gibt es in Finnland 19.000 Zeugen Jehovas und über 3200 Mormonen. Die Katholische Kirche in Finnland hat rund 16.000 Anhänger, zumeist Ausländer oder Einwanderer, vor allem aus Polen. Das katholische Bistum Helsinki besteht seit 1955 und umfasst ganz Finnland. In Finnland existieren zwei jüdische Gemeinden mit insgesamt rund 1500 Mitgliedern, von denen 1200 in Helsinki und 200 in Turku leben. Die rund 800 Finnland-Tataren sind muslimischen Glaubens. Seit 1990 hat sich die Zahl der in Finnland lebenden Muslime durch die Aufnahme von Tausenden somalischer Flüchtlinge, aber auch durch Einwanderung aus dem Nahen Osten und Südosteuropa vervielfacht. Insgesamt lebten in Finnland im Jahr 1999 schon rund 20.000 Muslime, aber laut Statistics Finland hatten die islamischen Gemeinden im Jahr 2010 nur etwa 8200 Mitglieder. === Bildung === In Finnland besteht gesetzliche Schulpflicht für alle Sieben- bis Sechzehnjährigen. Die meisten Kinder beginnen mit sieben Jahren die neun Schuljahre umfassende Grundschule (peruskoulu). Nach dieser obligatorischen Grundausbildung kann die Schulbildung entweder auf einer Berufsschule oder in einem Gymnasium (lukio) fortgesetzt werden. Die Dauer der gymnasialen Ausbildung ist nicht konkret festgelegt, sondern hängt ähnlich wie im Hochschulstudium von der persönlichen Studienleistung des Schülers ab. Die Mehrheit der Schüler legt nach insgesamt zwölf Schuljahren das Abitur ab. Sowohl dieses als auch der Abschluss der Berufsschule qualifizieren den Schüler prinzipiell für eine Hochschulausbildung, jedoch sind an den Hochschulen Aufnahmeprüfungen mit zum Teil starker Selektion üblich. Die Grundschulen und Gymnasien sowie ein Teil der Berufsschulen stehen unter Verwaltung der Gemeinden.In den PISA-Studien haben die Schüler Finnlands mit ihren Platzierungen in der Spitzengruppe für Aufsehen gesorgt. Zu den Erklärungsversuchen für das gute Abschneiden des finnischen Schulsystems gehören unter anderem staatliche Bildungsinitiativen wie das seit 1996 bestehende sogenannte LUMA-Programm zur Förderung des naturwissenschaftlichen und mathematischen Unterrichts. Weiter wird auf die einheitliche Schulausbildung für alle Schüler unabhängig von ihrem sozioökonomischen Hintergrund und das damit bessere Abschneiden der schwächeren Schüler verwiesen. Die oft ins Gespräch gebrachte finnische Ganztagsschule gibt es jedoch im Regelfall nicht. Nur etwa ein Viertel der finnischen Schüler nimmt an schulischen Nachmittagsaktivitäten teil. Weder sind die Gemeinden zur Einrichtung von Ganztagsschulen, noch die Schüler zur Teilnahme am Nachmittagsangebot verpflichtet.Die offizielle Zweisprachigkeit Finnlands spiegelt sich auch im Schulsystem wider. Alle Gemeinden, in denen sowohl finnisch- als auch schwedischsprachige Einwohner leben, sind gesetzlich verpflichtet, für beide Sprachgruppen gesonderte Schulbildung anzubieten. Zu den Besonderheiten der schulischen Fremdsprachenbildung und zu den immer wieder heftig diskutierten Themen gehört die Verpflichtung aller Schüler, die jeweils andere Landessprache zu erlernen. Die immer wieder aufflammende öffentliche Debatte über diese Pflicht wird insbesondere von Vertretern der finnischsprachigen Mehrheit unter dem Schlagwort „Zwangsschwedisch“ (pakkoruotsi) geführt. Die Hochschulen gliedern sich wie in Deutschland in Universitäten und Fachhochschulen. Während erstere akademische Lehre und Forschung betreiben, konzentrieren sich letztere auf berufsbezogene Ausbildung. Die Fachhochschulen stehen unter Leitung der Gemeinden oder privater Stiftungen, während die 15 Universitäten des Landes eine weitgehende Selbstverwaltung genießen. Lehre und Forschung an den Hochschulen werden hauptsächlich durch öffentliche Mittel finanziert. Die Unterrichtssprache an den finnischen Hochschulen ist in der Regel Finnisch, für die schwedischsprachige Minderheit werden jedoch ebenfalls Studienmöglichkeiten angeboten. Einige Hochschulen, allen voran die Åbo Akademi, sind rein schwedischsprachig. In jüngerer Vergangenheit sind zunehmend auch Lehrinhalte in anderen Sprachen, vor allem Englisch, eingeführt worden. Die Schulausbildung ist frei von Gebühren. Auch die universitäre Hochschulausbildung ist für Bürger der EU, des Europäischen Wirtschaftsraums und der Schweiz gebührenfrei. Bürger von Drittstaaten ohne permanente Aufenthaltserlaubnis in einem EU-Land müssen für ein nach 2017 angefangenes Bachelor- oder Masterstudium ggf. Gebühren bezahlen. Die Höhe hängt von Universität und Studienfach ab. Sie bewegt sich im Bereich von ca. 12.000 € jährlich. Studenten erhalten zur Finanzierung ihres Studiums staatliche Studienzuschüsse, Wohngeld sowie staatlich bebürgte und zinsgünstige Studiendarlehen. Ein im internationalen Vergleich großer Teil von gut 40 % der jeweiligen Altersklassen erwirbt in Finnland einen Hochschulabschluss. Die Studiendauer bis zum Erreichen des höheren Hochschulabschlusses beträgt im Schnitt 5,1 effektive Studienjahre. Die Gesamtdauer des Studiums wird allerdings erhöht durch die unter Studenten verbreitete Erwerbsarbeit. == Politik == === Politisches System === Seit 1919 ist Finnland eine parlamentarisch-demokratische Republik. Grundlage ist die heutige Verfassung Finnlands vom 11. Juni 1999, die am 1. März 2000 in Kraft trat. Die neue Verfassung bedeutete eine erhebliche Verschiebung der Machtbefugnisse vom zuvor dominierenden Staatspräsidenten zu Parlament und Regierung (semipräsidentielles Regierungssystem).Gesetzgebendes Organ ist das Parlament (finn. eduskunta, schwed. riksdagen), ein Einkammerparlament mit 200 Abgeordneten, die für vier Jahre nach dem Verhältniswahlrecht gewählt werden. Wahlberechtigt ist jeder finnische Staatsbürger ab 18 Jahren. Jeder Wähler hat eine Stimme, die er einem bestimmten Kandidaten gibt, so dass die Wähler nicht nur auf die Kräfteverhältnisse der Parteien, sondern auch auf die Reihenfolge der Kandidaten auf den Parteienlisten Einfluss haben. Die finnische Regierung, der Staatsrat (valtioneuvosto), ist seit der Verfassungsreform direkt dem Parlament verantwortlich. Der Ministerpräsident wird direkt vom Parlament gewählt, die übrigen Mitglieder vom Präsidenten auf Vorschlag des Ministerpräsidenten ernannt. Traditionell werden in Finnland große Koalitionen auch über das zur Schaffung einer absoluten Mehrheit notwendige Maß hinaus gebildet. Derzeit wird der Staatsrat unter Ministerpräsident Petteri Orpo durch eine Koalition von KOK, Christdemokraten, Die Finnen und der Schwedischen Volkspartei gebildet. Der auf sechs Jahre direkt gewählte Präsident leitet die Außenpolitik nun in Zusammenarbeit mit der Regierung. Er ist Oberbefehlshaber der Streitkräfte und kann hohe Staatsbeamte und Richter ernennen. Seit 2012 ist Sauli Niinistö finnischer Präsident. === Parteien === Nach den Parlamentswahlen vom 14. April 2019 sieht das Kräfteverhältnis im finnischen Parlament wie folgt aus: Die nationale Sammlungspartei (Kansallinen Kokoomus) hat ihren Schwerpunkt im Gegensatz zur Zentrumspartei in den Ballungszentren. Die 1918 von Monarchisten gegründete Partei steht heute für eine Betonung der bürgerlichen Freiheiten und eine liberale Wirtschaftspolitik. Während die Partei in der Nachkriegszeit keine zentrale Rolle spielte, war sie seit 1987 mit vierjähriger Unterbrechung an allen Regierungen beteiligt. Die zweite große bürgerliche Gruppierung ist die Zentrumspartei (Suomen Keskusta). Sie wurde 1906 unter dem Namen Landbund (Maalaisliitto) als Interessenvertretung der republikanisch denkenden selbständigen Bauern gegründet. Die Partei wurde 1965 umbenannt, hat aber bis heute den Schwerpunkt ihrer Unterstützung in der Landbevölkerung außerhalb der Städte. Die Zentrumspartei war in der Nachkriegszeit die prägende Partei Finnlands, insbesondere durch den langjährigen Präsidenten Urho Kekkonen. Die Sozialdemokratische Partei Finnlands (Suomen Sosialidemokraattinen Puolue) wurde 1899 als Arbeiterpartei Finnlands gegründet und nahm 1903 ein marxistisches Parteiprogramm an. Die Geschehnisse des Bürgerkriegs 1918 führten zur Abspaltung der Kommunisten von der Partei, die in der Folge als demokratische Kraft die Zusammenarbeit mit der politischen Mitte suchte. Nach den Kriegen haben die Sozialdemokraten zahlreiche Ministerpräsidenten gestellt, zuletzt Paavo Lipponen von 1995 bis 2003. Die kleineren Parteien werden angeführt vom Linksbündnis (Vasemmistoliitto), das 1990 aus einem Zusammenschluss verschiedener linksgerichteter oder kommunistischer Gruppierungen hervorgegangen ist. Ähnlich stark wie das Linksbündnis ist der 1988 gegründete Grüne Bund, der wie die anderen europäischen grünen Parteien aus der Umweltbewegung hervorgegangen ist. Beide Parteien waren 1995 bis 2003 in der Regenbogenkoalition Paavo Lipponens vertreten. Weitere derzeit im Parlament vertretene Parteien sind die Christdemokraten (Suomen Kristillisdemokraatit), eine betont religiös ausgerichtete Kleinpartei, sowie die rechtspopulistischen Wahren Finnen (Perussuomalaiset). Eine Sonderstellung nimmt die Schwedische Volkspartei (Svenska folkpartiet) ein, die sich als Interessenvertretung der schwedischsprachigen Minderheit in Finnland auffasst. Seit 1930 ist die Partei, die heute die Unterstützung von rund vier Prozent der Wähler genießt, mit vereinzelten kurzzeitigen Ausnahmen an allen Regierungskoalitionen beteiligt gewesen. Die autonome Provinz Åland hat eine eigenständige Parteienlandschaft und wählt einen Parlamentsabgeordneten, der sich unabhängig von seiner Parteizugehörigkeit der Schwedische Fraktion genannten Parlamentsfraktion der Schwedischen Volkspartei anschließt. Für die Registrierung einer neuen politischen Partei muss diese Unterstützungserklärungen von 5000 Wahlberechtigten beibringen. Wenn eine Gruppierung in zwei aufeinanderfolgenden Parlamentswahlen keine Sitze errungen hat, wird sie aus dem Parteienregister gelöscht und muss eine erneute Registrierung betreiben, wenn sie wieder zu Wahlen antreten möchte. Die nächste Parlamentswahl findet regulär im Jahr 2023 statt, wenn keine vorzeitigen Wahlen notwendig werden. === Politische Indizes === === Verwaltungsgliederung === Die kommunale Selbstverwaltung wird in Finnland in den 310 Gemeinden (kunta) ausgeübt. Während die Gemeinden in den dichter besiedelten Gegenden Finnlands der Größe nach mit mitteleuropäischen Gemeinden vergleichbar sind, haben die Gemeinden besonders in der Nordhälfte des Landes meist eine erhebliche geographische Ausdehnung. Die kleinste Gemeinde, Kauniainen, hat eine Fläche von nur 6 km², die größte Gemeinde, Inari, ist mit über 17.000 km² größer als das deutsche Land Thüringen. Die Entscheidungsgewalt in der Gemeinde wird durch einen alle vier Jahre direkt gewählten Gemeinderat (valtuusto) ausgeübt. Dieser wählt als Verwaltungsorgan die Gemeinderegierung (kunnanhallitus). Den Vorsitz in der Gemeinderegierung führt entweder ein hauptamtlicher Gemeindedirektor (kunnanjohtaja) oder ein ehrenamtlicher Bürgermeister (pormestari). Ob eine Gemeinde als Stadt bezeichnet wird, ist rechtlich und organisatorisch bedeutungslos. Die Bezeichnung darf jede Gemeinde führen, die nach eigener Meinung eine städtische Struktur aufweist.Die Gemeinden Finnlands sind in insgesamt 70 Verwaltungsgemeinschaften (seutukunta) zusammengeschlossen, in welchen die jeweiligen Gemeindeverwaltungen in unterschiedlichem Maße zum Zwecke der Wirtschaftsförderung und der Bereitstellung von öffentlichen Dienstleistungen zusammenarbeiten. Die allgemeine staatliche Regionalverwaltung wird von sechs Regionalverwaltungsbehörden (aluehallintovirasto) ausgeübt. Zu deren Aufgaben gehören neben allgemeinen Exekutivaufgaben vor allem die Verwaltungsaufsicht. Für speziellere Aufgaben der Fachverwaltung bestehen 15 Gewerbe-, Verkehrs- und Umweltzentren. Die traditionelle Aufteilung Finnlands in Provinzen (lääni) ist zum Beginn des Jahres 2010 aufgegeben worden. In Åland besteht eine abweichende Verwaltungsstruktur und sind alle Regionalaufgaben in einer einzigen Staatsbehörde zusammengefasst. Aus schwedischer Zeit hergebracht ist die regionale Aufteilung Finnlands in 19 Landschaften (maakunta). Im Gegensatz zu den heutigen Verwaltungsregionen verfügen diese über eine traditionelle regionale Identität. Die Landschaften haben als Verwaltungseinheiten keine eigenständige Bedeutung. Die Gemeinden einer Landschaft kooperieren aber jeweils in einem Landschaftsverbund (maakuntaliitto). Eine Ausnahme hiervon ist Åland, wo der gewählte Landschaftsrat die Selbstverwaltung der Inselgruppe ausübt. Ein Experiment in Kainuu, den Rat direkt wählen zu lassen, lief von 2005 bis 2012 und ist inzwischen beendet. In dieser Form gehörte die Landschaft daher im Gegensatz zu den Provinzen zum Kreis der kommunalen Selbstverwaltung. === Staatshaushalt === Der Staatshaushalt umfasste 2016 Ausgaben von umgerechnet 132,7 Mrd. US-Dollar, dem standen Einnahmen von umgerechnet 127,6 Mrd. US-Dollar gegenüber. Daraus ergibt sich ein Haushaltsdefizit in Höhe von 2,9 % des BIP.Die Staatsverschuldung betrug 2016 150,2 Mrd. US-Dollar oder 63,5 % des BIP. Finnische Staatsanleihen werden von der Ratingagentur Standard & Poor’s seit dem 10. Oktober 2014 mit der Note AA+ bewertet (Stand 23. Februar 2020).2006 betrug der Anteil der Staatsausgaben (in % des BIP) folgender Bereiche: Bildung: 6,4 % (2005) Gesundheit: 8,2 % Militär: 2,0 % (2005) === Gesellschaftspolitik === Finnland versteht sich seit der Nachkriegszeit als ausgeprägter Wohlfahrtsstaat. Arbeitslose erhalten eine Unterstützung in Form von Tagegeldern, die nicht vom früheren Einkommen abhängig sind. Die Altersrente für Berufstätige ist als öffentliche Pflichtversicherung geregelt. Die Arbeitgeber sind dazu verpflichtet, zwei Drittel der Versicherungsbeiträge zu tragen. Wer keinen Anspruch auf Arbeitsrente hat, erhält im Alter oder bei Berufsunfähigkeit eine sogenannte Volksrente. Diese beträgt 2007 für einen alleinstehenden Einwohner Helsinkis monatlich 524,85 Euro.Auch das finnische Gesundheitswesen ist auf einer staatlichen Grundsicherung aufgebaut. Die ärztliche Versorgung wird aus Steuergeldern finanziert und staatlich organisiert. Zu diesem Zweck unterhalten die Gemeinden Gesundheitszentren, in denen Ärzte aller Fachrichtungen arbeiten. Jeder Bürger muss in der Regel das für seinen Wohnort zuständige Gesundheitszentrum aufsuchen; eine freie Arztwahl gibt es im Rahmen der öffentlichen Versorgung nicht. Die Begrenztheit der Ressourcen hat teilweise monatelange Wartelisten für nicht lebensnotwendige Operationen zur Folge. Neben diesem öffentlichen System bestehen heute zahlreiche private Ärztestationen und Krankenhäuser, von deren erheblich höheren Kosten die öffentliche Krankenversicherung nur einen Bruchteil ersetzt. Auch den Arbeitgebern obliegt ein Teil der Verantwortung für die Gesundheitsversorgung. Im Rahmen der gesetzlich vorgeschriebenen Gesundheitsversorgung am Arbeitsplatz muss der Arbeitgeber Vorsorgeuntersuchungen finanzieren; eine weitergehende Versorgung der Mitarbeiter ist steuerlich begünstigt. Auch in anderen Bereichen spielen gesellschaftspolitische Zielsetzungen in den Arbeitsplatz hinein. Die finnische Vorstellung von flachen Hierarchien und der Verteilung von Verantwortung findet ihren Ausdruck in der Verpflichtung der Arbeitgeber, alle Maßnahmen mit Einfluss auf Arbeitsplätze und Arbeitsbedingungen im Voraus eingehend mit den betroffenen Mitarbeitern zu verhandeln. Auch müssen in Betrieben Pläne zur Förderung der Gleichberechtigung von Mann und Frau aufgestellt werden. Die Gleichstellung der Geschlechter wird in Finnland auch durch eine umfangreiche Familienpolitik gefördert. Alle werdenden Eltern erhalten ein Mutterschaftspaket, das eine Babyausstattung für das erste Lebensjahr enthält. Die ersten sechs Monate nach Geburt eines Kindes kann ein Elternteil oder beide abwechselnd unbezahlten Elternurlaub nehmen und in dieser Zeit finanzielle Unterstützung aus der Krankenversicherung erhalten. Danach haben alle Kinder bis zur Einschulung das Recht auf einen Platz in einer kommunalen Kindertagesstätte oder auf finanzielle Unterstützung für die Betreuung zu Hause. Die Ergebnisse dieser Politik sind in der Beschäftigungsrate der Frauen sichtbar. Diese lag 2005 bei 66,5 % der Frauen im arbeitsfähigen Alter im Vergleich zu 57,5 % im EU-Schnitt.Im Jahr 2006 wurden in Finnland 28.236 Ehen geschlossen und 13.255 geschieden. Bei Eingehung der ersten Ehe sind finnische Frauen durchschnittlich 29,7, Männer 32,1 Jahre alt. Die Rechtsstellung gleichgeschlechtlicher Paare wurde schrittweise an die der heterosexuellen Partnerschaften angeglichen. Seit 2002 konnten sie eine eingetragene Partnerschaft eingehen, die im Wesentlichen die gleichen Rechtswirkungen wie die Ehe hatte. 2006 wurden 84 Männer- und 107 Frauenpaare eingetragen. Seit dem 1. März 2017 ist es gleichgeschlechtlichen Paaren möglich, eine Ehe einzugehen. Sie besitzen seitdem die Möglichkeit zur Adoption und können einen einheitlichen Familiennamen führen.Zu den gesellschaftspolitischen Dauerthemen in Finnland gehört die Alkoholpolitik. Im Jahr 2005 war Alkohol die häufigste Todesursache unter Finnen im arbeitsfähigen Alter. Der Verkauf von alkoholischen Getränken unterliegt in Finnland zahlreichen gesetzlichen Beschränkungen. Getränke mit einem Alkoholgehalt über 4,7 % dürfen nur in den staatlichen Monopolgeschäften der Alko-Kette verkauft werden. Die Alkoholsteuern sind im europäischen Vergleich hoch. Sie standen zuletzt wegen des Abbaus der Einfuhrbeschränkungen innerhalb der EU unter Senkungsdruck, eine erneute Anhebung ist aber geplant.Im Weltglücksbericht der UNO landete Finnland 2021 zum vierten Mal in Folge auf dem ersten Platz. ==== Polizei ==== Finnland zählt kriminalstatistisch zu den sichersten Ländern Europas. Es gibt rund 7700 Polizisten. Die finnische Polizei ist dreistufig organisiert. Neben der Polizeiabteilung im Innenministerium gibt es die Polizeidirektion in Helsinki und die Provinzpolizeikommandos. Die unterste Stufe bildet die lokale Polizei in den Amtsbezirken. Im ganzen Land gibt es 280 Polizeidienststellen, dazu kommen über 50 mit anderen Behörden gemischte Dienststellen. Die autonomen Åland-Inseln haben eine unabhängige Polizeiorganisation. === Umweltschutz === Etwa ein Zehntel der Landesfläche Finnlands steht unter Naturschutz unterschiedlichen Grades. Im Norden des Landes, wo die Bevölkerungsdichte niedrig und ein großer Teil des Landes in staatlichem Besitz ist, ist der Anteil noch weitaus höher. Seit Juni 2017 gibt es 40 Nationalparks mit einer Gesamtfläche von 9892 km² (2,7 % der Gesamtfläche Finnlands), darunter in Lappland der Lemmenjoki- und der Urho-Kekkonen-Nationalpark, die jeweils über 2500 Quadratkilometer groß sind. Die Verantwortung für den Umweltschutz obliegt dem finnischen Umweltministerium. Dessen Hauptziele sind der Erhalt der Biodiversität, der Schutz des Landschaftsbildes, eine nachhaltige Nutzung der natürlichen Ressourcen, aber auch die Freizeitnutzung der Naturflächen.Der Treibhausgasausstoß pro Kopf des Landes gehört mit knapp 16 Tonnen CO2-Äquivalent zu den weltweit höchsten. Zwischen 1990 und 2004 stiegen die Treibhausgasemissionen um 14,5 % von 71,1 auf 81,4 Millionen Tonnen CO2-Äquivalent. Im Kyoto-Protokoll hatte sich Finnland verpflichtet, seine Treibhausgasemissionen bis zum Zeitraum 2008–12 gegenüber 1990 nicht steigen zu lassen. === Außen- und Verteidigungspolitik === Die finnische Sicherheits- und Verteidigungspolitik ist nachhaltig von der Erfahrung des Zweiten Weltkrieges geprägt. In der kollektiven Erinnerung ist die Ansicht tief verwurzelt, dass auf Verbündete kein Verlass sei und die Landesverteidigung im Kriegsfall aus eigener Kraft gewährleistet sein sollte. Die Verteidigungspolitik Finnlands ist, ähnlich wie die der Nachbarländer Norwegen und Schweden, auf eine „totale Verteidigung“ (kokonaismaanpuolustus) der staatlichen Souveränität, territorialen Integrität und demokratischen Verfassung des Landes ausgerichtet. Im Kalten Krieg war Finnland bemüht, gute Beziehungen zur Sowjetunion zu unterhalten, den mächtigen Nachbarn und vormaligen Kriegsgegner aber gleichzeitig auf Abstand zu halten. So schlossen die beiden Staaten 1948 einen Vertrag über Freundschaft, Zusammenarbeit und gegenseitigen Beistand ab, doch wusste Finnland die darin vorgesehenen Gipfeltreffen immer wieder zu vertagen. Das Bemühen, im Zuge der fortschreitenden Blockbildung die Neutralität zu wahren, bestimmte die finnische Außenpolitik ab den 1950er Jahren und wird nach den Staatspräsidenten dieser Zeit als Paasikivi-Kekkonen-Linie bezeichnet. Zwar war Finnland durch die stete Rücksichtnahme auf die Interessen Moskaus in seiner außenpolitischen Handlungsfähigkeit stark eingeschränkt, konnte die Wehrfähigkeit des Staates jedoch wahren. Auch nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion und dem Ende des Kalten Krieges hielt Finnland an der Allianzfreiheit fest, doch wich die Doktrin der strikten Neutralität einer aktiven Westpolitik. So kooperierte Finnland seit 1994 im Rahmen der Partnerschaft für den Frieden und seit 1997 als Mitglied des Euro-Atlantischen Partnerschaftsrats mit der NATO. Finnische Soldaten waren für die von der NATO geführten Sicherungstruppen in Afghanistan (ISAF) im Einsatz und sind derzeit noch im Kosovo (KFOR) stationiert. Mit dem Beitritt zur Europäischen Union 1995 und dem Bekenntnis zur gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik trat das Land zwar keinem eigentlichen Militärbündnis bei, stellte aber dennoch seine Sicherheitspolitik und damit auch seine Streitkräfte in den Dienst supranationaler Interessen. Am 1. Januar 2006 nahmen erstmals finnische Soldaten an einem Kampfverband der EU teil und standen für Einsätze im Sinne der Petersberg-Aufgaben bereit. Die Möglichkeit eines NATO-Beitritts war eines der umstrittensten Themen in der finnischen Öffentlichkeit. Die ehemalige Präsidentin Tarja Halonen sah in dieser Frage keinen Handlungsbedarf; eine Mehrheit der Finnen stand einer NATO-Mitgliedschaft ablehnend gegenüber. Gegner der Mitgliedschaft beriefen sich vor allem auf die bewährte Neutralitätspolitik und bevorzugten die Zusammenarbeit innerhalb der EU, während Befürworter die Verteidigungsinteressen Finnlands insbesondere mit Blick auf das instabile Russland betonten. Die Diskussion intensivierte sich nach dem russischen Einmarsch in Georgien 2008. Nachdem der russische Präsident Putin 2014 durch die Annexion der Krim die europäische Friedensordnung umgestoßen hatte, wollten alle Parteien im Jahr 2015 einen Beitritt nicht mehr ausschließen. Nach dem russischen Einmarsch in die Ukraine 2022 im Februar stieg die Zustimmung unter der Bevölkerung sprunghaft und lag Mitte März 2022 bei über 60 %. Am 18. Mai 2022 reichte Finnland zusammen mit Schweden unter dem Eindruck des anhaltenden Ukraine-Konflikts den Antrag zur Aufnahme als Mitglied bei der NATO ein. Bereits zuvor waren die Vorbereitungen zur Abwehr eines möglichen russischen Angriffs intensiviert worden. Dabei standen insbesondere eine schnellere Verlegung von aktiven Truppen an Brennpunkte und eine Beschleunigung der Mobilmachung im Blickpunkt. In diesem Rahmen erhalten Brigaden der Jäger- und der Panzertruppe zusätzliche Ausrüstung, die Personaldatenbank wurde aktualisiert und gesetzliche Voraussetzung für eine beschleunigte Anordnung von Reserveübungen durch den Präsidenten geschaffen. Zudem können die Streitkräfte nun auch bei Konflikten unterhalb der Schwelle eines Krieges eingesetzt werden. Am 4. April 2023 wurde Finnland in die NATO aufgenommen.Im Jahr 2006 machte das Budget der finnischen Streitkräfte rund 5,7 % des Gesamthaushalts aus und betrug absolut 2,274 Milliarden Euro. Der Anteil der Militärausgaben am Bruttosozialprodukt liegt bei 1,6 %, was deutlich unter dem gesamteuropäischen Schnitt liegt. Für 2021 werden 2,0 % geschätzt. In Finnland gilt die allgemeine Wehrpflicht für Männer. Der Wehrdienst dauert je nach Ausbildungsstand zwischen 5,5 und 12 Monaten. Zwar besteht die Möglichkeit zur Wehrdienstverweigerung und Ableistung eines zivilen Ersatzdienstes (Dauer: 8,5 oder 11,5 Monate), doch leisten mehr als 80 % eines Geburtsjahrgangs Militärdienst. Ausdrücklich vom Wehrdienst ausgenommen sind nur Zeugen Jehovas und die Bewohner der autonomen und demilitarisierten Provinz Åland. Seit 1995 besteht für Frauen zwischen 18 und 29 die Möglichkeit zum freiwilligen Wehrdienst, was jährlich zwischen 1000 und 1700 Frauen nutzen. 2019 waren 4 % des Vollzeitpersonals weiblich. Das Europäische Büro für Kriegsdienstverweigerung kritisiert den finnischen Staat aufgrund der Diskriminierung von Wehrdienstverweigerern.Die Stärke der finnischen Streitkräfte wird für das Jahr 2021 auf 22.000 Personen geschätzt, davon 15.000 im Heer, 4.000 in der Marine und 3.000 in der Luftwaffe. Bis zu 35.000 Finnen werden jährlich zu Reserveübungen einberufen. Im Kriegsfall könnten bis zu 520.000 Personen in kurzer Zeit unter Waffen gestellt werden, 2021 wird eine Kriegsstärke von ungefähr 180.000 Personen angegeben. Zudem kann der Finnische Grenzschutz mit einer Kriegsstärke von 30.000 Mann dem Heereskommando unterstellt werden. === Recht und Justiz === Das finnische Rechtssystem ist historisch bedingt stark vom Recht Schwedens geprägt, das bei der Ablösung Finnlands aus dem Verbund mit Schweden 1809 in Kraft blieb. Bis in die jüngere Vergangenheit zeichnete sich die Gesetzgebung durch ein hohes Maß an Kontinuität aus. Seit dem Beitritt Finnlands zur Europäischen Union 1995 hat das Unionsrecht vielfältige Neuerungen und Reformen in der finnischen Gesetzgebung erforderlich gemacht. Es gibt in Finnland kein gesondertes Verfassungsgericht. Die Gesetzmäßigkeit der Verwaltungstätigkeit wird von den regulären Gerichten überprüft. Die Verfassungsmäßigkeit der vom Parlament beschlossenen Gesetze ist jedoch richterlicher Kontrolle entzogen. Das Parlament übt eine Selbstkontrolle der Verfassungsmäßigkeit seiner Gesetzgebung mittels eines Grundgesetzausschusses (perustuslakivaliokunta) aus. Die allgemeinen Gerichte sind in Finnland der Oberste Gerichtshof (finn. korkein oikeus, schwed. högsta domstolen) 5 Appellationsgerichte (hovioikeus, hovrätt) 20 Amtsgerichte (käräjäoikeus, tingsrätt).Als Verwaltungsgerichte entscheiden der Oberste Verwaltungsgerichtshof (korkein hallinto-oikeus, högsta förvaltningsdomstolen) 6 regionalen Verwaltungsgerichte (alueellinen hallinto-oikeus, regional förvaltningsdomstol) und das Verwaltungsgericht der Ålandinseln (Ahvenanmaan hallintotuomioistuin, Ålands förvaltningsdomstol).Sonder- oder Fachgerichte sind das Marktgericht (markkinaoikeus, marknadsdomstolen) das Arbeitsgericht (työtuomioistuin, arbetsdomstolen) das Versicherungsgericht (vakuutusoikeus, försäkringsdomstolen) der Staatsgerichtshof (valtakunnanoikeus, riksrätten). == Wirtschaft == === Wirtschaftliche Entwicklung === Bis weit ins 20. Jahrhundert zählte Finnland zu den ärmsten Ländern Europas. Auch wenn bereits in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts Industriebetriebe, vor allem Papiermühlen, Baumwollspinnereien und Eisenhütten entstanden, war das Leben der meisten Finnen bis nach dem Zweiten Weltkrieg von der Landwirtschaft geprägt. Erst nach dem Krieg wurde die Industrialisierung stärker vorangetrieben, nicht zuletzt, um die umfangreichen Reparationsforderungen der Sowjetunion zu bewältigen. Innerhalb von zwanzig Jahren entwickelte sich eine diversifizierte Wirtschaft mit einer leistungsfähigen Elektroindustrie, Petrochemie und Maschinen- und Fahrzeugbau. Ein weiterer wichtiger Bereich wurde der Schiffbau. Das kräftige Wirtschaftswachstum der Nachkriegszeit, das auch mit dem lebhaften Osthandel verknüpft war, wurde nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion 1991 jäh unterbrochen. In der nachfolgenden schweren Wirtschaftskrise sank das Bruttosozialprodukt um 13 %, die Arbeitslosenquote stieg von 3,4 im Jahr 1990 auf 18,4 % im Jahr 1994. Die Krise brachte eine einschneidende Umstrukturierung der finnischen Wirtschaft. Zur Stabilisierung des Staatshaushaltes wurden zahlreiche Staatsunternehmen privatisiert. Gleichzeitig investierte der Staat umfangreich in die Hochschulbildung im Hochtechnologiebereich. So wurde dann auch die Mikroelektronikbranche mit Nokia an der Spitze zum Zugpferd für den wirtschaftlichen Aufschwung. Der Beitritt zur Europäischen Gemeinschaft 1995 trug seinerseits zur wirtschaftlichen Stabilisierung bei. Die Neuausrichtung der Wirtschaftsstruktur sorgte bis zum Jahr 2001 für eine Halbierung der Arbeitslosenquote auf 9,2 %. In der Folge sank die Arbeitslosigkeit weiter, fiel 2008 auf einen Tiefststand von 6,4 % und bewegte sich dann um die 8 %. Die Arbeitslosenquote lag im Juni 2018 bei 7,6 % und liegt damit leicht über dem EU-Durchschnitt. Im Jahr 2017 betrug die Jugendarbeitslosigkeit 19,9 %. Seit 1999 gehört Finnland zur Eurozone. Bis 2001 hatte es mit der Finnmark eine eigene Währung, seit 2002 gibt es eigene Euro-Münzen heraus. Heute gehört Finnland zu den wohlhabenden Ländern innerhalb der Europäischen Union. Im Jahr 2014 erreichte der Kaufkraftindex für Finnland den Wert 110 im Vergleich zum Unionsdurchschnitt 100 (EU-28). Die finnische Außenhandelsbilanz weist einen leichten Überschuss auf. Im Jahr 2006 betrug der Export 61,40 Mrd. € bei einem Import von 55,89 Mrd. €. Die wichtigsten Handelspartner sind Deutschland mit einem Handelsanteil von 14,9 % bzw. 13,1 % (Import/Export), Schweden mit 11,2/10,7 % und Russland mit 11,2/5,7 %. Im Global Competitiveness Index, der die Wettbewerbsfähigkeit eines Landes misst, belegt Finnland Platz 11 von 141 Ländern (Stand 2019). Im Index für wirtschaftliche Freiheit belegt Finnland im Jahr 2017 Platz 24 von 180 Ländern. === Land- und Forstwirtschaft === Die Landwirtschaft spielt nach wie vor eine bedeutende Rolle in der finnischen Wirtschaft und Gesellschaft. Rund 300.000 Menschen sind in der Landwirtschaft und den Folgeindustrien beschäftigt. Dabei sind die klimatischen Bedingungen für den Ackerbau ungünstig: die kurze Vegetationsperiode, unregelmäßige Niederschläge und saure Moorböden stellen Hindernisse für eine intensive Landnutzung dar. Nur 2,2 Millionen Hektar, also kaum 6,5 % der Landesfläche, werden landwirtschaftlich genutzt. Getreideanbau (Gerste, Hafer, Weizen) und Schweinemast dominieren in den Küstenregionen Süd- und Westfinnlands. In Mittel- und Ostfinnland liegt der Schwerpunkt auf der Rinderhaltung; Milchprodukte machen gut 40 % der landwirtschaftlichen Gesamtproduktion aus. Im Rentierzuchtgebiet, das Lappland sowie Teile von Nordösterbotten und Kainuu umfasst, gibt es rund 5500 Rentierzüchter, die insgesamt über 200.000 Tiere besitzen. Anders als in Schweden und Norwegen ist die Rentierzucht kein Privileg der samischen Minderheit, sondern wird auch von Angehörigen der Mehrheitsbevölkerung ausgeübt. Der EU-Beitritt des Landes war besonders für die finnische Landwirtschaft ein folgenschwerer Einschnitt. War der finnische Agrarmarkt durch eine protektionistische Zollpolitik zuvor gut abgeschottet, so fielen die Erzeugerpreise nach 1995 schlagartig um mehr als ein Drittel. Da die Gemeinsame Agrarpolitik der Europäischen Union jedoch den Erhalt der Landwirtschaft in allen Regionen und den Ausgleich struktureller und natürlicher Nachteile vorsieht, profitieren die finnischen Bauern heute in erheblichem Maße von EU-Fördergeldern. Unter diesen Umständen hat sich die Landkonzentration in den vergangenen Jahren erhöht: Während die Anzahl der landwirtschaftlichen Betriebe von fast 80.000 im Jahr 2000 auf 69.071 im Jahr 2006 sank, stieg die Durchschnittsgröße der Hoffläche von 28 auf 33 Hektar.Von der Forstwirtschaft als Zulieferer der holzverarbeitenden Industrie profitiert ein bedeutender Teil der Bevölkerung als Arbeitnehmer, aber auch als Waldbesitzer: Rund 58 % der finnischen Wälder sind im Besitz von Privatpersonen, jede fünfte finnische Familie besitzt Waldgrundstücke. Jedes Jahr werden über 100.000 Einschlagverträge zwischen privaten Waldbesitzern und der Forstindustrie geschlossen. In den finnischen Wäldern werden jährlich rund 60 Millionen Kubikmeter Holz geschlagen. Nach Berechnungen des finnischen Landwirtschaftsministeriums übersteigt der jährliche Nachwuchs diese Menge deutlich. Die Abholzungen in nordfinnischen Urwäldern sind trotzdem in den vergangenen Jahren Gegenstand heftiger und teilweise auch militant vorgetragener Kritik durch verschiedene Naturschutzorganisationen geworden. === Industrie === Die finnischen Wälder stellen den wichtigsten Rohstoff des Landes dar. Dementsprechend war die Holz- und Papierindustrie bis in die jüngste Vergangenheit der prägende Industriezweig des Landes. Schon im 17. Jahrhundert war Finnland der weltweit größte Exporteur von Teer, Sägewerke waren im 19. Jahrhundert vielerorts die ersten Industriebetriebe. Noch in den 1970er Jahren machte die Holz- und Papierwirtschaft über die Hälfte des finnischen Exportes aus. Heute stellt sie noch rund 12 % der industriellen Produktion Finnlands und verarbeitet jährlich insgesamt über 75 Millionen Kubikmeter Rohholz. Rund ein Drittel des Rohholzes wird mechanisch zu Schnitt- und Spanholz verarbeitet, zwei Drittel chemisch zu Zellstoff. Die Konzerne Stora Enso, UPM-Kymmene und Metsä Board haben in den vergangenen Jahren verstärkt auch im Ausland investiert und zählen zu den Weltmarktführern der Papierindustrie. In den letzten Jahren ist die Papierindustrie in ihrer Bedeutung jedoch von der Metall- und besonders der Elektronikbranche überholt worden. Beide machen heute jeweils rund 20 % der Produktion aus, die Elektronikindustrie hat ihre Produktion von 1995 bis 2006 mehr als vervierfacht. Den Löwenanteil der Branche machen der Telekommunikationskonzern Nokia und seine Zulieferer aus. In der Metallindustrie machen Zulieferprodukte für die Forstindustrie gut 20 % der Produktion aus. Zu den bekannten Exporteuren der Branche gehören Fiskars, einer der ältesten metallverarbeitenden Betriebe Finnlands, der Aufzughersteller Kone sowie die Fahrzeughersteller Valmet und Sisu Auto. Einige Software-Unternehmen und bekannte Persönlichkeiten aus dieser Branche haben einen Bezug zu Finnland. So sind unter anderem die Erfinder von Linux und SSH Finnen. Des Weiteren kommt ein weitverbreitetes Softwareframework namens Qt aus Finnland. === Energiewirtschaft === Die wichtigsten Energiequellen Finnlands waren 2020 Holz (28 %), Öl (21 %), Kernenergie (19 %) sowie Erdgas und Kohle (je 9 %). Im Wärmesektor spielen Wärmepumpenheizungen eine wichtige Rolle. Im Jahr 2022 heizten 41 % der finnischen Haushalte mit Wärmepumpen, was nach Norwegen (60 %) und Schweden (43 %) der dritthöchste Anteil in Europa war. ==== Elektrizitätsversorgung ==== Finnland verfügt über zwei aktive Kernkraftwerke, die im Jahr 2022 für 35 Prozent der Gesamtstromerzeugung standen. Der Bau des auf einem russischen Design basierenden Kernkraftwerks Hanhikivi wurde 2022 aufgrund des Russischen Überfalls auf die Ukraine aufgegeben. Schwach- und mittelradioaktive Abfälle werden seit 1992 im Endlager Olkiluoto und seit 1998 zusätzlich im Endlager Loviisa entsorgt. In Olkiluoto soll zudem bis 2025 das Endlager Olkiluoto für hochradioaktive Abfälle in Betrieb gehen. Finnland übernimmt damit eine Vorreiterrolle, da zwischen dem Einsetzen der Brennelemente in den Reaktor und ihrem endlagerungsfähigen Zustand etwa ein halbes Jahrhundert vergeht (etwa 4 Jahre im Reaktor, 5 Jahre im Abklingbecken und 40 Jahre Trockenlagerung). Da die meisten Leistungsreaktoren der Welt in den 1970er Jahren errichtet wurden, kann eine Endlagerung frühestens in den 2020er Jahren erfolgen. Im Jahr 1990 betrug der Stromverbrauch Finnlands 62,3 TWh, 2016 waren es 82,2 TWh. Die Stromerzeugung setzte sich 2016 wie folgt zusammen: 26,2 % Kernenergie, 22,3 % Importe, 18,4 % Wasserkraft, 12 % Holz, 7,7 % Kohle, 4,3 % Erdgas, 3,6 % Wind und 3,2 % Torf. Der Rest wird durch Öl und gemischte Verbrennung fossiler und erneuerbarer Brennstoffe gedeckt. Davon wurden 47,1 % von der Industrie und Bauwirtschaft verbraucht, 28,3 % von der Landwirtschaft und Privathaushalten sowie 21,4 % vom Dienstleistungs- und öffentlichen Sektor. === Tourismus === Der Tourismus hat in Finnland besonders seit den 1990er Jahren an Bedeutung gewonnen. Im Jahr 2013 verzeichneten die Beherbergungsbetriebe Finnlands 20,2 Millionen Übernachtungen. Davon entfielen 14,4 Millionen Übernachtungen auf heimische Touristen. Die größte Gruppe unter den 5,9 Millionen ausländischen Gästen machten mit knapp 1,62 Millionen Übernachtungen Touristen aus Russland aus, gefolgt von Schweden, Deutschen und Briten. Rund ein Viertel der Übernachtungen entfiel auf die Landschaft Uusimaa mit der Region Helsinki, in der sich der finnische Städtetourismus konzentriert. Die bevölkerungsarme Provinz Lappland kam auf gut 2,4 Millionen Übernachtungen. Für die strukturschwache Region stellt der Tourismus heute eine bedeutende wirtschaftliche Perspektive dar. Die meisten Gäste kommen in den Wintermonaten und besuchen eines der 13 Wintersportzentren wie Ruka, Levi oder Ylläs. In den anderen ländlichen Gegenden konzentriert sich der Tourismus dagegen auf den Sommer und hat seine Spitze im Juli, wenn Gäste aus dem In- und Ausland ihren Urlaub in einem Sommerhaus (mökki) an einem der tausenden Seen Finnlands verbringen. === Kennzahlen === == Infrastruktur und Verkehr == === Feuerwehr === In der Feuerwehr in Finnland waren im Jahr 2019 landesweit 3.846 Berufs-, 3.806 Teilzeit- und 11.615 freiwillige Feuerwehrleute organisiert, die in 896 Feuerwachen und Feuerwehrhäusern, in denen 1.535 Löschfahrzeuge und 80 Drehleitern bzw. Teleskopmasten bereitstehen, tätig sind. Der Frauenanteil beträgt acht Prozent. Die nationale Feuerwehr- und Rettungsorganisation Suomen Pelastusalan Keskusjärjestö (SPEK) repräsentiert auch die finnischen Feuerwehren im Weltfeuerwehrverband CTIF. === Straßenverkehr === Im Verhältnis zur geringen Bevölkerungsdichte des Landes ist das finnische Straßennetz gut ausgebaut. Das Landstraßennetz umfasst insgesamt 78.189 km, wovon aber nur 65 % befestigt sind. Für deren Unterhalt ist die dem Verkehrs- und Kommunikationsministerium unterstellte Straßenverwaltung (tiehallinto) zuständig. Hinzu kommen rund 26.000 Kilometer kommunale Straßen und rund 350.000 Kilometer Privat- und Wirtschaftswege. Auf die Staatsstraßen (valtatie) und Hauptstraßen (kantatie), welche die Städte des Landes miteinander verbinden, entfallen zusammen 13.264 km. Den größeren Teil des Straßennetzes machen die kleineren Regionalstraßen (seututie) und Verbindungsstraßen (yhdystie) aus, auf ihnen spielt sich aber nur etwa ein Drittel des Verkehrs ab. Autobahnartig ausgebaut sind 700 km des Straßennetzes. Durchgehende Autobahnen existieren von Helsinki nach Turku, Tampere und Lahti, in der Planung befinden sich die beiden Lückenschlusse der Strecke zur russischen Grenze bei Vaalimaa. Von den 14.000 Brücken an den finnischen Landstraßen ist die auf die Insel Replot mit 1045 m die längste. In den Schärengebieten vor der Küste Finnlands unterhält die Straßenverwaltung 41 kostenfreie Fährstrecken mit Längen zwischen 169 m und 9,5 km. Im Winter werden offizielle Eisstraßen über die zugefrorenen Seen eingerichtet.Die zulässige Höchstgeschwindigkeit liegt außerorts bei 80, auf Autostraßen bei 100 und auf Autobahnen bei 120 km/h. Auch tagsüber muss mit Abblendlicht gefahren werden. Im Winter sind Winterreifen Vorschrift, Reifen mit Spikes sind dabei erlaubt und werden mehrheitlich verwendet. Fast jeder Ort kann mit dem Bus erreicht werden. In Finnland operierende Busunternehmen sind unter anderen Connex, Länsilinjat, Paunu, Pohjolan Liikenne und Savonlinja. Die Überlandlinien werden von verschiedenen im Matkahuolto-Verbund zusammenarbeitenden Busunternehmen unter der Marke Expressbus betrieben. === Schienenverkehr === Das finnische Eisenbahnnetz ist bei einer Gesamtlänge von 5944 in Betrieb befindlichen Schienenkilometern eher weitmaschig. Die erste Eisenbahnstrecke wurde 1862 zwischen Helsinki und Hämeenlinna eröffnet. Der weitere Ausbau des Netzes fand zum größten Teil noch zur Zeit der russischen Herrschaft statt, so dass das finnische Schienennetz die Russische Breitspur (1524 mm) hat. Die Verringerung des Nennmaßes auf 1520 mm wurde in Finnland offiziell nicht mitvollzogen, jedoch bedeutete sie nur eine Verringerung des Spurspiels; sämtliche Radsatzmaße und Toleranzen sind identisch und ein freizügiger Wagendurchlauf von und nach Russland ist möglich. Die staatliche Betreibergesellschaft wurde 1995 in zwei Teile gespalten: Die VR-Yhtymä ist als Eisenbahnverkehrsunternehmen für den Personen- und Güterverkehr zuständig, Liikennevirasto ist das für Netz und Bahnhöfe zuständige Eisenbahninfrastrukturunternehmen. Der Güterverkehr wurde 2007 für den Wettbewerb freigegeben, für den Personenverkehr ist dasselbe geplant. Als erster privater Konkurrent von VR-Yhtymä wollte die Firma Proxion Train im Jahr 2013 den Betrieb aufnehmen.Bis auf die wenigen Hauptverkehrsachsen sind die Strecken zumeist nur eingleisig ausgebaut, nur etwas über die Hälfte des Gesamtnetzes ist elektrifiziert. Die größten Städte werden mit den bis zu 220 km/h schnellen Hochgeschwindigkeitszügen Sm3 bedient. Nachtreisezüge und Autoreisezüge verbinden die großen Ballungsräume des Südens mit den nördlichen Regionen des Landes. Internationale Reisezüge gibt es nur nach Russland. Seit dem russischen Angriff auf die Ukraine wurden sie stark reduziert: Der Nachtzug Helsinki–Moskau und der Hochgeschwindigkeitsverkehr nach St. Petersburg wurden eingestellt. Die grenzüberschreitende Bahnstrecke Boden–Tornio nach Schweden befahren seit Anfang der 1990er Jahre nur noch Güterzüge. Der Eisenbahnfährverkehr, der zuletzt zwischen Stockholm Värtan und Turku bestand, wurde 2011 aufgegeben. Der finnische Schienengüterverkehr hat eine Transportleistung von jährlich 10 Milliarden Tonnenkilometern und hat damit einen Anteil am Modal Split von etwas mehr als einem Viertel.In der Region Helsinki gibt es ein S-Bahn-artiges Schienennahverkehrssystem. Die einzige U-Bahn des Landes ist die Metro Helsinki. Straßenbahnnetze existieren in Helsinki und Tampere, das in Turku wurde 1972 stillgelegt. === Schiffsverkehr === Große Bedeutung kommt der Küstenschifffahrt, für den Handel mit Russland auch der Binnenschifffahrt über den Saimaakanal zu. Über teils natürliche, teils künstlich geschaffene Wasserstraßen sind die größten Seen miteinander verbunden, so dass die Binnenschifffahrt auch weit im Landesinneren gelegene Orte erreicht. Der größte Seehafen ist Helsinki, gefolgt von Turku, Kotka, Hanko, Naantali, Rauma und Porvoo. Der bedeutendste Hafen der finnischen Fischereiflotte ist Kaskinen. Die Handelsflotte besitzt 92 Schiffe mit mehr als 1000 Bruttoregistertonnen. Da im Winter die Küstengewässer zufrieren, hält eine große Zahl von Eisbrechern die Hafenzufahrten frei. Im Personen- und Güterverkehr werden zwischen Finnland, Schweden, Russland, Estland und Deutschland Fähren eingesetzt. Linien der großen Fährunternehmen Eckeröline, Finnlines, Viking Line, Tallink und Silja Line verbinden die westfinnische Küste mit schwedischen Häfen. Reisen mit den sogenannten Schwedenschiffen (ruotsinlaiva), die an Bord Restaurants, Nachtklubs und Tax-Free-Shops bieten, nach Stockholm sind schon seit langem populär. Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion ist auch die estnische Hauptstadt Tallinn wegen ihrer malerischen Altstadt und des niedrigen Preisniveaus für Tagesausflügler aus Helsinki attraktiv geworden. Auf dieser Strecke innerhalb der Talsinki genannten Großstadtregion hat sich die Fahrzeit durch den Einsatz von Motorkatamaranen auf nur knapp zwei Stunden verringert. === Flugverkehr === Dem Binnenflugverkehr kommt wegen der Ausdehnung des Landes eine große Rolle zu. Ein dichtes Inlandsflugnetz bedient die größeren Orte, aber auch abgelegene Winkel in Lappland. Von den mehr als 150 Flughäfen und Flugplätzen in Finnland werden derzeit 22 regelmäßig von Linienfluggesellschaften angeflogen. Das mit Abstand meistfrequentierte Luftfahrt-Drehkreuz des internationalen wie des nationalen Flugverkehrs ist der Flughafen Helsinki-Vantaa. Fast alle Linienflughäfen sowie die Flugsicherung werden von der dem Verkehrsministerium unterstellten staatlichen Betreibergesellschaft Finavia unterhalten. Die nationale finnische Fluggesellschaft (Flagcarrier) ist die 1923 gegründete Finnair; sie ist zu rund 55 % in Staatsbesitz. Weitere Fluggesellschaften sind Nordic Regional Airlines (früher Flybe Nordic) und von 2012 bis 2014 die Regionallinie Air100; den Flugverkehr zum Flughafen Mariehamn auf Åland betreiben die Air Åland und Turku Air. == Kultur == Die finnische Kultur hat seit der vorhistorischen Zeit Einflüsse aus dem westlichen Europa wie auch aus Russland aufgenommen. Groß war der Einfluss Schwedens, zu dem Finnland jahrhundertelang gehörte, und auch Deutschlands, mit dem stets rege Handelsbeziehungen bestanden. In Ostfinnland und Karelien, die immer wieder ganz oder teilweise unter russischer Herrschaft standen, wirkte auch der orthodoxe Kulturkreis ein. Nach den Weltkriegen fand die internationale westliche Populärkultur auch in Finnland Einzug. Auch wenn heute die Urbanisierung Finnlands weit fortgeschritten ist, spielt die hergebrachte Bedeutung des Landlebens und der Naturnähe, ebenso wie alte Traditionen wie der alltägliche Gebrauch der Sauna im kulturellen Selbstverständnis der Finnen weiterhin eine tragende Rolle. === Küche === Die finnische Küche ist historisch in einer bäuerlich geprägten und recht armen Gesellschaft entstanden und stellt sich daher als einfache Volksküche dar. Die Küche Westfinnlands hat viele Einflüsse der schwedischen aufgenommen, während die ostfinnische Küche stärker russisch beeinflusst ist. Außerdem unterscheiden sich die Regionalküchen traditionell dahingehend, dass im Westen gekochte Speisen vorherrschen, während der Osten gebackene Speisen bevorzugt. Die Unterscheidung zwischen west- und ostfinnischer Küche spielt heute aber keine große Rolle mehr, da viele regionale Spezialitäten wie die Karelische Piroggen (karjalanpiirakka) im ganzen Land bekannt geworden sind. Ohnehin haben sich die Essgewohnheiten in Finnland weitgehend internationalisiert, so dass die Bedeutung der traditionellen Speisen zurückgegangen ist. Dazu gehören zum Beispiel der Brotkäse (leipäjuusto) oder der ostfinnische kalakukko (in Brot gebackener Fisch). An Festtagen gibt es bestimmte Traditionsspeisen, etwa das berühmt-berüchtigte mämmi (eine Art Malzpudding) zu Ostern oder verschiedene Aufläufe (laatikko) zu Weihnachten. Wie in Schweden ist es Brauch, donnerstags Erbsensuppe und anschließend Eierkuchen zu essen. Die Natur Finnlands liefert zahlreiche frische Zutaten wie Pilze und Beeren. Neben Blau- und Preiselbeeren gilt vor allem die seltene Moltebeere als Delikatesse. Außer Rind und Schwein wird insbesondere in ländlichen Gegenden oft auch Wild, z. B. Elchfleisch gegessen. Eine äußerst seltene Delikatesse ist Bärenfleisch. Vor allem in Nordfinnland kommt oft Rentierfleisch auf den Tisch, meist in Form von Rentiergeschnetzeltem (poronkäristys). Die zahlreichen Binnen- und Küstengewässer Finnlands liefern große Mengen an Fisch wie Hering, Lachs und Maräne. Beliebt, wenn auch heutzutage rar und teuer, sind auch Flusskrebse, deren Verzehr in der Krebssaison im Juli und August festlich zelebriert wird. Gemüse wird traditionell wenig gegessen, als Vitaminlieferant diente früher vor allem die Steckrübe. Gewürze waren der traditionellen Küche weitgehend unbekannt, hingegen wurde viel Salz benutzt. Typische Beilagen sind Kartoffeln und das landestypische dunkle Roggenbrot. === Bräuche und Feiertage === Der Nationalfeiertag Finnlands ist der 6. Dezember, das Datum der Unabhängigkeitserklärung im Jahr 1917. Der Unabhängigkeitstag ist mit Ritualen patriotischer Natur wie etwa dem Besuch von Kriegsgräbern verbunden. Am Abend findet im Präsidentenpalais ein festlicher Empfang statt, zu dem Würdenträger und Prominente aller Art eingeladen sind. Der Empfang des Präsidenten wird mit großem Interesse verfolgt, seine Fernsehübertragung erzielt regelmäßig die höchsten Einschaltquoten des Jahres.Das Weihnachtsfest ist auch in Finnland das wohl wichtigste Fest des Jahres und beginnt am 24. Dezember um 12 Uhr mittags mit der Verkündigung des Weihnachtsfriedens in Turku, einer jahrhundertealten, heute im Fernsehen übertragenen Zeremonie. Weihnachten wird traditionell im Kreise der Familie verbracht. Bei Einbruch der Dämmerung besucht man Familiengräber, danach folgt die „Weihnachtssauna“ und ein Festmahl, zu dem bestimmte Traditionsspeisen wie Schinken und verschiedene Aufläufe gehören. Die Bescherung übernimmt am Abend der Weihnachtsmann, der dem finnischen Volksglauben nach am Berg Korvatunturi in Lappland lebt. Den ersten Weihnachtsfeiertag verbringt man eher beschaulich, am 26. Dezember, dem Stephanitag, können Besuche abgestattet werden. Die Weihnachtszeit endet mit dem 6. Januar (loppiainen). Das Osterfest wird mit Bräuchen wie dem Bemalen von Ostereiern ähnlich begangen wie in den anderen europäischen Ländern. Zu Ostern verkleiden sich Kinder als Hexen und sammeln mit Weidenzweigen in der Hand von Tür zu Tür gehend Süßigkeiten. In dieser noch sehr jungen Tradition verbinden sich Elemente eines als virpominen bekannten orthodoxen Palmsonntags-Rituals aus Ostfinnland mit der finnlandschwedischen Tradition der Osterhexen. Die traditionelle finnische Osterspeise ist mämmi, ein aus Roggenmalz hergestellter Brei. Der 1. Mai wird in Finnland als vappu gefeiert. Er ist nicht nur der Tag der Arbeit, sondern vor allem auch der Tag der Studenten. Jeder, der einmal das Abitur gemacht hat, trägt zu vappu seine weiße Studentenmütze. Traditionell setzen die Studenten jedes Jahr um 18 Uhr am Vorabend des Ersten Mai der Statue Havis Amanda im Zentrum Helsinkis eine Studentenmütze auf. Vappu ist ein ausgelassenes Fest: Man feiert, meist mit viel Alkohol, auf den Straßen, in den Parks finden Picknicks und Konzerte statt. Am Samstag zwischen dem 20. und dem 26. Juni, wenn es in Finnland kaum oder gar nicht dunkel wird, feiert man das Mittsommerfest. Wenn auch juhannus, der finnische Name des Mittsommerfestes, auf Johannes den Täufer hinweist, sind die Riten der Feier größtenteils heidnischen Ursprungs. So entzündet man am Vorabend Mittsommerfeuer (juhannuskokko), die Häuser werden mit Birkenzweigen geschmückt. Das Mittsommerbrauchtum der schwedischsprachigen Regionen weicht von dem der finnischsprachigen ab, dort stellt man einen Mittsommerbaum (ähnlich dem Maibaum in Mitteleuropa) auf. Viele Finnen fahren über das Mittsommerwochenende aufs Land und verbringen das Fest dort in einem Ferienhaus (mökki). Dabei kommt es nicht zuletzt durch übermäßigen Alkoholkonsum regelmäßig zu Todesfällen durch Ertrinken und andere Unfälle: So kamen während des Mittsommerwochenendes 2012 mindestens 19 Menschen ums Leben. Der Freitag an Mittsommer ist kein gesetzlicher Feiertag, aber viele Unternehmen geben ihren Mitarbeitern frei, und Geschäfte schließen schon am Mittag. Unabhängig von den gesetzlichen Feiertagen gelten bestimmte Gedenktage als sogenannte Flaggentage, an denen die finnische Flagge an den meisten Häusern des Landes gehisst wird. Dazu gehören etwa der „Tag der finnischen Kultur“ am 28. Februar, dem Erscheinungsdatum des finnischen Nationalepos Kalevala, der als „Tag der finnischen Sprache“ begangene Todestag des Reformators Mikael Agricola am 9. April, der Tag des Finnentums am Geburtstag von Johan Vilhelm Snellman am 12. Mai, aber auch der Tag des Schwedentums am 6. November, dem Todestag des schwedischen Königs Gustav II. Adolf. === Architektur === Die ältesten erhaltenen Bauwerke Finnlands sind mittelalterliche Steinkirchen und -burgen. Die älteste Burg Finnlands ist die auf das späte 13. Jahrhundert zurückgehende Burg Turku. Die 73 erhaltenen mittelalterlichen Steinkirchen aus dem 13. bis 16. Jahrhundert sind fast ausnahmslos aus Feldstein erbaut, meist eher klein, turmlos und allenfalls mit schlichter Backsteinornamentik verziert. Einzig der Dom von Turku erreicht die Proportionen mitteleuropäischer Kathedralen. Wohn- und Zweckbauten wurden von jeher zumeist aus Holz errichtet, oft in Blockbauweise. Größere Holzhausviertel finden sich heute noch in den Altstädten von Rauma, Porvoo und Naantali. Im 17. und 18. Jahrhundert ging man auch im Kirchenbau zur Holzbauweise über. Als typisches Beispiel dieser Architekturtradition wurde die Alte Kirche von Petäjävesi (1765) in die Liste des UNESCO-Weltkulturerbes aufgenommen. Nachdem Finnland unter russische Herrschaft gekommen war, wurde 1812 die Hauptstadt des neugeschaffenen Großfürstentums Finnland nach Helsinki verlegt. Die bisher unbedeutende Stadt wurde unter der Ägide des deutschen Architekten Carl Ludwig Engel zu einer repräsentativen Hauptstadt im Stil des Klassizismus ausgebaut. Insbesondere das Ensemble um den Senatsplatz mit dem Dom ist hervorzuheben. Auch in anderen Städten des Landes entstanden klassizistische Bauten. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts kamen in der finnischen Architektur zwischenzeitlich Neogotik und Neorenaissance auf. Nachhaltigere Bedeutung erlangte indessen die vom Jugendstil beeinflusste Nationalromantik der Zeit um die Jahrhundertwende. Beispiele für die nationalromantische Architektur in Finnland sind die Wohnbauten der Helsinkier Stadtteile Katajanokka und Eira oder der von Eliel Saarinen entworfene Hauptbahnhof Helsinki (1919). Als Gegenrichtung zum Jugendstil ist der sogenannte Nordische Klassizismus für die Architektur nach Erlangung der finnischen Unabhängigkeit kennzeichnend. In den 1920er Jahren entstanden zahlreiche neuklassizistische Bauten, ihren Abschluss fand diese Stilepoche 1931 mit dem monumentalen Parlamentsgebäude in Helsinki. In den 1930er Jahren setzte sich dann der nüchterne Funktionalismus durch, dessen bekanntester Vertreter Alvar Aalto ist. In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts kam es in vielen Städten Finnlands zum Verlust prägender historischer Bausubstanz. Dieses Phänomen wird heute als Turun tauti (dt. Turkuer Seuche) bezeichnet, da Turku als erste Stadt maßgeblich davon betroffen war. === Medien === InformationsgesellschaftFinnland zählt zu den fortgeschrittensten Informationsgesellschaften weltweit. Für die Nichtregierungsorganisation Reporter ohne Grenzen gehört Finnland seit vielen Jahren zu den Staaten mit den freiesten Medien weltweit. Im Digital Opportunity Index der Internationalen Fernmeldeunion und dem ICT Diffusion Index der Vereinten Nationen, den beiden maßgeblichen Indizes zum Fortschritt von Informations- und Kommunikationstechnologien, nimmt Finnland jeweils den weltweit elften Rang ein. Im Jahr 2020 nutzten 92,2 Prozent der Einwohner Finnlands das Internet. Rundfunk Im Rundfunk dominiert nach wie vor das öffentlich-rechtliche Yleisradio (kurz Yle) den Markt. Das 1926 gegründete Yleisradio ist zu 99,9 % in Besitz des finnischen Staats und untersteht dem Verkehrs- und Informationsministerium. Die beiden Fernsehprogramme Yle TV1 und Yle TV2, der Bildungskanal Yle Teema und das schwedischsprachige Vollprogramm Yle Fem sowie vier Radioprogramme werden landesweit ausgestrahlt, daneben betreibt Yle dutzende Lokalradiosender. Der Sendebetrieb von Yle wird aus einem Fonds finanziert, der sich ausschließlich aus den allgemeinen Rundfunkgebühren und Einnahmen aus Lizenzen für den Sendebetrieb privater Anbieter speist; das Programm ist somit werbefrei. Schon mit der Einführung regelmäßiger Fernsehsendungen durch die Yle im Jahr 1957 wurde zugleich Finnlands erster werbefinanzierter Privatsender ins Leben gerufen, aus dem sich das heutige MTV3 entwickelte, seit 1997 gibt es mit Nelonen einen weiteren landesweit empfangbaren Privatsender. Die ersten Lizenzen für private Radiosender wurden erst in den 1980er Jahren erteilt. Seit dem 1. September 2007 werden sämtliche Fernsehkanäle in Finnland ausschließlich digital ausgestrahlt. BuchmarktDie 103 Verlage, die 2013 in der Gesellschaft der finnischen Verlage (Suomen kustannusyhdistys) organisiert waren, veröffentlichten im selben Jahr etwa 10.000 Neuerscheinungen. Der Nettoumsatz der Branche lag mit 253,6 Millionen Euro um 2,3 Prozent niedriger als im vorhergehenden Jahr. ZeitungsmarktInsbesondere im Printbereich hat sich mit der Deregulierung des Marktes in den vergangenen Jahren auch eine starke Medienkonzentration eingestellt; die beiden Medienkonzerne Sanoma und Alma Media nehmen eine marktbeherrschende Stellung ein. Die 53 Tageszeitungen und 153 weiteren Zeitungen erscheinen in einer Gesamtauflage von 3,3 Millionen Exemplaren, womit Finnland die höchste Gesamtauflage pro Kopf in der EU erreicht. Die bei weitem auflagenstärkste und auch einflussreichste Zeitung ist die Helsingin Sanomat, gefolgt von den überregionalen Boulevardblättern Ilta-Sanomat und Iltalehti. Die Verbreitung der weiteren Zeitungstitel ist regional begrenzt. Das Sprachrohr der schwedischsprachigen Bevölkerung ist das in Helsinki erscheinende Hufvudstadsbladet. BibliothekenDie Finnische Nationalbibliothek verzeichnet insgesamt 5836 Verlage; aber etwa ein Drittel des Umsatzes und gut die Hälfte der Buchproduktion entfällt auf die zehn größten unter ihnen (vor allem Sanoma, Bonnier, Otava). In den 827 Bibliotheken leihen die Finnen im Durchschnitt 13 Bücher pro Jahr aus (in Deutschland: drei Bücher pro Benutzer und Jahr). === Literatur === Schon in vorchristlicher Zeit verfügten die Finnen über eine reiche mündlich überlieferte Volksdichtung, die vor allem Motive der paganischen finnischen Mythologie zum Gegenstand hatte. Die literarische Produktion begann erst mit der Christianisierung im 13. Jahrhundert, blieb aber bis zur Reformation sehr spärlich und beschränkte sich auf lateinische Sakraltexte. Die ersten Texte in finnischer Sprache entstanden nach der Reformation im 16. Jahrhundert, als man der lutherischen Lehre gemäß begann, das Wort Gottes in der Sprache des Volkes zu verkünden. Der Reformator Mikael Agricola legte mit seinem Hauptwerk, der Übersetzung des Neuen Testaments 1548, den Grundstein für eine finnische Schriftsprache. In den folgenden Jahrhunderten gab es nur vereinzelte literarische Tätigkeiten hauptsächlich religiösen Charakters, von einer literarischen Kultur konnte nicht die Rede sein.Im frühen 19. Jahrhundert fasste die Romantik unter der Wirkung der Lehren des einflussreichen Humanisten Henrik Gabriel Porthan in Form der sogenannten Turkuer Romantik in Finnland Fuß. Ihr herausragendster Vertreter war der auf Schwedisch schreibende Dichter Frans Michael Franzén. Nachdem Finnland 1809 unter russische Herrschaft gekommen war, begann sich ein finnisches Nationalbewusstsein herauszubilden, zu dessen Entwicklung der Schriftsteller Johan Ludvig Runeberg – ebenfalls auf Schwedisch – wesentlich beitrug. Runebergs Hauptwerk war das Versepos Fähnrich Stahl (1848/1860), aus dem unter anderem die Nationalhymne Finnlands entnommen ist. Johan Vilhelm Snellman, der wichtigste finnische Denker jener Zeit, hob die Rolle der finnischen Sprache für die Entwicklung einer finnischen Nation hervor, und unter seinem Einfluss sah man es als wesentliche Aufgabe der finnischsprachigen Literatur an, zum Aufbau einer nationalen Identität beizutragen. Zugleich weckte die Romantik ein Interesse an der finnischen Volksdichtung. Elias Lönnrot zeichnete auf mehreren Reisen in Ostkarelien mündlich übermittelte Lieder auf und schuf auf dieser Grundlage das finnische Nationalepos Kalevala (erste Fassung 1835, zweite Fassung 1849) und dessen lyrisches Schwesterwerk Kanteletar (1840). Das Kalevala verschuf der finnischen Identität enormen Auftrieb, sah man es doch als Ausdruck eines eigenständigen Kulturerbes, und prägt bis heute die finnische Kultur.Als Begründer der modernen finnischen Literatur gilt Aleksis Kivi. Er schuf mit Die sieben Brüder (1871) den finnischen Roman, zudem schrieb er die ersten Dramen in finnischer Sprache. Mit Kivi begann sich die finnische Literatur an gesamteuropäischen Strömungen zu orientieren. Die wichtigsten Vertreter des gesellschaftskritischen Realismus waren Minna Canth, Juhani Aho sowie Arvid Järnefelt. Die zuvor wenig entwickelte finnische Literatur erreichte nun ein Niveau, das durchaus mit dem der skandinavischen Nachbarländer mithalten konnte.Der bedeutendste Schriftsteller der Zwischenkriegszeit war Frans Eemil Sillanpää. Er erfuhr in den 1930er Jahren mit Silja die Magd auch international Beachtung und erhielt im Jahr 1939 als erster und bislang einziger finnischer Literat den Nobelpreis für Literatur. Unter den Theaterautoren der Zwischenkriegszeit war Hella Wuolijoki führend. Eines ihrer Stücke diente Bertolt Brecht als Vorlage für Herr Puntila und sein Knecht Matti (1940). Nach Kriegsende wusste Väinö Linna mit seinem Roman Kreuze in Karelien (1954) das in der finnischen Gesellschaft herrschende Bedürfnis nach einer Auseinandersetzung mit dem verlorenen Krieg zu befriedigen. In ähnlicher Weise verarbeitet sein zweites großes Werk, Hier unter dem Polarstern (1959–1962), den Finnischen Bürgerkrieg. Diese Romantrilogie ist das meistverkaufte finnische Buch. Der im Ausland meistgelesene finnische Schriftsteller ist indes Mika Waltari. Sein bekanntestes Werk, der historische Roman Sinuhe der Ägypter (1945), wurde in zahlreiche Sprachen übersetzt und 1954 in Hollywood verfilmt. Zu ähnlicher internationaler Bekanntheit gelangten die Mumin-Kinderbücher der finnlandschwedischen Autorin Tove Jansson. === Musik === Die finnische Volksmusik speist sich aus zwei Quellen. Die ältere stellen die oft als Kalevala-Musik bezeichneten Weisen dar, in denen die finnische Volksdichtung rezitiert und von Generation zu Generation mündlich überliefert wurden. Diese Runen (finnisch runo) genannten Lieder wurden zumeist in einfachen pentatonischen Melodien gesungen, entweder von einem Solisten oder im Wechselgesang, begleitet von der Kantele, dem finnischen Nationalinstrument. Die zweite Traditionslinie ist die Spielmann-Musik (pelimanni), die sich beginnend im 17. Jahrhundert von Mittel- und Osteuropa nach Finnland verbreitete. Im Gegensatz zu den Runen sind die Spielmannlieder tonal und in den üblichen europäischen Strophen- und Reimformen gehalten. Mit der Gründung eines Sommerfestivals in Kaustinen begann 1968 die bis heute anhaltende Renaissance der finnischen Volks- und Folkmusik. In den 1990er Jahren gelang es Folkbands wie Värttinä, im Rahmen der Weltmusik auch ein internationales Publikum zu erreichen. In diesem Kontext ist mit Interpreten wie Nils-Aslak Valkeapää der gutturale Joik-Gesang der Samen einer breiteren Öffentlichkeit bekannt geworden. Als Vater der klassischen Musik in Finnland gilt der aus Hamburg stammende Fredrik Pacius, der durch seine Lehrtätigkeit in Helsinki ab 1834 das Idiom der deutschen Romantik nach Finnland vermittelte. Pacius komponierte 1848 zu einem schwedischsprachigen Text von Johan Ludvig Runeberg die finnische Nationalhymne. Auch das Frühwerk Jean Sibelius’ (1865–1957) ist entscheidend von der deutschen Romantik und Anleihen an der finnischen Volksmusik geprägt, doch wurde er insbesondere mit seinen in die Moderne weisenden späteren Orchesterwerken und seinem Violinkonzert zum international meistbeachteten finnischen Komponisten. Seine Musik ist mit ihrem nationalromantischen Pathos für die Finnen in hohem Maße identitätsstiftend und Sibelius für die jüngeren finnischen Komponisten eine Art Überfigur, mit oder gegen die sie ihr eigenes Schaffen definieren. In jüngerer Zeit haben im Anschluss an die Wiederbelebung der Savonlinna-Opernfestspiele 1967 vor allem die Opern von Kalevi Aho, Aulis Sallinen und Einojuhani Rautavaara international Beachtung erfahren, unter den Opernsängern die Bässe Kim Borg, Martti Talvela und Matti Salminen. Der Klassikernachwuchs wird an der renommierten Sibelius-Akademie ausgebildet, der einzigen Musikhochschule des Landes. Aus der Dirigentenschmiede der Akademie gingen Granden wie Leif Segerstam, Esa-Pekka Salonen und Jukka-Pekka Saraste hervor. Mit mehr als 30 Sinfonieorchestern hat Finnland eine außergewöhnlich hohe Orchesterdichte.Der international weitgehend unbekannte finnische Schlager erfreut sich seit Beginn des 20. Jahrhunderts einiger Beliebtheit. Waren die Kompositionen in der Vergangenheit teils noch von hohem künstlerischem Anspruch beseelt, so etwa die Lieder Georg Malmsténs und die Couplets von Reino Helismaa und Tapio Rautavaara, so ist der heutige finnische Schlager mit seinen Stars wie Katri Helena zumeist als seichte Unterhaltungsmusik zu bezeichnen. Eine Besonderheit stellt der finnische Tango dar, der mit dem Erfolg des „Tangokönigs“ Olavi Virta seine Hochzeit in den 1940er und 1950er Jahren hatte. Insbesondere Unto Mononens Komposition Satumaa (Märchenland) gilt als Inbegriff finnischer Wehmut. Schlager, Tango und Humppa werden traditionell zum Paartanz in den zahlreichen zumeist außerhalb der Städte am Seeufer gelegenen Tanzpavillons aufgespielt. Metal ist in Finnland ausgesprochen populär. So kann etwa eine Metal-Band wie Children of Bodom mit einiger Regelmäßigkeit die Spitze der Musikcharts belegen. In zahlreichen Subgenres des Metal haben finnische Bands seit langem große Popularität erreicht und auch Einfluss ausgeübt, so etwa Children of Bodom im Melodic Death Metal, Stratovarius und Sonata Arctica im Power Metal, Finntroll und Korpiklaani im Folk Metal oder Nightwish im Symphonic Metal. Seit Anfang der 2000er Jahre haben finnische Rock- und Metalbands wie HIM, The Rasmus, Negative, Lovex, Sunrise Avenue und Nightwish auch international Charterfolge feiern können. Nachdem Finnland beim im Land vielbeachteten Eurovision Song Contest seit seiner erstmaligen Teilnahme 1961 regelmäßig die hinteren Ränge belegt hatte, gelang der Hardrock-Band Lordi 2006 der erste finnische Sieg in diesem Wettbewerb. Ebenfalls international erfolgreich sind die durch ihre Interpretationen bekannter Pop- und Rocksongs bekannt gewordenen Leningrad Cowboys. === Bildende Kunst === Eine eigenständige finnische Kunst entwickelte sich nach bescheidenen Anfängen in der sakralen Kunst des Mittelalters, von denen Wandmalereien in den Kirchen jener Zeit zeugen, erst im 19. Jahrhundert. Anfangs standen die finnischen Künstler des 19. Jahrhunderts wie Robert Wilhelm Ekman, die Brüder Magnus, Wilhelm und Ferdinand von Wright, Werner Holmberg oder Fanny Churberg unter deutschem Einfluss. Mit den Werken Carl Eneas Sjöstrands und Walter Runebergs begann sich auch eine finnische Bildhauerei herauszubilden. Die Zeit zwischen 1880 und 1910 gilt als „goldenes Zeitalter“ der finnischen Kunst. Die Künstler dieser Epoche wie die Maler Albert Edelfelt, Akseli Gallen-Kallela, Eero Järnefelt, Pekka Halonen und Helene Schjerfbeck oder der Bildhauer Ville Vallgren bezogen ihre Einflüsse nun aus Paris und wurden erstmals auch außerhalb des Landes bekannt. Das sich entwickelnde finnische Nationalbewusstsein und die Russifizierungsbemühungen des russischen Zaren zu jener Zeit führten zu einer Hinwendung zu finnisch-nationalen Themen. Die nationalromantische Begeisterung für das Kalevala und dessen Ursprungsort Karelien manifestierte sich in einer als Karelianismus bekannten Strömung. Vor allem Akseli Gallen-Kallelas Werke zum finnischen Nationalepos prägen bis heute die visuelle Vorstellung vom Kalevala. Während Gallen-Kallelas Anfangswerk noch dem Realismus zuzurechnen ist, wandte er sich später dem Symbolismus zu, den auch Magnus Enckell und Hugo Simberg vertraten. Im 20. Jahrhundert waren die verschiedenen Stilrichtungen der Moderne in der finnischen Kunst vorherrschend. Nachdem sich Wäinö Aaltonen in den 1920er und 1930er Jahren mit seinen monumentalen Skulpturen zum führenden Bildhauer Finnlands entwickelt hatte, wurde in den 1960er Jahren in der Bildhauerei der konventionelle Stil von abstrakten Plastiken wie Eila Hiltunens Sibelius-Monument verdrängt. Zur gleichen Zeit erlebte die Malerei mit dem Einzug der Informellen Kunst einen radikalen Umbruch. Das finnische Design genießt dank der funktionalistischen Entwürfe Alvar Aaltos aus den 1930er Jahren und der Erfolge von Designern wie Tapio Wirkkala, Timo Sarpaneva und Kaj Franck in den 1950er Jahren international einen guten Ruf. Bekannte finnische Designermarken sind der Keramikproduzent Arabia, die Glasfabrik Iittala, die Möbelfirma Artek und der Textilproduzent Marimekko. Die bedeutendste Kunstsammlung des Landes ist die Finnische Nationalgalerie. Sie geht auf die Sammlungen des 1846 gegründeten Finnischen Kunstvereins zurück und wird von vier Museen in der Hauptstadt Helsinki gebildet: Dem Ateneum, dem Kiasma-Museum für zeitgenössische Kunst, dem Sinebrychoff-Kunstmuseum sowie dem Zentralarchiv der bildenden Kunst. === Film === In Finnland werden jährlich durchschnittlich ein Dutzend Filme produziert. Ihr Anteil an den Zuschauerzahlen liegt im Schnitt bei 14 %. Aufgrund des bei einer Bevölkerungszahl von 5 Millionen kleinen Marktes sind fast alle inländischen Produktionen auf staatliche Filmförderung angewiesen. Diese werden von der dem Bildungsministerium unterstellten Finnischen Filmstiftung (Suomen Elokuvasäätiö) gewährt. Die Stiftung wird größtenteils durch staatliche Sportwetten- und Spielautomaten-Einnahmen finanziert und verteilt Fördermittel von rund 13 Millionen Euro im Jahr in erster Line für die Produktion, aber auch für den Vertrieb finnischer Filme im Ausland. Der erste in Finnland gedrehte Film war ein kurzer Dokumentarfilm über eine karelische Hochzeit aus dem Jahr 1904, der erste Spielfilm folgte 1907. Als einflussreichster Regisseur und Produzent der Stummfilmära gilt Erkki Karu (1887–1935), dessen Werk wie die meisten Filme jener Zeit eine national gesinnte Linie vertritt. Seine Glanzzeit erlebte der finnische Film zwischen der Einführung des Tonfilms in den 1930er Jahren und dem Beginn des Siegeszugs des Fernsehens in den 1950er Jahren. Damals wurde jeder finnische Film von durchschnittlich 400.000 Zuschauern gesehen, also über einem Zehntel der Bevölkerung. Als Reaktion auf die zurückgehenden Zuschauerzahlen wurde Ende der 1950er Jahre die Filmstiftung gegründet. Anfang der 1980er Jahre trat eine neue Generation von Filmemachern in den Vordergrund, deren bekannteste Vertreter die Brüder Aki und Mika Kaurismäki sind. Vor allem Aki Kaurismäki avancierte international zu einem Kultregisseur. Sein Film Leningrad Cowboys Go America (1989) ist einer der international meistbeachteten Filme aus finnischer Produktion, Der Mann ohne Vergangenheit (2002) gewann in Cannes den Großen Preis der Jury und war für den Oscar als bester fremdsprachiger Film nominiert. International ausgezeichnete finnische Schauspieler sind Matti Pellonpää (1951–1995) und Kati Outinen (* 1961), die beide zur konstanten Besetzung in Kaurismäkis Filmen gehören. Anfang der 1990er Jahre konnte sich mit Renny Harlin erstmals ein finnischer Regisseur in Hollywood durchsetzen. Der erfolgreichste Film in Finnland überhaupt war die Verfilmung des Väinö-Linna-Romans Tuntematon sotilas („Der unbekannte Soldat“, dt. Titel: Kreuze in Karelien) von Edvin Laine aus dem Jahr 1955 mit insgesamt 2,8 Millionen Zuschauern. Der meistgesehene Film des 21. Jahrhunderts ist Aleksi Mäkeläs Pahat pojat von 2002 mit 614.628 Zuschauern. Die Krimi-Filmkomödie Kommissar Palmu irrt sich (Komisario Palmun erehdys, 1960, Regie: Matti Kassila) wurde 2012 in einer von der Rundfunkanstalt Yle organisierten Umfrage von finnischen Filmkritikern und Journalisten zum „besten einheimischen Film aller Zeiten“ gewählt.In Finnland wird alljährlich ein nationaler Filmpreis vergeben: Seit 1944 werden die besten finnischen Kinoproduktionen und Filmschaffenden mit dem Preis der finnischen Filmakademie (Filmiaura) ausgezeichnet, dem Jussi. Zudem finden zwei international bekannte Filmfestivals statt. Seit 1970 wird in Tampere das Tampere International Short Film Festival, ein vom internationalen Filmproduzentenverband FIAPF akkreditiertes Kurzfilmfestival, veranstaltet. Das Midnight Sun Film Festival gehört zu den exotischeren Filmfestivals, findet es doch in Sodankylä statt, fast 100 Kilometer nördlich des Polarkreises. Es wurde 1986 von den Kaurismäki-Brüdern als eine Art Gegenveranstaltung zu glamourösen Filmfestspielen wie in Cannes ins Leben gerufen. === Sport === Finnland gilt als sehr sportbegeistertes Land, sowohl was den Breitensport als auch das Zuschauerinteresse angeht. Rund 1,1 Millionen Finnen (über ein Fünftel der Bevölkerung) sind Mitglieder von Sportvereinen. Populäre Sportveranstaltungen erreichen im finnischen Fernsehen regelmäßig Zuschauerzahlen von bis zu 1,4 Millionen.Erfolge bei sportlichen Wettkämpfen sind für die Finnen ein wichtiger Teil ihrer nationalen Identität. Erfolgreiche Sportler werden als Nationalhelden angesehen. Vor allem in den Zwanzigerjahren des 20. Jahrhunderts waren finnische Leichtathleten erfolgreich. Bei den Olympischen Spielen 1924 in Paris belegte Finnland gar den zweiten Platz im Medaillenspiegel. Paavo Nurmi, der „fliegende Finne“, ist mit neun Goldmedaillen einer der erfolgreichsten Athleten der Olympia-Geschichte. Ihm wird nachgesagt, er habe „Finnland auf die Weltkarte gelaufen“. Bis in die heutige Zeit erfolgreich sind insbesondere Speerwerfer wie der Weltmeister von 2007 Tero Pitkämäki. Besonders ausgeprägt ist von jeher die sportliche Rivalität zum Nachbarland Schweden, die sich im Stellenwert des jährlich ausgetragenen finnisch-schwedischen Länderkampfes widerspiegelt. Der Finnische Arbeitersportverband stand der Gewerkschaftsbewegung nahe und startete nicht bei bürgerlichen Wettkämpfen. Es ist Erik von Frenckell zu verdanken, dass nach dem Zweiten Weltkrieg für die Nationalmannschaft eine Startgemeinschaft der beiden Verbände entstand, so dass die Olympischen Sommerspiele 1952 in Helsinki zu einem Meilenstein der Sportgeschichte Finnlands wurden, da nun auch im Sport die nationale Einheit demonstriert werden konnte. Ursprünglich sollte Helsinki bereits die Spiele 1940 austragen, die aber wegen des Zweiten Weltkrieges abgesagt werden mussten. Dieses internationale Ereignis war für das kleine Land, das sich gerade erst von den Kriegsfolgen erholte, eine Möglichkeit, sich der Weltöffentlichkeit zu präsentieren. Der Sport wird oft auch als Verkörperung der finnischen Nationaltugend sisu (etwa: Beharrlichkeit, Ausdauer) angesehen. Ein gerne genanntes Beispiel ist der viermalige Olympiasieger Lasse Virén, der bei den Olympischen Spielen 1972 in München trotz eines Sturzes mit Weltrekordzeit die Goldmedaille über 10.000 Meter gewann. Entsprechend groß war der Schock nach dem Dopingskandal bei der Nordischen Skiweltmeisterschaft 2001 in Lahti, als sich herausstellte, dass die finnischen Skilangläufer systematisch gedopt hatten. Neben der Leichtathletik besitzen insbesondere Wintersportarten eine lange Tradition. Im Skilanglauf konnte Finnland unter anderen mit Veikko Hakulinen, Eero Mäntyranta, Marja-Liisa Kirvesniemi und Mika Myllylä immer wieder Olympiasieger und Weltmeister stellen. In den letzten Jahren konnten Skispringer wie Janne Ahonen und Matti Hautamäki an die Erfolge von Matti Nykänen und Toni Nieminen anknüpfen. Im Biathlon konnte Kaisa Mäkäräinen als erste Finnin den Weltcup der Saison 2010/11 und eine Goldmedaille bei Weltmeisterschaften (2011) gewinnen. Die populärste Mannschaftssportart ist Eishockey. Spieler wie Teemu Selänne, Saku Koivu und Jere Lehtinen waren Stars in der NHL, heute (2020) zählen Spieler wie Sebastian Aho, Patrik Laine und Tuukka Rask zu den finnischen NHL-Stars. Die finnische Liiga (bis 2013 SM-liiga) gehört zu den europäischen Spitzenligen. Die größten Erfolge der finnischen Eishockeynationalmannschaft waren die Weltmeisterschaftssiege 1995, 2011, 2019 und 2022. Als finnischer Nationalsport gilt indes das im Ausland weitgehend unbekannte Pesäpallo (Finnisches Baseball), das allerdings im Zuschauerinteresse klar hinter dem Eishockey liegt.Fußball hat in Finnland weniger Popularität als Eishockey. Die finnische Fußballnationalmannschaft nahm 2021 an der Fußball-Europameisterschaft teil, nachdem sie sich zum ersten Mal für eine Welt- oder Europameisterschaft qualifiziert hatte. Jedoch spielen oder spielten einige finnische Fußballer wie Jari Litmanen, Sami Hyypiä und Mikael Forssell erfolgreich im Ausland und haben damit die Beliebtheit der Sportart in Finnland gesteigert. Erfolgreicher ist die Nationalmannschaft der Frauen, die bei der Europameisterschaft 2005 überraschend das Halbfinale erreichte. Weitere beliebte Mannschaftssportarten sind Floorball, wo die finnische Nationalmannschaft sowohl bei Männern als auch Frauen zur Weltspitze gehört, und Basketball, wo die finnische Nationalmannschaft der Männer zuletzt in aufsteigender Form war und sich 2014 erstmals für die Weltmeisterschaft qualifizierte. Lauri Markkanen schaffte es als erster Finne, sich in der NBA zu etablieren, weitere bekannte finnische Basketballer sind Hanno Möttölä, Petteri Koponen, Kimmo Muurinen und Carl Lindbom. Sehr populär ist in Finnland der Motorsport. Formel-1-Rennen erreichen dank der Weltmeister Kimi Räikkönen oder zuvor Mika Häkkinen und Keke Rosberg regelmäßig hohe Einschaltquoten. Rallye gilt als finnische Domäne, das Land brachte bisher fast die Hälfte aller Rallye-Weltmeister hervor. Der finnische Speedway- und Langbahnpilot Joonas Kylmäkorpi gewann 2013 zum vierten Mal hintereinander die Langbahn-Weltmeisterschaft. Jarmo Hirvasoja gewann für Finnland die Eisspeedway-Weltmeisterschaft. Special Olympics Finnland wurde 1990 gegründet und nahm mehrmals an Special Olympics Weltspielen teil. Der Verband hat seine Teilnahme an den Special Olympics World Summer Games 2023 in Berlin angekündigt. Die Delegation wird vor den Spielen im Rahmen des Host Town Programs von Bochum betreut. == Siehe auch == Liste der Städte in Finnland == Literatur == Olli Alho (Hrsg.): Kulturlexikon Finnland. Finnische Literaturgesellschaft, Helsinki 1998, ISBN 951-717-032-5. Ingrid Bohn: Finnland – Von den Anfängen bis zur Gegenwart. Friedrich Pustet, Regensburg 2005, ISBN 3-7917-1910-6. Astrid Feltes-Peter: Baedeker Allianz-Reiseführer Finnland. 6. Auflage. Karl Baedeker, Ostfildern 2012, ISBN 978-3-8297-1333-7. Anssi Halmesvirta (Hrsg.): Land unter dem Nordlicht. Eine Kulturgeschichte Finnlands. Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 2013, ISBN 978-3-534-25920-5. Edgar Hösch: Kleine Geschichte Finnlands. Beck, München 2009, ISBN 978-3-406-58455-8. Matti Klinge: Geschichte Finnlands im Überblick. 4., überarbeitete Auflage, Otava, Helsinki 1995, ISBN 951-1-13822-7. Rasso Knoller: Finnland. Ein Länderporträt. Links, Berlin 2011, ISBN 978-3-86153-646-8 Rasso Knoller: Finnland. 9. Auflage, Karl Baedeker, Ostfildern 2019, ISBN 978-3-8297-4675-5. Henrik Meinander: Finnlands Geschichte. Linien, Strukturen, Wendepunkte. Scoventa, Bad Vilbel 2017, ISBN 978-3-942073-45-5. Ekkehard Militz: Finnland (Perthes Länderprofile). Klett-Perthes, Gotha/Stuttgart 2002, ISBN 3-623-00698-X. Pentti Virrankoski: Suomen historia. (Geschichte Finnlands in zwei Bänden, finnischsprachig) SKS, Helsinki 2001, ISBN 951-746-321-9. OECD Territorial Reviews Finland. OECD Publishing 2005, Vollansicht bei Google Books. == Weblinks == finland.fi, Seite des finnischen Außenministeriums Länderinformationen des deutschen Auswärtigen Amtes, des österreichischen Bundesministeriums für Europa, Integration und Äußeres und des Eidgenössischen Departements für auswärtige Angelegenheiten zu Finnland CIA World Factbook: Finnland (englisch) == Anmerkungen == == Einzelnachweise ==
https://de.wikipedia.org/wiki/Finnland
Indien
= Indien = Indien [ˈɪndi̯ən] (Eigennamen unter anderem Hindi Bhārat Gaṇarājya und englisch Republic of India) ist ein Staat in Südasien. Indien umfasst den größten Teil des indischen Subkontinents. Der Himalaya bildet die natürliche Nordgrenze Indiens, im Süden umschließt der Indische Ozean das Staatsgebiet. Indien grenzt an Pakistan, das chinesische Autonome Gebiet Tibet, Nepal, Bhutan, Myanmar und Bangladesch. Weitere Nachbarstaaten im Indischen Ozean sind Sri Lanka und die Malediven. Hinsichtlich seiner Landesfläche ist Indien das siebtgrößte Land der Erde. Mit etwa 1,426 Milliarden Einwohnern ist Indien seit April 2023 vor der Volksrepublik China der bevölkerungsreichste Staat der Erde und somit die bevölkerungsreichste Demokratie der Welt. Durch fortschreitende Modernisierung, Bildung, Wohlstand und Verstädterung sinkt die Geburtenrate seit Anfang der 1980er Jahre.Die Bundesrepublik Indien wird von 28 Bundesstaaten sowie acht bundesunmittelbaren Gebieten gebildet. Hauptstadt ist Neu-Delhi, Teil der Metropole Delhi. Die bevölkerungsreichste Stadt und zugleich das Wirtschafts- und Finanzzentrum ist Mumbai. Weitere Ballungsräume sind Kalkutta, Chennai, Bengaluru, Hyderabad, Ahmedabad und Pune. Das Gebiet Indiens ist mindestens seit der bronzezeitlichen Indus-Hochkultur zivilisiert. Seit seiner Unabhängigkeit vom Vereinigten Königreich 1947 und dem Britischen Weltreich ist es Mitglied der Commonwealth of Nations, zunächst als Kaiserreich mit dem britischen Monarchen als Kaiser von Indien und seit 1950 als demokratisch und säkular verfasste Republik. Das politische System Indiens basiert seither auf einer parlamentarischen Republik nach dem Vorbild des britischen Westminster-Systems. Die indische Gesellschaft wird trotz verfassungsmäßiger Religionsfreiheit vom religiösen hierarchischen Kastensystem bestimmt. Die mit Abstand größte Religionsgruppe sind die Hindus, gefolgt von Muslimen, Christen und den historisch aus Indien stammenden Sikhs, Buddhisten und Jaina. Das Entwicklungsprogramm der Vereinten Nationen zählt Indien zu den Ländern mit mittlerer menschlicher Entwicklung. Beim Ländervergleich des Index der menschlichen Entwicklung lag Indien im Jahr 2021 auf Rang 132 von 191 weltweit.Wirtschaftlich gilt Indien als Schwellenland. Es gehört zu den O5- und BRICS-Staaten und der Gruppe der zwanzig wichtigsten Industrie- und Schwellenländer (G20). Trotz seines niedrigen Pro-Kopf-Einkommens und -Vermögens, teilweise großer Armut, hoher Arbeitslosigkeit und ausgeprägter Einkommensungleichheit ist Indien aufgrund seiner großen Bevölkerung die dritt- bzw. sechstgrößte Wirtschaftsmacht der Welt (kaufkraftbereinigt bzw. nominal). Das Land war 2015 erstmals die am schnellsten wachsende Volkswirtschaft der G20-Gruppe, hat sich zu einem Zentrum für Informationstechnologie und -dienstleistungen entwickelt und verfügt über eine stetig wachsende Mittelschicht sowie eine der weltweit größten Softwareindustrien. Seit 2014 ist der hindu-nationalistische Politiker Narendra Modi Premierminister Indiens. Unter ihm hat sich der Zustand von Demokratie und Menschenrechten in Indien stetig verschlechtert. == Geografie == === Landschaftsgliederung === Indien ist mit 3.287.490 Quadratkilometern der siebtgrößte Staat der Erde. Er erstreckt sich in West-Ost-Richtung vom 68. bis zum 97. östlichen Längengrad über rund 3000 Kilometer. Von Nord nach Süd, zwischen dem 8. und dem 37. Grad nördlicher Breite, beträgt die Ausdehnung rund 3200 Kilometer. Indien grenzt an sechs Staaten: Pakistan (2912 Kilometer), China (Autonomes Gebiet Tibet; 3380 Kilometer), Nepal (1690 Kilometer), Bhutan (605 Kilometer), Myanmar (1463 Kilometer) und Bangladesch (4053 Kilometer). Insgesamt beträgt die Grenzlänge somit 14.103 Kilometer. Da der nördliche Teil des umstrittenen Kaschmir seit 1949 unter pakistanischer Kontrolle steht (Waffenstillstand nach dem Kaschmir-Konflikt), hat Indien keine gemeinsame Grenze mit Afghanistan mehr. Die Küste des Landes ist rund 7000 Kilometer lang. Die natürliche Grenze im Norden und Nordosten bildet der Himalaya, das höchste Gebirge der Welt, das im äußersten Nordwesten durch das Hochtal des Indus vom Karakorum und der diesem vorgelagerten Ladakh Range getrennt wird. Südlich an den Himalaya schließen sich die breiten, fruchtbaren Stromebenen der Flüsse Ganges und Brahmaputra an. Im Westen geht das Stromland des Ganges in die Wüste Thar über, die im Osten und Süden vom Aravalligebirge begrenzt wird. Südlich davon liegen die Sümpfe des Rann von Kachchh sowie die Halbinsel Kathiawar. Den Nordosten Indiens, einschließlich der Brahmaputra-Ebene, verbindet nur ein schmaler Korridor zwischen Bangladesch und Nepal bzw. Bhutan mit dem übrigen Land. Die Nordostregion wird durch das bis zu 3800 Meter hohe Patkai- oder Purvachalgebirge von Myanmar sowie die knapp 2000 Meter hohen Khasi-Berge von Bangladesch abgeschirmt. Das Hochland von Dekkan nimmt den größten Teil der keilförmig in den Indischen Ozean vorragenden indischen Halbinsel ein. Das Vindhya- und das Satpuragebirge schirmen den Dekkan von der Gangesebene im Norden ab. Im Westen wird er von den bis zu 2700 Meter hohen Westghats, im Osten von den flacheren Ostghats begrenzt. Beide Gebirgszüge treffen im Süden, wo die Halbinsel spitz zum Kap Komorin zuläuft, zusammen. Die Westghats fallen steil zur Konkan- und Malabarküste entlang des Arabischen Meeres ab. Die Ostghats gehen in die breiteren östlichen Küstenebenen am Golf von Bengalen über. Zu Indien gehören außerdem drei dem indischen Subkontinent vorgelagerte Inselgruppen. Rund 300 Kilometer westlich der Malabarküste liegen die Korallenatolle von Lakshadweep, das die Inselgruppen der Lakkadiven und Amindiven sowie die Insel Minicoy umfasst. Südöstlich der Halbinsel, zwischen 1000 und 1600 Kilometer vom indischen Festland entfernt, erstrecken sich die Andamanen und Nikobaren, die zugleich die östliche Grenze des Golfs von Bengalen markieren. Höchster Punkt Indiens ist der Berg Kangchendzönga mit 8586 m Höhe. Er liegt im äußersten Westen Sikkims; über ihn verläuft die Grenze zu Nepal. Der höchste vollständig auf indischem Gebiet liegende Berg ist die Nanda Devi mit 7822 m. Vor dem Beitritt des damaligen Königreichs Sikkim zur indischen Union im Jahr 1975 war dies auch der höchste Berg Indiens. Der tiefste Punkt ist die zwei Meter unter dem Meeresspiegel gelegene Kuttanad-Senke an der Malabarküste. === Flüsse und Seen === Alle größeren Flüsse Indiens entspringen in einer der drei Hauptwasserscheiden des Subkontinents: im Himalaya, in den zentralindischen Vindhya- und Satpura-Bergen oder in den Westghats. Indiens längster und bedeutendster Fluss ist der Ganges (Ganga), der im Himalaya entspringt. Seine längsten Nebenflüsse sind die Yamuna und der Gomti; der Chambal ist ein Zufluss der Yamuna. Der Brahmaputra, dessen Oberlauf seinerseits den Himalaya vom Transhimalaya trennt und der das Land im Nordosten durchfließt, vereinigt sich mit dem Ganges und bildet vor der Mündung in den Golf von Bengalen ein gewaltiges Delta. An diesem hat Indien im Westen Anteil; der Großteil des Gangesdeltas liegt auf dem Territorium des Nachbarstaates Bangladesch. Fast ein Drittel der Fläche Indiens gehört zum Einzugsgebiet von Ganges und Brahmaputra. Im äußersten Norden durchquert der Indus in Südost-Nordwest-Richtung das Unionsterritorium Ladakh. Das Hochland von Dekkan wird von mehreren großen Flüssen entwässert. Die Narmada und der Tapti münden ins Arabische Meer, während Godavari, Krishna, Mahanadi und Kaveri zum Golf von Bengalen fließen. Trotz seiner Größe hat Indien nur wenige große natürliche Seen. Zwecks Bewässerung und Stromerzeugung wurden im ganzen Land teils riesige Stauseen angelegt. Die größten sind der Hirakud-Stausee (746 Quadratkilometer) in Odisha, der Gandhi-Stausee (648 Quadratkilometer) in Madhya Pradesh und der Govind-Ballabh-Pant-Stausee (465 Quadratkilometer) an der Grenze zwischen Uttar Pradesh und Chhattisgarh. === Geologie === Die Theorie der Kontinentalverschiebung besagt, dass Indien bis gegen Ende des Jura zum Südkontinent Gondwana gehörte. In der Kreidezeit riss es von der Kontinentalscholle der Antarktis ab und driftete in erdgeschichtlich extrem kurzen 50 Millionen Jahren quer durch den gesamten Tethys-Ozean gegen den Süden der Eurasischen Platte. Das Aufeinandertreffen der beiden Erdteile erfolgte vor geschätzt etwa 43 bis 64 Millionen Jahren am Anfang des Paläogens. In der resultierenden gemeinsamen „Knautschzone“ dieser Krustenbewegungen wurden der Himalaya und benachbarte Gebirgssysteme aufgeschoben (Auffaltung der früheren Kontinentalränder) und das Hochland von Tibet angehoben. Obwohl einzelne Krustenteile sich inzwischen miteinander verschweißt haben, bewegt sich die Indische Platte bis heute nach Norden, so dass sich der Himalaya jährlich um einige Millimeter hebt – ebenso wie andere Faltengebirge der Erde, von denen er eines der jüngsten ist. Die ihm vorgelagerten Flussebenen entstanden durch Sedimentablagerungen im Pleistozän. Vielfältiger sind die Gesteinsformationen des Dekkan. Den Großteil nehmen proterozoische Formationen im Süden und Osten, der in der Kreidezeit entstandene vulkanische Dekkan-Trapp im Westen und Nordwesten sowie ungeformte Kratone im Nordosten und Norden ein, die zu den ältesten Teilen der Erdkruste gehören. === Klima === Mit Ausnahme der Bergregionen herrscht in Nord- und Zentralindien vornehmlich subtropisches Kontinentalklima, im Süden und in den Küstengebieten dagegen ein stärker maritim geprägtes tropisches Klima. So treten im Norden im Jahresverlauf teils erhebliche Temperaturschwankungen auf. In den nördlichen Tiefebenen herrschen im Dezember und Januar 10 bis 15 °C; in der heißesten Zeit zwischen April und Juni sind Höchsttemperaturen von 40 bis über 50 °C möglich. Im Süden ist es dagegen ganzjährig (relativ konstant) heiß. Die Niederschlagsmengen werden im ganzen Land maßgeblich vom Indischen Monsun beeinflusst. Der Südwest- oder Sommermonsun setzt in den meisten Landesteilen im Juni ein und bringt je nach Region bis September oder Oktober ergiebige Niederschläge. Dabei zieht die Monsundepression von Südosten nach Nordwesten, wodurch die Niederschlagsmengen in der Regel im Südosten des Landes am höchsten sind. Auch die sehr unterschiedliche Topographie hat einen enormen Einfluss auf Niederschlagsverteilung. So regnet sich die feuchtmaritime Luft an orographischen Hindernissen, zum Beispiel Gebirgen, in Form von Steigungsregen ab. Daher gehen die stärksten Regengüsse an der Westküste, in den Westghats, an den Hängen des Himalayas und in Nordostindien nieder. Der Himalaya, auf den der Monsun trifft, ist der Grund dafür, dass Indien die weltweit höchsten Regensummen erzielt. Der Ort Cherrapunji hält gleich mehrere weltweite Niederschlagsrekorde. Am trockensten ist es in der Thar, die sich im Nordwesten des Landes befindet und so am wenigsten vom Monsun beeinflusst wird. Die aus Zentralasien kommenden Nordost- oder Wintermonsunwinde zwischen Oktober und Juni bringen kaum Feuchtigkeit. Durch den starken Temperaturkontrast zwischen der kalten, trockenen Luft im Inneren des Kontinents (Tibetisches Hochplateau) zum im Vergleich warmen Süden, strömt diese kalte Luftmasse nach Süden und erwärmt sich beim Absinken vom Himalaya, sodass ein trockener, warmer Fallwind in Indien Einzug hält. Daher gehen in den meisten Gegenden 80 bis über 90 % der jährlichen Gesamtniederschlagsmenge während der Sommermonate nieder. Nur der Südosten erhält auch während des Nordostmonsuns Regen, da die Luftströmungen über dem Golf von Bengalen Feuchtigkeit aufnehmen. === Vegetation === Der Größe des Landes und den verschiedenen klimatischen Bedingungen in den einzelnen Landesteilen entsprechend weist Indien eine große Landschaftsvielfalt auf. Dabei reicht die Pflanzenwelt Indiens von Hochgebirgsvegetation im Himalaya bis zu tropischen Regenwäldern im Süden. Weite Teile der ursprünglichen Vegetationsdecke sind heute zerstört, stattdessen ist Indien überwiegend durch Kulturlandschaften geprägt. Nur noch etwa ein Fünftel des Landes ist bewaldet, wobei offizielle Angaben hierzu schwanken und auch degradierte Gebiete sowie offene Wälder mit einbeziehen. Für das Jahr 2015 wird eine Waldfläche von 701.700 km² angegeben: 21,3 % der Landesfläche (3.287.300 km²). 2001 betrugen die Werte noch 768.400 km² und 23,4 % – in 14 Jahren schrumpfte Indiens Waldfläche um 9,5 %. In den tieferen Lagen des Himalayas erstrecken sich noch ausgedehnte Wälder. Da die Niederschläge an den Hängen des Gebirges von Ost nach West abnehmen, finden sich im Osthimalaya immergrüne subtropische und gemäßigte Feucht- und Regenwälder, die nach Westen hin lichter und trockener werden. Laubwälder mit Eichen und Kastanien herrschen vor; charakteristisch für den Osthimalaya sind Rhododendren. In höheren Lagen dominieren Nadelbäume, insbesondere Zedern und Kiefern. Die steppen- und wüstenartigen Hochtäler in Ladakh und anderen Teilen des westlichen Innerhimalayas gehen in das trockene Hochland von Tibet über. Die Vegetationsgrenze liegt bei etwa 5000 Metern. Der schwer zugängliche Nordosten ist teils noch dicht bewaldet. Besonders hohe Niederschlagsmengen ermöglichen dort halbimmergrüne Feuchtwälder. Der weitaus größte Teil der Gangesebene, des Dekkans und der angrenzenden Randgebirge war früher von Monsunwäldern bedeckt; heute gibt es davon nur noch Reste, zumeist in Bergregionen. Die landwirtschaftlich intensiv genutzten Ebenen sind dagegen praktisch waldfrei. Monsunwälder werfen während der Trockenperioden Laub ab. Je nach Niederschlagsmenge und Länge der Trockenperiode unterscheidet man zwischen Feucht- und Trockenwäldern. Wälder, die zwischen 1500 und 2000 Millimeter Jahresniederschlag erhalten, werden in der Regel als laubabwerfende Feuchtwälder bezeichnet. Sie herrschen im nordöstlichen Dekkan, Odisha und Westbengalen sowie im Lee der Westghats vor. Bei Niederschlägen zwischen 1000 und 1500 Millimetern im Jahr spricht man von laubabwerfenden Trockenwäldern; diese dominieren in Indien. Wegen der dünneren Baumkronen haben Monsunwälder ein dichtes Unterholz. Die charakteristische Baumart des Nordens ist der Sal (Shorea robusta), im zentralen und westlichen Dekkanhochland ist es der Teakbaum (Tectona grandis) und den Süden der Halbinsel prägen Sandelholzbäume (Santalum album). Bambusarten sind weit verbreitet. In den trockeneren Teilen Indiens, wie Rajasthan, Gujarat, dem Westrand des Gangestieflandes oder dem zentralen Dekkan, wachsen die insbesondere medizinisch genutzten, endemischen Niembäume. Im ariden Klima haben sich offene Dornwälder ausgebildet, die in der Wüste Thar in Halbwüstenvegetation mit vereinzelten Dornbüschen übergehen. In den feuchten Westghats gibt es noch relativ große zusammenhängende Teile der ursprünglichen, immergrünen oder halbimmergrünen Feuchtwälder. Sie sind durch die für tropische Regenwälder typische Stockwerkgliederung geprägt. Einige der hoch wachsenden Baumarten des obersten Stockwerkes werfen jahreszeitbedingt ihr Laub ab, darunter wachsende Arten sind dagegen immergrün. Aufsitzerpflanzen wie Orchideen und Farne kommen in großer Vielfalt vor. Mangroven, salzwasserresistente Gezeitenwälder, sind nur an der Ostküste Indiens verbreitet. Die Sundarbans im Ganges-Brahmaputra-Delta weisen die dichtesten Mangrovenbestände des Landes auf. Weitere Gezeitenwälder befinden sich in den Mündungsdeltas von Mahanadi, Godavari und Krishna. === Tierwelt === Dank seiner Landschaftsvielfalt findet man in Indien eine äußerst artenreiche Tierwelt vor. Man schätzt, dass etwa 350 Säugetier-, 1200 Vogel-, 400 Reptilien- und 200 Amphibienarten dort heimisch sind. Viele Arten kommen allerdings nur noch in Rückzugsgebieten wie Wäldern, Sümpfen, Berg- und Hügelländern vor. In indischen Gewässern leben zudem mehr als 2500 Fischarten. Indiens größte Säugetierart ist der Indische Elefant, der neben dem Königstiger wohl auch am bekanntesten ist. Der Tiger war lange Zeit vom Aussterben bedroht, durch Einrichtung von Tigerschutzgebieten konnten sich die Bestände aber wieder erholen. Dennoch gibt es nur wenige tausend Exemplare in freier Wildbahn. Außer dem Tiger leben noch andere Großkatzen in Indien, darunter Leoparden und Löwen. Letztere sind ausschließlich im Gir-Nationalpark in Gujarat, dem letzten Rückzugsgebiet des Asiatischen Löwen, anzutreffen. Der seltene Schneeleopard bewohnt die hohen Gebirgsregionen des Himalaya. Die bekannteste und weitverbreitetste der kleineren Raubtierarten ist der Mungo. Das Panzernashorn lebt fast nur noch in den Sumpf- und Dschungelgebieten Assams, vor allem im Kaziranga-Nationalpark. Weit verbreitet sind dagegen Paarhufer. Dazu gehören unter anderem Wildschweine, Muntjaks, Sambars, Axishirsche, Schweinshirsche, Barasinghas, Wasserbüffel, Gaur sowie mehrere Antilopenarten. Die Pferdeartigen sind durch den Kiang im Himalaya und den Khur, eine Unterart des Asiatischen Esels, in der Halbwüste von Gujarat vertreten. Auch Affen sind in Indien häufig anzutreffen. Rhesusaffen gelten den Hindus als heilig, dürfen nicht belästigt werden und haben sich daher sogar in Städten ausgebreitet. Im Süden des Landes wird der vom etwas kleineren Indischen Hutaffen ersetzt. Die in ganz Indien verbreiteten Hanuman-Languren werden ebenfalls als heilig erachtet. Daneben gibt es weitere Langurenarten sowie Makaken. In den Trockengebieten des Nordwestens leben noch einige indische Halbesel, die sich vor allem im Dhrangadhra-Wildreservat im Kleinen Rann von Kachchh aufhalten. Im feuchten Osten des Landes leben dagegen Arten des tropischen Regenwaldes, wie Weißbrauengibbons und Nebelparder. Weiterhin erwähnenswerte Säugetiere sind die Rothunde, Streifenhyänen, Bengalfüchse, die hauptsächlich Graslandschaften bewohnen, und die dichte Wälder bevorzugenden Lippenbären. Im Ganges, Brahmaputra und deren Nebenflüssen findet sich gelegentlich noch der Gangesdelfin. Indiens Vogelwelt ist mit über 1200 einheimischen Arten – mehr als in ganz Europa – überaus vielfältig. Dazu kommen im Winter unzählige Zugvögel aus Nordasien. Der Pfau gilt als Nationalvogel und ist weit verbreitet. Häufig sind auch Tauben, Krähen, Webervögel, Spechte, Pittas, Drongos, Sittiche, Nektarvögel und Pirole. In Feuchtgebieten leben Störche, Reiher, Kraniche, Ibisse und Eisvögel. Unter den Greifvögeln waren Schmutz- und Bengalgeier am verbreitetsten. Während letzterer in den 1980er Jahren noch allgegenwärtig war, ist er jedoch zusammen mit zwei nah verwandten Arten unabsichtlich durch ein Veterinärmedikament fast vollständig ausgerottet worden. Etwa die Hälfte aller in Indien heimischen Reptilienarten sind Schlangen wie die Brillenschlange, die Königskobra und der Tigerpython. In Feuchtgebieten findet man aber auch Sumpfkrokodile. Sehr selten ist der scheue, fischfressende Gangesgavial. Eine Besonderheit ist das Vorkommen von Chamäleons im südlichen Indien und Sri Lanka, die ansonsten in Südasien fehlen. === Naturkatastrophen === Indien wird immer wieder von verschiedenen Naturkatastrophen heimgesucht, besonders Überschwemmungen, die während des Sommermonsuns durch extreme Niederschlagsmengen im ganzen Land auftreten können. Während der trockenen Jahreszeit oder bei Ausbleiben der Monsunregenfälle kommt es dagegen häufig zu Dürren. Auch Zyklone und dadurch bedingte Flutwellen, vor allem an der Ostküste, kosten oft viele Menschenleben und richten verheerende Schäden an. In einigen Gebieten besteht auch erhöhte Erdbebengefahr, namentlich im Himalaya, den Nordoststaaten, Westgujarat und der Region um Mumbai. Am 26. Dezember 2004 verursachte ein Seebeben im Indischen Ozean einen verheerenden Tsunami, der an der Ostküste und auf den Andamanen und Nikobaren 7793 Menschenleben forderte und schwerste Verwüstungen anrichtete. === Natur und Umweltschutz === Mit einer sehr großen Artenvielfalt und Biodiversität (insbesondere in einem schmalen Streifen an der feuchttropischen Südwestküste), ausgesprochen vielen endemischen Arten, Gattungen und Familien von Pflanzen und Tieren sowie vielfältigen Ökosystemen wird Indien zu den Megadiversitätsländern dieser Erde gerechnet. Zudem werden aufgrund der großen Gefährdungslage die Regenwälder der Westghats als Biodiversitäts-Hotspot geführt. Indien verfügt über eine umfangreiche Umweltschutzgesetzgebung, die aber in vielen Fällen nur mangelhaft umgesetzt wird. Knapp 5 % der Landesfläche sind als Naturschutzgebiete ausgewiesen, deren Zahl sich auf fast 600 beläuft, darunter 92 Nationalparks. Wasserknappheit ist eines der größten Umweltprobleme Indiens. Staudämme und künstliche Bewässerungssysteme sollen die Wasserversorgung in trockenen Gebieten sicherstellen. Übermäßige Bewässerung ist einer der Hauptgründe für die vielerorts sinkenden Grundwasserspiegel; zudem sind schätzungsweise 60 % der landwirtschaftlichen Nutzflächen von Bodenerosion, Versalzung oder Vernässung betroffen. Darüber hinaus wird abgeholzt, übermäßig bewässert und gedüngt. Die Wasser- und Sanitärversorgung in Indien hat sich seit den 1980er Jahren drastisch verbessert. Während nahezu die gesamte Bevölkerung Indiens heute Zugang zu Toiletten hat, haben dennoch viele Menschen keinen Zugang zu sauberem Wasser und Abwasserinfrastruktur. Verschiedene Regierungsprogramme auf nationaler, bundesstaatlicher und kommunaler Ebene haben zu einer raschen Verbesserung der Sanitärversorgung und der Trinkwasserversorgung geführt. Einige dieser Programme laufen noch. Verschmutztes und verseuchtes Wasser trägt wesentlich zur Entstehung und Verbreitung von Infektionskrankheiten bei. NGOs wie die Water Literacy Foundation und staatliche Stellen wie das Ministry of Drinking Water and Sanitation bemühen sich um eine Verbesserung der Situation. 1980 wurde der Abdeckungsgrad der ländlichen Abwasserentsorgung auf 1 % geschätzt, dieser erreichte 2018 95 %. Der Anteil der Inder mit Zugang zu verbesserten Wasserquellen ist von 72 % im Jahr 1990 auf 88 % im Jahr 2008 erheblich gestiegen. Gleichzeitig werden lokale Regierungsinstitutionen, die mit der Bereitstellung von Trinkwasser und sanitären Einrichtungen beauftragt sind, als schwach angesehen und verfügen nicht über die finanziellen Mittel, um ihre Aufgaben zu erfüllen. Darüber hinaus verfügen nur zwei indische Städte über eine kontinuierliche Wasserversorgung und nach einer Schätzung aus dem Jahr 2018 haben noch immer etwa 8 % der Inder keinen Zugang zu verbesserten sanitären Einrichtungen.Die Luftverschmutzung ist insbesondere in den indischen Metropolen sehr hoch. Fabrikanlagen, Kleinindustrie, Kraftwerke (darunter zahlreiche Kohlekraftwerke), Verkehr und private Haushalte emittieren zahlreiche Luftschadstoffe, unter anderem große Mengen an Feinstaub. Nach einer Studie der Weltgesundheitsorganisation war Delhi im Jahr 2014 in Hinsicht auf Luftqualität die schmutzigste Stadt der Welt. Kalkutta war 1984 die erste Stadt, die ein U-Bahn-Netz in Betrieb nahm, 2002 folgte Delhi. Mumbai und Chennai haben ein vergleichsweise gut ausgebautes Zugnetz. LKWs, Busse, über 5.000 Diesellokomotiven, Autorikshas, private PKWs, Motorräder und Mopeds tragen zur Luftverschmutzung bei. Die Zahl der PKW pro 1000 Einwohner gilt als sehr gering. Die CO2-Emission hat in der Vergangenheit stark zugenommen; Ursachen waren unter anderem das Bevölkerungswachstum, die fortschreitende Industrialisierung und zunehmender Verkehr. Indien galt 2015 als das Land mit den drittgrößten Treibhausgas-Emissionen weltweit; es emittierte pro Kopf 1,6 Tonnen. Indien unterzeichnete am 2. Oktober 2016 das Übereinkommen von Paris. Die unzureichenden technischen Anlagen in Fabriken führen oft zu Beeinträchtigungen oder vermeidbaren Emissionen. In Bhopal traten 1984 in der Pestizid-Fabrik der amerikanischen Union Carbide (UCC) hochgiftige Gase aus (Katastrophe von Bhopal). Innerhalb von Tagen starben 7000 Menschen, 15.000 weitere starben an Spätfolgen, Tausende erlitten chronische Gesundheitsschäden. Schutzgebiete Indienweit gibt es im März 2019 insgesamt 868 Schutzgebiete in Natur- und Landschaftsschutz (PA: Protected Areas), mit einem Anteil von 5 % an Indiens geografischer Gesamtfläche von 3.287.000 Quadratkilometern (inklusive der von Indien verwalteten Teile von Kaschmir) – ein Zuwachs von 11.000 km² oder 0,35 % seit 2009: == Landesname == Der Name Indien ist vom Strom Indus abgeleitet. Dessen Name geht wiederum über Vermittlung des Altgriechischen (Indos) und Altpersischen (Hinduš) auf das Sanskrit-Wort sindhu mit der Bedeutung „Fluss“ zurück. Die europäischen Seefahrer bezeichneten ganz Süd- und Südostasien als Indien. Davon zeugen noch Begriffe wie Inselindien („Insulinde“) und der Staatsname Indonesien. Auch die Bezeichnung Ostindien war zur Unterscheidung von den als Westindische Inseln bezeichneten Inseln der Karibik gebräuchlich, die Christoph Kolumbus auf der Suche nach dem Seeweg nach Indien entdeckt hatte. In der Kolonialzeit reduzierte sich die Bezeichnung schrittweise bis auf die heutigen Gebiete von Indien, Pakistan und Bangladesch, um schließlich bei der indischen Staatsgründung seine heutige Bedeutung anzunehmen. Von der persischen Form Hind beziehungsweise Hindustan leiten sich auch die Bezeichnung Hindu und der Name der Sprache Hindi her. Der amtliche Name Indiens in den meisten Landessprachen (z. B. Hindi Bhārat) stammt von der Sanskrit-Bezeichnung Bhārata ab, die „(Land) des Bharata“ bedeutet und auf einen mythischen Herrscher verweist. == Geschichte == === Vorgeschichte und klassisches Zeitalter === Die Industal-Zivilisation, größtenteils im heutigen Pakistan gelegen, war eine der frühen Hochkulturen der Welt, mit einer eigenen Schrift, der bisher nicht entzifferten Indus-Schrift. Um etwa 2500 v. Chr. existierten dort geplante Städte wie Harappa, mit einer Kanalisation, Seehäfen und Bädern, während angenommen wird, dass in Südindien noch weniger entwickelte Verhältnisse herrschten. Weiter östlich machen sich andere archäologische Komplexe bemerkbar wie die so genannte Kupfer-Hort-Kultur. Ab 1700 v. Chr. setzte aus bislang unbekannten Gründen der Zerfall der Indus-Kultur ein. Eine für die weitere Entwicklung Indiens sehr wichtige Periode war die vedische Zeit (etwa 1500 bis 500 v. Chr.), in der die Grundlagen der heutigen Kultur geschaffen wurden. Über die politische Entwicklung ist weitaus weniger bekannt als über die religiöse und philosophische Entwicklung. Gegen Ende der vedischen Zeit wurden die Upanishaden geschaffen, die in vielerlei Hinsicht die Basis der in Indien entstandenen Religionen Hinduismus, Buddhismus und Jainismus bilden. In diese Zeit fallen die Urbanisierung in der Gangesebene und der Aufstieg regionaler Königreiche wie Magadha. Ab dem 6. Jahrhundert v. Chr. entfaltete sich der Buddhismus, der rund 500 Jahre lang neben dem Hinduismus die maßgebliche Geistesströmung Indiens darstellte. Im 4. Jahrhundert v. Chr. entstand mit dem Maurya-Reich erstmals ein indisches Großreich, das unter Ashoka fast den gesamten Subkontinent beherrschte. Ashoka wandte sich nach zahlreichen Eroberungszügen dem Buddhismus zu, den er im eigenen Land und bis nach Sri Lanka, Südostasien und im Mittleren Osten zu verbreiten suchte. Im 3. Jahrhundert v. Chr. blühten die Prakrit-Literatur und die tamilische Sangam-Literatur im südlichen Indien auf. Während dieser Zeit herrschten im südlichen Indien die drei tamilischen Dynastien Chola, Pandya und Chera. Nach dem Tod von Ashoka zerfiel das Maurya-Reich allmählich erneut in zahllose Kleinstaaten, die erst im 4. Jahrhundert n. Chr. von den Gupta wieder zu einem Großreich in Nordindien geeint werden konnten, deren Reich im frühen 6. Jahrhundert auch infolge der Angriffe der Hunas unterging. Mit dem Buddhismus übte Indien einen wesentlichen kulturellen Einfluss auf den gesamten Bereich von Zentral- und Ostasien aus. Die Ausbreitung des Hinduismus und Buddhismus über Indochina bis in das heutige Indonesien prägte Geschichte und Kultur dieser Länder. Als letzter großer Förderer des Buddhismus in Indien gilt Harshavardhana, dessen Herrschaft im Nordindien des 7. Jahrhunderts den Übergang zum indischen Mittelalter markiert. === Indisches Mittelalter und Mogulzeit === Arabische Eroberungszüge im 8. Jahrhundert brachten den Islam nach Nordwestindien. Als die Araber versuchten, nach Gujarat und darüber hinaus vorzudringen, wurden sie vom indischen König Vikramaditya II der westlichen Chalukya-Dynastie besiegt. Vom 8. Jahrhundert bis zum 10. Jahrhundert herrschten die drei Dynastien Rashtrakuta, Pala und Pratihara über einen großen Teil Indiens und kämpften untereinander um die Vorherrschaft in Nordindien. Im Süden Indiens herrschten die Chola-Dynastie und die Chalukya-Dynastie vom 10. Jahrhundert bis zum 12. Jahrhundert. Zu einer Dominanz muslimischer Staaten im Norden sowie zur Islamisierung größerer Teile der dortigen Bevölkerung kam es jedoch erst mit den Invasionen zentralasiatischer islamischer Mächte ab dem 12. Jahrhundert. Das Sultanat von Delhi weitete seine Macht sogar kurzzeitig auf den Süden aus, dennoch blieb sein kultureller Einfluss auf den Norden begrenzt. Der Mongoleneinfall des Jahres 1398 schwächte das Sultanat, so dass die hinduistischen Regionalreiche wiedererstarkten. Erholen konnten sich die muslimischen Herrscher erst im 16. Jahrhundert mit der Gründung des Mogulreiches, das für rund 200 Jahre zur bestimmenden Kraft des Nordens wurde und noch bis 1857 Bestand hatte. Herausragende Herrscher wie Akbar I., Jahangir, Shah Jahan und Aurangzeb dehnten nicht nur die Grenzen des Reiches bis auf den Dekkan aus, sondern schufen auch ein funktionierendes Verwaltungs- und Staatswesen und förderten die Künste. Auch die philosophische Bildung war hoch und ging von den konkurrierenden Schulen in Delhi und Lucknow aus. Während man in Delhi besonders eine Rückkehr zu den frühislamischen Lehren forderte, wurde in Lucknow Logik, Recht und Philosophie, insbesondere der Aristotelismus, gelehrt. Hinduistische Königtümer gab es während ihrer Zeit nur noch in Südindien, etwa in Vijayanagar. Im späten 17. Jahrhundert wurde das hinduistische Maratha-Reich gegründet, das im 18. Jahrhundert das Mogulreich überrannte und einen großen Teil Nordindiens eroberte. Geschwächt von den Angriffen der Marathen, war das Reich nach Aurangzebs Tod erheblich destabilisiert. Aus dem Niedergang der inneren Sicherheit und der schlechten Vernetzung von Zentrum und Provinzen resultierte eine politische Dezentralisierung, welche wiederum einherging mit ökonomischer Umorientierung. Regionale Märkte wurden gestärkt und eine neue soziale Gruppe aus erfolgreichen Händlern entstand. Durch sie wurde Indien auch intellektuell umgeprägt: Der Ruf nach sozialer Gleichheit wurde laut. Sie pflegten engen Kontakt mit Europa und standen in starkem Kontrast zu der hierarchisch-elitären Erbaristokratie des Landes. Somit wurde das 18. Jahrhundert in Indien zu einer Zeit des Umbruchs, in der regionale Herrscher, europäische Handelsmächte und der geschwächte Mogul um die Vorherrschaft über das Land rangen. === Europäische Kolonialherrschaft und Unabhängigkeitsbewegung === Nachdem Vasco da Gama 1498 den Seeweg nach Indien entdeckt hatte und so der lukrative Indienhandel für Europäer zugänglich wurde, begann Portugal ab 1505 kleinere Küstenstützpunkte zur Kontrolle der Handelsrouten zu erobern bzw. zu errichten (vgl. Portugiesisch-Indien). Im 17. Jahrhundert engagierten sich auch andere europäische Mächte in Indien, von denen sich die Briten am Ende durchsetzen konnten. Von 1756 an unterwarf die britische Ostindien-Kompanie (British East India Company) von ihren Hafenstützpunkten Calcutta (heute: Kolkata), Madras (heute: Chennai) und Bombay (heute: Mumbai) aus weite Teile Indiens. Der vorher bestehende Einfluss der europäischen Kolonialmächte Portugal, Niederlande und Frankreich wurde von ihr weitgehend beseitigt. Ein wichtiger Schritt war die Kartierung des Subkontinents. George Everest setzte den Great Trigonometric Survey, begonnen von Lambton 1806, ab 1823 bis 1841 fort. 1832 führte er die ebenfalls von Lambton begonnene indische Meridiangradmessung, The Great Arc, bis 1841 durch. Dieser umfasst mehr als 21° von der Südspitze Indiens bis Nepal nördlich von Dehradun (2.400 km). Loyale Fürsten behielten Staaten mit begrenzter Souveränität wie Hyderabad, Bhopal, Mysore oder Kaschmir. 1857/58 erhoben sich Teile der Bevölkerung Nordindiens im Sepoy-Aufstand gegen die Herrschaft der Ostindien-Kompanie. Nach der Niederwerfung des Aufstandes wurde diese aufgelöst und Indien der direkten Kontrolle durch Großbritannien unterstellt. Die britischen Monarchen trugen ab 1877 (bis 1947) zusätzlich den Titel Empress of India bzw. Emperor of India (Kaiser(in) von Indien). 1885 wurde in Bombay der Indian National Congress (Kongresspartei) gegründet. Er forderte zunächst nicht die Unabhängigkeit Indiens, sondern lediglich mehr politische Mitspracherechte für die einheimische Bevölkerung. Seine Mitglieder waren vorwiegend Hindus und Parsen. Die muslimische Oberschicht blieb auf Abstand, da ihr Wortführer Sayyid Ahmad Khan befürchtete, dass sie durch Einführung des Mehrheitsprinzips aus der Verwaltung gedrängt würden. Stattdessen wurde 1906 die Muslimliga als Interessenvertretung der Muslime gegründet. Die weitestgehende Aufteilung der Politik in religiöse Gruppen lag vor allem darin begründet, dass sich im 19. und 20. Jahrhundert aus unterschiedlichen Glaubensgemeinschaften mit fließenden Übergängen einheitliche Religionen (Hinduismus, Islam, …) mit bestimmten Inhalten und festen Abgrenzungen nach außen entwickelten. Auf der Suche nach einer einenden Idee in einer Kolonie mit vielen verschiedenen Völkern bot sich der Glaube als verbindende (schon immer existierende) Instanz an. Trotzdem gab es nicht ausschließlich religiösen Nationalismus, und auch dieser konnte in seinem Absolutheitsanspruch sehr unterschiedlich sein. Im Ersten Weltkrieg verhielt sich die große Mehrheit der Bevölkerung loyal. Aus Verärgerung darüber, dass die Briten an der Aufteilung des Osmanischen Reiches beteiligt waren, schlossen sich nun auch viele Muslime der Unabhängigkeitsbewegung an. Am Zweiten Weltkrieg nahm Indien mit einer zunächst 200.000 Mann starken Freiwilligenarmee, die im Laufe des Krieges auf über zwei Millionen Soldaten anwuchs, auf Seiten Großbritanniens teil. Bei Kriegsende waren mehr als 24.000 indische Soldaten gefallen, über 11.000 vermisst und zwei Millionen Menschen verhungert (siehe Hungersnot in Bengalen 1943). Auf der anderen Seite gab es aber auch Bestrebungen, vor allem vorangetrieben durch Subhash Chandra Bose, mit einer indischen Freiwilligenarmee im Bündnis mit den Achsenmächten gegen die britische Kolonialmacht die Freiheit Indiens zu erkämpfen. Der gewaltfreie Widerstand gegen die britische Kolonialherrschaft, vor allem unter Mohandas Karamchand Gandhi und Jawaharlal Nehru, führte 1947 zur Unabhängigkeit. Gleichzeitig verfügte die Kolonialmacht die Teilung der fast den gesamten indischen Subkontinent umfassenden Kolonie Britisch-Indien in zwei Staaten, die säkulare Indische Union sowie die kleinere Islamische Republik Pakistan. Die Briten erfüllten damit die seit den 1930er Jahren lauter werdenden Forderungen der Muslimliga und ihres Führers Muhammad Ali Jinnah nach einem eigenen Nationalstaat mit muslimischer Bevölkerungsmehrheit. === Entwicklungen seit der Unabhängigkeit === Die Teilung führte zu einer der größten Vertreibungs- und Fluchtbewegungen der Geschichte. Ungefähr 10 Millionen Hindus und Sikhs wurden aus Pakistan vertrieben, etwa 7 Millionen Muslime aus Indien. 750.000 bis eine Million Menschen kamen ums Leben. Die durch Schutzverträge an die Briten gebundenen Fürstenstaaten hatten schon vor der Unabhängigkeit ihren Beitritt zur Indischen Union erklärt. Lediglich zwei standen dem Eingliederungsprozess der Fürstentümer ernsthaft im Weg. Der muslimische Herrscher des fast ausschließlich hinduistischen Hyderabad wurde durch einen Einmarsch indischer Truppen zu Fall gebracht. In Kaschmir verzögerte der Maharadscha, selbst Hindu bei überwiegend muslimischer Bevölkerung, seine Entscheidung. Nachdem muslimische Kämpfer in sein Land eingedrungen waren, entschied er sich schließlich doch zum Beitritt zu Indien, welches daraufhin den größten Teil des ehemaligen Fürstentums besetzte. Pakistan betrachtete den Beitritt als unrechtmäßig, was zum Ersten Indisch-Pakistanischen Krieg um Kaschmir (1947 bis 1949) führte. Seitdem schwelt in der Grenzregion der Kaschmir-Konflikt, der 1965 auch den Zweiten Indisch-Pakistanischen Krieg und 1999 den Kargil-Krieg zur Folge hatte. Am 26. November 1949 trat Indien dem Commonwealth of Nations bei und am 26. Januar 1950 trat die vor allem von Bhimrao Ambedkar ausgearbeitete Verfassung in Kraft, durch die Indien zur Republik wurde. Grenzstreitigkeiten führten 1962 zu einem kurzen Krieg mit der Volksrepublik China, dem sogenannten Indisch-Chinesischen Grenzkrieg. Die indische Unterstützung einer Unabhängigkeitsbewegung im damaligen Ostpakistan führte 1971 zu einem dritten Krieg Indiens gegen Pakistan mit folgender Teilung Pakistans und Gründung des neuen, ebenfalls islamisch geprägten Staates Bangladesch. Innenpolitisch bestimmte unter Jawaharlal Nehru, Premierminister 1947 bis 1964, und danach noch bis Anfang der 1970er Jahre die Kongresspartei überlegen die junge, unabhängige Demokratie. Oppositionsparteien konnten bestenfalls auf Bundesstaaten- oder kommunaler Ebene ihren Einfluss geltend machen. Erst als Nehrus Tochter Indira Gandhi, die 1966 Premierministerin wurde, die Partei zentralisierte und ihre eigene Machtposition auszubauen versuchte, gelang es der Opposition, sich auf Bundesebene zu formieren. Ein Gericht in Allahabad befand Gandhi 1975 einiger Unregelmäßigkeiten bei den Wahlen des Jahres 1971 für schuldig. Anstatt den Rücktrittsforderungen ihrer politischen Gegner zu folgen, rief sie den Notstand aus und regierte bis 1977 per Dekret. Demokratische Grundrechte wie Presse- und Versammlungsfreiheit waren stark eingeschränkt. Die zunehmende Unzufriedenheit der Bevölkerung mit dem de facto diktatorischen Regime äußerte sich 1977 in einer deutlichen Wahlniederlage Indira Gandhis. Zwischen 1977 und 1979 stellte daher erstmals nicht die Kongresspartei, sondern eine Koalition unter Führung der Janata Party die Regierung Indiens. In den Wahlen von 1980 gelang es Indira Gandhi, an die Macht zurückzukehren. In ihre zweite Amtsperiode fällt die Zuspitzung des Konflikts im Punjab, wo sikhistische Separatisten einen eigenen Staat forderten. Als sich militante Sikhs im Goldenen Tempel in Amritsar verschanzten, ordnete Indira Gandhi 1984 die Operation Blue Star an. Indische Truppen stürmten den Tempel und beendeten dessen Besetzung. Daraufhin kam es zu blutigen Ausschreitungen, die in der Ermordung Indira Gandhis durch ihre Sikh-Leibwächter gipfelten. Ihr Sohn Rajiv Gandhi übernahm die Regierungsgeschäfte, war aber nicht in der Lage, die von ihm geplanten Reformvorhaben wirkungsvoll umzusetzen. Ein Bestechungsskandal im Zusammenhang mit dem schwedischen Rüstungskonzern Bofors schädigte sein Ansehen schließlich dermaßen, dass die Opposition 1989 einen klaren Sieg über Gandhis Kongresspartei erringen konnte. Nach zweijähriger Unterbrechung gelangte sie von 1991 bis 1996 jedoch erneut an die Macht. Die Regierung von P. V. Narasimha Rao leitete die wirtschaftliche Öffnung und außenpolitische Neuorientierung des seit Nehru sozialistisch ausgerichteten Landes ein. Zum Reformprogramm gehörten unter anderem die Privatisierung von Staatsbetrieben, die Aufhebung von Handelsbeschränkungen, die Beseitigung bürokratischer Investitionshemmnisse und Steuersenkungen. Die Wirtschaftsreformen wurden von späteren Regierungen fortgeführt. Seit den 1980er Jahren verzeichnet der Hindu-Nationalismus einen deutlichen Aufschwung. Die Auseinandersetzung um die anstelle eines bedeutenden Hindutempels errichtete Babri-Moschee in Ayodhya (Uttar Pradesh) entwickelte sich zu einer der bestimmenden innenpolitischen Streitfragen. 1992 zerstörten hinduistische Extremisten das muslimische Gotteshaus, was zu schweren Ausschreitungen in weiten Teilen des Landes führte. Der politische Arm der Hindu-Nationalisten, die Bharatiya Janata Party (BJP), führte zwischen 1998 und 2004 eine Regierungskoalition an und stellte mit Atal Bihari Vajpayee den Regierungschef. 2004 unterlag sie jedoch überraschend der neu aufgestellten Kongresspartei unter Sonia Gandhi. Die Witwe des 1991 während des Wahlkampfes ermordeten Rajiv Gandhi verzichtete nach Protesten der Opposition wegen ihrer italienischen Abstammung auf das Amt als Premierministerin. Stattdessen übernahm Manmohan Singh diese Stellung, der als Finanzminister unter Rao die wirtschaftliche Liberalisierung Indiens wesentlich mitgestaltet hatte. Bei der Wahl 2009 konnte die Kongresspartei ihre Mehrheit noch ausbauen und Singh blieb bis 2014 Premierminister. Bei der Wahl 2014 erreichte die oppositionelle BJP einen erdrutschartigen Sieg und ihr Spitzenkandidat Narendra Modi wurde zum Ministerpräsidenten gewählt. Heute sind die fundamentalen Probleme Indiens trotz des deutlichen wirtschaftlichen Aufschwungs noch immer die ausgedehnte Armut als auch die starke Überbevölkerung, die zunehmende Umweltverschmutzung sowie ethnische und religiöse Konflikte zwischen Hindus und Muslimen. Dazu tritt der fortdauernde Streit mit Pakistan um die Region Kaschmir. Besondere Brisanz erhält der indisch-pakistanische Gegensatz durch die Tatsache, dass beide Staaten Atommächte sind. Indien hatte 1974 erstmals einen Atomwaffentest durchgeführt. Auf weitere Kernwaffenversuche im Jahre 1998 reagierte Pakistan mit eigenen Atomwaffentests. In den letzten Jahren war eine Annäherung zwischen Indien und Pakistan zu bemerken. So fanden Gefangenenaustausche statt und wurden Verbindungen in der Kaschmirregion geöffnet. === Terrorismus und ethnische Konflikte === Seit 1986 kämpfen verschiedene Gruppierungen im mehrheitlich muslimischen Kaschmir mit gewaltsamen Mitteln für die Unabhängigkeit ihrer Region oder den Anschluss an Pakistan (Kaschmir-Konflikt). Immer wieder werden in der Region Anschläge auf Einrichtungen des indischen Staates, so im Oktober 2001 auf das Regionalparlament von Jammu und Kashmir in Srinagar, auf die in Kaschmir stationierten Streitkräfte oder gegen hinduistische Dorfbewohner und Pilger verübt. Doch nicht nur in Kaschmir, sondern auch in anderen Teilen Indiens kam es wiederholt zu terroristischen Anschlägen, die kaschmirischen Separatisten oder islamistischen Terrororganisationen wie Laschkar-e Taiba zugeschrieben wurden. Die bisher schlimmste Anschlagsserie fand am 12. März 1993 statt, als zehn Bombenexplosionen auf die Börse und Hotels in Mumbai sowie Züge und Tankstellen 257 Menschen töteten und 713 Personen verletzten. Im Dezember 2001 stürmten Islamisten das Parlament in Neu-Delhi, wobei 14 Menschen ums Leben kamen. 52 Tote gab es im August 2003, als zwei mit Sprengstoff beladene Taxis in Mumbai explodierten. Nach drei Bombenexplosionen auf Märkten in Neu-Delhi waren im Oktober 2005 62 Opfer zu beklagen. Im März 2006 starben bei einem Doppelanschlag auf den Bahnhof und einen Tempel in der Stadt Varanasi 20 Menschen. Bei Bombenanschlägen auf Züge in Mumbai wurden im Juli 2006 rund 200 Menschen getötet und mehr als 700 Personen verletzt. Am 18. Februar 2007 explodierten im „Freundschafts-Express“, der einzigen Zugverbindung zwischen Indien und Pakistan, 100 Kilometer nördlich von Delhi zwei Brandbomben. Dabei kamen mindestens 65 Menschen ums Leben. Am 25. August 2007 kam es in Hyderabad zu zwei Bombenexplosionen, bei denen mindestens 42 Personen starben und viele weitere verletzt wurden. Eine dritte Bombe wurde gefunden und konnte entschärft werden. Welches Ziel der oder die Attentäter mit den Bombenanschlägen in gut besuchten Freizeitorten verfolgten, wurde zunächst nicht bekannt. (Hyderabad hat mit fast 40 % den höchsten muslimischen Bevölkerungsanteil der indischen Metropolen.) Eine Serie von Bombenanschlägen erschütterte Indien 2008. Am 25. Juli explodierten zwei Bomben vor Polizeistationen und sechs weitere Bomben in Bengaluru (Bangalore). Innerhalb von 15 Minuten wurden bei den acht Bombenanschlägen zwei Menschen getötet und sechs Menschen verletzt. Eine Explosionsserie von 16 Bomben innerhalb von 90 Minuten in der Millionenmetropole Ahmedabad im westindischen Bundesstaat Gujarat forderte am 26. Juli 2008 mindestens 130 Tote und über 280 Verletzte. Eine mutmaßlich muslimische Terrorgruppe Indische Mudschaheddin, vermutlich eine Splittergruppe der radikal-islamischen Laschkar-e Taiba, bekannte sich zu den Terroranschlägen in Ahmedabad. Bei den Anschlägen in Mumbai am 26. November 2008 kam es in der indischen Metropole Mumbai innerhalb kurzer Zeit zu 17 Explosionen, Angriffen mit Schnellfeuerwaffen und zu Geiselnahmen an zehn verschiedenen Stellen der Stadt durch eine Gruppe von etwa zehn Angreifern, die sich in mehrere Gruppen aufgeteilt hatten. Nach Angaben der indischen Behörden hat es dabei mindestens 239 Verletzte und 174 Tote gegeben. Nach einer im Dezember 2019 erlassenen Staatsbürgerschaftsreform, die religiös verfolgten Flüchtlingen mit Ausnahme von Muslimen schneller Asyl in Indien gewährt, kam es im selben Monat und zu Beginn des Jahres 2020 zu starken Protesten der muslimischen Bevölkerung in Indien. == Bevölkerung == === Demografie === 2022 betrug die Einwohnerzahl Indiens 1.375.586.000. Damit war Indien nach der Volksrepublik China der bevölkerungsreichste Staat der Erde. Die Bevölkerungsdichte beträgt 388 Einwohner pro Quadratkilometer (Deutschland: 231 pro Quadratkilometer). Gleichwohl ist die Bevölkerung höchst ungleichmäßig verteilt. Sie ballt sich vor allem in fruchtbaren Landstrichen wie der Gangesebene, Westbengalen und Kerala, während der Himalaya, die Berggegenden des Nordostens sowie trockenere Regionen in Rajasthan und auf dem Dekkan nur eine geringe Besiedlungsdichte aufweisen. So leben in Bihar durchschnittlich 1106 Menschen auf einem Quadratkilometer, während es in Arunachal Pradesh nur 17 sind. Am 11. Mai 2000 überschritt Indiens Bevölkerungszahl offiziell die Milliardengrenze. Während es von 1920 – damals hatte Indien 250 Millionen Einwohner – 47 Jahre bis zu einer Verdoppelung der Bevölkerung dauerte, waren es von 1967 bis 2000 nur noch 33 Jahre. Das Wachstum der Bevölkerung hat sich in den letzten Jahrzehnten nur wenig abgeschwächt und liegt im Moment bei 1,4 % pro Jahr, was einem jährlichen Bevölkerungszuwachs von 15 Millionen Menschen entspricht. Damit verzeichnet Indien im Moment den größten absoluten Zuwachs aller Staaten der Erde. Der relative Zuwachs liegt jedoch nur wenig über dem Weltdurchschnitt. Schätzungen zufolge wird sich das Bevölkerungswachstum in Indien in den nächsten Jahrzehnten kaum abschwächen. Indien hat zum 14. April 2023 die Volksrepublik China als bevölkerungsreichstes Land der Erde abgelöst. Durch fortschreitende Modernisierung, Bildung, Wohlstand und Verstädterung sinkt die Geburtenrate zwar bereits, das Bevölkerungswachstum erklärt sich jedoch nicht aus einer gestiegenen Geburtenrate, sondern aus der in den letzten Jahrzehnten gestiegenen Lebensdauer. Dies ist unter anderem auf eine Verbesserung der Gesundheitsfürsorge zurückzuführen. In der Mortalität hatte Indien bereits 1991 mit Deutschland gleichgezogen (10 pro 1000), für 2006 wird sie auf 8,18 pro 1000 geschätzt. Die Geburtenziffer blieb allerdings hoch (1991: 30 pro 1000) und sinkt allmählich (2016: 19,3 pro 1000). Die Fruchtbarkeitsrate ging von 5,2 Kindern je Frau (1971) auf 3,6 (1991) zurück, im Jahr 2013 lag sie bei 2,3.Das durchschnittliche Alter der indischen Bevölkerung lag 2015 bei 26,7 Jahren, während die durchschnittliche Lebenserwartung für Männer 66,2 Jahre (1971 waren es nur 44 Jahre) und für Frauen 69,1 Jahre (1971 waren es nur 46 Jahre) betrug. In Deutschland sind es zum Vergleich bei Männern 78 Jahre und bei Frauen 83 Jahre. Ein Drittel der Bevölkerung ist jünger als 15 Jahre. Indien gehört auch zu den Ländern, in denen es deutlich mehr Männer gibt: Laut der Volkszählung 2011 kommen auf 1000 Männer 943 Frauen. Dieser Überschuss an Männern trägt in manchen Regionen des Landes zur Destabilisierung bei, wie Henrik Urdal von der Harvard Kennedy School zeigt.In den letzten dreißig Jahren wurde die Verstädterung Indiens zu 60 % von natürlichem Bevölkerungswachstum (in den Städten) getragen. Zuwanderung (aus ländlichen Gebieten) trug zu einem Fünftel des Wachstums städtischer Bevölkerung bei. Ein weiteres Fünftel des Wachstums verteilt sich gleichmäßig auf die Bildung neuer Städte durch statistische Umklassifizierung und durch die Ausdehnung von Grenzen oder Sprawl. Damit hat Indien heute 46 Städte mit mehr als einer Million Einwohnern (Stand: Volkszählung 2011). Allein der Ballungsraum Mumbai hat mittlerweile über 28 Millionen Einwohner und damit eine größere Bevölkerung als ganz Australien. Dennoch stellt die städtische Bevölkerung mit einem Anteil an der Gesamteinwohnerzahl von lediglich 31,2 % (Volkszählung 2011) eine Minderheit dar. Mit der wirtschaftlichen Entwicklung schreitet die Urbanisierung Indiens schnell voran und jährlich wächst die städtische Bevölkerung Indiens um knapp 10 Millionen an. In den Städten Indiens wird nahezu die gesamte Wirtschaftsleistung erbracht. Die Entstehung von Slums ist ein großes Problem in Indiens Städten. In Mumbais Slum Dharavi leben geschätzt 1 Million Menschen auf engstem Raum unter katastrophalen Bedingungen, womit es das größte Elendsviertel weltweit ist. Die Urbanisierung verläuft in Indien deutlich weniger geplant als z. B. in China ab, und geschätzt 30 % der städtischen Bevölkerung leben in ungeplanten Behausungen und Slums, insgesamt über 90 Millionen Menschen. Schätzungsweise bis zu 25 Millionen indische Staatsbürger und Personen indischer Herkunft (Non-resident Indians und Persons of Indian Origin) leben im Ausland. Während englischsprachige westliche Staaten wie die USA, Großbritannien und Kanada vor allem gut ausgebildete Fachkräfte anziehen, sind in den Golfstaaten (besonders Vereinigte Arabische Emirate, Kuwait und Saudi-Arabien) viele Inder als „Billigarbeitskräfte“ angestellt, seltener auch in höheren Positionen. Während der britischen Kolonialzeit wurden Inder als Arbeiter in anderen Kolonien angeworben, daher leben viele Personen indischer Abstammung in Malaysia, Südafrika, Mauritius, Trinidad und Tobago, Fidschi, Guyana und Singapur. Sie besitzen in der Regel die Staatsbürgerschaft des jeweiligen Landes. Überweisungen von Auslandsindern an ihre Angehörigen in Indien stellen einen bedeutenden Wirtschaftsfaktor dar.Nachfolgend sind die Einwohnerzahlen Indiens zwischen 1700 und 2050 aufgeführt (2025 und 2050 sind Prognosen) – zu beachten sind Veränderungen des Gebiets im Verlauf der Zeit: Zahlenangaben bis 1875 sind berechnet nach dem Gebietsstand von Britisch-Indien (einschließlich Bangladesch, Myanmar und Pakistan), ab 1900 in den heutigen Grenzen der Republik Indien: === Ethnische Zusammensetzung === Indien ist ein Vielvölkerstaat, dessen ethnische Vielfalt ohne weiteres mit der des gesamten europäischen Kontinents vergleichbar ist. Etwa 72 % der Bevölkerung sind Indoarier. 25 % sind Draviden, die hauptsächlich im Süden Indiens leben. 3 % entfallen auf sonstige Völkergruppen, vor allem tibeto-birmanische, Munda- und Mon-Khmer-Völker im Himalayaraum sowie Nordost- und Ostindien. 8,6 % der Einwohner gehören der indigenen Stammesbevölkerung an, die sich selbst als Adivasi bezeichnet, obwohl sie ethnisch höchst uneinheitlich ist. Die indische Verfassung erkennt mehr als 600 Stämme als sogenannte Scheduled Tribes an. Sie stehen meist außerhalb des hinduistischen Kastensystems und sind trotz bestehender Schutzgesetze sozial stark benachteiligt. Hohe Bevölkerungsanteile haben die Adivasi in der Nordostregion (besonders in Mizoram, Nagaland, Meghalaya, Arunachal Pradesh, Manipur, Tripura, Sikkim) sowie in den ost- und zentralindischen Bundesstaaten Jharkhand, Chhattisgarh, Odisha und Madhya Pradesh. Auf Grund der sozialen Diskriminierung genießen linksradikale Gruppierungen wie die maoistischen Naxaliten bei Teilen der Adivasi starken Rückhalt. Dazu kommen separatistische Bewegungen verschiedener Völker – etwa der mongoliden Naga, Mizo und Bodo, aber auch der indoarischen Assamesen – in Nordostindien, wo Spannungen zwischen der einheimischen Bevölkerung und zugewanderten Bengalen, größtenteils illegale Einwanderer aus Bangladesch, für zusätzliches Konfliktpotenzial sorgen. Im Jahre 2017 waren, laut offiziellen Zahlen, 0,4 % der Bevölkerung im Ausland geboren. Die Zahl der illegal eingewanderten Bangladescher in Indien wird auf bis zu 20 Millionen geschätzt. Die rund 100.000 in Indien lebenden Exiltibeter, die seit der chinesischen Besetzung Tibets in den 1950er Jahren aus ihrer Heimat geflohen sind, werden dagegen offiziell als Flüchtlinge anerkannt und besitzen eine Aufenthaltsgenehmigung. Des Weiteren leben etwa 60.000 tamilische Flüchtlinge aus Sri Lanka auf indischem Gebiet. === Sprachen und Schriften === In Indien werden weit über 100 verschiedene Sprachen gesprochen, die vier verschiedenen Sprachfamilien angehören. Neben den beiden überregionalen Amtssprachen Hindi und Englisch erkennt die indische Verfassung die folgenden 21 Sprachen an: Assamesisch, Bengalisch, Bodo, Dogri, Gujarati, Kannada, Kashmiri, Konkani, Maithili, Malayalam, Marathi, Meitei, Nepali, Oriya, Panjabi, Santali, Sanskrit, Sindhi, Tamil, Telugu und Urdu. Die meisten dieser Sprachen dienen in den Bundesstaaten, in denen sie von einer Bevölkerungsmehrheit gesprochen werden, auch als Amtssprachen. Englisch ist Verwaltungs-, Unterrichts- und Wirtschaftssprache. Von den Verfassungssprachen gehören 15 der indoarischen, vier der dravidischen (Telugu, Tamilisch, Kannada und Malayalam), zwei der tibetobirmanischen bzw. sinotibetischen Sprachfamilie (Bodo, Meitei) und jeweils eine der austroasiatischen (Santali) und der germanischen (englisch) an. In letzter Zeit gab es Versuche, den Gebrauch des Sanskrit wiederzubeleben. Sanskrit ist eine klassische, heute nicht mehr als Erst- oder Muttersprache verwendete Sprache, die in Indien einen ähnlichen Stellenwert besitzt wie das Lateinische in Europa. Sie gehört ebenfalls zu den offiziell anerkannten Verfassungssprachen, wird aber nirgends als Amtssprache verwendet. Das Central Board of Secondary Education (CBSE) hat in den Schulen, die es reguliert, Sanskrit zur dritten der unterrichteten Sprachen gemacht. In diesen Schulen ist der Sanskritunterricht für die fünften bis achten Schulklassen obligatorisch. Über die Beibehaltung des Status des Englischen als Amtssprache wird alle 15 Jahre neu entschieden. Englisch gilt weiterhin als Prestige-Sprache und wird nur von einer privilegierten Minderheit der Bevölkerung fließend gesprochen. Wenn sich Menschen unterschiedlicher Sprachgemeinschaften begegnen, sprechen sie im Norden entweder Hindi oder Englisch miteinander, im Süden eine der dravidischen Sprachen oder Englisch. Neben den Verfassungssprachen sind auch noch Hindustani, der im Norden Indiens weit verbreitete „Vorgänger“ von Hindi und Urdu, Rajasthani als Oberbegriff der Dialekte Rajasthans und Mizo erwähnenswert. Bihari ist der Oberbegriff für die Dialekte in Bihar, wozu auch Maithili, Bhojpuri und Magadhi gehören. Die meisten Sprachen weisen unterschiedliche Schriftsysteme auf. Während für Hindi, Marathi, Nepali, Konkani und Sanskrit eine gemeinsame Schrift verwendet wird (Devanagari), werden Telugu, Tamilisch, Kannada, Malayalam, Gujarati, Oriya, Panjabi und Santali durch eine jeweils eigene Schrift charakterisiert. Für Bengalisch, Asamiya und Meitei wird eine weitere Schrift (Bengalische Schrift) verwendet. Urdu wird in arabischer Schrift geschrieben, Kashmiri und Sindhi werden in arabischer Schrift oder auch in Devanagari geschrieben. === Religionen === ==== Zusammensetzung ==== Auf dem indischen Subkontinent entstanden vier der großen Religionen: Hinduismus, Buddhismus, Jainismus und Sikhismus. Der Islam kam infolge von Handel und Eroberungen durch das Mogulreich, das Christentum durch frühe Missionierungen im ersten Jahrhundert und dann durch den Kolonialismus, der Zoroastrismus (Parsismus) aufgrund von Einwanderungen ins Land. Indien bietet daher eine außerordentlich reichhaltige Religionslandschaft. Obwohl der Buddhismus über Jahrhunderte die bevorzugte Religion war, starb der Hinduismus nie aus und konnte seine Stellung als dominierende Religion langfristig behaupten. Im Mittelalter brachten indische Händler und Seefahrer den Hinduismus bis nach Indonesien und Malaysia. Obwohl Indien bis heute ein hinduistisch geprägtes Land ist, hat Indien nach Indonesien und Pakistan die weltweit drittgrößte muslimische Bevölkerung (etwa 140 Millionen), und nach dem Iran die zweitgrößte Anzahl von Schiiten. Die Religionen verteilen sich nach der Volkszählung 2011 wie folgt: 79,8 % Hindus, 14,2 % Muslime, 2,3 % Christen, 1,7 % Sikhs, 0,7 % Buddhisten, 0,4 % Jainas und 0,7 % andere (zum Beispiel traditionelle Adivasi-Religionen, Bahai oder Parsen). Insgesamt 0,2 % der Inder gaben bei der Volkszählung keine Religionszugehörigkeit an oder gaben an, ohne Religion zu sein.Die Wurzeln des Hinduismus liegen im Veda (wörtlich: Wissen), religiösen Texten, deren älteste Schicht auf etwa 1200 v. Chr. datiert wird. Die Bezeichnung „Hinduismus“ wurde jedoch erst im 19. Jahrhundert allgemein üblich. Er verbindet viele Strömungen mit ähnlicher Glaubensgrundlage und Geschichte, die besonders bei den Lehren von Karma, dem Kreislauf der Wiedergeburten (Samsara) und dem Streben nach Erlösung übereinstimmen. Er kennt keinen einzelnen Religionsstifter, kein einheitliches Glaubensbekenntnis und keine religiöse Zentralbehörde. Die wichtigsten populären Richtungen sind der Shivaismus, der Vishnuismus und der Shaktismus. Daneben ist die Indische Volksreligion regional und lokal weit verbreitet. Religiöse Lehrer (Gurus) und Priester haben einen großen Stellenwert für den persönlichen Glauben. Die Adivasi (Ureinwohner) widersetzten sich oft den Missionsversuchen der großen Religionen und behielten teilweise ihre eigene Religion. Die indigenen Völker Indiens haben einiges mit dem Hinduismus gemeinsam, so etwa den Glauben an die Reinkarnation, eine äußere Vielfalt von Göttern und eine Art von Kastenwesen. Nicht selten werden lokale Gottheiten oder Stammesgottheiten einfach in das hinduistische Pantheon integriert – eine Herangehensweise, die historisch zur Ausbreitung des Hinduismus beigetragen hat. Besonders heute besteht eine starke Tendenz der „Hinduisierung“ (in der Indologie „Sanskritisierung“), gesellschaftliche Sitten der Hindus und deren Formen der Religionsausübung werden übernommen. Der Buddhismus ist heute vor allem als Neobuddhismus bei den „Unberührbaren“ (Dalit) populär, besonders im Bundesstaat Maharashtra („Bauddha“). Die Dalit versuchen auf diese Art und Weise, den Diskriminierungen des Kastensystems zu entkommen. Mehr als 10 % der indischen Bevölkerung gehört der Kaste der Dalit an. Ins Leben gerufen wurde diese Bewegung durch den Rechtsanwalt Bhimrao Ramji Ambedkar (1891–1956), der selbst einer unberührbaren Kaste angehörte. Hinzu kommen kleinere Gruppen tibetischer Buddhisten in den Himalaya-Gebieten von Ladakh, Sikkim und Arunachal Pradesh sowie die tibetische Exilgemeinde in Dharamsala, dem Sitz des amtierenden Dalai Lama sowie der tibetischen Exilregierung. Aus der Sicht fundamentalistischer Hindus gehören auch Muslime, Buddhisten und Christen zu den Unberührbaren, die nach dieser Definition etwa 240 Millionen Menschen und damit fast 20 % der indischen Bevölkerung umfassen würden. Die Parsen, die heute hauptsächlich in Mumbai leben, bilden eine kleine, überwiegend wohlhabende und einflussreiche Gemeinschaft (etwa 70.000 Menschen). Nicht zuletzt auch durch ihr ausgeprägtes soziales Engagement spielen sie trotz geringer Bevölkerungsanzahl in der indischen Gesellschaft eine wichtige Rolle. In Europa sind sie durch ihre Bestattungsgepflogenheiten („Türme des Schweigens“) bekannt. Auch die Jainas sind oft wohlhabend, da sie aufgrund ihres Glaubens, der das Töten von Lebewesen verbietet, überwiegend Kaufleute und Händler sind. Parsen und Jainas gehören meist der Mittel- und Oberschicht an. Die Mehrheit der indischen Muslime gehört der sunnitischen Richtung an, außerdem leben mehr als 20 Millionen Schiiten in Indien. Darüber hinaus existieren kleinere Glaubensrichtungen innerhalb des Islam: Eher fundamentalistisch ist die Dar ul-Ulum in Deoband im nördlichen Bundesstaat Uttar Pradesh, auf die sich unter anderem die afghanischen Taliban berufen, wenn auch in radikal verkürzter Interpretation. Die Situation der Muslime in Indien ist schwierig. Sie sind ärmer und weniger gebildet als der Durchschnitt. In Politik und Staatsdienst sind sie unterrepräsentiert. Zu bemerken ist jedoch, dass der ehemalige Staatspräsident Indiens, A. P. J. Abdul Kalam, ein Muslim war. Die Anzahl der Muslime in Indien steigt schneller als die der restlichen Bevölkerung und bis 2050 könnte Indien über 300 Millionen muslimische Einwohner haben.Die Sikhs sind hauptsächlich im Nordwesten Indiens (Punjab) beheimatet. Ihre Stellung in der Gesellschaft ist geprägt durch den Erfolg vor allem im militärischen Bereich, aber auch im politischen Leben. Der ehemalige indische Premierminister Manmohan Singh ist ein Sikh. 53 n. Chr. soll ein Apostel Jesu, Thomas, nach Indien gekommen sein und dort entlang der südlichen Malabarküste mehrere christliche Gemeinden gegründet haben. Die „Thomaschristen“ in Kerala führen ihren Ursprung auf den Apostel Thomas zurück. Portugiesische Missionare führten im späten 15. Jahrhundert den römischen Katholizismus ein und verbreiteten ihn entlang der Westküste, etwa in Goa, so dass römische Katholiken heute den größten Anteil an der christlichen Bevölkerung Indiens stellen. Die Briten zeigten zwar wenig Interesse an der Missionierung, dennoch konvertierten viele Stammesvölker im Nordosten (Nagaland, Mizoram, Meghalaya, Manipur, Arunachal Pradesh) zur Anglikanischen Kirche oder anderen evangelischen Konfessionen. In jüngerer Zeit traten auch Angehörige unberührbarer Kasten sowie Adivasi zum Christentum über, um der Ungerechtigkeit des Kastensystems zu entkommen. Als Indien seine Unabhängigkeit erlangte, lebten auch noch rund 25.000 Juden in Indien. Nach 1948 verließen jedoch die meisten von ihnen ihre Heimat gen Israel. Heute wird die Zahl der in Indien verbliebenen Juden auf 5000 bis 6000 geschätzt, wovon die Mehrheit in Mumbai lebt. Religionen nach der Volkszählung 2001 ==== Religiöse Konflikte ==== Der Laizismus, die Trennung von Staat und Religion, zählt zu den wesentlichsten Grundsätzen des indischen Staates und ist in seiner Verfassung verankert. Seit Jahrhunderten bestehen verschiedene Glaubensrichtungen zumeist friedlich nebeneinander. Dennoch kommt es manchmal zu regional begrenzten, religiös motivierten Auseinandersetzungen. Bei der Teilung Indiens 1947 und beim Bangladesch-Krieg 1971 kam es zwischen Hindus und Muslimen zu massiven Ausschreitungen. Unruhen zwischen Anhängern der beiden Glaubensrichtungen brechen in Indien in gewissen Zeitabständen immer wieder aus. Ein Konfliktpunkt ist nach wie vor Kaschmir, dessen überwiegend muslimische Bevölkerung teilweise gewalttätig für die Unabhängigkeit oder den Anschluss an Pakistan eintritt. Geschürt werden sie seit den späten 1980er Jahren durch den aufkeimenden Hindu-Nationalismus (Hindutva) und islamischen Fundamentalismus. Einer der Höhepunkte der Auseinandersetzungen war die Erstürmung und Zerstörung der Babri-Moschee in Ayodhya (Uttar Pradesh) durch extremistische Hindus im Dezember 1992, da das islamische Gotteshaus einst an der Stelle eines bedeutenden Hindu-Tempels errichtet worden war, der den Geburtsort Ramas markieren sollte. Die letzten Unruhen traten 2002 in Gujarat auf, als 59 Hindu-Aktivisten (kar sevaks) in einem Zug verbrannt wurden. Infolge der eskalierenden Gewalt kamen etwa 2000 Menschen um, hauptsächlich Moslems. Die politische Situation in Kaschmir kostete seit 1989 aufgrund der Aktivitäten islamistischer Terroristen über 29.000 Zivilpersonen das Leben. Auch bei anderen Religionen traten Konflikte auf. Die Forderungen sikhistischer Separatisten nach einem unabhängigen Sikhstaat namens „Khalistan“ gipfelten 1984 in der Erstürmung des Goldenen Tempels in Amritsar durch indische Truppen (Operation Blue Star) und der Ermordung der damaligen Premierministerin Indira Gandhi durch ihre eigenen Sikh-Leibwächter. Insgesamt kamen bei den Unruhen im Jahre 1984 mehr als 3000 Sikhs ums Leben. In einigen Bundesstaaten ist es zu Pogromen gegen Christen gekommen. So wurden in der zweiten Jahreshälfte 2008 bei religiös motivierten Unruhen in Orissa mindestens 59 Christen getötet. In ihrer Antwort auf eine parlamentarische Anfrage vom 4. Dezember 2008 nennt die deutsche Bundesregierung folgendes Ausmaß der Gewalt gegen Christen in Orissa (Odisha): 81 Christen sind ums Leben gekommen, 20.000 Menschen befinden sich in Flüchtlingslagern, 40.000 weitere haben sich in Wäldern versteckt. 4677 Häuser, 236 Kirchen und 36 weitere kirchliche Einrichtungen wurden zerstört. === Soziale Probleme === Nach Angaben der Weltbank haben heute 44 % der Einwohner Indiens weniger als einen US-Dollar pro Tag zur Verfügung. Auch wenn die Ernährungssituation seit den 1970er Jahren entscheidend verbessert werden konnte, ist noch immer mehr als ein Viertel der Bevölkerung zu arm, um sich eine ausreichende Ernährung leisten zu können. Unter- und Fehlernährung wie Vitaminmangel ist vornehmlich in ländlichen Gebieten ein weit verbreitetes Problem, wo der Anteil der Armen besonders hoch ist. Die regionale Aufteilung des Problems lässt sich am Hunger-Index für Indien klar erkennen, der Bundesstaat Madhya Pradesh fällt hier besonders ins Auge. 2007 waren 46 % der Kinder in Indien mangelernährt, nach Angaben von UNICEF sterben in Indien jährlich 2,1 Millionen Kinder vor dem fünften Lebensjahr. Kinderarbeit wird hauptsächlich auf dem Land geleistet, da das Einkommen vieler Bauernfamilien nicht zum Überleben ausreicht. Hoch verschuldete Bauern müssen oft nicht nur ihr Ackerland verkaufen, sondern auch ihre Dienstleistungen an die Grundherren verpfänden. Dieses als Schuldknechtschaft bezeichnete Phänomen stellt bis heute eines der größten Hindernisse in der Armutsbekämpfung dar. 2006 haben schätzungsweise 17.000 Bauern wegen hoher Verschuldung Selbstmord begangen. Die schlechten Lebensbedingungen im ländlichen Raum veranlassen viele Menschen zur Abwanderung in die Städte (Urbanisierung). Dabei sind die wuchernden Metropolen des Landes kaum in der Lage, ausreichend Arbeitsplätze für die Zuwanderer zur Verfügung zu stellen. Das Ergebnis sind hohe Arbeitslosigkeit und Unterbeschäftigung. Fast ein Drittel der Einwohner der Millionenstädte lebt in Elendsvierteln. Dharavi in Mumbai ist mit mehr als einer Million Menschen der größte Slum Asiens.Nach der Volkszählung 2011 werden 16,6 % der indischen Bevölkerung zu den so genannten Unberührbaren (Scheduled Castes) gerechnet, 8,6 % zählen zur indischen Stammesbevölkerung (Adivasi, offiziell Scheduled Tribes). Da beide Gruppen einem Missbrauch (Diskriminierung, wirtschaftliche Ausbeutung, teilweise auch Verfolgung und Gewalt) durch andere Kasten-Inder ausgesetzt sind, sieht die indische Verfassung eine Förderung der sozial Benachteiligten in Form von Quoten vor. Über diese „positive Diskriminierung“ werden in Universitäten, berufsbildenden Institutionen und Parlamenten bis zu 50 % der Plätze für die Scheduled Castes (Angehörige der unteren Kasten) reserviert. Die Kastenfrage nimmt in der indischen Innenpolitik eine höchst brisante Stellung ein. Eine Ausweitung der Quoten auf niedere Kasten auf Vorschlag der umstrittenen Mandal-Kommission rief 1990 heftige Proteste von Angehörigen höherer Kasten hervor und führte zum Sturz von Premierminister Vishwanath Pratap Singh. Unzureichende schulische Bildung sowie Beratung in Fragen der reproduktiven Gesundheit hatte zur Folge, dass die Zahl der HIV-Infizierten ab den 1980er und 1990er Jahren rasch angestiegen ist, seit 1986 die ersten Infektionsfälle bekannt wurden. 2008 trugen rund 2,27 Millionen Inder im Alter zwischen 15 und 49 Jahren das Virus. Die Zahl der Infizierten liegt damit weltweit an dritter Stelle hinter Südafrika und Nigeria. In den Jahren nach 2002 ist ein prozentualer Rückgang an Infizierten zu verzeichnen. 2002 waren 0,45 % der erwachsenen indischen Bevölkerung infiziert, 2007 waren es 0,34 % und 2008 0,29 %. Die Übertragungswege des HI-Virus werden für 2009/10 mit 87,1 % zwischen Heterosexuellen angegeben. Hierfür ist hauptsächlich der weitverbreitete ungeschützte Geschlechtsverkehr mit Prostituierten verantwortlich. Die Übertragung von Mutter zu Kind beträgt 5,4 % und zwischen Homosexuellen 1,5 %. Drogenabhängige sind mit 1,5 % an der Gesamtzahl der Übertragungsfälle beteiligt. === Stellung der Frau === In der vaterrechtlich geprägten indischen Gesellschaft sind Frauen trotz der rechtlichen Gleichstellung der Geschlechter nach wie vor sehr benachteiligt (siehe unten zum Frauenwahlrecht). Mitgift-Problematik Traditionell wurde Frauen zur Hochzeit eine Mitgift (englisch dowry) zum Aufbau eines eigenen Haushalts mitgegeben. Obwohl dies seit 1961 gesetzlich verboten ist, wird auch heute noch häufig eine solche Mitgift aus rein wirtschaftlichen Erwägungen von den Brauteltern verlangt. In manchen Fällen übersteigt die geforderte „Aussteuer“ das Jahreseinkommen der Familie der Braut. Gelegentlich kommt es zu so genannten Mitgiftmorden, wenn die Angehörigen der Braut nicht in der Lage waren, die hohen Forderungen nach der Eheschließung zu erfüllen. Diese dowry-Problematik trägt in nicht unerheblichem Maße dazu bei, dass Mädchen meist geringer angesehen sind als Jungen oder gar als unerwünscht gelten. Die Praxis der Mitgiftforderung fördert zudem ausbeuterische Arbeitsverhältnisse wie das Sumangali-Prinzip (Kinderarbeit), da arme Eltern ihre Töchter in der Hoffnung auf eine selbst erwirtschaftete Mitgift bereitwillig den Rekrutierern mitgeben. Abtreibung weiblicher Föten In Indien werden deutlich mehr weibliche Föten abgetrieben als männliche: Laut der Volkszählung 2011 kamen auf 1000 Jungen nur 914 Mädchen (47,75 % = 109 Jungen zu 100 Mädchen) – im Jahr 2001 waren es noch 927 Mädchen (48,11 %, 108:100; jeweils unter 7 Jahren). In der Gesamtbevölkerung kamen im Jahr 2011 auf 1000 männliche 940 weibliche Inder (48,45 %, 106:100) – im Jahr 2001 waren es 933 weibliche (48,27 %, 107:100). Sexualisierte Gewalt Laut einer Studie der Thomson Reuters Stiftung war Indien im Jahr 2018 das gefährlichste Land für Frauen weltweit. Indien lag innerhalb der 10 gefährlichsten Länder (inklusive USA und Saudi-Arabien) auf Rang 1 in 3 von 6 Bereichen: kulturelle Unterdrückung und Misshandlung von Frauen, sexualisierte Gewalt gegen Frauen sowie Menschenhandel und Zwangsprostitution. Im Jahr 2016 wurden demnach 40.000 Vergewaltigungen in Indien gemeldet. Frauen-Indizes Im Global Gender Gap Report 2020 des Weltwirtschaftsforums, der die Gleichstellung von Männern und Frauen in 153 Ländern misst, liegt Indien nur auf Rang 112 mit einem Gender-Gap von 33,2 %: Frauen erreichen nur zwei Drittel des Stands der Männer in wirtschaftlicher und bildungsmäßiger Hinsicht sowie bezüglich Gesundheit und politischer Beteiligung. Das Entwicklungsprogramm der Vereinten Nationen (UNDP) ermittelte zum Jahr 2018 den Index der geschlechtsspezifischen Ungleichheit (GII: Gender Inequality Index) unter 162 Ländern: Indien lag auf Rang 122 mit nur 39 % Frauen mit sekundärer Schulbildung (Männer: 63,5 %) und 23,6 % Erwerbsbeteiligung (Männer: 78,6 %). Beim Index der geschlechtsspezifischen Entwicklung (GDI: Gender Development Index) lag Indien auf Rang 153 von 166 Ländern: Alleine beim Pro-Kopf-Einkommen bestand ein Unterschied von 75,5 % (2.625 $ Jahreseinkommen gegenüber 10.712 $ von Männern). == Politik und Staat == === Politisches System === Gemäß der Verfassung von 1950 ist Indien eine parlamentarische Demokratie. Indien ist, nach der Zahl der Bürger, die größte Demokratie der Erde. Das indische Parlament ist die gesetzgebende Gewalt und besteht aus zwei Kammern: dem Unterhaus (Lok Sabha) und dem Oberhaus (Rajya Sabha). Das Unterhaus wird auf fünf Jahre nach dem Prinzip des Mehrheitswahlrechtes gewählt. Wahlberechtigt ist jeder Staatsbürger, der das 18. Lebensjahr vollendet hat. Das Oberhaus ist die Vertretung der Bundesstaaten auf nationaler Ebene. Seine Mitglieder werden von den Parlamenten der Staaten gewählt. Die Parteienlandschaft des Landes ist äußerst vielfältig (vgl. Liste der politischen Parteien in Indien). Viele Parteien sind zwar auf bestimmte Bundesstaaten beschränkt, dennoch ergibt sich immer wieder die Notwendigkeit, Koalitionen zu bilden. Die National Democratic Alliance (NDA) war eine Koalition, die zu Beginn ihrer Regierungszeit 1998 aus 13 Parteien bestand (unter Führung der BJP). Der Präsident als Staatsoberhaupt wird von einem Gremium der Abgeordneten des Bundes und der Länder auf fünf Jahre gewählt. Seit 2022 hat Draupadi Murmu das Amt inne. Die Verfassung sieht vor, dass Bundesstaaten unter President’s rule gestellt werden können, wenn das Land als „unregierbar“ gilt. Dies war in der Vergangenheit in mehreren Bundesstaaten der Fall. Das Präsidentenamt ist jedoch überwiegend von zeremoniellen oder repräsentativen Aufgaben geprägt, die politische Macht liegt beim Premierminister. Üblicherweise erteilt der Premierminister dem Präsidenten einen entsprechenden „Rat“, der in der Regel befolgt wird. Zuletzt ließ Premierminister P. V. Narasimha Rao nach den Unruhen in Ayodhya 1993 alle vier BJP-Landesregierungen ihres Amtes entheben und die Länder unter President’s rule stellen. Der Präsident ist auch oberster Befehlshaber der Streitkräfte. Der Regierungschef in den Bundesstaaten sowie in drei von acht Unionsterritorien ist der Chief Minister, der vom Parlament des jeweiligen Gebiets gewählt wird. === Politische Indizes === === Verwaltungsgliederung === Indien ist in 28 Bundesstaaten (engl. States) und acht Unionsterritorien (engl. Union Territories) gegliedert, die sich in insgesamt über 600 Distrikte (engl. Districts) unterteilen. In einigen Bundesstaaten werden mehrere Distrikte zu Divisionen (engl. Divisions) zusammengefasst. Den Distrikten untergeordnet sind parallel und teils überlappend die Tehsils (oder auch Taluks), Blöcke und Subdivisions. Die unterste Verwaltungsebene stellen die Dörfer selbst dar, die mitunter in sogenannten Hoblis zusammengefasst sein können. Während die Unionsterritorien von der Zentralregierung in Neu-Delhi verwaltet werden, verfügt jeder Bundesstaat über ein eigenes Parlament und eine eigene Regierung. Der Regierung eines Bundesstaats steht der Chief Minister vor, der allerdings formal einem vom indischen Präsidenten ernannten Gouverneur mit weitgehend repräsentativen Aufgaben untergeordnet ist. Letzterem werden bei Anwendung der President’s rule die Regierungsgeschäfte übertragen. Die Kommunalverwaltung obliegt in größeren Städten mit mehreren hunderttausend Einwohnern den Municipal Corporations, in kleineren Städten den Municipalities. Im ländlichen Raum wird der dreistufige Panchayati Raj angewandt. Dieses System umfasst gewählte Räte (Panchayats) auf Dorf- und Block-, aber auch auf Distriktebene. Die Zuständigkeiten der Kommunalverwaltungen sind je nach Bundesstaat unterschiedlich gestaltet. Vor der Unabhängigkeit umfasste Indien sowohl selbstständige Fürstenstaaten unter britischer Aufsicht als auch britische Provinzen (englisch Presidencies), die von britischen Kolonialverwaltern regiert wurden. Nach der Unabhängigkeit wurden die ehemaligen Fürstenstaaten von einem ernannten Gouverneur, die ehemaligen Provinzen jedoch von einem gewählten Parlament und einem gewählten Gouverneur regiert. Im Jahre 1956 beseitigte der States Reorganisation Act die Unterschiede zwischen ehemaligen Provinzen und Fürstentümern und schuf einheitliche Bundesstaaten mit einer gewählten Regionalregierung. Bei der Neuordnung der Bundesstaaten wurde die jeweilige Muttersprache der Bewohner als Grundlage der Grenzziehung verwendet. Am 1. Mai 1960 wurde der bisherige Staat Bombay in die neuen ethnischen Staaten Gujarat und Maharashtra aufgeteilt. 2000 entstanden drei neue Bundesstaaten: Jharkhand aus den südlichen Teilen von Bihar, Chhattisgarh aus den östlichen Teilen von Madhya Pradesh und Uttarakhand (bis 2006 Uttaranchal) aus dem nordwestlichen Teil von Uttar Pradesh. Zum 2. Juni 2014 entstand aus Teilen des Bundesstaates Andhra Pradesh als neuer, 29. Bundesstaat Telangana; seine Hauptstadt ist Hyderabad. Zum 31. Oktober 2019 wurde der Bundesstaat Jammu und Kashmir aufgelöst und auf die Unionsterritorien Jammu und Kashmir und Ladakh aufgeteilt. Die Unionsterritorien Dadra und Nagar Haveli und Daman und Diu wurden am 28. Januar 2020 zu Dadra und Nagar Haveli und Daman und Diu zusammengelegt. ==== Bundesstaaten ==== Die folgende Liste zeigt die 28 Bundesstaaten Indiens, ihre Abkürzungen entsprechen der ISO-Norm (31766-2:IN) – wo das Autokennzeichen davon abweicht, ist es eingeklammert angehängt: ==== Unionsterritorien ==== ==== Städte ==== Hauptstadt Indiens ist Neu-Delhi innerhalb der Grenzen von Delhi, das mit rund 11 Millionen Einwohnern die zweitgrößte Stadt des Landes darstellt und mit mehr als 16 Millionen Einwohnern die zweitgrößte Agglomeration. Delhi ist kultureller Mittelpunkt der hindisprachigen Gemeinschaft des Nordens. Indiens größte Stadt und wirtschaftliches Zentrum ist jedoch Mumbai (Bombay). Die Metropole an der Westküste zählt mehr als 12,5 Millionen Einwohner, in der Agglomeration rund 18 Millionen. An dritter Stelle folgt Bengaluru (Bangalore). In der 8,5-Millionen-Stadt im südlichen Dekkan-Hochland sind zahlreiche Hochtechnologiefirmen angesiedelt, was ihr den Beinamen „Silicon Valley Indiens“ eingebracht hat. Viertgrößte Stadt ist das ebenfalls in Südindien gelegene Hyderabad mit 6,8 Millionen Einwohnern, gefolgt vom westindischen Ahmedabad mit 5,6 Millionen Einwohnern. Chennai (Madras), die mit 4,7 Millionen Einwohnern siebtgrößte Stadt Indiens, ist als kultureller Mittelpunkt Südindiens und insbesondere der Tamilen bekannt. Kalkutta, die wichtigste Metropole des Ostens, liegt mit 4,5 Millionen Menschen an achter Stelle. Sie gilt als intellektuelles Zentrum. Die folgende Liste zeigt die 20 größten städtischen Gebiete laut der Volkszählung in Indien 2011: === Rechtssystem === Die Geschichte des modernen indischen Rechts begann mit der Gründung der britischen East India Company zu Silvester 1600. ==== Frauenwahlrecht ==== 1950 wurde ein umfassendes Frauenwahlrecht eingeführt. Die Vorgeschichte dazu reicht aber bis ins 19. Jahrhundert zurück: Laut Berichten aus dem Jahr 1900 wurde die Beteiligung von Frauen an Lokalwahlen in Bombay mit einem Zusatz zum Bombay Municipal Act (1888) ermöglicht: Hausbesitzer durften dann unabhängig vom Geschlecht wählen. Es gibt aber Hinweise darauf, dass einige Frauen bei den Stadtratswahlen von Bombay schon viele Jahre vorher mit abstimmten.1918 unterstützte der Nationale Indische Kongress die Einführung des aktiven Frauenwahlrechts, und die Verfassungsreformen von 1919 ermöglichten es den gesetzgebenden Versammlungen in den Provinzen, über die Einführung selbst zu entscheiden. Die Provinz Madras, in der die antibrahmanische Partei die Mehrheit hatte, war die erste, die Frauen 1921 das Stimmrecht gab; andere Provinzen folgten. Frauen, die das Wahlrecht auf Provinzebene besaßen, durften auch an den Wahlen zur Zentralen Gesetzgebenden Versammlung teilnehmen.1926 erhielten Frauen auch das passive Wahlrecht. 1926 wurde Sarojini Naidu die erste Kongresspräsidentin. 1935 dehnte der Government of India Act, der 1937 in Kraft trat, das Wahlrecht für beide Geschlechter weiter aus. Er sah vor, dass Frauen wählen konnten, wenn sie eine von mehreren Bedingungen erfüllten: Grundeigentum, ein bestimmtes Maß an Bildung, das das Lesen und Schreiben einschloss oder der Status einer Ehefrau, falls der Mann wahlberechtigt war.Die Änderung einer weiteren Bestimmung zeigte einen wichtigen Wandel im Verständnis dessen an, was man unter Bürgerrechten verstand: Einige Sitze in den gesetzgebenden Versammlungen der Provinzen waren für Frauen reserviert; Männer konnten diese Mandate nicht übernehmen. Diese Vorschriften garantierten, dass Frauen auch tatsächlich gewählt wurden. Die Regelung hatte auch zur Folge, dass Frauen sich auch über diese Quote hinaus um Mandate bewarben, und sorgte dafür, dass fähige Frauen ihr Können als Abgeordnete und Ministerinnen unter Beweis stellen konnten. 1937 fanden die ersten Wahlen nach diesen neuen Regeln statt. Von den 36 Millionen Stimmberechtigten waren sechs Millionen Frauen.Ende 1939 hatten alle Provinzen das Frauenwahlrecht eingeführt. Zwar war dies ein grundsätzlicher Fortschritt, doch das Wahlrecht war an Grundeigentum gebunden. Da viele Inder kein Land besaßen, erhielten relativ wenige Männer und noch viel weniger Frauen infolge der Reformen von 1919 das Wahlrecht.1947 erlangte Indien die Unabhängigkeit – bis dahin hatte es weder für Frauen noch für Männer ein allgemeines Wahlrecht gegeben. 1949 arbeitete die Konstituierende Versammlung eine neue Verfassung aus. Weibliche Abgeordnete, die selbst von der Quotenregelung profitiert hatten, sprachen sich gegen die Fortführung dieser Praxis aus. Die neue Verfassung, die am 26. Januar 1950 in Kraft trat, sah ein allgemeines aktives und passives Wahlrecht für alle Erwachsenen vor. Doch in den Landesteilen, die bei der Teilung zu Pakistan wurden, mussten Frauen jahrelang auf das allgemeine Wahlrecht warten.Siehe oben zur aktuellen Stellung der Frau ==== Gewaltenteilung ==== Da in Indien Gewaltenteilung herrscht, ist die Judikative streng von Legislative und Exekutive getrennt. Oberster Gerichtshof des Landes ist der Supreme Court in Neu-Delhi mit 26 Richtern, die vom Präsidenten ernannt werden. Den Vorsitz hat der Chief Justice of India. Streitigkeiten zwischen den Staaten und der Zentralregierung fallen in seine Zuständigkeit. Außerdem stellt er die höchste Berufungsinstanz des Landes dar. Dem Supreme Court untergeordnet sind 21 High Courts der Bundesstaaten. Ab der dritten Rechtsebene (Distriktebene) wird zwischen Zivil- und Strafgerichten unterschieden. Zivile Rechtsstreitigkeiten fallen in den Metropolitan Districts (Stadtdistrikten) in den Zuständigkeitsbereich der City Civil Courts, welche den District Courts der Landdistrikte entsprechen. Für das Strafrecht sind in Stadt- und Landdistrikten die Sessions Courts verantwortlich. Außerdem existieren Sondergerichte für spezielle Bereiche wie Familien- und Handelsrecht. Die Rechtsprechung einfach gelagerter Streitfälle der untersten Ebene findet in den Panchayati Rajs der Dörfer (Gram Panchayat) statt. Infolge der britischen Rechtspraxis der Kolonialzeit findet in Indien heute noch vielfach das Common Law Anwendung, das sich nicht allein auf Gesetze, sondern in hohem Maße auf maßgebliche Urteile hoher Gerichte in Präzedenzfällen stützt. Die Gerichtssprache ist Englisch, auf den unteren Ebenen kann aber auch in der jeweiligen regionalen Amtssprache verhandelt werden. Eine Besonderheit im sonst säkularen Indien ist seine Gesetzgebung im Familien- und Erbrecht, die jeweils eigene Regelungen für Hindus (diese gilt auch für Sikhs, Jains und Buddhisten), für Muslime, für Christen und für Parsen aufrechterhält (siehe hierzu Ehe im Hinduismus#Gesetzgebung und Islamische Ehe#Indien). === Innenpolitik === Während des Unabhängigkeitskampfes bildete sich der Nationalkongress, der die Kolonialherrschaft der Engländer beenden wollte. Nach der Unabhängigkeit 1947 wurde die Kongresspartei stärkste Partei und bildete unter Jawaharlal Nehru die erste Regierung. Bis Mitte der 1990er Jahre dominierte die Kongresspartei meist unter Führung der Nehru-Gandhi-Familie, mit nur zwei kurzen Unterbrechungen, die Politik des Landes. Erst im Zusammenhang mit der geplanten „Wieder“errichtung des Ram-Janmabhumi-Tempels anstelle der Babri-Moschee in Ayodhya gelang es der Bharatiya Janata Party (BJP, Indische Volkspartei, Symbol: Lotosblüte) mit nationalistischen Parolen Unterstützung auf breiter Ebene zu finden. Dies gipfelte in dem Marsch auf Ayodhya und dem Abriss der Moschee, der im ganzen Land zu gewalttätigen Ausschreitungen und Übergriffen, vor allem gegen Muslime, mit vielen Toten führte. Die polarisierende und pro-hinduistisch ausgerichtete Politik der BJP steht ganz im Zeichen der hindunationalistischen Hindutva-Bewegung, die – auch unter Beteiligung von paramilitärischen Gruppen, wie dem Nationalen Freiwilligencorps (Rashtriya Swayamsevak Sangh, kurz RSS) – die Hinduisierung Indiens und in ihren extremen Auswüchsen die Vertreibung der muslimischen und christlichen Bevölkerung zum Ziel hat. Von 1998 bis 2004 stellte die BJP die Regierung unter dem als eher gemäßigt geltenden Atal Bihari Vajpayee als Premierminister. Nach einem Anschlag auf einen Zug mit Pilgern im Jahre 2002 begannen Massaker in Gujarat, die von der dort regierenden BJP nur halbherzig bekämpft wurden. Diese Unruhen haben dann doch wohl viele moderate Hindus zu einem gewissen Umdenken gebracht, zumal die von der Indischen Volkspartei hochgehaltene Vision eines Shining India („Strahlendes Indien“) weite Teile der Bevölkerung, die nicht vom Boom der letzten Jahre profitierten, ob der hochgesteckten Ziele eher skeptisch werden ließ. Bei der Parlamentswahl 2004 erzielte die oppositionelle Kongresspartei unter Sonia Gandhi einen unerwarteten Sieg. Überraschend für ihre Parteienkoalition lehnte sie es ab, den Posten des Premierministers zu übernehmen, Manmohan Singh wurde am 22. Mai 2004 als Premierminister vereidigt. Bei der Parlamentswahl 2009 konnte die Parteienkoalition der United Progressive Alliance unter Führung des Indischen Nationalkongress ihren parlamentarischen Rückhalt deutlich ausbauen, so dass Manmohan Singh erneut zum Premierminister gewählt wurde. Bei der Wahl 2014 wurde Narendra Modi zum Premierminister gewählt, seine Bharatiya Janata Party errang mit großem Vorsprung 31 % der Stimmen. === Außenpolitik === Vier Jahrzehnte lang war die indische Außenpolitik durch das Engagement in der Bewegung der Blockfreien Staaten und das „besondere Freundschaftsverhältnis“ mit der Sowjetunion geprägt, die besonders Jawaharlal Nehru vorantrieb. Die drei Leitlinien indischer Blockfreiheit bestanden darin, Militärbündnissen mit amerikanischer oder sowjetischer Beteiligung fernzubleiben, außenpolitischen Herausforderungen sachgerecht und vollständig aus indischer Perspektive zu begegnen und freundschaftliche Beziehungen zu allen Ländern zu betreiben. Dabei betrachtete sich Indien nicht als äquidistant, sondern suchte bis zum Krieg gegen China 1962 die Führungsrolle innerhalb der blockfreien Bewegung. Dies drückte sich beispielsweise in der Entsendung von Friedenstruppen in den Gazastreifen 1956 und in den Kongo 1961 aus sowie in der Verurteilung der franko-britischen Intervention in der Sueskrise. Ebenso verurteilte es das sowjetische Vorgehen zu Beginn des Koreakrieges 1950 und 1956 als inakzeptable Einmischung.Nach dem Ende des Kalten Krieges orientierte Indien sich neu. Die historisch eher schwierigen Beziehungen zu den USA verbesserten sich; im März 2000 besuchte US-Präsident Bill Clinton Indien. Die USA bemühten sich nun stärker um Indien als strategischen Partner. Hinsichtlich des Kaschmir-Konflikts stützten die USA nun stärker die Haltung Indiens. Nach den Terroranschlägen am 11. September 2001 stellte sich Indien ohne Einschränkung auf die Seite der USA. Heute werden die außenpolitischen Ziele Indiens vor allem durch das Bemühen, einen ständigen Sitz im UN-Sicherheitsrat zu erlangen, charakterisiert. Hierbei zieht Indien China als Vergleichsmaßstab heran und strebt eine Statusaufwertung an. Indien beansprucht aufgrund seiner Größe und zivilisatorischen Bedeutung denselben Rang wie China, das als anerkannte Atommacht mit ständigem Sitz im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen vertreten ist. Indien führte zwei Kernwaffentests durch, den ersten 1974 unter Indira Gandhi, den zweiten im Mai 1998 unter Atal Bihari Vajpayee. Zwei Wochen später, am 28. Mai, zündete Pakistan zum ersten Mal einen Atomtest. Den Atomwaffensperrvertrag haben weder Indien noch Pakistan unterschrieben. Die Beziehungen zwischen beiden Staaten sind seit dem Ende der Kolonialzeit durch den Kaschmir-Konflikt belastet. Einen letzten Höhepunkt der „Eiszeit“ zwischen Indien und Pakistan bildeten die Gefechte in Kargil 1999. Ein Friedensprozess begann 2004; er geriet aber 2008 nach Anschlägen im indischen Mumbai mit 166 Toten ins Stocken. Indien macht pakistanische Islamisten für die Tat verantwortlich. 2010 und 2011 kamen die beiden Außenminister zu Treffen zusammen.Die Atomtests im Mai 1998 wurden zwar stets mit dem Verweis auf die chinesische Bedrohung gerechtfertigt (Angriff Chinas von 1962), in erster Linie verfolgt Indien mit den Tests jedoch wohl eine internationale Statusaufwertung und versucht, eine Gleichrangigkeit mit China zu untermauern. Indien betreibt eine erhebliche konventionelle Aufrüstung, genauso wie China und andere asiatische Länder wie Pakistan.Tatsächlich stehen sich Indien und China mittlerweile eher freundschaftlich gegenüber. Zunehmende Handelsverflechtungen und die gegenseitige Anerkennung des Status quo in Tibet durch Indien 2003 und Sikkim durch China 2004 haben zu einer spürbaren Entlastung des politischen Verhältnisses beigetragen. Dennoch bestehen noch immer Grenzstreitigkeiten um den chinesisch besetzten Teil Kaschmirs (Aksai Chin) sowie den größten Teil des indischen Bundesstaats Arunachal Pradesh. Mit Bangladesch besteht seit Jahrzehnten Uneinigkeit über Fragen der Wasserverteilung. Auch Grenzverlauf und -verkehr waren lange Zeit umstritten. Bis zum Indisch-bangladeschischen Grenzvertrag von 2015 bestanden auf beiden Seiten der Grenze insgesamt mehr als 150 Enklaven, darunter ein „Stückchen indischen Landes innerhalb bangalischen Territoriums, das selber vollständig von einer indischen Besitzung umgeben ist, die wiederum innerhalb Bangladeshs liegt“ (Stand Mai 2015). Als belastend gilt zudem die illegale Einwanderung vieler Bangladescher nach Indien. Am 6. Juni 2015 wurde ein Abkommen unterzeichnet, demzufolge Bangladesch 111 indische Enklaven erhielt und Indien im Gegenzug 52 bangladeschische auf seinem Gebiet. Damit wurde eine „geregelte Grenze“ hergestellt. 53.000 Bewohner der betroffenen Gebiete konnten entscheiden, welchem der zwei Staaten sie angehören wollen.Indien ist eines der Gründungsmitglieder der Vereinten Nationen sowie Mitglied zahlreicher weiterer internationaler Organisationen, darunter Commonwealth, Internationaler Währungsfonds, Weltbank und Welthandelsorganisation (WTO). Indien ist Mitglied in der Gruppe der zwanzig wichtigsten Industrie- und Schwellenländer und der G33. Eine tragende Funktion hat es in der Südasiatischen Vereinigung für regionale Zusammenarbeit (SAARC). 2017 wurde Indien gemeinsam mit Pakistan in die Shanghaier Organisation für Zusammenarbeit aufgenommen. Indien bewarb sich für die Mitgliedschaft in der Organisation für Islamische Zusammenarbeit, wurde allerdings aufgrund eines Vetos Pakistans abgelehnt, obwohl Indien das Land mit den drittmeisten Muslimen weltweit ist.Die Beziehungen Indiens zur EU basieren auf einer umfassenden politischen Erklärung und einem Aktionsplan für eine strategische Partnerschaft, die auf dem EU-Indien-Gipfel im Herbst 2005 verabschiedet wurden und seitdem schrittweise umgesetzt werden. Damit sollen die Beziehungen zu Indien formal auf eine Ebene mit denen zu den Vereinigten Staaten, Kanada, Japan, Russland und China gestellt werden. Zukünftig will man das Potenzial für gemeinsame Kooperationen und Austausch noch stärker ausschöpfen. Dies gilt insbesondere auch für die Bereiche Konfliktprävention, Terrorismusbekämpfung und die Stärkung der Menschenrechte. === Bildungswesen === In Indien besteht allgemeine Bildungspflicht von 6 bis 14 Jahren, und das indische Parlament beschloss 2002 einstimmig, das Recht auf Bildung in die Verfassung aufzunehmen. Während dieses Zeitraumes ist der Besuch öffentlicher Schulen kostenlos. Insgesamt gab es in Indien 315 Millionen Schüler, mehr als in jedem anderen Land (Stand: Zensus 2011). Das Schulsystem umfasst vier Hauptstufen: auf die fünfjährige Grundschule folgt die Mittelschule von der sechsten bis achten Klasse, darüber die höheren Schulen und schließlich die Hochschulen sowie Universitäten. Allgemein hat der Staat in der Vergangenheit besonderes Augenmerk auf die Förderung von höheren Bildungseinrichtungen gelegt, was den aus der Kolonialzeit herrührenden elitären Charakter des Bildungswesens eher noch verstärkt hat. Dennoch ziehen viele Angehörige der Mittel- und Oberschicht gerade bei der höheren Bildung private Einrichtungen den staatlichen vor. In Indien stieg die mittlere Schulbesuchsdauer aller Personen über 25 von 3 Jahren 1990 auf 6,3 Jahre 2015 an. Die aktuelle Bildungserwartung beträgt bereits 11,7 Jahre. Heute werden zwar fast alle Kinder – zumindest Jungen – tatsächlich eingeschult, in den höheren Klassenstufen wird die Zahl der Abbrecher aber immer höher. Vor allem im ländlichen Raum erhalten daher viele Kinder nur eine äußerst rudimentäre Grundbildung. Weiterführende Schulen und höhere Bildungseinrichtungen stehen dagegen meist nur in Städten zur Verfügung. Immerhin konnten seit der Unabhängigkeit große Fortschritte bei der Alphabetisierung erzielt werden. 2011 lag die Alphabetisierungsrate im Landesdurchschnitt bei 74,0 % (Männer: 82,1 %, Frauen: 65,5 %). 2001 hatte sie noch 64,8 % betragen, 1951 sogar nur 18,3 %. Da das Bildungswesen größtenteils den Bundesstaaten obliegt, weist es dementsprechend große regionale Unterschiede auf. Dies äußert sich am deutlichsten in der sehr ungleichen Analphabetenquote. Während sie in Kerala, dem Staat mit der höchsten Alphabetisierungsrate, 2011 nur 6,1 % betrug, war sie im finanziell ärmsten Staat Bihar mit 36,2 % fast sechsmal so hoch. Ein weiteres Problem ist die Benachteiligung von Mädchen, deren Einschulungsrate geringer ist als die von Jungen (Durchschnitt 2000 bis 2004: Jungen: 90 %, Mädchen: 85 %). An höheren Bildungseinrichtungen liegt der Frauenanteil in der Regel deutlich unter dem der Männer. Ein großer Schwachpunkt ist auch das bisher wenig entwickelte Berufsschulwesen, welches allerdings stark im Wachsen begriffen ist. Indien verfügte 2016 über 750 Universitäten und 41.435 Colleges mit insgesamt 28,5 Millionen Studierenden. Nach der Volksrepublik China ist Indien damit das Land mit den meisten Hochschülern. Laut dem Ranking Times Higher Education von 2019 schaffen es das Indian Institute of Science Bangalore und Indian Institute of Technology Ropar unter die besten 400 Institutionen weltweit.Die folgende Liste zeigt die indienweite Entwicklung der Alphabetisierung von 1951 bis 2011; im Jahr 1901 konnten 5,1 % der Bevölkerung lesen und schreiben, ein Anteil der bis 1941 auf 16,1 % stieg: * ohne Assam** ohne Jammu und Kashmir === Gesundheitswesen === Das Gesundheitswesen ist überwiegend staatlich, obwohl es auch viele private Krankenhäuser gibt. Obwohl die Gesundheitsbetreuung auf dem Land bereits erheblich verbessert wurde, insbesondere durch Erste-Hilfe-Stationen in Dörfern, besteht noch ein großes Stadt-Land-Gefälle. In vielen Dörfern gibt es keine medizinischen Einrichtungen. Verschlimmert wird die Lage durch schlechte hygienische Bedingungen, wie fehlender Zugang zu sauberem Trinkwasser und Sanitäranlagen, sowie Unterernährung. Ähnliche Bedingungen herrschen in städtischen Elendsvierteln. Seuchen wie Malaria, Filariose, Tuberkulose und Cholera sind in manchen Regionen noch immer ein großes Problem. Trotz aller Schwierigkeiten und Hemmnisse stieg die Lebenserwartung bei Geburt von 53,3 Jahren 1980 auf 67,6 Jahre (Männer: 66,2 Jahre, Frauen: 69,1 Jahre) 2015. Früher war Indien eines der wenigen Länder der Erde, in denen Männer eine höhere Lebenserwartung aufwiesen als Frauen. In den letzten Jahren hat sich dies umgekehrt. Die Kindersterblichkeit (unter 5-jährige) in Indien lag 2018 bei 3,7 % (1960 betrug sie noch 24,2 %).Wegen der geringen Kosten und der guten Qualität der ärztlichen Behandlung in spezialisierten Krankenhäusern gewinnt der Medizintourismus aus nordamerikanischen und europäischen Industrieländern immer mehr an Bedeutung. Die folgende Liste zeigt die indienweite Entwicklung der Lebenserwartung von 1950 bis 2015 (Quelle: UN-DESA): ==== COVID-19-Pandemie in Indien ==== Die COVID-19-Pandemie führte zu Übergriffen auf medizinisches Personal, die als Überträger der Erkrankung angesehen wurden. === Streitkräfte und Verteidigung === Indiens Militär besteht aus Freiwilligen, eine Wehrpflicht gibt es nicht. Die offiziellen Streitkräfte sind die drittgrößten der Welt. Sie umfassen 1,3 Millionen Soldaten, wovon 1,1 Millionen im Heer, 150.000 bei der Luftwaffe und 53.000 bei der Marine dienen. Dazu kommen 800.000 Reservisten und 1,1 Millionen Mann in vor allem bei internen Konflikten eingesetzten paramilitärischen Verbänden. Zählt man Letztere hinzu, hat nur Chinas Militär eine größere Truppenstärke. Die indischen Streitkräfte hatten im Jahr 2005 3.264 Kampfpanzer, 733 Kampfflugzeuge, 199 Hubschrauber, 21 Kriegsschiffe und 17 U-Boote. Im Jahr 2004 war Indien der zweitgrößte Waffenkäufer der Erde mit einem Anteil von 10 % an allen Waffenkäufen; so ging ein Viertel der gesamten russischen Waffenexporte nach Indien. Die Militärausgaben im Jahr 2016 betrugen 55,9 Milliarden US-Dollar, das entsprach 2,5 % des Bruttoinlandsproduktes. Indien hatte damit das weltweit fünft-höchste Militärbudget. Seit 1974 ist Indien offiziell Atommacht. Es hat selbst entwickelte Kurzstreckenraketen sowie Mittelstreckenraketen mit Reichweiten von 700 bis 8000 km. 2012 standen 84 Nuklearsprengköpfe zur Verfügung. Bis heute hat Indien den Atomwaffensperrvertrag nicht unterzeichnet, verzichtet jedoch laut seiner Nukleardoktrin auf den nuklearen Erstschlag. Indiens einzige Militärbasis im Ausland ist seit 2004 der Luftstützpunkt Farkhor in Tadschikistan. Zudem besteht mit Mosambik ein Militärabkommen, das Ankerrechte und Versorgung von indischen Kriegsschiffen vorsieht. Mit Mauritius bestehen zudem enge militärische Bindungen. Die indischen Luftstreitkräfte kontrollieren den mauritischen Luftraum und es besteht eine Zusammenarbeit mit der indischen Marine (Stand 2007).Seit der Unabhängigkeit hat das indische Militär kaum Interesse an einer politischen Einflussnahme gezeigt. Es ist der Zivilverwaltung unterstellt; den militärischen Oberbefehl hat der Präsident. == Wirtschaft == Indien ist eine gelenkte Volkswirtschaft, die seit 1991 zunehmend dereguliert und privatisiert wird. Seither hat sich das Wirtschaftswachstum deutlich beschleunigt. Die Leistungsfähigkeit der indischen Wirtschaft hat nach Einschätzung vieler Beobachter in einigen Branchen (Informationstechnologie, Pharmazie) inzwischen internationales Spitzenniveau erreicht. Behindert wird das Wachstum der Produktion der indischen Wirtschaft insbesondere durch Mängel der vielfach veralteten Infrastruktur, vor allem durch Engpässe bei der Energieversorgung, die zu häufigen Stromausfällen führen. Trotz der 1991 begonnenen Liberalisierung der Wirtschaft leiden vor allem die Industrie und der Bankensektor nach wie vor unter häufigen staatlichen Eingriffen und den langsamen politischen Entscheidungsprozessen. Der Schutz ineffizienter Staatsunternehmen vor Wettbewerb bleibt ein Hemmschuh. Ein Belastungsfaktor ist auch die weitverbreitete Korruption. Zudem beeinträchtigen nach wie vor Arbeitsmarktregulierungen, die zum Beispiel Entlassungen von Arbeitskräften stark erschweren, das Investitionsklima. Ausländische Investoren werden so abgeschreckt. Indien verliert zudem eine große Zahl von qualifizierten Arbeitskräften ins Ausland (Braindrain). Andererseits ist es der größte Profiteur von Auslandsrücküberweisungen von Emigranten auf der Welt. 2016 betrugen sie 62,7 Milliarden US$ und trugen damit knapp 3 % der Wirtschaftsleistung bei.Die Integration Indiens in die Weltwirtschaft hat sich in den letzten Jahren verstärkt. Das Land profitiert zunehmend von den Vorteilen der internationalen Arbeitsteilung und der Globalisierung. Die indische Wirtschaft ist aber noch sehr stark binnenwirtschaftlich orientiert. Ihr Anteil an der Weltwirtschaft liegt noch bei knapp 3 %, obwohl Ein- und Ausfuhren in den letzten Jahren kräftig gewachsen sind. Die niedrigen Anteile der Aus- und Einfuhren am Bruttoinlandsprodukt signalisieren noch beträchtliches Wachstumspotenzial. 2016 entsprachen die Ausfuhren von Waren und Dienstleistungen nur gut 19,2 % des Bruttoinlandsprodukts, die Einfuhren 20,6 %. Die mittel- und langfristigen Wachstumsperspektiven Indiens werden vielfach sehr günstig beurteilt. Einige Studien rechnen damit, dass Indien künftig sogar stärker als China wachsen wird. Abgesehen vom großen Nachholbedarf, insbesondere im Bereich der Infrastruktur, spricht vor allem die Altersstruktur der Bevölkerung für ein anhaltend starkes Wirtschaftswachstum. Der hohe Anteil junger Menschen an der Bevölkerung wird in den nächsten Jahrzehnten für einen hohen Anteil von Menschen im erwerbsfähigen Alter sorgen. Die in Europa und auch in China zu erwartende „Vergreisung“ der Bevölkerung wird in Indien deutlich später einsetzen. Wachstumsstützen werden auch das schon heute große Angebot an qualifizierten Arbeitskräften und die enger werdende Integration in die Weltwirtschaft sein. Die hohen Währungsreserven und relativ niedrige Auslandsschulden dürften das Vertrauen ausländischer Investoren in die Entwicklung der indischen Wirtschaft stärken. Bisher waren die ausländischen Direktinvestitionen in Indien im internationalen Vergleich, insbesondere mit China, gering. Die als wirtschaftsliberal betrachtete Regierung Narendra Modis versucht mit Reformen und Initiativen wie der Make-in-India-Kampagne ausländische Investitionen anzulocken. Im Ease of Doing Business Index der Weltbank belegte Indien 2017 Platz 100 von 190 Ländern. Indien konnte sich damit im Vergleich zum Vorjahr um 30 Plätze verbessern und gehörte erstmals zu den ersten 100 Ländern.Konfliktpotentiale bergen die teilweise große Armut, die ungleiche Einkommensverteilung und die hohe Arbeitslosigkeit. In Indien gab es 2017 104 Milliardäre, womit es hinter den USA, China und Deutschland die vierthöchste Anzahl an Milliardären weltweit hatte, während über 20 % der Bevölkerung in extremer Armut lebten und 96,2 % der Inder ein privates Vermögen von weniger als 10.000 US-Dollar besaßen. Bisher verzeichnet Indien jedoch eine bemerkenswert große soziale Stabilität. Im Global Competitiveness Index des Weltwirtschaftsforums, der die Wettbewerbsfähigkeit eines Landes misst, lag Indien im Jahr 2018 auf Rang 40 von 137 Ländern. Im Index für wirtschaftliche Freiheit der Heritage Foundation und des Wall Street Journal belegte Indien 2018 Rang 130 von 180 Ländern. Nach dem Korruptionswahrnehmungsindex von Transparency International lag Indien 2022 unter 180 Ländern zusammen mit Tunesien, den Malediven, Guyana, Suriname und Nordmazedonien auf Rang 85, mit 40 von maximal 100 Punkten. === Aktuelle gesamtwirtschaftliche Entwicklung === Von 2005 bis 2015 wuchs das Bruttoinlandsprodukt (BIP) Indiens inflationsbereinigt um rund sechs bis 7 % jährlich. Trotz des deutlich beschleunigten Wachstums lag die offizielle Arbeitslosenquote in jener Zeit aber noch bei 9 % – wobei mit einer erheblichen Zahl von Arbeitslosen zu rechnen ist, die von der Statistik nicht erfasst werden. Die Gesamtzahl der Beschäftigten wird für 2017 auf 521,9 Millionen geschätzt. Davon arbeitet ein großer Teil im informellen Sektor. 24,5 % der Arbeitskräfte sind weiblich, womit Frauen noch eine relativ geringe Arbeitsmarktbeteiligung aufweisen.Unbefriedigend bleibt auch die Entwicklung der Staatsfinanzen. Das gesamtstaatliche Haushaltsdefizit bewegt sich bei leicht rückläufiger Tendenz zwischen neun und 10 % des Bruttoinlandsprodukts. Davon entfällt rund die Hälfte auf das Defizit der Zentralregierung. Von den führenden Agenturen zur Bewertung von Kreditrisiken wird die Bonität Indiens vor dem Hintergrund der günstigen gesamtwirtschaftlichen Entwicklung aber zunehmend besser eingeschätzt. Nach der Rating-Agentur Moody’s hob Anfang August 2006 auch die Agentur Fitch ihre Bewertung der Kreditaufnahme des indischen Staates auf den niedrigsten sogenannten investment grade an. Im Zuge der zunehmenden internationalen wirtschaftlichen Verflechtung Indiens war das Land ab 2008 ebenfalls von der weltweiten Wirtschaftskrise betroffen. Das stetige jährliche Wirtschaftswachstum brach ein. Als Gründe werden der junge, global agierende indische Kapitalmarkt, hohe private Kreditverschuldung, steigende Arbeitslosenzahlen sowie sinkende Binnennachfrage und Exportzahlen genannt. Zur Bekämpfung der Krise wurden staatliche Konjunkturpakete aufgelegt, unter anderem Infrastrukturprogramme, Steuersenkungen sowie Subventionen für die Exportindustrie.Indiens Wirtschaft hat in den letzten Jahren an Dynamik zurückgewonnen. Das Wirtschaftswachstum lag im Haushaltsjahr 2015 bei 7,9 %. Das Bruttoinlandsprodukt betrug 2016 im gleichen Zeitraum circa 2.251 Mrd. US-Dollar, das nominale BIP pro Kopf etwa 1.723 US-Dollar. Die Inflation sank von zeitweise ca. 10 % auf ca. 5 % im Jahr 2018. Bei weiter wachsender Einwohnerzahl wird Indien laut Experten bis zur Mitte des Jahrhunderts voraussichtlich nicht nur das bevölkerungsreichste Land der Erde sein, sondern auch zur drittgrößten Volkswirtschaft der Welt (nach den USA und China) aufsteigen. Indien hat dennoch weiterhin mit einer hohen Armut in der Bevölkerung zu kämpfen. Etwa 30 % der Bevölkerung leben aktuell noch unterhalb der Armutsgrenze von 1 US-Dollar pro Kopf und Tag. === Landwirtschaft === Der weltweit zu beobachtende Wandel der Wirtschaftsstruktur von der Landwirtschaft zur Industrie und zum Dienstleistungssektor vollzieht sich auch in Indien, das aber im internationalen Vergleich, zum Beispiel mit China, immer noch sehr stark agrarisch geprägt ist. 59,4 % der Bevölkerung sind in der Landwirtschaft erwerbstätig. Die ländliche Bevölkerung bildet den ärmsten Teil der Bevölkerung. Vom Aufschwung der Wirtschaft profitiert bisher vorwiegend die Bevölkerung der Städte, wo sich eine kaufkräftige Mittelschicht oft hochqualifizierter Fachkräfte bildete. Dies birgt sozialen Konfliktstoff. Die Abwahl der letzten Regierung im Jahr 2004 wird wesentlich mit der Unzufriedenheit der ländlichen Bevölkerung mit der wirtschaftlichen Entwicklung erklärt. Der Anteil der Landwirtschaft am Bruttoinlandsprodukt ist indes stark rückläufig. Trug sie 1956 noch 56 % bei, so waren es 2016 nach Angaben der Weltbank noch rund 17,4 %. Entsprechend hoch ist die Abhängigkeit des jährlichen Wirtschaftswachstums von den Witterungsbedingungen. Ungünstige Erntebedingungen können es spürbar beeinträchtigen. Seit der Unabhängigkeit wurden große technische Fortschritte gemacht, vor allem im Zuge der sogenannten „Grünen Revolution“ seit Mitte der 1960er Jahre. Die großflächige Einführung von Hochertragssorten, der Einsatz von Dünge- und Schädlingsbekämpfungsmitteln, die teilweise Mechanisierung der Landwirtschaft und die Ausweitung der Bewässerungsflächen haben dazu beigetragen, dass sich das Land heute mit Nahrungsmitteln weitestgehend selbst versorgen kann. Dennoch ist Indiens Landwirtschaft noch vergleichsweise ineffizient. Im ländlichen Raum sind viele Menschen unterbeschäftigt, und eine umfassende Industrialisierung der Landwirtschaft steht weiten Teilen des Landes erst noch bevor. Lediglich im Punjab, der „Kornkammer Indiens“, ist sie bereits weiter fortgeschritten. Am wichtigsten ist der Anbau von Getreide, vor allem Reis. Dessen Hauptanbaugebiete liegen in den fruchtbaren Stromebenen des Nordens sowie entlang der Küsten und im östlichen Dekkan. Indien ist nach China der zweitgrößte Reisproduzent der Erde. Ungefähr ein Fünftel der weltweiten Erträge entfallen auf Indien. Auch beim Weizen, dem zweitwichtigsten Anbauprodukt, liegt Indien weltweit an zweiter Stelle. Weizen wird hauptsächlich in den nördlichen Bundesstaaten Punjab, Haryana und Uttar Pradesh angebaut, aber auch im Norden und Nordwesten des Dekkans sowie Gujarat und Bihar. In trockeneren Landstrichen, wie Rajasthan, Gujarat und großen Teilen des Dekkans, dominiert die Hirse. Mais und Gerste spielen eine geringere Rolle. Zur Nahrungsmittelproduktion trägt zudem der Anbau von Hülsenfrüchten, Kartoffeln, Zwiebeln, Ölsaaten (besonders Erdnüsse, Sojabohnen, Sesam, Raps, Kokosnüsse), Mangos und Bananen bei. Die wichtigsten kommerziellen Anbauprodukte sind Baumwolle, Zuckerrohr, Tee, Tabak, Kaffee, Jute, Cashewnüsse, Gewürze (vor allem Chili, Pfeffer, Kardamom, Ingwer, Koriander, Kurkuma, Zimt, Knoblauch) und Betelnüsse. Wenig effizient ist die indische Viehzucht, trotz des mit 222 Millionen Tieren (Stand: 2002) größten Rinderbestandes der Erde. Insgesamt 20 % der Inder sind Vegetarier, die Fleischproduktion steht daher je nach Region nicht immer im Vordergrund. Dafür werden Milch und Molkereierzeugnisse in großen Mengen hergestellt. === Fischerei === Nach der erfolgreichen Ertragssteigerung der Landwirtschaft setzte ab den 1980er Jahren die Förderung der Fischerei ein. Parallel zur „Grünen Revolution“ wurde dafür der Begriff der „Blauen Revolution“ geprägt. Nachdem zunächst Kleinfischer mit Außenbordmotoren versorgt worden waren, begann der Aufbau einer modernen Schleppnetzflotte. Dies führte zwar zu einer wesentlichen Erhöhung der Erträge, aber auch zur Überfischung vieler Küstenabschnitte. Indiens wichtigste Fischgründe liegen an der Westküste, wo rund 70 % der Fangerträge erzielt werden. 2001 lag Indien mit einer Fangmenge von 3,8 Millionen Tonnen weltweit an siebter Stelle. Fisch und Garnelen werden heute in großen Mengen exportiert. Die Garnelenzucht wird besonders gefördert. So stammt mittlerweile etwa die Hälfte der Garnelen aus Aquakulturen, die seit den 1990er Jahren vor allem an der Ostküste angelegt worden sind. Die traditionelle Binnenfischerei in Flüssen, Teichen und Seen spielt besonders im Osten und Nordosten Indiens eine Rolle. Im Umland von Delhi etabliert sich nun auch die kommerzielle Zucht von Fischen, vor allem Karpfen. === Bergbau und Bodenschätze === Indien hat reichliche Vorkommen an hochwertigen Eisen- und Manganerzen, Steinkohle, Bauxit und Chrom. Die größten Rohstofflagerstätten befinden sich in Ostindien, vor allem Jharkhand, Chhattisgarh und Odisha. Eisenerz, bei dessen Förderung das Land 2003 mit 100 Millionen Tonnen an weltweit vierter Stelle lag, kommt außerdem in Goa, Karnataka und Tamil Nadu vor. Indien ist mit über zehn Millionen Tonnen der fünftgrößte Förderer von Bauxit, dem wichtigsten Rohstoff für Aluminium, der hauptsächlich in küstennahen Gebieten Gujarats und Maharashtras sowie in Madhya Pradesh und Jharkhand abgebaut wird. Bei Kupfer ist Indien trotz gesteigerter Ausbeute weiterhin auf Importe angewiesen. Obwohl Indien der weltweit drittgrößte Produzent von Steinkohle ist, deckt es einen Teil seines Bedarfs mit qualitativ hochwertigerer und billigerer Importkohle. Steinkohle ist der wichtigste Energieträger des Landes. Die Vorkommen an Erdöl und Erdgas reichen bei Weitem nicht aus, um die stetig steigende Nachfrage zu decken. Nennenswerte Ölvorkommen gibt es nur in Assam, Gujarat, im Golf von Khambhat und vor der Küste von Maharashtra. Die eigene Produktion deckt nur ein Drittel des Verbrauchs. Erdgaslagerstätten finden sich im Golf von Khambhat und werden erst seit den 1980er Jahren ausgebeutet. === Industrie === Während der Kolonialherrschaft wurde die Entwicklung der Industrie – mit Ausnahme der schon frühzeitig bedeutsamen Textilindustrie – eher gehemmt denn gefördert. Nach der Unabhängigkeit forcierte man daher besonders den Ausbau von kapitalintensiven Schlüsselindustrien. Dazu gehörten Stahl-, Maschinen- und chemische Industrie. Die Konsumgüterherstellung wurde vernachlässigt und sollte durch Kleinindustrien gedeckt werden. Um die ehrgeizigen Ziele zu erreichen, setzte man nach dem Vorbild der Sowjetunion auf den Ausbau der Schlüsselindustrien durch den Staat mittels Fünfjahresplänen. 2001 waren 21,9 % der erwerbstätigen Bevölkerung im Industriebereich tätig. Die Wertschöpfung der Industrie betrug 2016 nach Weltbankangaben 28,8 % des Bruttoinlandsproduktes, womit die Industrieproduktion Indiens inzwischen zu den größten der Welt gehört. Ein Wachstumsmotor im Industriebereich sind die Deregulierungen auf den Energie-, Chemie- und Rohstoffmärkten. Wachstumsimpulse kommen auch von der rasch steigenden Inlandsnachfrage nach langlebigen Konsumgütern. Die Textilindustrie zählt dank der riesigen Inlandsnachfrage und der Produktion für den Export auch heute noch zu den größten und wichtigsten Wirtschaftszweigen Indiens. Leder wird sowohl industriell als auch handwerklich in großen Mengen hergestellt und verarbeitet. Da Hindus die Berührung und Verwertung von Tierkadavern als unreine Arbeit ansehen, sind die meisten Angestellten der Lederbranche Muslime oder „Unberührbare“. Auch Kinderarbeit ist in der Branche verbreitet. Viele Beschäftigte sind häufig gesundheitsgefährdenden Arbeitsbedingungen ausgesetzt, Unternehmen unterwanderten in der Vergangenheit mehrfach den gesetzlichen Mindestlohn. Auch gewerkschaftliche Tätigkeiten werden unterdrückt. Neben diesen eher traditionellen Industrien dominieren die Eisen- und Stahlerzeugung, Maschinen-, Kraftfahrzeug- und chemische Industrie. Unter ihnen ist der staatliche Anteil besonders hoch. Allerdings nimmt der Anteil privater Betriebe seit der Liberalisierung der Wirtschaft in den 1980er und vor allem frühen 1990er Jahren zu. Die indische Pharmaindustrie gehört zu den größten und fortgeschrittensten unter den Entwicklungsländern. Wegen der indischen Patentschutzgesetzgebung, der Arzneimittel nur bedingt unterlagen, kam es immer wieder zu Streitigkeiten mit den Industriestaaten, allen voran den Vereinigten Staaten von Amerika. Mittlerweile hat Indien seine Patentgesetze angepasst. Ein wichtiger Träger des wirtschaftlichen Aufschwunges der letzten Jahre ist die Informationstechnologiebranche, die teils dem industriellen, teils dem Dienstleistungssektor zuzurechnen ist. Vor allem der Softwarebereich hat sich zu einem bedeutenden Wirtschaftszweig entwickelt. Viele indische Städte verfügen inzwischen über „Softwareparks“. Auch die Herstellung von Hardware erlebt einen rasanten Aufschwung. Mit zweistelligen jährlichen Wachstumsraten gewinnt auch die Biotechnologie an Bedeutung. Die industrielle Produktion konzentriert sich auf wenige städtische Großräume. Die wichtigsten Industriezonen sind die Ballungsgebiete Mumbai-Pune, Ahmedabad-Vadodara-Surat, Delhi, Kanpur-Lucknow, Chennai, Kalkutta-Asansol sowie der Punjab und der Osten Jharkhands. Die Spitzentechnologie ist vor allem im Süden des Landes angesiedelt: Das Zentrum der Informationstechnologiebranche ist Bengaluru, als neues Wachstumszentrum der Biotechnologie hat sich Hyderabad etabliert, besonders mit der Gründung des Biotechnologiezentrums Genome Valley. === Dienstleistungen === Ungewöhnlich hoch für ein Entwicklungsland ist der Beitrag der Dienstleistungen zur gesamtwirtschaftlichen Produktion Indiens. Rund 53,8 % des Bruttoinlandsprodukts wurden 2016 bereits durch Dienstleistungen erbracht. Insbesondere bei Dienstleistungen im Bereich der Informationstechnologie, sonstigen Ingenieurleistungen, Forschungs- und Entwicklungsarbeiten sowie Verwaltungsaufgaben hat Indien bedeutende Marktpositionen erreicht. 2005 wurde Indien zum weltweit führenden Exporteur von Software und IT-Services, 2007 kam bereits über ein Drittel aller Computer-Dienstleistungen von hier. Diese Dienstleistungen erfolgen auch zunehmend im Auftrag ausländischer Kunden und werden häufig unter dem Begriff Business Process Outsourcing (BPO) bzw. auch als Knowledge Process Outsourcing (KPO) bezeichnet. Beispiele sind Callcenter und Dienstleistungen im Gesundheitswesen. === Außenhandel === Im Verhältnis zu seiner Wirtschaftskraft sind Indiens Außenhandelsverflechtungen eher gering. Dies ist in erheblichem Maße auf die starke Binnenmarktorientierung in den Jahrzehnten nach der Unabhängigkeit zurückzuführen. Seit der wirtschaftlichen Öffnung Anfang der 1990er Jahre, die unter anderem auch die Aufhebung vieler Importbeschränkungen zur Folge hatte, verzeichnet der Außenhandel jedoch einen deutlichen Aufschwung. Zwischen 1991 und 2004 hat sich der Warenaustausch mit dem Ausland mehr als vervierfacht. Indien ist ein wichtiger Exporteur von Rohstoffen und Fertigprodukten, aber auch Arbeitskräften und Dienstleistungen. Aus Indien kommen Softwareprodukte und Softwareentwickler; es verfügt über eine große Zahl gut ausgebildeter Fachkräfte. Die wichtigsten Exportgüter sind Textilien, Bekleidung, geschliffene und verarbeitete Edelsteine, Schmuck, Chemikalien, Erdölerzeugnisse, Lederwaren und Softwareprodukte. Indien importiert vor allem Rohöl, elektronische Erzeugnisse, Edelsteine (z. B.: Diamanten), Maschinen, Edelmetalle, Chemikalien und Düngemittel. Nach ersten Angaben des Statistischen Bundesamtes wuchs der Handel zwischen Indien und Deutschland in den ersten sieben Monaten des Jahres 2006 noch einmal deutlich. Deutschland importierte Waren im Wert von 2,4 Milliarden Euro, 30,5 % mehr als im gleichen Vorjahreszeitraum, und exportierte Waren für 3,3 Milliarden Euro, 39,7 % mehr als in den ersten sieben Monaten 2005. Bis 2016 stieg das gesamte Handelsvolumen auf 17,4 Milliarden Euro an, womit Indien auf Platz 24 der wichtigsten Handelspartner Deutschlands steht.Die folgenden Listen zeigen den Umfang und die Handelspartner von Indiens Außenhandel (Quelle: Reserve Bank of India): === Fremdenverkehr === Der Tourismus hat sich zu einem der wichtigsten Devisenbringer Indiens entwickelt. Im Jahr 2014 verzeichnete Indien mit 7,6 Millionen ausländischen Besuchern einen größeren Touristenzustrom als je zuvor. Darunter sind allerdings auch viele Ausländer indischer Herkunft, die vor allem in Nordamerika und Großbritannien leben und ihren Verwandten in Indien regelmäßig längere Besuche abstatten. Nichtsdestoweniger erzielte der Fremdenverkehrssektor 2014 Einnahmen von 10,7 Milliarden US-Dollar aus der Ankunft ausländischer Gäste. In Indien gibt es im Juli 2019 insgesamt 38 UNESCO-Welterbestätten, darunter 30 Weltkulturerben, 7 Weltnaturerben und 1 gemischtes Kultur- und Naturerbe. Die mit Abstand meistbesuchte Touristenattraktion ist das weiße Grabmal Taj Mahal in der nordindischen Großstadt Agra. Weitere beliebte Ziele sind im Norden der Bundesstaat Rajasthan mit seinen Wüsten und Kamelen, die Hauptstadt Neu-Delhi, die ehemalige portugiesische Kolonie Goa an der Westküste und ganz im Süden der Bundesstaat Kerala mit seinen Backwaters unter Kokospalmen. Neben dem Kultur-, Strand- und Naturtourismus gewinnen auch Abenteuerurlaub wie Trekking oder Rafting und Gesundheitstourismus (Yoga, Ayurveda) zunehmend an Bedeutung. === Staatshaushalt === Der Staatshaushalt umfasste 2016 Ausgaben von umgerechnet 283,1 Milliarden US-Dollar, dem standen Einnahmen von umgerechnet 200,1 Milliarden US-Dollar gegenüber. Daraus ergab sich ein Haushaltsdefizit in Höhe von 3,6 % des BIP, die Staatsverschuldung betrug 1.177 Milliarden US-Dollar oder 52,3 % des BIP.2014 betrug der Anteil der Staatsausgaben (in Prozent des Bruttoinlandprodukts) folgender Bereiche: Bildung: 3,8 % (2012) Gesundheit: 3,6 % Militär: 2,5 %Am 2. August 2016 wurde im Oberhaus beschlossen, statt bisher regional geprägter Steuersätze in den 29 Bundesstaaten eine einheitliche Güter- und Dienstleistungssteuer (Goods and Services Tax, GST) einzuführen, um nahtlosen Warenverkehr zu fördern. Der Beschluss muss noch durch die Bundesstaaten ratifiziert werden und sollte Frühjahr 2017 in Kraft treten. Ende März 2017 unterzeichnete der indische Präsident Pranab Mukherjee die Gesetze, die ab 1. Juli 2017 eine indien-weit einheitliche Mehrwertsteuer wirksam werden lassen sollen. == Infrastruktur == === Energie === Indien hat weltweit den drittgrößten Energieverbrauch hinter China und den USA. Indien hatte ebenfalls die drittgrößten CO2-Emissionen weltweit, die dazu auch noch stark anwachsen.2014 verfügten 79,2 % der indischen Haushalte über einen Stromanschluss (im ländlichen Bereich 70,0 %, in den Städten 98,3 %). Häufige Stromausfälle beeinträchtigen jedoch immer wieder die Verfügbarkeit von Elektrizität. Der gegenwärtige Energiebedarf von 560 Kilowattstunden pro Einwohner und Jahr ist einer der niedrigsten der Welt. Die Hälfte der Energie liefern Kohle, ein Viertel Erdöl, -gas und Wasserkraft, ein Fünftel wird durch Verbrennung von Viehdung, Feuerholz und anderen Materialien gedeckt. Indien steht hinsichtlich der Entwicklung im Bereich Windenergie weltweit an vierter Stelle. Im Februar 2021 lag die Leistung der installierten Windkraftanlagen bei 38,789 GW (2017: 32,8 GW; 2020: 38,625 GW, das waren 5,2 % der weltweiten Windkraftleistung). Im Vorfeld der UN-Klimakonferenz in Paris 2015 erklärte die Regierung, die Windenergieleistung bis 2022 auf 60 GW zu erweitern. Auch die Solarenergie wird seit Anfang der 2010er Jahre nennenswert ausgebaut. Noch im Herbst 2011 waren gerade einmal 45 Megawatt Photovoltaik-Leistung installiert, durch den starken Zubau wurde bereits im März 2018 die 20-Gigawatt-Marke erreicht. Landesweites Ziel sind 100 GW installierter Leistung bis zum Jahr 2022. Davon waren bis Februar 2021 39,54 GW erreicht. Insgesamt hatte sich Indien das Ziel gesetzt, die erneuerbaren Energien bis 2022 auf 225 GW auszubauen. Davon wurden im Anfang 2021 mit großen Wasserkraftwerken 46,06 GW erreicht, und mit den weiteren Erneuerbaren 92,97 GW. Die Kernenergie hatte 2011 einen Anteil von etwa 3,7 % an der elektrischen Stromversorgung. Im August 2012 befanden sich in Indien sechs Kernkraftwerke mit 21 Reaktorblöcken und einer installierten Bruttogesamtleistung von 5780 MW am Netz. Sechs weitere Reaktorblöcke mit einer Bruttogesamtleistung von 4300 MW sind im Bau. Da Indien den Atomwaffensperrvertrag nicht unterzeichnet hat, sind zahlreiche Länder bei der Beteiligung an der Konstruktion sehr zurückhaltend. Bisher hat Indien zur friedlichen Nutzung der Kernenergie eine Zusammenarbeit mit Russland, der Europäischen Union und Kanada vereinbart (siehe auch die Liste der Kernreaktoren in Indien). Indien ist der drittgrößte Verbraucher von Erdöl weltweit und hatte einen Bedarf von 4,1 Millionen Barrel pro Tag (Stand 2015). Indien ist auf Ölimporte angewiesen, die aufgrund Indiens wachsender Bevölkerung und Wirtschaft in Zukunft vermutlich stark ansteigen werden. Die größten indischen Petroleumkonzerne sind Reliance Industries und Indian Oil Corporation. === Verkehr === ==== Luftverkehr ==== Auf Grund der riesigen Entfernungen innerhalb Indiens und der vielerorts noch immer unterentwickelten Landinfrastruktur kommt dem Luftverkehr eine immer bedeutendere Rolle zu. Die wichtigsten Drehkreuze für Binnenflüge sind Delhi (Indira Gandhi International Airport), Mumbai (Flughafen Mumbai), Kalkutta (Flughafen Kolkata) und Chennai (Flughafen Chennai) als Kernpunkte ihrer jeweiligen Region. Flugverbindungen zwischen den größten Städten Indiens bestehen mehrmals täglich. Eine große Schwierigkeit stellen die geringe Größe und schlechte Anbindung der zunehmend überlasteten Flughäfen dar. Früher wurde der Luftverkehr von den beiden staatlichen Fluggesellschaften Air India (internationale Flüge) und Indian Airlines (Inlandsflüge) dominiert. Mittlerweile existieren mehrere private Fluggesellschaften, die innerhalb Indiens bereits einen Marktanteil von 40 % erobert haben. ==== Schienenverkehr ==== Indiens erster Zug verkehrte am 16. April 1853 zwischen Mumbai und Thane. Bereits vier Jahrzehnte später verband die Eisenbahn alle wichtigen Landesteile miteinander. Auch heute noch spielt sie eine wichtige Rolle bei der Güter- und Personenbeförderung. Knapp 30 % des Güter- und 15 % des Personenverkehrs werden über die Schiene abgewickelt. Die indische Staatsbahn (Indian Railways) ist in 16 Regionalgesellschaften aufgeteilt und beschäftigt mit 1,6 Millionen Menschen mehr Angestellte als jedes andere Staatsunternehmen des Landes. Es gibt 7200 Bahnhöfe. Die Superlative können jedoch kaum über den teils desolaten Zustand des Bahnnetzes hinwegtäuschen. Hauptprobleme sind die ungleichmäßige und großmaschige Erschließung des Landes, die zumeist veraltete Technik, und für den heutigen Standard ein geringer Elektrifizierungsgrad: nur 19.000 der insgesamt 64.000 Kilometer Streckenlänge (Stand: 2011) sind elektrifiziert. Das Schienennetz besteht zu 54.257 Kilometer aus Breitspurgleisen mit dem Maß von 1676 Millimetern, die restlichen 10.000 Kilometer verteilen sich auf drei verschiedene Schmalspur-Weiten. Indiens Eisenbahnnetz ist damit zwar knapp hinter China das zweitlängste, aber keineswegs das dichteste Asiens. Im weltweiten Maßstab liegt Indiens Eisenbahnnetz an fünfter Stelle. Der Staat legt sein Hauptaugenmerk vor allem auf die Elektrifizierung und den doppelgleisigen Ausbau der Hauptstrecken, die Umwandlung von Meterspurstrecken in Breitspur und die Modernisierung der technischen Einrichtungen. Tatsächlich kann der Ausbau der Eisenbahn mit den steigenden Anforderungen durch Bevölkerungs- und Industriewachstum kaum Schritt halten, was zur schnellen Entwicklung des Straßenverkehrs beiträgt. Ein Versuch, den Schienenpersonenverkehr attraktiver zu machen, sind die Shatabdi Expresszüge, die die drei Metropolen Chennai, Mumbai und Neu-Delhi mit wichtigen Großstädten und Wirtschaftsregionen verbinden. ==== Seeverkehr ==== Da Indien durch seine geografische Lage von den Handelspartnern in den Nachbarregionen Ost-, Südost- und Vorderasien abgeschnitten ist, und die unmittelbaren Nachbarn beim gegenseitigen Güteraustausch aus wirtschaftlichen oder politischen Gründen nur eine untergeordnete Stellung einnehmen, wird der Außenhandel fast ausschließlich über Seehäfen abgewickelt. Rund 90 % des Warenumschlags im Überseeverkehr entfallen auf Indiens zwölf größte Häfen. Daneben existieren viele mittlere und kleinere Häfen, die aber nicht für große Schiffe und Containerumschlag geeignet sind und daher fast nur von Küstenschiffen angelaufen werden. ==== Straßenverkehr ==== Der wichtigste Verkehrsweg in Indien ist heute die Straße. Schon in den 1970er Jahren hat der Straßenverkehr bei der Güter- und Personenbeförderung die Eisenbahn überholt. Heute werden rund 70 % des Gütertransports und sogar 85 % des Personenverkehrs auf der Straße abgewickelt. Indiens Straßennetz umfasst rund 3,3 Millionen Kilometer, wovon nur etwa die Hälfte asphaltiert ist. Am wichtigsten sind die National Highways, die über 65.000 Kilometer umfassen. Sie verbinden die größten Städte des Landes untereinander. Als Schlagader gilt die Grand Trunk Road, die von Amritsar an der pakistanischen Grenze über Delhi nach Kalkutta führt. Tatsächlich ist der weitaus größte Teil der National Highways aber nur zweispurig und zudem oft in einem katastrophalen Zustand. Problematisch bleiben die mehr als 130.000 Kilometer State Highways der Bundesstaaten, die sehr unterschiedlichen Standards genügen und in ärmeren Staaten teilweise nur einspurig sind. 2013 kamen im indischen Straßenverkehr insgesamt 238.562 Menschen ums Leben, womit Indien, hinter der Volksrepublik China, das Land mit der zweithöchsten Anzahl an Verkehrstoten weltweit ist. Zum Vergleich: In Deutschland gab es im selben Jahr 3.540 Tote im Straßenverkehr. Als Gründe für die hohe Unsicherheit gelten die ungenügende Infrastruktur und rücksichtslose Fahrweise.In Indien herrscht Linksverkehr. === Telekommunikation === In Indien haben bereits mehr Menschen ein Mobiltelefon als einen Festnetzanschluss. Im Juni 2006 hat die Zahl der Handynutzer die 100-Millionen-Marke überschritten. 2011 waren bereits 900 Millionen Mobiltelefone im Umlauf. Die Abdeckung lag damit bei über 70 % und Indien war der zweitgrößte Markt für Mobiltelefone weltweit.Die Verbreitung von Telekommunikation und Computern ist in Indien auch heute noch von einem starken Stadt-Land-Gefälle geprägt. Häufig sieht man in den Straßen ein sogenanntes Public Call Office (PCO). Dies sind öffentliche Telefone, die in der Regel an einem kleinen Straßenstand betrieben werden. Dabei handelt es sich meist nicht um einen Münzfernsprecher, sondern um ein normales Telefon, für dessen Benutzung persönlich kassiert wird. Von den üblichen PCO sind nur nationale Gespräche (STD) möglich, weshalb für internationale Gespräche (ISD) besondere, internationale PCOs aufgesucht werden müssen. 2016 nutzten 462 Millionen bzw. 34,8 % der Einwohner das Internet in Indien. Damit war Indien nach China das Land mit den zweitmeisten Internetnutzern weltweit. 2021 waren es bereits 624 Millionen oder 45 % der Einwohner. == Kultur == Die indische Kultur gehört zu den ältesten und mannigfaltigsten Kulturen der Erde. Sie war prägend für ganz Süd- und Südostasien. Der Glaube spielt in Indien, dem Ursprungsland mehrerer Religionen (Hinduismus, Buddhismus, Jainismus, Sikhismus), von jeher eine herausragende Rolle und hat so auch die Kultur des Landes entscheidend geprägt. Die geradezu unüberschaubare Vielfalt an Sprachen und Völkern hat zudem regionale Besonder- und Eigenheiten hervorgebracht. Aber auch fremde Einflüsse wie etwa der Islam oder europäische Kolonialmächte hinterließen ihre Spuren. Indien verfügt über eine enorme kulturelle Vielfalt und regionale beziehungsweise lokale Identitäten, Bräuche und Kulturen können sich sehr stark unterscheiden. Verschiedene Kulturwissenschaftler haben sich mit der typisch indischen Mentalität befasst, Selbstbild und Fremdbilder verglichen und daraus sogenannte Kulturstandards des Verhaltens formuliert. Indische Kleidung und Schmuck: Bindi, Dhoti, Kurta, Lungi, Mehndi, Salwar Kamiz, Sari === Architektur === In der Architektur Indiens spiegeln sich die verschiedenen kulturellen Einflüsse, die das Land prägten, wider. Neben Palast- und Festungsbauten ragt vor allem die Sakralarchitektur heraus. In frühester Zeit wurden Holz, Lehm und gebrannte Ziegel als Baumaterialien verwendet. Die ältesten erhaltenen Überreste indischer Architektur stammen aus der Induskultur, die sich hauptsächlich auf dem Gebiet des heutigen Pakistan, aber auch in Gujarat und dem indischen Teil des Punjab ausbreitete. Die ältesten vollständig erhaltenen Bauwerke sind buddhistische Stupas. Stupas sind auf einer rechteckigen Plattform stehende kuppelförmige Bauten. Im Inneren wird in der Regel eine Reliquie aufbewahrt. Tatsächlich entwickelte sich der Stupa aus Grabhügeln, wie sie schon in vedischer Zeit üblich waren. Jeder Teil des Stupa hat eine symbolische Bedeutung, als Ganzes stellt er den Weltenberg Meru dar. Als herausragendstes Beispiel gilt der Große Stupa von Sanchi (Madhya Pradesh) aus dem 3. vorchristlichen Jahrhundert. Des Weiteren entstanden buddhistische Klosteranlagen mit Gebetshallen (Chaitya-Halle) und Wohnzellen für Mönche (Vihara), wie in den Höhlen von Ajanta und Ellora (Maharashtra, 2. Jahrhundert v. Chr. bis 7. Jahrhundert n. Chr.). Mit dem Niedergang des Buddhismus in Indien, mit Ausnahme der Himalayaregion, ab dem 10. Jahrhundert kam die Entwicklung der buddhistischen Architektur zum Ende. Sie wurde in Ost- und Südostasien sowie Sri Lanka und Tibet fortgeführt. Zeitgleich zur buddhistischen Baukunst bildete sich die jainistische Architektur heraus. Jainistische Tempel sind meist nach außen geöffnet, um Licht einzulassen. Außerdem weisen sie besonders kunstvolle, filigrane Steinmetzarbeiten auf. Zu den schönsten Beispielen gehören der Tempel von Ranakpur (15. Jahrhundert) in Rajasthan und die unzähligen Bauten der Pilgerstadt Palitana in Gujarat. In Südindien entwickelten sich eigenständige Stilelemente. Berühmt ist das eindrucksvolle Monolithstandbild eines Asketen in Shravanabelagola (Karnataka) aus dem 10. Jahrhundert. Für hinduistische Tempel wurden bis in die ersten nachchristlichen Jahrhunderte ausschließlich wenig dauerhafte Baustoffe, vor allem Holz und Lehm, verwendet. Die ersten Steintempel griffen jedoch den Stil ihrer Vorgänger auf. Grundsätzlich hat jeder Bestandteil eine symbolische Bedeutung. Alle hinduistischen Tempel versinnbildlichen den Kosmos, während der Tempelturm den mythologischen Berg Meru darstellt. Dennoch entstanden ab dem 7. Jahrhundert zwei verschiedene Hauptstilrichtungen, die sich am deutlichsten in der Form des Turmes unterscheiden. Der nordindische Nagara-Stil zeichnet sich durch den bienenkorbförmigen Turm über dem Allerheiligsten aus, der als Shikhara bezeichnet wird. In Südindien dominiert der Dravida-Stil, der durch einen Vimana genannten, treppenförmig aufsteigenden Turm gekennzeichnet ist. Später bildete sich als weiteres Merkmal das stilistisch ähnliche Gopuram (auch Gopura) über dem Eingangstor heraus. Herausragende Baudenkmäler im Nagara-Stil sind der im 10. Jahrhundert erbaute Mukteshvara-Tempel in Bhubaneswar (Odisha), der Sonnentempel von Konark (Odisha) aus dem 13. Jahrhundert und der Tempelbezirk von Khajuraho (Madhya Pradesh) aus dem 10. und 11. Jahrhundert. Die berühmtesten Dravida-Tempel stehen in den tamilischen Städten Thanjavur (Brihadishvara-Tempel, 11. Jahrhundert) und Madurai (Minakshi-Tempel, 16. bis 17. Jahrhundert). In Hampi (Karnataka) sind zahlreiche Sakral- und Profanbauten erhalten. Frühe Vorläufer des Dravida-Stils aus dem 7. und 8. Jahrhundert befinden sich in Mamallapuram (Tamil Nadu). Mit dem Vordringen des Islam nach Nordindien ab dem 12. Jahrhundert entstand die indo-islamische Architektur. Frühe Moscheen wurden häufig anstelle hinduistischer Tempel errichtet oder bezogen sogar Teile davon mit ein. Das berühmteste Bauwerk dieser Zeit ist das Minarett Qutb Minar (12. Jahrhundert) in Delhi. Im Laufe der Zeit vermischte sich die islamische Architektur mit hinduistischen Elementen zu einer eigenständigen indisch-islamischen Baukunst, die unter den Moguln zu höchster Blüte gelangte. Die prunkvolle Mogularchitektur hat einige der bedeutendsten Bauwerke Indiens hervorgebracht, etwa das Taj Mahal in Agra (Uttar Pradesh), das Shah Jahan im 17. Jahrhundert als Grabmal für seine Frau errichten ließ, oder die Paläste von Fatehpur Sikri. Auch in anderen muslimischen Staaten Indiens entstanden kunstvolle Bauten, etwa das Mausoleum Gol Gumbaz in Bijapur (Karnataka) aus dem 17. Jahrhundert. Die britische Kolonialzeit gab der indischen Architektur ab dem 19. Jahrhundert neue Anstöße. Aus der Verschmelzung europäischer, islamischer und indischer Elemente ging der indo-sarazenische Stil hervor. Beispiele dafür sind der Chhatrapati Shivaji Terminus in Mumbai, die meisten Gebäude der indischen High Courts und auch unzählige Bauten in der ehemaligen Kolonialhauptstadt Kalkutta. In Goa stehen Kirchen und Klöster aus der portugiesischen Kolonialzeit, die bedeutendsten davon in Velha Goa. Unter europäischem Einfluss standen auch neuere Palastbauten indischer Herrscher, wie der Amba Vilas in Mysuru (Karnataka). Bei der modernen Architektur Indiens ragen die Planstadt Chandigarh des Architekten Le Corbusier, der Campus des Indian Institute of Management in Ahmedabad (Gujarat) und der lotusförmige Bahai-Tempel in Neu-Delhi heraus. === Literatur === Die indische Literatur ist eine der ältesten der Welt. Allerdings ist zu beachten, dass es zu keiner Zeit nur eine „indische“ Literatur gegeben hat, sondern im Gegenteil viele Literaturen der zahllosen alten und modernen Sprachen Indiens. Die ältesten Werke wurden in Sanskrit, Pali und Tamil verfasst. Zu den herausragendsten Sanskrit-Werken gehören die Veden aus dem 13. bis 5. Jahrhundert v. Chr., die Upanishaden (etwa 700 bis 500 v. Chr.) sowie die beiden großen Epen Mahabharata und Ramayana. Sie haben mythologisch-religiöse Themen des Hinduismus zum Inhalt. Darüber hinaus entstanden viele andere bedeutende Werke auf den verschiedensten Gebieten, etwa Religion, Philosophie, Staatskunst und Wissenschaft. Mit dem Aufstieg des Buddhismus ab dem 5. vorchristlichen Jahrhundert wurde Pali zu einer bedeutenden Literatursprache, die unter anderem die Schriften des Theravada-Buddhismus hervorbrachte. In Südindien entwickelte sich als erstes Tamil zur klassischen Literatursprache. Die ältesten Werke entstanden vor rund 2000 Jahren. Aus der Blütezeit des frühen Tamil stammt die Sangam-Literatur. Sie enthält neben heroischen Werken über Könige und Kriege vor allem Liebeslyrik. Später traten Kannada, Telugu und Malayalam als bedeutende Schriftsprachen hervor. Im Mittelalter trat mit dem Islam eine neue Geistesströmung auf, die großen Einfluss auf die Literatur Indiens ausübte. Sanskrit verlor mehr und mehr an Bedeutung. Aus ihm bzw. den mittelindischen Prakritsprachen gingen neue Sprachen wie Hindustani, Bengalisch, Panjabi und Marathi hervor, die allesamt ihre eigene Literaturtradition entwickelten. Religiöse Dichtungen des Hinduismus wurden nun in den Regionalsprachen verfasst, die auch vom Volk verstanden werden konnten, und widmeten sich zunehmend der Bhakti, der hingebungsvollen Verehrung Gottes. Herausragende Vertreter dieser neuen Literatur sind unter anderem Tulsidas, Kabir und Mirabai im Hindi, Dnyaneshwar im Marathi oder Narasinh Mehta im Gujarati. Bemerkenswert ist die Verschmelzung von islamisch-persischen und indischen Elementen in der Urdu-Dichtung. Einige der schönsten Liebesgedichte wurden in dieser Sprache geschrieben, die schließlich zur Hofsprache der Moguln wurde und ab dem 17. Jahrhundert zur Blüte kam. Höchsten Ruhm erlangten die Ghaseln des Dichters Mirza Ghalib und die Werke des heute vor allem in Pakistan verehrten Muhammad Iqbal. Im 19. Jahrhundert verstärkte sich der westliche Einfluss auf die indische Literatur. Unter diesen Umständen erlebte vor allem die bengalische Literatur einen Aufschwung. Ihr bekanntester Vertreter ist sicher Rabindranath Tagore, der heute als Nationaldichter verehrt wird und bisher als einziger Inder den Nobelpreis für Literatur erhielt. Zwei seiner Gedichte wurden später die Nationalhymnen von Indien und Bangladesch. Seit dem frühen 20. Jahrhundert verwenden viele indische Schriftsteller auch das Englische für ihre Werke. Die zeitgenössische Literatur Indiens umfasst nicht nur alle großen Schriftsprachen des Landes, sondern hat auch eine breite Palette von Themen zum Gegenstand. Berühmte moderne Autoren sind Salman Rushdie, Arundhati Roy, R. K. Narayan, Mulk Raj Anand, Rohinton Mistry, Ruskin Bond, Amrita Pritam, Mahasweta Devi, Vikram Seth, Amitav Ghosh, Anita Desai und Dom Moraes. === Musik === Die klassische indische Musik spaltet sich in zwei Hauptrichtungen: die hindustanische und die karnatische Musik. Die hindustanische Musik stammt aus Nordindien und ist stark vom persischen Kulturraum beeinflusst. Die karnatische Musik ist der vorherrschende klassische Stil Südindiens. Beiden liegen aber als wesentliche Konzepte Raga und Tala zugrunde. Der Raga stellt die melodische Grundstruktur dar. Jeder Raga beruht auf einer gewissen Tonfolge, die eine Gefühlsstimmung vermittelt. Gespielt wird er zu einem bestimmten Tala, einer Art Taktsystem, welches den Rhythmus des Musikstückes angibt. Typische Instrumente umfassen Saiteninstrumente wie Sitar, Vina, Sarod, Tanpura und Sarangi sowie Blasinstrumente (Flöte, Shehnai). Als Rhythmusinstrumente dienen beispielsweise die Tabla oder – in Südindien – der Mridangam. Der Sitarspieler und Komponist Ravi Shankar gilt als berühmtester Interpret der klassischen indischen Musik. Neben der klassischen Musik verfügt Indien über reiche Volksmusiktraditionen in den verschiedenen Landesteilen. Bekannt sind die Bhangra-Musik aus dem Punjab oder die bengalischen Baul-Musiker. Heute ist die traditionelle Volksmusik eher auf ländliche Gebiete beschränkt. Größter Beliebtheit unter der gesamten Bevölkerung erfreut sich hingegen die indische Popmusik, die Merkmale sowohl westlicher als auch volkstümlicher und klassischer indischer Musik aufweist. Eingängige Ohrwürmer aus populären Kinofilmen finden besonderen Anklang. Zu den erfolgreichsten und bekanntesten Sängern indischer Filmmusik zählen Lata Mangeshkar, Kishore Kumar, Mohammed Rafi, Manna Dey und Asha Bhosle. === Tanz === Im Hinduismus haben Tänze von jeher eine wichtige Rolle gespielt, einerseits als getanzte Version des Gebetes, andererseits um mythologische Themen darzustellen. So ist es nicht verwunderlich, dass sich in Indien eine ungeheure Vielfalt von klassischen Tänzen, die meist Züge des Schauspiels tragen, herausgebildet hat. Der Tanz ist eine der am höchsten entwickelten Kunstformen Indiens. Oft haben selbst kleinste Bewegungen und Gesichtsausdrücke eine sinnbildliche Bedeutung. Klassische Tänze beruhen in der Regel auf literarischen Grundlagen. Unter den klassischen Stilen ragt der Bharatanatyam hervor, ein im Ursprung tamilischer, heute aber in ganz Indien geschätzter Einzeltanz. Ihm ähnlich ist der aus Andhra Pradesh stammende Kuchipudi-Tanz, der jedoch mehr schauspielerische Bestandteile hat. Eine der ausdrucksstärksten Formen des Tanztheaters entstand in Kerala mit dem von Männern ausgeübten Kathakali. Mohiniyattam, ein Fraueneinzeltanz, stammt ebenfalls aus Kerala. Odissi ist der klassische Tempeltanz Odishas. Auch der nordindische Kathak war ursprünglich ein Tempeltanz, der aber unter den Mogulherrschern islamischen Einflüssen ausgesetzt war und sich zum höfischen Tanz entwickelte. Der Manipuri aus dem nordostindischen Manipur weist dagegen Einflüsse aus dem birmanischen Kulturkreis und regionale Besonderheiten auf. Er wird in der Gruppe dargeboten. Darüber hinaus besteht in Indien eine Vielzahl von regionalen Volkstänzen. Diese werden zu den unterschiedlichsten Anlässen dargeboten, etwa zu Hochzeiten, regionalen Festen, bei der Ernte oder zu Beginn des Monsuns. Sehr bekannt sind etwa der Bhangra aus dem Punjab und der Garba aus Gujarat. === Malerei === Obwohl die Bildhauerei in Indien lange Zeit als die höhere Kunstform galt, gab es schon früh eine hoch entwickelte Tradition der Malerei. Abgesehen von vorgeschichtlichen Malereien und verzierten Keramiken aus der Induskultur stammen die frühesten Beispiele aus der Guptazeit. Die buddhistischen Felsmalereien in den Höhlen von Ajanta gelten als Meisterwerke dieser Epoche. Spätere Werke in Ajanta sowie hinduistische, jainistische und buddhistische Darstellungen in den Höhlen von Ellora setzten den Guptastil fort. Mit dem Auftreten des Islams ab dem 12. Jahrhundert gewann die Malerei als höfische Kunst in persischer Tradition allmählich an Bedeutung. Den Höhepunkt ihrer Entwicklung erreichte sie mit dem Mogulstil des 16. bis 18. Jahrhunderts. Vor allem die Miniaturmalerei erlebte eine Blüte. Abgebildet wurden fast ausschließlich weltliche Dinge, daher überwiegen Porträts wichtiger Persönlichkeiten des Reiches sowie Darstellungen des höfischen Lebens und bedeutender geschichtlicher Ereignisse. Auch in anderen islamisch geprägten Teilen Indiens blühte die Miniaturmalerei. So entwickelte sich an den Höfen der Dekkan-Sultanate eine eigenständige Stilrichtung. Der Mogulstil nahm auch Einfluss auf die Entstehung der rajputischen Malerei an den Höfen der vielen Fürstenstaaten Rajasthans. Diese widmete sich allerdings vorwiegend hinduistischen Themen, etwa der Illustration der großen Hindu-Epen Mahabharata und Ramayana, der Puranas sowie der Literatur mit einem historischen Verfasser. Besonders beliebt waren Darstellungen aus dem Leben Krishnas. Auf Grund der Vielzahl der rajputischen Fürstenhöfe entstanden verschiedene Malschulen. Jede Schule entwickelte zwar eigene Besonderheiten, allen sind aber die großflächige Zeichnung und die leuchtenden Farben gemein. Figuren wurden oft ohne Schatten dargestellt. Eine thematisch eigene Gattung bildeten die Ragamala genannten musikinspirierten Miniaturen. Im westlichen Himalaya blühte im 18. und 19. Jahrhundert die Pahari-Malerei. Auch sie wird von hinduistischen Motiven beherrscht. Kennzeichnend sind Landschaftsdarstellungen mit nur wenigen Figuren. Westliche Einflüsse während der britischen Kolonialzeit brachten umwälzende Veränderungen mit sich. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts befand sich die traditionelle indische Malerei im Niedergang. Stattdessen versuchten Maler wie Raja Ravi Varma europäische Stile, allen voran den Realismus, nachzuahmen. Erst nach der Jahrhundertwende fanden althergebrachte Stilelemente wieder Eingang in die Werke indischer Künstler, darunter der Bengalischen Schule um Abanindranath Tagore. Die moderne Malerei Indiens greift westliche Kunstrichtungen auf, führt aber auch indische Traditionen fort und entwickelt sie weiter. Der bekannteste moderne Künstler ist Maqbul Fida Husain. Außerdem hat es in Indien schon immer eine starke Tradition der volkstümlichen Malerei gegeben. Auf dem Land werden oft Häuser aufwändig bemalt. Besonders bekannt ist die Madhubani-Malerei aus Bihar. Zunehmend findet auch die Kunst der indischen Stammesbevölkerung Anerkennung. === Film === Der Film ist zweifellos einer der wichtigsten Bestandteile der modernen Alltagskultur Indiens. Mit mehr als 1000 Produktionen jährlich ist die indische Filmindustrie die größte der Welt. Die kulturelle, vor allem sprachliche, Vielfalt spiegelt sich daher auch in diesem Genre wider. So hat jede der großen Regionalsprachen ihre eigene Filmindustrie. Der Hindi-Film bringt die meisten Produktionen hervor. Er wird in Mumbai produziert und ist bezüglich seines Kommerzkinos unter dem Namen „Bollywood“ bekannt. Shah Rukh Khan, Amitabh Bachchan und Rani Mukerji sind beliebte und berühmte Bollywood-Schauspieler. Auch das bengalische, Kannada-, tamilische, Telugu- und Malayalam-Kino sind sehr beliebt und haben große Massenwirksamkeit. Die wesentlichsten Merkmale der Unterhaltungsfilme ähneln einander in allen regionalen Produktionen. Die oft mehr als drei Stunden langen Filme enthalten viele Musik- und Tanzszenen, ohne die kein kommerzieller Film vollständig wäre. Bisweilen wird die Filmmusik schon im Voraus veröffentlicht. Ist sie ein Erfolg, wird auch der Film mit hoher Wahrscheinlichkeit zum Kassenschlager. Von den Schauspielern wird erwartet, dass sie tanzen können, während die Gesangseinlagen von professionellen Sängern übernommen werden. Auffällig ist auch die Mischung aus komischen, romantischen, dramatischen und Actionelementen. Darüber hinaus findet auch das Autorenkino viel Anerkennung. International bekannt sind etwa die beiden bengalischen Regisseure Satyajit Ray und Mrinal Sen. === Sport === Viele der in Indien ausgeübten Sportarten stammen aus England und haben sich während der britischen Kolonialherrschaft verbreitet. Die zweitbeliebteste Sportart ist Hockey, das als Nationalsport Indiens gilt und auch für Indien die erfolgreichste olympische Sportart ist: Die indische Hockeynationalmannschaft der Herren gewann bisher acht Gold-, eine Silber- und zwei Bronzemedaillen bei Olympischen Sommerspielen. Indien gewann die Feldhockey-Weltmeisterschaft der Herren 1975 und schloss die Feldhockey-Weltmeisterschaft der Herren 1973 auf dem zweiten Platz ab. Indien war auch viermal Gastgeber dieses Turnieres: 1982, 2010, 2018 und 2023. Das aus England stammende Cricket ist die mit Abstand beliebteste Sportart. Die indische Cricket-Nationalmannschaft gewann den Cricket World Cup bisher zweimal: 1983 und 2011, außerdem beendete man den Cricket World Cup 2003 auf dem zweiten Platz. Die Cricket World Cups 1987, 1996 und 2011 wurden unter anderem in Indien ausgetragen und der Cricket World Cup 2023 wird wieder in Indien gastieren. Die Nationalmannschaft gewann auch die ICC World Twenty20 2007 in Südafrika, teilte sich die ICC Champions Trophy 2002 mit Sri Lanka und gewann die ICC Champions Trophy 2013, ebenso die Asia Cups der Jahre 1984, 1988, 1990, 1995, 2010, 2016 und 2018. Indien erreichte auch zweimal das Finale der ICC World Test Championship, unterlag jedoch 2021 gegen Neuseeland und 2023 gegen Australien. Die Indian Premier League (IPL) gilt als die beliebteste Cricketliga weltweit und zieht vor allem Zuschauer vom Indischen Subkontinent, aber auch aus Südafrika, den Britischen Inseln und der Karibik an. Aufgrund des Zeitunterschiedes zu Australien und Neuseeland und der nächtlichen Übertragung findet die IPL dort jedoch kaum Beachtung. Im November 2021 wurde Indien zum Gastgeber des T20 World Cup 2026 (mit Sri Lanka), der Champions Trophy 2029 und des Cricket World Cup 2031 (mit Bangladesch) ernannt.In einigen Landesteilen wie Goa, Kerala oder Westbengalen ist auch Fußball sehr populär. Narain Karthikeyan aus Chennai war Indiens erster Formel-1-Pilot. Von 2011 bis 2013 wurde der Große Preis von Indien auf dem Buddh International Circuit ausgetragen; Sebastian Vettel gewann alle drei Rennen. Schon im Jahr 2007 entstand mit Force India ein eigenes indisches Formel-1-Team. Einige der besten Schachspieler der Welt hat Indien hervorgebracht, darunter den ehemaligen Schachweltmeister Viswanathan Anand. Rohan Bopanna ist einer der bekanntesten und erfolgreichsten Tennisspieler Indiens. Bei Olympischen Spielen errangen indische Sportler insgesamt 28 Medaillen. Indien war mit seiner Hockey-Nationalmannschaft von 1928 bis 1964 unangefochten dominierend; bei diesen 8 Spielen gewann man 7-mal Gold und einmal Silber. Als einziger Einzelsportler errang Abhinav Bindra eine weitere Goldmedaille für das Land. Norman Pritchard, Khashaba Jadhav, Leander Paes, Karnam Malleswari, Rajyavardhan Singh Rathore, Sushil Kumar und Vijender Kumar gewannen ebenfalls Medaillen (3x Silber, 5x Bronze) für Indien.Special Olympics Indien wurde gegründet und nahm mehrmals an Special Olympics Weltspielen teil. Der Verband hat seine Teilnahme an den Special Olympics World Summer Games 2023 in Berlin angekündigt. Die Delegation wird vor den Spielen im Rahmen des Host Town Programs von Frankfurt am Main betreut.Im Jahre 2010 wurden die Commonwealth Games in Neu-Delhi ausgetragen. Die Südasienspiele 1951 und 1982 fanden ebenfalls in Indien statt. === Yoga === Die Körperstellungen (Asanas) des etwa 2000 Jahre alten Yoga sind der im Westen bekannteste Teil des Yoga (vgl. Hatha Yoga). Autogenes Training und andere verwandte Übungsarten sind daraus abgeleitet. Yoga bereitet Meditation vor und ergänzt Religionen, obwohl es selbst keine ist. Ein Beispiel: Der Sonnengruß (auch Sonnengebet), ist eine dynamische Abfolge von Bewegungen, die auch der symbolischen indischen Sonnenanbetung (Surya) entspricht. Asanas und Ayurveda sind ein Bestandteil alter indischer Praktiken, die weitaus mehr als westliche die ganzheitliche Gesundheit und spirituelle Erfahrung einschließen. === Küche === Die indische Küche spiegelt sowohl die regionale Vielfalt als auch die unterschiedlichen historischen und religiösen Prägungen des Landes wider. Von einer einheitlichen Kochkultur kann daher nicht die Rede sein. Vielmehr unterscheiden sich Zutaten und Essgewohnheiten ähnlich stark voneinander wie in Europa. Allgemein nimmt Fleisch einen geringeren Stellenwert als in den westlichen Küchen ein. Die meistverzehrte Fleischsorte ist Huhn. Am beliebtesten sind Fleischgerichte noch bei Muslimen, die aber kein Schweinefleisch zu sich nehmen, während einige Hindus ganz vegetarisch leben. Rindfleisch lehnen die meisten von ihnen – ebenso wie die Sikhs – strikt ab. Jainas ist sogar der Genuss jeglicher tierischer Nahrungsmittel strengstens untersagt. Als Bratfette sind Pflanzenöle weitaus üblicher als tierische Fette. Als Grundnahrungsmittel dienen in Nord- und Westindien neben Reis verschiedene Weißbrotsorten (Roti), deren verbreitetste Variante Chapati, ein ungesäuertes Fladenbrot aus Weizenvollkornmehl, ist. Im Gegensatz dazu wird das im Nordwesten verbreitete Naanbrot mit Hefe gebacken. In Süd- und Ostindien ist Reis das wichtigste Nahrungsmittel schlechthin. Als Beilagen sind Hülsenfrüchte wie Linsen, Kichererbsen, Straucherbsen, Urdbohnen und Mungbohnen üblich. Das in der westlichen Welt als Gewürzmischung bekannte und als Sinnbild der indischen Küche angesehene Wort „Curry“ ist in Indien ein Begriff für die Zubereitungsart einer Vielzahl vegetarischer oder fleischhaltiger Gerichte in einer oft stark gewürzten Soße. Tatsächlich sind die Masala genannten Gewürzmischungen in der indischen Küche unentbehrlich, ihre Rezeptur und Verwendung variiert jedoch je nach Region beträchtlich. Zu Currys werden häufig gewürzte süß-saure Chutneys aus Gemüse und Obst gereicht. Milchprodukte, beispielsweise Ghee (Butterschmalz) und Joghurt, sind ebenfalls gängige Zutaten vieler Speisen und Soßen. Beliebte Getränke sind Kaffee, Tee, Masala Chai (Milchtee mit Gewürzen), Fruchtsäfte und Getränke auf Milchgrundlage wie Lassi (ein Joghurtgetränk). Alkoholische Getränke werden von vielen Indern aus religiösen Gründen abgelehnt. In einigen Bundesstaaten ist Alkohol sogar generell nicht erhältlich. === Feiertage und Feste === Als Nationalfeiertage werden der Republic Day (Tag der Republik) am 26. Januar, dem Tag des Inkrafttretens der Verfassung im Jahre 1950, und der Independence Day (Tag der Unabhängigkeit) am 15. August, der an das Ende der britischen Kolonialherrschaft 1947 erinnert, begangen. Letzterer wird jedoch nicht so aufwändig zelebriert wie der Tag der Republik, an dem in Delhi eine große Parade stattfindet, die vom Staatspräsidenten abgenommen wird. Auch der Geburtstag des Führers der Unabhängigkeitsbewegung Mohandas Karamchand („Mahatma“) Gandhi am 2. Oktober (Gandhi Jayanti) sowie mehrere religiöse Feste sind landesweite gesetzliche Feiertage. Religiöse Festtage nehmen in Indien einen außerordentlich hohen Stellenwert ein. Zu den wichtigsten hinduistischen Feierlichkeiten gehören das Lichterfest Diwali, Dashahara (der Tag des Sieges von Rama über den Dämonen Ravana), die Frühlingsfeste Holi und Vasant Panchami, Ganesh Chaturthi zu Ehren Ganeshas, Raksha Bandhan (Fest der „Schützenden Verbindung“ zwischen Geschwistern) sowie viele weitere Pujas zu Ehren einzelner Gottheiten. Muslime feiern etwa das Opferfest (Id al-Adha) zum Höhepunkt der Pilgerfahrt (Haddsch) nach Mekka und Id al-Fitr zum Ende des Fastenmonats Ramadan. Der wichtigste Feiertag der Sikhs, Buddhisten und Jainas ist der Geburtstag ihres jeweiligen Glaubensstifters (Nanak Dev bzw. Buddha bzw. Mahavira). Christen feiern vor allem Ostern und Weihnachten. Daneben existiert eine unüberschaubare Vielzahl regionaler Feste. In der Erntezeit feiert man in ländlichen Gegenden Erntedankfeste wie das tamilische Pongal, Lohri im Punjab oder Onam in Kerala (rund im Kochi), während die Menschen in anderen Landesteilen am selben Tag Makar Sankranti feiern. Das Onam-Festival war anfangs religiöser Natur, heutzutage steht die Kultur und Tradition Keralas im Mittelpunkt. Ende Februar bis Anfang März findet ein siebentägiges Tanzfestival vor der Kulisse der Khajuraho Tempel, die zum Weltkulturerbe der UNESCO gehören, statt. == Medien == Gemäß der Verfassung von 1950 gelten in Indien Meinungs- und Pressefreiheit, auch wenn diese in Krisengebieten wie Kaschmir und Teilen Nordostindiens eingeschränkt sind. Auf Grund seiner pluralistischen Gesellschaft besitzt Indien jedoch eine überaus breit gefächerte Medienlandschaft. Bei der Rangliste der Pressefreiheit 2017, welche von Reporter ohne Grenzen herausgegeben wird, belegte Indien Platz 130 von 180 Ländern und war damit besser als die Nachbarn Pakistan (139) und Bangladesch (146). Im Jahr 2017 sind vier Journalisten in Indien getötet worden. Laut dem Bericht von Reporter ohne Grenzen steht der Tod der Opfer in direktem Zusammenhang mit deren journalistischer Tätigkeit. === Printmedien === Indiens erste Zeitung, die englischsprachige Bengal Gazette, erschien 1780 in Kalkutta. Heute weist Indien eine äußerst vielfältige Presselandschaft auf. Die indische Presse gilt als kritisch, auch die thematische Bandbreite ist außerordentlich groß. Im Land erscheinen etwa 55.000 Zeitungen und Zeitschriften – mehr als in jedem anderen Land der Welt – mit einer Gesamtauflage von über 140 Millionen. Darunter sind mehr als 5000 Tageszeitungen. Die meisten Printmedien werden auf Hindi verlegt, das 45 % des gesamten Pressemarktes ausmacht. Englischsprachige Zeitungen haben einen Anteil von 17 %. Der Rest verteilt sich auf über 100 Sprachen und Dialekte. Die wichtigsten Nachrichten- und Presseagenturen sind Press Trust of India (PTI) und United News of India (UNI). Die folgende Liste zeigt die 10 meistgelesenen Tageszeitungen in Indien 2013, laut Indian Readership Survey (IRS) – die größte englischsprachige Zeitung ist The Times of India mit über 7 Millionen Lesern (vergleiche die Liste indischer Zeitungen): === Hörfunk === Bis in die frühen 1990er Jahre war der Hörfunk das dominierende elektronische Medium. Mit knapp 200 Millionen Zuhörern erreicht er jedoch inzwischen nur noch halb so viele Menschen wie das Fernsehen. Auch die Monopolstellung des staatlichen All India Radio, das in 23 Sprachen und 179 Dialekten sendet und im ganzen Land empfangen und darüber hinaus über Kurzwellenrundfunk, Satellit und per Livestream über das Internet gehört werden kann, ist durch die steigende Zahl privater UKW-Sender längst gebrochen. In den großen Städten haben private Hörfunksender das Staatsradio bereits überholt. === Fernsehen === Das Fernsehen wurde erstmals am 15. September 1959 im Raum Delhi eingeführt. Ein regelmäßiges Programm besteht jedoch erst seit 1965. Aus Anlass der Asienspiele im Jahre 1982 in Neu-Delhi wurde das Farbfernsehen eingeführt. Im selben Jahr begann die Ausstrahlung von Fernsehprogrammen über Satellit. Zunächst blieb das Fernsehen einer kleinen, wohlhabenden Minderheit vorbehalten, erlebte aber in den 1980er Jahren einen rasanten Zuschauerzuwachs und ist heute das mit Abstand beliebteste Massenmedium in Indien. Dem Staatsfernsehen Doordarshan, das bis 1991 eine Monopolstellung innehatte, stehen mittlerweile zahlreiche private Satelliten- und Kabelsender gegenüber. Letztere finden ihr Publikum vor allem unter der jüngeren Stadtbevölkerung. Inzwischen verfügt etwa die Hälfte der rund 100 Millionen Fernsehhaushalte über einen Kabelanschluss. Die zuschauerstärksten Privatsender sind STAR Plus, Sony Entertainment Television, Sab TV, India TV, Colors TV und Zee TV. === Internet === Das Internet ist in der indischen Mittel- und Oberschicht stark verbreitet. 2016 hatten 34 % der Bevölkerung einen Zugang zum Internet. Die Zahl der Benutzer steigt allerdings rapide an, nicht zuletzt dank der Internetcafés, die sich zusehends verbreiten. Die größeren der indischen Tageszeitungen sind mit einer Online-Version im Internet präsent. Die Zahl der Social-Media-Nutzer liegt bei 153 Millionen und ist gemessen an der Bevölkerungsgröße noch recht gering, verzeichnet dafür mit über 45 % im Vergleich zum Vorjahr eine sehr hohe Wachstumsrate, und die Zahl der Nutzer steigt kontinuierlich. === Verlagswesen und Buchmarkt === In 12.000 Verlagen erscheinen jährlich rund 90.000 Titel in über 18 Sprachen. Indien ist der drittgrößte Markt für englischsprachige Publikationen, der stark vom Wegfall eines investitionsbeschränkenden Gesetzes profitiert. Zunehmend wird Verlagsarbeit vor allem aus den Abteilungen Herstellung, Englisch und Online aus Industrieländern nach Indien verlagert (gemäß ValueNotes mit 122 Milliarden INR Umsatz) besonders im Bereich wissenschaftlicher, technischer und medizinischer Fachliteratur. Zwei der weltgrößten Buchmessen finden jährlich in Indien statt, die Kolkata Book Fair in Kalkutta und die New Delhi World Book Fair in Neu-Delhi. == Siehe auch == == Literatur == === Überblicksdarstellungen === Sven Hansen (Hrsg.): Indien. Die barfüßige Großmacht. (= Le Monde diplomatique. Heft 7). TAZ, Berlin 2010, ISBN 978-3-937683-27-0. Michael von Hauff (Hrsg.): Indien. Herausforderungen und Perspektiven. Metropolis-Verlag, Marburg 2008, ISBN 978-3-89518-720-9. Klaus Voll, Doreen Beierlein: Rising India – Europe’s partner? Weißensee Verlag, Berlin 2006, ISBN 3-89998-098-0. === Geschichte === Arthur Llewellyn Basham: The wonder that was India. Band 1: A survey of the history and culture of the Indian sub-continent before the coming of the Muslims. Band 2: From the coming of the Muslims to the British conquest: 1200–1700. Sidgwick & Jackson, London 1954/1987, ISBN 0-283-35457-7. Helmut Gregor: Das Indienbild des Abendlandes (bis zum Ende des 13. Jahrhunderts). Wien 1964. Andreas Hilger, Corinna R. Unger (Hrsg.): India in the world since 1947. National and transnational perspectives. Lang, Frankfurt am Main u. a. 2012, ISBN 978-3-631-61178-4. Hermann Kulke: Indische Geschichte bis 1750. (= Oldenbourg Grundriss der Geschichte. 34). München 2005, ISBN 3-486-55741-6. Hermann Kulke, Dietmar Rothermund: Geschichte Indiens. Von der Induskultur bis heute. 3. aktualisierte Auflage der Sonderausgabe. Verlag C.H. Beck, München 2018, ISBN 978-3406720635 Michael Mann: Geschichte Indiens. Vom 18. bis zum 21. Jahrhundert. (= UTB. 2694). Verlag Ferdinand Schöningh, Paderborn u. a. 2005, ISBN 3-8252-2694-8. Bernd Rosenheim: Die Welt des Buddha. Frühe Stätten buddhistischer Kunst in Indien. Verlag Philipp von Zabern, Mainz 2006, ISBN 3-8053-3665-9. Shashi Tharoor: Eine kleine Geschichte Indiens. Suhrkamp, Frankfurt am Main 2005, ISBN 3-89331-635-3. Michael Witzel: Das alte Indien. (= C.H. Beck Wissen). 2., durchges. Auflage. C.H. Beck Verlag, München 2010, ISBN 978-3-406-59717-6. === Politik === Olaf Ihlau: Weltmacht Indien. Die neue Herausforderung des Westens. Siedler Verlag, München 2006, ISBN 3-88680-851-3. Harald Müller: Weltmacht Indien – Wie uns der rasante Aufstieg herausfordert. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2006, ISBN 3-596-17371-X. Clemens Six: Hindi – Hindu – Hindustan. Politik und Religion im modernen Indien. 2. Auflage. Wien 2007, ISBN 978-3-85476-212-6. Christian Wagner: Das politische System Indiens. Eine Einführung. Wiesbaden 2006, ISBN 3-531-90248-2. Klaus Voll: Globale asiatische Großmacht? Indische Außen- und Sicherheitspolitik zwischen 2000 und 2005. Weißensee Verlag, Berlin 2005, ISBN 3-89998-075-1. Anant Kumar: Indien Eine Weltmacht mit inneren Schwächen, 13 kulturpolitische Essays. Verlag Der Neue Morgen, Rudolstadt 2012, ISBN 978-3-95480-021-6. === Religion === Umfassender Überblick mit Literaturangaben: Paul Gäbler: Indische Religionen. In: Evangelisches Kirchenlexikon – Kirchlich-theologisches Handwörterbuch. Band: H–O. 2., unveränderte Auflage. Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 1962, Spalte 298–302.Für das koloniale Indien: Swami Vivekananda: The Complete Works of Swami Vivekananda. Reprint. Mayavati Memorial Edition, Advatia Ashrama, Calcutta 1991/1992. Christian W. Troll: Sayyid Ahmand Khan. A Reinterpretation of Muslim Theology. Vikas Publ. House, New Delhi 1978. === Gesellschaft === Maren Bellwinkel-Schempp: Dalits. Religion und Menschenrechte der ehemaligen Unberührbaren in Indien. (= Studienheft Weltmission heute. Heft 67). Hamburg 2009. Robert Deliège: Les castes en Inde aujourd’hui. 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Piper, München/ Zürich 2006, ISBN 3-492-27552-4. Klaus-Dieter Hupke, Ulrike Ohl: Auf Tour: Indien. Spektrum Akademischer Verlag, Heidelberg 2011, ISBN 978-3-8274-2609-3. Martin Kolozs: Nie wieder Indien. Der andere Reisebericht. Edition Baes, 2013, ISBN 978-3-9503559-3-2. == Weblinks == === Wikimedia === === Regierung und Regierungsorganisationen === Website der indischen Regierung (englisch) Website der Indischen Botschaft in Berlin (englisch) Verzeichnis indischer Regierungsseiten (englisch) Indien-Berichte internationaler Organisationen (englisch) CIA World Factbook: Indien (englisch) === Landesinformationen === Länderinformation des Auswärtigen Amtes Datenbank inhaltlich erschlossener Literatur zur gesellschaftlichen, politischen und wirtschaftlichen Situation in Indien Länderprofil des Statistischen Bundesamtes Länderprofil Indien Korruption Regierungsunabhängige Informationen des Südasien-Informationsnetzes Portal der GIZ zu Indien Länderprofil Atomwaffen, Länderbericht Amnesty international zur Menschenrechtslage (englisch) Nachrichtenportal (englisch) Beziehungen zwischen Indien und Deutschland auf www.auswaertiges-amt.de === Dossiers === Online-Dossier der Bundeszentrale für politische Bildung, 2014 Indien. Informationen zur politischen Bildung. Heft 296, 2007 Neue Macht Indien. Textsammlung, in: Das Parlament Nr. 32/33, 2006, 7./14. August 2006 Online-Dossier des GIGA – German Institute for Global and Area Studies === Kultur === Herrscherlisten Ernst Kausen: Die Sprachen des indischen Subkontinents (Microsoft-Word-Dokument, 120 kB; DOC-Datei) Kultur, Architektur, Kunst, Astronomie, Kalender == Einzelnachweise ==
https://de.wikipedia.org/wiki/Indien
Kanada
= Kanada = Kanada (englisch und französisch Canada) ist ein Staat in Nordamerika, der zwischen dem Atlantik im Osten und dem Pazifik im Westen liegt und nordwärts bis zum Arktischen Ozean reicht. Bundeshauptstadt ist Ottawa, die bevölkerungsreichste Stadt ist Toronto. Die einzigen Staatsgrenzen sind jene zu den Vereinigten Staaten im Süden und im Nordwesten sowie die 2022 geschaffene Grenze über die Hans-Insel zu Grönland. Kanada ist gemessen an der Fläche nach Russland der zweitgrößte Staat der Erde, hat etwa 37 Millionen Einwohner und eine Bevölkerungsdichte von nur vier Personen pro Quadratkilometer.Die Besiedlung durch die First Nations begann spätestens vor 12.000 Jahren, die Inuit folgten vor rund 5000 Jahren. Spätestens im 11. Jahrhundert und erneut ab dem späten 15. Jahrhundert erreichten Europäer das heutige Gebiet des Staates und begannen um 1600 mit der Kolonisierung. Dabei setzten sich zunächst Franzosen und Briten fest. Damals breitete sich die Bezeichnung „Canada“ aus, ursprünglich der Name eines Irokesendorfes. Frankreich trat 1763 seine Kolonie Neufrankreich an Großbritannien ab (siehe unten). 1867 gründeten drei britische Kolonien die Kanadische Konföderation. Mit dem Statut von Westminster erhielt der Staat 1931 gesetzgeberische Unabhängigkeit. Weitere verfassungsrechtliche Bindungen zum Vereinigten Königreich wurden 1982 aufgehoben. Kanada ist ein Königreich innerhalb des Commonwealth of Nations. Nominelles Staatsoberhaupt ist somit König Charles III., der durch den Generalgouverneur von Kanada vertreten wird. Kanada ist ein auf dem britischen Westminster-System basierender parlamentarisch-demokratischer Bundesstaat und eine parlamentarische Monarchie. Amtssprachen sind Englisch und Französisch. Die Unabhängigkeitsbestrebungen Québecs, die Stellung der frankophonen Kanadier und die Rechte der indigenen Völker (neben den First Nations und Inuit die Métis) sind wichtige Konfliktlinien in Staat und Gesellschaft. Die Themen Klimawandel und Umweltschutz, Einwanderungspolitik und Rohstoffabhängigkeit sowie das Verhältnis zu den Vereinigten Staaten – von dem kulturell und historisch bedingt ein ambivalentes Bild besteht – kennzeichnen die öffentlichen Debatten. == Geographie == === Ausdehnung und Grenzen === Kanada ist mit einer Fläche von 9.984.670 km² nach Russland der zweitgrößte Staat der Erde und fast so groß wie Europa. Der Staat nimmt rund 41 % Nordamerikas ein. Im Süden und Nordwesten hat Kanada die längste Landgrenze der Welt zu den Vereinigten Staaten. Ein weiterer Nachbar ist das dänische Autonomiegebiet Grönland, das durch die rund 30 Kilometer breite Meerenge Kennedy-Kanal von der nördlichsten kanadischen Insel, Ellesmere Island, getrennt wird. Die winzige Hans-Insel war bis 2022 zwischen beiden Staaten umstritten, ehe sie durch das Ziehen einer etwa 1,2 Kilometer langen Staatsgrenze quer über das Eiland aufgeteilt wurde. Schließlich existiert mit der Inselgruppe Saint-Pierre und Miquelon südlich von Neufundland ein Überbleibsel der französischen Kolonie Neufrankreich. Die Nord-Süd-Ausdehnung erstreckt sich von 83,11° nördlicher Breite am Kap Columbia auf Ellesmere Island in Nunavut bis zur Insel Middle Island im Eriesee bei 41,68° (etwa die Breite von Rom) und beträgt somit 41,43° oder 4634 Kilometer. Die größte Ost-West-Entfernung beträgt 5514 Kilometer von Cape Spear auf Neufundland (52,62° W) bis zur Grenze des Yukon-Territoriums mit Alaska (141° W). Die Gesamtlänge der Grenze zwischen Kanada und den USA beträgt 8890 Kilometer. Kanada hat mit 243.042 Kilometern zugleich die längste Küstenlinie der Welt. Die größte Insel ist die Baffininsel im Nordosten, welche mit einer Fläche von 507.451 km² zugleich die fünftgrößte Insel der Welt ist. Die nördlichste Halbinsel ist Boothia. 9.093.507 km² Kanadas sind Land- und 891.163 km² Wasserfläche.Kanada hat Anteil an sechs Zeitzonen, siehe hierzu Zeitzonen in Kanada. === Geologie und Landschaftsgliederung === Das geologische Grundgebirge der östlichen Provinzen sind alte, abgetragene Berge neben noch älteren Abschnitten des Kanadischen Schildes, die bis zu 4,03 Milliarden Jahre alt sind. Dieser umfasst eine ausgedehnte Region mit einigen der ältesten Gesteine. Um die Hudson Bay gelegen, nimmt er fast die Hälfte des Staatsgebiets ein. Abgesehen von einigen niedrigen Bergen im östlichen Québec und in Labrador ist die Landschaft flach und hügelig. Das Gewässernetz ist dicht, die Entwässerung der Region erfolgt über eine Vielzahl von Flüssen. Die südliche Hälfte des Schildes ist mit borealen Wäldern bedeckt, während die nördliche Hälfte einschließlich der Inseln des arktischen Archipels jenseits der arktischen Baumgrenze liegt und mit Felsen, Eis und Tundrenvegetation bedeckt ist. Die östlichen Inseln des Archipels sind gebirgig, die westlichen dagegen flach. Westlich und südlich des Kanadischen Schildes liegen die Ebenen um den Sankt-Lorenz-Strom und die Großen Seen. Die natürliche Vegetation des südlichen Teils der dort liegenden Prärieprovinzen Saskatchewan, Manitoba und Alberta ist das Präriegras. Der nördliche Teil dagegen ist bis zur Tundra-Zone bewaldet. Die teils vulkanisch aktiven Gebirgszüge der Coast Range und der Rocky Mountains, wie der Mount Edziza oder die Northern Cordilleran Volcanic Province im Norden British Columbias, dominieren das westliche Kanada. Sie verlaufen in Nord-Süd-Richtung durch Yukon und British-Columbia, die dortige Küstenlinie wird tief von Fjorden durchschnitten. Vor der Küste liegt Vancouver Island, ein Ausläufer des Küstengebirges. Die höchsten kanadischen Gebirgsregionen liegen im Westen mit den Rocky Mountains – höchster Berg ist der 5959 m hohe Mount Logan im Territorium Yukon – und der Kette der Küstengebirge am Pazifischen Ozean (Coast Mountains und Kaskadenkette). Ein weiteres wichtiges System verläuft entlang der Nordostküste von Ellesmere Island (Arktische Kordillere) bis zu den Torngatbergen in Québec sowie in Neufundland und Labrador. Im Osten Kanadas liegen die nördlichen Appalachen und die Laurentinischen Berge. Der wichtigste Fluss Kanadas ist der 3058 Kilometer lange Sankt-Lorenz-Strom. Er dient als Wasserstraße zwischen den Großen Seen und dem Atlantik. Kanadas zweitlängster Fluss ist der Mackenzie River (1903 Kilometer) in den Nordwest-Territorien. Weitere bedeutende Flüsse sind der Yukon River und der Columbia River, die teilweise auch in den Vereinigten Staaten verlaufen, der Fraser, der Nelson, der Churchill und der Manicouagan sowie Nebenflüsse wie der Saskatchewan River, der Peace River, der Ottawa und der Athabasca. Kanada ist zudem ein überaus seenreiches Land. 7,6 % seiner Landmasse sind mit insgesamt rund zwei Millionen Seen bedeckt. 563 Seen sind größer als 100 km². Zu den größten Seen gehören der Große Bärensee (31.153 km²), der Große Sklavensee (27.048 km²), der Winnipegsee (24.420 km²), der Athabascasee (7.850 km²) sowie die Großen Seen (zusammen rund 245.000 km²), durch die mit Ausnahme des Michigansees die Grenze zum südlichen Nachbarland verläuft. Der größte gänzlich in Kanada gelegene See ist der Große Bärensee in den Nordwest-Territorien. === Klima === Kanada umfasst unterschiedliche Klimazonen (vom Polarklima bis zum gemäßigten Klima). Überwiegend bestimmt das boreale Klima mit langen, kalten Wintern und kurzen, heißen Sommern den größeren Teil Kanadas. Im Winter 2004/2005 wurden Temperaturen von −58 °C in Burwash Landing des Territoriums Yukon gemessen; die tiefste je gemessene Temperatur wurde mit −63 °C in Snag im selben Territorium am 3. Februar 1947 aufgezeichnet. Die höchste Temperatur wurde in Lytton (British Columbia) mit 49,6 °C am 28. Juni 2021 ermittelt.An der Westküste findet man maritimes Klima mit hohen Niederschlägen, da sich die feuchte, vom Ozean kommende Luft am Westrand des Küstengebirges abregnet. Den Niederschlagsrekord hält Ucluelet in British Columbia mit 489,2 mm an einem einzigen Tag (6. Oktober 1967). Die Jahreszeiten sind in den Provinzen Québec und Ontario am deutlichsten ausgeprägt, mit kalten Wintern, milden Frühjahren und Herbstmonaten und von Juli bis September oft sehr schwül-heißen Sommern mit Durchschnittstemperaturen um 25 °C. Am häufigsten leiden die Prärieprovinzen Alberta, Saskatchewan und Manitoba unter Trockenheit. Eines der trockensten Jahre war das Jahr 1936, das trockenste jedoch 1961. Regina erhielt 45 % weniger Regen als im Durchschnitt. 1988 war so trocken, dass jeder zehnte Farmer aufgeben musste. Das wärmste Jahr in Kanada war das Jahr 1998. === Flora und Fauna === Große Naturgebiete, vor allem in den Tundra- und Bergregionen, bedecken 70 % Kanadas. Das entspricht 20 % der weltweit verbleibenden Wildnisgebiete (ohne Antarktis). Noch ist mehr als die Hälfte der ausgedehnten Wälder Urwald. Die nördliche Waldgrenze verläuft von der Ostküste Labradors über die Ungava-Halbinsel Richtung Süden entlang des Ostufers der Hudson Bay und setzt sich anschließend schlangenlinienförmig Richtung Nordwesten zum Unterlauf des Mackenzie und weiter nach Alaska fort. Nördlich der Baumgrenze gibt es kaum oder gar keinen fruchtbaren Boden (Tundra). Die Vegetation der südlichsten Tundragebiete besteht aus niedrigem Buschwerk, Gräsern und Riedgras. Die nördlichsten Gebiete sind zu weniger als einem Zehntel mit den für die Polarregion typischen Moosen bedeckt. Südlich der Baumgrenze, von Alaska bis Neufundland, schließt sich eines der größten Nadelwaldgebiete der Welt an. Im Osten, von den Großen Seen bis zu den Küsten, wachsen hauptsächlich Mischwälder mit Zuckerahorn, Buchen, Birken, Kiefern und Hemlocktannen. Die Tiefebenen im äußersten Süden sind mit reinen Laubwäldern bedeckt. Hier gedeihen neben Hickorybäumen, Eichen und Ulmen, Kastanien, Ahorn und Walnussbäume. In den westlichen Berggebieten sind die Fichte, Douglasie und Lodgepole-Kiefer am weitesten verbreitet, in Hochebenen wachsen außerdem Zitterpappel und Gelb-Kiefer. Die Vegetation der niederschlagsreichen Pazifikküste wird von Wäldern aus dichten, hohen Douglasfichten, westlichen Rot-Zedern und Hemlocktannen beherrscht. Das Prärieland ist zu trocken, um mehr als vereinzelte Baumgruppen hervorzubringen. Vom ursprünglich weiten, hügeligen Grasland ist heute nur noch wenig übrig; es ist dem heute berühmten Weizengürtel Kanadas gewichen. Die arktischen Gewässer bieten Nahrung für Wale, Walrosse, Seehunde und für Eisbären. In den Tundren leben Moschusochsen, Karibus, Polarwölfe, Polarfüchse, Polarhasen und Lemminge, vereinzelt auch Vielfraße; viele Zugvögel verbringen hier den Sommer, darunter Alke, Enten, Möwen, Seeschwalben und andere Seevögel. Die Wälder im Norden sind ein idealer Lebensraum für Karibus und Elche, Luchse, Schwarz- und Braunbären. Doch gehen die Bestände der riesigen Karibuherden aufgrund von Industrialisierung und winterlichen Freizeitaktivitäten, vor allem aufgrund der Störungen durch motorisierte Schlitten, zurück. Die Bedeutung der Jagd ist hierbei rückläufig.Fünf Milliarden Vögel kommen jeden Sommer in die borealen Wälder. Daher hat Kanada 1917 zusammen mit den USA angefangen, Schutzgebiete für Zugvögel einzurichten. Heute bestehen 92 solcher Gebiete mit einer Gesamtfläche von etwa 110.000 km². Zur artenreichen Vogelwelt zählen der Kardinal, der Waldsänger, der Weißkopfseeadler und die Spottdrossel sowie der seltene Marmelalk, der nur in alten Wäldern überleben kann. Biber, Marder, Bisamratten, Nerze sind auch heute noch Grundlage des inzwischen unbedeutenden Pelzhandels. Weiter im Süden findet man Wapitis, während es in dichter besiedelten Landstrichen vor allem kleinere Säugetiere, wie Grau- und Backenhörnchen, Wiesel und Otter gibt. In den Präriegebieten leben kleinere Tiere, wie Präriehasen, Taschenratten und das Spitzschwanzhuhn sowie Bisons und Gabelböcke. In den westlichen Bergen gibt es Dickhornschafe und Schneeziegen. Die einheimische Tier- und Pflanzenwelt steht in 44 Nationalparks, weit über tausend Provinzparks und Naturreservaten unter Schutz. Größtes Schutzgebiet ist der 44.802 km² große Wood-Buffalo-Nationalpark im nördlichen Teil von Alberta und den Nordwest-Territorien, in dem zahlreiche vom Aussterben bedrohte Arten vertreten sind. Bemerkenswert ist der dortige, mit etwa 6000 Tieren größte Bestand frei lebender Bisons der Welt. In vielen Seengebieten braucht der Mensch besonders im Sommer strenge Vorkehrungen gegen Insektenbisse, da Stech- und Kriebelmücken in sehr hoher Dichte leben. === Ballungsräume === → Siehe auch: Liste der Städte in Kanada Von den über 38 Millionen Einwohnern lebt mehr als die Hälfte der Bevölkerung in den 30 größten Städten. Geht man von den Ballungsräumen (census metropolitan areas) aus, steigt diese Zahl auf über 70 %. Toronto ist das bedeutendste Produktionszentrum und mit 5.928.040 Einwohnern (Stand: 2016) der größte Ballungsraum. Die Handelsmetropole Montreal zählte 4.098.927, Vancouver 2.463.431 Einwohner. Weitere Ballungsräume sind die Bundeshauptstadt Ottawa-Gatineau (1.323.783), Calgary (1.392.609), Edmonton (1.321.426), Québec (800.296), Winnipeg (778.489) und Hamilton (747.545). == Herkunft des Namens == Der Name Kanada ist mit hoher Wahrscheinlichkeit vom Wort kanata abgeleitet, das in der Sprache der Sankt-Lorenz-Irokesen „Dorf“ oder besser „Siedlung“ bedeutete. 1535 gaben Bewohner der Region um die heutige Stadt Québec dem französischen Entdecker Jacques Cartier eine Wegbeschreibung zum Dorf Stadacona. Cartier verwendete daraufhin die Bezeichnung Canada nicht nur für dieses Dorf, sondern für das ganze Gebiet, das von dem in Stadacona lebenden Häuptling Donnacona beherrscht wurde. Ab 1545 war auf Karten und in Büchern die Bezeichnung Canada für diese Region üblich. Cartier nannte außerdem den Sankt-Lorenz-Strom Rivière de Canada, ein Name, der bis zum frühen 17. Jahrhundert in Gebrauch war. Forscher und Pelzhändler zogen in Richtung Westen und Süden, wodurch das als „Kanada“ bezeichnete Gebiet wuchs. Im frühen 18. Jahrhundert wurde der Name für den gesamten heutigen mittleren Westen bis Louisiana benutzt. Die seit 1763 britische Kolonie Québec wurde 1791 in Oberkanada und Niederkanada aufgeteilt, was etwa den späteren Provinzen Ontario und Québec entsprach. Sie wurden 1841 wieder zur neuen Provinz Kanada vereinigt. 1867 erhielten die neu gegründeten Bundesstaaten der Kolonien in Britisch-Nordamerika den Namen „Kanada“ und den formellen Titel Dominion. Bis in die 1950er-Jahre war die amtliche Bezeichnung Dominion of Canada üblich.Mit der zunehmenden politischen Autonomie gegenüber Großbritannien verwendete die Regierung mehr und mehr die Bezeichnung Canada in rechtlich bindenden Dokumenten und Verträgen. Das Kanada-Gesetz 1982 bezieht sich nur noch auf Canada, die inzwischen einzige amtliche (zweisprachige) Bezeichnung. == Geschichte == === Ur- und Frühgeschichte === Indianer (in Kanada First Nations genannt) besiedelten Nordamerika vor mindestens 12.000 Jahren, was den Anfang der paläoindianischen Periode markiert. Vor rund 5000 Jahren folgten die Inuit. In den Bluefish-Höhlen im nördlichen Yukon fand man die ältesten menschlichen Spuren in Kanada; in der Charlie-Lake-Höhle fanden sich Werkzeuge aus der Zeit ab etwa 10.500 v. Chr. Aus der Zeit ab etwa 9000 v. Chr. stammen Funde bei Banff und in Saskatchewan, aber auch bereits in Québec.Ab etwa 8000 v. Chr. folgte die archaische Phase. Gruppen aus dem Westen erreichten um 7500 v. Chr. das südliche Ontario. Dort fanden sich Speerschleudern. Siedlungsschwerpunkte waren im Osten der untere Sankt-Lorenz-Strom und die Großen Seen sowie die Küste Labradors (L’Anse Amour Site) an der im 6. Jahrtausend die ersten größeren Grabstätten entstanden, später Burial Mounds. Auf den Great Plains entstanden neue Waffentechnologien und weitläufiger Handel, etwa mit Chalzedon aus Oregon und Obsidian aus Wyoming. In einigen Gebieten wurden noch um 8000 v. Chr. Pferde gejagt; sie verschwanden ebenso wie die Megafauna. Erst später teilte sich der riesige Kulturraum erkennbar in zwei Großräume auf, die Frühe Shield- und die Frühe Plains-Kultur, wobei sich Kupferbearbeitung bereits um 4800 v. Chr. zeigen lässt. Im Westen reichen die Spuren bis vor 8000 v. Chr. zurück, vielfach ohne erkennbaren kulturellen Bruch. So besteht die Kultur der Haida auf Haida Gwaii seit über 9500 Jahren. Der Handel mit Obsidian vom Mount Edziza reicht über 10.000 Jahre zurück.Vor 2500 v. Chr. bestanden im Westen Siedlungen, dazu Anzeichen sozialer Differenzierung. Hausverbände bestanden, die sich saisonal zur Jagd in großen Gruppen zusammenfanden. Auch in den Plains lassen sich Dörfer nachweisen. Die Cree, Ojibwa, Algonkin, Innu und Beothuk, die in den frühen europäischen Quellen fassbar sind, gehen wohl auf Gruppen der Shield-Kultur zurück. Die Plainskulturen waren durch Bisons gekennzeichnet, Hunde wurden als Trage- und Zugtiere eingesetzt, das Tipi setzte sich durch sowie die Herstellung von Pemmikan. Als wichtigste kulturelle Veränderung der Plateaukultur im westlichen Binnenland gilt der Übergang von der Nichtsesshaftigkeit zur Halbsesshaftigkeit mit Winterdörfern und sommerlichen Wanderzyklen um 2000 v. Chr. Eine ähnliche Entwicklung vollzog sich früher an der Küste, deren Kulturen sich mit den Küsten-Salish in Beziehung bringen lassen. Gegen Ende der Epoche lassen sich erstmals Plankenhäuser nachweisen. Einige Salish waren bereits vor 1600 v. Chr. Bauern – wie man von den Katzie weiß. Die Nuu-chah-nulth auf Vancouver Island entwickelten hochseetüchtige Kanus, mit denen sie (als einzige) auf Walfang gingen. Die Herstellung von Tongefäßen erreichte das Gebiet des heutigen Kanada wohl von Südamerika, Pfeil und Bogen kamen um 3000 v. Chr. aus Asien und wurden wahrscheinlich erstmals von Paläo-Eskimos eingesetzt. Er erreichte die Ostküste, kam aber erst rund drei Jahrtausende später in den Westen.Mit den Keramikgefäßen ab etwa 500 v. Chr. endete an der Ostküste die archaische Phase, die von den Woodland-Perioden abgelöst wurde. Manche Dörfer, meist aus Langhäusern bestehend, waren wohl schon ganzjährig bewohnt. Auf die Frühe Woodland-Periode an den Großen Seen und dem Sankt-Lorenz-Strom (etwa 1000 v. Chr. bis 500 n. Chr.) gehen wohl die Irokesen zurück, aber auch einige der Algonkin-Gruppen. Bis nach Zentral-Labrador zeigen sich auf dem kanadischen Schild die Einflüsse der Adena-Kultur. Ihre typischen Mounds erscheinen auch in der westlichen Schild-Kultur, beispielsweise im südlichen Ontario. Wahrscheinlich kam es infolge der Domestizierung von Wildreis zu einer herausgehobenen Schicht von Landbesitzern (Psinomani-Kultur). Der Süden Ontarios war in die Fernhandels-Beziehungen der Hopewell-Kultur eingebunden. Kupfer wurde im ganzen Osten Nordamerikas verbreitet. Die späte Plains-Kultur lebte in hohem Maße von Bisons. Fernhandel war weit verbreitet und reichte westwärts bis zum Pazifik. Im Norden überwogen kleinere nomadische Gruppen, während sich im Süden ein Zyklus saisonaler Wanderungen durchsetzte, deren Mittelpunkt feste Dörfer waren. Der späten Plateau-Kultur lieferten die Laichzüge der Lachse die Nahrung, ähnlich wie an der Pazifikküste. Ab 2500 v. Chr. lässt sich das so genannte Pit House („Grubenhaus“) nachweisen, das teilweise in die Erde gegraben wurde und eine bessere Bevorratung ermöglichte. Die Küstenkultur wurde zwischen 500 v. und 500 n. Chr. als Ranggesellschaft von Süden nach Norden strenger. Eine Schicht führender Familien beherrschte den Handel sowie den Zugang zu Ressourcen und hatte die politische und spirituelle Macht. Auch hier tauchen erstmals Begräbnishügel auf. In einigen Regionen herrschten Steinhaufengräbern (cairns) vor, wie etwa um Victoria. Die Dörfer wurden zahlreicher und vielfach größer, bald stärker befestigt. Die Kultur war von Plankenhäusern, oftmals monumentalen Schnitzwerken (Totempfählen), komplexen Zeremonien und Clanstrukturen gekennzeichnet. Nirgendwo war die Bevölkerungsdichte so groß, wie an der Westküste. Im Gegensatz dazu gestatteten die Klimabedingungen und starke vulkanische Aktivität im Nordwesten keine dauerhafte Ansiedlung. Mit den Athabasken verbinden sich Fundstellen im Einzugsgebiet des Mackenzie Rivers ab 1000 v. Chr. bis etwa 700 n. Chr.Gegen 2500 v. Chr. wanderte ein Teil der Paläo-Eskimos von Alaska nach Grönland; es entwickelte sich die Prä-Dorset-Kultur. Um 500 v. Chr. bis 1000 n. Chr. folgte die „Dorset-Kultur“ (nach Cape Dorset auf einer Baffin Island vorgelagerten Insel benannt). Um 2000 v. Chr. bis 1000 n. Chr. bestand die Neo-Eskimo-Kultur. Um 1000 setzte sich eine erneute Wanderung von Alaska nach Grönland in Bewegung. Aus der Vermischung der Kulturen ging wohl die Thule-Kultur hervor, die bis etwa 1800 bestand. Ihre Angehörigen sind die Vorfahren der heutigen Inuit. === Kolonialisierung === Europäische Siedler erreichten Nordamerika spätestens um das Jahr 1000, als Wikinger für kurze Zeit in L’Anse aux Meadows am nördlichsten Ende von Neufundland lebten. Als „Entdecker“ Nordamerikas gilt Giovanni Caboto, ein italienischer Seefahrer in englischen Diensten. Er landete am 24. Juni 1497 auf Neufundland und nahm das Land für England in Besitz. Baskische Walfänger und Fischer kamen ab etwa 1525 regelmäßig an die Küste Labradors und beuteten ein Jahrhundert lang die Ressourcen in der Region zwischen der Neufundlandbank und Tadoussac aus. Eine Expedition unter der Leitung von Jacques Cartier erkundete 1534/35 das Gebiet um den Sankt-Lorenz-Golf und den Sankt-Lorenz-Strom und erklärte es zu französischem Besitz. Samuel de Champlain gründete 1605 mit Port Royal (heute Annapolis Royal) und 1608 mit Québec die ersten dauerhaften Ansiedlungen in Neufrankreich. Die französischen Kolonisten teilten sich in zwei Hauptgruppen: Die Canadiens besiedelten das Tal des Sankt-Lorenz-Stroms, die Akadier (Acadiens) die heutigen Seeprovinzen. Französische Pelzhändler und katholische Missionare erforschten die Großen Seen, die Hudson Bay und den Mississippi bis nach Louisiana. Engländer gründeten ab 1610 Siedlungen auf Neufundland und besiedelten die weiter südlich gelegenen Dreizehn Kolonien. Cupids Plantation ist damit die zweitälteste angloamerikanische Siedlung in Nordamerika und war erfolgreicher als Jamestown in Virginia. Zwischen 1689 und 1763 kam es in Nordamerika zu vier bewaffneten Konflikten zwischen Engländern (bzw. Briten) und Franzosen, die jeweils Teil von Erbfolgekriegen in Europa waren. Der King William’s War (1689–1697) brachte keine territorialen Veränderungen, doch nach Ende des Queen Anne’s War (1702–1713) gelangte Großbritannien durch den Frieden von Utrecht in den Besitz von Akadien, Neufundland und der Hudson-Bay-Region. Die Briten eroberten 1745 im King George’s War die französische Festung Louisbourg auf der Kap-Breton-Insel, gaben diese aber 1748 gemäß dem Frieden von Aachen wieder zurück. Der Siebenjährige Krieg (in Nordamerika von 1754 bis 1760 bzw. 1763) brachte schließlich die Entscheidung: Mit dem Pariser Frieden musste Frankreich 1763 fast alle seine Besitzungen in Nordamerika abtreten. === Britische Herrschaft === Mit der Königlichen Proklamation von 1763 entstand aus dem ehemaligen Neufrankreich die britische Provinz Québec, im selben Jahr gelangte die Kap-Breton-Insel zur Kolonie Nova Scotia. Auch wurden Rechte der französischen Kanadier eingeschränkt. 1769 wurde eine weitere Kolonie namens St. John’s Island (seit 1798 Prince Edward Island) gegründet. Um Konflikte in Québec abzuwenden, verabschiedete das britische Parlament 1774 den Quebec Act. Das Gebiet Québecs wurde zu den Großen Seen und zum Ohiotal ausgedehnt. Für die französischsprachige Bevölkerungsmehrheit galt das französische Zivilrecht und Französisch war als Sprache in der Öffentlichkeit anerkannt; durch die Zusicherung der freien Religionsausübung konnte die Römisch-katholische Kirche in der Kolonie verbleiben. Das Gesetz verärgerte jedoch die Bewohner der Dreizehn Kolonien, die darin eine unzulässige Beschränkung ihrer nach Westen gerichteten Expansion sahen. Der Quebec Act war eines jener „unerträglichen Gesetze“ (Intolerable Acts), die schließlich zur Unabhängigkeitserklärung der Vereinigten Staaten und zum Amerikanischen Unabhängigkeitskrieg führten. Der Frieden von Paris erkannte die amerikanische Unabhängigkeit an und die Gebiete südlich der Großen Seen fielen an die Vereinigten Staaten. Etwa 50.000 Loyalisten flohen in das heutige Kanada, dazu kamen mit den Briten verbündete Indianerstämme, wie die Mohawk. New Brunswick wurde 1784 von Nova Scotia abgetrennt, um die Ansiedlung der Loyalisten an der Atlantikküste besser organisieren zu können. Um den nach Québec geflohenen Loyalisten entgegenzukommen, verabschiedete das britische Parlament das Verfassungsgesetz von 1791, das die Provinz Québec in das französischsprachige Niederkanada und das englischsprachige Oberkanada teilte und beiden Kolonien ein gewähltes Parlament gewährte. Die Spannungen zwischen den Vereinigten Staaten und Großbritannien entluden sich im Britisch-Amerikanischen Krieg (Juni 1812 bis Februar 1815). Der Friede von Gent stellte weitgehend den status quo ante bellum wieder her. In Kanada gilt der Krieg bis heute als erfolgreiche Abwehr amerikanischer Invasionsversuche. Die britisch- und französischstämmige Bevölkerung entwickelte durch den Kampf gegen einen gemeinsamen Feind ein kanadisches Nationalgefühl; die Loyalität der britischen Krone gegenüber wurde gestärkt. Der Wunsch nach Selbstverwaltung und der Widerstand gegen die wirtschaftliche und politische Vorherrschaft einer kleinen Elite führten zu den Rebellionen von 1837, die rasch niedergeschlagen wurden. Lord Durham empfahl daraufhin in seinem Untersuchungsbericht die Einsetzung einer selbstverantwortlichen Regierung und die allmähliche Assimilierung der französischen Kanadier in die britische Kultur. Der Act of Union 1840 verschmolz Nieder- und Oberkanada zur Provinz Kanada und erhob das Englische zur alleinigen Amtssprache. Bis 1849 erhielten auch die weiteren Kolonien in Britisch-Nordamerika eine eigene Regierung. Zwei Handelsgesellschaften, die Hudson’s Bay Company (HBC) und die North West Company (NWC), kontrollierten den Handel in den weiten, nur von wenigen Ureinwohnern besiedelten Gebieten der Prärien und der Subarktis. Die HBC hatte 1670 Ruperts Land als Pachtgebiet erhalten und besaß dort das Handelsmonopol mit Pelzen. Da aber auch die NWC dort Fuß zu fassen versuchte, kam es wiederholt zu bewaffneten Auseinandersetzungen. Nach dem Pemmikan-Krieg in der Red-River-Kolonie (heute Manitoba) wurde die NWC 1821 zwangsliquidiert, und die HBC dehnte ihr Monopol auf fast den gesamten Nordwesten des Kontinents aus. 1846 schlossen die Vereinigten Staaten und Großbritannien den Oregon-Kompromiss, der westlich der Großen Seen den 49. Breitengrad als gemeinsame Grenze festlegte. Daraufhin folgte die Gründung der an der Pazifikküste gelegenen Kolonien Vancouver Island (1849) und British Columbia (1858). === Kanadische Konföderation === Während des Sezessionskriegs in den Vereinigten Staaten erkannten führende Politiker die Notwendigkeit, möglichen amerikanischen Expansionsbestrebungen einen starken Bundesstaat entgegenzustellen, und berieten in drei Verfassungskonferenzen über die Schaffung einer Kanadischen Konföderation. Daraus resultierte das Verfassungsgesetz von 1867, das am 1. Juli 1867 in Kraft trat und das Dominion Kanada schuf, das über eine gewisse Eigenständigkeit gegenüber der Kolonialmacht Großbritannien verfügte. Die Provinz Kanada wurde in Ontario und Québec aufgeteilt, hinzu kamen New Brunswick und Nova Scotia. Der neue Bundesstaat kaufte 1869 der Hudson’s Bay Company das Nordwestliche Territorium und Ruperts Land ab und vereinigte diese zu den Nordwest-Territorien. Nach der Niederschlagung der Red-River-Rebellion der Métis schuf der Manitoba Act 1870 im Unruhegebiet die Provinz Manitoba. British Columbia und Vancouver Island (die sich 1866 vereinigt hatten) traten 1871 der Konföderation bei, zwei Jahre später folgte Prince Edward Island. Um den Westen für die Besiedlung durch Einwanderer zu erschließen, beteiligte sich die Regierung an der Finanzierung von transkontinentalen Eisenbahnen und gründete die North-West Mounted Police (heute Royal Canadian Mounted Police), um die staatliche Kontrolle über die Prärien und subarktischen Regionen durchzusetzen. Die Nordwest-Rebellion und die darauf folgende Hinrichtung des Métis-Führers Louis Riel 1885 führten zu einem tiefen Zerwürfnis zwischen den beiden Sprachgruppen. Als direkte Folge des Klondike-Goldrauschs wurde 1898 das Yukon-Territorium geschaffen. Aufgrund der zunehmenden Besiedlung der Prärie entstanden 1905 aus dem südlichen Teil der Nordwest-Territorien die Provinzen Alberta und Saskatchewan. Mit den Indianern schloss Kanada zwischen 1871 und 1921 elf Verträge ab, die ihnen gegen geringe Kompensationen Reservate zuwiesen, ihnen aber ihre gewohnte Lebensweise garantierten. Bis in die 1960er-Jahre versuchte man sie zwangsweise zu assimilieren und verbot den Schülern den Gebrauch ihrer Muttersprachen. Die Ureinwohner durften bis 1960 nicht an Parlamentswahlen auf nationaler Ebene teilnehmen. An der Seite Großbritanniens nahm Kanada ab 1914 am Ersten Weltkrieg teil und entsandte Freiwillige an die Westfront. Als die Regierung versuchte, gegen den Widerstand des französischsprachigen Bevölkerungsteils den obligatorischen Wehrdienst einzuführen, kam es zur Wehrpflichtkrise von 1917. === Eigenständigkeit und Separatismus === Bei den Verhandlungen zum Versailler Vertrag trat Kanada als eigenständiger Staat auf. Es trat 1919 unabhängig von Großbritannien dem Völkerbund bei. Das Statut von Westminster von 1931 garantierte die gesetzgeberische Unabhängigkeit; einige verfassungsrechtliche Bindungen blieben bestehen. Das Land war besonders stark von der Weltwirtschaftskrise betroffen; als Reaktion darauf entwickelte sich in den folgenden Jahrzehnten ein gut ausgebauter Sozialstaat. Kanada erklärte 1939 dem Deutschen Reich den Krieg. Trotz einer weiteren Wehrpflichtkrise spielten kanadische Truppen während des Zweiten Weltkriegs eine wichtige Rolle, insbesondere in der Atlantikschlacht, der Operation Jubilee, der Invasion Italiens, der Operation Overlord (Landung am Juno Beach) und der Schlacht an der Scheldemündung. Die Regierung von Mackenzie King wagte es nicht, Soldaten gegen deren Willen in einen Kriegseinsatz im Ausland zu schicken. So blieben Männer im Umfang von fünf Divisionen in Kanada, wo sie deutsche Kriegsgefangene bewachten. Unter den kanadischen Freiwilligen, die in Europa gegen Deutschland kämpften, rief das großen Unmut hervor. 1945 wurden kanadische Soldaten maßgeblich während der Kämpfe um die Niederlande eingesetzt. Die britische Kolonie Neufundland, die sich 1867 nicht dem Bundesstaat angeschlossen hatte und von 1907 bis 1934 ein unabhängiges Dominion gewesen war, trat 1949 nach einer langen politischen und wirtschaftlichen Krise als letzte Provinz der kanadischen Konföderation bei. 1965 wurde die neue Ahornblattflagge eingeführt und seit dem Inkrafttreten des Amtssprachengesetzes 1969 ist Kanada offiziell ein zweisprachiger Staat. Premierminister Pierre Trudeau strebte die vollständige formale Unabhängigkeit von Großbritannien an; diese wurde mit dem Verfassungsgesetz von 1982 und der Charta der Rechte und Freiheiten erreicht. Während der 1960er-Jahre fand in Québec eine tiefgreifende gesellschaftliche und wirtschaftliche Umwälzung statt, die als „Stille Revolution“ bekannt ist. Québecer Nationalisten begannen, mehr Autonomie oder gar die Unabhängigkeit zu fordern. Nachdem die Front de libération du Québec Entführungen und Anschläge verübt hatte, wurde während der Oktoberkrise 1970 kurzzeitig ein Ausnahmezustand ausgerufen. Moderate Nationalisten stellten ab 1976 die Provinzregierung, 1980 wurde ein erstes Unabhängigkeitsreferendum mit 59,6 % der Stimmen abgelehnt. Ein weiteres Kennzeichen dieser Umwälzung ist die Ablösung der frankophonen Bevölkerung von der katholischen Kirche. Der Constitution Act / Loi constitutionelle vom 17. April 1982, mit dem auch Verfassungsänderungen nicht mehr vom britischen Parlament abgesegnet werden müssen, gilt als Datum der formalen Unabhängigkeit (vollen Souveränität) Kanadas. 1989 scheiterten Bemühungen der Bundesregierung, Québec mit dem Meech Lake Accord als „sich unterscheidende Gesellschaft“ anzuerkennen. Die vom separatistischen Parti Québécois geführte Provinzregierung setzte 1995 das zweite Unabhängigkeitsreferendum an, das mit 49,4 % Zustimmung knapp scheiterte. 1999 wurde Nunavut geschaffen, das erste kanadische Territorium mit mehrheitlich indigener Bevölkerung. == Bevölkerung == Die letzte Volkszählung von 2021 ergab eine Einwohnerzahl von 37,0 Millionen. Daraus errechnet sich eine Bevölkerungsdichte von etwa 4,2 Einwohner/km², eine der geringsten der Welt. Die Bevölkerung konzentriert sich zu einem großen Teil auf einem bis zu 350 km breiten Streifen entlang der Grenze zu den USA. Weite Teile des Nordens sind nahezu unbesiedelt. Fast vier Fünftel der Kanadier leben in Städten. Die größten Städte sind Toronto, Montreal, Calgary, Ottawa, Edmonton und Vancouver. Der Großteil der Bevölkerung lebt in den Provinzen Ontario (14,2 Mio.) und Québec (8,5 Mio.) entlang des St.-Lorenz-Stromes, das heißt rund um Toronto, Montreal, Québec, Ottawa, London und Hamilton (Québec-Windsor-Korridor). 5,0 Mio. Menschen leben in British Columbia, 4,3 Mio. in Alberta, in Manitoba 1,3 Mio. und in Saskatchewan weitere 1,1 Mio. Menschen. Die vier Atlantik-Provinzen haben alle weniger als 1 Million Einwohner. Die bevölkerungsärmsten Territorien Kanadas sind Nunavut, das Yukon-Territorium und das Nordwest-Territorien, die zwischen rund 37.000 und 41.000 Einwohner haben. === Demographische Struktur und Entwicklung === Kanada ist ein Einwanderungsland. 2020 waren rund 21 % der Bevölkerung im Ausland geboren. Große Einwanderergruppen kamen in der Vergangenheit aus dem Vereinigten Königreich, Frankreich, Deutschland, Italien, Irland, den Niederlanden, Ungarn, der Ukraine, Polen, Kroatien und aus den USA. Heutzutage wächst die Bedeutung der Einwanderer aus Ostasien, vor allem aus der Volksrepublik China, aus Südasien (Indien und Pakistan), von den Philippinen und aus der Karibik (vor allem Jamaika und Haiti). Von den etwa sechs Millionen deutschen Auswanderern der Jahre 1820 bis 1914 gingen nur 1,3 % nach Kanada, von den 605.000 der Jahre 1919 bis 1933 gingen 5 %, von den 1,2 Millionen der Jahre 1950 bis 1969 bereits 25 % dorthin. 2006 gaben rund 3,2 Millionen Kanadier an, deutscher Herkunft zu sein. Damit sind die Deutschkanadier nach den Einwohnern mit Wurzeln im Raum Großbritannien/Irland und denen mit Wurzeln im heutigen Frankreich die drittgrößte Bevölkerungsgruppe des Landes.Das Bevölkerungswachstum Kanadas von 2016 bis 2021 war mit 5,2 % das höchste unter den G7-Staaten.Die Lebenserwartung eines neugeborenen Kanadiers lag 2020 bei 82,5 Jahren (Frauen: 84,5, Männer: 80,6). 26 % der Kanadier sind 19 Jahre oder jünger, 13 % 65 Jahre oder älter. Der Median des Alters der Bevölkerung lag im Jahr 2020 bei 41,1 Jahren. 2006 waren 4635 Kanadier über 100 Jahre alt. === Indigene Ethnien === In Kanada unterscheidet man drei Gruppen indigener oder autochthoner Völker: Die First Nations (auch „Indianer“ genannt), die Inuit und die Métis, Nachfahren von Europäern, die mit indianischen Frauen eine Verbindung eingegangen waren, aber auch NunatuKavummiut, Nachkommen von Inuit und Europäern im Osten Labradors, sowie Nunatsiavut im Norden der Provinz. Zahlreiche weitere Kanadier haben indianische Vorfahren. Deren Ehen wurden sehr häufig nach der „Sitte des Landes“ (custom of the country) geschlossen, also ohne kirchliche oder staatliche Mitwirkung – wie es bei Ehen zwischen Männern der Hudson’s Bay Company und Indianerinnen üblich war. Ehen dieser Art waren erst ab 1867 vollgültig. Bei der Volkszählung im Jahr 2006 gaben 1.172.790 Kanadier an, Angehörige einer indigenen Gruppe zu sein. Das entsprach 3,8 % der Bevölkerung, wobei dieser Anteil regional sehr stark schwankt. Die Indigenen verteilten sich auf folgende Gruppen: 698.025 waren Angehörige der First Nations, 389.785 Métis, 50.485 Inuit, 6.665 Indigene gemischter Herkunft (Stand: 2001), 23.415 Indigene ohne eindeutige ethnische Zuordnung (Stand: 2001).Im Schnitt sind die Ureinwohner erheblich jünger als die übrige Bevölkerung. So sind 50 % der indianischen Bevölkerung unter 23,5 Jahre alt, im übrigen Kanada liegt dieser als Median bezeichnete Wert bei 39,5 Jahren. 185.960 Kanadier sprachen 2001 eine der 50 indigenen Sprachen, diese umfassen die Sprachen der First Nations sowie Inuktitut, die Sprache der Inuit. Die Interessen der indigenen Bevölkerung werden staatlicherseits vom „Department of Indian Affairs and Northern Development“/„Affaires indiennes et du Nord“ vertreten, dem das Indianergesetz von 1876 zugrunde liegt. Sie selbst sehen sich allerdings eher in eigenen Organisationen, wie der Versammlung der First Nations oder anderen Organisationen vertreten. Sie berufen sich auf die Verträge, die mit Kanada und Großbritannien geschlossen worden sind, wie die Numbered Treaties, auf allgemeine Menschenrechte und auf Entscheidungen der oberen Gerichtshöfe in Großbritannien und Kanada. Die Indianer besitzen erst seit 1960 das volle Wahlrecht. Ein Teil des besonderen Lebensraumes der Inuit wurde 1999 in ein eigenes Territorium namens Nunavut zusammengefasst. Seit 1996 wird der 21. Juni als „National Aboriginal Day“ bzw. „Journée nationale des Autochtones“ gefeiert. Zugleich kommt es nach wie vor zu Auseinandersetzungen um Landrechte und den Abbau von Bodenschätzen, wie die Grassy-Narrows-Blockade, der Streit um die Urwälder am Clayoquot Sound an der Westküste oder der Widerstand der Kitchenuhmaykoosib Inninuwug in Ontario zeigen. === Sprachen === Kanadas Amtssprachen sind Englisch und Französisch, wobei 20,1 % der Bevölkerung weder die eine noch die andere als Muttersprache angeben. In der Kanadischen Charta der Rechte und Freiheiten, im Amtssprachengesetz und in den Amtssprachenverordnungen ist die offizielle Zweisprachigkeit festgeschrieben, die vom Amtssprachenkommissariat durchgesetzt wird. In den Bundesgerichten, im Parlament und in allen Institutionen des Bundes sind Englisch und Französisch gleichberechtigt. Die Bürger haben das Recht, Dienstleistungen des Bundes in englischer oder französischer Sprache wahrzunehmen. In allen Provinzen und Territorien wird den sprachlichen Minderheiten der Schulunterricht in eigenen Schulen garantiert – ein Anrecht, das lange umstritten war. Die Ursachen reichen bis in die französische und britische Kolonialisierungsphase Nordamerikas zurück und standen zugleich mit kulturellen und religiösen Gegensätzen in Zusammenhang. Englisch und Französisch sind die Muttersprachen von 56,9 % bzw. 21,3 % der Bevölkerung, bei 68,3 % bzw. 22,3 % sind es die zu Hause am meisten gesprochenen Sprachen (2006). 98,5 % aller Einwohner sprechen Englisch oder Französisch (67,5 % sprechen nur Englisch, 13,3 % nur Französisch und 17,7 % beides).Zwar leben 85 % aller französischsprachigen Kanadier in Québec, doch gibt es bedeutende frankophone Bevölkerungsgruppen in Ontario und in Alberta, im Süden von Manitoba, im Norden und Südosten von New Brunswick (Akadier; insgesamt 35 % der Bevölkerung dieser Provinz) sowie im südwestlichen Nova Scotia und auf der Kap-Breton-Insel. Ontario hat die zahlenmäßig größte französischsprachige Bevölkerung außerhalb Québecs. Die Charta der französischen Sprache erklärt Französisch zur alleinigen Amtssprache in Québec, und New Brunswick ist die einzige Provinz, deren Verfassung die Zweisprachigkeit garantiert. Andere Provinzen haben keine Amtssprache als solche definiert; jedoch wird Französisch zusätzlich zu Englisch in Schulen, Gerichten und für Dienstleistungen der Regierung verwendet. Manitoba, Ontario und Québec erlauben das gleichberechtigte Sprechen von Englisch und Französisch in den Provinzparlamenten, und Gesetze werden in beiden Sprachen erlassen. In Ontario kennen einzelne Gemeinden Französisch als zweite Amtssprache. Die Wahl der Hauptstadt des seinerzeitigen Britisch-Nordamerika durch Königin Victoria (1857) fiel möglicherweise deshalb auf Ottawa, weil es etwa an der Grenze zwischen franko- und anglophonem Gebiet lag. Alle Regionen haben nicht-englisch- oder französischsprachige Minderheiten, hauptsächlich Nachkommen der Ureinwohner. Offiziellen Status besitzen mehrere Sprachen der First Nations in den Nordwest-Territorien. Im hauptsächlich von Inuit bevölkerten Territorium Nunavut ist Inuktitut die Mehrheitssprache und eine von drei Amtssprachen. Mehr als 6,1 Millionen Einwohner bezeichnen weder Englisch noch Französisch als ihre Erstsprache. Am weitesten verbreitet sind Chinesisch (1,012 Millionen Sprecher), Italienisch (etwa 455.000), Deutsch (etwa 450.000), Panjabi (etwa 367.000) und Spanisch (etwa 345.000). Das Kanadisch-Gälische, um die Mitte des 19. Jahrhunderts noch die dritthäufigste Sprache Kanadas, ist mit etwa 500 bis 1000 vorwiegend älteren Sprechern mittlerweile fast ausgestorben, jedoch bestehen Kontakte zu schottischen Hochschulen, die Kanadiern Sprachkurse anbieten. Mehrere Schulen unterrichten die Sprache, ebenso drei Hochschulen sowie die 2006 gegründete Atlantic Gaelic Academy. Erst ab 1973 wurden in Ontario deutsche Schulen vom Staat wieder unterstützt. Zwischen 1977 und 1990 erhielten die Schulen Mittel aus dem Multikulturalismusprogramm der Regierung. === Religion === Mit der Kolonialisierung kamen zunächst vor allem französische Katholiken und anglikanische Engländer nach Kanada. Darüber hinaus förderte Großbritannien die Einwanderung protestantischer Gruppen vom Mittelrhein und aus Württemberg, in geringerem Maße auch aus der Schweiz, Frankreich und den Niederlanden, sodass der Süden von Nova Scotia bis heute protestantisch ist. Doch gab die Kolonialmacht 1774 mit dem Quebec Act jeden Versuch auf, die Katholiken zur Konversion zu bewegen. Nach der Unabhängigkeit der USA kamen zahlreiche protestantische Loyalisten in das heutige Ontario und bildeten dort die Mehrheit. In späteren Einwanderungswellen kamen wiederum katholische Iren und Italiener, aber auch ukrainische Duchoborzen hinzu. Die Einwanderung aus Schottland sorgte wiederum für eine Beseitigung des Vorrangs der Anglikanischen Kirche im Osten durch zahlreiche Presbyterianer. In Toronto setzten sich die Methodisten durch. In Opposition zu den Katholiken, die eher dem Ultramontanismus zugeneigt waren (les bleus), aber auch zu den dominierenden Anglikanern, die vom Oranier-Orden unterstützt wurden, bildeten sich antiklerikale Gruppen (vor allem les rouges). Mit dem Lord’s Day Act von 1906 wurde ein weitgehendes Arbeitsverbot am Sonntag durchgesetzt, das bis in die 1960er-Jahre Gültigkeit beanspruchte und das der Oberste Gerichtshof erst 1985 endgültig abschaffte. Eine ähnliche Bedeutungsminderung des Religiösen im Alltag fand in Québec statt. Dennoch gibt es bedeutende Gruppen, insbesondere im Süden Manitobas und Ontarios, in Alberta und im Binnenland von British Columbia. Dazu zählen die Mennoniten im Süden Manitobas, die ukrainischen Orthodoxen und Katholiken in Manitoba und Saskatchewan, die Mormonen bilden einen Schwerpunkt in Alberta. Hinzu kommen die Zeugen Jehovas und zahlreiche andere Gruppen.Die katholischen Missionare waren unter den Ureinwohnern erfolgreicher als die protestantischen, und so überwiegt dort der katholische Anteil. Dazu kommen indigene Glaubensorganisationen, wie die Shaker Church. Mit den jüngsten Einwanderungswellen verstärkten sich nichtchristliche Religionsgemeinschaften wie Hindus, Muslime, Juden, Sikhs und Buddhisten. Sie konzentrieren sich in Großstädten, insbesondere im Großraum Toronto. Die älteste Synagoge, Congregation Emanu-El, entstand 1863 in Victoria, die erste Moschee 1938 mit der Al Rashid Mosque in Edmonton. Etwa 67,3 % der kanadischen Bevölkerung gehörten 2011 einer christlichen Konfession an (39,0 % katholisch, etwa 24,1 % protestantisch). Die beiden größten protestantischen Glaubensgemeinschaften sind mit 6,1 % die United Church of Canada und mit 6,9 % die Anglikanische Kirche von Kanada, dazu kommen 1,9 % Baptisten, 1,4 % Lutheraner, etwa 1,7 % Orthodoxe sowie etwa 3,0 % andere christliche Glaubensgemeinschaften. Muslime stellen etwa 3,2 % der Bevölkerung, mehr als die Hälfte von ihnen lebt in Ontario. Etwa 1,0 % sind Juden, von denen wiederum knapp 60 % in Ontario leben, und etwa 1,1 % Buddhisten, 1,5 % Hindus sowie 1,4 % Sikhs. Etwa 23,9 % gaben an, keiner Glaubensgemeinschaft anzugehören.Die Volkszählungen von 2011, 2001 und 1991 ergaben: Zu beachten bei der Prozentzahl „Veränderung 1991–2011“ (rechte Spalte) ist, dass die Gesamtbevölkerung des Staates in diesen 20 Jahren erheblich zugenommen hat; der „Zuwachs“ etwa bei den Katholiken relativiert sich damit erheblich. Besonders schnell wachsen durch Zuwanderung die nicht-christlichen Gruppen, aber auch zahlreiche christliche Gruppen, die außerhalb der großen Kirchen stehen. Nach einer Umfrage von 2007 fühlten sich die Muslime in Kanada deutlich stärker integriert als in europäischen Staaten. Insgesamt setzt die kanadische Politik im Rahmen ihrer Integrationspolitik stärker auf Erhalt und Nutzung der ethnischen und religiösen Besonderheiten als auf Anpassung. Seit den 1960er-Jahren begann ein Wandel der Schulpolitik, die bis dahin auf Segregation basierte. Mit dem Canadian Multiculturalism Act von 1988 wurde diese formal beendet. === Einwanderungspolitik/-system === Kanada hat, gemessen an der Bevölkerung, eine der höchsten Einwanderungsraten unter den Flächenstaaten der Welt. Die Einwanderung wird über definierte Ziele gesteuert, die in einem Programm festgelegt worden sind. Hierbei gibt es etwa Programme für Flüchtlinge, zur Zuwanderung in den Arbeitsmarkt, für Existenzgründer und zum Familiennachzug. Die Einwanderungskriterien sind öffentlich einsehbar und können bereits vor Antragstellung selbst überprüft werden. Für Menschen mit Berufen, die in Kanada gefragt sind, existiert zum Beispiel das Skilled Worker-Programm. Je nach Lage des Arbeitsmarkts wird eine Mindestpunktzahl festgelegt, die ein Einwanderungsinteressierter erreichen muss. Die persönliche Punktzahl setzt sich aus Punkten für den aktuellen Bildungsstand und die Berufserfahrung zusammen, aus Punkten für die vorhandenen Sprachkenntnisse in Englisch und Französisch sowie für das Alter, für Verwandte und frühere Aufenthalte in Kanada. Ein verbindliches Arbeitsangebot eines kanadischen Arbeitgebers erhöht die Punktzahl nochmals maßgeblich. Das Immigrations-Programm wurde am 1. Juli 2011 dahingehend angepasst, dass ohne ein bestehendes Arbeitsangebot nur noch Personen zum Skilled Worker-Programm zugelassen werden, die Erfahrung in einem von 29 festgelegten Berufen nachweisen können. Daneben muss ein Interessent am Skilled Worker-Programm nachweisen, dass er sich für eine gewisse Zeit finanziell selbst versorgen kann. Die notwendige Summe beläuft sich derzeit (September 2011) für eine alleinstehende Person auf 11.115 CAD, für eine vierköpfige Familie auf 20.654 CAD. Außerdem werden polizeiliche Führungszeugnisse aus allen Ländern benötigt, in denen der Kandidat nach dem 18. Geburtstag für sechs Monate oder länger gelebt hat. Bei Fachkräften, die nach Kanada einwandern wollen, wird vor allem auf gute Sprachkenntnisse, eine Jobzusage und ein geringes Alter geachtet. Die Einwanderung erfolgt in zwei Stufen. Zunächst wird eine unbefristete Aufenthalts- und Arbeitsgenehmigung erteilt. Nach drei Jahren als „Permanent Resident“ und entsprechendem Aufenthalt im Land kann der Einbürgerungsantrag gestellt werden. Einwanderer, die noch nicht eingebürgert sind, haben Residenzpflicht. Dies bedeutet, dass man Nachweise für die vorgegebene Zeit in Kanada erbringen, oder mit jemandem verheiratet sein muss, die oder der die kanadische Staatsbürgerschaft besitzt. Bei Verstößen kann der „Permanent Resident“-Status entzogen und der Einwanderer in sein Herkunftsland zurückgeschickt werden. Neben dem Programm für qualifizierte Einwanderungswillige steht eine gesonderte Regelung für Gastarbeiter, die keine Perspektive für eine Einbürgerung bekommen. Die Zahl der nur zeitweilig in Kanada zugelassenen Arbeitskräfte übersteigt seit etwa 2006 die der Einwanderer. Die Gastarbeiter erhalten Arbeitsgenehmigungen, die in der Regel für einige Monate gelten und nur selten die Dauer eines Jahres übersteigen. Sie gelten nur für den Arbeitgeber, der die Arbeitskräfte ins Land holt, eine Kündigung ist mit dem Verlust der Aufenthaltsgenehmigung verbunden. Während das Programm für Gastarbeiter ursprünglich für Pflegekräfte in Haushalten, Kindermädchen und Arbeiter in der Landwirtschaft eingeführt wurde, wird es inzwischen für alle Tätigkeiten des Niedriglohnbereichs eingesetzt. Außer den Programmen zur Einwanderung in den Arbeitsmarkt gibt es in Kanada auch humanitäre Aufnahmeprogramme zum Resettlement von Menschen, die vom Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen (UNHCR) als Flüchtlinge anerkannt wurden. Noch vor der Einreise werden diese sogenannten Kontingentflüchtlinge einem Gesundheits- und Sicherheitscheck unterzogen, inklusive Iris-Scan zur eindeutigen Identifizierung. Unbegleitete Minderjährige bekommen keine Plätze, dafür bevorzugt Familien und Frauen. 2018 war Kanada der Staat mit dem weltweit größten Aufnahmeprogramm von Resettlement-Flüchtlingen. Jedes Jahr legt die kanadische Regierung genaue Kontingente für die Resettlement-Programme fest. Rund ein Drittel der gut 30.000 Plätze im Jahr 2019 wurden vom Staat finanziert, die restlichen Kontingentflüchtlinge wurden ganz oder teilweise von Organisationen und Privatleuten unterstützt.Mehr als 90 Prozent der Arbeitsmigrantinnen- und migranten sprechen bereits vor der Einreise Englisch, Französisch oder beides. Unter den Kontingentflüchtlingen und ihren Familien sind es 54 Prozent, auf die eines der drei Dinge zutrifft. Der weitaus größte der Teil der 341.180 Menschen, die im Jahr 2019 eine dauerhafte Aufenthaltserlaubnis für Kanada erhielten, waren Fachkräfte. neben guten Sprachkenntnisse, eine Jobzusage und ein geringes Alter vorwiesen.Menschen, die – über Grenze der USA – Kanada betreten und Asyl beantragen und keine Qualifikationen mitbringen, werden meist in die USA abgeschoben. Wird ein Asylbewerber jedoch anerkannt, bekommt er grundsätzlich eine dauerhafte Aufenthaltserlaubnis – bekommt aber keine Wohnung vom Staat zugewiesen. Notfalls erfolgt die Unterbringung in einem Gefängnis. Geflüchtete machen 14 Prozent aller Zuwanderer in Kanada aus. == Politik == === Verfassung und Recht === Kanada ist formal eine konstitutionelle Monarchie innerhalb des Commonwealth of Nations mit König Charles III. als Staatsoberhaupt. Er trägt den Titel König von Kanada und wird durch den Generalgouverneur vertreten. Der Staat ist auch eine repräsentative parlamentarische Demokratie, die in Form eines Bundesstaates organisiert ist. Die Verfassung Kanadas besteht aus schriftlichen Rechtsquellen und ungeschriebenem Gewohnheitsrecht. Das Verfassungsgesetz von 1867 enthält das Staatsorganisationsrecht, begründete ein auf dem Westminster-System des Vereinigten Königreichs basierendes parlamentarisches Regierungssystem und teilte die Macht zwischen Bund und Provinzen auf. Das Statut von Westminster von 1931 gewährte die vollständige gesetzgeberische Autonomie, und mit dem Verfassungsgesetz von 1982 wurden die letzten verfassungsrechtlichen Bindungen zum britischen Mutterstaat gelöst. Letzteres enthält einen Grundrechtskatalog (die Kanadische Charta der Rechte und Freiheiten) sowie Bestimmungen betreffend das Vorgehen bei Verfassungsänderungen. Einhergehend mit dem Status als Monarchie gibt es eine Reihe von Titeln und Orden, die in Kanada verliehen werden. ==== Exekutive ==== Theoretisch liegt die exekutive Staatsgewalt beim Monarchen, wird aber in der Praxis durch das Kabinett (formal ein Komitee des kanadischen Kronrates) und durch den Vertreter des Monarchen, den Generalgouverneur, ausgeübt. Der Monarch und dessen Vertreter sind unpolitisch und üben überwiegend zeremonielle Funktionen aus, um die Stabilität der Regierung zu garantieren. Gemäß Gewohnheitsrecht übergeben sie alle politischen Geschäfte ihren Ministern im Kabinett, die ihrerseits gegenüber dem gewählten Unterhaus verantwortlich sind. Die exekutive Staatsgewalt liegt somit de facto beim Kabinett, jedoch können Monarch und Generalgouverneur im Falle einer außergewöhnlichen Verfassungskrise ihre Hoheitsrechte wahrnehmen. Der Premierminister ist üblicherweise der Vorsitzende jener Partei, die im Unterhaus die meisten Sitze hält und das Vertrauen der Mehrheit der Abgeordneten besitzt. Er wird vom Generalgouverneur eingesetzt und führt als Regierungschef das Kabinett an. Da er über weitgehende Befugnisse verfügt, gilt er als mächtigste Person des Staates. Er ernennt die übrigen Kabinettsmitglieder, Senatoren, Richter des Obersten Gerichtshofes, Vorsitzende von Staatsbetrieben und Behörden und kann den Generalgouverneur sowie die Vizegouverneure der Provinzen vorschlagen. Die Bundesregierung ist unter anderem zuständig für Außenpolitik, Verteidigung, Handel, Geldwesen, Verkehr und Post sowie die Aufsicht über die Administration der drei bundesabhängigen Territorien. Aktuell ist der Vorsitzende der Liberalen Partei, Justin Trudeau, seit dem 4. November 2015 Premierminister und leitet das 29. Kanadische Kabinett. Vom 2. Oktober 2017 bis zum 21. Januar 2021 war Julie Payette die 29. Generalgouverneurin von Kanada. Sie trat nach Abschluss einer unabhängigen Untersuchung über das von ihr geschaffene Arbeitsumfeld als Generalgouverneurin zurück. Während der Zeit bis zur Ernennung einer Nachfolgerin wurden die Aufgaben durch Richard Wagner, Vorsitzender des Obersten Gerichtshofes von Kanada, als „Administrator of the Government of Canada“ wahrgenommen. Am 6. Juli 2021 wurde die Ernennung von Mary Simon zur neuen Generalgouverneurin von Kanada bekannt gegeben. Simon ist die erste Inuk die zum Vertreter des Königs ernannt wurde. ==== Legislative ==== Das kanadische Bundesparlament besteht aus dem Monarchen und zwei Kammern, dem demokratisch gewählten Unterhaus (englisch House of Commons, frz. Chambre des communes) und dem ernannten Senat von Kanada (Senate of Canada, Sénat de Canada). Jedes Mitglied des Unterhauses wird im relativen Mehrheitswahlrecht in einem von 338 Wahlkreisen gewählt. Allgemeine Wahlen werden vom Generalgouverneur angesetzt, wenn der Premierminister dies so vorschlägt oder wenn ein Misstrauensvotum gegen die Regierung die benötigte Mehrheit erreicht. Gemäß einem 2006 verabschiedeten Gesetz beträgt die Dauer der Legislaturperiode vier Jahre. Zuvor konnte der Premierminister den Wahltermin nach Belieben festsetzen, doch musste eine Neuwahl spätestens nach fünf Jahren erfolgen. Die Regierung stellt zurzeit die Liberale Partei, während die Konservative Partei die Rolle der „offiziellen Opposition“ innehat. Weitere im Parlament vertretene Parteien werden als „Drittparteien“ bezeichnet. Es sind dies die Neue Demokratische Partei, der Bloc Québécois und die Grüne Partei. Im Senat von Kanada, auch „Oberhaus“ (englisch upper house, frz. chambre haute) genannt, sitzen 105 Abgeordnete, die der Generalgouverneur auf Empfehlung des Premierministers ernennt. Die Sitze sind nach Regionen aufgeteilt, wobei diese seit 1867 nicht mehr angepasst wurden und deshalb große Disproportionalitäten in der Repräsentation im Verhältnis zur Einwohnerzahl bestehen. Die Senatoren haben keine feste Amtszeit, sondern können ihr Amt bis zum 75. Lebensjahr wahrnehmen. Der Einfluss des Senats ist bedeutend geringer als jener des Unterhauses. Entwicklung des Frauenwahlrechts in Kanada Die Bundesstaaten führten das Frauenwahlrecht ab 1916 nacheinander und zum Teil früher ein, als dies auf Bundesebene der Fall war. Schlusslicht war Québec: Das Gesetz, das auch Indianern das Wahlrecht verschaffte, wurde erst am 9. April 1949 ins Parlament eingebracht und trat am 25. April 1949 in Kraft.1917 wurde das aktive Wahlrecht auf nationaler Ebene vor dem Hintergrund des Krieges durch den Wartime Elections Act bestimmten Gruppen von Frauen zugestanden, über deren genaue Zusammensetzung in der Literatur Unterschiedliches zu finden ist: Krankenschwestern, die im Krieg Dienst taten; euroamerikanische Frauen, die in der Armee arbeiteten oder dort nahe Angehörige (Vater, Ehemann oder Sohn) hatten oder deren Väter, Männer oder Söhne im Krieg getötet oder verwundet worden waren; Frauen, deren Ehemänner, Söhne oder Väter im Krieg getötet oder verwundet worden waren; eine weitere Quelle nennt zusätzlich die Anforderung, dass die zugelassenen Frauen auf der Ebene der ihres Bundesstaates wahlrechtlich Männern gleichgestellt waren. Am 24. Mai 1918 wurde das aktive nationale Wahlrecht auf alle Frauen britischer und französischer Abstammung ab 21 Jahren ausgedehnt, womit gleiche Kriterien für Frauen und Männer galten. Indianer waren ausgeschlossen.1919 erhielten Frauen das passive Wahlrecht. Zwar nennen andere Quellen hierfür spätere Daten und sprechen von einem beschränkten Wahlrecht; doch beruht dies vermutlich darauf, dass erst 1929 in einem von The Famous Five angestrengten Gerichtsverfahren endgültig geklärt wurde, dass das passive Wahlrecht in der Verfassung auch für den Senat galt, nicht nur für das House of Commons.1920 wurden die Eigentumsbeschränkungen aufgehoben.1950 und 1951 wurde durch Änderungen am Indian Act und am Canada Elections Act das aktive Wahlrecht auf nationaler Ebene auf Veteranen aus dem Kreis der Indianer und ihre Ehefrauen sowie Indianer, die normalerweise außerhalb der Reservate lebten, ausgedehnt, wenn sie auf die Steuerbefreiungen verzichteten, die ihnen der Indian Act gewährte. 1950 hatten die Inuit das Wahlrecht erhalten, 1951 alle Bewohner der Nordwest-Territorien. Wahlurnen für die Inuit wurden in der östlichen Arktis erst 1962 aufgestellt.Erst im August 1960 wurde das Wahlrecht mit dem Act to Amend the Canada Elections Act auf alle Kanadier ausgedehnt. Frauen das passive Wahlrecht. Zwar nennen andere Quellen hierfür spätere Daten und sprechen von einem beschränkten Wahlrecht; doch beruht dies vermutlich darauf, dass erst 1929 in einem von The Famous Five angestrengten Gerichtsverfahren endgültig geklärt wurde, dass das passive Wahlrecht in der Verfassung auch für den Senat galt, nicht nur für das House of Commons. ==== Judikative ==== Kanadas Rechtssystem spielt eine wichtige Rolle bei der Interpretation von Gesetzen. Es berücksichtigt die sich verändernden gesellschaftlichen Gegebenheiten und hat die Macht, Gesetze zu widerrufen, die gegen die Verfassung verstoßen. Der Oberste Gerichtshof ist das höchste Gericht und die letzte Instanz. Die neun Mitglieder werden auf Vorschlag des Premierministers und des Justizministers vom Generalgouverneur ernannt. Vorsitzender des Obersten Gerichtshofes (Chief Justice of Canada, Juge en chef du Canada) ist seit 2017 Richard Wagner. Die Bundesregierung ernennt auch Richter der Obersten Gerichte der Provinzen und Territorien. Die Besetzung von Richterämtern auf unteren Stufen fällt in die Zuständigkeit der Provinz- und Territorialregierungen. In den Provinzen sind die obersten Gerichte die Courts of Appeal. Ihre Urteile sind allerdings, im Gegensatz zu denen des Obersten Gerichtshofs in Ottawa, in den anderen Provinzen nicht bindend, wenn sie auch nicht ohne Einfluss sind. Als weitere Rechtsquelle gelten gelegentlich noch immer der Londoner Court of Appeal und das britische House of Lords. Deren Entscheidungen aus der Zeit vor 1867 sind immer noch bindend, es sei denn, der kanadische Oberste Gerichtshof hat sie aufgehoben. Das Gleiche gilt für Entscheidungen bis 1949 für den Rechtsprechungsausschuss des Privy Council. Dies ist für die Rechtsstellung der indigenen und der frankophonen Bevölkerung von erheblicher Bedeutung, da ältere Verträge mit der britischen Krone weiterhin gültig sind. === Politische Indizes === === Provinzen und Territorien === Kanada ist ein in zehn Provinzen und drei Territorien gegliederter Bundesstaat. Diese subnationalen Einheiten können in geographische Regionen gegliedert werden. Westkanada besteht aus British Columbia und den drei Prärieprovinzen Alberta, Saskatchewan und Manitoba. Zentralkanada umfasst die zwei bevölkerungsreichsten Provinzen Ontario und Québec. Als Seeprovinzen werden New Brunswick, Prince Edward Island und Nova Scotia bezeichnet; zusammen mit Neufundland und Labrador bilden sie die Atlantischen Provinzen. Die drei Territorien Yukon, Nordwest-Territorien und Nunavut umfassen sämtliche Gebiete nördlich des 60. Breitengrades und westlich der Hudson Bay. Die Provinzen verfügen über einen hohen Grad an Autonomie, wogegen in den Territorien die Bundesregierung zahlreiche Verwaltungsaufgaben selbst übernimmt. Alle Provinzen und Territorien besitzen ein Einkammerparlament und einen Premierminister als Regierungschef. Der kanadische Monarch wird in allen Provinzen durch einen Vizegouverneur vertreten, der gleichrangig mit dem Generalgouverneur ist und überwiegend zeremonielle Aufgaben wahrnimmt. In den Territorien übernimmt ein von der Bundesregierung ernannter Kommissar die Aufgaben eines Vizegouverneurs. Während in den meisten Bundesverfassungen föderaler Staaten allein die Gesetzgebungskompetenzen des Bundes explizit aufgezählt werden, führt das Verfassungsgesetz von 1867 (englisch Constitution Act, 1867, frz. Loi constitutionnelle de 1867) nicht nur in Art. 91 die ausschließlichen Kompetenzen des Bundes, sondern in den Artikeln 92, 92A und 93 auch die ausschließlichen Kompetenzen der Provinzen auf. Hiernach verfügen die Provinzen über das Gesetzgebungsrecht u. a. in den Bereichen direkte Steuern, Beamtenbesoldung, öffentliche Einrichtungen, Gemeindewesen, Schulwesen, Gast- und sonstiges lokales Gewerbe, Eigentum und bürgerliches Recht, Gerichtsverfassungsrecht, Zivilprozessrecht, Bergbau, Forstwirtschaft und Energie. 1974 gab es Bestrebungen im kanadischen Parlament, das britische Überseegebiet der Turks- und Caicosinseln in der Karibik als elfte Provinz in den kanadischen Staatsverband aufzunehmen. Der Gesetzesvorschlag fand jedoch keine Mehrheit und wurde somit abgelehnt. Seit 2003 gibt es jedoch erneute Bestrebungen in diese Richtung. Dafür müsste jedoch erstens Großbritannien die Inseln in die Unabhängigkeit entlassen und zweitens jede einzelne kanadische Provinz zustimmen. Insbesondere Letzteres ist infolge der sehr komplizierten kanadischen Verfassungsprozeduren indes wenig wahrscheinlich. === Rechtssystem und Polizei === Zwar ist Kanada ein relativ junger Staat, die Rechtsordnung hat jedoch eine lange Tradition. Das in allen Provinzen mit Ausnahme Québecs geltende Common Law basiert auf Grundsätzen, die sich während Jahrhunderten in England entwickelten und ein Erbe der britischen Kolonialzeit sind. Der in Québec im Bereich des Privatrechts geltende Code civil spiegelt Prinzipien des französischen Rechtssystems wider. Das Strafrecht hingegen ist Sache des Bundesstaates und in allen Provinzen einheitlich. Im Laufe der Zeit wurden beide Rechtssysteme den Erfordernissen in Kanada angepasst. Beide Rechtssysteme sind in die Verfassung eingeflossen. Deren Kern entstand 1867 mit der Gründung Kanadas und wurde zuletzt 1982 grundlegend durch das Verfassungsgesetz von 1982 und die Kanadische Charta der Rechte und Freiheiten ergänzt. Kanada schaffte 1976 die Todesstrafe für Verbrechen in Friedenszeiten ab, 1998 auch im Kriegsstrafrecht. Auslöser war die 1959 erfolgte Verurteilung des damals 14-jährigen Steven Truscott zum Tode. Er wurde nach zehn Jahren Haft auf Bewährung entlassen und 2007 freigesprochen.Die Strafverfolgung fällt in die Verantwortung der Provinzen. Die Polizeibehörden sind mehrstufig aufgebaut. Die Royal Canadian Mounted Police (Abkürzung RCMP, umgangssprachliche Kurzbezeichnung Mounties, französisch Gendarmerie royale du Canada, GRC) ist die nationale Polizei. Die beiden größten Provinzen verfügen mit der Ontario Provincial Police (OPP) bzw. der Sûreté du Québec über eigene Provinzpolizeien, dort beschränkt sich der Auftrag der RCMP auf den Schutz von Bundeseinrichtungen. Daneben gibt es weitere Polizeibehörden auf Provinzebene (z. B. British Columbia Sheriff Service, Royal Newfoundland Constabulary) und auf regionaler oder örtlicher Ebene (z. B. Toronto Police Service, York Regional Police). Ferner gibt es auf Bundesebene Polizeibehörden mit speziellen Aufgaben (z. B. Parks Canada Warden). Ähnlich den Vereinigten Staaten existieren für die Gebiete von Indianerstämmen und anderen Ureinwohnern eigene Polizeibehörden. Die beiden großen privaten Eisenbahngesellschaften (CP und CN) verfügen über je eine eigene Polizei zur Sicherung ihrer Einrichtungen. Einige Nahverkehrbetreiber sowie manche Universitäten haben eigene Hilfspolizeien (sogenannte Special Constables) eingerichtet. === Außenpolitik === Die Vereinigten Staaten und Kanada teilen sich die längste nicht verteidigte Staatsgrenze der Welt. Die Kooperation auf militärischem und wirtschaftlichem Gebiet ist eng; so sind beide Länder im Rahmen des Nordamerikanischen Freihandelsabkommens jeweils der größte Handelspartner des anderen. Dennoch betreibt Kanada eine eigenständige Außenpolitik. Es unterhält diplomatische Beziehungen zu Kuba und beteiligte sich nicht am Vietnam- oder am Irakkrieg. Enge Beziehungen unterhält der Staat traditionell zum Vereinigten Königreich und zu Frankreich, über die Mitgliedschaft im Commonwealth of Nations und in der internationalen Organisation der Frankophonie auch zu anderen ehemaligen britischen und französischen Kolonien. Ein weiterer Schwerpunkt der außenpolitischen Beziehungen sind die Staaten der Karibischen Gemeinschaft. Im 2005 veröffentlichten International Policy Statement legte die Regierung die Leitlinien der Außenpolitik fest. Kanada sieht die Europäische Union als strategischen Partner in den Bereichen Klimawandel, Energieversorgung, Handel und Umweltschutz sowie bei außen- und sicherheitspolitischen Themen. Die Beziehungen zu Deutschland sind gut und von gemeinsamen Werten und Grundüberzeugungen geprägt. Seit 2022 finden jährliche bilaterale Treffen auf der Regierungsebene in Form der German-Canadian High Level Steering Group on Bilateral Cooperation (HLSG).Einen wichtigen Teil der kanadischen Identität bildet die Unterstützung der Multilateralität. 1945 gehörte Kanada zu den Gründungsmitgliedern der Vereinten Nationen. Der spätere Premierminister Lester Pearson trug wesentlich zur Beilegung der Sueskrise bei und wurde 1957 dafür mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet. Sprach man bis dahin von der „Geburt der kanadischen Nation auf den Schlachtfeldern Europas“, so entwickelte sich unter dem Eindruck zahlreicher UN-Blauhelmeinsätze ein Peacekeeping-Mythos, der Kanadas Rolle in Abgrenzung zu den USA begreift. Kanada ist Mitglied zahlreicher internationaler Organisationen wie der OSZE, der Welthandelsorganisation, der OECD, der OAS, der APEC und der Gruppe der Sieben (G7). Verschiedene internationale Vereinbarungen entstanden auf kanadische Initiative und wurden in diesem Land verabschiedet. Dazu gehören die Ottawa-Konvention zum Verbot von Antipersonenminen und das Montreal-Protokoll zum Schutz der Ozonschicht. === Militär === Die kanadischen Streitkräfte (englisch Canadian Forces, frz. Forces canadiennes) entstanden in ihrer jetzigen Form 1968, als Heer, Marine und Luftwaffe organisatorisch zusammengeführt wurden. Die Truppen umfassten 2020 rund 67.490 freiwillige Berufssoldaten und rund 31.000 Reservisten. Hinzu kamen (Stand 2012) 5000 Canadian Rangers, deren Hauptaufgabe es ist, in entlegenen arktischen Gebieten militärische Präsenz zu zeigen. Die Streitkräfte verfügen über rund 1400 gepanzerte Fahrzeuge, 34 Kriegsschiffe und 300 Kampfflugzeuge. Kanada gab 2017 knapp 1,3 Prozent seiner Wirtschaftsleistung oder 20,6 Mrd. US-Dollar für seine Streitkräfte aus und lag damit weltweit auf Platz 14.Aufgrund der engen Bindungen an das britische Mutterland waren kanadische Truppen am Burenkrieg, am Ersten Weltkrieg und am Zweiten Weltkrieg beteiligt. Seit 1948 stellt Kanada einen bedeutenden Teil der Friedenstruppen der Vereinten Nationen und war an mehr Friedensmissionen beteiligt als jede andere Nation (seit 1989 ohne Ausnahme). Der Staat beteiligt sich grundsätzlich nur an kriegerischen Handlungen, die von den Vereinten Nationen sanktioniert wurden, wie etwa am Krieg in Korea, am Persischen Golf, in Afghanistan, jedoch ohne UN-Mandat im Kosovo. Kanada ist Gründungsmitglied der NATO und Vertragspartner des nordamerikanischen Luftraumverteidigungsbündnisses NORAD. === Bildungspolitik === Im föderalistischen Kanada gibt es kein einheitliches nationales Bildungssystem, jedoch unterliegt der tertiäre Bildungsbereich einer einheitlichen staatlichen Qualitätskontrolle und die meisten kanadischen Universitäten sind Mitglied in der Association of Universities and Colleges of Canada (AUCC), weshalb der Standard allgemein als ausgeglichen gilt.Für das Schulwesen sind ausschließlich die Provinzen und Territorien zuständig; es gibt kein landesweites Bildungsministerium. Daher unterscheiden sich in einigen Provinzen Schuleintrittsalter (fünftes oder sechstes Lebensjahr) und Dauer der Grundschulzeit (bis Klasse 6 oder 7). Die Sekundarstufe (in Québec École polyvalente genannt) umfasst in Form einer Gesamtschule die dreijährige Junior Highschool (Sekundarbereich I) und die zwei- bis vierjährige Senior Highschool (Sekundarbereich II). Da das Bildungssystem Chancengleichheit anstrebt, erfolgt der Übergang von einer Schulstufe in die andere ohne Leistungsprüfung. Erst innerhalb der Senior High School ist der Erwerb des Abschlusszeugnisses (High School Diploma bzw. Diplôme d’Études Secondaire) davon abhängig, ob eine bestimmte Zahl von Bewertungspunkten (Creditpoints) erreicht wird. Zwei Prozent der Schulen liegen in privater, überwiegend kirchlicher Hand. Etwa zehn Prozent der Schüler besuchen eine Privatschule. Das Leistungsniveau der Privatschulen galt 2006 als sehr hoch und Kanada war der einzige OECD-Staat, in dem deren Schüler selbst nach Abgleich des familiären und sozioökonomischen Hintergrundes mehr lernten, als die Schüler an öffentlichen Schulen.Während der Schulbesuch kostenfrei ist, werden an den Hochschulen Studiengebühren unterschiedlicher Höhe fällig. Von den über 80 Universitäten zählen die University of Toronto und die Universität Montreal zu den größten. Die ältesten sind die Universität Laval in Québec von 1663, eine jesuitische Institution, die nach Bischof Laval benannt wurde. Dies berührt einen Grundzug der kanadischen Hochschulentwicklung, denn die frühen Institutionen waren fast alle kirchlichen Ursprungs. Erst 1818 entstand die erste säkulare Hochschule und die zweite Kanadas, die Dalhousie University in Halifax. Ihr folgten die beiden englischsprachigen Institute, die McGill University in Montreal (1821) und die University of Toronto (1827). Ihnen folgten in den 1840er-Jahren die Queen’s University in Kingston (1841) und die Universität Ottawa (1848). Letztere geht wie die Laval-Universität auf einen Missionsorden zurück, in diesem Falle auf die Oblaten der Unbefleckten Jungfrau Maria. Nach der Unabhängigkeit im Jahr 1867 folgten die von einem anglikanischen Bischof gegründete University of Western Ontario in London (1878) und die im selben Jahr gegründete Universität Montreal (die zweite von vier Hochschulen in der Stadt) sowie die McMaster University in Hamilton in Ontario. Letztere wurde ursprünglich in Toronto gegründet und zog erst 1930 nach Hamilton um. Sie geht auf die Baptist Convention of Ontario zurück. Colleges verleihen meist nur 3- bis 4-jährige Bachelor-Abschlüsse (z. B. Minors, Majors, Spezialication, Honours), Universitäten auch 1-jährige konsekutive „post-bachelor“ Bachelor mit Honours-/Baccalaureatus Cum Honore-, 1- bis 3-jährige Master- und 3- bis 5-jährige Ph.D.-Abschlüsse. In diversen Hochschulrankings nehmen einige kanadische Universitäten Spitzenpositionen ein: Beispielsweise war in der langjährigen Durchschnittsbewertung des in Nordamerika am weitesten verbreiteten Rankings, der QS World University Rankings, im Jahr 2018 die McGill University innerhalb Kanadas auf Platz 1 und weltweit auf Platz 28. Laut dem Academic Ranking of World Universities (Shanghai-Ranking) aus dem Jahr 2018 (Jiaotong-Universität Shanghai) zählen die University of Toronto auf Platz 23 und die University of British Columbia in Vancouver auf Platz 43 zu den besten Hochschulen. Die First Nations besitzen seit 2003 eine eigene Universität, die First Nations University of Canada in Regina, der Hauptstadt der Provinz Saskatchewan. 1989 begannen die bedeutendsten Universitäten sich zusammenzuschließen, um Forschungsvorhaben zu koordinieren. Seit 2011 besteht die Gruppe als U15 Group of Canadian Research Universities, zu der ein nunmehr geschlossener Kreis von 15 Universitäten zählt. 2016 studierten über eine halbe Million ausländische Studenten an kanadischen Bildungseinrichtungen. Die größte Gruppe davon kam aus der Volksrepublik China.Im PISA-Ranking von 2015 erreichen Kanadas Schüler Platz 10 von 72 Ländern in Mathematik, Platz 7 in Naturwissenschaften und den zweiten Platz beim Leseverständnis. Kanadische Schüler gehörten damit zu den besten von allen teilnehmenden Ländern und schnitten deutlich besser ab als die aus den benachbarten Vereinigten Staaten. Die Studie stellte zudem fest, dass Schüler aus Ontario und British Columbia die besten Leistungen erbrachten. === Umweltpolitik === → Siehe auch: Klimapolitische Maßnahmen Kanadas Die Umweltpolitik Kanadas hat ungewöhnliche naturräumliche Grundlagen, vor allem ist aber die Gemengelage der Interessen eine spezifisch kanadische. Kanadas Natur ist zum bedeutendsten Faktor für den Tourismus geworden. Dazu tragen 43 National- und weit über 1500 Provinzparks sowie weitere Schutzgebiete bei, die vor allem riesige Waldgebiete beinhalten. Der älteste von ihnen ist der Banff-Nationalpark von 1885, der inzwischen über autobahnartige Straßen dem Massentourismus erschlossen wird. 1911 entstand Parks Canada (gleichberechtigt auch Parcs Canada) als älteste Nationalparkverwaltung der Welt. Doch kollidieren touristische, Erhaltungs-, Erholungs- und wissenschaftliche Interessen mit den Verwertungsinteressen der Rohstoffindustrie und gelegentlich den Interessen der Ureinwohner. Intakte Urwälder (old growth) existieren in Kanada auch nach drei Jahrhunderten des Raubbaus aufgrund der geringen Besiedlungsdichte noch auf enorm großen Flächen. Nach Global Forest Watch Canada sind noch 62 % der borealen Wälder und 30 % der gemäßigten Wälder intakt (natürliche Ökosysteme, die im Wesentlichen vom Menschen unbeeinflusst sind). Der Raubbau an der Grenze zu den besiedelten Gebieten ist jedoch immens und hat dort nur noch kleine Urwaldreste zurückgelassen. Ohne den Widerstand von Umweltschutzorganisationen wie Greenpeace, die in Vancouver gegründet wurde, oder dem Western Canada Wilderness Committee sowie den lokalen Indianern würden auch diese Urwälder sicherlich nicht mehr existieren. Die Unternehmen der Holzindustrie sind so eng mit den politischen Eliten der Provinzen verbunden, dass erst internationaler Druck und häufig Zwang der Bundesregierung und der Gerichtshöfe die Bestände in einigen Fällen retten konnten (vgl. Clayoquot Sound). Dagegen haben sich Wissenschaftler und zahlreiche Umweltverbände zusammengeschlossen, und die lange unbedeutende Green Party of Canada konnte bei der Wahl von 2008 knapp sieben Prozent der Wähler gewinnen.Nach einer Studie der Simon Fraser University, die auf Betreiben der David Suzuki Foundation durchgeführt wurde, liegt Kanada bei dreißig untersuchten Staaten bei der Produktion von Atommüll und Kohlenstoffmonoxid auf dem hintersten Rang. Zudem nimmt es beim Wasserverbrauch den 29. Platz ein. Insgesamt rangieren Kanada, Belgien und die USA am unteren Ende der Staatengruppe. Im Oktober 2008 versuchten sich mehrere hundert Wissenschaftler gegen die Diskreditierung ihrer Arbeit durch die Regierung zur Wehr zu setzen. Gleichzeitig fanden in Victoria die größten Demonstrationen der letzten 15 Jahre gegen die Abholzung der letzten Urwälder auf Vancouver Island statt.Eine weitere Gefahr für die Urwälder, aber ebenso sehr für die riesigen nachgewachsenen Wälder stellte der in Kanada Mountain Pine Beetle genannte Bergkiefernkäfer dar. Er vernichtete mehrere Millionen Hektar Wald.Die über 250 Staudämme, die rund 58 % der in Kanada 2007 produzierten Strommenge von 612,6 Milliarden Kilowattstunden produzieren halfen (wovon Kanada über 2016 73 Milliarden Kilowattstunden exportierte), werden inzwischen ebenso kritisch mit Blick auf ihre Umweltbilanz betrachtet wie der Abbau der Bodenschätze. In beiden Fällen kam es nicht nur zu häufigen Zwangsumsiedlungen der Ureinwohner wie der Innu in Labrador, sondern auch zu erheblichen Umwelt- und Gesundheitsbelastungen wie beim Abbau der Athabasca-Ölsande in Alberta. Am 14. Oktober 2008 lehnten die Cree, denen die rechtlich privilegierte Rolle der Provinzen gegenüber der Bundesregierung in Fragen der Bodenschätze und der Stromgewinnung und gegenüber den indianischen Nationen bewusst ist, den „Grünen Plan“ der Quebecer Provinzregierung daher ab. Er hätte zudem Québec erneut die Verwaltung des riesigen James-Bay-Gebiets zurückgegeben, die die Cree nach langen Verhandlungen erst 2002 errungen hatten. Seit 2009 kämpfen drei lokale Cree-Gruppen mit internationaler Unterstützung um den Wald im Broadback-Tal, einen großen zusammenhängenden borealen Urwald am Rand der Holzeinschlagszone. Im Nordosten British Columbias kam es allein 2005 bis 2008 zu sieben von der Polizei als höchst gefährlich eingeschätzten Anschlägen auf Gasleitungen der Encana Corporation, in denen stark giftiger Schwefelwasserstoff transportiert wird.Am 29. April 1998 unterzeichnete die Regierung das Kyoto-Protokoll und verpflichtete sich, die Treibhausgas-Emissionen bis 2012 um sechs Prozent zu senken. Stattdessen stiegen die Emissionen von 1990 bis 2004 um mehr als ein Viertel. Beim Klimaschutz-Index 2008 lag Kanada auf Platz 53 von 56 untersuchten Staaten, womit das Land beim Kohlenstoffdioxid-Ausstoß nur noch vor Saudi-Arabien, den USA und Australien rangiert. Im Dezember 2011 erklärte der Staat kurz nach der UN-Klimakonferenz in Durban seinen Rückzug vom Kyoto-Protokoll. Damit sparte Kanada 14 Milliarden Dollar (10,5 Milliarden Euro) an Strafzahlungen für das Nichteinhalten der im Protokoll gesetzten Ziele. Unter anderem trägt die Ölsandindustrie erheblich zum steigenden Treibhausgasausstoß des Landes bei.Rechtlich liegt der Umweltpolitik vor allem der Canadian Environmental Protection Act von 1999 zugrunde. Das zuständige Ministerium ist das Department of the Environment unter Leitung von Jim Prentice (seit 2008). Ihm unterstehen neben anderen Organisationen Parks Canada und der Canadian Wildlife Service. Jede Provinz hat zudem ein eigenes Umweltministerium. == Wirtschaft == Kanada gehört zu den wohlhabendsten Ländern der Welt. Gemessen am nominalen Bruttoinlandsprodukt lag es 2020 mit umgerechnet 1,6 Billionen US-Dollar auf dem 9. Platz, bei der Kaufkraftparität mit 1,9 Billionen internationalen Dollar auf Platz 15. Beim Bruttoinlandsprodukt pro Kopf liegt der Staat 2020 mit 43.295 US-Dollar auf Platz 20, sowie kaufkraftbereinigt mit 48.759 US-Dollar auf Platz 25. Das Entwicklungsprogramm der Vereinten Nationen schätzt Kanada aufgrund seines Index der menschlichen Entwicklung als Land mit „sehr hoher menschlicher Entwicklung“ ein. Der Staat gilt zugleich als soziale Marktwirtschaft. Im Global Competitiveness Index, der die Wettbewerbsfähigkeit eines Staates misst, belegt Kanada Platz 14 von 141 Staaten (Stand: 2019). Im Index für wirtschaftliche Freiheit belegt das Land 2022 den 15. Platz von 161 Ländern.Kanada war, laut einer Studie der Bank Credit Suisse aus dem Jahre 2017, der Staat mit dem achtgrößten nationalen Gesamtvermögen weltweit. Der Gesamtbesitz der Kanadier an Immobilien, Aktien und Bargeld belief sich auf insgesamt 7.407 Milliarden US-Dollar. Das Vermögen pro erwachsene Person beträgt 259.271 Dollar im Durchschnitt und 91.058 Dollar im Median (Deutschland: 203.946 bzw. 47.091 Dollar). Der Gini-Koeffizient bei der Vermögensverteilung lag 2016 bei 73,0 was auf eine mittlere Vermögensungleichheit hindeutet. Sowohl Einkommen als auch Vermögen sind in Kanada gleichmäßiger verteilt als in den benachbarten USA.Der Mindestlohn unterscheidet sich in jeder Provinz und wird von den einzelnen Provinzen selber festgelegt. Beschäftigte des Staates Kanada erhalten mindestens den Mindestlohn, der in der Provinz gilt, in der sie beschäftigt werden. 2017 lag er zwischen 10,72 (Saskatchewan) und 13,00 Dollar (Nunavut). Von diesem Mindestlohn kann in einigen Bundesstaaten für verschiedene Beschäftigungsgruppen (z. B. für Beschäftigte die Trinkgelder erhalten oder für Jugendliche) abgewichen werden. Ebenfalls haben einigen Bundesstaaten jährliche automatische Anpassungen (z. B. Anpassung an Teuerungsraten) eingeführt. Überdurchschnittlich hoch ist der Anteil der Urproduktion, also des primären Wirtschaftssektors, was auf den Reichtum an natürlichen Ressourcen zurückzuführen ist. Die in der Provinz Ontario abgebauten Mengen an Nickel decken etwa 20 % des Weltbedarfs, Kanada besitzt mit rund 28 Milliarden Tonnen die drittgrößten Erdölreserven nach Venezuela und Saudi-Arabien (Stand 2017), verfügt über zehn Prozent des weltweiten Waldbestands, dazu bedeutende Vorkommen von Schwefel, Asbest, Aluminium, Gold, Blei, Kohle, Kupfer, Eisenerz, Kaliumcarbonat, Tantal, Uran und Zink. Vor der Küste der Atlantischen Provinzen liegen umfangreiche Vorkommen an Erdgas, in Alberta die Athabasca-Ölsande. Wald und Wasserkraft bilden die Grundlage für die Zellstoff- und Papierindustrie. Zahlreiche Stauseen liefern Strom und bilden damit das Rückgrat der Energieproduktion. Allein 360.000 GWh stammten aus Wasserkraft, womit Kanada knapp hinter China der zweitwichtigste Stromproduzent auf diesem Sektor ist. In Kanada werden über elf Prozent des Weltstrombedarfs gedeckt, und es ist eines der wenigen Industrieländer, die Netto-Exporteure von Energie sind. Die Verbindung innerhalb Nordamerikas ist dabei inzwischen so eng, dass sich riesige, grenzüberschreitende Versorgungsverbünde entwickelt haben, wie die Western Interconnection, die bis nach Mexiko reicht. Weitere Energielieferanten sind Gas, Öl, Uran (18 produzierende Kernkraftwerke) und regenerative Energien. Kernkraftwerke lieferten 2010 genau 85.219,889 von insgesamt 565.519,793 GWh Strom, also rund 15 % des Stroms. Insgesamt waren in Kanada Ende 2020 Windkraftanlagen mit einer Leistung von 13,58 GW installiert (2017: 12,24 GW, 2018: 12,82 GW, 2019: 13,41 GW). Damit lag der Staat weltweit auf Rang 9. Der größte Windpark mit 364 MW befindet sich in der Provinz Québec im Gemeindeverband La Côte-de-Beaupré. Kanada ist aufgrund seiner hohen Überschüsse einer der größten Lieferanten von landwirtschaftlichen Erzeugnissen, doch ist das Produktspektrum in den Prärieprovinzen sehr eng; im Mittelpunkt steht dabei ganz überwiegend Weizen, bei dessen Produktion Kanada 2003 mit 50,168 Millionen Tonnen an achter Stelle nach Frankreich stand. Hinzu kommt Viehwirtschaft, vor allem Rinderzucht, in den letzten Jahren auch wieder die kommerzielle Zucht von Bisons. An den Küsten wird Fischzucht betrieben, die jedoch mit dem Fang von Wildfischen in Konflikt steht. Dabei ist British Columbia der größte Exporteur von Lachs und Heilbutt. Die Zentren der Industrie liegen im Süden der Provinzen Ontario und Québec, vor allem in den Großräumen von Toronto und Montreal. Dabei spielen die Automobil- und die Luftfahrtindustrie eine bedeutende Rolle, hinzu kommen Metallindustrie, Nahrungsmittelverarbeitung sowie Holz- und Papierindustrie. Ebenfalls eine bedeutende Rolle spielen die chemische und die elektrotechnische Industrie, vor allem aber der Hightech-Bereich. Dies hängt mit dem Niedergang der großen Automobilkonzerne in den USA zusammen, der vor allem die Zulieferer und Dépendancen im Ballungsraum Toronto trifft. Alle Industrien, die sich dem Sektor der Gas- und Ölförderung anlagern, konzentrieren sich hingegen im Großraum Calgary, doch leidet diese prosperierende Industrie jüngst unter rapidem Preisverfall bei steigenden Explorationskosten. Dies hängt zum Teil mit geologisch bedingten Hemmnissen zusammen, mit dem inzwischen sehr hohen Lohnniveau und dem wachsenden Widerstand gegen die Zerstörungen der Umwelt. Dennoch entwickelte sich Kanada 2018 zum weltweit viertgrößten Förderer von Rohöl.Die Exporte betrugen 2007 36,7 % und die Importe 32,8 % des BIP. Bei weitem wichtigster Handelspartner waren dabei die USA mit 76,4 % der Exporte und 65,0 % der Importe. Kanada belegt nach der EU, den USA, Japan und der Volksrepublik China den fünften Platz in der Weltaußenhandelsstatistik. Der Außenhandel ist weitgehend frei, nur in wenigen Schlüsselbereichen sind ausländische Investitionen auf Minderheitsbeteiligungen beschränkt. Mit Abstand am meisten Bedeutung besitzt der Dienstleistungssektor mit 66 % (2008) Anteil am Bruttoinlandsprodukt, gefolgt von der Industrie mit 32 % und der Landwirtschaft mit knapp 2 %. Sieben der zehn größten kanadischen Unternehmen – wenn man den Umsatz zugrunde legt – sind allein im Banken- und Versicherungsbereich tätig. War die Wirtschaft in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts noch weitgehend auf den Export nach Europa orientiert, vor allem in das Britische Empire, so wurden die Handelsbarrieren zum Nachbarstaat USA nach dem Zweiten Weltkrieg allmählich weitgehend abgebaut. Ein erster wichtiger Schritt war das 1965 vereinbarte Canada-United States Automotive Agreement (auch Auto Pact genannt), das die Grenzen für die Automobilindustrie vollständig öffnete. Das Kanadisch-Amerikanische Freihandelsabkommen von 1988 schaffte die Zölle zwischen beiden Ländern ab und führte zu einem deutlichen Anstieg des Handelsvolumens und der US-Investitionen in Kanada. Mit dem Nordamerikanischen Freihandelsabkommen wurde diese Freihandelszone 1994 auf Mexiko ausgedehnt. Weitere Freihandelsabkommen bestehen unter anderem mit der EFTA. Kanada ist Mitglied zahlreicher wirtschaftspolitischer Organisationen, wie der Welthandelsorganisation, der OECD, des Internationalen Währungsfonds, der Weltbank und der G7. Als eine der größten Schwächen der kanadischen Wirtschaft hat die OECD die mangelnde Umsetzung von Erfindungen in verwertbare Patente eingeschätzt. Daher stieß die Regierung 2007 ein Programm namens Mobilizing Science and Technology to Canada’s Advantage an. Es soll die geringe Zahl der Patente erhöhen und zu mehr Investitionen im Forschungs- und Entwicklungsbereich anregen. Es soll zugleich die Zusammenarbeit von staatlichen Bildungseinrichtungen und industriellen Komplexen fördern. Zudem wurden Centres of Excellence in Commercialisation and Research eingerichtet sowie ein College and Community Innovation Program. Die größte Arbeitnehmervertretung bildet der Canadian Labour Congress (CLC) oder französisch der Congrès du travail du Canada (CTC) mit seinen rund hundert Einzelgewerkschaften in 136 Distrikten, die nach eigenen Angaben drei Millionen Mitglieder haben. Er ist 1956 aus dem Zusammenschluss von Trades and Labour Congress of Canada (TLC) und Canadian Congress of Labour (CCL) hervorgegangen. Während die TLC ähnlich wie in Europa nach Branchen organisiert war, war die CCL nach Orten organisiert und umfasste dort alle Gewerbe. Zudem hatte der TLC die Liberalen unterstützt, während bei der CCL Anhänger der sozialistischen Co-operative Commonwealth Federation vertreten waren. Zugleich integrierte sie die kommunistische Workers Unity League (WUL), als sie 1939 ein Bündnis gegen den Faschismus bildeten. Auch die in British Columbia ansässigen International Woodworkers of America galten als kommunistisch, wurden aber 1948 integriert. Wenig später wurden die Kommunisten ausgeschlossen. Die CLC spielte eine wichtige Rolle bei der 1962 erfolgten Gründung der New Democratic Party und bekämpfte gemeinsam mit ihr das Freihandelsabkommen mit den USA. Vorsitzender des CLC ist seit 1999 Kenneth V. Georgetti. Closed Shops sind rechtlich zulässig und in vielen Branchen üblich. Die Finanzkrise ab 2007 blieb nicht ohne Wirkungen auf die kanadische Wirtschaft. Betroffen waren zunächst die Finanzdienstleister, die sich in Toronto ballen, wo die Toronto Stock Exchange (TSX) die drittgrößte Börse Amerikas darstellt, aber auch die Immobilienindustrie, und mit der Insolvenz von Nortel im Januar 2009 auch die Ausrüster für Telekommunikationsunternehmen. Unter diesen Unternehmen ist BCE (Bell Canada Enterprises) das älteste und größte. Im 4. Quartal 2008 gingen die Exporte um 17,5 % zurück. Die Arbeitslosigkeit lag im August 2009 jeweils bei 8,7 % (September 2007 5,9 %). Im April 2022 lag sie bei 5,2 %. === Kennzahlen === === Staatshaushalt === Der Staatshaushalt umfasste 2016 Ausgaben von umgerechnet 594,0 Mrd. US-Dollar, dem standen Einnahmen von umgerechnet 514,5 Mrd. US-Dollar gegenüber. Daraus ergibt sich ein Haushaltsdefizit in Höhe von 2,4 % des BIP. Die Staatsverschuldung betrug 2016 1.406 Mrd. US-Dollar oder 92 % des BIP. Trotz der hohen Staatsverschuldung werden kanadische Staatsanleihen von der Ratingagentur Standard & Poor’s mit der Bestnote AAA bewertet (Stand 2018).Der Staatshaushalt finanziert das funktionierende System des kanadischen Finanzausgleichs. == Medien == === Presse === Die erste Zeitung auf dem Gebiet Kanadas war John Bushells Halifax Gazette, die 1752 erschien. In Neufrankreich existierten keine Zeitungen, doch gründeten William Brown und Thomas Gilmore aus Philadelphia die zweisprachige Quebec Gazette in Québec. 1785 entstand durch Fleury Mesplet, den die Briten wegen seiner Aufforderung zum Anschluss an die USA inhaftiert hatten, das heute älteste Blatt, die Montreal Gazette. 1793 folgte in Niagara-on-the-Lake die erste Zeitung in Ontario, die Upper Canada Gazette. Diese frühen Blätter hingen weitgehend von Zuwendungen der Regierung und von Anzeigenerträgen ab, kaum von Käufern und Abonnenten. Dies sollte sich in Kanada als Dauerzustand erweisen. In Québec entstanden 1805 und 1811 der City Mercury und in Montreal der Herald als Sprachrohre der dortigen Händlereliten, während Le Canadien (1806) und La Minerve (1826) die Frankophonen vertraten. Gegen diese Kolonial- und Händlereliten wandte sich in Ober-Kanada der Colonial Advocate, den William Lyon Mackenzie herausbrachte und der die Reform- und Farmergruppen vertrat. Ähnliches galt für Joseph Howes Novascotian (1824) in Halifax. Die meisten Zeitungen hingen von Parteien ab, insbesondere den Reformern (den heutigen Liberalen) und den Konservativen, und zwar meist als Organe bestimmter politischer Führer. So war der Toronto Globe (1844) die Stimme des Reformers George Brown, die Toronto Mail (1872) hingegen wurde bald zur Stimme von John Macdonald, dem ersten Premier Kanadas. Ähnlich organisierten 1899 Geschäftsleute den Toronto Star zugunsten von Wilfrid Laurier um. Dagegen kauften wiederum die dortigen Konservativen die Toronto News 1908 als Parteiorgan. Jede größere Stadt hatte folglich ein liberales und ein konservatives Blatt, das die jeweilige Klientel versorgte. Bis in die 1930er-Jahre hinein blieben die Quebecer Blätter dabei von der jeweiligen Regierung abhängig. Blätter, die nicht einer der Führungsgruppen angehörten, wie die kommunistische Presse, wurden immer wieder verboten. Der von streikenden Druckern 1892 gegründete Toronto Star ging – wie die meisten Arbeiterzeitungen – ein. In Québec erließ die Regierung Maurice Duplessis den Padlock Act, der ihre Zeitungen traf. Noch 1970 übte die Regierung eine Art Zensur aus, als es in der Oktoberkrise zu Entführungen kam. Der erste Versuch einer Tageszeitung, der Montreal Daily Advertiser, ging nach einem Jahr 1834 in den Konkurs. Doch 1873 gab es bereits 47 Tageszeitungen, 1913 gar 138. Im äußersten Westen erschien der British Colonist ab 1858, die Manitoba Free Press 1872, der Saskatchewan Herald 1878 und das Edmonton Bulletin 1880. Die Verbreitung des Radios ab den 30er-Jahren und des Fernsehens ab den 50er-Jahren kostete die Zeitungen viele Werbekunden, so dass 1953 nur noch 89 Tageszeitungen existierten. 1986 erholte sich die Zahl wieder auf 110, doch nur noch acht Städte hatten zwei oder mehr Tageszeitungen. Heute gehören die meisten Zeitungen zu großen Konglomeraten der Medienindustrie. Die Erlaubnis, in beiden Bereichen der Medien, Fernsehen und Printmedien, Unternehmen zu erwerben, war lange umstritten, doch seit Brian Mulroney gibt es darin keine Begrenzung mehr. Im englischen Sprachraum ist Postmedia Network führend, sie bieten in den meisten Provinzhauptstädten die führende Tageszeitung an. 90 % der frankophonen Zeitungen gehören drei Medienunternehmen: Pierre Karl Péladeaus Quebecor Inc., der allein die Hälfte der Gesamtauflage liefert, Paul Desmarais’ Gesca und Jacques Francœurs UniMédia. Schon 1950 beherrschten die vier größten Medienunternehmen 37,2 % des Gesamtmarktes, 1970 waren dies 52,9 %, 1986 gar 67 %. 80 % der Einnahmen stammen dabei aus Werbung, nur 20 % aus Verkaufserlösen. === Radio === Mit dem Radio experimentierte zunächst Guglielmo Marconi ab 1896, 1901 gelang ihm die erste drahtlose Signalübertragung über den Atlantik von Cornwall nach Neufundland. Weil die Radiotechnik zunächst eher der Kontaktaufnahme zu Schiffen diente, unterstand die Aufsicht über den Radiotelegraph Act von 1913 dem Minister für Marine und Fischerei. Die Überlebenden der Titanic verdankten ihre Rettung den von Marconi gesendeten Radiowellen. Er war auch der erste, der 1919 eine private Sendelizenz in Kanada erhielt. 1928 bestanden bereits 60 Radiostationen. Dennoch stellte eine Kommission unter Leitung von John Aird in diesem Jahr fest, dass viele Kanadier US-Stationen lauschten. Erst 1932 entschied das britische Judicial Committee of the Privy Council, dass der Staat die Oberaufsicht über die Radiokommunikation zu Recht beanspruche. 1936 begann die öffentliche Canadian Broadcasting Corporation (CBC) ihren Sendebetrieb, der seit 1932 von der Radio Commission begonnen worden war. Bis dahin hatte sich die Zahl der Radioempfänger binnen fünf Jahren auf eine Million verdoppelt. Die heutige Struktur der CBC ist ein Produkt der Weltwirtschaftskrise: Es entstanden nur fünf zentrale Sender, deren Sendungen von privaten Distributoren weitergeleitet wurden. So entstand ein gemischtes System staatlicher und privater Sender, in dem den privaten Sendern nur eine regionale Ausstrahlung gestattet wurde. Kanada wurde eines der Länder mit den meisten Radiostationen, und eines der ersten mit Satellitensendern. Dennoch ist die US-amerikanische Konkurrenz stark vertreten. === Fernsehen === Seit 1952 gibt es Fernsehen in Kanada, wobei die CBC die Regulierungsaufgaben wahrnahm und zugleich der bedeutendste Sender wurde. Auch hier dienten private Netzwerke als Distributoren für CBC-TV. Einer Kampagne der Privatsender gegen das CBC-Monopol folgte der Broadcasting Act von 1958 unter John Diefenbaker. Es entstand ein 15-köpfiger Board of Broadcast Governors (BBG), der die Anträge für neue Sender annahm und eher Privatsender förderte. Das TV expandierte schnell, und 1961 entstand ein zweites Netzwerk, CTV. Zwischen BBG und CBC kam es zu heftigen Streitigkeiten, so dass 1968 die Lizenzvergabe an die Canadian Radio-Television Commission (heute Canadian Radio-Television and Telecommunications Commission, CRTC) vergeben wurde, die auch das 1968 etablierte Kabel-TV an sich zog. Der Anspruch auf „Schutz, Bereicherung und Stärkung der kulturellen, politischen, sozialen und ökonomischen Struktur Kanadas“, wie es im Gesetz heißt, sollte dabei gewahrt werden. Dennoch führten Sparmaßnahmen in den letzten vier Jahrzehnten zu einer zunehmenden Abhängigkeit von Werbeetats und Einschaltquoten. Dabei sind US-Sender über Kabel praktisch überall zu empfangen. Folglich besetzen sie im englischsprachigen Kanada rund 75 % der besten Sendezeit, während dieser Anteil in Québec nur bei 40 % liegt. Hier spielt TVA die wichtigste Rolle. Inwiefern das Internet die entstandene Medienmacht relativieren kann, ist noch offen, zumal alle etablierten Medien in diesem neuen Markt zunehmend engagiert sind. Die Interessen der unabhängigen Medienunternehmen vertritt seit 1948 die Assoziation der kanadischen Film- und Fernsehproduktion. == Verkehr == Die Hauptverkehrsachse des Ostens verläuft entlang dem Sankt-Lorenz-Strom durch Ontario und Québec und verbindet Toronto, Montreal, Québec und Ottawa miteinander. Der gesamte Norden des Landes ist verkehrsmäßig wenig erschlossen, da hier, außer in den Gebieten der Rohstoffförderung, kaum Bedarf besteht. Die Ballungsräume des Westens sind, wie im Osten, hauptsächlich nahe der amerikanischen Grenze durch Verkehrssysteme verbunden, sieht man einmal von der Anbindung Edmontons ab. Dies ist vor allem dem politischen Willen der kanadischen Regierung zu verdanken, die allein durch drei transkontinentale Eisenbahnlinien und diverse Stichbahnen die weit auseinander liegenden Provinzen miteinander verbinden wollte. Davor war dies durch Kanäle geschehen, nach der Eisenbahnepoche folgten Straßenbauten, schließlich Fluglinien. === Straßen === Das Straßensystem Kanadas hatte 2011 eine Gesamtlänge von 1.042.300 km und ist damit das siebt-längste der Welt. Asphaltierte Straßen hatten eine Länge von 415.600 km, wovon 17.000 km Autobahnen waren. Nach China und den Vereinigten Staaten hatte Kanada damit das drittlängste Autobahnnetz. Das dichteste Straßennetz befindet sich im Bereich der höchsten Bevölkerungsdichten in den Atlantikprovinzen, in Süd-Ontario, in Québec entlang des St. Lorenz, in den südlichen Prärieprovinzen und im Bereich der Frasermündung um Vancouver. Als ein alle Provinzen verbindendes Element wurde von Victoria am Pazifik bis St. John’s am Atlantik der Trans-Canada-Highway gebaut, mit 8000 km eine der längsten Straßen der Welt. In den Ballungsräumen und als Verbindung zwischen größeren Zentren ist diese Straße als Autobahn ausgebaut. Durch Ontario führen zwei Routen dieser Straße, eine nördlichere und eine südlichere. Der Trans-Canada-Highway ist die einzige Bundesstraße Kanadas. Die übrigen Landstraßen, auch die Autobahnen, werden von den Provinzen gebaut und unterhalten. Die verkehrsreichste Autobahn Kanadas bildet das Rückgrat des Québec-Windsor-Korridors, in Ontario mit der Straßennummer „401“. Mit 16 Spuren durch den Ballungsraum Toronto gehört der 401 zu den breitesten Autobahnen der Welt. Nach Norden führen nur wenige Straßen, von denen die meisten wegen großer Baumaßnahmen (Staudämme, Bergbau etc.) gebaut wurden, oder aus militärischen Gründen entstanden (zum Beispiel der Alaska Highway). In Kanada von Bedeutung sind Überlandbusse. Jede Region verfügt über ein ausgedehntes Busnetz; die größte Busgesellschaft Greyhound Canada stellte jedoch im Mai 2021 im Nachgang zu den wirtschaftlichen Folgen der Corona-Krise den nationalen Betrieb ein. Aufrechterhalten wird lediglich der grenzüberschreitende Verkehr in die U.S.A.In Kanada herrscht Rechtsverkehr und die Geschwindigkeiten sind in km/h angegeben. Das Nationalitätskennzeichen ist CDN (nicht CND für Canada) und steht für Canadian Dominion. Dieses wird auch als Abkürzung in Herkunftsangaben z. B. bei Spielfilmen verwendet. Der Straßenverkehr des Landes gilt als weitestgehend sicher. 2013 kamen in Kanada insgesamt 6,1 Verkehrstote auf 100.000 Einwohner. Zum Vergleich: In Deutschland waren es im selben Jahr 4,3 Tote. Das Land hat eine im weltweiten Vergleich hohe Motorisierungsrate. 2016 kamen im Land 662 Kraftfahrzeuge auf 1000 Einwohner. === Flugverkehr === Zur Überwindung der großen Entfernungen ist der Inlandsflugverkehr von erheblicher Bedeutung. Etwa 75 Fluggesellschaften, darunter Air Canada, die mit 34 Millionen transportierten Passagieren größte Fluggesellschaft Kanadas, Westjet Airlines und Porter Airlines sorgen für regionale Flugverbindungen. In Westkanada fliegen Air BC, die inzwischen zu Jazz Aviation gehören und Horizon Air, in Ostkanada Air Alliance (Sitz in Québec) und Air Ontario (Ontario). Im Norden fliegen Gesellschaften wie Air Creebec (im Besitz der Cree), Air North (Whitehorse), Bearskin Airlines, Canadian North (Yellowknife) oder Air Inuit (Dorval) sowie First Air (Ottawa), die im Besitz von Inuit sind. Air Transat und Air Canada fliegen auf internationalen und innerkanadischen Strecken, wobei Air Canada 1937 aus einer Eisenbahngesellschaft hervorging. Flughäfen mit interkontinentalen Verbindungen befinden sich in Toronto, Montreal, Calgary, Ottawa, Edmonton, Vancouver, Québec, Halifax sowie Winnipeg. 1909 flog das erste kanadische Flugzeug 800 m weit (in Baddeck), 1915 entstand mit der Curtiss JN-3 das erste Serienflugzeug. Im Ersten Weltkrieg stellte Kanada bereits 22.000 Mitarbeiter bei den Luftstreitkräften, obwohl die Canadian Air Force erst 1920 entstand. In den 30er-Jahren erfolgte ein massiver Ausbau der Flughäfen, so dass mehr als die Hälfte der gesamten Luftfracht in Kanada bewegt wurde und das Land 1945 587 Flugplätze aufwies. 1937 wurde Trans-Canada Airlines gegründet, aus der 1964 Air Canada hervorging. 2009 wurde der 23. Februar zum National Aviation Day erklärt.Die Stadt Montreal ist Sitz der zwei weltweiten Zivilluftfahrtorganisationen, der IATA und der ICAO. === Eisenbahn === Die Eisenbahn ist im 19. Jahrhundert vom kanadischen Staat umfassend gefördert worden, um die Besiedlungspolitik zu unterstützen und die nationale Einheit zu sichern. Dazu sollten die Distanzen zwischen den Provinzmetropolen durch transkontinentale Eisenbahnlinien überwunden werden. Doch seit den 1930er-Jahren ging ihre Bedeutung zugunsten des Straßenverkehrs erheblich zurück und besitzt seither nur noch innerhalb des Québec-Windsor-Korridors große Bedeutung im Personen(nah)- und Güterverkehr. Außerhalb dieses Gebietes beschränkt sich die Bedeutung auf den Massengüterverkehr und den Tourismus, vergleichbar den Schienenkreuzfahrten in Europa. Der überregionale transkontinentale Güterverkehr wird von den beiden Bahngesellschaften Canadian Pacific Railway und Canadian National Railway durchgeführt. Betreiberin des öffentlichen Schienenpersonenverkehrs ist die VIA Rail Canada, der regionale Güterverkehr wird von vielen privaten Gesellschaften betrieben. Zu diesen Hauptlinien kommen zahlreiche Nebenlinien, die zum Teil in privater Initiative wiederbelebt worden sind, wie die Esquimalt and Nanaimo Railway auf Vancouver Island. === Innerstädtischer Nahverkehr === Im Gegensatz zu den Vereinigten Staaten verfügen kanadische Großstädte über eine Vielfalt sehr gut ausgebauter Nahverkehrssysteme. Während in den Metropolen Toronto und Montreal seit den 1950er-Jahren gebaute, klassische U-Bahnen das Rückgrat des innerstädtischen Nahverkehrs bilden, werden in kleineren Großstädten wie Calgary und Edmonton seit den 1980er-Jahren Stadtbahnsysteme (Light Rail) aufgebaut. In den übrigen Städten werden vornehmlich Diesel- und teilweise Oberleitungsbusse eingesetzt; in Ottawa gibt es ein Bus-Rapid-Transit-Netz. Die beiden größten Nahverkehrsnetze liegen in Toronto mit der Toronto Transit Commission und Montreal mit je vier Schnellbahnstrecken und je etwa 150 Buslinien. In Toronto ist außerdem noch ein größeres Straßenbahnnetz mit elf Linien in Betrieb. Der im Zuge der Weltausstellung Expo 86 eröffnete, vollautomatische SkyTrain in Vancouver war lange das längste automatische Transportsystem der Welt. === Schifffahrt === Wichtige Seehäfen befinden sich in den Städten am Sankt-Lorenz-Strom und in Vancouver. Zudem besteht auf den Großen Seen eine bedeutende Binnenschifffahrt. Wo keine natürlichen Wasserwege bestanden, baute man ab Anfang des 19. Jahrhunderts Kanäle. Für die wirtschaftliche Entwicklung Kanadas ab 1821 war der Lachine-Kanal von entscheidender Bedeutung. In Zentralkanada war das Kanu schon seit jeher das gegebene Transportmittel, und auch heute noch sind viele Seen mit Fährschiffen ausgestattet und der Warenverkehr folgt dem Wasser. Manche Orte sind nur über See zu erreichen, wie entlang der Westküste von Vancouver nach Port Hardy auf Vancouver Island oder Prince Rupert gegenüber von Haida Gwaii. Die frühe Erschließung des Landes erfolgte durch das Kanu und durch den Kanalbau, der einen weitläufigen Binnenverkehr ermöglichte. Bis in die 1950er-Jahre trugen Schiffe einen erheblichen Teil der Passagiere, vor allem in abgelegenen Gebieten, doch stellten die meisten Linien, ähnlich wie zahlreiche Eisenbahnstrecken, den Verkehr ein, als die großen Überlandstraßen wie der Alaska Highway entstanden. === Telekommunikation === Im Jahr 2020 nutzten 97 Prozent der Einwohner Kanadas das Internet. Die digitale Infrastruktur gilt insbesondere in den Städten als sehr leistungsstark und eine der besten der Welt. == Kultur == Das heutige Kanada wird überwiegend durch die europäischen Einflüsse der Pioniere, Forscher, Händler und Fischer aus Großbritannien, Frankreich und Irland, regional auch aus Deutschland und Osteuropa geprägt. In jüngerer Zeit wird das Bild in größeren Städten auch von Asiaten (zum Beispiel Vancouver, Toronto) und von Schwarzen aus der Karibik und aus Afrika ergänzt. Viele ihrer Traditionen bleiben weiterhin Teil von Kanada, etwa ihre Nahrung, Sprache, Erzählungen, Geschichte, Feiertage und Sport. Die kulturellen Feste dieser Einwanderer sind ein fester Bestandteil des kanadischen Lebens, zum Beispiel das chinesische Neujahrsfest in Vancouver oder der Caribana-Umzug in Toronto. Viele Kanadier können noch heute ihre Wurzeln zurück zu diesen Ländern verfolgen und sind stolz auf ihre Herkunft. Der in vielen Städten ursprünglich vorherrschende britische Geist wurde mit der zunehmenden Einwanderung aus anderen Ländern weitgehend verwischt. Am deutlichsten ist er noch in Victoria zu erkennen. Dies gilt auch für das frankophone Kanada, das ebenfalls starken Einflüssen durch die Einwanderung ausgesetzt ist. Kanada und Großbritannien teilen einen Abschnitt ihrer Geschichte und Kanada ist Mitglied des Commonwealth of Nations. Beide Länder sind in Personalunion verbunden. Großbritannien ist Kanadas drittgrößter Handelspartner, und von dort kommen nach den USA die meisten ausländischen Touristen. Die Verbindungen Kanadas zu anderen frankophonen Ländern sind in der Organisation internationale de la Francophonie institutionalisiert und es gibt einen regen kulturellen Austausch mit Frankreich. So ist Kanada beispielsweise am französischsprachigen Fernsehkanal TV5 Monde beteiligt. Deutsche Einflüsse sind vor allem in Südontario um die Stadt Kitchener (ehemals Berlin) präsent. In ganz Südontario, besonders im Gebiet von Kitchener sind Orte mit deutschen Namen verstreut. Kitchener wirbt damit, dass dort das größte Oktoberfest außerhalb Münchens gefeiert wird. Seit den 1970er-Jahren sind in Kanada viele Asiaten eingewandert, vorwiegend aus Hongkong, China und Korea. Insbesondere in Vancouver (spöttischer Name: Hongcouver) und Toronto bilden sie starke ethnische Minderheiten und die Chinatowns mit ihren chinesischen Straßen- und Werbeschildern gehören zu den Sehenswürdigkeiten. Die Schaffung und der Schutz einer eigenständigen kanadischen Kultur wird durch Programme, Gesetze und Einrichtungen der Bundesregierung, zum Beispiel der CBC/Radio-Canada, dem NFB (National Film Board of Canada/Office national du film du Canada) und der CRTC (Canadian Radio-Television and Telecommunications Commission/Conseil de la radiodiffusion et des télécommunications canadiennes) unterstützt. === Indigene Kultur === Die Kulturformen der weit über 600 First Nations, wie die Indianer sich ganz überwiegend selbst bezeichnen, sind nicht einheitlich. Innerhalb des Landes, zwischen Stadt und Land, zwischen den ethnischen Gruppen sind die Unterschiede denkbar groß. Die verschiedenen Gruppen entwickelten eigene Identitäten und kulturelle Strukturen. Dabei lassen sich große Kulturareale unterscheiden. An der Pazifikküste war die Kultur von Fischfang dominiert, vor allem vom Lachs, oder vom Walfang, wie bei den Nuu-chah-nulth auf Vancouver Island. Dort finden sich auch die gewaltigen Totempfähle, deren größter über 50 m hoch ist. Im Binnenland dominierten Jagd, Sammeln und Flussfischerei. In den großen Ebenen, den Plains, war die Bisonjagd von zentraler Bedeutung, in anderen der Elch. Durch die Verbreitung des Pferdes entwickelte sich nach 1700 ein Reiternomadismus. An den Großen Seen hingegen dominierte eine agrarische Kultur mit Großdörfern. Die nicht mit den Indianern verwandten Inuit im Norden des Landes, von denen man 2006 genau 50.485 zählte, entwickelten eine überwiegend von den arktischen Lebensumständen geprägte Kultur, die sich in vielerlei Hinsicht auf das ganze Kanada auswirkt. Ein Beispiel dafür stellt das Emblem der Olympischen Winterspiele 2010 in Vancouver dar, ein Inuksuk, das aus aufeinander gestapelten Steinen besteht und eine menschliche Gestalt symbolisiert. Die frühesten kommerziellen Erfolge feierten jedoch die bildenden Künste der Inuit schon seit den späten 1940er-Jahren. Serpentin- und Marmorskulpturen, Arbeiten in Knochen und Karibugeweih, aber auch Kunstgrafik, Wandbehänge und -teppiche, Schmuck, Keramiken und Puppen standen dabei im Mittelpunkt. Ihre Motive und Materialien gingen auf die natürlichen Umgebungen und vorhandene Traditionen zurück, wobei die erzwungene Sesshaftigkeit nun erheblich größere Werke zuließ. Zudem waren die rund 25 Gemeinden, deren Bewohner nicht mehr autark-nomadisch lebten, nun auf Geldeinnahmen angewiesen, zu denen ihnen der Kunsthandel verhalf. Zu den bekanntesten Inuit-Autoren zählen der ehemalige „Commissioner of Nunavut“ Peter Irniq, der Schriftsteller, Dichter, Cartoonist und Fotograf Alootook Ipellie (1951–2007) und Zebedee Nungak (geb. 1951). Aus der Verbindung von Inuit-Musik und amerikanisch-kanadischer Popmusik formten die Inuit eine eigene Musik. Daneben bestehen weiterhin einfache Gesangsformen und der Kehlgesang (Throat singing). Die in Kanada erfolgreichste Sängerin ist die 1967 in Churchill geborene Susan Aglukark. Die Erfolge der Inuit und die der US-amerikanischen Indianer inspirierten die indianischen Künstler Kanadas, eigenständig an eine außerindianische Öffentlichkeit zu treten. Früh bekannt waren dabei die Masken und Totempfähle der Pazifikküste, die noch heute eine wichtige Rolle im Selbstverständnis, aber auch auf dem Kunstmarkt spielen. Ähnlich wie die Literatur verfolgt die indianische Kunstszene aber nicht nur traditionelle Elemente, sondern verbindet sie mit euro-kanadischen Mitteln. Andere Indianerkünstler produzieren losgelöst von diesen Traditionen in deren Genres und mit deren Mitteln. Dabei sind dennoch Künstler mit einem spezifisch indianischen Weg, wie Norval Morrisseau, oder der Bildhauer und Schnitzkünstler Bill Reid, der das Werk Charles Edenshaws fortführte, erst seit den 60er-Jahren anerkannt worden. Meist stehen in der Literatur ökologische Probleme, Armut und Gewalt, entmenschte Technik oder Spiritualität im Vordergrund. Dabei lassen sich die meisten ungern als „Indianerkünstler“ etikettieren. === Musik === Seit der Kolonisierung ab dem frühen 17. Jahrhundert brachten die Einwanderer, je nach ethnischer Zusammensetzung, verschiedene europäische Musiktraditionen nach Kanada. Die Parallelentwicklung zur europäischen Musik ist vom Barock über die Klassik und Romantik bis hin zur Gegenwartsmusik nie abgerissen. Doch fehlten in der Neuen Welt lange die nötigen Ressourcen, um große Aufführungen wie Opern in nennenswertem Umfang durchführen zu können. Erst die Anpassung von Texten, aber auch der Austausch von Elementen zwischen den Einwanderergruppen brachte kanadische Eigenheiten hervor, zu denen Einflüsse aus den USA kamen. John Braham war einer der ersten Sänger, die im ganzen Land bekannt wurden (ab 1841), ähnlich Jenny Lind. Zudem bestanden zahlreiche Kirchenchöre und philharmonische Gesellschaften. Die ersten Gesellschaften dieser Art waren die New Union Singing Society aus Halifax (1809) und die Québec Harmonic Society (1820). Populär waren Balladen, Tanzmusik und patriotische Hymnen. Deutsche brachten erstmals den Klavierbau nach Kanada (Thomas Heintzman), ihm folgte der Orgelbau (Joseph Casavant). 1903 organisierte C. A. E. Harriss den Cycle of Musical Festivals of the Dominion of Canada, an dem sich landesweit über 4.000 Sänger und Musiker in 15 Städten beteiligten. Mit dem Ersten Weltkrieg und der danach anwachsenden Schallplattenindustrie war der Höhepunkt selbst gemachter Musik, aber auch der Operngesellschaften überschritten. Dennoch entstanden vor und nach der Weltwirtschaftskrise Symphonieorchester, insbesondere in den drei größten Städten Montreal, Toronto und Vancouver. Sir Ernest MacMillan war der erste und einzige kanadische Musiker, der zum Ritter geschlagen wurde, und weitere Sänger sangen auf den wichtigsten Bühnen. Erst Feldforscher wie Marius Barbeau, W. Roy Mackenzie, Helen Creighton und zahlreiche andere entdeckten die Volksmusik und die Musik der Indigenen. Wenn man von kanadischer Musik sprach, so war es nun die Gesamtheit der Folkmusik, die man im Land antraf. Doch blieb die Musikausbildung konservativ, d. h. stark angebunden an Großbritannien und Frankreich. Dennoch entstanden in den 1930er-Jahren Musikerverbände, die nach dem Krieg die Suche nach kanadischer Identität auch in der Musik stärkten. Auch wurde diese Musik vom Staat gefördert, Sammlungen traditioneller und indianischer Musik inspirierten die aufgeschlossenere Generation. Publikationen wie The Canadian Music Journal (1956–1962), Opera Canada (seit 1960) und The Canada Music Book (1970–1976) untermauerten diese Entwicklung. Die Abkopplung der kanadischen Musik von der ausländischen Avantgarde endete. Kanadische Musiker beeinflussten die westliche Musik, wie etwa Rock- und Popmusik, in erheblichem Ausmaß, wofür Namen wie Bryan Adams, Paul Anka, Michael Bublé, Leonard Cohen, Céline Dion, Nelly Furtado, Avril Lavigne, Joni Mitchell, Alanis Morissette, Shania Twain oder Justin Bieber stehen. Bekannte Vertreter der Rockmusik sind Rush, Alannah Myles, Billy Talent, die Crash Test Dummies, Nickelback, Saga, Steppenwolf und Neil Young. Zu den bedeutenden Jazzmusikern zählen Paul Bley, Maynard Ferguson, Diana Krall, Moe Koffman und Oscar Peterson. Avril Lavigne, Sarah McLachlan, Sloan und weitere Musiker haben sich der Initiative Canadian Music Creators Coalition (CMCC) angeschlossen und kündigten in einer Grundsatzerklärung an, künftig wieder für sich selbst sprechen zu wollen. Prozesse und das Digital Rights Management (DRM), vor allem aber die staatliche Förderung seien zu verbessern. Die CMCC forderte die Regierung auf, die Künstler gegen die Vermarktungspolitik meist ausländischer und auf einen ausländischen Markt gerichteter Musikkonzerne zu unterstützen. Immer noch von großer Bedeutung ist die Country-Musik, die auch von zahlreichen Indianern gespielt wird. Die Canadian Country Music Association ehrt jährlich die bedeutendsten Künstler mit der Aufnahme in die Canadian Country Music Hall of Fame. Wichtige Interpreten sind bzw. waren etwa Wilf Carter, Hank Snow und Gordon Lightfoot. Auf dem Gebiet der klassischen Musik ist der bekannteste Kanadier sicherlich Glenn Gould (1932–1982), der einer breiteren Öffentlichkeit als begnadeter Interpret vor allem der Werke Johann Sebastian Bachs bekannt ist. Berühmtheit erlangte der damals 22-Jährige im Jahr 1955 mit einer aufsehenerregenden Einspielung der Goldberg-Variationen. Seit 1987 vergibt eine nach dem Musiker benannte Stiftung den Glenn-Gould-Preis. Auch die Symphonieorchester in Montreal und Toronto haben Weltruf, die Kammermusik hat einen erstklassigen Rang: Tafelmusik und das St. Lawrence String Quartet haben verschiedene Preise gewonnen. Sänger wie Jon Vickers, Russell Braun und Michael Schade, der Flötist Robert Aitken sowie der Pianist Marc-André Hamelin und die Liedbegleiterin Céline Dutilly sind bekannte Interpreten. Auch Werke der Komponisten R. Murray Schafer und Claude Vivier werden regelmäßig aufgeführt. === Film === Als erster Filmemacher gilt James Freer (1855–1933), ein Farmer, der ab 1897 Dokumentationen vorführte. 1917 richtete die Provinz Ontario das Ontario Motion Picture Bureau ein, um Filme zu Unterrichtszwecken drehen zu lassen. Bereits im folgenden Jahr entstand das Canadian Government Motion Picture Bureau. Auf Anraten von John Grierson, der als Vater des britischen und kanadischen Dokumentarfilms gilt, wurde 1939 der National Film Act verabschiedet, ein Gesetz, das es gestattete, Propagandafilme für Kriegszwecke zu drehen. 1950 wurde das Aufgabenspektrum des dazu gegründeten National Film Board of Canada beauftragt, Kanada den Kanadiern zu erklären, aber auch Nichtkanadiern. Mit der Canadian Film Development Corporation, aus der später Telefilm Canada hervorging, förderte der Staat Filmproduktionen. Das für das Kulturerbe verantwortliche Department of Canadian Heritage stockte 2001 die Mittel für Telefilm Canada auf. Den gleichen Zielen dient die Auszeichnung mit dem Genie Award, die jedes Jahr für die besten kanadischen Filme erfolgt. Kanada ist auch als Hollywood des Nordens bekannt. Wichtigste Produktionsstätten kanadischer und US-amerikanischer Filme sind heute Vancouver, gefolgt von Montreal und Toronto. Dabei ist Alliance Films das einst größte Medienunternehmen, heute nur noch ein Rechtehändler. Der französische Film ist innerhalb von Kanada häufig erfolgreicher als der englische, weil der Quebecer Filmmarkt von US-Produktionen kaum direkt erreicht wird. Das kanadische Autorenkino gewinnt dank erfahrener Cineasten wie Atom Egoyan (der bei der Berlinale 2002 Präsident der Jury war), David Cronenberg, Denys Arcand und Léa Pool, aber auch durch junge Filmemacher wie Jean-François Pouliot, Denis Villeneuve, Don McKellar, Keith Behrman und Guy Maddin immer mehr an Bedeutung. Filmregisseure wie Jean-Claude Lauzon („Night Zoo“ (1987), Léolo (1992)) und Denys Arcand (unter anderem „Der Untergang des amerikanischen Imperiums“ (1986), „Jesus von Montreal“ (1989) und „Joyeux Calvaire“ (1996), „Die Invasion der Barbaren“ (2003)) haben dem kanadischen Film zu internationaler Geltung verholfen. Bekannte kanadische Schauspieler sind: Mary Pickford, Glenn Ford, Lorne Greene, Raymond Massey, Walter Huston, Jack Carson, Raymond Burr, Christopher Plummer, Donald Sutherland, Kiefer Sutherland, Geneviève Bujold, Keanu Reeves, Dan Aykroyd, Pamela Anderson, Hayden Christensen, Leslie Nielsen, John Candy, Jim Carrey, Michael J. Fox, Mike Myers, William Shatner, Bruce Greenwood, Ryan Gosling, Ryan Reynolds, Carrie-Anne Moss und Sandra Oh. Wie man durch diese Aufzählung erkennen kann, sind viele kanadische Schauspieler häufig in Hollywood-Produktionen tätig und genießen internationales Ansehen. === Theater === Das kanadische Theater, das aus einer starken mündlichen Tradition hervorgeht, hat nicht nur weltweit bekannte Regisseure wie Robert Lepage oder Denis Marleau hervorgebracht, sondern auch eine große Anzahl von Theaterautoren, die in verschiedene Sprachen – unter anderem auch ins Deutsche – übersetzt werden. So sind in jüngster Zeit zum Beispiel Texte von Michel Marc Bouchard, Daniel Danis, Michel Tremblay, George F. Walker, David Young und Colleen Wagner von deutschen Ensembles aufgeführt worden. === Literatur === Die kanadische Literatur ist anfangs dadurch gekennzeichnet, dass sie häufig von Autoren stammt, die entsprechend ihrer ethnischen Herkunft bestimmte Erwartungen an das Land herantrugen. Daher erscheint das Land oft als abweisend mit Blick auf seine Natur, als kulturelle Wüste, die von außen belebt wird, und als Rohstoff für Karriere und Investitionen. Dabei spielten auch Erwartungen und Stereotype des Publikums von der Wildnis, unvorstellbarer Weite, von der Einführung der Zivilisation vor allem durch Europäer eine große Rolle. Doch überwiegt inzwischen der Drang, die eigene Kultur, die sich entwickelt hat, in ihrem Reichtum zu erfassen, ohne die Wurzeln abzuschneiden. Historisch gesehen flossen vor allem französische, englische und irische Stile zusammen, die in ihren Heimatländern en vogue waren. Doch schon in den Reiseberichten entwickelte sich ein kanadisch geprägtes Genre, wie bei Samuel Hearne (1745–1792), Alexander MacKenzie, David Thompson, Catharine Parr Traill (1802–1899) oder Anna Jameson (1794–1860), wobei das Spektrum vom romantisierenden Abenteuerbericht (John R. Jewitt, 1783–1821) bis zur präzisen Analyse reicht (Susanna Moodie: Roughing It in The Bush, oder Forest Life in Canada, 1852). Mit der Konföderation (1867) stellte sich die Frage nach der nationalen Kultur. Ab Ende des 19. Jahrhunderts dominierten vier Figuren die literarische Szene: Duncan Campbell Scott (1862–1947), Charles G. D. Roberts (1860–1943), Archibald Lampman (1861–1899) und Bliss Carman (1861–1929), die auch als Confederation Poets (oder auch „Confederation Group“) bekannt waren. Während des 19. Jahrhunderts drangen indigene (igloo) und lokale Wortschöpfungen (moose) in die Literatur ein, aber auch französische (gopher) in die englische und umgekehrt. Dennoch wird die englische Sprache im ganzen Land verstanden und von übergreifenden Sprachstandards dominiert. In der französischen Literatur kommt als weiteres Element eine starke Anbindung an Frankreich und seinen Lebensstil hinzu, woraus sich eine Skepsis gegenüber dem als britisch aufgefassten Rest-Kanada partiell erklärt. Ein hervorstechendes Merkmal kanadischer Literatur ist der Humor, der allerdings eher untergründig, zuweilen schwarz, und oft als Understatement eingesetzt wird. Dabei spielen regionale Traditionen des Erzählens und des Anekdotischen eine wichtige Rolle, weniger die Themenwahl – es sei denn, es handelt sich um lokale Besonderheiten oder Unterschiede zwischen den ethnischen Gruppen. Zu den häufig anzutreffenden Motiven zählt die „garrison mentality“ (Bunkermentalität), die Entfremdung von der Heimat, in die man zurückkehrt, die Fremdheit im eigenen Land oder der spezifischen Kultur, aber auch das Zelebrieren der Wildnis, die für spirituelle Gesundung sorgt. Kanadier sind besonders ausgeprägt an der Geschichte ihrer Vorfahren interessiert, und so existiert eine große Zahl von biographischen Versuchen zu den historisch bedeutsamen Männern und Frauen. Doch auch dort sind Klischees fast unausweichlich. So gilt das katholische Québec als mysteriös, Ontario als zwischen moralischer Klarheit und Lavieren hin- und hergerissen, die Prärien als isolierend und besitzergreifend, die Westküste als Projektionsfläche für Hoffnungen und Erwartungen, die man selbst entlarven muss. Dabei steht das Landleben überproportional im Vordergrund, während die Städte lange beinahe ignoriert wurden. Dagegen waren Autoren wie Frances Brooke (1724–1789), Susanna Moodie (1803–1885), Sara Jeannette Duncan (1861–1922) und Nellie McClung (1873–1951) die Analytikerinnen des politischen Lebens, das sich in den Städten ballt. Ein Gegensatz besteht zwischen der Wahrnehmung Europas und der des Nachbarn USA. Europa gilt als Hort der Verfeinerung, aber auch der extremen Regionalisierung, der Nachbar als Land der sozialen Härte und der Fixierung auf ökonomischen Erfolg. Der Erste Weltkrieg brachte die Außenwelt wieder stärker in den Blick, und zugleich schärfte die Einwanderung die Aufmerksamkeit auf die zahlreichen Kulturen, auch die der Indianer, die nun selbst begannen, sich auszudrücken. Die Malerin und Autorin Emily Carr (1871–1945) war hier für den Westen von größter Bedeutung, wenn sie auch in British Columbia lange auf Ablehnung stieß. Die Weltwirtschaftskrise brachte eine zunehmende Beschäftigung mit sozialen Problemen mit sich, der Zweite Weltkrieg wiederum zwang zur Beschäftigung mit Fragen der Macht, der Not, des Todes und wiederum der Heimkehr. Nach dem Krieg unterwarf Merrill Denison (1893–1975) den übertriebenen Nationalismus einer satirischen Betrachtung, und auch Autoren der Linken kritisierten den politischen und wirtschaftlichen Weg und die zunehmende Dominanz der USA. Zugleich machten sich in Québec antiklerikale Autoren deutlicher bemerkbar. Unter dem öffentlichen Optimismus der 1950er und 1960er Jahre entdeckten Malcolm Lowry (1909–1957) (Under the Volcano, 1947) und Ethel Wilson (1888–1980) (Swamp Angel, 1954) Alkoholprobleme und die Enge des Frauenlebens in dieser Zeit. Materielle Unterstützung und ein größeres Publikum sorgten in den 60er-Jahren für ein Anwachsen des literarischen Marktes, Zeitschriften wie Canadian Literature und Journal of Canadian Studies erschienen, dazu kamen Paperbackausgaben, die erschwinglicher waren. Nischenmärkte entstanden, deren Publikum dennoch Autoren ernähren konnte. Sowohl die einzelnen Kulturen, als auch Frauen meldeten sich verstärkt zu Wort, wie etwa Margaret Atwood. Seit den 70er-Jahren hat sich das Interesse an kanadischer Literatur verstetigt. So sind Autoren wie Leonard Cohen, Pierre Vallières, Margaret Atwood, Michel Tremblay und Michael Ondaatje auch außerhalb der Staatsgrenzen bekannt. Zugleich entstand ein riesiger Markt für populäre Literatur innerhalb des Landes, wie die von Joy Fielding oder Douglas Coupland (Generation X). Nach etwa 1985 wurden staatliche Mittel in einer konservativeren Phase zurückgefahren. Verlage wie Coach House Press, Deneau, Williams-Wallace mussten schließen. Zudem ließ Kanada stärkere ausländische Konkurrenz zu, vor allem aus den USA. Autoren wie Timothy Findley (1930–2002) versuchten sich gegen Restriktionen zu wehren, indianische Literatur fand Vertreter in Eden Robinson (Haisla, geb. 1968), Jeannette C. Armstrong (Okanagan), die das Schulsystem kritisierte, der Satiriker Thomas King (Cherokee) oder der Dramatiker Tomson Highway (Cree). Daneben traten eher poetische Autoren wie Rita Joe (Mi’kmaq), Marilyn Dumont (Métis) oder Alootook Ipellie (Inuit). 2013 erhielt Alice Munro den Nobelpreis für Literatur als „Virtuosin der zeitgenössischen Kurzgeschichte“. === Bildende Kunst und Architektur === Wie in den meisten Künsten, so ignorierten die ersten Zuwanderer aus Europa weitgehend die Kunst der Ureinwohner. Sie brachten schon in ihren ersten Wohngebäuden und befestigten Hofanlagen sowie naturgemäß im Festungsbau (zum Beispiel Louisbourg) und in Stadtanlagen europäische Traditionen mit. Auch die Dörfer des frankophonen Kanada lagern sich wie in Frankreich um die Kirche, wobei die Missionskirchen und die Kirchen von Québec meist als Vorbilder dienten. Als Material herrschten Stein und Holz vor, Ziegel sind selten. Ähnlich wie in der Bildhauerei kamen die in Frankreich und England vorherrschenden Stile jedoch, bedingt durch die Kommunikationsverhältnisse, mit deutlicher Verspätung an. Das galt auch für die Übernahme der Klassik, nachdem die Briten Kanada erobert hatten. Dennoch nahm die Malerei zwangsläufig die Ureinwohner auf, denn sie sollten für die Berichterstattung bei Hof dargestellt werden. Sie waren zum Teil von großer Genauigkeit, wie die Indianer- und Inuit-Porträts von John White (etwa 1540 bis etwa 1593), oder die Zeichnungen von Louis Nicolas (Codex canadiensis). Ende des 18. Jahrhunderts brachten Briten und die aus den USA geflohenen Loyalisten neue Einflüsse, die sich vor allem in den neuen Siedlungen, wie Toronto, dominierend bemerkbar machten. Es kam sogar zu einem Goldenen Zeitalter der Québecer Malerei, wobei der Stil europäisch blieb, doch die Motive wurden kanadischer. Der Schweizer Peter Rindisbacher dokumentierte etwa seine Reise durch die Hudson Bay in die Red-River-Kolonie, Paul Kane reiste durch den halben Kontinent. In der Architektur bevorzugte man neo-klassische und neo-gotische Motive, wie in Europa, doch erhielt der britische Einfluss immer mehr Übergewicht. Mit dem repräsentativen Ausbau Ottawas und jeder Provinzhauptstadt versuchte man eine spezifisch kanadische Tradition auszudrücken. Zwischen 1873 und 1914 herrschten historisierende Stile vor, wobei sich die mitgebrachten Stile anderer europäischer Völker, wie der Italiener bemerkbar machten. Mit der Industrialisierung drangen neue Bautypen, wie Stahlbrücken oder Bahnhöfe vor, neue Materialien, vor allem Metalle dominierten. Dazu kamen Glas und schließlich Beton. James Wilson Morrice gilt als Vater des Modernismus in der Malerei. In der Skulptur herrschten historische Monumente auf Plätzen vor, vor allem Kriegsdenkmäler nach dem Ersten Weltkrieg. Doch weiterhin herrschte hierin Europa vor, bis hin zum Art déco. Die Group of Seven versuchte eine kanadische Malerei zu entwickeln; sie bezog ihre Inspiration aus der Landschaft. Als eine der ersten nahm Emily Carr dabei nicht nur die spezifische Landschaft des Westens auf, sondern auch die grandiose Kunst der Indianer der Pazifikküste. John Lyman gründete 1939 die Contemporary Arts Society, und über Quebec kamen kubistische Einflüsse, dort entstand die Gruppe der Automatistes. Gegen sie und den Surrealismus entstanden die Plasticiens, allen voran Guido Molinari und Claude Tousignant, Struktur- und Farbfragen traten stärker in den Vordergrund. Ähnlich in Toronto, wo sich Jack Bush und Harold Town gegen den abstrakten Expressionismus wandten. Dabei versuchten diese Gruppen sich zugleich gegen den Einfluss der USA abzusetzen. Ähnliches galt für Bildhauer wie Robert Murray oder Armand Vaillancourt. Hingegen unterscheidet sich die Architektur kaum von der internationalen. Der Fotograf Yousuf Karsh gehörte zu den bedeutendsten Porträtfotografen des 20. Jahrhunderts. In der Bildenden Kunst hat sich Kanada in Europa durch innovative Künstler einen Namen gemacht. Jeff Wall, Rodney Graham, Ken Lum und Geneviève Cadieux haben fotografische Techniken auf neuartige Weise für sich genutzt. Jana Sterbak hat außergewöhnliche konzeptuelle Environments geschaffen. === Speisen und Getränke === Die Produktion von Nahrungsmitteln hängt stark von den natürlichen Bedingungen ab. Daher weisen die Regionalküchen, wie etwa die der Küstensäume und der Graslandschaften der Prärieprovinzen, entsprechende Schwerpunkte auf. Während etwa an der Atlantikküste der Fang von Hummern, genauer von Hummerartigen (Lobster) einen wichtigen Wirtschaftszweig darstellt, war es an der Westküste der von Wildlachs; letzter wurde allerdings von Lachszuchten fast vollständig verdrängt, so dass einige Lachsarten, die noch vor wenigen Jahren in riesigen Laichzügen zu bewundern waren, inzwischen zu den bedrohten Tierarten gerechnet werden müssen. Neben dem Umgang mit den natürlichen Ressourcen spielen aber auch kulturelle Unterschiede eine beträchtliche Rolle. Der französische Einfluss in Québec ist nicht zu übersehen, es gibt zahlreiche Restaurants mit der entsprechenden Küche. Die Prärieprovinzen sind hierin sehr stark vom mittleren Westen der USA beeinflusst, während sich im äußersten Westen ein starker britischer Einfluss bemerkbar macht, wo der englische Tee im Alltag immer noch seinen Platz hat. Im Süden Kanadas, vor allem auf der Niagara-Halbinsel und im Okanagan-Gebiet sowie im Südosten von Vancouver Island in British Columbia wird Wein angebaut. Der über 200 Jahre alte Weinanbau nahm einen neuen Aufschwung, da ab 1974 erstmals neue Weinbaulizenzen ausgegeben wurden, und weil die Weinbauverbände (Vintners Quality Alliance) auf höhere Qualitäten drängten. Kanadische Weine tragen etwa die Hälfte zum Gesamtkonsum des Landes bei, wobei bis 2006 Vincor International und Andres Wines dominierten. Vincor wurde allerdings vom US-Weinproduzenten Constellation Brands aufgekauft. Spirituosen können nur in besonderen Geschäften oder in Restaurants gekauft werden, die die Bezeichnung Licensed Premises tragen. Viele Restaurants gestatten ihren Gästen, eigenen Wein, Bier oder Ahornsirup mitzubringen. Das Mindestalter für den Alkoholkauf liegt zwischen 18 und 19 Jahren. Die vorherrschende Kaffee- und Fast-Food-Kette ist Tim Hortons, kurz Tim's oder Timmies. Das Unternehmen wurde 1964 in Hamilton, Ontario gegründet und 2014 von Burger King Worldwide Inc. übernommen und gehört damit mehrheitlich zur brasilianische Investmentgesellschaft 3G Capital. 2016 gab es über 3.800 Niederlassungen in Kanada. Der schärfste Konkurrent beim Fast Food ist McDonald’s, im Kaffeesektor das US-Unternehmen Starbucks. === Sport === Der Sport in Kanada ist vielfältig und umfasst zahlreiche Winter- und Sommersportarten. Als Nationalsportart seit 1859 offiziell anerkannt war bis 1994 nur das auf indianische Wurzeln zurückgehende Lacrosse. Es gilt seit 1994 als nationale Sommersportart. Seit 1994 ist Eishockey die nationale Wintersportart. Kanada gilt nicht nur als Mutterland des Eishockeys, sondern gehört auch zu den weltweit erfolgreichsten Ländern. Sieben kanadische Mannschaften sind in der NHL, der bedeutendsten Profiliga der Welt, vertreten. Auch im Lacrosse ist Kanada überaus erfolgreich und besiegte beim World Lacrosse Championship von 2006 in London die USA. Die bei Zuschauern beliebteste Sportart im Sommer ist neben Lacrosse Canadian Football, das große Ähnlichkeiten mit dem American Football aufweist. Das Meisterschaftsendspiel, der Grey Cup, weist bei im Fernsehen übertragenen Sportereignissen die höchste Einschaltquote auf. Ebenfalls auf Interesse stoßen Baseball, Basketball, Cricket, Curling, Fußball, Rugby Union und Softball. Die am häufigsten ausgeübten Einzelsportarten sind Eislaufen, Golf, Leichtathletik, Ringen, Schwimmen, Skateboarden, Skifahren, Snowboarden und Tennis. Da das Land überwiegend ein kühles Klima besitzt, sind die Erfolge bei Wintersportarten tendenziell zahlreicher als bei Sommersportarten. Kanada war Gastgeber zahlreicher internationaler Sportveranstaltungen, darunter die Olympischen Sommerspiele 1976 in Montreal und die Olympischen Winterspiele 1988 in Calgary. Die Olympischen Winterspiele 2010 wurden in Vancouver ausgerichtet. Zudem waren kanadische Städte Ausrichter von vier Commonwealth Games und zahlreichen Weltmeisterschaften. Special Olympics Kanada wurde 1969 gegründet und nahm mehrmals an Special Olympics Weltspielen teil. Der Verband hat seine Teilnahme an den Special Olympics World Summer Games 2023 in Berlin angekündigt. Die Delegation wird vor den Spielen im Rahmen des Host Town Programs von München betreut. === Feiertage === Darüber hinaus gibt es bewegliche Feiertage, wie z. B. den Tag der Familie oder den Louis Riel Day. == Siehe auch == == Literatur == Lori G. Beaman: Religion and Canadian Society. Traditions, Transitions, and Innovations. Canadian Scholars’ Press, Toronto 2006, ISBN 1-55130-306-X Robert Bothwell: The Penguin history of Canada. Penguin Canada, Toronto 2006, ISBN 0-670-06553-6. Heide, Markus und Claudia Kotte. Kanadischer Film: Geschichte, Themen, Tendenzen. Konstanz: Universitätsverlag Konstanz, 2006. ISBN 3-89669-604-1. Albrecht Iwersen, Susanne Iwersen-Sioltsidis: Kanada. Beck, München 1998, ISBN 3-406-39869-3. Ursula Lehmkuhl Hg.: Länderbericht Kanada. Schriftenreihe der BpB, 10200. Bundeszentrale für politische Bildung BpB, Bonn am Rhein 2018 (568 S.) Karl Lenz: Kanada: Geographie, Geschichte, Wirtschaft, Politik. Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 2001, ISBN 3-534-13841-4. Manuel Menrath: Unter dem Nordlicht: Indianer aus Kanada erzählen von ihrem Land, Berlin: Galiani, 2020, ISBN 3869712163 Udo Sautter: Geschichte Kanadas. Beck, München 2007, ISBN 978-3-406-44737-2. Robert Weaver, William Toye: The Oxford Anthology of Canadian Literature. Oxford University Press, Toronto, Kanada 1981, ISBN 0-19-540376-2. == Weblinks == Offizielle Website von Kanada (englisch und französisch) Topographie Kanadas – amtliche Pläne und Karten (Portal) (englisch und französisch) Datenbank inhaltlich erschlossener Literatur zur gesellschaftlichen, politischen und wirtschaftlichen Situation in Kanada, im Juli 2018 6440 Titel zu Kanada, GIGA, Leibniz-Institut für globale und regionale Studien CIA World Factbook: Kanada (englisch) Suchmaske im OPAC der SUB Göttingen, deutschsprachige Schwerpunktbibliothek für Canadiana (Juli 2018: ca. 12.000 Titel) Statistiken zu Kanada (englisch und französisch) Kanada. In: The Canadian Encyclopedia. Abgerufen im 1. Januar 1 (englisch, français). Länderprofil des Statistischen Bundesamtes == Einzelnachweise ==
https://de.wikipedia.org/wiki/Kanada
Australien
= Australien = Australien (amtlicher deutscher Name; englisch Commonwealth of Australia, deutsch veraltet Australischer Bund) ist ein Staat auf der Südhalbkugel der Erde, der die gesamte Landmasse des australischen Kontinents, die ihr südlich vorgelagerte Insel Tasmanien, die subantarktische Macquarieinsel mit ihren Nebeninseln und als Außengebiete die pazifische Norfolkinsel, die Kokosinseln, die Weihnachtsinsel sowie die Ashmore- und Cartierinseln und die Heard und McDonaldinseln im Indischen Ozean umfasst. Seit dem Antarktis-Vertrag von 1933 erhebt das Land auch Ansprüche auf das Australische Antarktis-Territorium. Seine Nachbarstaaten sind Neuseeland im Südosten sowie Indonesien, Osttimor und Papua-Neuguinea im Norden. Australien hat etwa 25,8 Millionen Einwohner und ist dünn besiedelt. Mit einer Fläche von mehr als 7,6 Millionen km² nimmt es unter den Staaten der Erde den sechsten Platz ein. Die Hauptstadt ist Canberra, die größte Stadt ist die Metropole Sydney. Weitere Ballungsräume sind Melbourne, Brisbane, Perth, Adelaide und Gold Coast. Australien ist gemessen an seinem Pro-Kopf- und Gesamtvermögen eines der wohlhabendsten Länder der Welt und belegte 2021 von 191 Staaten den fünften Platz des Index der menschlichen Entwicklung. Das Land verfügt über eine hochmoderne Service- und Dienstleistungsökonomie und über bedeutende Rohstoffvorkommen. Seine Kultur und Wirtschaftskraft machen es zu einem attraktiven Ziel für Migranten, allerdings legt die Migrations- und Asylpolitik Australiens strenge gesetzliche Kriterien für die Einwanderung an. == Begriff == Die Bezeichnung „Australien“ ist etymologisch vom lateinischen Begriff terra australis abgeleitet, was „südliches Land“ bedeutet. Schon in der Antike wurde angenommen, dass es einen südlich gelegenen Kontinent gibt, der terra australis incognita genannt wurde. Die Verbreitung des Namens Australien geht auf den Entdeckungsreisenden Matthew Flinders (1774–1814) zurück, der den Namen Australia nach seiner Umrundung des Kontinents von 1801 bis 1803 in seine händisch angefertigte Karte eintrug und sie in einem Buch über seine Reise im Jahr 1814 publizierte. Am Ende der 1820er Jahre hatte sich der Name Australia allgemein durchgesetzt.Eine andere Version schildert Australien als „zu Ehren des spanischen Hauses Österreich“ so benannt in der Geschichte des Domus Austria, des damaligen Weltreiches des Habsburger, die Maximilian III. bei Franz Guillimann in Auftrag gab.Heutzutage wird die Bezeichnung „Australien“ mehrdeutig verwendet. Geografisch versteht man darunter die zentrale Landmasse des Kontinents abzüglich der Südostspitze des Kontinents vorgelagerten Insel Tasmanien. Politisch dient die englische Bezeichnung „Australia“ als Kurzform der offiziellen Staatsbezeichnung „Commonwealth of Australia“, die die Insel Tasmanien als Bundesstaat sowie die australischen Außengebiete einschließt. Umgangssprachlich bezeichnet man das Land auch als Oz, was sich von der Kurzform des Wortes „Australia“ in der englischen Aussprache herleitet. Die Sammelbezeichnung Down Under fasst die Länder Australien, Neuseeland und deren umliegende Inseln zusammen. == Geografie == Die Fläche des australischen Kontinents umfasst nahezu 7,7 Millionen Quadratkilometer. Davon sind circa 59.000 km² Wasserfläche. Es handelt sich damit um den flächenmäßig sechstgrößten Staat der Erde. Die Küstenlinie ist nach offizieller Vermessung 25.760 km lang. Den tiefsten Punkt des australischen Kontinents bildet der im Bundesstaat South Australia gelegene Salzsee Lake Eyre, der 17 m unter dem Meeresspiegel liegt. Der höchste Punkt der Hauptlandmasse ist der Mount Kosciuszko mit 2228 m, der höchste Berg des ganzen australischen Hoheitsgebiets ist mit 2745 m der auf der unbewohnten Insel Heard gelegene Big Ben. Das australische Kerngebiet ist in drei Zeitzonen aufgeteilt. Die australischen Außengebiete liegen teilweise in anderen Zeitzonen. Australiens Nord-Süd-Ausdehnung von der Kap-York-Halbinsel bis zum Südostkap auf Tasmanien beträgt ungefähr 3860 km. Die Ost-West-Ausdehnung beläuft sich auf circa 4000 km. === Großlandschaften === Es lassen sich geographisch drei Großlandschaften unterscheiden: die östliche, die mittlere und die westliche Großlandschaft. Die westliche Großlandschaft, das Tafelland des westaustralischen Plateaus, nimmt etwa 60 % der australischen Landmasse ein. Hier liegen die großen Trockengebiete der Großen Sandwüste, der Kleinen Sandwüste, der Gibsonwüste, der Großen Victoriawüste und der Nullarbor-Wüste. Kleinere Gebirge wie die MacDonnell Ranges und Inselberge wie der Uluru sind in großer Anzahl vorhanden. Östlich schließt sich die mittlere Großlandschaft, das Sedimentbecken der Mittelaustralischen Senke beziehungsweise das zentrale Tiefland, an. Hier befindet sich mit der Simpsonwüste sowohl die trockenste Region des Landes als auch das größte Fluss-System, das Murray-Darling-Becken. In der mittleren Großlandschaft befinden sich sowohl periodisch austrocknende Süßwasserseen als auch Salzseen. Die Mehrheit der australischen Bevölkerung lebt in der östlichen Großlandschaft; die westliche und die mittlere Großlandschaft sind überwiegend unbewohnbar. Die östliche Großlandschaft umfasst die Übergänge vom Gebirge bis hinunter zur Küstenlandschaft. Dabei sind der Küste des Bundesstaates Queensland Korallenriffe vorgelagert, die in ihrer Gesamtheit das Great Barrier Reef bilden. Das diesen Teil des Landes prägende Gebirge ist der Höhenzug der Great Dividing Range, die sich von Norden nach Süden über 3200 km erstreckt. Tasmanien wird geologisch als Fortsetzung der Gebirgskette der Great Dividing Range angesehen. In den zur Great Dividing Range gehörenden Snowy Mountains befindet sich der Mount Kosciuszko, mit 2229 m die höchste Erhebung der australischen Landmasse. Zwischen dem Gebirge und dem Küstenstreifen liegt die Ökozone von Wäldern gemäßigten Klimas. Die großen Wüsten- und Halbwüstengebiete Australiens gehören komplett zum Outback. Damit werden die weitgehend unbesiedelten Wildnisregionen bezeichnet, die über 70 Prozent der gesamten Fläche ausmachen. ==== Schutzgebiete ==== Anfang Juni 2022 gab es in Australien über 11.000 geschützte Landgebiete mit zusammen über 1,8 Millionen km² Fläche, darunter 12 Weltnaturerbe-Gebiete, 755 Nationalparks (insgesamt rund 353.000 km²) und 91 Indigenous Protected Areas (insgesamt rund 747.600 Millionen km² auf dem Land der Aborigines und von ihnen gemanagt). 1997 im Vergleich 5645 Gebiete mit 0,6 Millionen km². Es gibt mit fast 50 Typen sehr viele verschiedene Arten von Nationalparks und Schutzgebieten: Der stärkste Schutz vor Eingriffen besteht in den beiden internationalen IUCN Schutzgebietskategorien 1a und 1b (Strict Nature Reserve/Wilderness Area), von denen es in Australien über 2.500 Stück gibt (die größten liegen fast ausnahmslos im Outback). === Siedlungen === Die Hauptstadt Canberra, zwischen Sydney und Melbourne gelegen, ist eine Stadt vom Reißbrett, eine Planhauptstadt. Sie entstand als Kompromiss, weil sich Sydney und Melbourne nicht darauf einigen konnten, welche der beiden Städte Hauptstadt des Commonwealth of Australia werden sollte. Die bevölkerungsreichsten Städte sind die Küstenstädte Sydney (5,0 Millionen Einwohner), Melbourne (4,7 Millionen Einwohner), Brisbane (2,3 Millionen Einwohner), Perth (2,1 Millionen Einwohner) und Adelaide (1,2 Millionen Einwohner); die landeinwärts gelegene Hauptstadt Canberra (356.100 Einwohner) liegt nach Gold Coast und Newcastle nur auf Platz 8. === Klima === Durch die globale Erwärmung ist die Wahrscheinlichkeit von Waldbränden und Buschfeuern in Australien gestiegen. Der Klimabericht des Australischen Wetterdiensts und der Forschungsorganisation CSIRO belegt dies. Bereits unterhalb von einem Grad Erwärmung dehnt sich „mit hoher Konfidenz“ die Waldbrandsaison aus. Im Jahr 2019 gab es in Australien Brände auf rund vier Millionen Hektar Fläche. Dies entspricht der Fläche der Schweiz. === Flora und Fauna === == Geschichte == === Vor Ankunft der Europäer === Die Aborigines leben seit mindestens 50.000 Jahren auf dem Kontinent. Galt früher der nördliche Weg über Sulawesi und Neuguinea als die Route der ersten Menschen, die in Australien ankamen, lassen Funde in Osttimor der letzten Jahre den Weg über die Insel Timor wahrscheinlicher wirken. Trotz der isolierten Lage des Kontinents standen die Aborigines in Kontakt zu anderen Kulturen. Bis zur Überflutung der Landbrücke zu Neuguinea vor ungefähr 6000 Jahren bestand ein fast ungehinderter kultureller Austausch zwischen Neuguinea und dem Norden Australiens. Vor circa 4230 Jahren (Stand 2013) kam es infolge der Einwanderung von Menschen vom indischen Subkontinent zu einer Vermischung der Aborigines mit den Neuankömmlingen, was sich an einer plötzlich veränderten Verarbeitung von Pflanzenteilen sowie einer veränderten Herstellungsweise bei Steinwerkzeugen ablesen lässt. Gleichzeitig tauchte der Dingo erstmals auf dem australischen Kontinent auf. Nachdem die neu entstandenen Inseln der Torres Strait vor etwa 1000 Jahren durch melanesische Seefahrer besiedelt wurden, kam es durch die Begegnungen zwischen ihnen und den angestammten Bewohnern des nördlichen Australiens zu einer Vermischung beider Ethnien. Auch Fischer von den Australien nahegelegenen indonesischen Inseln sowie Händler aus den entfernten Gestaden Chinas und Indiens besuchten vermutlich die australischen Küsten seit mehreren Jahrhunderten. Deren kultureller Einfluss wird in vielen Rinden- und Felsmalereien der im Norden ansässigen Aborigines-Stämme wie z. B. der Yolngu auf Milingimbi deutlich. Die Bevölkerungszahl Australiens zum Zeitpunkt der Ankunft der Europäer ist umstritten, Schätzungen für diese Zeit lagen 2007 zwischen 750.000 und 1.500.000 Einwohnern. === Erste Sichtungen durch Europäer === Lange vor der Entdeckung Australiens durch europäische Seefahrer im 17. Jahrhundert stellte der griechische Gelehrte Claudius Ptolemäus bereits in der Antike die Theorie von der Existenz eines Südkontinentes auf, den er „Terra Australis incognita“ nannte. Seiner Theorie zufolge musste dieser Südkontinent als Gegengewicht zu den Landmassen auf der Nordhalbkugel dienen. Diese Theorie hielt sich durch das gesamte Mittelalter bis zur „Europäischen Expansion“ in der Frühen Neuzeit, was dazu führte, dass die Kartografen diesen angenommenen Südkontinent auf ihren Weltkarten eintrugen. Von europäischer Seite erreichten vermutlich bereits im 16. Jahrhundert portugiesische, französische, spanische und vor allem niederländische Seefahrer die Küsten Australiens und gingen an Land. Als erste gesicherte Entdeckung gilt die Ankunft des Niederländers Willem Jansz an der Küste der im Nordosten Australiens liegenden Kap-York-Halbinsel im Jahre 1606. Sein Landsmann Dirk Hartog erreichte 1616 die australische Westküste und betrat die der Küste vorgelagerte und heute nach ihm benannte Dirk-Hartog-Insel. Im Jahr 1619 segelte der niederländische Seefahrer Frederick de Houtman auf einer seiner Forschungsfahrten entlang der Westküste Australiens von der Höhe des heutigen Perth ausgehend nordwärts und stieß auf die später nach ihm benannten Houtman Abrolhos, an denen im Juli 1629 das Handelsschiff Batavia der Niederländischen Ostindien-Kompanie (VOC) unter dem Kommandeur François Pelsaert strandete. Wie Hartog „entdeckten“ später auch 1696 Willem de Vlamingh und 1699 William Dampier die am weitesten westlich liegende Stelle des australischen Kontinents. Die beiden letzten kartografierten Teile der Küste, und Dampier gab ihr den Namen Shark Bay. Da die Landschaft an der Westküste trocken und unfruchtbar wirkte, war das Interesse gering, dieses Land in Beschlag zu nehmen. Deshalb maß keiner der niederländischen Schiffskommandanten diesen Funden eine entscheidende Bedeutung zu. Erst 1642 entschloss sich die Niederländische Ostindien-Kompanie, die geographischen Verhältnisse in diesem Gebiet durch eine gezielte Expedition zu erforschen. Bei dieser Expedition fuhr der Holländer Abel Tasman von Mauritius aus einen weit südlicheren Kurs als frühere VOC-Kommandeure. Er verfehlte dabei zwar vollständig den Kontinent Australien, entdeckte dabei aber die der Südspitze des Kontinents vorgelagerte Insel, der er im Jahre 1644 den Namen „Neuholland“ gab. Diese Bezeichnung wurde von den Briten im Jahre 1824 zu Ehren ihres europäischen Entdeckers Abel Tasman durch den bis heute gültigen Namen Tasmanien ersetzt. Der englische Seefahrer William Dampier stieß 1688 nahe dem King Sound an der Mündung des Fitzroy River auf die australische Nordküste und erreichte, wie schon oben erwähnt, 1699 abermals Australien an seinem westlichsten Punkt. Auf beiden Reisen fertigte Dampier jeweils Aufzeichnungen über die angetroffene Fauna und Flora, die Ureinwohner sowie den Küstenverlauf an. Vor dem Jahr 1770 wurden jedoch von keinem der europäischen Ankömmlinge Gebietsansprüche erhoben. === Kolonisation und weitere Erkundung === Der britische Kommandant James Cook verfolgte im Rahmen seiner ersten Expedition, der Ersten Südseereise (1768–1771), die primär und offiziell dem Zweck diente, den Venustransit am 3. Juni 1769 auf Tahiti zu beobachten, ebenso den geheimen Auftrag, den Ozean um den 40. südlichen Breitengrad zu erforschen, um den postulierten „Südkontinent“ zu finden. Hierbei erreichte er am 28. April 1770 die im Vergleich zur Westküste fruchtbarere Ostküste Australiens und kartografierte diese. Dabei stellte er fest, dass das vom holländischen Seefahrer Willem Jansz zu Beginn des 17. Jahrhunderts bereits entdeckte und teilweise kartografierte Land, das seitdem die Bezeichnung „Neuholland“ trug, und „Neuguinea“ voneinander getrennt waren. Daraufhin nahm er im Juni 1770 die Ostküste „Neuhollands“ für das Königreich Großbritannien formell als Kolonie New South Wales in Besitz. Nachdem die USA von Großbritannien unabhängig geworden waren, suchte die britische Regierung nach neuen Möglichkeiten, Strafkolonien für ihre Sträflinge einzurichten. Ziel war die Ausdünnung der Unterschicht und so führten schon geringe Vergehen zur Verschiffung in die Sträflingskolonie Australien. Am 26. Januar 1788 trafen daher die ersten elf Schiffe der „First Fleet“ („Ersten Flotte“) mit Siedlern und Verurteilten unter der Führung von Arthur Phillip im Port Jackson ein. Die neue Ansiedlung wurde Sydney genannt, zu Ehren des damaligen britischen Innenministers Lord Sydney. Bis 1868 wurden 160.000 Gefangene dorthin verbannt. Von 1801 bis 1803 umsegelte der Entdeckungsreisende Matthew Flinders mit weiteren Forschern und dem Aborigine Bungaree als erster den gesamten Kontinent. ==== Gründung neuer Kolonien ==== 1792 landete eine französische Expedition auf Tasmanien, um das Land zu erkunden. Daraufhin entschieden sich die Briten, auch hier möglichst schnell eine Kolonie einzurichten. 1803 errichteten sie Risdon Cove am Derwent River, ein Jahr später Hobart Town, ebenfalls am Derwent, und George Town am Tamar River. 1825 wurde das damalige Van-Diemen’s-Land zu einer eigenständigen Kolonie erklärt. 1813 gelang es Gregory Blaxland, William Lawson und William Charles Wentworth in New South Wales zum ersten Mal, die Blue Mountains zu überqueren. Der Erfolg der Blaxland-Expedition trug zur Besiedlung der westlich dieses Gebirges gelegenen Gebiete bei. 1824 entstand eine neue Strafkolonie in der Mündung des Brisbane River. Die Abgeschiedenheit dieser Lage sollte die Sicherheit der Kolonie erhöhen. Nachdem jedoch auch freie Siedler verstärkt zu den fruchtbaren Weidegründen des Nordens drängten, gab die Kolonie das Land 1842 zur Besiedlung frei. 1859 wurde Queensland als von New South Wales unabhängige Kolonie ausgerufen. 1835 handelten tasmanische Geschäftsleute den Aborigines 240.000 Hektar in der Gegend des heutigen Melbourne ab und gründen Port Phillip. Obwohl dieser Handel als illegal galt, gab die Kolonieführung dem Druck der wachsenden Bevölkerung nach und musste auch hier das Land offiziell zur Besiedlung freigeben. 1851 separierte sich die neue Kolonie Victoria offiziell von New South Wales. Die Kolonie New South Wales nahm zunächst den gesamten östlichen Teil des Kontinents ein, nur das westliche Drittel blieb weiterhin als Neuholland von den Briten unbeansprucht. Um die Gefahr einer Kolonisierung Westaustraliens durch Frankreich zu verhindern, gründeten die Briten 1827 hier Siedlungen am Swan River. Die Kolonie wurde ursprünglich als Swan River Colony gegründet. Western Australia wurde erst 1829 mit Gründung von Perth ausgerufen. Obwohl ursprünglich keine Sträflinge hierher verschickt werden sollten, forderten die freien Siedler 1850 die Aufhebung dieser Praxis, um die neue Kolonie mit billigen Arbeitskräften auszustatten. South Australia wurde ebenfalls als sträflingsfreie Kolonie geplant. Im Zuge der systematischen Kolonisierung nach Plänen von Edward Gibbon Wakefield wurde Land verkauft, die Erlöse wurden darauf verwandt, freie Siedler in die Kolonie zu bringen. 1836 wurde Adelaide gegründet, im selben Jahr wurde South Australia als Provinz Großbritanniens ernannt. Zu dieser Zeit nahmen die Konflikte zwischen Siedlern und Aborigines zu, es kam zu einer Vielzahl von Massakern. ==== Weg zur Nation ==== Nordöstlich von Melbourne wurde am 22. August 1851 in Victoria Gold gefunden, was die Geschichte Australiens prägte und für mehrere Jahre einen Goldrausch auslöste. Minenarbeiter in Ballarat initiierten im November 1854 den Eureka-Stockade-Aufstand. Die Aufständischen forderten demokratische Reformen, der Aufstand wurde allerdings am 3. Dezember 1854 endgültig von britischen Militärs und lokalen Polizeikräften niedergeschlagen. Da nun Menschen freiwillig nach Australien kamen, konnte das Land nicht mehr gut als Strafkolonie genutzt werden und der Weg zu einer eigenen Nation war geebnet. Zwischen 1855 und 1890 erhielten die einzelnen Kolonien das Privileg des Responsible Government und damit eine größere Unabhängigkeit vom britischen Empire. London behielt allerdings vorerst die Kontrolle über Außenpolitik, Verteidigung und Außenhandel. Nach einem großen Schafschererstreik entstand 1898 „Waltzing Matilda“, die heimliche Nationalhymne Australiens. In den Kolonien begannen die Planungen für einen Zusammenschluss der Einzelstaaten. ==== Der Australische Bund ==== Am 1. Januar 1901 formierten sich die einst voneinander unabhängigen Kolonien zum Commonwealth of Australia. Die erste Hauptstadt Australiens wurde Melbourne. Am 26. September 1907 erhielt der Australische Bund mit dem Dominionstatus die nahezu vollständige Unabhängigkeit vom Mutterland Großbritannien. Im Jahr 1911 wurde das Australian Capital Territory geschaffen, um die neue Hauptstadt Canberra aufzunehmen. Melbourne blieb aufgrund der lang andauernden Bauarbeiten in Canberra aber noch bis 1927 Regierungssitz. Auch das 1863 gegründete Northern Territory wurde aus der Kontrolle der Provinz South Australia in das Commonwealth überführt. Aus Loyalität zu Großbritannien entsandte Australien sowohl im Ersten als auch im Zweiten Weltkrieg Truppen nach Europa. Die Niederlage des ANZAC im ersten Militäreinsatz des Landes in der Schlacht von Gallipoli 1915 gilt vielen Australiern als Geburt der Nation. Mit dem Statut von Westminster von 1931 wurde den Dominions des Empire formal die Unabhängigkeit verliehen. Das australische Parlament stimmte dem aber erst 1942 zu. Der Sezessionsversuch Westaustraliens von 1933 scheiterte. Nach der britischen Niederlage in Asien 1942, insbesondere nach dem Fall von Singapur, und der drohenden japanischen Invasion verlagerten sich die militärischen Aktivitäten ab 1942 von Europa auf den australischen Kontinent. Australien wandte sich zunehmend den USA als neuem starken Alliierten zu. Dies wurde 1951 mit dem ANZUS-Abkommen formalisiert. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde eine aktive Einwanderungspolitik betrieben, die zur Massenimmigration aus Europa führte; nach der Aufgabe der weißen Einwanderungspolitik auch aus Asien und anderen Erdteilen. Dies führte in kurzer Zeit zu starken demografischen Veränderungen, aber auch zu wirtschaftlichem Aufschwung. Im Jahr 1986 gab Großbritannien mit dem Australia Act die letzten Kompetenzen bezüglich der australischen Verfassung ab. Als 1988 der 200. Jahrestag der ersten weißen Siedler gefeiert wurde, wurde dies von lautstarken Protesten der Aborigines begleitet. 1999 stimmte die Bevölkerung in einem Referendum mit einer Mehrheit von 55 % gegen die Schaffung einer Republik und behielt somit formal die Monarchie unter der britischen Krone. == Bevölkerung == Seit dem Beginn des 20. Jahrhunderts hat sich im Englischen zur Bezeichnung der Australier der umgangssprachliche Begriff „Aussie“ sowie dessen alternative Schreibweise „Ozzie“ etabliert. === Demografie === Im Jahr 2021 lebten in Australien 25,8 Millionen Menschen. Die Zusammensetzung der australischen Bevölkerung spiegelt die Einwanderungsmuster des Landes wider. 2,4 % der Bevölkerung bezeichnen sich als zumindest teilweise indigener Abstammung, rund 92 % der Bevölkerung sind europäischer und 7 % asiatischer Abstammung. Rund 85 % der Australier mit europäischen Vorfahren sind britischer beziehungsweise irischer Abstammung. Weitere europäische Herkunftsländer bilden Italien (916.121), Deutschland (898.674), Griechenland (378.270), Polen (170.354), Kroatien (126.270), Nordmazedonien (93.570) und Serbien (69.544). Über 1,3 Millionen Australier haben mindestens einen deutschen Vorfahren. Die asiatischen Einwanderer stammen vorwiegend aus China, Indien, Vietnam, Pakistan und Sri Lanka. 79 % der Bevölkerung sprechen Englisch beziehungsweise australisches Englisch, was es zur am meisten gesprochenen Sprache macht. Je rund 2 % der Bevölkerung sprechen entweder Italienisch oder eine der chinesischen Sprachen. Seitdem in den 1960er Jahren die „weiße“ Einwanderungspolitik Australiens allmählich aufgehoben wurde, verstärkt sich vor allem die Immigration aus den asiatischen Ländern. In den 1990er Jahren wuchs die Bevölkerung durch Einwanderung um 1,4 % jährlich. Mehr als ein Viertel der Bevölkerung ist nicht im Land geboren. Die Anzahl der Geburten pro Frau lagen 2020 statistisch bei 1,8. Die Lebenserwartung der Einwohner Australiens ab der Geburt lag 2020 bei 83,5 Jahren (Frauen: 85,5, Männer: 81,7). Bei Aborigines lag sie um 20 Jahre niedriger (WHO, 1999). Die Kindersterblichkeit liegt bei 4,7 pro 1000 Geburten. Im Jahr 2016 betrug das Median-Alter 38,6 Jahre, womit Australiens Bevölkerung zu den jüngsten der westlichen Welt gehörte.Australien ist sehr stark urbanisiert. Im Jahr 2021 lebten 86 Prozent der Einwohner Australiens in Städten, vor allem in den großen Zentren an der Südostküste, auf Tasmanien und im Großraum Perth. Das Zentrum des Landes ist nahezu menschenleer. === Indigene === Die indigene Bevölkerung des australischen Kontinents setzt sich aus den Aborigines des Festlands und den Torres-Strait-Insulanern zusammen, die auf den Inseln der Torres-Straße zwischen Queensland und Papua-Neuguinea leben. Vor der Ankunft der Europäer betrug ihre Zahl Schätzungen zufolge zwischen 300.000 und 750.000 Menschen. Diese stellten jedoch kein einheitliches Volk dar, sondern gehörten einer Vielzahl verschiedener Gruppen an, die jeweils zwischen 100 und 1500 Menschen umfassten und sich kulturell voneinander unterschieden. Eines der kulturellen Unterscheidungsmerkmale bildete die Sprache. Zu Beginn der Besiedlung durch die Briten im Jahr 1788 wurden von den Ureinwohnern 500 bis 600 unterschiedliche Sprachen und Dialekte benutzt, die den Australischen Sprachen und dem Melanesischen zuzuordnen sind. Die britische Krone deklarierte Australien als „Terra Nullius“ (Niemandsland), also unbewohntes Land, als sie das Land für sich in Anspruch nahm. Damit wurden den Aborigines jegliche Rechte auf ihr Land abgesprochen. Erst 1965 erhielten die Aborigines das Wahlrecht auf nationaler Ebene. Mit der Errichtung einer Zelt-Botschaft vor dem Old Parliament House in Canberra 1972 sollte der Dialog zwischen indigener Bevölkerung und Regierung gefördert werden. Allerdings wurde erst 1992 mit dem Mabo-Urteil die Bezeichnung Australiens als Niemandsland revidiert, wodurch es für Aborigines und Torres-Strait-Insulaner möglich wurde, unter bestimmten Voraussetzungen Ansprüche auf Land zu erheben. Trotz dieser Verbesserungen im Status unterscheidet sich die indigene Bevölkerung Australiens auch heute noch vom Rest der Bevölkerung, vor allem in der Gesundheits-, Kriminalitäts- und Arbeitslosenstatistik. Zwischen 1900 und 1972 wurden in einem staatlichen Programm etwa 35.000 Aborigine-Kinder unter Zwang aus ihren Familien entfernt, in staatliche Institutionen verbracht oder in weiße Familien adoptiert; man spricht von den sogenannten „Gestohlenen Generationen“. Ursprünglich als Programm zum Wohle des Kindes geplant, gilt dieser Akt heute als versuchter Ethnozid und eklatanter Verstoß gegen die Menschenrechte. Mit der wachsenden Aufmerksamkeit für an den Aborigines verübtes Unrecht in der australischen Bevölkerung während des Mabo-Prozesses kam es 1995 zu offiziellen Untersuchungen zu den Kindesverschleppungen. Am 26. Mai 1997 wurden die Ergebnisse dieser Untersuchung in dem Report „Bringing Them Home – Report of the National Inquiry into the Separation of Aboriginal and Torres Strait Islander Children from Their Families“ veröffentlicht. Zum Jahrestag dieser Veröffentlichung wird seitdem der National Sorry Day begangen, zu dem landesweit Versöhnungsveranstaltungen stattfinden. Heute bezeichnen sich 649.171 Australier selbst als indigenen Ursprungs (Stand 2016), also rund 2,8 % der Bevölkerung. 29 % von ihnen leben in New South Wales, 27 % in Queensland, 14 % in Western Australia und 13 % im Northern Territory. Im letztgenannten Territorium stellen sie 25 % der Gesamtbevölkerung, South Australia und Victoria haben nur geringe Anteile indigener Bevölkerung. Die meisten Aborigines haben ihre traditionelle Lebensweise zum größten Teil aufgegeben, das heißt, sie leben heute nicht mehr in der ursprünglichen Stammesform, wie sie seit Tausenden von Jahren existiert. Mehr als 70 % der Aborigines haben sich den übrigen Menschen angepasst und leben heute meistens in Städten. Die Interessen der indigenen Bevölkerung gegenüber der Regierung wurden bis 2005 vor allem von der ATSIC vertreten. Nach deren Auflösung im Juli 2005 wurde die Zuständigkeit auf das Department of Immigration and Multicultural and Indigenous Affairs übertragen. === Religion === Die Mehrheit der Australier gehört christlichen Religionsgemeinschaften an (Quelle: Volkszählung 2016). Dabei bezeichneten sich 22,6 % als römisch-katholisch, 13,3 % als Anglikaner und weitere 16,3 % als Mitglieder anderer christlicher Kirchen. Zum Buddhismus bekennen sich 2,4 %, zum Islam 2,6 % zum Hinduismus 1,9 %. Als konfessionslos betrachten sich 30,1 % der Australier. Von 9,6 % der Bevölkerung wurde die Frage nach der Religionszugehörigkeit nicht beantwortet. === Bildungssystem === Administration und Finanzierung des australischen Bildungssystems werden gemeinsam vom Australischen Bund und den einzelnen Bundesstaaten beziehungsweise Territorien geregelt. Zwischen den Bundesstaaten respektive Territorien gibt es dabei nur geringe Unterschiede. ==== Schulbildung ==== Im Alter von sechs Jahren besuchen australische Kinder im preparatory year für ein Jahr die Vorschule. Danach folgt der Besuch der sechs bis sieben Jahre währenden Grundschule, primary school genannt. Die weiterführenden Schulen, die secondary schools, führen nach weiteren fünf bis sechs Jahren zum regulären Schulabschluss. Eine Unterrichtspflicht besteht in den meisten Bundesstaaten bis zum 15. Lebensjahr, in Tasmanien bis zum 16. Lebensjahr. Mit einem Anteil von 72,3 % der Schüler absolviert die Mehrheit von ihnen die vollen 13 Jahre der Schullaufbahn (Stand 1999). Im PISA-Ranking von 2015 erreichen australische Schüler Platz 23 von 72 Ländern in Mathematik, Platz 14 in Naturwissenschaften und Platz 15 beim Leseverständnis. Die Leistung liegt damit über dem Durchschnitt der OECD-Staaten.Spezielle Förderprogramme gibt es für Schüler abgelegener Gebiete, die durch Fernunterricht ausgebildet werden. Bekanntestes Beispiel ist die Alice Springs School of the Air. Um den Ausbildungsstandard der indigenen Bevölkerung anzuheben, wurde 1989 die National Aboriginal and Torres Strait Islander Education Policy (AEP) verabschiedet. Im Jahr 2000 wurden neue Standards formuliert und ein Aktionsplan für eine effektivere Ausbildung der Aborigines beschlossen. ==== Universitäten ==== Als erste Universität Australiens wurde 1850 die Universität Sydney gegründet. 2022 verfügte Australien über 40 staatliche Universitäten, dazu kommen eine private und zwei internationale Universitäten. 2020 studierten dort 1,496 Mio. Menschen. An den staatlichen Universitäten werden die meisten Studienplätze für Inlandsstudenten von der Regierung gefördert. Der Zugang zu diesen Plätzen hängt hauptsächlich von der Qualifikation der Studenten ab. Diese zahlen ihre Studiengebühren nicht im Voraus, über ein staatliches Programm (HECS-HELP) werden Kredite gewährt. Ein Studium an privaten Universitäten ist nur mit Zahlung von Studiengebühren möglich. Auslandsstudenten können das sogenannte „overseas student program (OSP)“ wahrnehmen, jedoch besteht für Auslandsstudenten („Not Australian citizens or Australian permanent residents“) generell die Verpflichtung zur Zahlung von Studiengebühren. Mit der aktiven Bildungspolitik der australischen Universitäten wird mittlerweile von einem australischen Bildungskontinent gesprochen. Der Bildungssektor ist inzwischen Australiens Haupteinnahmequelle in Milliardenhöhe – noch vor dem Tourismussektor. Insbesondere Studierende der südostasiatischen Oberschichten nehmen die australischen Bildungsangebote gerne an. Das System für das Universitätsstudium entspricht im Wesentlichen dem britischen. == Politik == Der Australische Bund ist eine parlamentarische Monarchie auf demokratisch-parlamentarischer Grundlage nach dem Westminster-System. Der Staat ist föderal organisiert, die einzelnen Bundesstaaten haben jeweils eigene Parlamente mit weitgehenden Kompetenzen zur Gesetzgebung. Frauen durften in Australien seit Juni 1902 auf nationaler Ebene wählen und gewählt werden. Zwar war Australien nach Neuseeland der zweite Staat, der das Frauenwahlrecht einführte, doch beschränkte es sich auf weiße Frauen. Der Commonwealth Electoral Act von 1902 schloss Aborigines aus, auch wenn dies dem Buchstaben des Gesetzes nach nicht unmittelbar erkennbar war. Eine Bestimmung schrieb vor: „Kein Aborigine […] darf seinen Namen auf die Wählerliste setzen.“ Die Aborigines erhielten erst 1962 von der nationalen Regierung das Wahlrecht zugestanden.Im Jahr 1924 wurde für alle volljährigen Australier die Wahlpflicht eingeführt, der sie auf nationaler und bundesstaatlicher Ebene nachkommen müssen. === Nationalfarben === Die farbliche Gestaltung der Nationalflagge Australiens sowie das offiziellen Wappen von Regierungsstellen sind an die Insignien des britischen Königshauses angelehnt. Bis März 1984 hatte Australien jedoch keine eigenen Nationalfarben. Der Generalgouverneur Sir Ninian Stephen erklärte am 19. April 1984 Gold und Grün zu den offiziellen Landesfarben von Australien. Diese offiziellen Nationalfarben sind vom floralen Symbol Australiens, der Gold-Akazie (lat. Acacia pycnanth) abgeleitet, die in Australien Golden Wattle genannt wird. Um ihre Eigenständigkeit gegenüber des britischen Königs zu demonstrieren, verwenden die Australier bei den Farben ihrer Vereine und Sportklubs sehr oft die Nationalfarben, was man sehr gut bei internationalen Wettkämpfen beobachten kann. Daneben gibt es noch die Flagge der Aborigines in den Farben Gelb (für die Sonne), Schwarz (für die Aborigines) und Rot (für die rote Farbe der Erde Zentralaustraliens). Die Flagge wird häufig verwendet. Die Verbreitung der Flagge der Torres-Strait-Insulaner ist dagegen noch gering. === Nationalhymne === 1977 wurde in einer landesweiten Abstimmung Advance Australia Fair zur offiziellen Nationalhymne Australiens gewählt. Schon 1984 wurden an ihr Änderungen vorgenommen, weil vielen Bürgern die britische Ausrichtung der ursprünglichen Version zu weit ging. Die Komposition geht auf Peter Dodds McCormick zurück. Die erste Aufführung fand im Jahre 1878 statt. Für kurze Zeit galt auch Waltzing Matilda, das auf einem Text von Andrew Barton Paterson basiert, neben Advance Australia Fair als Nationalhymne, wurde jedoch bei der Abstimmung auf den zweiten Platz verwiesen. Dennoch erfreut sich Waltzing Matilda großer Beliebtheit und gilt für viele Australier als heimliche Nationalhymne. === Bundesverfassung === Gemäß der Verfassung von Australien setzt sich das Zweikammern-System des australischen Parlaments aus dem Repräsentantenhaus als Unterhaus, dem Senat als Oberhaus und König Charles III. als Staatsoberhaupt zusammen. Der König wird, wie in jedem Commonwealth Realm, durch einen Generalgouverneur vertreten (seit 1. Juli 2019: David Hurley), der jedoch in der Regel keine Macht über das Parlament ausübt. Die 151 Abgeordneten des Repräsentantenhauses werden alle drei Jahre in Wahlkreisen nach dem Mehrheitswahlrecht gewählt. Die Abgeordnetensitze werden der Bevölkerungszahl entsprechend auf die Bundesstaaten und Territorien verteilt. Im Senat ist jeder Staat mit zwölf Senatoren vertreten, die beiden Territorien mit jeweils zwei. Die Senatoren werden jeweils für sechs Jahre gewählt, alle drei Jahre finden Wahlen für die Hälfte der Sitze des Senats statt. Für alle Wahlen auf Bundes- und Bundesstaatsebene besteht eine Wahlpflicht. Die am stärksten vertretene Partei stellt die Regierung, der Vorsitzende dieser Partei wird Premierminister. === Parteien seit 2010 === Die größten Parteien sind die Liberal Party, Labor Party und National Party, wobei in den letzten Jahren entweder national-liberale Koalitionen oder die Labor australische Regierungen bilden konnten. Kleinere Parteien, die international Bekanntheitsgrad erreichen und im australischen Parlament vertreten sind, sind die The Greens und One Nation. Weitere kleinere Parteien haben regionale Bedeutung und sind in den Senaten auf Bundesstaatenebene vertreten. === Regierung === Vom 24. Juni 2010 bis zum 27. Juni 2013 war Julia Gillard von der Australian Labor Party Premierministerin des Australischen Bundes und löste damit Kevin Rudd ab. Dieser war zuvor vom Amt des Regierungschefs und Parteivorsitzenden zurückgetreten, da er keine Unterstützung in der Partei mehr besaß. Gillard kündigte bei ihrem Amtsantritt Neuwahlen in den nächsten Monaten an. Die Parlamentswahlen fanden am 21. August 2010 statt und führten zu einer Nahezu-Patt-Situation zwischen Labor und der National-Liberalen Koalition. Nur mit Hilfe von einigen unabhängigen Abgeordneten hatte die Labor-geführte Regierung eine hauchdünne Mehrheit. Am 27. Juni 2013 wurde Kevin Rudd erneut zum Premierminister gewählt, nachdem er seine Nachfolgerin im Amt wiederum als Parteivorsitzende der Australian Labor Party abgelöst hatte.Bei den Bundeswahlen am 7. September 2013 gewann Tony Abbott von der National-Liberalen Koalition und löste somit den amtierenden Premierminister Kevin Rudd ab. Er wurde am 15. September 2015 nach einer Kampfabstimmung von Malcolm Turnbull abgelöst. Am 24. August 2018 wurde Scott Morrison Premierminister. Er führte die Regierungen Morrison I und Morrison II. Zwei Tage nach der Parlamentswahl am 21. Mai 2022 wurde Anthony Albanese als Premierminister vereidigt. === Staatsoberhaupt === === Politische Indizes === === Bundesstaaten, Territorien und Außengebiete === Australien besteht aus den sechs Bundesstaaten Queensland, New South Wales, Victoria, Tasmania, South Australia und Western Australia, den drei Territorien Australian Capital Territory, Jervis Bay Territory und dem Northern Territory sowie sieben Außengebieten. Sowohl der Australische Bund insgesamt als auch jeder einzelne der Bundesstaaten besitzt ein Parlament, eine eigene Regierung sowie einen eigenen Gouverneur als direkten Repräsentanten des Staatsoberhauptes des Vereinigten Königreiches. Die Außengebiete unterstehen entweder dem Australischen Bund oder einem der Bundesstaaten oder einem Ministerium. Die Wahlen der Senatoren für die Zweite Kammer des Nationalstaates erfolgen nach dem Verhältniswahlrecht mittels Single Transferable Vote. Mit Ausnahme Queenslands, das ein Einkammersystem aufweist, bestehen die Parlamente bei jedem der anderen Bundesstaaten sowie den Territorien aus jeweils zwei Kammern. Die Abgeordneten für die jeweilige Erste Kammer, das Unterhaus, werden in der Regel in Einerwahlkreisen mit Hilfe des Instant-Runoff-Voting, einer besonderen Form des Mehrheitswahlrechts, gewählt. Die Ausnahmen von dieser Regel bilden die Wahlen zu den Ersten Kammern, den Unterhäusern, des Hauptstadtterritoriums (Australian Capital Territory) sowie Tasmaniens. Hier kommt das Verhältniswahlrecht in Form der Single Transferable Vote zur Anwendung. In den meisten der Einzelstaaten kommt diese Form des Verhältniswahlrechts ebenfalls bei den Wahlen der Senatoren für die Zweite Kammer der jeweiligen Parlamente zur Anwendung; eine Ausnahme hierbei bildet die Wahl zur Zweiten Kammer Tasmaniens. Die Bundesstaaten besitzen die ausschließliche Gesetzgebungskompetenz für Bildung, Gesundheit und Verkehrswesen sowie für Polizei und Justiz. Der Chef der Landesregierung eines Bundesstaates wird analog zum nationalen Regierungschef als Premierminister bezeichnet. === Indigene Landrechte === Von den rund 2700 indigenen lokalen Gemeinschaften, die es heute in Australien gibt, befinden sich über 90 % im Outback. Für die Aborigines, die im Outback leben, hat der Besitz und die Nutzung ihres angestammten Landes große Bedeutung. In der Kolonialzeit wurden die Ureinwohner faktisch enteignet und hatten keinerlei Anspruch auf das Land, in dem sie seit mehr als 60.000 Jahren lebten. Nach jahrzehntelangen Verhandlungen verfügen die indigenen Australier heute wieder über verschiedene Formen der Landrechte: Nach den Land Rights Acts der Bundesstaaten und Territorien sind sie Eigentümer einer Fläche, die fast so groß ist wie Fennoskandinavien (2022 etwa 17 % der Landesfläche). Allerdings liegt der überwiegende Teil aller Flächen im Outback und das Landeigentum darin besteht zum größten Teil aus Wüsten und Halbwüsten. Hinzu kommen Besitzrechte nach dem Native-Title-Bundesgesetz, die 2022 für 53 % der gesamten Landesfläche – allerdings in sehr unterschiedlicher Weise je Titel und zum Teil mit erheblichen Einschränkungen – anerkannt wurden. Im Gegensatz etwa zum kanadischen Nunavut sind die australischen Indigenen trotz der großzügig erscheinenden Landrechte rechtlich weit von einer Territorialautonomie entfernt. === Gesellschaftspolitische Probleme === ==== Rassismus und Diskriminierung ==== Auf Grund mangelnder Integration in die Mehrheitsgesellschaft und von Diskriminierung durch diese gehören viele Aborigines zum ärmsten Teil der australischen Gesellschaft. Ihre Kindersterblichkeit ist im Vergleich zur weißen Bevölkerung doppelt so hoch. Sie haben einen erschwerten Zugang zur Bildung. Ihre Arbeitslosenquote ist mit 20 % fast dreimal so hoch wie die der Durchschnittsbevölkerung. Ihre Lebenserwartung liegt im Durchschnitt zehn Jahre unter der der weißen Bevölkerung. Seit den 1960er Jahren rückte zunehmend die Frage nach Landrechten der Aborigines in den Mittelpunkt gesellschaftspolitischer Auseinandersetzungen und erst seit dem Urteil Mabo v. Queensland (No. 2) von 1993 können Landrechte von einem Aborigine-Stamm erfolgreich eingeklagt werden. Seit der verstärkten Einwanderung vorder- und südostasiatischer Migranten mit dem Ende der White Australia Policy in den 1960er Jahren kam es mehrfach zu rassistischen Ausschreitungen wie den Cronulla Riots im Dezember 2005. Seit dem Racial Discrimination Act von 1975 ist Rassendiskriminierung per Gesetz verboten und alle diskriminierenden Gesetze, die in den Staaten oder Territorien noch existierten, außer Kraft gesetzt worden. Durch den bundesweit geltenden „Human Rights (Sexual Conduct) Act – Section 4“ sind homosexuelle Handlungen seit 1994 legalisiert und heute gesellschaftlich weitgehend akzeptiert. In fünf Bundesstaaten existieren Antidiskriminierungsgesetze für Homosexuelle. Die Gleichgeschlechtliche Ehe wurde 2018 eingeführt. ==== Umweltprobleme ==== CO2-EmissionenDie erste Amtshandlung der 2007 gewählten Labor-Regierung von Kevin Rudd war die Ratifizierung des Kyoto-Protokolls. Dies bedeutete, dass durch eine CO2-Steuer (carbon tax), und eine Besteuerung der energieintensiven Bergbauunternehmen, Anreize zur Senkung des Treibhausgas-Ausstoßes gegeben werden sollten. Die gesetzliche Umsetzung stieß auf erheblichen Widerstand sowohl der australischen Bergbauindustrie als auch innerhalb der Labor-Partei, die den von ihr gestellten Premierminister Kevin Rudd abwählte. Da die carbon tax zu höheren Energiepreisen wie z. B. bei den Strompreisen führte, stieß diese Form der Besteuerung auch in der Bevölkerung auf Widerstand. Mit Premierministerin Julia Gillard wurden die sozialen Folgekosten dieser höheren Energiepreise mit einem Maßnahmenpaket kompensiert: Von einer Anhebung des Steuerfreibetrags sowie pauschaler Ausgleichszahlungen (lump-sum CASH-bonuses) profitierten vor allem Geringverdiener wie Pensionäre, Alleinerziehende, Familien mit geringem Einkommen und alleinstehende Geringverdiener. Diese Ausgleichszahlungen erfolgten bereits vor der Einführung der Carbon tax, 2012. Mit diesem Preissignal im Sinne einer ökologisch-sozialen Marktwirtschaft sollten die bisher in Australien kaum genutzten Erneuerbaren Energien relativ gesehen preisgünstiger werden als die im Tagebau günstig abzubauende fossile Kohle. Externalisierte Folgekosten wie die Versauerung der Meere sowie die globale Erwärmung wurden marktwirtschaftlich eingepreist (internalisiert). 2017 stellte in Victoria eines der größten Braunkohlekraftwerke Australiens, das Kraftwerk Hazelwood, seinen Betrieb ein. Dies geschah aus Kostengründen vor dem Ende der genehmigten Betriebserlaubnis, die bis ins Jahr 2031 reichte. Sein im Jahr 2011 geschätzter Kohlendioxid-Ausstoß pro Jahr belief sich auf 17 Millionen Tonnen. NeozoenSeit Jahren bewegt Australien die Frage, wie die Zahl der Kamele in Australien begrenzt werden kann, da diese die Umwelt zunehmend schädigen. 2009 wurde die Zahl der Dromedare auf rund eine Million Tiere geschätzt. Es wurde erwartet, dass sich die Zahl in acht Jahren verdoppele, und es wird befürchtet, dass Teile des Wüstenökosystems Australiens vernichtet werden. Tatsächlich lagen die Schätzungen zu hoch. Nach Abschuss von etwa 160.000 Tieren und weiteren 100.000 Opfern einer Dürre wird die Population auf etwa 300.000 Tiere neu eingeschätzt. Bei der Lösung dieses Problems treten Konflikte zwischen Tier- und Naturschützern auf. Die sehr große Zahl von Hausmäusen stellt ebenfalls ein großes Probleme dar. Besonders in den Bundesstaaten New South Wales und Victoria kam es in den letzten Jahren vermehrt zu Mäuseplagen, die durch die passenden klimatischen Bedingungen noch verstärkt wurden. Die Bekämpfung der Nagetiere erfolgt meist mit Gift; dieses könnte aber Greifvogelpopulation stark beeinträchtigen.Ein weiteres ungelöstes Problem ist die rasche Verbreitung der ausgesetzten giftigen Aga-Kröte, die australische Kleintierpopulationen existenziell bedroht. ==== Aktuelle Migrationspolitik ==== Seit 2001 gibt es eine Australische Migrationszone in der heutigen Form auf See (siehe Karte), die in Folge der Tampa-Affäre von der damaligen australischen Regierung errichtet wurde. Diese Migrationszone sollte verhindern, dass Boatpeople (deutsch: Bootsflüchtlinge) australisches Festland betreten, denn nur auf australischem Boden kann, nach geltendem Recht, ein Asylantrag gestellt werden. Die nationalkonservative Regierung verwirklichte nach ihrem Amtsantritt mit dem Department of Immigration and Border Protection im Jahr 2013 eine Null-Toleranz-Politik gegen Boatpeople, die Operation Sovereign Borders genannt wird. Schiffe mit Flüchtlingen werden bereits auf hoher See abgefangen, entweder zur Rückkehr gezwungen oder die Boatpeople in Internierungslager in Einwanderungshaft genommen. Von 2013 bis Ende 2017 wurden 31 Boote mit Boatpeople vom australischen Grenzschutz abgewiesen oder zur Umkehr gezwungen. Im Haushaltsjahr 2016/2017 beliefen sich die Kosten für den Grenzschutz auf See und an Land auf 4 Milliarden A$.Australien nimmt durchaus Asylsuchende auf. Im Finanzjahr 2015/2016 waren es 8640 Flüchtlinge aus Syrien und dem Irak. Zwischen 2013 und 2014 erteilte Australien 13.800 Flüchtlingen ein Visum, im Vorjahreszeitraum 2012/2013 stellte es noch 20.000 Visa für Flüchtlinge aus. Die obligatorische Abschiebehaft mitsamt anschließender Deportation der Boatpeople in andere Länder sind in Australien wenig umstritten.Am 31. Dezember 2016 befanden sich 1364 asylsuchende Boatpeople in australischen Internierungslagern, darunter 263 auf der Weihnachtsinsel, die anderen waren in Drittländern auf den Inseln Nauru und Manus (siehe weiter unten). Im März 2017 befanden sich auf australischem Hoheitsgebiet acht Lager für Asylsuchende, darunter sind fünf Internierungslager (Immigration detention centres), in denen die Asylsuchenden in Einwanderungshaft festgehalten werden. In weiteren drei gesonderten Einrichtungen (Alternative places of detention) werden Asylsuchende untergebracht, die aufgrund bestimmter Kriterien nicht in Internierungslagern festgehalten werden können. Dort werden sie unter Supervision gestellt und ihnen gewisse Freiheiten gewährt. Die Unterbringung erfolgt in geeigneten Privathäusern, Hotels, Motels und Krankenhäusern. Generell gibt die lagerartige Unterbringung Anlass für Kritik von Menschenrechtsorganisationen. Die dritte Form ist die Unterbringung in der Allgemeinheit (Community placement), die eine Bewegungsfreiheit mit gewissen Auflagen gewährt. Am 31. Dezember 2016 wurden 25.252 Personen gezählt, die sich in Australien mit einem sogenannten Visa E aufhielten, ein sogenanntes Überbrückungsvisum. Es sind Menschen, deren Aufenthalt befristet genehmigt ist und die nach einem Verlassen Australiens nicht mehr zurückkommen dürfen.Eine Besonderheit bildeten zwei Internierungslager, die außerhalb des Hoheitsgebiets von Australien lagen: das Nauru Regional Processing Centre auf Nauru und das Manus Regional Processing Centre auf der Insel Manus in Papua-Neuguinea. Nach Interventionen der UNO und Menschenrechtsgruppen erklärte das Verfassungsgericht von Papua-Neuguinea das Lager auf Manus für rechtswidrig. Reuters berichtete, dass einige Dutzend Asylanten auf Manus finanzielle Angebote der australischen Regierung für ihre Rückkehr in ihre Heimatländer angenommen hätten. Das Flüchtlingslager Manus wurde Ende 2017 geschlossen. Die etwa 380 Menschen wurden in neue Lager verlegt.Gleichzeitig betreibt Australien eine offene Einwanderungspolitik hinsichtlich der legalen Migration. 2020 waren 30 Prozent der Bevölkerung im Ausland geboren, was eine der höchsten Quoten weltweit ist. Australien nimmt vor allem hochqualifizierte Einwanderer auf, die nach einem Punktesystem ausgewählt werden. Migranten in Australien kamen vor allem aus der ehemaligen Kolonialmacht Großbritannien, den asiatischen Ländern wie Indien und China sowie dem Nachbarland Neuseeland. === Außen- und Sicherheitspolitik === In den internationalen Beziehungen wird Australien zumeist als Mittelmacht bezeichnet. Seine ökonomischen und militärischen Ressourcen erlauben es Canberra, auf der internationalen Bühne seiner Stimme Gehör zu verschaffen, allerdings nicht bei jedem Thema und nicht im Alleingang. Gerne sieht sich das Land hierbei als ehrlicher Makler in internationalen Verhandlungen. Das Gewicht Australiens zeigte sich zum Beispiel in den Verhandlungen zur Chemiewaffenkonvention, zum Umweltprotokoll des Antarktisvertrages und im Rahmen der Uruguayrunde.Die Außen- und Sicherheitspolitik Australiens ist von der Gemeinsamkeit der angelsächsischen Kultur des Landes vor allem mit den Vereinigten Staaten, aber auch mit Neuseeland und dem Vereinigten Königreich bestimmt. Als zunehmende Herausforderung erweist sich für Canberra die Aufgabe, die Beziehungen zu den Vereinigten Staaten mit denen zur Volksrepublik China auszubalancieren. Von hoher Bedeutung sind auch die Verbindungen zu Indonesien, Japan und Indien.Im Jahre 2005 wurde ein neues Anti-Terror-Gesetz in Australien eingeführt. ==== Beziehungen zu den USA ==== Australien pflegt eine umfassende wirtschaftliche, wissenschaftliche und militärisch-strategische Zusammenarbeit mit den USA, die sich auch in der Gründung des ANZUS-Bündnisses niederschlug. Nach dem faktischen Ende von ANZUS in den 1980er Jahren nahmen die USA Australien in ihre Liste der wichtigsten Verbündeten außerhalb der NATO auf. Mit dieser Klassifikation genießt Australien in der strategischen Partnerschaft Privilegien, die nicht einmal vielen NATO-Staaten zugänglich sind. Australien ist seit 1945 Mitglied der Vereinten Nationen, seit 1995 Mitglied in der WTO und ist Vertragsstaat des ICC. ==== Beziehungen zu Asien ==== In den 1990er Jahren versuchte der damalige Premierminister Paul Keating Australien näher an seine asiatischen Nachbarn heranzuführen. Dies scheiterte jedoch aufgrund gegensätzlicher Interessen und kultureller Differenzen. Der pro-amerikanische Kurs der konservativen Regierung unter Premierminister John Howard wurde von den benachbarten Staaten weitgehend nicht geteilt, sondern kritisch aufgenommen. Insbesondere Howards Zustimmung zu Bushs Doktrin der sogenannten Präemptivschläge nach den Attentaten von Bali im Oktober 2002 zog sofort offizielle Proteste der Nachbarstaaten Indonesien, Philippinen, Malaysia und Thailand nach sich. Wie seit 1951 sieht auch das aktuelle Weißbuch des Verteidigungsministeriums vor allem im ANZUS-Abkommen mit Neuseeland und den USA den Grundstein der nationalen Sicherheitspolitik, weniger in einer multilateralen regionalen Einbindung. Als weniger bedeutend ist das seit 1971 existierende Five Power Defence Arrangements (FPDA) von Australien, Neuseeland, Großbritannien, Singapur und Malaysia einzuordnen, welches vorsieht, dass die drei Erstgenannten den beiden südostasiatischen Staaten im Falle eines Angriffs zu Hilfe kommen. Seit 1997 führen die See- und Luftstreitkräfte der fünf Länder regelmäßig gemeinsame Manöver durch. ==== Grenzstreitigkeiten mit Osttimor ==== Mit dem nördlich gelegenen Osttimor gab es über Jahre Streit über die Grenzziehung in der Timorsee und die damit verbundene Nutzung der dortigen Erdöl- und Erdgaslager. Während der indonesischen Besetzung Osttimors vereinbarten Australien und Indonesien eine Grenzziehung zu Gunsten Australiens. Mit der Unabhängigkeit Osttimors im Mai 2002 wurde neu verhandelt und man vereinbarte ein 50-jähriges Moratorium betreffs der Grenzfrage und eine gemeinsame Nutzung der Bodenschätze. Eine Einigung nach dem Seerechtsübereinkommen der Vereinten Nationen konnte nicht erzielt werden, weil Australien wenige Monate vor der Unabhängigkeit Osttimors aus dem Regelwerk austrat. 2013 wurde bekannt, dass Australien während der letzten Verhandlungen das Kabinett Osttimors mit Wanzen abgehört hatte. Osttimor verklagte Australien daher vor dem Internationalen Schiedsgericht und pochte auf eine Grenzziehung gemäß dem Seerechtsübereinkommen, womit die Erdöl- und Erdgasfelder alleinig in osttimoresischem Territorium liegen würden. Die Beziehungen zwischen den beiden Ländern waren deswegen angespannt. So hatte seit Antritt der national-liberalen Koalitionsregierung 2013 kein australischer Minister mehr Osttimor besucht. Im Januar 2017 erklärten die Regierungen Australiens und Osttimors, dass der Treaty on Certain Maritime Arrangements in the Timor Sea (CMATS) aufgelöst werden soll. Am 6. März 2018 wurde ein neuer Grenzvertrag von den beiden Staaten unterzeichnet, der die bisherigen Vereinbarungen zugunsten Osttimors abänderte. ==== Beziehungen zur Europäischen Union ==== In den Beziehungen zwischen der EU und Australien stehen seit Jahrzehnten ökonomische Themen im Vordergrund, wobei insbesondere Agrarfragen immer wieder zu Streitigkeiten zwischen den beiden Partnern führten. Der Beitritt Großbritanniens zur Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) im Jahre 1973 bedeutete für Australien einen erschwerten Zugang zum britischen Markt und wurde in weiten Kreisen von Politik und Gesellschaft als Verrat des ehemaligen Mutterlandes aufgefasst. Die bitteren Gefühle wurden verstärkt, da die protektionistische Agrarpolitik der EWG bzw. EU die ansonsten wettbewerbsfähige Agrarindustrie des fünften Kontinents benachteiligte. In den letzten Jahren rückten jedoch verstärkt andere wirtschaftliche Themen auf der politischen Agenda nach oben. Dies ist auch dem Umstand geschuldet, dass seit 25 Jahren die EU der wichtigste Wirtschaftspartner Australiens ist. Grundlage für die bilateren Beziehungen zwischen Australien und der EU ist die „gemeinsame Erklärung“ von 1997. Im Jahr 2008 wurde ein weiteres Partnerschaftsabkommen abgeschlossen, dem ein gemeinsamer Aktionsplan zugrunde liegt. Das Abkommen soll der Partnerschaft Impulse verleihen für intensivere Kooperation in den Bereichen Bildung, Wissenschaft, Technologieentwicklung, Umwelt und Klimaschutz. In der Klimapolitik sowie der nationalen und internationalen Sicherheitspolitik verfolgt die australische Regierung ähnliche Ziele wie die Europäische Union. In der Agrarpolitik unterscheiden sich die Ziele Australiens und der EU jedoch voneinander. Während Australien den Zugang zum EU-Binnenmarkt stärken möchte, verhält sich die EU in Bezug auf die Landwirtschaft ihrer Mitgliedsstaaten protektionistisch gegenüber Mitbewerbern, die von außerhalb der EU in den EU-Binnenmarkt exportieren möchten. ===== Beziehungen zu Deutschland ===== Die Staaten Deutschland und Australien verbindet ein enger wirtschaftlicher, kultureller und diplomatischer Austausch. Im Rahmen einer 2013 geschlossenen strategischen Partnerschaft kooperieren beide Staaten auch zunehmend in sicherheitspolitischen Fragen. === Militär und Kriegsbeteiligung === ==== Erster Weltkrieg ==== Neun Tage nach dem Beginn des Ersten Weltkriegs erfolgten ab dem 6. August 1914 erste Kriegshandlungen Australiens an der Seite von Großbritannien mit der Besetzung der Kolonie Deutsch-Neuguinea durch die Australian Naval and Military Expeditionary Force, ein 2000 Mann starkes Freiwilligen-Expeditionskorps. Am 15. August 1914 wurde die First Australian Imperial Force (AIF) gebildet, die bedeutendste australische Expeditionsstreitmacht im Ersten Weltkrieg, die aus mehreren Waffengattungen bestand. Die AIF setzte erstmals gemeinsam mit alliierten Truppen das Armeekorps Australian and New Zealand Army Corps (ANZAC) außerhalb des asiatischen Raums in der verlustreichen Schlacht von Gallipoli in der Türkei ein, in der von den australischen Soldaten 26.111 verwundet und 8141 getötet wurden.Diese Schlacht hat die australische Bevölkerung hinsichtlich ihrer Haltung zum Krieg und zur Wehrpflicht bis heute tief beeinflusst. Nach dieser Schlacht wurde das australische Militär bis zum März 1916 an der Palästinafront eingesetzt. Anschließend beteiligten sich fünf Infanterie-Divisionen der AIF an den Kämpfen an der Westfront in Frankreich und Belgien. Ferner nahmen auch australische Soldaten an Kämpfen auf unterschiedlichen, einzelnen Kriegsschauplätzen teil. ==== Zweiter Weltkrieg ==== Australien führte im Zweiten Weltkrieg zwei Kriege, einen gegen das Deutsche Reich, Italien und seine Verbündeten in Europa als Teil des Britischen Commonwealth und einen an der Seite des Vereinigten Königreichs, der Vereinigten Staaten und anderer Verbündeter gegen Japan und seine Verbündeten im Pazifikkrieg bis September 1945. Zwischen Februar 1942 und November 1943 war Australien das Ziel von insgesamt 97 Luftangriffen der Kaiserlich Japanischen Marineluftstreitkräfte. Während der Luftangriff auf Darwin am 19. Februar 1942 der erste, schwerste und folgenreichste aller dieser Luftangriffe war, blieben die meisten weiteren Luftangriffe ohne größere Folgen. Ein Landungsversuch der Japaner in Australien erfolgte im Verlauf des gesamten Krieges nicht. Nach dem Rückzug der meisten australischen Kräfte aus dem Mittelmeerraum nach Ausbruch des Pazifikkriegs beteiligte sich die Royal Australian Air Force intensiv am alliierten Luftkrieg gegen das Deutsche Reich. Zwischen 1942 und Anfang 1944 kam den australischen Streitkräften eine Schlüsselrolle im Pazifik zu, wo sie in dieser Zeit das größte alliierte Truppenkontingent stellten. Ab Mitte 1944 kämpften australische Soldaten hauptsächlich an Nebenfronten; sie führten bis Kriegsende fortlaufend Offensivoperationen gegen die japanischen Truppen durch. ==== Nach dem Zweiten Weltkrieg ==== Australiens Streitkräfte, die Australian Defence Force (ADF), bestehen aus drei Teilstreitkräften: der Royal Australian Navy, der Australian Army und der Royal Australian Air Force. Die Truppenstärke der ADF wurde in den letzten Jahrzehnten deutlich reduziert und beträgt aktuell etwa 51.000 Soldaten. Ihre Ausbildung und Ausrüstung begründen trotz ihrer verhältnismäßig geringen Größe neben der wirtschaftlichen Attraktivität des Landes den Status Australiens als regionale Ordnungsmacht innerhalb des indo-pazifischen Raums. Daher führt es aktuelle UN-Friedensmissionen in der Region an, beispielsweise in Osttimor und auf den Salomonen. Mit rund 50.000 Soldaten beteiligte sich Australien in den Jahren 1962 bis 1972 am Vietnamkrieg. Während dieser Zeit wurden ungefähr 2400 Soldaten verwundet, 520 fielen. Außerdem ist Australien am Irakkrieg beteiligt gewesen und unterhielt ein Kontingent im Irak, das bis Juli 2009 entsprechend dem Wahlversprechen der amtierenden Labor-Regierung abgezogen wurde. Es verblieben etwa 100 Soldaten zum Schutz der australischen Botschaft im Land. Der bis dato umfangreichste und bedeutendste internationale Einsatz Australiens war der Beitrag zu den Operationen in Afghanistan, wo die ADF mit etwa 1500 Soldaten vertreten war. Australien gab 2017 knapp 2,0 % seiner Wirtschaftsleistung oder 27,5 Mrd. Dollar für seine Streitkräfte aus und lag damit weltweit auf Platz 13. Seit 2014 beteiligt sich Australien auch an der Koalition gegen die Terrormiliz Islamischer Staat. Nach dem russischen Einmarsch in die Ukraine verkündete Scott Morrison, das Budget für Verteidigung mit 31 Mrd. Australischen Dollars aufzustocken. Außerdem soll das Militär um 18.000 auf 81.000 Truppen vergrößert werden. == Infrastruktur == Australiens Verkehrswesen wird durch die großen Entfernungen im Landesinneren und die hohe Bevölkerungsdichte entlang des schmalen Streifens der Ost- und Südküste geprägt. Bezogen auf die Einwohnerzahl verfügt das Land über sehr viele Kilometer an Straßen und Wegen, weist einen hohen Motorisierungsgrad auf und besitzt ein engmaschiges Flugnetz. Im Logistics Performance Index, der von der Weltbank erstellt wird und die Qualität der Infrastruktur misst, belegte Australien 2018 den 18. Platz unter 160 Ländern. === Flugverkehr === Australien gehört zu den Ländern mit den dichtesten Flugnetzen überhaupt. Es gibt etwa 400 öffentliche und privat verwaltete Flugplätze. Wichtigste Fluggesellschaft ist die 1920 gegründete Qantas Airways. Ein bedeutendes Drehkreuz für den internationalen Flugverkehr ist der Kingsford Smith International Airport in Sydney. Der Inlands-Flugverkehr ist seit 1990 dereguliert, d. h. Flugpreise werden ohne Mitwirken seitens der Regierung durch den freien Wettbewerb bestimmt. Zunehmend ist auch der Anteil an Ballonfahrten mit dem Heißluftballon als Freizeitbeschäftigung speziell für Touristen. === Straßenverkehr === In Australien herrscht Linksverkehr. Vor allem im dicht besiedelten Südosten des Landes spielt der Straßenverkehr eine bedeutende Rolle. Die erste Straße Australiens wurde in den Jahren von 1789 bis 1791 von Sydney nach Parramatta gebaut. Das heutige australische Straßennetz beläuft sich insgesamt auf etwa 913.000 km, von denen circa 353.000 km befestigt, das heißt entweder asphaltiert oder betoniert, sind. Ein großer Teil des Warenverkehrs im Outback wird mit Hilfe von Road Trains transportiert. Ein Road Train ist ein spezieller Typ eines Lastzuges, bestehend aus einem Sattelzug mit Zugmaschine und Sattelauflieger, an den in Australien bis zu drei Anhänger gekuppelt werden. Dadurch erreichen die Road Trains eine Gesamtlänge von bis zu 53,5 m sowie beladen ein Gesamtgewicht von bis zu etwa 140 Tonnen. Die ersten Fernstraßen in Australien wurden von den Hauptstädten an den Küsten in einem speichenförmigen Muster ins Landesinnere gebaut, um die ersten ländlichen Ansiedlungen mit den Hauptstädten zu verbinden. Im Jahr 1955 wurde das australische National-Route-Nummerierungsschem eingeführt um die Navigation durch Australien zu vereinfachen. Man erkennt eine National Route an den Schildern mit schwarzer Schrift auf weißem Grund. === Schienenverkehr === 1854 verkehrte die erste Dampfeisenbahn zwischen der Innenstadt und dem Hafen Melbournes. Zahlreiche private Gesellschaften betrieben in der Folgezeit die Eisenbahnlinien des Landes. Dies führte dazu, dass zum Zeitpunkt der Föderationsbildung (1901) drei voneinander abweichende Spurweiten vorlagen, was große Probleme aufwarf. Erst seit etwa 1970 ist die Durchfahrt von Sydney nach Perth ohne systembedingtes Umsteigen möglich. Teilweise wird hier – und nur hier – mit Dreischienennetz gefahren. Die Gesamtlänge des staatlichen Eisenbahnnetzes beträgt etwa 34.000 km. Die Gesamtlänge der privat betriebenen Schienennetze beläuft sich auf etwa 5500 km. Private Schienennetze werden in der Pilbara-Region Western Australia vor allem zum Transport von Eisenerz, in Queensland für den Transport von Kohle und Zuckerrohr genutzt. Verglichen mit dem Straßenverkehr spielt der Personen- und Gütertransport auf den Schienen inzwischen eine untergeordnete Rolle. Es gibt dennoch Neubauprojekte wie beispielsweise die kürzlich fertiggestellte Eisenbahnlinie von Alice Springs nach Darwin, die unter dem Namen The Ghan bekannt ist. Die Transaustralische Eisenbahn von Sydney nach Perth ist für den Fracht- und den Fremdenverkehr von Bedeutung. Australien plant zudem den Einsatz von Hochgeschwindigkeitszügen. In den Ballungsräumen Brisbane, Melbourne, Perth und Sydney, in denen die Hälfte der Bevölkerung lebt, existieren gut ausgebaute S-Bahn-Netze. Straßenbahnen sind in Australien recht selten und bestehen meist nur aus wenigen Linien, das Straßenbahn-Netz in Melbourne ist jedoch das längste der Welt. Das U-Bahn-Netz der Metropole Sydney, die Sydney Metro, ist seit der Eröffnung im Mai 2019 die erste vollwertige U-Bahn auf dem Kontinent. == Wirtschaft == === Wirtschaftsgeschichte === Die Wirtschaftsgeschichte Australiens begann mit der Landung von etwa 1000 Sträflingen, Royal Marines und Seeleuten auf elf Schiffen der First Fleet im Port Jackson am 26. Januar 1788. Davor lebten auf dem australischen Kontinent die Aborigines als Jäger und Sammler. Die Briten erklärten das Land zur Terra nullius und eigneten es sich an. Mit der Anwendung dieses Rechtsbegriffs wurde Australien zu einem Land erklärt, das niemand gehört. Die Briten kolonisierten es jahrzehntelang in Form der Sträflingskolonie Australien. ==== Kolonie New South Wales (1788–1810) ==== Nach der Landung im Jahr 1788 übergab die britische Kolonialregierung Land an höhere Offiziere und Sträflinge mit Privilegien. Dies geschah in Form einer „land grant“, einer Landübereignung. Sträflingen ohne das Privileg einer Landübereignung wurde lediglich erlaubt, Wirtschaftsgüter in geringem Umfang selbst zu produzieren. Das Kommissariat der Regierung der Kolonie New South Wales nahm als Lieferant von Gütern, Geld und Devisen eine herausragende Stellung im wirtschaftlichen Leben der Kolonie ein. Obwohl das wirtschaftliche Leben durch die Verteilung von Gütern, Bewirtschaftung von Geld und ausländischer Währung durch die Kolonialregierung reguliert war, entwickelte sich privates Eigentum an Land und privat vergütete Arbeit. Dies wurde geduldet und nicht sanktioniert. Die Offiziere des New South Wales Corps nutzten dies aus und verquicken private und dienstliche Interessen. Die Offiziere des Militärs eigneten sich rücksichtlos Land privat an und führten aufgrund der Knappheit von offiziellen Geldmünzen in der Kolonie Rum als Währung ein. Als die britische Kolonialregierung dagegen einschritt, entstand die Rum Rebellion, die dazu führte, dass im Jahr 1808 zahlreiche Offiziere die Kolonie verlassen mussten. ==== Weitere Kolonien ==== Bereits in den Jahren ab 1810 war erkennbar, dass sich die koloniale Wirtschaft nicht nur auf eine Selbstversorgung beschränken musste, sondern auch Außenhandel betreiben konnte. Bedeutend für die weitere wirtschaftliche Expansion war die Blaxland-Expedition im Jahr 1813, die einen Weg über die Blue Mountains hinweg ins Landesinnere Australien ermöglichte. Weitere Erkundungen und Entdeckungen folgten. Deshalb konnte die koloniale Wirtschaft wachsen. Neben der erstgegründeten Kolonie New South Wales entstanden Western Australia (1829), South Australia (1836), Victoria (1851), Queensland (1859) und Tasmanien (1856) als britische Kolonien (das Northern Territory wurde 1911 aus South Australia abgespalten und dem Commonwealth of Australia unterstellt). Güter wurden nicht nur in New South Wales verbraucht, sondern ab den 1820er Jahren nach England und ins nordwestliche Europa exportiert. Es handelte sich zuerst vor allem um Wolle, Hölzer und Walöl. In dieser Zeit erfolgte eine umfangreiche Landnahme und eine gewaltsame Verdrängung der Aborigines aus ihren Stammesgebieten durch Siedler. Diese wurden „squatters“ genannt und eigneten sich Land ohne Rechtstitel an, was erst im Jahr 1846 durch Gouverneur George Gipps geregelt bzw. beendet wurde. 1831 wurde es in der Kolonie New South Wales möglich, Land käuflich zu erwerben. Eine erste Wirtschaftskrise entstand in den 1840er Jahren, die von Bankenpleiten begleitet war. Diese Wirtschaftskrise wurde durch die Goldfunde von 1851 in Victoria überwunden. Infolge des Goldrausches in Australien wanderten zahlreiche Menschen ein. Es waren vor allem Engländer, aber auch andere Nationalitäten wie Chinesen. Bereits in den 1840er Jahren endete die Sträflingsdeportation im östlichen Siedlungsgebiet Australiens. Freie Siedler ließen sich nieder, gesetzliche Regelungen zur Sicherung der bürgerlichen Rechte und des Eigentums wurden erlassen. Es begann der Aufbau eines demokratischen Wahlsystems. Der Bergbau entwickelte sich. In den 1870er Jahren wurde mehr Gold als Wolle exportiert. Durch die australischen Goldfunde entwickelte sich eine rege Bautätigkeit, insbesondere in Victoria. Weizenexporte begannen im Jahr 1870 in South Australia. Ab den 1880er Jahren wurde Zink, Blei und Silber bei Broken Hill abgebaut. Die Goldfunde stagnierten und durch anhaltende Dürren in den 1890er Jahren geriet Australien in eine wirtschaftliche Rezession. Im Verlauf dieser Rezession wurden Löhne gekürzt und in der Folge bildete sich die australische Arbeiterbewegung in zahlreichen und heftigen Streiks (Schafscherer-Streik (1891) und Schafscherer-Streik (1894), Broken-Hill-Streik, Maritime-Streik) aus. In den 1890er Jahren ermöglichten neue Methoden der Kühlung den Export von Fleisch-, Molkereiprodukten und Früchten. ==== Commonwealth ==== Am 1. Januar 1901 schlossen sich die früher voneinander unabhängigen Kolonien zum Commonwealth of Australia zusammen. Diese neue Regierung erhielt Rechte zu starken Eingriffen in Märkte. Sie konnte die Lohnhöhe und Preise bestimmen. Das Commonwealth regulierte den inneraustralischen Markt und verfolgte die White Australia Policy, eine Politik, die die Zuwanderung von Nichtweißen blockierte. Diese Politik änderte sich erst nach dem Zweiten Weltkrieg, als infolge der boomenden Wirtschaft eine hohe Nachfrage nach Arbeitskräften entstand. Nach 1950 waren Rohstoffe auf dem Weltmarkt stark nachgefragt und die australische Regierung förderte den Abbau von Rohstoffen intensiv. Das wirtschaftliche Wachstum Australiens wurde vor allem durch die Fahrzeug-, Chemieproduktion, Herstellung elektrischer und elektronischer Ausrüstung sowie von der Eisen- und Stahlproduktion bestimmt. Dieses Wachstum wurde auch durch die beiden Weltkriege nicht wesentlich negativ beeinflusst. In der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg entstand eine langfristige positive Wachstumsrate mit hoher Beschäftigung. Ihren Höhepunkt erreichte die industrielle Produktion in der Mitte der 1960er Jahre.Das 1910 eingeführte Australische Pfund wurde im Jahr 1966 auf den Australischen Dollar ins Dezimalsystem umgesetzt.Zudem wurde das Einheitensystem vom angloamerikanischen Maßsystem auf das metrische Einheitensystem umgestellt. Als zu Beginn der 1970er Jahre die Weltkonjunktur einbrach, wuchsen Arbeitslosigkeit und Inflation in Australien an. In den Jahren 1982 bis 1983 verharrte die australische Wirtschaft in einer Rezession. 1983 kam die Australian Labor Party mit dem Premierminister Bob Hawke und Finanzminister Paul Keating an die Regierung. Hawke setzte darauf, dass mehr Beschäftigung entstehen könnte, wenn es gelänge, die Reallöhne zu stabilisieren bzw. zu senken. Keating widersprach dem und warnte, dass Australien sich damit zu einer „banana republic“ entwickeln würde. Labor entschied daraufhin, australische Firmen sollten ausländische Investitionen zulassen. Sie lockerte auch die Wettbewerbsbedingungen. Die Rezession wurde daraufhin durch einen starken Beschäftigungsanstieg aufgehoben und die Arbeitslosenquote erreichte mit 2 % wieder den Stand von 1972. Die weiter oben genannten Maßnahmen wurden in der folgenden Zeit ausgeweitet.Die Labor Party verlor die Wahlen im Jahr 1996 an John Howard von der Liberal Party of Australia. Seine Regierung setzte auf Deregulierung, unter anderem des Währungs- und Finanzsystems, das sich noch stärker dem internationalen Kapital öffnen sollte. Schutzmaßnahmen für die Industrie und Landwirtschaft und Wettbewerbsbeschränkungen wurden zurückgefahren bzw. aufgehoben. Einige staatliche Aufgaben wurden privatisiert und das Transport- und Telekommunikationswesen dereguliert. 2005 lag die Arbeitslosenquote bei 5 %. In der Folge führten fallende Transportkosten, neue effektive Telekommunikations- und Informationstechnologien, Investitionen mit ausländischem Kapital, wirtschaftliches Wachstum in Ostasien, vor allem in China, zu kontinuierlich steigenden Wachstumsraten der australischen Wirtschaft. Reformen im Bildungswesen und Anpassungen der Ausbildungsinhalte an Hochschulen und Universitäten des Landes sorgten dafür, dass Wettbewerbsfähigkeit anstieg. Im Jahr 2000 betrug der Anteil der Dienstleistungen 70 % des nationalen Einkommens. Seit den 1990er Jahren hat Australien eine der höchsten Wirtschaftswachstumsraten unter den OECD-Staaten. Seit 1995 hat es keine wirtschaftliche Rezession erlebt. ==== Aktuell ==== Im Jahr 2015 betrug das Wachstum Australiens 2,4 %. Die Arbeitslosenquote lag im September 2016 bei 5,8 %. Der Dienstleistungssektor Australiens ist mit 60 bis 65 Prozent des Bruttoinlandsproduktes (BIP) bedeutend, der seinen Schwerpunkt im Bereich Finanzen, Immobilien und Unternehmensdienstleistungen hat. Der Anteil des Bergbaus am BIP liegt bei etwa zehn Prozent und der der Landwirtschaft bei zwei Prozent. Beide Sektoren haben allerdings einen bedeutenden Anteil an Australiens Exportvolumen und sind stark vom Wachstum der Weltwirtschaft abhängig. Die wichtigsten Exportgüter Australiens sind Kohle, Eisenerz, Gold, Erdöl/-Produkte und Erdgas. Beim Export von verflüssigtem Gas wird erwartet, dass Australien in den nächsten fünf Jahren Weltmarktführer werden wird. Bei Kohle ist Australien seit den 1980er Jahren der weltweit größte Exporteur. Durch das Absinken des weltwirtschaftlichen Wachstums der vergangenen Jahre ging der Export der Rohstoffe Australiens stark zurück und es entstand eine Lücke im Staatshaushalt. Die konservative Regierung unter Turnbull versuchte diese Lücke durch die Erhöhung der Verbrauchssteuer von 10 auf 15 Prozent zu schließen. Diese Erhöhung der Mehrwertsteuer (Goods and Service Tax) scheiterte am innerparteilichen Widerstand. Durch die Orientierung auf den Export von Rohstoffen ist der Anteil des verarbeitenden Gewerbes in Australien und die Beschäftigung in diesem Wirtschaftsbereich gering. Zusätzlich werden beispielsweise Holden (GM-Konzern) und Toyota ihre Pkw-Produktion in Australien im Jahr 2017 einstellen. Dies zieht vermutlich einen Wegfall von 40.000 Arbeitsplätzen nach sich und bedeutet das Ende der Automobilproduktion in Australien. Diesen Wegfall von Arbeitsplätzen kann auch der in Australien wachsende Wirtschaftsbereich Informations- und Kommunikationstechnologie, E-Commerce, Bio-, Nano- und Medizintechnologie nicht ausgleichen. Die australische Leistungsbilanz ist seit Jahren defizitär, die Anteile am BIP schwankten in der Vergangenheit von minus zwei bis minus sechs Prozent. Die Verschuldung der privaten Haushalte Australiens war im Jahr 2016 beträchtlich. Australien war, laut einer Studie der Bank Credit Suisse aus dem Jahre 2017, das Land mit dem neuntgrößten nationalen Gesamtvermögen weltweit. Der Gesamtbesitz der Australier an Immobilien, Aktien und Bargeld belief sich auf insgesamt 7.407 Milliarden US-Dollar. Das Vermögen pro erwachsene Person beträgt 402.603 Dollar im Durchschnitt und 195.417 Dollar im Median (Deutschland: 203.946 bzw. 47.091 Dollar). Das Vermögen pro Kopf war damit sowohl im Durchschnitt als auch im Median das dritt-höchste der Welt (hinter Island und der Schweiz). Der Gini-Koeffizient bei der Vermögensverteilung lag 2016 bei 68,2, was auf eine moderate Vermögensungleichheit hindeutet.Australiens derzeit wichtigste Importprodukte sind, neben Rohöl und raffiniertem Öl, Wirtschaftsgüter wie Pkws und Medikamente. Australien zählt zu den 20 größten Volkswirtschaften der Erde. Im Global Competitiveness Index des Global Competitiveness Report, der die Wettbewerbsfähigkeit eines Landes misst, belegt Australien im Jahr 2017 Platz 21 unter 137 Ländern. Im Index für wirtschaftliche Freiheit belegt das Land im Jahr 2017 den fünften Platz unter 180 Ländern. Australien zählt zu den liberalsten Volkswirtschaften der Welt. === Kennzahlen === === Außenhandel === Die große Fläche des Landes in Verbindung mit dem kleinen Binnenmarkt und das Vorhandensein von Rohstoffen prädestiniert Australien zum Exportland für Primärprodukte. Diese Tatsache macht das Land aber auch empfindlich gegenüber starken Schwankungen der Weltmarktpreise dieser Güter. Wichtige Exportgüter sind daher landwirtschaftliche Produkte und Bodenschätze. Das Land ist Mitglied der Cairns-Gruppe, die sich für die Liberalisierung von Agrarexporten einsetzt. Die Großunternehmen in Australien prägen die Exportbilanz. Die 100 größten Unternehmen des Landes hatten 2001 für rund 50 Milliarden australische Dollar Waren- und Dienstleistungsexporte erbracht und lieferten damit rund ein Drittel der gesamten Ausfuhr des Landes. Im Jahre 2001 lag der australische Export bei rund 154 Milliarden australische Dollar und machte über 20 % des BIP aus. Australien bildet mit seinem Nachbarland Neuseeland unter der Bezeichnung Closer Economic Relations seit 1983 eine Freihandelszone. Australien ist Mitglied der APEC, G20, OECD und WTO und betreibt Freihandelsabkommen mit ASEAN, Chile, Neuseeland, Singapur, Thailand und den Vereinigten Staaten. Speziell das ANZCERTA Vertragsabkommen mit Neuseeland zeigt die enge Verschränkung beider Volkswirtschaften. Im Jahr 2010 war Australien die 21. größte Export- und die 19. größte Importnation. Unter der Bezeichnung Austrade betreibt das Department of Foreign Affairs and Trade eine Agentur zur Förderung von Handel und Investitionen mit einem globalen Netzwerk von Büros. Größter Handelspartner im Jahr 2008 mit 17 % (25 Milliarden Euro) aller importierten Waren war die Europäische Union. Im Jahr 2010 entfielen 60 % des Außenhandelsanteils auf Asien, wobei China Japan im Jahr 2007 als wichtigsten Wirtschaftspartner Australiens ablöste.Im Jahr 2014 exportierte Australien Waren und Dienstleistungen im Wert von 243 Mrd. USD und importierte diese im Wert von 219 Mrd. USD. Die Handelsbilanz wies damit einen Überschuss von 24 Mrd. USD aus. Die größten Exporte aus Australien waren Eisenerz mit 60 Mrd., Kohle und Briketts 37,2 Mrd., Flüssigerdgas 16,3 Mrd., Gold 16,3 Mrd. und Erdöl 9,1 Mrd. USD. Die größten Importe waren Treibstoffe mit 16,6 Mrd., Erdöl 16,2 Mrd., Pkw 15,7 Mrd., Computer 7,37 Mrd. und Medikamente 6,5 Mrd. USD. Nach China exportierte Australien im Jahr 2014 Waren und Dienstleistungen im Wert von 82,9 Mrd., nach Japan 43,1 Mrd., Südkorea 19 Mrd., Indien 11,1 Mrd. und in die Vereinigten Staaten 10 Mrd. USD. Die australischen Importe aus China erreichten einen Wert von 45,7 Mrd., Vereinigte Staaten 24,5 Mrd., Japan 15,4 Mrd., Singapur 11,8 Mrd. und Deutschland 10,6 Mrd. USD. === Landwirtschaft und Fischerei === Landwirtschaft ist in Australien ein wichtiger Wirtschaftsfaktor. Mehr als 400.000 Arbeitnehmer sind in der Landwirtschaft beschäftigt. 2 % des BIP werden hier erwirtschaftet. Etwa 80 % der landwirtschaftlichen Produktion werden exportiert. Große Flächen des Landes dienen als Weideland, wobei besonders im Outback extensive Weidewirtschaft (Ranching) auf Sheep- oder Cattle-Stations betrieben wird. Auf diesen Weideflächen werden ca. 130 Millionen Schafe und mehr als 25 Millionen Rinder gehalten. Australien ist führend in der Produktion von Wolle, 29 % der Weltproduktion stammen von hier. Nur 6 % der Landesfläche werden zum Anbau von Nahrungs- und Futterpflanzen genutzt. Weizenanbau hat daran mit 45 % den größten Anteil. Abgesehen von den klimatisch begünstigteren Gebieten des Südostens sind die meisten Anbaugebiete von Bewässerung abhängig. 2019 musste wegen der starken Dürre erstmals seit 2007 wieder Weizen (aus Kanada) importiert werden. Neben Weizen mit einer jährlichen Produktion von über 30 Millionen Tonnen spielt der Zuckerrohranbau mit mehr als 35 Millionen Tonnen eine große Rolle. Australiens Weinindustrie hat ein Exportvolumen von mehr als 2,3 Milliarden Australische Dollar. Wichtige Anbaugebiete sind das Barossa Valley in South Australia, Hunter Valley in New South Wales und Victorian Sunraysia in Victoria. Die am meisten angebauten Traubensorten sind Chardonnay, Shiraz und Cabernet Sauvignon. Australien ist eines der wenigen Länder, die unter strengen Kontrollen den Anbau von Schlafmohn zur Opium-Gewinnung für die Pharma-Industrie erlauben. Die Fischerei spielt eine untergeordnete Rolle, trotzdem ist Australien Mitglied der South Pacific Regional Fisheries Management Organisation (SPRFMO), die sich als internationale zwischenstaatliche Organisation von 15 Mitgliedern das Ziel gesetzt hat, die Fischbestände im Südpazifik zu überwachen und zu bewirtschaften. === Bodenschätze === Australien verfügt über große Vorkommen an Energierohstoffen und mineralischen Rohstoffen. Die Bodenschätze wie Kohle, Eisenerz, Gold, Diamanten und andere Mineralien werden zumeist im Tagebau abgebaut. Australien ist der weltgrößte Exporteur von Steinkohle. Im Jahr 2002 förderten australische Minen 343 Millionen Tonnen Kohle und 116 Millionen Tonnen Eisenerz. Durch Milliardeninvestitionen, unter anderem von BHP Billiton, wurde die Ausbeute von Eisenerz bis zum Jahr 2011 auf 600 Millionen Tonnen gesteigert; der Preis stieg von 2001 bis 2011 um 700 %. Der größte Anteil des Eisenerzes wird nach China exportiert. Beim Gold stammen mit 282 Tonnen 12 % auf dem Weltmarkt aus Australien. Australien hat zudem das reichhaltigste Vorkommen an Seltenen Erden weltweit, die an der Erzlagerstätte am Mount Weld in Western Australia gefördert werden. Für Tantal ist Australien der wichtigste Exporteur auf der Welt. Bei Edelsteinen fördert Australien mehr als 90 % der Weltproduktion an Opalen, vor allem im Gebiet der Stadt Coober Pedy in South Australia. Australien ist das drittgrößte Exportland der Welt von Uran. Atomkraftwerke betreibt es aber nicht. Seit den späten 1960er Jahren ist der Uranabbau und -export das bedeutende Hauptfeld politischer Auseinandersetzungen zwischen Regierungen und Gruppierungen der Antiatomkraftbewegung in Australien, die Argumente gegen die Umweltzerstörung, gegen die Zerstörung des Traumzeitlands der Aborigines und gegen die Weiterverbreitung von Massenvernichtungswaffen vortrugen, um damit die Atomindustrie zurückzudrängen. === Tourismus === Die Tourismusbranche erwirtschaftet 8 % der australischen Wirtschaft. Seit den 1970er Jahren stiegen die Besucherzahlen stark an. Im Jahr 2003 besuchten 4,35 Mio. Touristen Australien, im Jahr 2016 waren es bereits rund 8,2 Mio. internationale Touristen. Die Tourismuseinnahmen betrugen 32,4 Mrd. US-Dollar. Die australische Tourismusbehörde prognostiziert bis 2020 weiterhin einen Anstieg. Zu den am häufigsten vertretenen Nationalitäten gehören Neuseeländer, Chinesen, Briten, US-Amerikaner, Japaner, Singapurer, Malaysier, Koreaner, Hongkong-Chinesen, Inder und Deutsche. Die über 510.000 in der Tourismusbranche arbeitenden Menschen erwirtschaften rund 35 Mrd. AUD pro Jahr. Das Land ist in der ganzen Welt für die Reiseform des Work & Travel bekannt, die man mit einem Working-Holiday-Visum nutzen kann. Dazu muss man zwischen 18 und 30 Jahre alt sein. Ungefähr 40 % aller Touristen, die Australien besuchen, sind zwischen 18 und 30 Jahre alt. Jährlich wird dieses Angebot von über 20.000 deutschen Bürgern genutzt.Es herrscht generelle Visumspflicht für alle Ausländer, ausgenommen Neuseeländer. Die Visumspflicht gilt selbst für Einreisende aus den Ländern des Commonwealth. Auch für touristische Kurzaufenthalte ist ein Visum Voraussetzung. Je nach Reisezweck und -dauer ist hierbei ein unterschiedliches Touristenvisum erforderlich. Das kostenlose Visum eVisitor (subclass 651), welches in allen EU-Staaten und weiteren ausgewählten 30 Ländern Europas beantragt werden kann, erlaubt eine Aufenthaltsdauer von maximal drei Monaten, während jedoch jegliche Art bezahlter Arbeit untersagt ist. Alternativ besteht die Möglichkeit des kostenpflichtigen Visums ETA (Electronic Travel Authority). Im Falle eines längeren Aufenthalts sowie für Geschäftsreisen ist das Visum Visitor Visa (subclass 600) erforderlich, welches sich in die Varianten tourist stream, business stream und sponsored family stream unterteilt. Hauptziele der ausländischen Besucher sind neben Sydney vor allem die einzigartigen Naturlandschaften – allen voran das Great Barrier Reef, der Uluṟu (Ayers Rock) und der Kakadu-Nationalpark. Sydney, Melbourne, Brisbane, Gold Coast, Cairns, Perth, Adelaide und Canberra zählen zu den am häufigsten besuchten Städten. === Elektrische Energie === Stromerzeugung, Rolle der SteinkohleDie Stromerzeugung in Australien wurde im Jahr 2000 noch zu 80 % mit Kohlekraftwerken gewährleistet, die restlichen 20 % werden hauptsächlich durch Gas- und Wasserkraftwerke gedeckt. Aufgrund der hohen Fördermengen fossiler Brennstoffe ist das Land von Importen dieser Bodenschätze nahezu unabhängig. 2021 war Australien nach Indonesien der zweitgrößte Kohleexporteur der Welt. Atomkraftwerke zur Stromerzeugung gibt es nicht. Der hohe Anteil fossiler Brennstoffe führte allerdings zu einem hohen Ausstoß von Treibhausgasen und trägt zur globalen Erwärmung bei. Australien zeigte sich zögerlich bei Selbstverpflichtungen zur Reduktion von Treibhausgasen. Als vorletzter Industriestaat ratifizierte es am 3. Dezember 2007 das Kyoto-Protokoll. Die Regierung unter Premierminister Scott Morrison verpflichtete sich lediglich zu einer Reduktion der Treibhausgasemissionen bis zum Jahr 2030 um 25 %, verglichen mit dem Niveau des Jahres 2005, ein Wert, der weit unter den Zielwerten anderer Industriestaaten (Vereinigte Staaten, Europäische Union, Vereinigtes Königreich) lag. Umweltexperten forderten eine Reduktion zwischen 50 und 74 %, damit Australien die Ziele des Übereinkommens von Paris erfülle. Auch der Zielsetzung der meisten Industriestaaten, bis 2050 eine CO2-neutrale Wirtschaft zu entwickeln, wollte sich Australien nicht anschließen. Das Festhalten Australiens an der Kohle als Hauptenergielieferanten führte weltweit zu anhaltender Kritik von Umweltorganisationen. Trotz geographisch günstiger Voraussetzungen (sehr viele Sonnenstunden im Jahr, küstennahe Regionen wie Brisbane oder Perth) wurde das Potenzial regenerativer Energien anfangs kaum erschlossen. So wurde Solarstrom lange Zeit nur in entlegenen Wüstenregionen genutzt, die nicht ans Stromnetz angeschlossen sind. Das Potenzial für Windenergie wurde wenig genutzt, obgleich neue Windenergieanlagen günstiger Strom erzeugten als neue Kohle- und Gaskraftwerke.Ende 2017 wurde das bis dahin größte Batteriespeicher-Projekt der Welt fertiggestellt. Anfänglich mit 100 MWh geplant, wurde das Projekt schließlich mit 129 MWh abgeschlossen. Neben Windkraftanlagen werden auch Solaranlagen zur Energiegewinnung genutzt. Die Batteriespeicher kommen von Tesla, Inc., die Windkraftanlagen von Vestas Wind Systems. Das Hybridkraftwerk befindet sich im Kennedy Energy Park in Queensland und ist das erste Projekt in Australien, welches diese drei Technologien miteinander verbindet; finanziert wurde das Projekt unter anderem von der Australian Renewable Energy Agency (ARENA).Ein Folgeprojekt der gleichen Partner mit einer Batteriespeicherkapazität von 20 MWh wurde 2018 im Bundesstaat Victoria in Auftrag gegeben. Der Speicher soll in Kombination mit einem Windpark installiert werden. Dieser hat eine Nennleistung von 194 MW und wird 2020 in Betrieb genommen. Er soll unter anderem auch ein 40 Hektar großes Gewächshaus versorgen. Weitere große kombinierte Kraftwerke sind in Planung, so zum Beispiel das Projekt Kaban Green Power Hub, das auf 130 MW oder 157 MW Windkraftleistung und einen 100-MW-Batteriespeicher ausgelegt ist. Baubeginn soll Ende 2020 oder Anfang 2021 sein.2018 lief ein Projekt zum Bau von 50.000 Photovoltaikanlagen mit Batteriespeichern für Wohn- und Gewerbegebäude an. Partner ist die Firma Tesla, Inc.; mit Stand Juli 2018 wurden bereits 100 Haushalte mit entsprechender Technik ausgestattet. Im Endausbau, der für 2022 erwartet wird, sollen die Speicher bei einer Speicherkapazität von 650 MWh eine Leistung von 250 Megawatt bereitstellen. Das Gesamtsystem soll als Virtuelles Kraftwerk arbeiten und das südaustralische Stromnetz stabilisieren. Das Projekt wird vollständig von der Regierung finanziert. Die ausgewählten Haushalte dürfen den Strom nutzen, um ihre eigenen Energiekosten zu senken. StromverteilungSeit dem Jahr 2000 erfolgt in Australien die Stromverteilung im Niederspannungsnetz mit einer Netzspannung von 230 V bei einer Frequenz von 50 Hertz und einer Toleranz von +10 % bis −6 % gemäß Standards Australia-Norm „AS60038-2000 – Standard Voltages“. Vorher lag die Spannung bei 240 V. Der verwendete Stecker ist vom Typ I. === Staatshaushalt === Der Staatshaushalt umfasste 2015 Ausgaben von umgerechnet etwa 560 Mrd. US-Dollar, dem standen Einnahmen von umgerechnet 513 Mrd. US-Dollar gegenüber. Daraus ergibt sich ein Haushaltsdefizit in Höhe von 2,3 % des Bruttoinlandsprodukts.Im Jahr 2017 lag die Staatsverschuldung bei 41,9 % des BIP. Von der Ratingagentur Standard & Poor’s werden die Staatsanleihen Australiens mit der Bestnote AAA bewertet (Stand 2018).Der Anteil der Staatsausgaben (in % des BIP) betrug in folgenden Bereichen: Gesundheit: 6,3 % (2014) Bildung: 5,3 % (2013) Militär: 1,9 % (2016) === Bilaterale Wirtschaftsbeziehungen === Im Nachfolgenden sind die bilateralen Wirtschaftsbeziehungen Australiens mit Ländern im deutschsprachigen Raum dargestellt. Australisch-deutsche WirtschaftsbeziehungenDeutschland ist derzeit der zwölftgrößte Handelspartner Australiens. Mehr als 300 Töchter deutscher Unternehmen sichern in Australien mit insgesamt ca. 650 Betriebsstätten etwa 100.000 Arbeitsplätze. 2010 betrug das Volumen des bilateralen Warenverkehrs über 10 Mrd. Euro. Deutschland importierte 2010 Waren im Wert von etwa 2,23 Mrd. Euro. Der Export deutscher Waren betrug etwa 7,86 Mrd. Euro. Den Schwerpunkt der deutschen Exporte bilden Kraftfahrzeuge und -teile, chemische, pharmazeutische und elektrotechnische Erzeugnisse, Kunststoffe und Maschinen. Die Wichtigsten australischen Exportgüter nach Deutschland waren im Jahr 2019 Gold, Steinkohle und Erze. Australisch-schweizerische WirtschaftsbeziehungenIm Jahr 2011 stieg der schweizerische Export nach Australien auf 2,5 Mrd. CHF. Die Importe der Schweiz aus Australien stiegen gegenüber dem Vorjahr von 320 Mio. CHF auf 487 Mio. an. Die Schweizer Investitionen in Australien beliefen sich im Jahr 2009 auf 13 Mrd. USD. 2011 kam die Schweiz auf den fünften Platz in der Rangliste der ausländischen Investitionen Australiens. Mit diesen Investitionen wurden 40.000 Arbeitsplätze in Australien geschaffen. Im Jahr 2011 reisten im Vergleich zum Vorjahr 8,2 % mehr australische Touristen in die Schweiz, und 43.000 Touristen aus der Schweiz reisten nach Australien. Australisch-österreichische WirtschaftsbeziehungenÖsterreichische Exporte nach Australien erreichten im Jahr 2014 einen Wert von 792,93 Millionen Euro, dabei handelte es sich vor allem um LKW und Motorräder, Baumaschinen, elektrische Maschinen, pharmazeutische Erzeugnisse, Metallwaren (Beschläge und Schlösser). Die österreichischen Importe waren im Jahr 2014 mit 87 Millionen Euro gering. Es waren dies Steinkohle, Baumaschinen, Mess- und Prüfgeräte, elektrische/elektronische Apparate und Goldmünzen. == Kultur == Anfangs wurde die Kultur Australiens ausschließlich von dessen Ureinwohnern, den Aborigines, geprägt. Mit der Besiedlung durch die Europäer dominierte unter diesen Siedlern der Einfluss der britischen Kolonialmacht. Für die europäischstämmigen Siedler und ihre Nachfahren verband sich mit dem Entstehen einer eigenen nationalen Identität die Entwicklung einer nationalen australischen Kultur. Heute ist diese in allen Bereichen geprägt von den Einflüssen der unterschiedlichen Einwanderergruppen, vermischt mit den Ausdrucksformen der indigenen Kulturen der verschiedenen Stämmen der Aborigines. === Feiertage === Der Australia Day ist Australiens offizieller Nationalfeiertag und wird am 26. Januar gefeiert. Er erinnert an die Ankunft der First Fleet in Sydney Cove am 26. Januar 1788. Diese Ankunft markierte den Beginn der Deportation britischer Strafgefangener nach Australien und mithin den Beginn der Besiedlung Australiens durch die Europäer. Ein weiterer wichtiger Feiertag ist der ANZAC Day am 25. April. Er ist der Jahrestag der ersten Militäraktion von australischen und neuseeländischen Truppen im Ersten Weltkrieg, der Landung auf Gallipoli 1915. Auch ist der Melbourne Cup Day bei der Bevölkerung sehr beliebt. Er findet am ersten Dienstag im November statt und ist im Bundesstaat Victoria ein offizieller Feiertag. Das Pferderennen wurde vom Victoria Turf Club das erste Mal 1861 ausgetragen. === Australische Küche === Die australische Küche zog ihre Inspiration zunächst aus der englischen Küche, die mit den britischen Sträflingen und Siedlern ab dem 18. Jahrhundert nach Australien kam, bis ab dem 19. Jahrhundert die chinesische Küche Einzug in das Land hielt. Mit der zunehmenden Einwanderung von Italienern und Griechen nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs änderten sich langsam die Essgewohnheiten. Unter dem Einfluss zugezogener Migranten aus Vorderasien sowie von Vietnamesen, Thailändern und zahlreichen anderen Nationalitäten entwickelte sich Modern Australian Cuisine, eine der vielfältigsten Küchen der Welt. Australien hat reiche Vorkommen an Fischen und Meeresfrüchten, auf seinen Weideflächen große Populationen von Schafen und Rindern sowie in den Zonen mit gemäßigtem Klima eine beträchtliche Agrarwirtschaft, was sich auf den Speisekarten des Landes widerspiegelt. Das Barbecue ist beliebt und hat große Tradition in der australischen Kultur. Viele der australischen Weine weisen eine ausgezeichnete internationale Reputation auf, zudem besteht in dem Land eine ausgeprägte Kaffeekultur. === Kunst === Älteste Zeugnisse abbildender Kunst in Australien sind Felsgravierungen der Aborigines, die teilweise auf 30.000 v. Chr. datiert werden. Mit dem Übergang von der Rindenmalerei mit natürlichen Pigmenten zu Arbeiten mit Acryl auf Leinwand stieg die internationale Aufmerksamkeit und die Verkaufbarkeit der Kunstwerke der Aborigines seit den frühen 1970er Jahren stark an. Die ersten Gemälde europäischer Siedler verwendeten meist Tiere oder Aborigines als Motive, waren stilistisch und farblich aber an europäischen Vorbildern orientiert. Conrad Martens passte allerdings die europäische Malerei an die australischen Verhältnisse an. Mit der Aneignung des französischen Impressionismus durch die Heidelberger Schule in Melbourne gegen Ende des 19. Jahrhunderts gelang australischer Kunst erstmals internationale Anerkennung. Die expressionistische Bewegung im Australien der 1940er Jahre, vertreten unter anderem durch Sidney Nolan und Arthur Boyd, beeinflusste auch die Werke etablierter Maler wie Russell Drysdale und William Dobell. Lange Jahre konnte die moderne Bildende Kunst in Australien nicht Fuß fassen; dies dauerte von der Großen Depression bis ans Ende der 1950er‑Jahre. Danach dominierte der abstrakte Expressionismus die Bildende Kunst Australiens. Wichtige Impulse lieferte hierfür die Wanderausstellung French Painting Today von 1953. Heutige Arbeiten australischer Künstler werden zunehmend von Kunstformen der asiatischen Nachbarländer beeinflusst. Zeitgenössische Kunst verwendet darüber hinaus vielfältige Medien, um vor allem aktuelle Themen darzustellen wie die Umweltproblematik oder gesellschaftliche Veränderungen. Wichtigste Kunstpreise für Porträt-Malerei sind der Doug Moran National Portrait Prize und der Archibald Prize, für australische Landschaftsgemälde oder figürliche Skulpturen der Wynne-Prize sowie für Genremalerei und Wandbilder der Sir John Sulman Prize. === Literatur === Die Entwicklung einer eigenständigen australischen Literatur begann erst Mitte des 19. Jahrhunderts. Die Gedichte und Balladen der frühen Autoren wie Henry Lawson oder A. B. ‚Banjo‘ Paterson behandeln vor allem das Leben im australischen Busch. Auch später richtete sich der Fokus vor allem auf den australischen Kontinent und seine Bewohner. Mit der Aufnahme internationaler und sozialer Themen nach dem Zweiten Weltkrieg wurde die Literatur des Landes auch international stärker beachtet. Patrick White erhielt 1973 als bisher einziger Australier den Nobelpreis für Literatur, australische Träger des Booker Prize sind Peter Carey und Thomas Keneally. Wichtigste nationale Auszeichnung der Literaturszene ist der Miles Franklin Award. === Film === Im Jahre 1896 wurde in Sydney das erste Kino des Landes eröffnet. Der 1901 von der australischen Heilsarmee gedrehte Film Soldiers of the cross gilt als erster „echter“ Film der Welt. Anfang des 20. Jahrhunderts gab es schon eine boomende Filmindustrie. Bis in die 1930er Jahre wurden über 250 Stummfilme produziert. Mit der Übernahme des Vertriebs durch britische und US-amerikanische Firmen kam es jedoch zur Krise der australischen Filmproduktion. Trotzdem wurden auch weiterhin Produktionsfirmen gegründet, die in den 1930er Jahren Tonfilme vor allem zu australischen Themen drehten. Bekannte Regisseure dieser Zeit sind Ken G. Hall und Charles Chauvel. Chauvel drehte auch den ersten australischen Farbfilm, Jedda, ein vor allem mit Aborigines besetztes Drama. 1969 beschloss die australische Regierung eine Verstärkung der Filmförderung. In den folgenden Jahren konnten dann Filme mit australischer Thematik internationale Erfolge feiern. Einer der ersten dieser Filme war 1975 Picknick am Valentinstag von Peter Weir. In den nächsten Jahren folgten dann unter anderem die Mad-Max-Reihe von George Miller, Breaker Morant von Bruce Beresford und Gallipoli von Peter Weir, der inzwischen auch in Hollywood erfolgreich Regie führt. 1985 wurde Crocodile Dundee – Ein Krokodil zum Küssen mit Paul Hogan in der Hauptrolle zum Überraschungserfolg. Weitere internationale Erfolge waren 1992 Strictly Ballroom von Baz Luhrmann, 1994 Muriels Hochzeit von P. J. Hogan und Priscilla – Königin der Wüste von Stephan Elliott, 1996 Shine – Der Weg ins Licht von Scott Hicks, 2002 Long Walk Home von Phillip Noyce, sowie 2004 Somersault von Cate Shortland. Im Jahre 2008 erschien der Monumentalfilm Australia von Baz Luhrmann, der mit den australischen Weltstars Hugh Jackman und Nicole Kidman in den Hauptrollen als eine Art nationales Filmepos konzipiert war. Der Film erhielt jedoch nur mäßige Kritiken. Weitere international bekannte Schauspieler sind Eric Bana, Cate Blanchett, Toni Collette, Russell Crowe, Elizabeth Debicki, Errol Flynn, Mel Gibson, Rachel Griffiths, Chris Hemsworth, Heath Ledger, Olivia Newton-John, Miranda Otto, Guy Pearce, Margot Robbie, Geoffrey Rush, Richard Roxburgh oder Naomi Watts. Seit 1999 sind die Fox Studios in Sydney Produktionsort vieler Hollywood-Filme. Hier wurden unter anderem Mission: Impossible II, Teile von Australia, die zweite und dritte Episode der Star-Wars-Serie sowie Thor: Love and Thunder gedreht. === Musik === Klassische Ensembles mit internationalem Ansehen sind die Symphonieorchester Sydneys, Melbournes und Tasmaniens sowie das Australische Jugendorchester und das Australische Kammerorchester. Als Vater einer eigenständigen australischen Kunstmusik gilt der Komponist Alfred Hill. Komponisten wie Peter Sculthorpe und John Antill haben in ihre Werke auch Einflüsse der Aborigines und der asiatischen Nachbarländer übernommen. Von der jüngeren Komponistengeneration haben sich Brett Dean, Georges Lentz und Liza Lim international einen Namen gemacht. Country-Musik im US-amerikanischen Stil ist vor allem in ländlichen Gebieten des Südostens beliebt. Das jährlich in Tamworth stattfindende zehntägige Country Music Festival ist das zentrale Ereignis dieser Musik-Szene. Slim Dusty war ein bekannter australischer Country-Musiker. Ein Vertreter des australischen Jazz ist Graeme Bell. International bekannte Künstler der Pop- und Rock-Musik sind unter anderem die The Seekers, Bee Gees, INXS, AC/DC, Kylie Minogue, Natalie Imbruglia, Rose Tattoo, 5 Seconds of Summer, Men at Work, Flash and the Pan, Midnight Oil, The Church, The Go-Betweens, Press Club, Silverchair, The Dissociatives, Parkway Drive, Delta Goodrem, Crowded House, Icehouse, Tame Impala, King Gizzard & the Lizard Wizard und Nick Cave. Aborigine-Bands wie Yothu Yindi oder Archie Roach versuchen eine Fusion von traditioneller indigener Musik mit Rock-Elementen. Zu letzterem Genre zählt auch die Band Powderfinger. === Tanz und Theater === Die Australische Oper mit Sitz in Sydney, die von dem dänischen Architekten Jørn Utzon geplant worden war, bringt etwa 300 Vorstellungen jährlich auf die Bühne. Die Koloratursopranistin Joan Sutherland gilt als bekanntestes Mitglied des Ensembles. Das nationale Ballett-Ensemble ist das 1961 gegründete Australian Ballett in Melbourne. Auf Tourneen durch Australien werden jährlich etwa 185 Aufführungen klassischen und modernen Balletts angeboten. Das Ballett gilt als eines der besten der Welt. Bedeutende Choreographen sind Robert Helpmann und Graeme Murphy. Murphy gründete auch die Sydney Dance Company, die auf dem Gebiet des modernen Tanzes in Australien führend ist. Das Bangarra Dance Theatre und das Aboriginal and Islander Dance Theatre verschmelzen traditionelle Tänze der indigenen Bevölkerung und modernen Tanz. Klassisches Theater, aber auch moderne Inszenierungen, werden von der Sydney Theatre Company aufgeführt. Der führende Theaterautor Australiens ist David Williamson, der unter anderem der australischen Mittelklasse in seinen Stücken den Spiegel vorhält. In den fünf Sälen des 1973 eröffneten Sydney Opera House werden neben Konzerten und Opern auch Theaterstücke und Filme vorgeführt. === Museen === Das älteste Museum Australiens ist das 1827 am Hyde Park in Sydney errichtete Australian Museum. Es enthält umfangreiche naturhistorische Sammlungen, aber auch Sammlungen zur Geschichte und Kultur der indigenen Bevölkerung. Ein weiteres naturhistorisches Museum von Bedeutung ist das Museum Victoria, gegründet 1854 in Melbourne, mit einer 12 Millionen Exemplare umfassenden Sammlung. Australische Kunst von den kolonialen Anfängen bis zu zeitgenössischen Künstlern beherbergt die Art Gallery of New South Wales, gebaut um 1880 in Sydney. Auch europäische und asiatische Werke zählen zu den Objekten dieses Museums. Die hier angeschlossene Yiribana Gallery ist die weltweit größte Sammlung indigener australischer Kunst. === Medien === Australiens Medien sind weltweit am stärksten monopolisiert und dabei mit den drei Familien Fairfax, Murdoch und Packer verbunden, die über die zweite Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts die australische Medienlandschaft beherrschten. Mit Stand 2021 dominieren die Medienunternehmen News Corporation und Nine Entertainment Company sowohl den Fernseh- als auch den Zeitungsmarkt des Landes. Frank Packer stieg 1934 nach dem Tod seines Vaters Robert Clyde Packer in das Zeitungsgeschäft seiner Familie ein und gründete im Jahr 1936 das Medienunternehmen Australian Consolidated Press (ACP), das er bis zu seinem Tode 1974 leitete. 1956 gründete er den ersten Fernsehsender Australiens TCN-9 Sydney aus dem sich das Nine Network entwickelte, eine der größten australischen Rundfunkgesellschaften. Franks Sohn Kerry Packer übernahm die Familiengeschäfte 1974. Unter ihm fusionierten ACP und Nine Network 1994 zu Publishing and Broadcasting (PBL), dem seinerzeit führenden Medienkonzern des Landes. Die Leitung des Unternehmens ging 1998 an Kerrys Packers Sohn James Packer über, der seither neben dem Mediengeschäft zudem neue Märkte im Bereich Glücksspiel erschloss. 2007 wurde PBL aufgespalten: James Packer konzentrierte sich auf das Glücksspielsegment Crown Limited und die Packer-Familie zog sich aus dem Medienteil Consolidated Media Holdings (CMH) immer weiter zurück. In der Folge wurde aus der Holding PBL Media am 2. Dezember 2010 die Nine Entertainment Company. Im Jahr 2012 wurde CMH vom Mitbewerber News Corporation übernommen.Dem Medienunternehmer Keith Murdoch gehörten zum Zeitpunkt seines plötzlichen Todes im Jahr 1952 zwei Zeitungen und ein Radiosender im südaustralischen Adelaide, darunter die für das Medienunternehmen namensgebende Tageszeitung The News. Keiths Sohn Rupert Murdoch übernahm die Leitung des Unternehmens und baute es ab Ende der 1960er Jahre zum international tätigen Medienkonzern News Corporation aus. Erste internationale Zukäufe waren die beiden britischen Boulevardzeitungen News of the World und The Sun im Jahr 1969, vier Jahre später folgte mit der San Antonio News der Schritt in die Vereinigten Staaten von Amerika. Am 28. Juni 2013 wurde die News Corporation in 21st Century Fox umbenannt, zugleich wurden die gesamte Zeitungssparte in das neue Unternehmen News Corp. ausgegliedert. Zu News Corp. gehört unter anderem mit The Australian eine auflagenstarke, landesweit erscheinende Zeitung. Fairfax Media wurde 1841 als John Fairfax and Sons gegründet. Zu dieser Zeit hatte John Fairfax die Tageszeitung The Sydney Morning Herald erworben. Die Fairfax-Familie hielt die Kontrolle über das Medienunternehmen, das neben nationalen (wie The Australian Financial Review) und regionalen Zeitungen (wie The Age in Melbourne) mit hoher Auflage auch diverse Radiosender umfasste. Im Dezember 1990 brach das Unternehmen unter seiner Schuldenlast zusammen. Hauptaktionäre von Fairfax waren zu dieser Zeit der kanadische Medienunternehmer Conrad Black mit einem Anteil von 25 % sowie Kerry Packer, der über Publishing and Broadcasting mit 15 % beteiligt war. Blacks Versuch, mehrheitlicher Anteilseigner bei Fairfax zu werden, scheiterte am Widerstand der australischen Regierung. Er verkaufte seinen Anteil 1996 an Brierley Investments Limited (BIL) aus Neuseeland. In den Folgejahren übernahm Fairfax dort einige namhafte Zeitungen. Im Jahr 2018 verkündeten die Nine Entertainment Company und Fairfax ihren Zusammenschluss zu Australiens größtem Medienunternehmen.Neben Nine Network agieren landesweit mit Seven Network (Sendestart 1963) und Network Ten (Sendestart 1964) zwei weitere kommerzielle TV-Netzwerke auf dem Fernsehmarkt. Als nationale Rundfunkanstalten betreiben die Australian Broadcasting Corporation (ABC, Sendestart Radio 1929, Fernsehen ab 1956) und Special Broadcasting Service (SBS, Sendestart 1980) je ein landesweit zu empfangendes Fernsehprogramm sowie mehrere Radioprogramme. Die Radioprogramme von SBS werden in 68 Sprachen ausgestrahlt, darunter auch auf Deutsch. Mit Community Entertainment Television (CETV) und Foxtel starteten 1995 zwei Pay-TV-Programmanbieter. CETV wurde später in Austar umbenannt und im Jahr 2012 von Foxtel übernommen. Foxtel gehört seit 2018 zu 65 % zu News Corp., die restlichen 35 % hält das australische Telekommunikationsunternehmen Telstra.In der Rangliste der Pressefreiheit von Reporter ohne Grenzen rutschte Australien 2020 um fünf Ränge auf Platz 26 ab. Damit lag das Land allerdings noch klar vor Spanien (29), Frankreich (34) und Großbritannien (35). Deutschland belegte in dem Jahr die elfte Position. Australiens Abstufung liegt jedoch nicht alleine in der bedenklichen Medienmonopolisierung begründet. Ein weiterer Faktor sind zunehmend restriktive Gesetze zur Kontrolle der Medien, die davon profitieren, dass die Verfassung von Australien keine Pressefreiheit kennt. Hiergegen protestiert die Medienbranche mit der Kampagne Media Freedom – Your Right To Know. Offiziell ist das Australian Press Council für die Pressefreiheit zuständig. Eine Mediengesetz-Novelle mit Ziel, eine Urheberrechtsabgabe für Presseerzeugnisse gegenüber Internetkonzernen wie Google oder Facebook durchzusetzen, eskalierte im Februar 2021. Trotz verbreiteter Kritik erklärte sich Google noch vor der Verabschiedung des Gesetzes bereit, der Nine Entertainment Company 30 Millionen Dollar pro Jahr für die Nutzung von Nachrichteninhalten zu zahlen. Facebook hingegen sperrte den Zugang zu australischen Nachrichtenseiten über seine Plattform für Nutzer in Australien. Als Begleitschaden wurden kurzfristig auch die Facebook-Auftritte des Wetterdienstes Bureau of Meteorology, Gesundheitsbehörden wie SA Health, ACT Health oder Queensland Health sowie Facebook-Angebote von australischen Rettungsdiensten und Feuerwehren blockiert. Australiens Finanzminister Josh Frydenberg vermeldete am 23. Februar 2021 nach erneuten Verhandlungen eine Einigung mit Facebook. Nach dem Wunsch der australischen Regierung soll das Regelwerk Tech-Firmen einen Anreiz bieten, Abkommen ohne staatliche Intervention direkt mit Medienanbietern zu schließen.Im Jahr 2020 nutzten 89,6 Prozent der Einwohner Australiens das Internet. === Sport === Sport ist ein wichtiger Teil der australischen Kultur, gefördert durch ein Klima, das Outdoor-Aktivitäten begünstigt. Laut der Volkszählung des Jahres 2001 sind 23,5 % der über vierzehnjährigen Australier regelmäßig im organisierten Sport aktiv. Bekannte australische Sportler sind die Sprinterin Cathy Freeman und der Schwimmer Ian Thorpe. Australien hat an sämtlichen modernen Olympischen Spielen und allen Commonwealth Games teilgenommen, gehörte 1912/14 zu den Vorreitern der Finanzierung von Spitzensport durch den Staat, war in den Jahren 1956 und 2000 Gastgeber der Olympischen Sommerspiele und bisher fünfmal Gastgeber der Commonwealth Games (1938, 1962, 1982, 2006 und 2018). Auch Fernsehübertragungen von Sportereignissen sind beliebt, die Olympischen Sommerspiele sowie Finalspiele lokaler und internationaler Football-Turniere erreichen höchste Einschaltquoten. Special Olympics Australien wurde 2003 gegründet und nahm mehrmals an Special Olympics Weltspielen teil. Der Verband hat seine Teilnahme an den Special Olympics World Summer Games 2023 in Berlin angekündigt. Die Delegation wird vor den Spielen im Rahmen des Host Town Programs von Potsdam betreut. Zu den beliebten Mannschaftssportarten Australiens zählen zwei Varianten des Rugby: Rugby League sowie Rugby Union. Daneben ist Australian Football, in Australien vor allem unter den Namen Footy oder Aussie Rules, der Nationalsport. Australian Rules ist eine bedeutend nur in Australien verbreitete Sportart, die auf einem ovalen Feld gespielt wird. Internationale Erfahrungen können die Spieler nur im einmal jährlich stattfindenden International-Rules-Turnier sammeln. Dabei wird eine Mischung aus Australian Rules und Gaelic Football gespielt. Bei der Beurteilung, ob Rugby oder Football der beliebteste Sport ist, sind regionale Unterschiede auszumachen. So gilt die Gegend um Melbourne als Hochburg des Aussie Rules, während rund um Sydney eher Rugby der Nummer-eins-Sport ist. Die Wallabies, Australiens Rugby-Union-Nationalmannschaft, gewann bisher zweimal die Weltmeisterschaft (1991 und 1999). Außerdem war man zweimal Gastgeber dieses Turniers, 1987 zusammen mit Neuseeland und 2003 alleine. Die Weltmeisterschaft 2027 soll wieder in Australien stattfinden. Die Kangaroos sind die mit Abstand erfolgreichste Mannschaft bei Rugby-League-Weltmeisterschaften. National und international erfolgreich sind außerdem die Teams in Cricket und Netball. Die australische Cricket-Nationalmannschaft ist nach England die älteste Mannschaft mit Teststatus und beide Länder spielen um die älteste Trophäe im internationalen Cricket, The Ashes. Australien ist fünfmaliger Cricketweltmeister (1987, 1999, 2003, 2007 und 2015) und war zusammen mit dem Nachbarn Neuseeland zweimal Gastgeber dieses Turniers (1992 und 2015). Australien gewann auch die Champions Trophy zweimal: 2006 und ICC Champions Trophy 2009. Beim T20 World Cup 2021 in Oman und den Vereinigten Arabischen Emiraten gewann Australien seinen ersten Weltmeisterschaftstitel in diesem Format, nachdem man Neuseeland mit acht Wickets bezwang. Australien war Gastgeber des T20 World Cup 2022, den England gewann, und wird zusammen mit Neuseeland den T20 World Cup 2028 anbieten. Nachdem Australien das Finale der World Test Championship 2021–2023 gegen Indien mit 209 Runs gewonnen hatte, wurden die Australier das erste Team, das jeden ICC-Titel mindestens einmal gewinnen konnte. Aber auch im Rad- und Schwimmsport werden herausragende Leistungen erbracht. 2011 gewann mit Cadel Evans erstmals ein Australier die Tour de France, das bedeutendste Radrennen der Welt. Seit 1905 findet eines der vier Tennis-Grand-Slam-Turniere in Australien statt: die Australian Open in Melbourne. Das Land hat mehrere Topspieler hervorgebracht, zu den erfolgreichsten gehören Roy Emerson und Rod Laver. Die Formel 1 gastiert regelmäßig in Australien. Der Große Preis von Australien wurde seit 1985 in Adelaide gefahren und findet seit 1996 jährlich in Melbourne statt. Mit Jack Brabham kam ein dreifacher Weltmeister der Formel 1 aus dem Land. Daniel Ricciardo ist seit 2011 in der Formel 1 aktiv, Mark Webber war es von 2002 bis 2013. Insgesamt kommt das Land auf 14 Formel-1-Rennfahrer. Im ebenfalls beliebten Motorradrennsport brachte das Land Weltmeister wie Casey Stoner, Wayne Gardner, Mick Doohan, Troy Bayliss oder Troy Corser hervor. Zu den WM-Läufen der Motorrad-Weltmeisterschaft und der Superbikes strömen jährlich viele Zuschauer zur Strecke von Phillip Island. In den Winterschneegebieten der Australischen Alpen und auf Tasmanien ist Wintersport möglich, in vielen Städten wurden auch Eishockey-Stadien gebaut. In den letzten Jahren gewinnt der Fußball in Australien nicht nur durch die Leistungen der Nationalmannschaft an Begeisterung. Die A-League ist die höchste Spielklasse im australischen Vereinsfußball. 2015 war das Land Gastgeber der Fußball-Asienmeisterschaft und konnte erstmals den Titel holen. Zuvor war Australien viermal Ozeanienmeister und nahm an fünf Weltmeisterschaften teil. Im Basketball zählt insbesondere die Nationalmannschaft der Damen zur Weltspitze. == Siehe auch == Gesellschaft für Australienstudien Liste deutscher Bezeichnungen australischer Orte == Literatur == Wolfgang Babeck: Einführung in das australische Recht mit neuseeländischem Recht (= Schriftenreihe der Juristischen Schulung. Band 195). Verlag C. H. Beck oHG, München 2011, ISBN 978-3-406-61959-5. Bettina Biedermann, Heribert Dieter (Hrsg.): Länderbericht Australien (= Schriftenreihe. Band 1175). Bundeszentrale für politische Bildung, Bonn 2012, ISBN 978-3-8389-0175-6. Ian Crawshaw: Australia walkabout. Reiseführer für das Australien der Aborigines und Torres Strait Islander. Herausgegeben von Sabine Muschter. Intuitiv media, Kiel 2009, ISBN 978-3-00-029490-7. Albrecht Hagemann: Kleine Geschichte Australiens (= Beck’sche Reihe. Band 1594). Verlag C. H. Beck oHG, München 2004, ISBN 978-3-406-51101-1. Robert Hughes: Australien. Die Besiedelung des fünften Kontinents (= Knaur. Band 4866). Aus dem Amerikanischen von Karl A. Klewer. 3. Auflage. Verlagsgruppe Droemer Knaur GmbH & Co. KG, München 1995, ISBN 978-3-426-04866-5. Stuart Macintyre: A concise history of Australia (= Cambridge Concise Histories). 3. Auflage. Cambridge University Press, Cambridge 2009, ISBN 978-0-521-51608-2. Hermann Mückler: Australien, Ozeanien, Neuseeland. (Neue Fischer Weltgeschichte, Bd. 15), S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2020, ISBN 978-3-10-010845-6. == Filme == Australien-Saga (1/2) Auf den Spuren der Entdecker. Dokumentation. Terra X, abgerufen am 14. Februar 2022 (ZDF 2016. Ein Film von Gero von Boehm. Unter Mitwirkung von Christopher Clark). Australien-Saga (2/2) Das letzte Paradies / Von Menschen und Meer. Dokumentation. Terra X, abgerufen am 14. Februar 2022 (ZDF 2016. Ein Film von Gero von Boehm. Unter Mitwirkung von Christopher Clark). == Weblinks == CIA World Factbook: Australien (englisch) Linkkatalog zum Thema Australien bei curlie.org (ehemals DMOZ) Offizielle Website der australischen Regierung (englisch) Länderinformationen des Auswärtigen Amtes zu Australien Länderprofil des Statistischen Bundesamtes Datenbank inhaltlich erschlossener Literatur zur gesellschaftlichen, politischen und wirtschaftlichen Situation in Australien Museum of Australian Democracy at Old Parliament House, Unterseite: Democracy. Museum of Australian Democracy at Old Parliament House in Verbindung mit den National Archives of Australia, 2011, abgerufen am 12. Januar 2017 (Präsentiert 110 Schlüsseldokumente, die die Grundlage der australischen Nation bilden; englisch). == Einzelnachweise ==
https://de.wikipedia.org/wiki/Australien
Argentinien
= Argentinien = Argentinien (spanisch [aɾxenˈtina]) ist eine Republik im Süden Südamerikas. Sie grenzt im Westen an Chile, im Norden an Bolivien und Paraguay, im Nordosten an Brasilien und Uruguay und wird im Osten durch den Atlantischen Ozean begrenzt. Der Landesname leitet sich von der lateinischen Bezeichnung für Silber – argentum – ab und stammt aus der spanischen Kolonialzeit, als man hier Edelmetalle zu finden hoffte. Bis zu seiner Unabhängigkeit 1816 war es Teil des spanischen Kolonialreiches. Politisch ist Argentinien eine präsidentielle Bundesrepublik, in der die einzelnen Provinzen weitreichende Kompetenzen haben. Laut der argentinischen Verfassung gelten neben República Argentina auch Provincias Unidas del Río de la Plata und Confederación Argentina als offizielle Bezeichnungen Argentiniens.Mit einer Fläche von knapp 2,8 Mio. km² ist Argentinien der achtgrößte Staat der Erde und der zweitgrößte des südamerikanischen bzw. der viertgrößte des amerikanischen Doppelkontinentes. Wegen seiner großen Nord-Süd-Ausdehnung hat das Land Anteil an mehreren Klima- und Vegetationszonen. Im Hinblick auf die Einwohnerzahl steht es mit rund 45 Millionen Einwohnern in Südamerika an dritter (nach Brasilien und Kolumbien) und in ganz Amerika an fünfter Stelle. Etwa ein Drittel der Bevölkerung konzentriert sich im Ballungsraum der Hauptstadt Buenos Aires, die als bedeutendes Kulturzentrum Amerikas gilt, in dem unter anderem der Tango Argentino seinen Ursprung hat. Weitere Ballungszentren bilden die Städte Córdoba, Rosario, Mar del Plata und Mendoza. Große Teile des trockenen und kalten Südens sind dagegen nur sehr dünn besiedelt. Bis etwa 1950 war Argentinien eines der reichsten Länder der Erde. Wirtschaftlich spielten traditionell die Landwirtschaft, Viehzucht und der Rohstoffabbau eine große Rolle, wenn auch heute der Dienstleistungssektor mit rund 60 % den größten Anteil am BIP ausmacht. Politisch und kulturell war das Land bis Mitte des 20. Jahrhunderts stark durch die Einwanderung aus Europa geprägt, vor allem aus Italien und Spanien. Die wichtigsten Etappen seitdem sind der Peronismus (1946–1955; 1973–1976), mehrere Militärdiktaturen (insbesondere die 1976–1983), die Redemokratisierung (nach 1983) und der Neoliberalismus (1990er Jahre) bis zur Argentinien-Krise 2001 und der darauf folgenden Konsolidierung. == Geographie == Argentinien hat eine Fläche von 2,78 Millionen km² und ist damit nach Brasilien der zweitgrößte Staat Südamerikas. Die Ausdehnung von Norden nach Süden beträgt 3694 km, die von Westen nach Osten an der breitesten Stelle circa 1423 km. Es grenzt im Osten an den Atlantischen Ozean, im Norden an Bolivien und Paraguay, im Nordosten an Brasilien und Uruguay; ihre jeweils längste gemeinsame Grenze bilden Chile und Argentinien im Westen des Landes. Das gesamte westliche Grenzgebiet wird von den Anden eingenommen, der längsten kontinentalen Gebirgskette der Erde. Der zentrale Norden Argentiniens wird vom Gran Chaco – einer heißen Region mit Trockenwald und Savannenformationen – eingenommen. Östlich davon schließt sich entlang des Río Paraná das Hügelland der Provinz Misiones an. Dort befinden sich am Dreiländereck Argentinien–Paraguay–Brasilien die Iguazú-Wasserfälle; sie sind etwa 2,7 Kilometer breit und zählen zu den größten der Erde. Südlich davon, zwischen den großen Strömen Río Paraná und Río Uruguay, liegt das feuchte und sumpfige Mesopotamia. Am Río de la Plata, dem gemeinsamen Ästuar dieser beiden Ströme, liegen die Stadt Buenos Aires und die gleichnamige Provinz Buenos Aires, das wirtschaftliche Herz Argentiniens, wo etwa ein Drittel der Einwohner des Landes lebt. Westlich und südlich von Buenos Aires erstrecken sich die Pampas, eine grasbewachsene Ebene, wo der größte Teil der Agrarprodukte des Landes erzeugt wird. In dieser Region befinden sich große Weizenfelder und Weideflächen für Rinder; die Ausfuhr von Rindfleisch brach ab 2005 als Folge von Exportbeschränkungen und -verboten der Regierung von 771.000 Tonnen auf 190.000 Tonnen ein. Im Jahre 2017 gingen wieder 308.638 Tonnen Rindfleisch in den Export. Zwischen den Pampas und den Anden liegen im zentralen Argentinien die Gebirgszüge der Sierras Pampeanas. Diese Mittelgebirge erreichen Höhen von 2800 m in den Sierras de Córdoba und bis zu 6250 m in der Sierra de Famatina in La Rioja. Das im Süden Argentiniens gelegene Patagonien ist von starken Westwinden geprägt und hat ein sehr raues Klima. Dieses Gebiet, das etwa ein Viertel der Fläche des Landes ausmacht, ist sehr dünn besiedelt. Der tiefste Punkt des Landes und Gesamtamerikas ist die Laguna del Carbón mit 105 m unter dem Meeresspiegel. Sie befindet sich zwischen Puerto San Julián und Comandante Luis Piedra Buena in der Provinz Santa Cruz. Ein etwa 60 km langer Abschnitt der Grenze zu Chile, der sich im Südpatagonischen Eisfeld befindet, ist nicht als klar gezogene Grenze markiert, sondern wird von einer zwischen den beiden Staaten vereinbarten besonderen Zone eingenommen. Von Argentinien wird ein Sektor des antarktischen Kontinents beansprucht; dieser Anspruch kollidiert jedoch mit dem Antarktis-Vertrag, der seit 1961 in Kraft ist. === Gebirge und Berge === In den argentinischen Anden gibt es fast 100 über 6000 m hohe Berge. Zu ihnen zählen der höchste Berg des amerikanischen Kontinents, der Aconcagua mit 6961 m Höhe und die beiden höchsten Vulkane der Erde, der Ojos del Salado mit 6880 m und der Monte Pissis mit 6795 m. In den Südanden sind die Berge weniger hoch; viele sind wegen des feuchtkalten Klimas stets schneebedeckt. Auch in den Sierras Pampeanas werden teilweise sehr große Höhen gemessen: Die Sierra de Famatina in der Provinz La Rioja erreicht ebenfalls über 6000 m. Die Höhen dieses Gebirgskomplexes fallen jedoch nach Osten hin ab, in den Sierras de Córdoba werden nur noch maximal 2800 Meter erreicht. Die nördlichen Patagoniden (Mesetas Patagoniens) weisen im Südosten von Mendoza immerhin noch 4700 m Höhe auf, ihre Höhe nimmt nach Südosten hin ab. In den anderen Gebieten Argentiniens erreichen die Berge nur in Ausnahmefällen über 1000 m Höhe. Darunter fallen die Sierras Australes Bonaerenses (Sierra de la Ventana und Sierra de Tandil) an der Atlantikküste und das Hügel- und Bergland von Misiones. === Flüsse und Seen === Argentiniens Hydrologie wird von den Zuflüssen des Río de la Plata dominiert. Sein Einzugsgebiet umfasst etwa 5.200.000 km². Etwa ein Drittel hiervon liegt in Argentinien, der Rest in Bolivien, Brasilien, Paraguay und Uruguay. Zuflüsse des Río de la Plata sind der Río Paraná und der Río Uruguay. Im Norden an der Grenze zu Brasilien befindet sich der Iguazú-Nationalpark. Darin der Fluss Iguazú mit den Iguazú-Wasserfällen, welche dreimal so groß wie die Niagarafälle sind. Das zweitgrößte Einzugsgebiet hat der Río Colorado in Nordpatagonien, dessen größter Zufluss, der Río Salado del Oeste, einen Großteil Westargentiniens entwässert, wobei jedoch ein Großteil seines Wasservolumens wegen des trockenen Klimas bereits auf dem Weg verdunstet oder in Sumpfgebieten versickert. Argentinien weist zwei größere Seengebiete auf. Das umfangreichste liegt am Fuß der Südanden, wo sich eine lange Kette von Schmelzwasserseen von der Provinz Neuquén bis nach Feuerland erstreckt. Daneben finden sich in der westlichen zentralen Pampa und im südlichen Chaco zahlreiche Flachlandseen, die teilweise nur wenige Meter tief und oft salzhaltig sind. Der Flachlandsee Mar Chiquita mit 5770 km² in der Provinz Córdoba sowie die Andenseen Lago Argentino (1415 km²) und Lago Viedma (1088 km²) liegen im Nationalpark Los Glaciares, der zum UNESCO-Welterbe erklärt wurde. Dort befindet sich auch der Gletscher Perito Moreno. === Inseln === Argentinien hat trotz seiner lang gestreckten Küstenlinie nur wenige Inseln. Die größte ist die zum Archipel Feuerland gehörende Isla Grande de Tierra del Fuego mit 47.020 km², die sich Argentinien (Provinz Tierra del Fuego, 21.571 km²) und Chile (25.429 km²) teilen. Das einzige weitere Inselgebiet von Bedeutung ist der Süden der Provinz Buenos Aires, wo sich in den Buchten Bahía Blanca und Bahía Anegada zwei ausgedehnte Wattenmeere befinden. Die Inseln dort sind flach und mit Ausnahme der Isla Jabalí, auf der der Badeort San Blas liegt, unbewohnt. Größte Insel ist die Isla Trinidad mit 207 km². Des Weiteren gibt es vor der patagonischen Küste einige kleinere Felseninseln. Völkerrechtlich umstrittenes Territorium sind die Falklandinseln (auch Malwinen, englisch Falkland Islands, spanisch Islas Malvinas), eine Inselgruppe im südlichen Atlantik. Sie gehören geographisch zu Südamerika, liegen 600 bis 800 km östlich von Südargentinien und Feuerland bei 52° Süd und 59° West und sind britisches Überseegebiet. Seit 1833 werden sie von Argentinien beansprucht. Die Besetzung der Inseln durch Argentinien am 2. April 1982 löste den Falklandkrieg aus, der bis zum 14. Juni 1982 dauerte und mit einer Niederlage für Argentinien endete. Die größten Inseln der Falkland Islands sind Ostfalkland (Soledad) mit 6683 km² und Westfalkland (Gran Malvina) mit 5278 km². Unter demselben Status befindet sich das südöstlich von den Falklandinseln gelegene Territorium Südgeorgien und die Südlichen Sandwichinseln. === Klima === Die nördliche Hälfte Argentiniens liegt in den Subtropen (im äußersten Nordosten erreicht ein kleiner Teil die immerfeuchten Tropen) und die südliche in der kühlgemäßigten Klimazone. Über die gesamte Landesfläche bestehen große Kontraste von vollhumiden bis vollariden Klimaten. Hinzu kommen die Gebirgsklimate der Anden. Der Nordwesten Argentiniens ist im Bereich der Anden trocken mit einer kurzen Regenzeit im Sommer. In ihr findet man die Hochwüste Puna, deren Westen zu den regenärmsten Gebieten der Welt zählt, sowie den halbwüstenartigen, unfruchtbaren Monte am Fuß der Anden in den Provinzen Mendoza, San Juan und La Rioja. Die Osthänge der Voranden beherbergen subtropische Nebelwälder in den Provinzen Tucumán, Salta und Jujuy, die im Sommer wegen des Abregnens der feuchten Ostwinde sehr niederschlagsreich, im Winter aber relativ trocken sind. Nach Osten hin schließt sich der Gran Chaco im zentralen Norden an, seine Niederschläge konzentrieren sich auf den Sommer, das Gleiche gilt für die Region der Sierras Pampeanas in Zentralargentinien. In beiden Regionen nehmen die Niederschläge nach Westen hin ab. Der Nordosten sowie die Pampa-Region sind das ganze Jahr über feucht, wobei die höchsten Niederschlagsmengen im subtropischen Regenwald der Provinz Misiones auftreten. Der Süden (Patagonien) liegt in der Westwindzone, weshalb hier der westliche Teil mehr Niederschläge als der Osten erhält. Die Anden sind ständig feucht und von der Temperatur kühl gemäßigt. Sie wirken als Barriere für die feuchten Pazifikwinde, so dass das östlich anschließende patagonische Schichtstufenland sehr trocken und halbwüstenhaft ist. In dieser Region bestimmt der regelmäßig alle ein bis zwei Wochen vom Südwesten her blasende Pampero-Wind das Klima. Ein Sonderfall ist das Klima im südlichen Teil Feuerlands mit kühlem ozeanischem Klima, wo wegen der dort fehlenden Klimascheide der Anden sowohl pazifische als auch atlantische Einflüsse das Wetter bestimmen. Dort sind die Niederschlagsmengen relativ hoch und die Temperaturen weisen eine relativ geringe Abweichung zwischen Sommer und Winter auf. === Flora und Fauna === Entsprechend den sehr unterschiedlichen Klimazonen Argentiniens variieren auch die Vegetation und die Tierwelt sehr stark. Insgesamt sind etwa zwölf Prozent der Landfläche bewaldet. ==== Flora ==== In den subtropischen Trockenwäldern des Gran Chaco gedeihen tropisch-subtropische Pflanzen, wie Palisanderhölzer (Dalbergia), Guajakholzbäume (Guaiacum officinale), Rio-Palisander (Jacaranda mimosifolia) und Quebracho-Bäume (Schinopsis lorentzii), aus denen Gerbsäure gewonnen wird, aber auch Palmen. Vielfach sind auch Algarrobo-Bäume (hauptsächlich Prosopis alba und Prosopis nigra) prägend. Der Süden und Osten des Chaco mit seinem milderen Klima wird intensiv landwirtschaftlich genutzt, während der Norden noch weitgehend ursprünglich ist. Die Pampa ist eine ausgedehnte subtropische Graslandschaft mit verschiedenen Gräsern. Von nicht einheimischen Eukalypten (Eucalyptus), amerikanischen Platanen (Platanus occidentalis) und Akazien (Acacia) abgesehen, finden sich hier keine Bäume. Der einzige Baum, der in der Pampa beheimatet ist, ist der immergrüne Ombú. Aufgrund des sehr feinen steinfreien und fruchtbaren Bodens ist die landwirtschaftliche Nutzung sehr ertragreich, so dass sich nur noch wenig ursprüngliche Vegetation erhalten hat. In den trockenen zentralen Gebieten Argentiniens finden sich in den ariden Halbwüsten viele Kakteengewächse (Cactaceae) und Dornsträucher. Patagonien liegt schon im Regenschatten der Anden und ist eine karge und weitestgehend baumlose Trockenlandschaft. Hier herrschen zum Teil auch Gräser wie in der Pampa, jedoch überwiegend Sträucher in trockenen Halbwüsten und Strauchsavannenformationen vor. Wegen des steinigen Bodens und des rauen Klimas ist Getreideanbau (außer entlang von Flusstälern) nicht möglich, stattdessen wird die patagonische Hochebene als Weideland genutzt. In den Vorgebirgen der Anden und auf Feuerland befindet sich jeweils ein mehrere hundert Kilometer langer Streifen Grassteppen und Wälder. Anders als auf der Nordhalbkugel gibt es auf der Südhalbkugel keine reinen Nadelwälder; selbst der einheimische Bergwald wird ausschließlich aus Laubhölzern (insbesondere Scheinbuchenarten (Nothofagus) wie Coihue, Lenga und Antarktische Scheinbuche) gebildet, die regional durch eine zweite Baumschicht aus Koniferen ergänzt werden (z. B. Alerce, Chilezeder, Chilenische Flusszeder, Chilenische Steineibe, Pflaumen-Steineibe, Patagonische Eibe und Chilenische Araukarie). Heute sind viele Andenhänge jedoch durch eingeführte Nadelhölzer, wie Fichten (Picea), Zypressen (Cypressus), Kiefern (Pinus), Zedern (Cedrus) und anderen Nutzhölzer, geprägt. Die Baumgrenze liegt bei etwa 3500 m. Die Blüte des Ceibos (Hahnenkammbaum oder Korallenbaum) ist als sogenannte „nationale Blume“ eines der Nationalsymbole. ==== Fauna ==== Im äußersten Norden ist die Tierwelt sehr vielfältig: Hier leben verschiedene Affenarten, Jaguare, Pumas, Ozelots, Waschbären, Nasenbären, Ameisenbären, aber auch Tapire, Nabelschweine und Reptilien wie Schlangen und Kaimane. Die Vogelwelt beherbergt hier in der Nähe zu den Tropen Kolibris, Flamingos, Tukane und Papageien. Allerdings macht diese Region den kleinsten Teil Argentiniens aus. In der Pampa kamen ursprünglich Gürteltiere, Mähnenwölfe, Pampasfüchse, Pampaskatzen, Pampashirsche, Nandus, verschiedene Greifvögel wie Falken sowie Reiher vor. Davon mussten die meisten Arten der Landwirtschaft weichen. In den kargen Gebieten der Anden trifft man auf die wilden Lamas: die Guanakos und Vikunjas; sowie auf den Andenkondor, der zu den größten Vögeln der Welt gehört. Raubtiere sind die Bergkatze, der Puma und der Andenschakal. An Salzseen finden sich häufig Zugvögel wie Flamingos. In Patagonien und Feuerland ist das Tierleben artenärmer. Auch hier leben Pumas, Nandus und Guanakos; der Patagonische Huemul und Pudú (ein kleiner Hirsch) sind Teil der Fauna der südlichen Anden. Auf Feuerland nisten zudem Kormorane und Magellanspechte. Die patagonischen Küsten beherbergen Magellanpinguine und Kolonien von Südamerikanischen Seebären und Mähnenrobben. Die Küstengewässer Argentiniens beherbergen unter anderem Südkaper, Orcas und Commerson-Delfine, daneben Seehechte, Sardinen, Makrelen und Dorados. == Bevölkerung == === Demografie === ==== Bevölkerungsdichte ==== Argentinien hat eine Bevölkerung von etwa 47,3 Millionen Einwohnern. Dies entspricht einer Bevölkerungsdichte von 16,4 Einwohnern/km². Etwa 87 % der Bevölkerung leben in Städten von mehr als 2000 Einwohnern, wovon allein 11,5 Millionen auf die Agglomeration Gran Buenos Aires entfallen. Diese hat eine Bevölkerungsdichte von 2989 Einwohnern/km². Die Stadt und die gesamte Provinz Buenos Aires zusammen haben 16,6 Millionen Einwohner, die Provinzen Córdoba und Santa Fe jeweils ca. drei Millionen, so dass in diesen drei im zentralen Teil des Landes gelegenen Provinzen zusammen mehr als 60 % der Bevölkerung leben. Weite Teile des übrigen Landes sind dagegen sehr dünn besiedelt, vor allem im trockenen Süden, wo nur etwa ein bis drei Einwohner/km² leben. ==== Bevölkerungsentwicklung und Altersstruktur ==== In der Kolonialzeit lag der Schwerpunkt der argentinischen Bevölkerung lange im Nordwesten, und insbesondere in der Minenregion um Salta und Jujuy. Größte Stadt war das am Kreuzungspunkt mehrerer Handelsrouten gelegene Córdoba. Dies änderte sich mit der Einrichtung des Vizekönigreiches Río de la Plata 1776. Der Handel ließ nun die Bevölkerungszahl der Küstenregion im Osten des Landes (Buenos Aires, Santa Fe, Entre Rios) sprunghaft ansteigen, und nach der Erringung der Unabhängigkeit hatte sich die wirtschaftliche und politische Macht endgültig in dieser Region konzentriert. Das Gebiet südlich einer Linie etwa zwischen dem heutigen La Plata und Mendoza war dagegen bis zur Wüstenkampagne des General Roca in den 1870er Jahren noch von den Indianern bewohnt, es gab allerdings einige spanische und walisische Enklaven. Die Einwanderungswelle 1880–1930 verstärkte die Dominanz der Küstenregion und besonders von Stadt und Provinz Buenos Aires zusätzlich, da sich der Großteil der Einwanderer in dieser Gegend niederließ. Der Nordwesten wurde mehr und mehr zu einer rückständigen und wirtschaftlich schwachen Region, in dem relativ wenig Einwanderung stattfand, und Patagonien befand sich erst am Beginn seiner Entwicklung. Der Großraum Buenos Aires wuchs so zwischen 1850 und 1914 von 150.000 auf 1,6 Millionen Einwohner. Nach dem Versiegen des Einwandererstroms um 1930 brachte die Industrialisierung einen Binnenwandererstrom, dessen Ziel ebenfalls Buenos Aires und – mit Abstand – Córdoba und Rosario war. Dieser Strom hielt bis in die 1970er Jahre an und führte dazu, dass sich der Großraum rund um die Hauptstadt weit über das eigentliche Stadtgebiet von Buenos Aires ausdehnte. 1980 überschritt der Großraum Buenos Aires im nationalen Zensus zum ersten Mal die 10-Millionen-Marke und konzentrierte damit fast 40 % der Bevölkerung (damals 24 Millionen). Danach flachte das Wachstum der Städte der Küstenregion deutlich ab. Zwischen 1991 und 2001 verlor die Stadt Buenos Aires 7 % ihrer Einwohner, die Bevölkerung des Ballungsraums der Stadt insgesamt stieg nur noch leicht an, auch Rosario und Santa Fe stagnierten. Zum Wachstumsmagnet wurden dagegen abgelegene Regionen wie das wirtschaftlich boomende Patagonien, insbesondere die südlichsten Provinzen Tierra del Fuego und Santa Cruz (44 % bzw. 23 % Zuwachs zwischen 1991 und 2001), aber auch die Städte des Nordwestens wie Jujuy, Salta, La Rioja und Tucumán sowie der Ballungsraum Córdoba. In Buenos Aires und den meisten Großstädten gibt es seit etwa 1980 das Phänomen der Stadtflucht: Viele, meist besser verdienende Einwohner siedeln von den Stadtzentren ins Umland um. Seit etwa 1990 hat sich dieses Phänomen durch die massenhafte Einrichtung von privaten Stadtvierteln und Country Clubs noch verstärkt. Die Ursache liegt in der als steigend empfundenen Kriminalität. Auch touristisch und landschaftlich interessante Orte erleben seit dieser Zeit eine positive Entwicklung, was sowohl mit der steigenden Mobilität der Bevölkerung als auch mit der inzwischen deutlich besseren Verfügbarkeit von infrastrukturellen Dienstleistungen wie Telefon, Radio, Fernsehen und Internet selbst in weit entlegenen Gebieten zusammenhängt. So wurden aus ehemals kleinen Ferienorten wie Merlo, Pinamar und Villa Carlos Paz prosperierende, schnell wachsende Städte. === Ethnien === ==== Ethnische Zusammensetzung ==== Mehr als 90 % der Bevölkerung stammen nach der offiziellen Statistik zumindest teilweise von eingewanderten Europäern, mehrheitlich Italienern, ab. Die hohe Anzahl von Personen, die zumindest einen europäischen Vorfahren haben, haben einen Mythos des weißen Argentiniens hervorgebracht. Bis Anfang der 1990er Jahre ging man von einem Anteil der Mestizen – Nachfahren sowohl von Europäern als auch von Indigenen – unter 10 % aus. Nach neueren Erkenntnissen ist deren Anteil jedoch weitaus höher. Neuere genetische Untersuchungen ergaben zwischen 53 % und 65 % europäisches, 31-40 % indianisches und 4 % afrikanisches Erbgut. Diese Diskrepanz wird darauf zurückgeführt, dass die Mestizen früher unter einer starken Diskriminierung zu leiden hatten und sich daher als „Weiße“ deklarierten. In Argentinien haben geschätzt 300.000 Menschen eine Roma-Abstammung, von denen zahlreiche wegen Diskriminierung und fehlender kultureller Förderung ihre eigene Kultur aufgegeben und sich assimiliert haben. ==== Indigene Bevölkerung ==== Nur eine Minderheit der Argentinier sind ausschließlich Nachkommen der insgesamt 30 Ethnien, die vor dem Eintreffen der Spanier auf dem Landesterritorium lebten. Dies liegt einerseits daran, dass Argentinien vor der Kolonialzeit nur im Nordwesten dicht bevölkert war, zum anderen auch daran, dass die verbleibenden Ureinwohner von den Spaniern und später von den Argentiniern weitgehend ausgerottet wurden. Vom staatlichen Institut für indigene Angelegenheiten (INAI) wird die Zahl der Indigenen auf etwa 1 Million, von Seiten der Indigenenorganisationen wie der AIRA (Asociación de Indígenas de la República Argentina) jedoch auf mehr als 1,5 Millionen geschätzt. Im Jahr 2001 hatten etwa 2,8 % aller argentinischen Haushalte indigene Haushaltsmitglieder, wobei der Anteil von Provinz zu Provinz stark variierte. So war in der Provinz Jujuy der Anteil mit 10,5 % am größten. Am niedrigsten war der Anteil in der Provinz Corrientes mit 1,0 %. In der Hauptstadt Buenos Aires betrug er 2,3 %.Die größten Gruppen sind die Kollas in Jujuy und Salta, die Mapuche (Araukaner) in Neuquén und Río Negro, die Wichí und Toba im Chaco und in Formosa sowie die Guaraní in den nördlichen Provinzen. Nur eine Minderheit der Indigenen lebt in ihren angestammten Siedlungsgebieten, viele sind in die Großstädte übergesiedelt, wo sie oft unter ärmlichen Bedingungen als schlecht bezahlte Arbeiter leben. So gibt es in Rosario und Resistencia Viertel, die nur von Toba-Indianern bewohnt werden, dasselbe gilt für Kollas in San Salvador de Jujuy und San Miguel de Tucumán. Seit den 1980er Jahren erstarken innerhalb dieser Stämme Bewegungen, die traditionelle Kultur gezielt zu erhalten und zu verbreiten, etwa über Radiosender und an Schulen. ==== Zuwanderung und Auswanderung ==== Die Zahl der Ausländer lag bei der Volkszählung 2010 bei 1.805.957 (4,6 % der Bevölkerung), dabei sind die größten Gruppen Paraguayer (550.713), Bolivianer (345.272), Chilenen (191.147), Peruaner (157.514) und Italiener (147.499). Den höchsten Anteil von im Ausland Geborenen haben die Provinz Santa Cruz (12 %), die Stadt Buenos Aires sowie Tierra del Fuego (beide 11 %). Im Jahre 2017 waren 4,9 % der Bevölkerung Migranten.Historisch gesehen wurde die größte Einwanderungswelle zwischen 1857 und Mitte des 20. Jahrhunderts verzeichnet, fast ausschließlich aus Europa. Zwischen 1857 und 1920 immigrierten vor allem Menschen aus Italien (rund 2,3 Millionen Einwanderer) und Spanien (1,6 Millionen Einwanderer). Die Zahl der Immigranten aus Deutschland wird für die Zeit von 1857 bis 1920 auf 70.000 geschätzt. Mitte des 20. Jahrhunderts flachte die Migration nach Argentinien immer weiter ab, abgesehen von einem kurzzeitigen Wiederaufflammen zur Zeit des Zweiten Weltkrieges. Nach einer Phase negativen Wanderungssaldos zwischen 1975 und 2001 ist die Bilanz seit der Argentinienkrise derzeit wieder leicht positiv. Heute wandern vor allem Bürger der Nachbarländer Bolivien, Paraguay und Uruguay sowie aus den südamerikanischen Staaten Peru und Venezuela nach Argentinien ein. Zu Zeiten der Pinochet-Diktatur fand die Einwanderung auch aus Chile statt, dies hat sich jedoch aufgrund der Redemokratisierung und des mittlerweile höheren Lebensstandards des Nachbarlandes nach 2001 umgekehrt. Insgesamt kommen etwa 68 % der Einwanderer aus amerikanischen Staaten. Etwa 2 % aller Einwanderer kommen aus Asien (hauptsächlich Koreaner). Seit den 1990er Jahren findet man immer mehr Einwanderer aus Europa, die hauptsächlich wegen der unberührten Natur hierher ziehen. Im Unterschied zu den anderen Einwanderern weisen sie meist schon eine gesicherte Existenz auf oder sind Rentner, versuchen also durch den Umzug ihre Lebensqualität zu erhöhen. Andere Ausländergruppen (besonders Italiener und Spanier) sind noch lebende Einwanderer der Hauptwelle (bis 1950). Europäer repräsentieren etwa 28 % der Ausländer. Seit der Argentinien-Krise zwischen 1998 und 2002 sind vermehrt Emigrationswellen aufgetreten. Argentinier verließen das Land in Richtung Europa und Nordamerika, in geringeren Maßen auch nach Brasilien und Chile. Diese Emigrationswelle ist jedoch aufgrund der relativ schnellen Erholung der argentinischen Wirtschaft weitgehend abgeebbt. === Sprachen === Alleinige landesweit gültige Amtssprache ist in Argentinien Spanisch. Daneben gibt es eine Reihe von mehr oder weniger verbreiteten Minderheitensprachen, die von der indigenen Bevölkerung gesprochen werden. Die verbreitetsten darunter sind das Quechua (in zwei lokalen Varianten) und das Guaraní, in manchen Gegenden wird auch noch Mapudungun gesprochen. In der Provinz Chaco haben die Sprachen der Wichí, der Toba (Volk) und der Mocoví amtssprachlichen Charakter; in der Provinz Corrientes gilt dieses für das Guaraní. Am höchsten ist die Sprecherzahl von autochthonen Sprachen bei den Indigenen im Chaco, bei denen mehr als die Hälfte noch ihre angestammte Sprache versteht. Bei anderen Gruppen wie den Kolla und Mapuche ist diese Zahl weit geringer.Das argentinische Spanisch unterscheidet sich hinsichtlich der Aussprache, der Grammatik und des Wortschatzes von den in Spanien und auch von den in anderen lateinamerikanischen Ländern üblichen Varianten. Der Doppelkonsonant ll wird wie das deutsche sch oder wie das französische j ausgesprochen, ebenso der Buchstabe y zwischen Vokalen und ein konsonantisches y am Wortbeginn; dieses Phänomen wird als Yeísmo bezeichnet. Der Buchstabe z wird immer wie ein stimmloses s ausgesprochen, das Gleiche trifft auf das c vor e und i zu, dies nennt man Seseo. Des Weiteren herrscht in Argentinien der Voseo vor, d. h. anstatt des Personalpronomens tú für die 2. Person Singular wird vos verwendet. Die Verben werden dabei anders konjugiert (im Präsens immer endbetont und mit abweichenden Imperativformen). Weiterhin wird die 2. Person Plural vosotros auch in informeller Sprache durch die 3. Person Plural ustedes ersetzt, die im europäischen Spanisch nur die Höflichkeitsform ist. Darüber hinaus gibt es eine Reihe lexikalischer Abweichungen. Während ein Großteil der Nachfahren italienischer Einwanderer in Argentinien die Sprache ihrer Vorfahren aufgegeben hat, wird von den Nachfahren der deutschsprachigen und englischsprachigen Einwanderer teilweise noch die Sprache ihrer Vorfahren gepflegt. So gibt es Stadtviertel im Großraum Buenos Aires, in denen man noch sehr viel Deutsch hört. In der Provinz Córdoba gibt es eine relativ große Kolonie von Überlebenden des Kriegsschiffs Admiral Graf Spee aus dem Zweiten Weltkrieg, die sich in Villa General Belgrano ansiedelte, wo heute noch teilweise Deutsch gesprochen wird. Siehe auch: Río-de-la-Plata-Spanisch, Belgranodeutsch, Cocoliche, Quechua === Religionen === Argentinien hat seit dem 20. Mai 1955 keine Staatsreligion mehr, welche davor die römisch-katholische Konfession war. Der Katholizismus genießt nach der Verfassung aber einen bevorzugten Status. Nach dem Report on International Religious Freedom 2017 sind 71 % der Bevölkerung römisch-katholischen Glaubens.Offiziell bestehen über 2500 registrierte Kulte und Religionen, darunter der Protestantismus (9 %), die Zeugen Jehovas (ca. 1,2 %), und andere (ca. 1,2 %) zum Beispiel der Pachamama-Kultus im Nordwesten Argentiniens, der durch Verschmelzung christlicher Riten mit indigenen Religionen entstand. Der Erzbischof von Buenos Aires, Jorge Mario Bergoglio SJ, wurde am 13. März 2013 durch das Konklave zum Papst gewählt und ist somit der erste Papst aus Lateinamerika. Bergoglio wählte den Namen Franziskus. In Argentinien leben rund 400.000 bis 500.000 Muslime (1 %). Mit rund 205.000 bis 300.000 Mitgliedern (0,6 %) ist die jüdische Gemeinde die größte in Lateinamerika. Rund 11 %–13 % der Bevölkerung gaben bei Umfragen an, keiner Religion anzugehören. === Soziale Situation === Die Lebenserwartung betrug im Zeitraum von 2010 bis 2015 76,0 Jahre (Frauen 79,8, Männer: 72,2). Das Instituto Nacional de Estadística y Censos dokumentiert laufend wichtige Indikatoren für die Beurteilung der sozialen Situation in Argentinien.Die soziale Situation des Landes ist in mehrerlei Hinsicht durch eine starke Ungleichheit gekennzeichnet. So gibt es einerseits wie in ganz Lateinamerika ein großes Wohlstandsgefälle zwischen Ober- und Unterklasse. Aber auch die Unterschiede zwischen den Regionen Argentiniens sind groß. So lag etwa die Armutsquote, die nach einem Warenkorb berechnet wird, im Jahr 2008 in der Hauptstadt Buenos Aires mit etwa 15 % nur etwas mehr als halb so hoch wie im Landesdurchschnitt (23 %), während sie in der Nordostregion bei 41 % liegt (Stand 2007). Eine Durchschnittsperson benötigte im März 2008 monatlich etwa 317 AR$, um nicht unter die Armutslinie zu fallen. In den meisten Haushalten ist es daher nötig, dass mehrere Familienmitglieder zum Einkommen beitragen. Dies zeigt auch die offizielle Statistik: So liegt das durchschnittliche monatliche Pro-Kopf-Einkommen bei etwa 1156 AR$ und damit nur knapp über der Armutsquote für Familien, während das durchschnittliche monatliche Haushaltseinkommen bei 2090 AR$ liegt (s. u.). Die nördlichen Provinzen, besonders die Provinz Tucumán und der Nordosten (Chaco, Formosa, Santiago del Estero) waren bis um den Jahrtausendwechsel am stärksten von Armut und Unterernährung betroffen. Verschärft wurde diese Situation durch das relativ hohe Bevölkerungswachstum in dieser Region. Als relativ reich dagegen galten die zentralen Provinzen (Buenos Aires, Santa Fe, Córdoba, San Luis und Mendoza), aber auch der äußerste Süden (Santa Cruz und Tierra del Fuego). Neben den grenznahen Gegenden (beispielsweise Jujuy und Formosa) haben vor allem die reichen Zentralprovinzen am stärksten mit der städtischen Armut und damit mit der Bildung von Elendsvierteln zu kämpfen. Die Zuwanderung aus den ärmeren Nachbarländern Peru, Bolivien und Paraguay sowie die Binnenwanderung aus abgelegenen Gegenden des Landesinneren waren trotz einer Abschwächung in den 1990er Jahren ein Problem in den Großstädten, die die Zahl der Elendsviertelbewohner trotz sozialer Wohnungsprogramme weiterhin anwachsen ließ. So lag 2004 beispielsweise in Rosario der Anteil der Elendsviertelbewohner an der Gesamtbevölkerung bei über 15 %. Zudem kam Zuwachs für die Elendsviertel auch von den so genannten Neu-Armen, besonders in den wirtschaftlich kritischen Jahren 1989/1990, 1995 sowie zwischen 1998 und 2002. In der Argentinien-Krise verschlechterten sich insbesondere in den Jahren 2001 und 2002 viele Indikatoren der sozialen Situation in kürzester Zeit. Die Armutsquote nach einem Warenkorb berechnet stieg auf über 50 %. Ab 2003 normalisierten sich die Werte langsam wieder, allerdings blieb bis 2006 die Armutsquote trotz eines Rückgangs weiterhin mit über 20 % deutlich über den Werten der 1990er Jahre. Dabei waren in der am stärksten betroffenen Región Noreste Argentino (Nordostregion) weiterhin fast die Hälfte der Bevölkerung arm. Nachdem sich die Wirtschaft zunächst wieder erholte, rutschte sie ab 2012 wieder in eine Rezession. 2016 lebte ein Drittel der Argentinier unter der Armutsgrenze und der neu gewählte konservative Präsident Macri sah sich zu einem Sparprogramm gezwungen. In der Folge stieg die Zahl der Personen unterhalb der Armutsgrenze von 29 % auf 41 % (Dezember 2019).Bei der Armuts- und Elendsrate variieren die Einkommen, nach denen sich die Rate richtet, je nach Region, daher wird nur ein ungefährer Durchschnittswert angegeben. Bei der Inflationsrate wird der Wert nur im Großraum Buenos Aires errechnet. Die Daten des INDEC für den Preisindex wurden allerdings mehrfach angezweifelt; der IWF erteilte dem Land deshalb im Jahr 2013 ein Rüge. == Geschichte == === Präkolumbische Zeit === Die Forschung nimmt an, dass die Besiedlung des heutigen Argentinien durch den Menschen etwa 15000 v. Chr. von Nordamerika aus erfolgte. Die im Pampa-Raum des heutigen Argentinien ansässigen Pampas-Indianer Het (Querandíes), Charrúa und andere kleine Stämme waren bis zum Eintreffen der Spanier nicht sesshaft und lebten als Jäger und Sammler oder Fischer. Die Stämme im Nordwesten des Landes hingegen (z. B. die Diaguita) praktizierten etwa ab der Zeit des frühen europäischen Mittelalters Ackerbau und Viehzucht und waren vor allem auf architektonischem Gebiet weit fortgeschritten. Im 13. und 14. Jahrhundert expandierte das Inka-Reich stark nach Süden und umfasste um 1450 weite Teile des Nordwestens Argentiniens bis in den Norden der heutigen Provinz Mendoza. === Kolonialzeit === Die Europäer erreichten die Region erstmals mit der Reise Amerigo Vespuccis 1502. Das heutige Argentinien wurde im 16. Jahrhundert von den Spaniern aus zwei Richtungen kolonisiert. Vom Mündungstrichter des Río Paraná am Atlantik her wurden spanische Niederlassungen am Stromsystem des Río de la Plata („Silberfluss“) gegründet, darunter 1536 zuerst Buenos Aires. Dort konnten sich die Spanier allerdings erst im Jahre 1580 auf Dauer etablieren, nachdem der erste Gründungsversuch am Widerstand der indigenen Pampas-Bewohner gescheitert war. Nachdem die La-Plata-Kolonie zunächst vom 1537 gegründeten Asunción aus verwaltet wurde, kam es nach dem Aufstieg des wiedergegründeten Buenos Aires zum bedeutendsten Wirtschaftsstandort der Kolonie im Verlauf des 17. Jahrhunderts zur zunehmenden institutionellen Trennung des südlichen Teils des Silberlandes vom nördlichen Teil, dem heutigen Paraguay. Die nordwestlichen Teile des heutigen Argentiniens (vor allem im Gran Chaco) nahmen die Spanier hingegen von Peru aus in den 1540er Jahren in Besitz. Die weiter südlich von Buenos Aires im Südkegel gelegenen Gebiete des heutigen Argentiniens (Patagonien) blieben in der Kolonialzeit faktisch außerhalb des spanischen Herrschaftsbereichs. Sie wurden etwa 300 Jahre lang von indianischen Reitervölkern beherrscht (Puelche), die in einem spannungsreichen kulturellen Austausch mit den Kolonisten standen. In mehreren Feldzügen eroberten schließlich die Kolonisten bzw. ihre Nachfahren im 19. Jahrhundert die Gebiete unter großen Verlusten seitens der indigenen Bevölkerung. Gleichzeitig konnten sich Mapuche-Völker aus Westpatagonien bis über die Mitte des 19. Jahrhunderts hinaus einen hohen Grad an Unabhängigkeit bewahren. Administrativ war das heutige Argentinien zunächst Teil des Vizekönigreichs Peru, das mit Ausnahme Venezuelas und der portugiesischen Einflusssphäre ganz Südamerika umfasste. Im Jahre 1776 wurde das Vizekönigreich des Río de la Plata mit der Hauptstadt Buenos Aires abgespalten, das neben Argentinien auch das heutige Paraguay, Uruguay und Teile des heutigen Boliviens umfasste. Der latinisierte Name Argentinien („Silberland“) für die Kolonie taucht erstmals im Titel des 1602 in Portugal gedruckten historischen Langgedichts La Argentina von Martín del Barco Centenera auf, in dem der ehemalige Konquistador und Diakon die Eroberung der La-Plata-Kolonie schildert und dabei den Stil von La Araucana, des erfolgreichen Versromans von Alonso de Ercilla y Zúñiga über den Eroberungskrieg in Chile, nachzuahmen versuchte. === Bildung eines Nationalstaats === Die unter dem Eindruck der Französischen Revolution und der Koalitionskriege in Europa am 25. Mai 1810 in Buenos Aires erklärte Unabhängigkeit hatte als Mai-Revolution zunächst nur lokale Wirkung, führte aber zu einem landesweiten Befreiungskrieg gegen die Spanier. Die Unabhängigkeit erlangte das Land schließlich am 9. Juli 1816 in San Miguel de Tucumán. Wie zuvor Paraguay im Jahre 1811 spalteten sich dann auch 1825 Bolivien und 1828 Uruguay von den damaligen Vereinigten Provinzen des Río de la Plata ab. Zwischen 1816 und 1880 war die Entwicklung Argentiniens von Diktaturen (unter dem Bonarenser Gouverneur Juan Manuel de Rosas) und Bürgerkriegen geprägt. Die Provinzen waren zunächst weitgehend autonom, nur 1826–1827 konnte das Land kurzzeitig geeint werden. 1853 wurde zunächst ohne die abtrünnige Provinz Buenos Aires die heutige Argentinische Republik gegründet und eine föderalistische Verfassung in deren erster Hauptstadt Paraná verabschiedet. In den Jahren 1861 und 1862 schloss sich die Provinz Buenos Aires nach einer militärischen Auseinandersetzung wieder an, es wurden landesweite Wahlen ausgerufen, und erster gesamtargentinischer Präsident wurde Bartolomé Mitre. In dessen Regierungszeit fiel der Tripel-Allianz-Krieg 1864 bis 1870, in dem sich Argentinien gemeinsam mit Brasilien und Uruguay gegen expansive Tendenzen Paraguays durchsetzte, das sich zu dieser Zeit zu einer der stärksten Militärmächte Südamerikas entwickelt hatte. Argentinien gewann durch diesen Krieg das Gebiet der heutigen Bundesstaaten Misiones, Formosa und Chaco hinzu. === Einwanderung und Wirtschaftsboom === Die Jahre von 1880 bis 1912 waren durch die zahlreiche Einwanderung vor allem von Italienern und Spaniern gekennzeichnet, die sich in den Städten und in sogenannten „Kolonien“ auf dem Land ansiedelten. Politisch ist diese Zeit als Scheindemokratie zu bezeichnen, denn die Regierung Julio Argentino Roca und die folgenden Regierungen waren oligarchisch ausgerichtet, mit großem Einfluss der Großgrundbesitzer. Dem Gros der Bevölkerung wurden durch ein ausgeklügeltes Wahlbetrugssystem durch die Regierungspartei Partido Autonomista Nacional, die von 1874 bis 1916 ununterbrochen regierte, die politischen Rechte vorenthalten; auch die Einwanderer hatten kein Stimmrecht. Ab 1893 verschärften sich die Grenzprobleme mit Chile, nachdem Bolivien einen Teil der Puna de Atacama an Argentinien abgetreten hatte. Diese war seit dem Salpeterkrieg von Chile besetzt. Zwischen Chile und Argentinien kam es zu einem Wettrüsten. Erst der britische König Edward VII. konnte 1902 den Grenzstreit schlichten. Patagonien und Feuerland wurden neu aufgeteilt, dabei fielen 54.000 km² an Chile und 40.000 km² an Argentinien.1912 wurde vom Präsidenten und Leiter des liberalen Flügels der PAN, Roque Sáenz Peña, das allgemeine Wahlrecht für Männer eingeführt. In der Folge kam 1916 die aus der bürgerlichen Protestbewegung hervorgegangene Unión Cívica Radical an die Regierung. Es folgte die wechselhafte so genannte Etapa Radical von 1916 bis 1930. Die Unión Cívica Radical regierte bis 1930, als ein Militärputsch wieder ein konservatives System einführte. Vor allem die 1930er Jahre werden heute als Década infame, als berüchtigtes Jahrzehnt bezeichnet, in dem die Demokratie nur auf dem Papier existierte und Wahlbetrug an der Tagesordnung war. === Peronismus === Im Laufe der ersten Hälfte der 1940er Jahre gelang es dem jungen Offizier Juan Domingo Perón, sich geschickt an die Macht zu manövrieren. Er war zunächst unter dem Militärregime Ramírez Minister für Arbeit und wurde wegen seiner weitreichenden Zugeständnisse an die Gewerkschaften schnell zu einem Volkshelden in der Arbeiterklasse, so dass nach seinem Sturz im Juli 1945 Massendemonstrationen seine Rückkehr erzwangen. Im Jahre 1946 wurde er zum Präsidenten gewählt. Im Zweiten Weltkrieg war Argentinien offiziell neutral. Es sympathisierte zunächst mit den Achsenmächten, unterstützte gegen Kriegsende jedoch die Alliierten. Vor und während des Krieges war Argentinien Zielland von Flüchtlingen aus Europa, darunter rund 45.000 Juden; nach dem Krieg fanden zahlreiche Nationalsozialisten und Faschisten über die so genannte "Rattenlinie" Unterschlupf in Argentinien ebenso wie in anderen Staaten Lateinamerikas. Unter den prominentesten nationalsozialistischen Kriegsverbrechern in Argentinien waren Adolf Eichmann, der 1960 vom Mossad entführt und in Israel zum Tode verurteilt wurde, Josef Mengele, Walther Rauff und Erich Priebke. Über sogenannte Schlüsselfirmen wurden auch hohe Vermögenswerte der Nationalsozialisten nach Argentinien verschoben. März 2015 wurde die Entdeckung eines in einem Waldgebiet des Naturparks Teyu Cuare etwa 1000 Kilometer nördlich der Landeshauptstadt Buenos Aires gelegenen Gebäudes aus den 1940er Jahren bekannt. Es wurde nie benutzt. Indizien wie Baustil und gefundene Gegenstände sprechen dafür, dass es als Versteck für flüchtige Nazi-Größen gedacht war, so das Zentrum für Stadtarchäologie (CAU). „Die nationale Kommission zur Aufklärung von Nazi-Aktivitäten (CEANA) schätzt, dass sich mindestens 180 Kriegsverbrecher in das südamerikanische Land abgesetzt haben.“Unter Perón, der mit faschistischem Gedankengut sympathisierte, verfolgte Argentinien das Ziel, durch Zugeständnisse an die Arbeiter den Kommunismus abzuwehren. In seiner ersten Regierungszeit wurde die Industrialisierung des Landes, die nach der Weltwirtschaftskrise um 1930 begonnen hatte, vertieft und eine Importsubstitutionspolitik durchgesetzt. Die forcierte Industrialisierung und die aktive Sozialpolitik führten zu einem nie gekannten und bis heute nicht wieder erreichten Wohlstandsniveau für die Massen, die deshalb das zunehmend autoritär werdende Regime unterstützten, jedoch auch zu steigender Inflation und Staatsverschuldung. In der zweiten Amtszeit Peróns kam es zu wirtschaftlichen Schwierigkeiten und Konflikten mit der mächtigen katholischen Kirche. 1955 wurde er bei einem Putsch abgesetzt und floh ins Exil nach Spanien. === Instabilität und Diktaturen === Argentinien verzeichnete in der Folgezeit wirtschaftliche Höhen und Tiefen im Wechsel. Bis 1983 gab es eine Epoche der Instabilität, in der abwechselnd zivile und Militär-Regierungen das Land in der Hand hatten. Die demokratisch gewählten Regierungen Frondizis (1958–1962) und Illias (1963–1966) wurden von den antiperonistischen Militärs vorzeitig aus dem Amt geputscht. Von 1966 bis 1973 gab es unter Onganía und seinen Nachfolgern eine längere rechtskonservative Militärdiktatur, die jedoch nach Protesten der Bevölkerung 1973 schließlich aufgegeben wurde. Das Land fand kurzzeitig zur Demokratie zurück, der nach wie vor populäre Perón durfte wieder einreisen und konnte bald erneut die Macht erlangen. Die zweite Amtszeit Peróns von Oktober 1973 bis zu seinem Tod am 1. Juli 1974 brachte nur eine geringfügige Beruhigung in die politischen und wirtschaftlichen Verhältnisse Argentiniens. Nach seinem Tod wurde seine dritte Ehefrau, Isabel Perón (genannt „Isabelita“), die er zur Vizepräsidentin gemacht hatte, auf Betreiben der peronistischen Partei als Präsidentin eingesetzt. Diese, eine ehemalige Nachtclubtänzerin, war mit diesem Amt völlig überfordert und diente lediglich als Marionette von rechten Peronisten wie José López Rega, der mit der Alianza Anticomunista Argentina schon unter Perón eine paramilitärische Gruppe eingesetzt hatte, die Regimegegner folterte und ermordete. Zudem nahmen wirtschaftliche Probleme zu, die Inflation stieg steil an. Mehrere Guerillagruppen (Guerilleros) wie die Montoneros waren in diesem Kontext aktiv und es kam zu verschiedenen Entführungen. Die Entführung des für Mercedes-Benz den Standort Argentinien betreuenden Produktionsleiters Heinrich Metz im Oktober 1975 (er kam später für ein Lösegeld in Höhe von mehreren Millionen US-Dollar wieder frei) löste eine Fluchtwelle unter den für deutsche Unternehmen in Argentinien tätigen Immigranten aus. Im Jahr 1976 kam es erneut zu einem Militärputsch und es installierte sich unter der Führung von Jorge Rafael Videla eine Militärdiktatur, geleitet von einer Junta aus drei Mitgliedern, die mit einem offenen Staatsterror regierten. Die Zeit zwischen 1976 und 1978 wird daher auch als „Schmutziger Krieg“ bezeichnet. Unter den geschätzt 30.000 Desaparecidos („Verschwundenen“) befanden sich auch zahlreiche Studenten, deren Mütter sich zusammenschlossen, um auf dem Platz vor dem Regierungsgebäude (Plaza de Mayo) ungeachtet ihrer Selbstgefährdung zu demonstrieren, und damit in die Geschichte eingingen. Ziel der Madres de Plaza de Mayo (Mütter der Plaza de Mayo), war und ist es, Kenntnis über den Verbleib ihrer Kinder zu erhalten. Die 1977 gegründete Organisation Abuelas de Plaza de Mayo (Großmütter der Plaza de Mayo) hat es sich zum Ziel gesetzt, die in der Gefangenschaft geborenen und illegal zur Adoption freigegebenen Kinder der Verschwundenen in ihre Familie zurückzuführen. Nachdem man ihre Eltern getötet hatte, wurden die Waisen als Kriegsbeute von Menschen aufgezogen, die der Diktatur nahestanden. Nur etwa 100 dieser Kinder haben bis heute von ihrer wahren Identität erfahren. Von 400 weiteren fehlt trotz aller Bemühungen von Verwandten und den Suchenden bislang jede Spur. In späteren Gerichtsverfahren gegen verantwortliche Militärs, die nur mit Mühe durchgesetzt werden konnten, wurde bekannt, dass sich die militärischen Machthaber zahlreicher Menschen auf grausame Weise entledigt hatten: Die Opfer wurden betäubt und über dem Río de la Plata oder dem offenen Meer aus dem Flugzeug geworfen. Zu den Todesopfern der Diktatur gehörte 1977 auch die Deutsche Elisabeth Käsemann, der 2014 erstmals ausgestrahlte Dokumentarfilm Das Mädchen – Was geschah mit Elisabeth K.? enthält Stellungnahmen Hinterbliebener und politisch Verantwortlicher. Um Souveränitätstreitigkeiten (siehe Beagle-Konflikt) über die Inseln an der südlichen Spitze Amerikas zu beenden, beauftragten Argentinien und Chile 1971 ein internationales Tribunal damit, über eine bindende Interpretation des Grenzvertrags von 1881 zu entscheiden. Das Schiedsgericht im Beagle-Konflikt entschied 1977, dass alle Inseln südlich der Isla Grande de Tierra del Fuego zu Chile gehören. 1978 erklärte Argentinien die Entscheidung für nichtig und bereitete die militärische Einnahme der Inseln (siehe Operation Soberanía) vor, nur durch die Vermittlung von Papst Johannes Paul II konnte dies verhindert werden. Erst 1984, im Rahmen der Demokratisierung, erkannte Argentinien – nach Austausch von Navigationsrechten und einer Verschiebung der maritimen Grenze nach Westen – im Freundschafts- und Friedensvertrag von 1984 zwischen Chile und Argentinien das Urteil endgültig an. Im April 1982 begann Argentinien unter dem neuen Junta-Chef Leopoldo Galtieri den Falklandkrieg gegen Großbritannien. Es ging um die Argentinien vorgelagerten Falklandinseln (in Argentinien als „Islas Malvinas“ bezeichnet), die nach argentinischer Rechtsauffassung zum eigenen Staatsgebiet gehören, jedoch ebenso von Großbritannien als eigenes Hoheitsgebiet betrachtet werden und seit 1833 unter dessen Verwaltung stehen. Die Invasion argentinischer Soldaten wurde von den Streitkräften des Vereinigten Königreichs mit Luftangriffen, einem Seekrieg und einer Landeoperation erfolgreich revidiert. Die argentinischen Truppen kapitulierten am 14. Juni 1982. === Das demokratische Argentinien ab 1983 === Im Jahre 1983 kehrte das Land zur Demokratie zurück. Der erste Präsident dieser Epoche war Raúl Alfonsín (Unión Cívica Radical), der jedoch 1989 infolge einer schweren Wirtschaftskrise vorzeitig zurücktrat. Die Peronistische Partei kam mit Carlos Menem wieder an die Macht. Die neoliberale Wirtschaftspolitik Menems und die 1:1-Bindung des Argentinischen Peso an den US-Dollar war während seiner ersten Amtszeit äußerst erfolgreich und konnte das Land stabilisieren. Während seiner zweiten Amtszeit machten sich aber immer mehr die negativen Seiten dieser Wirtschaftspolitik bemerkbar. Zwischen 1998 und 2002 fiel daher das Land erneut in eine schwere Wirtschaftskrise, in der die Wirtschaftskraft um 20 % zurückging. 1999 wurde die Regierung Menem durch eine Mitte-links-Koalition mit dem Präsidenten Fernando de la Rúa abgelöst. De la Rúa konnte aber die verfahrene wirtschaftliche Situation, die sein Vorgänger hinterließ, nicht schnell und nachhaltig verbessern. Das zögerliche Handeln des Präsidenten, Streitereien innerhalb der Koalition und eine starke außerparlamentarische Opposition durch die Gewerkschaften, die traditionell den Peronisten nahestehen, schwächten de la Rúa zunehmend. Dies gipfelte Ende 2001 nach starken Unruhen und Plünderungen im Rücktritt von Präsident Fernando de la Rúa. In der Folge gab es mehrere peronistische Interimspräsidenten, bis Eduardo Duhalde mit der Verwaltung der Krise beauftragt wurde. Dieser löste die Dollarparität wieder auf. Im Mai 2003 wurde nach einer sehr chaotisch verlaufenden Präsidentschaftswahl Néstor Kirchner zum neuen Staatsoberhaupt gewählt, der dem sozialdemokratischen Flügel der Peronistischen Partei angehört. Trotz seines niedrigen Wahlergebnisses war Kirchner in seiner Amtszeit bei der Bevölkerung sehr beliebt, weil er die Krise erfolgreich überwinden und daher die Gesamtsituation des Landes verbessern konnte. Die Wirtschaft bekam einen starken Wachstumsschub: 2003 verbuchte Argentinien ein Wachstum des Bruttoinlandsproduktes in Höhe von +8,7 % gegenüber −10,9 % im Jahr 2002. Kirchner war jedoch auch Kritik ausgesetzt, insbesondere wegen seines autokratischen Führungsstils und zum Teil auch wegen seiner als Populismus gedeuteten Zusammenarbeit mit der Piquetero-Protestbewegung. Bei den Wahlen zum argentinischen Senat und zur argentinischen Abgeordnetenkammer im Oktober 2005 gingen die Anhänger Néstor Kirchners mit etwa 40 % der Stimmen als Sieger hervor. Bei der Wahl um Senatorenposten der Provinz Buenos Aires gewann seine Frau Cristina Fernández de Kirchner gegen die Ehefrau des ehemaligen Präsidenten Eduardo Duhalde Hilda González de Duhalde, die ebenfalls der Peronistischen Partei angehört. Der Präsident wurde somit gestärkt und konnte sich in beiden Kammern auf eine breite Mehrheit auch innerhalb seiner eigenen Partei stützen. Die Präsidentschafts- und Parlamentswahl am 28. Oktober 2007 konnten die regierenden Peronisten, insbesondere die Wahlplattform Kirchners, Frente para la Victoria, mit einem überwältigenden Sieg gewinnen. Cristina Fernández de Kirchner konnte sich schon im ersten Wahlgang mit 45,3 % der Stimmen durchsetzen und damit eine Stichwahl vermeiden. Sie trat das Präsidentenamt am 10. Dezember 2007 an. Auch im Parlament wurde der Kirchnerismo leicht gestärkt.In der Folge war die Peronistische Partei von Flügelkämpfen betroffen. Mehrmals wurde sogar erwogen, die Partei auch offiziell zu spalten. Nachdem Kirchner aber 2008 den Parteivorsitz übernommen hatte, stabilisierte sich die Situation innerhalb der Regierungspartei wieder. Bei den Parlamentswahlen am 28. Juni 2009 verlor die Frente para la Victoria (FPV) allerdings. Daraufhin gab Néstor Kirchner den Parteivorsitz der Peronistischen Partei an den Gouverneur der Provinz Buenos Aires, Daniel Scioli, ab. Im Oktober 2010 erlag er einem Herzinfarkt. 2015 kam es zu einem Machtwechsel: Bei der Präsidentschaftswahl setzte sich in der ersten Stichwahl der argentinischen Geschichte Mauricio Macri, Parteivorsitzender der konservativen Partei Propuesta Republicana und seit 2007 Bürgermeister von Buenos Aires, knapp gegen den von der Regierung Kirchner unterstützten Kandidaten Daniel Scioli durch. Cristina Kirchner konnte laut der Verfassung Argentiniens nicht zur Wiederwahl antreten; sie war schon zwei Wahlperioden Präsidentin. Macri beendete nach 2016 das seit 2012 existierende System der Devisenkontrolle und gab den Wechselkurs des Peso frei, schaffte Subventionen für Gas, Strom und öffentlichen Transport ab und reduzierte die Agrarsteuern auf Exporte.Nach wirtschaftlicher Rezession, hoher Inflation und starken Protesten der Bevölkerung im Jahr 2019 musste sich Macri bei den Präsidentschaftswahlen der Wahlformel Alberto Fernández / Cristina Fernández (Frente de Todos) geschlagen geben. Siehe auch: Liste der Präsidenten von Argentinien, Argentinien-Krise == Politik == === Politisches System === Nach der Verfassung von 1994 ist Argentinien eine föderalistische, republikanische Präsidialdemokratie.Im September 1947 wurde nach persönlichem Einsatz von Eva Perón für dieses Vorhaben das aktive und passive Frauenwahlrecht vom Parlament beschlossen. In einigen Provinzen hatten Frauen das aktive und passive Wahlrecht schon früher erhalten. Der Präsident der Nation („Presidente de la Nación Argentina“, „Poder Ejecutivo Nacional“) ist Staatsoberhaupt und Regierungschef in Person und hat eine starke Stellung, unter anderem die Möglichkeit per Dekret zu regieren. Er wird gemeinsam mit dem Vizepräsidenten, der ihn bei Abwesenheit vertritt, alle vier Jahre (bis 1995: alle sechs Jahre) in zwei Wahlgängen direkt gewählt. Um in der ersten Runde zu gewinnen, muss der siegreiche Kandidat 45 oder mehr Prozent der gültigen Stimmen erreichen oder bei einem Wert zwischen 40 und 45 Prozent zehn Prozentpunkte Vorsprung vor dem Zweitplatzierten aufweisen. In allen anderen Fällen gibt es eine Stichwahl. Verzichtet einer der beiden erfolgreichsten Kandidaten in der ersten Runde auf die Teilnahme in der Stichwahl (zuletzt 2003), gilt der andere Kandidat als Sieger, der Drittplatzierte rückt also in diesem Fall nicht nach. Eine Präsidentschaft ist höchstens während zwei aufeinander folgenden Perioden möglich, eine erneute Kandidatur ist aber nach einer Pause von vier Jahren wieder erlaubt. Der Präsident muss unter anderem argentinischer Staatsbürger sein und musste bis zur Verfassungsreform 1994 dem römisch-katholischen Glauben angehören. Die Legislative (Überbegriff: Congreso, Kongress, bestehend aus Abgeordnetenkammer und Senat) wird meist in allen Provinzen zu anderen Zeitpunkten gewählt. Die Anzahl der Abgeordneten der Abgeordnetenkammer wird per Verhältniswahlrecht ermittelt und ist nach einem bestimmten Schlüssel auf die Provinzen verteilt, sie beläuft sich auf etwa einen Abgeordneten pro 152.000 Einwohner. Die Abgeordneten werden für vier Jahre gewählt, allerdings jeweils die Hälfte der Abgeordneten alle zwei Jahre. Die Anzahl der Senatoren beträgt drei je Provinz und drei für die autonome Stadt Buenos Aires. Der Senat wird im Gegensatz zur Abgeordnetenkammer nach einem Sonderfall des Mehrheitswahlrechts gewählt; zwei Senatorensitze erhält die Partei mit den meisten Stimmen, einen Sitz die Partei mit den zweitmeisten Stimmen. Die Senatoren werden für einen Zeitraum von sechs Jahren gewählt, alle zwei Jahre wird ein Drittel der Senatoren gewählt. Seit der Wirtschaftskrise ist die Debatte um eine politische Reform aufgekommen, da das heutige System vor allem für die Wähler sehr undurchsichtig ist und sowohl Personenkult als auch Korruption begünstigt. So werden beispielsweise die Wahlen zum Senat und dem Repräsentantenhaus meist gemeinsam mit Bürgermeisterwahlen durchgeführt, was aufgrund der so genannten Listas Sábanas zu Verzerrungen führt. Das liegt an der Tatsache, dass in Argentinien keine Kreuze auf Stimmzettel gemacht werden, sondern jede Partei ihren eigenen Stimmzettel (Lista Sábana) hat und man seine Stimme durch die richtige Auswahl des Stimmzettels abgibt. Man kann aber bei vielen gleichzeitigen Wahlen die Stimmen aufteilen. In diesem Falle muss man, wenn man Kandidaten verschiedener Parteien wählen möchte, die Stimmzettel auseinanderschneiden und nur die entsprechenden Abschnitte in die Urne werfen. Von dieser Möglichkeit machen jedoch nur wenige Wähler Gebrauch, was bei Häufung von Wahlen am selben Tag zu Verzerrungen führt. Listas Sábanas (deutsch etwa: Betttuch(große)-Listen) heißen die Stimmzettel, weil sie oft sehr groß sind. Die jeweiligen Mehrheitsverhältnisse in der Legislative werden ebenfalls kaum publik gemacht, was auch daran liegt, dass die Zusammensetzung sich fast jedes Jahr ändert. === Politische Indizes === === Parteien === Die Parteienlandschaft Argentiniens ist durch starke Zersplitterung und Unstetigkeit gekennzeichnet. Besonders die zweite Hälfte der 1990er Jahre bis zur Argentinien-Krise markierten eine deutliche Zäsur, nach ihr entstanden zahlreiche neue Gruppierungen, zum Teil aus Abspaltungen der traditionellen Parteien. Eine der größten Parteien ist heute die aus der peronistischen Bewegung hervorgegangene PJ (Partido Justicialista, auf Deutsch meist: peronistische Partei genannt), die etwa 50 % des Wählerpotenzials auf landesweiter Ebene ballt. Dahinter folgt mit heute weitem Abstand die UCR (Unión Cívica Radical), die zwischen 1945 und 2003 faktisch ein Zweiparteiensystem mit der PJ gebildet hatte und mehrmals an der Regierung beteiligt war. Von 2015 bis 2019 stellte die Propuesta Republicana (meist als PRO bezeichnet) mit Mauricio Macri den Präsidenten. Die Propuesta Republicana wird als konservativ-liberal eingeschätzt. Die nach der Argentinien-Krise gegründeten Parteien ARI (sozialdemokratisch), Propuesta Republicana (konservativ-liberal) sowie die älteste Linkspartei Partido Socialista sind regional von großer Bedeutung und gehen auf Landesebene vielfache Allianzen ein, die zum Teil auch Teile von PJ und UCR integrieren. Weiterhin gibt es zahlreiche mitgliederstarke Regionalparteien, die in ihren jeweiligen Provinzen dominante Stellungen einnehmen und ebenfalls wechselnd mit den landesweit aktiven Parteien koalieren. Das europäische Rechts-Links-Schema lässt sich in Argentinien daher nicht eindeutig auf bestimmte Parteien anwenden, da viele von ihnen häufig ihre Ausrichtung ändern. Einige Parteien, die in den 1990er Jahren zeitweise Erfolge verbuchen konnten, etwa die liberale Acción por la República und die sozialdemokratische Frente Grande, die zwischen 1999 und 2001 in der Koalition Frente País Solidario an der Regierung beteiligt war, sind heute nur noch von lokaler Bedeutung. Seit Ende der 1990er Jahre finden wesentliche Debatten zwischen den Flügeln des PJ statt, die ideologisch sehr verschieden sind. Die Flügel werden meist mit dem Namen ihrer führenden Persönlichkeit bezeichnet. Der zwischen 2003 und 2015 herrschende Kirchnerismo (ausgehend von Néstor und Cristina Kirchner) ist sozialdemokratisch orientiert, während der in den 1990er Jahren dominierende Menemismo wirtschaftsliberal eingestellt war. Ein weiterer Flügel war lange Zeit der in der Provinz Buenos Aires regierende, ursprünglich mit dem Kirchnerismus alliierte Duhaldismo, wobei nach der Machtergreifung Kirchners durch Differenzen insbesondere im Verhältnis mit Carlos Menem die Allianz der beiden Blöcke zerbrach und der Duhaldismo insgesamt an Bedeutung verlor. Mit der Präsidentschaft Macris 2015 bis 2019 trat die PJ wieder etwas geeinter auf. Bei den Parteien mit extremeren Orientierungen haben bei der Linken diverse kommunistische Parteien (Partido Comunista Revolucionario, Partido Obrero, Izquierda Unida und Movimiento Socialista de los Trabajadores) eine gewisse Bedeutung. Im Fall der Rechten trifft das nur auf die rechtskonservativ-nationalistische Partido del Campo Popular zu (aus dem MODIN hervorgegangen), die als Sammelbewegung für Nostalgiker der Militärdiktatur zwischen 1976 und 1983 gilt. === Außenpolitik === Der argentinische Präsident Mauricio Macri hatte gleich zu Beginn seiner Amtsperiode im Dezember 2015 erklärt, gute Beziehungen zu allen Ländern anstreben zu wollen. Sichtbar setzte er dabei auf die Wiederbelebung der Beziehungen zu Europa und den USA und eine Rückführung Argentiniens auf die Weltbühne. Hierzu zählte auch die schnelle Lösung des Konflikts mit den Hedgefonds in den USA im April 2016, durch die die Rückkehr des Landes auf die internationalen Finanzmärkte erzielt wurde. Priorität genießt für die Macri-Regierung ferner das Verhältnis zu den Ländern der Region, insbesondere zu Brasilien. Die Verfolgung des auf die Falklandinseln/Malwinen erhobenen Souveränitätsanspruchs bleibt von der Verfassung vorgegebenes Ziel argentinischer Außenpolitik, soll allerdings einer Zusammenarbeit mit Großbritannien in anderen Fragen nicht im Wege stehen. Die Beziehungen zu den Nachbarn in der Region, insbesondere zu Brasilien, Chile und Uruguay sowie Fragen der regionalen Zusammenarbeit – vor allem in Mercosur und UNASUR – gehören zu den klassischen außenpolitischen Prioritäten Argentiniens. Argentinien ist Mitglied in der Organisation Amerikanischer Staaten (OAS) sowie in der im Dezember 2011 gegründeten Gemeinschaft der Lateinamerikanischen und Karibischen Staaten (CELAC), deren Mitglieder alle 33 amerikanischen Staaten mit Ausnahme der USA und Kanadas sind. Argentinien steht seit 1998 auf der Liste der Major non-NATO ally und gehört damit zu den engsten diplomatischen und strategischen Partnern der USA außerhalb der NATO. Unter den sozialistischen Regierungen litten die Beziehungen mit den USA allerdings erheblich. Für das Verhältnis zu den USA hat die argentinische Regierung eine deutliche Belebung angekündigt, die USA haben die ersten wirtschafts- und außenpolitischen Schritte Argentiniens durch erste Gesten honoriert. Der ehemalige US-Präsident Obama besuchte im März 2016 Argentinien, die bilateralen Beziehungen gewannen deutlich an Dynamik. Mit Blick auf die angestrebte Handelsdiversifizierung hat Argentinien seine Beziehungen zu China, Indien und Russland verstärkt. China ist nach Brasilien inzwischen der zweitwichtigste Handelspartner Argentiniens. Die Beziehungen zu Deutschland sind eng und beruhen auf zahlreichen kulturellen, wirtschaftlichen und diplomatischen Verbindungen zwischen beiden Ländern. Im Land gibt es eine deutschstämmige Minderheit.Argentinien gehört den G20 an und ist aktives Mitglied der Vereinten Nationen (Truppensteller im Rahmen der VN-Mission MINUSTAH in Haiti). Es war 2013–2015 im UN-Menschenrechtsrat und 2013/2014 als nichtständiges Mitglied im UN-Sicherheitsrat vertreten.Siehe auch: Mitgliedschaft Argentiniens in internationalen Organisationen === Militär und Verteidigung === Das argentinische Militär hat in der Geschichte des Landes immer wieder eine dominierende Rolle gespielt. Besonders in der Zeit zwischen 1955 (Putsch gegen Juan Perón) und 1973 (Rückkehr und zweite Präsidentschaft Peróns) und in der Zeit zwischen 1974 (Tod Peróns) und 1983 (Niederlage im Falklandkrieg und Redemokratisierung) war Argentinien vom Militär direkt oder indirekt geprägt. (Siehe auch: Geschichte Argentiniens) Unter den Präsidentschaften Raúl Alfonsíns (1983–1989) und Carlos Menems (1989–1999) wurde der Versuch unternommen, den Einfluss des Militärs zu schwächen und 1994 wurde die Wehrpflicht abgeschafft. 1999 betrugen die Ausgaben für die Verteidigung nur noch 62 % der Ausgaben von 1983; im gleichen Zeitraum sind die Staatsausgaben allgemein auf 152 % der Ausgaben von 1983 angestiegen. Im Jahr 2003 wurden die Amnestiegesetze für Verbrechen der Militärdiktatur (1976–1983) abgeschafft.Die argentinischen Streitkräfte, Fuerzas Armadas de la República Argentina, hatten 2004 eine Personalstärke (Soldaten und Verwaltung) von insgesamt etwa 102.300 Personen (Heer: 50.900 Personen (41.400 Soldaten), Marine: 26.600 Personen (17.200 Soldaten), Luftwaffe: 23.600 Personen (13.200 Soldaten), Verteidigungsministerium und Generalstab: 1.200 Personen). Argentinien gab 2017 knapp 0,9 % seiner Wirtschaftsleistung oder 5,7 Mrd. US-Dollar für seine Streitkräfte aus. === Bildungswesen === In Argentinien herrscht Schulpflicht von zehn Jahren. Es gibt neben den staatlichen Schulen auch eine hohe Zahl von privaten Schulen. Das Schulsystem ist in drei Stufen eingeteilt: Inicial (Vorschule; in der Regel ein Jahr), Primaria (in der Regel ab sechs Jahren mit zwei Grundstufen: EGB1 und EGB2; insgesamt sechs Schuljahre) und Secundaria (Sekundärstufe; drei Jahre EGB 3 bis einschließlich zur 9. Klasse und die anschließende dreijährige Polimodalstufe). Laut der Volkszählung des Jahres 2005 waren etwa 2,8 % der Bevölkerung über 15 Jahren Analphabeten. Dabei waren starke regionale Disparitäten zu beobachten: in Tierra de Fuego im Süden lag die Rate bei 0,73 %, im Norden des Landes wie etwa in der Provinz Chaco bei 8,96 %. Im Jahr 2015 war die Analphabetismusquote auf 1,9 % gesunken, wobei der Wert für Männer und Frauen nahezu gleich niedrig war.Von allen Argentiniern, die über 20 Jahre alt sind, haben 88 % die Schule besucht. Etwa 14 % haben die Primaria nicht abgeschlossen, circa 29 % haben eine abgeschlossene Primaria, ungefähr 14 % haben die Secundaria nicht abgeschlossen, etwa 16 % haben eine abgeschlossene Secundaria, circa 5 % einen höheren nicht-universitären Abschluss und etwa 5 % einen Universitätsabschluss. Das heißt, etwa 73 % der Bevölkerung haben mindestens die Primaria abgeschlossen, circa 30 % mindestens die Secundaria und nur etwa 10 % haben einen weiterführenden Abschluss. ==== Schulsystem ==== Im Jahre 1995 wurde das Schulsystem in vielen Provinzen reformiert: Die ersten neun Jahre der Schulzeit werden seitdem als EGB (Educación General Básica) bezeichnet, die in mehrere Richtungen aufgeteilte weiterführende Schule stattdessen als 'Polimodal'. Dieses System wurde mit geringen Abweichungen in fast allen argentinischen Provinzen eingeführt; die Bezeichnungen variieren jedoch, so heißt beispielsweise in der Provinz Córdoba der EGB CBU (Ciclo Básico Unitario). 2005/2006 wurde diese Reform in einigen Provinzen, z. B. in Buenos Aires, teilweise überarbeitet und wieder ans alte System angenähert. Es gibt eine Vielzahl von verschiedenen Schulabschlüssen (naturwissenschaftlich, sozialwissenschaftlich, technisch und wirtschaftlich orientiert), einige sind berufsbefähigende Techniker-Titel. Die Regierung Kirchner hat die Förderung der technischen Schulen von 5 auf 15 Millionen Pesos erhöht und sieht für 2006 eine Erhöhung auf insgesamt 260 Millionen Pesos vor. Die Förderung versucht seit 2003, die erheblichen Schwierigkeiten argentinischer Unternehmen, technisch qualifiziertes Personal zu rekrutieren, zu beheben. Zum Besuch der Hochschulen berechtigen alle im Rahmen des Polimodal erlangten Abschlüsse, auch wenn der Studiengang nicht mit der Ausrichtung des Polimodals übereinstimmt. In der ersten PISA-Studie 2003 schnitt Argentinien bei einer inoffiziellen nachträglichen Erweiterung der Studie (offiziell nahm es nicht teil), verglichen mit anderen lateinamerikanischen Staaten, bei weitem am besten ab. Bei der ersten offiziellen Teilnahme 2006 fiel es in nahezu allen Disziplinen hinter Uruguay, Chile und Mexiko, im Leseverständnis auch hinter Brasilien und Kolumbien zurück, wenn auch meist nur mit geringem Punkteabstand. Bei der PISA-Studie 2015 belegte Argentinien in allen Teilbewertungen Plätze zwischen Rang 36 und 43. In der Gesamtwertung lag es auf Rang 40, die höchste Platzierung aller lateinamerikanischen Staaten. Es gibt ein starkes Gefälle in der Qualität der Schulbildung zwischen Großstädten und ländlichen Regionen einerseits und zwischen Privatschulen und vielen staatlichen Schulen sowie sozialen Klassen und Milieus andererseits. Durch kontinuierliche interne Qualitäts-Tests seit Ende der 1990er Jahre versucht die Politik, dieses Problem in den Griff zu bekommen. Bei diesen Tests kam eine Bandbreite von durchschnittlich 30 % bis 80 % der möglichen Punktzahl heraus, wobei die schlechtesten Ergebnisse von Schulen in ländlichen Gegenden, die besten dagegen in den Privatschulen der Großstädte sowie in den so genannten Colegios Universitarios (von Universitäten abhängige Staatsschulen) erzielt wurden. ==== Universitäten ==== Argentinien hat eine Vielzahl von staatlichen und privaten Universitäten. Zahlreiche private Universitäten haben in der Regierungszeit des neoliberalen Peronisten Menem ihre Pforten geöffnet. Das 1958 in Kraft getretene Gesetz zur Finanzierung der privaten Universitäten sieht ein Verbot finanzieller Unterstützung vor, erlaubt aber seit den 1990er Jahren unter Menem eine gezielte Förderung einzelner Forschungsprojekte. In der politikkritischen Zeitschrift „Caras y Caretas“ erschien im Mai 2006 ein Artikel, der vor der wachsenden Nähe einiger privater Bildungseinrichtungen zu orthodoxen religiösen Institutionen warnt, wie z. B. der Universidad Austral zum Opus Dei.Die älteste Universität ist die Universität von Córdoba, die 1613 gegründet wurde und heute die zweitgrößte des Landes ist (ca. 120.000 Studenten). Die größte Universität ist dagegen die Universität von Buenos Aires (UBA), die 1821 gegründet wurde und etwa 400.000 Studenten hat. ==== Bibliothekswesen ==== Das Bibliothekswesen in Argentinien ist vielgestaltig. So entstanden gegen Ende des 19. Jahrhunderts die ersten privat finanzierten Bibliotecas populares (Volksbibliotheken). Sie werden heute von der Comisión Nacional Protectora de Bibliotecas Populares gefördert. Diese organisiert auch Weiterbildungsveranstaltungen für das Bibliothekspersonal. Seit 1977 gibt es die Confederación Argentina de Bibliotecas Populares. Ihre Mitglieder sind zumeist keine Bibliothekare, sondern Politiker. Daneben existieren 19 Federaciones Provinciales. Seit 1927 entstanden die bibliotecas públicas municipales (Öffentliche Stadtbibliotheken), die heute fast ausschließlich in Buenos Aires existieren. Seit 1944 untersteht diese der Secretaría de Cultura de la Municipalidad de la Ciudad de Buenos Aires. Derzeit existieren in Buenos Aires 23 Stadtbibliotheken und 3 Bücherbusse, deren größte Benutzergruppe Schüler sind. Die 1963 gegründete Junta de Bibliotecas Universitarias Argentinas (JUBIUA) vertritt die Interessen der staatlichen Universitätsbibliotheken gegenüber der Regierung und erarbeitet gemeinsame Zielvorgaben. Die privaten Universitätsbibliotheken verfügen nicht über eine institutionalisierte Zusammenarbeit. Von den Schulen verfügen nur wenige über eigene Bibliotheken, die durch Buch- und Sachspenden sowie ehrenamtliche Tätigkeit der Eltern der Schüler finanziert werden. Derzeit wird ein Konzept zum Aufbau eines nationalen Schulbibliothekssystems erarbeitet. Die Biblioteca Nacional (Nationalbibliothek der Republik Argentinien) wurde 1810 unter dem Namen Biblioteca pública de Buenos Aires gegründet. Seit 1884 ist sie die Nationalbibliothek. 1933 erhielt sie das Pflichtexemplarrecht. Ihr Buchbestand wird auf 800.000 bis 2,5 Millionen Bände geschätzt. Die Biblioteca del Congreso de la Nación (Parlamentsbibliothek) entstand 1859. Die Bibliothek ist Depotbibliothek internationaler Organisationen und besitzt schätzungsweise 1,5 Millionen Bestandseinheiten. == Politische Gliederung == === Provinzen === Die Provinzen (spanisch provincias, Einzahl: provincia) sind die Gliedstaaten des argentinischen Bundesstaates. Sie haben jeweils eine eigene Provinzverfassung, eine Provinzregierung unter Leitung eines direkt gewählten Gouverneurs (gobernador) und ein Parlament. Die Provinzen sind wiederum administrativ in Departamentos untergliedert. Ausnahme ist hier die Provinz Buenos Aires, die in Partidos untergliedert ist. Es gibt 23 Provinzen und die autonome Stadt Buenos Aires, siehe Liste der Provinzen Argentiniens. === Regionen === Ab Ende der 1980er-Jahre haben sich die Provinzen Argentiniens mit Ausnahme der Provinz Buenos Aires zu Regionen zusammengeschlossen, mit dem Ziel, die Wirtschafts-, Infrastruktur- und Entwicklungspolitik untereinander abzustimmen und Gegengewichte zur dominierenden Stellung des Großraums Buenos Aires zu bilden. Diese Regionen sind allerdings bisher keine offiziellen Gliedstaaten, sondern reine Interessengemeinschaften, sie haben also keinerlei offizielle politische Organe. Der Grad der Kooperation ist unterschiedlich. Die Región Centro besteht aus den Provinzen Córdoba, Entre Ríos und Santa Fe und weist den höchsten Integrationsgrad auf. Die Interessengemeinschaft wurde schon 1973 als Ziel anvisiert, aber erst 1998 umgesetzt. Seit 2004 bestehen als offizielle Institutionen der Gouverneursrat (Junta de Gobernadores) und das Exekutivkomitee (Comité Ejecutivo). Die Región del Nuevo Cuyo besteht aus den Provinzen Mendoza, San Juan, La Rioja und San Luis. Sie weist nur einen geringen Integrationsgrad auf und besteht seit 1988. Auch sie hat als Institutionen einen Gouverneursrat und ein Exekutivkomitee, die jedoch kaum praktische Bedeutung haben. Einen Sonderfall nimmt die Región del Norte Grande Argentino ein. Diese integriert die zwei traditionellen Regionen Nordost- (Provinzen Chaco, Corrientes, Formosa und Misiones) und Nordwestargentinien (Catamarca, Jujuy, Salta, Santiago del Estero und Tucumán). Sie existiert seit 1999 und hat bereits zahlreiche Projekte verwirklicht, obwohl der Regionalvertrag noch von drei Provinzen ratifiziert werden muss. Aus traditionellen Gründen ist aber die Einteilung in Nordwesten und Nordosten nach wie vor für viele Statistiken ausschlaggebend. Schließlich besteht die Región Patagónica aus den Provinzen Chubut, La Pampa, Neuquén, Río Negro, Santa Cruz und Tierra del Fuego. Sie wurde 1996 gegründet und hat einen hohen Kooperationsgrad. So entsenden die Provinzparlamente Vertreter in ein gemeinsames Parlament, das Parlamento Patagónico, das schon seit 1991 besteht, als die Region offiziell noch nicht gegründet worden war. == Menschenrechte == === Frauenrechte === Im Dezember 2020 wurden Schwangerschaftsabbrüche in den ersten 14 Wochen für straffrei erklärt. Ab der 15. Woche darf nur im Falle einer Vergewaltigung und wenn das Leben der Mutter in Gefahr ist, abgetrieben werden. Gleichzeitig wies Amnesty International im Jahresreport (2020) auf zahlreiche Menschenrechtsverstöße in Argentinien hin: Die Corona-Pandemie habe die Ungleichheit zwischen den Geschlechtern verschärft: Frauen verrichteten 75 Prozent der unbezahlten Haus- und Pflegearbeit. Bis November 2020 nahm die Gewalt gegen Frauen und Mädchen um 18 Prozent gegenüber dem Vorjahr zu. Es wurden im Jahr 2020 298 Femizide verübt. === Rechte indigener Bevölkerungsgruppen === Die Landrechte indigener Gemeinschaften werden nicht anerkannt bzw. umgesetzt (Stand 2020), obwohl ihr Recht auf die angestammten Territorien in der Verfassung verankert ist. Die Gemeinschaften waren Gewalt und unzureichender Versorgung mit Essen und Trinken ausgesetzt. === Polizeigewalt === Im Amnesty-International-Bericht von 2020 moniert die Organisation „exzessive Gewaltanwendung durch Polizisten“ sowie Fälle von Verschwindenlassen, die staatlicherseits nicht ausreichend aufgeklärt werden. == Infrastruktur == === Große Städte === Buenos Aires, dessen Ballungsraum 2017 etwa 14,9 Millionen Einwohner umfasst, ist politische Hauptstadt und wirtschaftliches Zentrum Argentiniens. Es ist umgeben von einer Reihe von selbstständigen Vorstädten, die zum Teil reine Schlafstädte sind, zum Teil aber auch selbst über Produktionsstätten verfügen. Córdoba, mit 1,6 Mio. Einwohnern die zweitgrößte Stadt des Landes, verfügt über größere Produktionsstätten und beherbergt die älteste Universität des Landes Universidad Nacional de Córdoba. Rosario in der Provinz Santa Fe (1,3 Mio. Einwohner) ist der zweitgrößte Hafen des Landes und ein Industrie- und Handelszentrum. Mendoza (1 Mio. Einwohner) ist vor allem für seinen Wein- und Obstanbau bekannt, dient aber auch als Brückenkopf für den Handel mit Santiago de Chile. San Miguel de Tucumán (883.000 Einwohner) ist die Geburtsstätte der Unabhängigkeit und wurde durch die intensive Landwirtschaft, insbesondere den Zuckerrohranbau, wirtschaftlich und kulturell bedeutsam, litt aber in den letzten Jahrzehnten unter der Krise in diesem Wirtschaftssektor und ist heute eine der Städte mit der größten Armutsquote des Landes. Die Universitäten in dieser Stadt haben allerdings überregionale Bedeutung und werden z. B. von Studenten aus Bolivien besucht. Siehe auch: Liste der Städte in Argentinien === Verkehrsnetze === Im Logistics Performance Index, der von der Weltbank erstellt wird und die Qualität der Infrastruktur misst, belegte Argentinien 2018 den 61. Platz unter 160 Ländern. Von allen Länder in Lateinamerika belegt Argentinien einen der besseren Plätze. ==== Schienenverkehr ==== Das Eisenbahnsystem in Argentinien hat am 29. August 1857 mit der ersten Fahrt eines Zuges seinen Anfang genommen. Im Laufe der Zeit wurde das Schienennetz hauptsächlich von englischen Unternehmen relativ zügig ausgebaut und wurde zu einem Schlüssel für die Entwicklung des Landes. In den 1930er Jahren verfügte das Land mit 43.000 Kilometer Schiene über ein größeres Netz als die meisten Länder Europas. Das Eisenbahnsystem bestand aus mehreren unabhängigen privaten Unternehmen, die 1946 von Präsident Perón verstaatlicht wurden. Die Ende der 1950er Jahre hinzugezogenen US-amerikanischen Berater legten die Priorität auf den Straßenverkehr, so dass Bahnstrecken in großem Umfang stillgelegt wurden. Die Staatsbahn wurde 1992 von Carlos Menem wieder privatisiert, was zur Folge hatte, dass der Fahrgastbetrieb noch mehr reduziert wurde, die Eisenbahnergewerkschaft zerschlagen wurde, 50.000 Menschen arbeitslos wurden, ganze Landstriche verödeten und die Korruption im Eisenbahngeschäft stark zunahm. Heute hat das argentinische Schienennetz eine Länge von etwa 28.300 Kilometern in drei verschiedenen Spurweiten. Zwei Eisenbahnstrecken verbinden Argentinien mit Chile, weitere Strecken haben Verbindung mit Bolivien, Paraguay, Uruguay und Brasilien. Allerdings werden immer noch Strecken stillgelegt oder verfallen und werden nicht wieder instand gesetzt. Der Personentransport per Eisenbahn spielt generell nur noch im Großraum Buenos Aires für die Pendler eine Rolle. Bahnfernverbindungen gibt es noch bzw. wieder von Buenos Aires nach Córdoba, Mar del Plata, San Miguel de Tucumán, Santa Fe und nach Posadas. Die Züge benötigen für die gleiche Strecke jedoch wesentlich länger als Fernreisebusse und haben einen sehr eingeschränkten Fahrplan (z. B. Buenos Aires, Bahnhof Retiro – Córdoba zwei Fahrten pro Woche). Die Regierung unter Néstor Kirchner hatte 2006 einen „Megaplan Eisenbahn“ aufgestellt, worin auch eine 710 km lange, mit bis zu 320 km/h betriebene Hochgeschwindigkeitsstrecke Cobra zwischen Buenos Aires und Córdoba für 2011 geplant war. Die infolge dieses Planes reaktivierten Strecken mussten jedoch aufgrund technischer Defizite der Schienen oder des rollenden Materials oft gleich wieder stillgelegt werden. Touristisch gesehen gibt es einige interessante Züge, z. B. den Tren a las Nubes in der Provinz Salta, La Trochita – die einzige dampfbetriebene Schmalspurbahn Argentiniens, die zwischen Esquel und Nahuel Pan verkehrt – sowie den Tren del Fin del Mundo in der Provinz Tierra del Fuego. ==== Straßenverkehr ==== Die Rolle der Eisenbahn für den Personentransport wurde weitestgehend von modernen, klimatisierten Reisebussen übernommen. Es kann praktisch jeder Punkt des Landes mit dem Reisebus erreicht werden, und so sind die Busbahnhöfe heute neben den Flughäfen die meistgenutzten Infrastruktureinrichtungen. Der bedeutendste Busbahnhof Argentiniens ist Retiro in Buenos Aires. Von dort gibt es Busverbindungen in das ganze Land. Weitere stark frequentierte Busbahnhöfe und Drehkreuze finden sich in Córdoba (etwa 10 Stunden Reisezeit von Buenos Aires) und Mendoza (etwa 14–15 Stunden Reisezeit von Buenos Aires). Die längste Direktverbindung besteht zwischen San Salvador de Jujuy und Río Gallegos (3430 km, fahrplanmäßig 55 Stunden Fahrzeit), von wo aus man weiter nach Ushuaia fahren kann. Das Straßennetz hat eine Gesamtlänge von etwa 215.000 km und verteilt sich auf National-, Provinz- und Gemeindestraßen. Die Qualität der Straßen variiert stark. Die großen Wirtschaftszentren sind mit asphaltierten und zum Teil gut ausgebauten Straßen verbunden, die meist über Mautgebühren von privaten Unternehmen gebaut und instand gehalten werden. In den Ballungszentren und auf einigen Hauptverbindungen existieren einige mehrspurige Autobahnen (autopistas) und Schnellstraßen (autovías), die meist als reguläre National- und Provinzstraßen ausgeschildert sind. Die meisten Fernstraßen sind jedoch zweispurig und durch den Schwerlastverkehr oft stark belastet. In abgelegenen Gebieten sind häufig nur Schotter- und Erdpisten vorhanden. Da die Eisenbahn im Personenverkehr keine Rolle mehr spielt und dieser fast ausschließlich über die Straße abgewickelt wird, gibt es pro Jahr fast 10.000 Verkehrstote, was hochgerechnet auf die Einwohnerzahl eine höhere Zahl als in Indien ist.Bekannteste touristische Strecke ist die Ruta Nacional 40 zwischen Cabo Vírgenes an der Südspitze des Festlandes (Provinz Santa Cruz) und La Quiaca, die das gesamte Land von Nord nach Süd durchquert. ==== Flugverkehr ==== Die nationale Fluggesellschaft Aerolíneas Argentinas wurde 1990 privatisiert und 2008 wieder verstaatlicht. Im Inlandsverkehr hat Aerolíneas einen hohen Marktanteil; seit 2018 sind auch mehrere einheimische Billigfluggesellschaften primär im Inland aktiv. Die zu den argentinischen Luftstreitkräften gehörende Líneas Aéreas del Estado (LADE) verbindet kleinere Städte in Patagonien. Aufgrund der großen Entfernungen verfügt fast jede größere Stadt in Argentinien über einen Flughafen. Die Hauptstadt Buenos Aires selbst besitzt zwei Passagier-Flughäfen: Internationale Flüge, insbesondere alle Langstreckenverbindungen, werden überwiegend am Flughafen Ezeiza (EZE) abgewickelt. Darüber hinaus gibt es den Stadtflughafen Aeroparque Jorge Newbery (AEP), der überwiegend für Inlandsflüge, aber auch für kürzere internationale Strecken, genutzt wird. ==== Schiffsverkehr ==== Ungefähr 3100 km der Wasserwege sind schiffbar. Der Río de la Plata mit seinen Oberläufen Río Paraná und Río Uruguay ist der wichtigste Wasserweg. Über diese Flüsse wird auch ein Großteil der landwirtschaftlichen Exporte Argentiniens transportiert, die meist in der Region um Rosario auf hochseefähige Schüttgutfrachter verladen werden. === Energiewirtschaft === ==== Erdgas und Erdöl ==== Argentinien besitzt Vorkommen an Erdgas, die Stand 2017 beim 6,5-fachen des jährlichen Verbrauchs lagen. Gas wird zum Kochen und Heizen, aber auch vermehrt als Kraftstoff für Pkw eingesetzt. Mehr und mehr spielt der Import von Erdgas, z. B. aus Bolivien, eine größere Rolle. ==== Elektrizitätsversorgung ==== Laut CIA lag Argentinien im Jahr 2016 bzgl. der installierten Leistung mit 38.350 MW an Stelle 27 und bzgl. der jährlichen Erzeugung mit 131,9 Mrd. kWh an Stelle 30 in der Welt. Der Elektrifizierungsgrad lag 2013 bei 96,4 % (99,2 % in den Städten und 96 % in ländlichen Gebieten). Laut der Comisión Nacional de Energía Atómica (CNEA) betrug die installierte Leistung der Kraftwerke in Argentinien 37.652 MW, davon entfielen auf kalorische Kraftwerke 24.396 MW (64,8 %), auf Wasserkraftwerke 11.265 MW (29,9 %) und auf Kernkraftwerke 1.755 MW (4,66 %).Auf der anderen Seite wird der Energiemix seit 1994 durch die Windenergie ergänzt, die in der Provinz Chubut in Patagonien mit ihrem besonders windigen Klima bereits einen erheblichen Teil der Stromerzeugung übernimmt. Sie wird seit der zweiten Hälfte der 1990er Jahre gesetzlich gefördert und die Branche weist daher derzeit ein hohes Wachstum auf. Argentinien gilt als eines der Länder mit dem höchsten Windkraftpotenzial der Erde, lag jedoch in der Nutzung dieser Energieform 2006 nur auf dem dritten Platz in Lateinamerika hinter Mexiko und Brasilien. November 2015 kündigt China an, in Patagonien einen Windpark mit 200 MW Leistung zu errichten. Ende 2015 waren 187 MW Windkraft in Argentinien installiert, was 0,6 % Anteil an der Stromerzeugung entsprach. Die argentinische Regierung strebt an, bis 2025 6-7 GW Windenergieleistung zu installieren. Gerade in Patagonien herrschen exzellente Windbedingungen mit niedrigen Turbulenzraten und Windgeschwindigkeiten von bis zu 12 m/s im Jahresschnitt.An der Nutzung der Kernenergie will das Land festhalten. Bereits seit 1974 ist ein deutscher Importreaktor am Standort Atucha im Betrieb. Der zweite argentinische Reaktor am Standort Embalse, in Betrieb seit 1983, war ein Import aus Kanada. Seit 1981 befindet sich ein weiterer aus Deutschland importierter Reaktor im Bau und ging 2014 als Atucha-2 in Betrieb. Der Bau eines vierten Reaktors wurde seit 2006 in Erwägung gezogen. Bewerber für die Ausschreibung kamen aus Kanada, Frankreich, Russland, Japan, Südkorea, China und den USA. Eine entsprechende Anfrage erfolgte durch die argentinische Regierung. 2010 wurden Kooperationsverträge mit Russland und Südkorea unterzeichnet, wobei im Mai 2011 erstmals die Möglichkeit erwähnt wurde, zusammen mit der russischen Gesellschaft Rosatom einen Reaktor zu errichten. Am 12. Juli 2014 unterzeichneten Staatspräsidentin Cristina Kirchner und Wladimir Putin eine Vereinbarung über die russische Beteiligung am Projekt Atucha 3. Bereits 2012 hatte Argentinien mit China eine Kooperation vereinbart zu Finanzierung und Bau des Projekts Atucha 4. Im Juni 2018 beschloss die argentinische Regierung unter Mauricio Macri, die Pläne zum Bau eines Reaktors Atucha 3 und Atucha 4 einzustellen. Im Februar 2022 wurde bekannt, dass Argentinien mit der China National Nuclear Corporation einen Vertrag über den Bau eines weiteren Reaktors mit einer Leistung von 1,2 GW (Atucha 3) abgeschlossen hat. === Telekommunikation und Post === Die staatliche Telekommunikationsgesellschaft ENTEL wurde 1990 privatisiert und an zwei ausländische Unternehmen – Telefónica (Spanien) und Telecom (Frankreich, heute in der Hand von Telecom Italia) – verkauft, die sich das Land aufteilten. Seitdem hat die Zahl der Telefonanschlüsse je Einwohner rasant zugenommen, denn nach der Privatisierung betrug die Einrichtungsgebühr für einen Telefonanschluss mit 100 US$ nur noch ein Zehntel der früheren Gebühr, und auch die Wartezeit bis zum Anschluss hatte sich wesentlich verringert. Im Jahr 2017 gab es etwa 10 Millionen Festnetzanschlüsse und rund 90 % der Argentinier hatten ein Smartphone. Die Netzqualität und -abdeckung ist aber von Betreiber zu Betreiber sehr unterschiedlich. Im Jahr 2017 nutzten 74 Prozent der Einwohner Argentiniens das Internet.Auch der Postdienst wurde 1997 durch die Gesellschaft SOCMA privatisiert. In der Folge machte das Unternehmen (Correo Argentino) 250 Millionen Dollar Schulden und wurde schließlich 2003 wieder verstaatlicht. Neben Correo Argentino gibt es noch mehrere kleinere Postdienste, z. B. OCA und Andreani. == Wirtschaft == Argentinien ist eine gelenkte Volkswirtschaft, die in mehreren Stufen seit den 1970er Jahren zunehmend dereguliert und privatisiert wurde. Unter Präsident Néstor Kirchner jedoch wurde diese Tendenz umgekehrt. Argentinien ist mit einem Bruttoinlandsprodukt (BIP) von rund 604 Milliarden US-Dollar (2015) die größte Volkswirtschaft des spanischsprachigen Südamerikas. In Lateinamerika sind lediglich Brasilien und Mexiko wirtschaftlich bedeutender. Argentinien verfügt über eine im Regionalvergleich relativ gut entwickelte Industrie; wichtigste Sektoren sind die Nahrungsmittelindustrie und die Automobilindustrie (u. a. Volkswagen und Daimler), die wesentliche Anteile der Produktion nach Brasilien exportiert. Die verarbeitende Industrie, Immobilien/Unternehmensdienstleistungen sowie der Handel tragen jeweils rund 10 % zum BIP bei. Der Beitrag der reinen Land- und Forstwirtschaft zum BIP liegt bei knapp 5 %; allerdings wird geschätzt, dass ein Drittel der Arbeitsplätze direkt oder indirekt (zum Beispiel Transport, Verpackung) im Zusammenhang mit der Agrarindustrie stehen. Auch bei den Exporten dominiert der Anteil der Nahrungsmittel (rund 45 %) deutlich vor Auto(teile)-Exporten (um 10 %).International wird Argentinien oft zu den Schwellenländern gezählt. Nach dem von den Vereinten Nationen erhobenen Index der menschlichen Entwicklung zählt es seit 2011 jedoch zu den sehr hoch entwickelten Staaten. Es gehört unter den unabhängigen südamerikanischen Staaten gemeinsam mit Chile und Uruguay (Südkegel) zur Spitzengruppe in Hinblick auf das Pro-Kopf-Bruttoinlandsprodukt (Kaufkraftparität). Die Einkommensungleichheit (Gini-Koeffizient) lag 2009 im weltweiten Vergleich relativ hoch, aber noch unter dem Durchschnitt der lateinamerikanischen Staaten.Im Jahr 2014 befand sich die argentinische Wirtschaft trotz guter Rahmenbedingungen für Rohstoffexporte auf einer Talfahrt mit massiver Abwertung des Peso. Gleichzeitig stieg die Inflationsrate, die seit 2008 stets zwischen sechs und elf Prozent gelegen hatte auf 24 % im Jahr 2014 und auf 34 % im Jahr 2018. Im Global Competitiveness Index des WEF, der die Wettbewerbsfähigkeit eines Landes beurteilt, belegt Argentinien Platz 92 von 137 Ländern (Stand 2017–2018). Im Competitiveness-Report von 2020 wurden Argentinien im internationalen Vergleich Fortschritte bei einer progressiven Besteuerung attestiert, jedoch bestehen demnach im Vergleich weiterhin kaum Regelungen gegen Monopolstellungen von Unternehmen und Probleme bei der Infrastruktur und dem Berufsbildungssystem.Nach dem Regierungswechsel von 2015 kürzte die Regierung 2016 staatliche Ausgaben in größerem Umfang. 2017 lag die Inflationsrate bei 26 % und stieg bis 2019 weiter an, 2020 fiel sie von 54 auf 42 %. === Bodenschätze === Wertvolle Mineralerze und Gesteine finden sich in Argentinien nur in kleineren Mengen, so etwa Gold, Silber, Kupfer, Blei, Zink, Eisen, Zinn, Glimmer und Kalkstein. Wirtschaftlich bedeutender sind die Erdöl- und Erdgas-Vorkommen im Nordwesten, Neuquén, der Gegend rund um die Bucht Golfo San Jorge und vor der Küste. === Geschichte der Wirtschaftspolitik === Die argentinische Wirtschaft ist traditionell durch die Landwirtschaft geprägt. Bis in die 1950er Jahre wurden fast ausschließlich Agrargüter exportiert. Erst danach setzte eine Industrialisierung nennenswerten Umfanges ein. Die wirtschaftliche Entwicklung wurde jedoch von den verschiedenen Regierungen nach unterschiedlichen, teilweise widersprüchlichen Vorgaben reglementiert. Es entstand, vor allem unter dem Einfluss des Peronismus, ein breiter staatlich kontrollierter Sektor in Industrie, Handel und Dienstleistung. Dennoch hat Argentinien das Wohlstandsniveau der 1950er Jahre nie wieder erreicht. Die Korruption war und ist in Argentinien weit verbreitet.Die 1976 unter der Politik der Militärdiktatur eingeleitete massive Staatsverschuldung fügte der heimischen Wirtschaft schweren Schaden zu. Die Auslandsverschuldung stieg von unter 8 Mrd. US-Dollar im Jahr 1967 auf 160 Mrd. US-Dollar im Jahr 2001. Der Peso Ley musste mehrfach abgewertet werden. Der Falklandkrieg geht möglicherweise auch auf die wirtschaftlichen Probleme unter der Militärdiktatur zurück. Nach der Rückkehr zur Demokratie 1983 erwies sich die Hyperinflation als eines der größten wirtschaftlichen Probleme des Landes. Der 1989 gewählte Präsident Carlos Menem führte daraufhin die 1:1-Bindung des argentinischen Peso an den US-Dollar ein. Dies führte fast schlagartig zu einem Ende der Inflation und zu einem deutlichen wirtschaftlichen Aufschwung. Auf längere Sicht hatte sie aber zur Folge, dass argentinische Produkte auf dem Weltmarkt teurer und Importware im Inland billiger wurden. Zahlreiche argentinische Produktionsbetriebe mussten schließen. Es kam zu einem schnell zunehmenden Ungleichgewicht zwischen dem (offiziellen) Wechselkurs der Währung und ihrer inneren Werthaltigkeit. Kapitalflucht setzte ein, und das ohnehin hoch verschuldete Land musste immer neue Kredite im Ausland aufnehmen, um alte Verbindlichkeiten bezahlen und Devisen für dringende Importe bereitstellen zu können. Gelegentlich wurden sogar Staatsbedienstete nicht mehr mit Geld, sondern mit Schuldverschreibungen bezahlt, und Geschäftsleute wurden gesetzlich verpflichtet, derartige Papiere als Zahlungsmittel anzunehmen. Anfangs wurde dies noch durch private Kapitalzuflüsse ausländischer Anleger überlagert, die sich in argentinische Unternehmen einkauften, besonders im Zuge der von Menem eingeleiteten Privatisierung von Staatsbetrieben. Doch schließlich hatte die Verschuldung so weit zugenommen und die Wirtschaftsleistung so weit abgenommen, dass Ende 2001 nach schweren Unruhen Präsident Fernando de la Rúa zurücktrat. Auslöser für die Unruhen war der sogenannte Corralito, also das Einfrieren sämtlicher Bankguthaben. Die folgende Regierung gab die Einstellung der Zahlungen auf Tilgung und Zinsen, also den Staatsbankrott, bekannt. Wegen fehlender Unterstützung der Partei trat der übergangsweise angetretene Präsident Adolfo Rodríguez Saá schon nach fünf Tagen wieder zurück. Es folgte der Peronist Eduardo Duhalde, der im Januar 2002 den argentinischen Peso zunächst auf 1,40 ARS/US-Dollar abwertete, um ihn dann wenig später ganz freizugeben. Der IWF versorgte nach einer langen Verhandlung Mitte 2002, mit politischer Unterstützung der größten Industrienationen, Argentinien im Rahmen verschiedener Interimsabkommen mit frischem Geld. Damit konnte die argentinische Wirtschaft bereits im Jahr 2003 ein beachtliches Wachstum verzeichnen, vor allem weil nun Mittelabflüsse durch Kreditrückzahlungen nicht mehr stattfanden und wegen des nun deutlich billigeren Peso (3,5 bis 4 Argentinische Peso je US-Dollar). Allerdings wurde im März 2004 die Rückzahlung einer Rate von 3,1 Mrd. US-Dollar (etwa 2,5 Mrd. Euro) für einen im Rahmen der Interimsabkommen gewährten IWF-Kredite fällig. Erst unmittelbar vor dem letztmöglichen Termin wies die Regierung Kirchner die Zahlung an. Vorausgegangen war ein mehrwöchiger Verhandlungspoker. Die argentinische Regierung wollte dabei erreichen, dass ein Bericht des IWF über die Bemühungen des Landes im Hinblick auf die Wiedergewinnung wirtschaftlicher Solidität möglichst positiv ausfiel. Dies galt als Voraussetzung für eine weitere Kreditgewährung durch den IWF. Über die Behandlung der Forderungen von privaten Gläubigern Argentiniens wurde bislang aber noch keine Einigung erzielt. Dies belastet weiterhin die Handelsbeziehungen des Landes. Im IWF war lange umstritten, ob Argentinien die Voraussetzungen für die weitere Vergabe von Krediten erfüllt. Die Auflage, in „gutem Glauben“ zu verhandeln, hat die argentinische Regierung nach Ansicht der privaten Gläubiger nicht erfüllt. Stattdessen forderte Argentinien in den Verhandlungen zwischen 2002 und 2004 einen Kapitalschnitt, der auf 75 % Barwertverlust hinausläuft. Es liefen Klagen gegen Argentinien und den IWF vor dem Bundesverfassungsgericht mit dem Ziel der vollständigen Rückzahlung des geliehenen Geldes, die teilweise noch nicht abgeschlossen sind. Eine deutsche Gläubigerorganisation ist die Interessengemeinschaft Argentinien e. V.Anfang 2005 nahm die Regierung Verhandlungen mit den Inhabern argentinischer Staatspapiere zur Annahme eines Umschuldungsplanes auf. Dieser Plan umfasste neben einem erheblichen Kapitalschnitt die zeitliche Streckung der Verbindlichkeiten sowie eine Reduzierung des Zinses. Dabei wurde ausschließlich mit privaten Gläubigern und ihren Interessenvertretungen verhandelt. Hierbei war bislang bei inländischen Gläubigern eine deutliche Bereitschaft erkennbar, das Umschuldungsangebot zu akzeptieren. Bei ausländischen Gläubigern stießen die Vorschläge jedoch zunächst auf harten Widerstand. Der Umschuldungsplan wurde von etwas mehr als 76 % der privaten Gläubiger innerhalb der gesetzten Frist akzeptiert. Eine kurzzeitige Streitigkeit mit einem Hedgefonds um 7 Milliarden Dollar verzögerte die Ausgabe der neuen Bonds allerdings um zwei Monate bis Ende Mai 2005. Siehe auch: Argentinien-Krise === Wirtschaftswachstum === Die Tabelle des Wirtschaftswachstums Argentiniens zeigt den tiefen Einschnitt bei der argentinischen Wirtschaftskrise 2001/2002, der zeitlich nach der mexikanischen Tequila-, der Asien- und der Brasilienkrise stattfand. (Quellen: Weltbank) === Bruttoinlandsprodukt === Das Bruttoinlandsprodukt (BIP) betrug im Jahr 2003 376,2 Milliarden Arg$, dies entsprach etwa 103 Milliarden Euro. Davon entfielen etwa 43 % auf die Produktion von Waren und etwa 51 % auf die Erbringung von Dienstleistungen. Den größten Anteil am BIP hatten dabei die produzierende Industrie mit 22 %, die Landwirtschaft mit 10 %, der Groß- und Einzelhandel mit 11 % sowie die Vermietung von Gebäuden und Grundstücken mit ebenfalls 11 %. === Staatsverschuldung === Während der 1990er Jahre galt Argentinien als ein positives Beispiel für finanzielle Stabilität und erfolgreiche Marktreformen, doch stieg unter der Regierung Menem die Staatsverschuldung kontinuierlich an. Dies war eine der Ursachen für die Argentinien-Krise und den Staatsbankrott im Jahr 2001. Die Staatsanleihen wurden nicht mehr bedient. Die Gläubiger, die sich einem Umtausch unterwarfen, verloren ca. 70 % ihrer Anlage, darunter viele private Kleinanleger vor allem in Italien, Japan und Deutschland. Allein in Deutschland wurden mehrere hundert Urteile erstritten, welche die Republik Argentinien zur Zahlung der ausstehenden Schulden verpflichtet. Am 31. Juli 2014 wurde Argentinien zum zweiten Mal seit 2001 zahlungsunfähig.Seit 1985 gehört Argentinien ununterbrochen zu den Top-5-Kreditnehmern des Internationalen Währungsfonds. === Inflationsrate === Argentinien war in den 1980er Jahren bekannt als ein Land mit einer sehr hohen Inflationsrate. Diese verstärkte sich ab Beginn der Redemokratisierung 1983 zunehmend zu einer Hyperinflation, deren Höhepunkt 1989 erreicht wurde. Im selben Jahr wurde unter der Regierung von Carlos Menem und seinem Wirtschaftsminister Domingo Cavallo die 1:1-Bindung des argentinischen Peso an den US-Dollar beschlossen. Diese Maßnahme konnte die Inflationsrate in der Folge relativ rasch auf „normale“ Werte drücken. Im Zeitraum zwischen 1994 und 1998 gab es keine nennenswerte Inflationsrate. Ab 1999 drehte die beginnende Wirtschaftskrise die Inflationsrate sogar in den deflationären Bereich. Mit der Argentinien-Krise, die um den Jahreswechsel 2001/2002 ihren Höhepunkt erreichte und mit der Erklärung des Default und einer Abwertung gegenüber dem Dollar verbunden war, stieg die Inflationsrate zunächst stark an, sank aber zwischenzeitlich wieder auf einstellige Werte. Seit das argentinische Statistikamt INDEC Anfang 2007 unter Regierungsaufsicht gestellt und die statistischen Berechnungsgrundlagen verändert wurden, wird die offizielle Inflationsrate von privaten Wirtschaftsinstituten und internationalen Organisationen in Zweifel gezogen. Deren Schätzungen für 2011 liegen bei ca. knapp 23 % (2010: ca. 25 %). Auf diesem oder höherem Niveau blieb sie bis mindestens 2021. Die hohe Inflation schlägt sich in den letzten Jahren in den Abschlüssen der Tarifrunden nieder, bei denen die mächtigen Gewerkschaften Erhöhungen noch deutlich oberhalb der realen Inflationsraten erzielen konnten. === Außenhandel === Der Außenhandel war in den vergangenen Jahren stark von der Argentinien-Krise geprägt. Die Importe gingen seit 1999 zurück. Im Jahresvergleich 2001/2002 hatten sie einen besonders starken Rückgang von 56 % und konnten sich erst 2003 wieder erholen. Die Exporte blieben von der Argentinien-Krise nahezu unberührt. Die Exporte sind von landwirtschaftlichen Produkten dominiert. 31 % aller Exporte sind weiterverarbeitete, landwirtschaftliche Produkte, 25 % sind Rohstoffe (wobei hierzu auch landwirtschaftliche Produkte zählen), 25 % sind industrielle Produkte und 18 % sind Mineralöle und andere Energieträger. Nach Handelsblöcken unterteilt gingen 2015 24 % aller argentinischen Exporte in den MERCOSUR, 23 % an ASEAN und China, Südkorea, Japan, Indien, 15 % an die EU und 10 % an NAFTA. Unter den einzelnen Abnehmerländern liegt Brasilien mit 17,8 % an erster Stelle, gefolgt von China mit 9,5 % und den USA und Chile mit 6,0 % bzw. 4,2 %. Bei den argentinischen Importen dominierten 2015 die Handelsblöcke ASEAN und China, Südkorea, Japan, Indien mit 28 %, gefolgt von Mercosur mit 23 % und der EU und NAFTA mit jeweils 17 %. Als Hauptlieferländer dominieren Brasilien mit 21,8 % und China mit 19,7 %, gefolgt von den USA mit 12,9 % und Deutschland mit 5,2 %. === Staatshaushalt === Der Staatshaushalt umfasste 2016 Ausgaben von umgerechnet 141,7 Mrd. US-Dollar, dem standen Einnahmen von umgerechnet 115,9 Mrd. US-Dollar gegenüber. Daraus ergibt sich ein Haushaltsdefizit in Höhe von 4,7 % des BIP. Die Staatsverschuldung betrug 2016 279,6 Mrd. US-Dollar oder 51,3 % des BIP.2006 betrug der Anteil der Staatsausgaben (in % des BIP) folgender Bereiche: Gesundheit: 10,1 % Bildung: 3,8 % (2004) Militär: 1,3 % (2005) == Kultur == Ein scherzhafter Ausspruch von Jorge Luis Borges bezeichnet die Argentinier als „Italiener, die Spanisch sprechen und gerne Engländer wären, die glauben, in Paris zu leben.“ Dadurch kommt die Mischung des Volkes aus Einwanderern verschiedener europäischer Länder zum Ausdruck, der sich in der Kultur deutlich bemerkbar macht. Argentinien hat eine sehr aktive, multikulturelle und stark durch europäische Einflüsse geprägte Kulturszene. Vor allem in Buenos Aires gibt es ein vielfältiges Angebot an Veranstaltungen in den Bereichen Theater, Musik, Oper, Literatur, Film und Sport. === Musik === Argentinische Musik ist durch den Tango (und die verwandten Musikformen Milonga und Vals) bekannt geworden. Bekannteste Interpreten sind Carlos Gardel, Astor Piazzolla und Osvaldo Pugliese. Tango kann jedoch nicht auf die musikalische Dimension beschränkt werden, vielmehr ist Tango ein gesamtkulturelles Phänomen mit den zusätzlichen Aspekten Textdichtung und tänzerische Interpretation. Als solches begründet der Tango eine kulturelle Identität, die sehr viel zum Selbstverständnis der Argentinier, genauer genommen der „Porteños“ aus Buenos Aires, beiträgt. Außerdem gibt es in Argentinien die in der traditionellen Musik verwurzelten Folklore-Interpreten. Zu den auch international beachteten Musikern zählen der als Atahualpa Yupanqui weltweit bekannt gewordene Héctor Roberto Chavero und die aus der Provinz Tucumán stammende Mercedes Sosa (1935–2009), die 1982 nach vier Jahren Exil in Madrid und Paris nach Argentinien zurückkehrte. Neuerdings sind in Argentinien einige traditionelle Musikstile von der Popmusik her wiederbelebt worden. Zu nennen sind hier der fröhlich-leichte Tanz des Cuarteto, die urbane Musik der Stadt Córdoba, sowie einige Stile der von den Spaniern übernommenen nationalen Folklore, die durch Mischung mit anderen Stilen eine völlig neue Gestalt erlangt haben. Auch Musikstile aus anderen Teilen Südamerikas, allen voran die kolumbianische Cumbia, wurden von argentinischen Interpreten weiterentwickelt. So entstand als aktueller Beitrag Argentiniens zur Popmusik in Buenos Aires die Cumbia Villera („Elendsviertel-Cumbia“). === Literatur === Im 19. Jahrhundert löst sich mit der Unabhängigkeit des Landes die argentinische Literatur von der spanischen – ohne dieses Erbe zu verleugnen. Durch die Thematisierung des Lebens der Gauchos in der Pampa gewinnt die Literatur eine deutliche nationale Komponente. Beispiele dafür sind Fausto (1866) von Estanislao del Campo, das in Gedichtform die Geschichte eines Gauchos erzählende und oft als argentinisches Nationalepos bezeichnete El gaucho Martín Fierro (1872) von José Hernández sowie das bereits 1845 entstandene Facundo von Domingo Faustino Sarmiento. In ähnlicher Traditionslinie steht auch die 1926 veröffentlichte Erzählung Don Segundo Sombra von Ricardo Güiraldes (deutsch bereits 1934: Das Buch vom Gaucho Sombra). Bekannte moderne Autoren sind Eduardo Mallea, Ernesto Sabato, Humberto Costantini, Julio Cortázar, Adolfo Bioy Casares, Manuel Puig, Victoria Ocampo, María Elena Walsh, Tomás Eloy Martínez, Roberto Arlt und besonders Jorge Luis Borges. In den 1920er Jahren formierten sich verschiedene Künstler, vor allem Schriftsteller, aus Argentinien und Uruguay in den Gruppen Grupo Boedo und Grupo Florida. Die Boedo-Gruppe wird als „plebejisch“ die Florida-Gruppe (u. a. mit Borges) als „großbürgerlich“ bezeichnet. Die Kontroverse zwischen diesen Gruppen wird jedoch als eher „freundschaftlicher Art“ beschrieben.Bekannte Comic- und Cartoonautoren sind Guillermo Mordillo und Quino, der unter anderem Preisträger des Max-und-Moritz-Preises ist und die Reihe Mafalda schuf. === Theater === In vielen Städten gibt es eine lebhafte Theaterszene. Man könnte pro Woche leicht über 100 verschiedene Theaterstücke von professionellen und Laiengruppen ansehen. Besonders bekannt ist Rosario für seine Theatergruppen. Das bekannteste Theatergebäude Argentiniens ist das Opernhaus Teatro Colón in Buenos Aires. === Malerei === Die argentinische Malerei gehört mit zu den führenden in Südamerika. Stilistisch ist die Malerei, im Gegensatz zu anderen lateinamerikanischen Ländern, weniger von indigenen Einflüssen bestimmt, sondern von der klassischen Moderne Europas. Herausragende traditionelle Maler Argentiniens sind Enrique de Larrañaga, Didimo Nardino und Horacio Politi. Eine neue Generation von Malern wird zunehmend von Einflüssen der Populärkultur wie Graffiti und New Pop Art bestimmt. === Film === Argentinien war eines der Pionierländer auf dem Gebiet des Stummfilms. Schon 1896 wurde der erste Film gedreht, der die argentinische Fahne zum Thema hatte. 1933 begann der Aufstieg der argentinischen Filmindustrie mit dem Aufkommen des Tonfilms. Damit begann die beste Zeit des argentinischen Kinos, die Filme dieses Landes wurden in der ganzen Welt gezeigt. Besonders bekannt wurden die „Tangofilme“ aus Buenos Aires, unter anderem mit dem Superstar Carlos Gardel. Ab der Mitte der 1940er Jahre griff allerdings der Staat mittels Zensur und Einmischung in die Kinoszene ein. Besonders dramatisch wurde dies in den Militärregierungen (1966–1973 und 1976–1983). In den demokratischen Zwischenzeiten wurden jedoch künstlerisch sehr hochwertige Filme produziert. 1968 kam La hora de los hornos (deutsch: Die Stunde der Hochöfen) von Pino Solanas heraus, ein Film, der als einer der Höhepunkte des politischen lateinamerikanischen Kinos gilt. Ein anderer politischer Filmemacher aus dieser Zeit ist Raymundo Gleyzer. Nach der Militärdiktatur begann das Kino, die Terrorherrschaft aufzuarbeiten. Es entstanden Filme wie La Historia Oficial (Luis Puenzo) (Oscar 1986 für den besten ausländischen Film), La Noche de los Lápices (Héctor Olivera) und später Garage Olimpo (Marco Bechis), die teils fiktive, teils wahre Fälle von sogenannten „Verschwundenen“ auf die Leinwand brachten. 1997 leitete Pizza, Birra, Faso (Adrián Caetano) die Epoche des „Nuevo Cine Argentino“ ein, in dem vor allem Geschichten aus dem Milieu der einfachen Leute und Elendsviertelbewohner verfilmt wurden. Heute ist die argentinische Filmszene vor allem in Buenos Aires und in geringerem Maße auch in Rosario und Santa Fe sehr aktiv. Der international bekannteste Regisseur war um die Jahrtausendwende wohl Berlinale-Gewinner Pino Solanas mit seinen sozialkritischen Filmen wie Sur, El viaje (Die Reise), Tangos – el exilio de Gardel sowie den Dokumentationen Memoria del Saqueo und La Dignidad de los Nadies, die den Zustand von Politik und Gesellschaft des Argentinien zu jener Zeit beschreiben. 2010 gewann der argentinische Film El secreto de sus ojos (In ihren Augen) neben anderen Auszeichnungen den Oscar für den besten nicht-englischsprachigen Film. Drehbuch und Regie stammen von Juan José Campanella. === Sport === Argentinien gilt als „das wohl leidenschaftlichste Fußball­land der Welt“. Bereits 1893 wurde der argentinische Fußballverband AFA gegründet, dieser gehört somit zu den ältesten nationalen Fußballverbänden der Erde. Das erste Länderspiel der argentinischen Nationalmannschaft wurde 1902 gegen Uruguay ausgetragen. Seither hat die Nationalmannschaft 15 Mal die südamerikanische Fußballmeisterschaft, die Copa América, und dreimal die Fußball-Weltmeisterschaft gewonnen (1978, 1986, 2022). 1978 wurde das Weltmeisterschaftsturnier in Argentinien ausgerichtet. Die beiden bekanntesten Fußballclubs sind River Plate und Boca Juniors, beide aus Buenos Aires. Die Spiele zwischen diesen beiden Mannschaften werden Superclásico genannt und das öffentliche Leben steht dabei praktisch still. Bei Boca Juniors hat der bekannte argentinische Fußballspieler Diego Maradona gespielt, der oft als einer der besten oder sogar als bester Fußballspieler des 20. Jahrhunderts bezeichnet wird und von 2008 bis 2010 auch die argentinische Nationalmannschaft trainiert hat. Seit den 2000er Jahren gilt der siebenmalige Weltfußballer Lionel Messi bzgl. seines Talents als sein Nachfolger – durch die von ihm angeführten Siege der Copa América 2021 und der WM 2022 besitzt er mittlerweile ähnlichen Legendenstatus.Argentinien gewann als erstes Team die Basketball-Weltmeisterschaft im Jahre 1950. Außerdem konnte die Mannschaft aus Südamerika auch die Goldmedaille bei den Olympischen Sommerspielen 2004 gewinnen. Dieser 28. August war damit der erfolgreichste Tag Argentiniens in der Geschichte der Olympischen Spiele, denn am gleichen Tag gewann die argentinische Fußballmannschaft ebenfalls die Goldmedaille. Seit den Olympischen Spielen 1952 in Helsinki waren dies die ersten Goldmedaillen für Argentinien. In Südamerika ist die argentinische Nationalmannschaft sehr dominant. Sie konnte bisher 13-mal die Kontinentalmeisterschaften für sich entscheiden (1934, 1935, 1941, 1942, 1943, 1966, 1976, 1979, 1987, 2001, 2004, 2008 und 2012). Zusätzlich gewannen die Argentinier die Amerikameisterschaften 2001, 2011 und 2022. Ein weiterer beliebter Sport in Argentinien ist Rugby in der Variante Rugby Union. Die argentinische Rugby-Nationalmannschaft, die „Pumas“, spielt mittlerweile auf höchstem internationalen Niveau und vollzog ab der WM 1999 eine große Entwicklung nach vorn. Bei der Weltmeisterschaft 2007 in Frankreich belegte sie den dritten Platz und schlug dabei Größen wie Frankreich und Schottland. Im Jahr 2015 wurden die Pumas Weltmeisterschafts-Vierte. Auch Basketball (bei Männern) und Hockey (vor allem bei Frauen) sind weit verbreitet, bei beiden Sportarten gehören die Nationalmannschaften mit zur Weltspitze. Neben Fußball und anderen Ballsportarten genießt der Pferdesport, insbesondere das Polo ein großes Interesse in Argentinien. Die argentinische Polo-Nationalmannschaft gehört zu den besten der Welt und konnte bisher viermal den Sieg bei der Poloweltmeisterschaft erringen: 1987, 1992, 1998, 2011 und 2017. Im Gegensatz zu Polo, das eher von Mitgliedern der argentinischen Oberschicht gespielt wird, ist Pato, der offizielle argentinische Nationalsport, ein Spiel der einfachen Landbevölkerung, eine Art Basketball auf Pferden. Im Gegensatz zu den Mannschaftssportarten sind die argentinischen Erfolge in Individualsportarten geringer. Ausnahme ist Tennis, bei dem mehrere Spieler bisher zur Weltspitze gehörten. Bekannt sind vor allem Guillermo Vilas, Juan Martín del Potro, Gastón Gaudio, David Nalbandian und früher bei den Damen Gabriela Sabatini. Von weiten Teilen der Bevölkerung werden auch Squash und Paddle-Tennis gespielt. Auch im Schwimmsport gab es einige Vertreter in der Weltspitze, in der Leichtathletik dagegen wurden von wenigen Ausnahmen abgesehen nur auf südamerikanischer Ebene Erfolge erzielt. Im Kampfsport ist die beliebteste Disziplin Boxen, das trotz der relativ geringen internationalen Bekanntheit argentinischer Boxer ein reges Medieninteresse, auch bei den Frauen, hervorruft. Im Motorsport ist wegen der landschaftlichen Bedingungen besonders die Rallye beliebt. Die Rallye Argentinien gehört seit 1980 fast ununterbrochen zur Rallye-Weltmeisterschaft. Seit 2009 findet die Rallye Dakar aus Sicherheitsgründen in Südamerika statt, was allerdings aus kulturellen und ökologischen Gründen umstritten ist. Start- und Zielort ist Buenos Aires. Der populärste Motorsportler ist jedoch der ehemalige Formel-1-Fahrer Juan Manuel Fangio, mit insgesamt fünf Titeln vor Michael Schumacher lange Zeit Rekordweltmeister dieser Disziplin. Weitere erfolgreiche Formel-1-Fahrer waren José Froilán González und Carlos Reutemann. Die Bedeutung von Argentinien in der Formel 1 hat allerdings stark nachgelassen – der jeweils auf dem Autódromo Juan y Oscar Alfredo Gálvez in Buenos Aires abgehaltene Große Preis von Argentinien fand letztmals 1998 statt; mit Gastón Mazzacane trat letztmals 2001 ein Argentinier in dieser Rennsportklasse an. Im November 2012 fanden in Bahía Blanca im Rahmen der Speedway-Junioren-U-21-Weltmeisterschaft zwei Finalläufe statt. Zudem gab es von 2015 bis 2017 drei Auflagen des Buenos Aires E-Prix im Rahmen der FIA-Formel-E-Meisterschaft. Special Olympics Argentinien wurde 1996 gegründet. Der Verband hat seine Teilnahme an den Special Olympics World Summer Games 2023 in Berlin angekündigt. Die Delegation wird vor den Spielen im Rahmen des Host Town Programs von Fulda betreut.Siehe auch: Fußball in Argentinien Copa América Polo in Argentinien Argentinien bei den Olympischen Spielen === Feiertage === 1. Januar: Neujahr (Año nuevo) 24. März: Gedenktag an den Militärputsch 1976 Gründonnerstag, Karfreitag (Viernes Santo) und Ostern (Pascuas) 2. April: Tag der Islas Malvinas (Día del Veterano y de los Caídos en la Guerra de Malvinas) 1. Mai: Tag der Arbeit (Día del Trabajador) 25. Mai: Erklärung der Unabhängigkeit von Spanien am 25. Mai 1810 (Primer Gobierno Patrio) 20. Juni: Tag der Nationalflagge (Día de la Bandera, offiziell: Paso a la Inmortalidad del General Manuel Belgrano) 9. Juli: Anerkennung der Unabhängigkeit durch Spanien am 9. Juli 1816 (Día de la Independencia) 17. August: Gedenktag zu Ehren des Generals José de San Martín (Paso a la Inmortalidad del General José de San Martín) 12. Oktober: Tag der Entdeckung Amerikas durch Christoph Kolumbus (Día de la Raza), siehe auch Kolumbus-Tag 8. Dezember: Mariä Empfängnis (Inmaculada Concepción de María) 25. Dezember: Weihnachten (Navidad), teilweise ist auch der Heilige Abend arbeitsfrei 31. Dezember: Silvester ist teilweise arbeitsfreiSollte ein Feiertag auf einen Samstag oder Sonntag fallen, so ist der darauf folgende Montag meist arbeitsfrei. Diese Regelung gilt nicht für Neujahr, Ostern und Weihnachten, den Tag der Arbeit sowie den 24. März, 25. Mai und den 9. Juli. Zusätzliche Feiertage, die für Angehörige der jüdischen Gemeinde arbeitsfrei sind (Daten sind variabel und richten sich nach dem jüdischen Kalender): zwei Tage zwischen dem 6. September und dem 5. Oktober: jüdisches Neujahrsfest (Rosch ha-Schana; Año Nuevo) einen Tag zwischen dem 15. September und dem 14. Oktober: Versöhnungstag (Jom Kippur; Gran Día del Perdón)Zusätzliche Feiertage, die für die Angehörigen der muslimischen Gemeinde arbeitsfrei sind (Daten sind variabel und richten sich nach dem islamischen Kalender): Opferfest (Eid ul-Adha; Fiesta del Sacrificio) Islamisches Neujahrsfest (Ra's as-sana; Año Nuevo Islámico) Fastenbrechen am Ende des Ramadan (Eid al-fitr; Culminación del Ayuno) === Essen === Typisch für die argentinische Esskultur ist das Rindfleisch, traditionell als Asado oder Parrillada auf einem Holz- oder Holzkohlegrill zubereitet. Des Weiteren sind der Locro, ein Maiseintopf mit zahlreichen Zutaten, und die Empanadas, gefüllte Teigtaschen, verbreitete argentinische Gerichte. Bei den Getränken ist der Mate besonders charakteristisch, der auch in den Nachbarländern Uruguay, Paraguay, Chile sowie im Süden Brasiliens getrunken wird. Er ist ein teeartiger Aufguss aus den getrockneten und zerkleinerten Blättern des Mate-Strauchs (Yerba Mate), einer Pflanzenart aus der Gattung der Stechpalmen. Man trinkt ihn durch einen metallenen Trinkhalm, Bombilla genannt, und zumeist in geselliger Runde und bei jeder Gelegenheit. Dabei ist es üblich, dass nur ein (ebenfalls Mate genanntes) Trinkgefäß aus Holz oder Kürbis jeweils mit heißem, aber nicht kochenden Wasser neu aufgegossen und weitergereicht wird. Oft trinkt man den Mate-Tee auch als kalte Variante, die Tereré genannt wird. Argentinien besitzt außerdem mehrere große Weinanbaugebiete. === Homosexualität === Homosexualität ist in Argentinien mittlerweile weitgehend gesellschaftlich akzeptiert. Im Jahre 2010 wurde die Ehe für homosexuelle Paare erlaubt; in der autonomen Stadt Buenos Aires und der Provinz Río Negro konnten gleichgeschlechtliche Paare bereits seit 2003 eine eingetragene Partnerschaft eingehen. Es bestehen jedoch auf Bundesebene noch keine Antidiskriminierungsgesetze zum Schutz der sexuellen Orientierung. === Dritte Geschlechtsoption === Seit 2012 ist das Gesetz zur Geschlechtsidentität in Kraft, das eine Änderung des Geschlechtseintrags ohne psychiatrische Begutachtung oder geschlechtsangleichende Operation erlaubt. Im Juli 2021 ist Argentinien das erste Land in Lateinamerika, das in Ausweisdokumenten eine Kennzeichnung für nichtbinäre Menschen einführt: Personalausweise und Reisepässe können als Geschlecht ein „X“ enthalten. == Medien == === Fernsehen === Argentinien hat einen staatlichen Fernsehsender, Canal 7. Daneben gibt es eine Vielzahl von lokalen und nationalen, privaten Fernsehsendern, die über Antenne und Kabel zu empfangen sind. Des Weiteren gibt es eine große Anzahl von Sendern, die nur über Kabel und Satellit verbreitet werden. Die bekanntesten Sender sind die per Antenne zu empfangenen Telefe, Canal 9, América TV und Canal 13, die in vielen Regionen auch lokale Programme ausstrahlen. Einige argentinische Fernsehserien (darunter viele Telenovelas, Familienserien, aber auch wöchentliche Produktionen wie etwa Los Simuladores (2002-2003)) sind wegen ihrer niedrigen Produktionskosten und der hohen Qualität zu einem Exportschlager vor allem nach Osteuropa geworden. Mit dem Ziel einer stärkeren Integration Lateinamerikas ist Argentinien zusammen mit Uruguay, Kolumbien, Venezuela und Kuba an dem Satellitensender telesur beteiligt, der im Juli 2005 seinen Sendebetrieb aufgenommen hat. === Hörfunk === Radio ist ein sehr beliebtes Medium in Argentinien. Es gibt eine Fülle von staatlichen und privaten Radiosendern. Von den privaten Radiosendern sind viele in Cadenas, Radio-Ketten zusammengeschlossen und so kann man viele Sender aus Buenos Aires im ganzen Land empfangen. Der staatliche Auslands-Rundfunksender Radiodifusión Argentina al Exterior (RAE) existiert seit 1949. Die Sendungen werden in Deutsch, Englisch, Französisch und Spanisch auf den Frequenzen 6060, 11.710 und 15.345 kHz ausgestrahlt. Radio 360 in Euskirchen verbreitet die deutschsprachigen Sendungen auch als Podcast. Empfangsberichte werden von RAE mit QSL-Karten bestätigt, wenn Rückporto in Form von Internationalen Antwortscheinen beigefügt wird. === Printmedien === Es werden in Argentinien über 200 Tageszeitungen publiziert. Die auflagenstärksten erscheinen in Buenos Aires, zu nennen sind hier Clarín, La Nación sowie die Boulevardzeitungen Diario Popular, La Razón, Perfil, Crónica, Tiempo Argentino, Ámbito Financiero und Buenos Aires Herald. Eine linksalternative Zeitung aus Buenos Aires ist Página/12 mit detailliertem Kulturteil. Auflagenstarke Zeitungen aus anderen Städten sind La Capital (Rosario), die älteste heute noch erscheinende Zeitung des Landes, sowie La Voz del Interior (Córdoba) mit der höchsten Auflage im Landesinneren und La Gaceta (Tucumán). Erwähnenswert ist weiterhin El Tribuno, die in drei verschiedenen Ausgaben in den Provinzen Salta, Tucumán und Jujuy herausgegeben wird. In jüngerer Zeit haben eine Reihe von Zeitungen in den Großstädten Bedeutung erlangt, die vor allem in Bussen und Bahnen kostenlos verteilt werden (zum Beispiel La Razón und El Diario del Bolsillo). In Argentinien gibt es zudem eine große Anzahl von Zeitschriften und Wochenblättern. Die bekanntesten Nachrichtenmagazine sind Noticias und Veintitrés, auflagenstarke Magazine des Boulevardjournalismus sind Gente und Paparazzi. Des Weiteren erscheinen zahlreiche lokale Ausgaben internationaler Zeitschriften. === Deutschsprachige Medien === In Buenos Aires wird seit 1878 das Argentinische Tageblatt herausgegeben. Es erschien zwischen 1889 und 1981 täglich, wurde dann jedoch aus ökonomischen Gründen in eine Wochenzeitung umgewandelt. Zwischen 1880 und 1945 erschien zusätzlich die Deutsche La Plata Zeitung. Im Hörfunk gibt es beispielsweise im Programm des Senders Radio Popular eine Sendung mit dem Namen „Treffpunkt Deutschland“, die sonntags von 10 bis 14 Uhr über Mittelwelle 660 kHz sowie via Internet übertragen wird. Auf Kurzwelle 15.345 kHz sendet montags bis freitags der Radiosender Radiodifusión Argentina al Exterior ein einstündiges Programm in deutscher Sprache, das ebenfalls im Internet gehört werden kann. === Pressefreiheit === Die Nichtregierungsorganisation Reporter ohne Grenzen hält Argentiniens Medienlandschaft für vielfältig, aber politisch polarisiert. Sie sieht erkennbare Probleme für die Pressefreiheit. == Siehe auch == Agrarstrukturen in Lateinamerika Tourismus in Argentinien == Literatur == Klaus Bodemer, Andrea Pagni, Peter Waldmann (Hrsg.): Argentinien heute. Politik. Wirtschaft. Kultur. 2., vollst. neu bearb. Aufl., Vervuert. Frankfurt 2010, ISBN 978-3-86527-594-3. Tobias Boos: Populismus und Mittelklasse. Die Kirchner-Regierungen zwischen 2003 und 2015 in Argentinien. transcript-Verlag, Bielefeld 2021, ISBN 978-3-8376-5782-1, 321 Seiten (OA, zum Herunterladen transcript-verlag.de) Christoph Jost: Argentinien: Umfang und Ursachen der Staatsverschuldung und Probleme der Umschuldung in: Auslandsinformationen 11, Konrad-Adenauer-Stiftung, Sankt Augustin 2003, ISSN 0177-7521 (zum Herunterladen: (PDF; 258 kB) (Memento vom 22. Oktober 2012 im Internet Archive)) Barbara Potthast: Eine kleine Geschichte Argentiniens. Suhrkamp, Berlin 2010, ISBN 978-3-518-46147-1 Michael Riekenberg: Kleine Geschichte Argentiniens. C.H. Beck, München 2006, ISBN 978-3-406-58516-6. Peter Waldmann: Argentinien. Schwellenland auf Dauer. Murmann, Hamburg 2010, ISBN 978-3-86774-106-4. Deutschsprachiges Exil in Argentinien. Themenhefte von Zwischenwelt. Literatur, Widerstand, Exil, Zeitschrift der Theodor Kramer Gesellschaft, Wien 2011/2012, Nr. 3 und 4 ISSN 1606-4321 == Weblinks == CIA World Factbook: Argentinien (englisch) Website der argentinischen Botschaft in Deutschland (deutsch, spanisch) Länderinformationen zu Argentinien vom Auswärtigen Amt (Deutschland) und vom Bundesministerium für europäische und internationale Angelegenheiten (Österreich) Länderprofil zu Argentinien. Statistisches Bundesamt, 17. Dezember 2020, abgerufen am 24. Januar 2021. Tobias Aufmkolk: Planet Wissen: Argentinien. Westdeutscher Rundfunk Köln, 18. März 2020, abgerufen am 24. Januar 2021. Argentinien: Länderprofile Migration: Daten - Geschichte - Politik. Bundeszentrale für politische Bildung, 27. März 2015, abgerufen am 3. April 2022. Datenbank inhaltlich erschlossener Literatur zur gesellschaftlichen, politischen und wirtschaftlichen Situation in Argentinien == Einzelnachweise ==
https://de.wikipedia.org/wiki/Argentinien
Südafrika
= Südafrika = Die Republik Südafrika (RSA) ist ein Staat im südlichen Afrika. Er ist der am weitesten entwickelte Wirtschaftsraum des afrikanischen Kontinents. Es gibt drei Hauptstädte: Die Regierung sitzt in Pretoria, das Parlament in Kapstadt und das Oberste Berufungsgericht in Bloemfontein. Die nach Einwohnern größten Metropolen sind Johannesburg (als Metropolgemeinde) und Kapstadt (als Metropolgemeinde). Englisch ist die Verkehrssprache des Landes, daneben sind Afrikaans und neun Bantu-Sprachen offizielle Sprachen. Die Universität Kapstadt gilt laut THE-Report als beste Universität Afrikas, die Technische Universität Tshwane in Pretoria ist eine der größten Universitäten des Kontinents. Südafrika gehört als einziges afrikanisches Land zu den G20-Wirtschaftsmächten und wird zu den fünf BRICS-Staaten gezählt. Der Sitz des Parlaments der Afrikanischen Union befindet sich in Johannesburg-Midrand. Südafrika ist eines der Gründungsmitglieder der Vereinten Nationen. Zudem ist es Mitglied der Commonwealth of Nations. == Überblick == Die Republik Südafrika ist ein kulturell diverses Land, in dem Menschen mehrerer Ethnien leben und das aufgrund dieser Vielfalt oft als „Regenbogennation“ bezeichnet wird. Da die verschiedenen Bevölkerungsgruppen nicht immer konfliktfrei nebeneinander lebten und leben, belasteten im Verlauf der Geschichte vielschichtige Probleme und Unruhen das Verhältnis beispielsweise zwischen der nichteuropäischen Mehrheitsbevölkerung und den europäischstämmigen („weißen“) Einwanderern sowie ihren im Lande geborenen Nachfahren, aber auch zwischen verschiedenen Nationalitäten innerhalb dieser während der Apartheid definierten Gruppen mit gravierenden Auswirkungen auf die Geschichte und Politik des Landes. Die Khoisan-Urbevölkerung, die in Überresten vereinzelt noch als Wildbeuter lebt, ist heute weitgehend marginalisiert. Die Nasionale Party, Partei der Afrikaans sprechenden Europäischstämmigen – meist niederländischer, teils aber auch deutscher oder französischer Abstammung – gestaltete infolge ihres Wahlsieges im Jahre 1948 alle Bereiche der südafrikanischen Gesellschaft nach dem von ihr vertretenen programmatischen Grundsatz der „getrennten Entwicklung“ um. Diese Entwicklung hatte jedoch bereits zuvor unter den sowohl britisch als auch burisch orientierten Staatsregierungen ihren Anfang genommen und war bis kurz nach der Wahl des gemäßigten und zur Verständigung bereiten Präsidenten Frederik Willem de Klerk offiziell erklärte Staatspolitik. Die Wende in der Politik begann 1990. Sie war eine Folge des jahrelangen Kampfes der benachteiligten Bevölkerungsmehrheit unter politischen Führern wie Nelson Mandela und verlief weitgehend friedlich. Die Parlamentswahlen von 1994 brachten erstmals ein gleiches Wahlrecht für alle Bürger und veränderten das politische Leben im Land grundlegend. Der Staat ist eines der wenigen Länder in Afrika, in denen nichteuropäischen Amtssprachen derart großer Freiraum beigemessen wird und bisher kein Staatsstreich stattgefunden hat. Freie und geheime Wahlen, allerdings nur unter Bevorzugung der weißen Bevölkerung, wurden seit dem 19. Jahrhundert abgehalten. Die Wirtschaft des Landes ist die weitestentwickelte auf dem gesamten afrikanischen Kontinent. == Geografie == === Lage === Im Süden und Südosten grenzt Südafrika an den Indischen Ozean, im Westen an den Atlantischen Ozean. Im Norden liegen die Nachbarstaaten Namibia, Botswana und Simbabwe, nordöstlich Mosambik und im Osten Eswatini. Das Königreich Lesotho wird als Enklave von Südafrika umschlossen.Das Land liegt am südlichsten Rand des afrikanischen Kontinents zwischen 22 und 35 Grad südlicher Breite sowie zwischen 17 und 33 Grad östlicher Länge (ohne Berücksichtigung der Prinz-Edward-Inseln). Es hat eine über 2500 km lange Küstenlinie an zwei Ozeanen (am Atlantischen und am Indischen Ozean). Südafrika hat eine Fläche von 1.219.912 km²; das entspricht ungefähr dem 3,4-fachen der Fläche Deutschlands. Das Zentralplateau, auch Highveld genannt, liegt 900 Meter bis 2000 Meter über dem Meeresspiegel. Der zur Küste abfallende Landgürtel ist 20 bis 250 km breit und wird Great Escarpment (Groot Randkant, Große Randstufe) genannt. Weite Teile des Landes sind geomorphologisch und petrografisch von den Sedimenten des Karoo-Hauptbeckens bestimmt. Im Norden treten besonders im Bushveld-Komplex magmatische Gesteine und bei Barberton sehr alte Metamorphite (Grünsteinfazies, Serpentinite) zu Tage. === Landschaften === Die Drakensberge durchziehen das Land vom Nordosten bis in die Enklave Lesotho im Südosten, wo sie mit dem Thabana Ntlenyana ihren höchsten Punkt (3482 m) erreichen. Höchster Berg Südafrikas ist der Mafadi mit 3450 m. Nordwestlich von Bloemfontein erstreckt sich die Kalahari-Wüste durch Botswana bis nach Namibia hinein. Am Kap Agulhas, der Südspitze des Kontinents, treffen sich Atlantik und Indischer Ozean, westlich davon liegt das Kap der Guten Hoffnung (Cape of Good Hope oder Kaap van die Goeie Hoop). Die meisten Flüsse entspringen in den Drakensbergen und fließen nach Osten in Richtung Indischer Ozean. Der mit 2160 km längste Fluss, der Oranje, entspringt ebenfalls in den Drakensbergen, fließt jedoch nach Westen und mündet in den Atlantischen Ozean. Die Augrabiesfälle am Oranje nahe Upington haben eine Breite von rund 150 m und sind etwa 56 m hoch. Weitere wichtige Flüsse sind der Limpopo, der als Grenzfluss zu Botswana, Simbabwe und Mosambik in Nordostrichtung nach rund 1750 km in den Indischen Ozean mündet, und der Vaal (1251 km), ein Nebenfluss des Oranje. Die Wasserstände dieser Flüsse schwanken sehr stark. Zu Südafrika gehören die Prinz-Edward-Inseln im südlichen Indischen Ozean. Seine territorialen Ansprüche in der Antarktis und auf die Walfischbucht in Namibia gab Südafrika 1994 auf. === Klima und Vegetationszonen === Südafrika hat eine große Differenzierung an klimatisch-orographischen Großeinheiten und Vegetationszonen. Sie reichen von extremer Wüste in der Kalahari an der Grenze zu Namibia bis zu subtropischen Lorbeerwäldern im Südosten und an der Grenze zu Mosambik. An der westlichen Küstenzone herrscht ein arides bis stark maritim geprägtes Klima vor. An der Südküste ist das Klima semiarid bis semihumid, was auf das Aufeinandertreffen des kalten Benguelastroms und des warmen Agulhasstroms am Kap der Guten Hoffnung zurückzuführen ist. Das Klima im Landesinneren ist voll- bis semiarid, jedoch nach Osten humider werdend, sodass das Highveld-Plateau zum Teil bereits zum immerfeuchten Ostseitenklima gerechnet werden kann. Dort gedeiht heute anthropogen entstandenes subtropisches Grasland im Osten sowie Halbwüste im Westen, die im Norden in verschiedene Savannengebiete übergeht. In Hochlagen über 1800 m NN findet sich Hochlandsteppe. Die Ostküste ist schließlich durch ein semihumides und ausgesprochen maritimes Klima gekennzeichnet. Die Region um Kapstadt weist ein mediterranes Klima auf. Schnee im Winter gibt es nur in den höheren Gebirgen.Durch seine Größe und mehrere andere Faktoren (Meeresströme, Höhenlage) bedingt, variiert das Klima zwischen den verschiedenen Teilen des Landes. Grundlegend für die Klimaverteilung sind dabei mehrere Faktoren: An der Ostküste fließt der aus dem Indischen Ozean kommende warme Agulhasstrom, der warme und wasserreiche Luft aufsteigen lässt. Diese Wolken entstehen durch komplexe Konvektionsströmungen zwischen Hoch- und Tiefdruckgebieten und regnen sich im Bereich der Ostküste Südafrikas aus. In Richtung des Landesinnern nehmen die Niederschlagsmengen jedoch schnell ab. An der Westküste hingegen fließt der kalte, aus antarktischen Gewässern gespeiste Benguelastrom. Zusammen mit den wechselnden Luftdruckverhältnissen führt er an der Westküste zur Wüstenbildung, da den Küstengebieten die Feuchtigkeit entzogen wird.Die Lage Südafrikas auf der Südhalbkugel führt dazu, dass die Jahreszeiten denen auf der Nordhalbkugel entgegengesetzt sind. Im Winter, zwischen Juni und August, kann in den Drakensbergen, auf dem Highveld und in Johannesburg (1753 m) und Umgebung Schnee liegen, nachts gehen die Temperaturen stark zurück. Tagsüber steigen die Temperaturen auf etwa 23 °C, im Sommer auf 30 °C. Im Boland, der Region um Kapstadt (15 m), herrscht im Winter kühles Klima mit Nieselregen. Von November bis März ist es dort warm bis heiß und trocken. In den Küstengebieten KwaZulu-Natals, unter anderem in Durban (5 m) und entlang der Ostküste, ist die Luftfeuchtigkeit hoch, meist weht jedoch ein kühlender Wind vom Meer. Die Temperaturen liegen hier ganzjährig etwa zwischen 25 und 35 °C. Das Plateau im Osten des Landes ist durch warme, selten unangenehm hohe Temperaturen gekennzeichnet. In der Karoo-Halbwüste und dem Namaqualand kommt es dagegen zu extrem hohen Temperaturen. Hier liegen die jährlichen Niederschlagsmengen unter 200 mm. Die wenigen Winterregenfälle treten sehr unregelmäßig auf.Am Westkap weht eine ständige, frische Brise. Die Sommer sind warm und selbst die Winter mild. Die Südküste ist durch ein gemäßigtes Klima charakterisiert. Es überwiegt eine Trockenvegetation mit ausgedehnten Savannengebieten, die im Westen in die Kalahariwüste und das Namaqualand sowie im Südwesten in die Karoo übergehen. Geschlossene Waldbestände finden sich nur im regenstarken Osten und Südosten. Es sind nur kleinere zusammenhängende Flächen vorhanden, die sich entlang der Großen Randstufen erstrecken, beispielsweise in den Amathole-Bergen und den Drakensbergen Natals sowie im Küstenbereich des Ostkaps in der Umgebung von Knysna. Die Sommerregen können in sich katastrophal auswirkenden Mengen niedergehen, wobei es zu erheblichen Bodenerosionen kommt. Das südliche Afrika liegt in einer überwiegend semi-ariden und ariden Zone, die damit sehr anfällig für Klimaveränderungen ist. Die Folgen durch den Klimawandel sind eine zunehmende Hitze, längere Dürreperioden und geringere Niederschläge. Im Binnenland Südafrikas ist die Temperatur binnen 100 Jahren um etwa zwei Grad Celsius angestiegen. Zudem wird befürchtet, dass die Ausbreitung von Malaria und Bilharziose dadurch in einigen Landesteilen begünstigt werden könnte.Die National Water Resource Strategy von 2013 verdeutlicht die Schwerpunktsetzung der südafrikanischen Regierungspolitik in Hinsicht auf die Folgen der klimatischen Veränderungen im südlichen Afrika. Die landseitigen Auswirkungen werden besonders durch Veränderungen der Bodenfeuchtigkeit und der Abflussmengen in den Gewässern sowie bei den Folgen zunehmender Verdunstung und wechselnden Temperaturen in aquatischen Systemen wahrgenommen. === Natur === ==== Artenvielfalt und Biodiversität ==== Südafrika gehört zu den Megadiversitätsländern dieser Erde, in denen neben einer sehr großen Artenvielfalt und Biodiversität ausgesprochen viele endemische Arten, Gattungen und Familien von Pflanzen und Tieren vorkommen und überdies vielfältige Ökosysteme vorhanden sind. So sind dort unter anderem mehr als 20.000 verschiedene Pflanzen beheimatet. In der Fynbos-Region, einem Landstrich in der Provinz Westkap, finden sich mehr als 9000 Arten, die das Gebiet zu einem der ökologisch vielfältigsten Flecken der Erde machen. Aus diesem Grund wird diese Region von Botanikern unter dem Namen Capensis als eines der sechs Florenreiche der Erde angesehen. Sie ist mit Abstand das kleinste dieser Pflanzenreiche. Aufgrund ihrer großen Gefährdungslage ist die Kapflora ein Hotspot der Biodiversität der Erde. ==== Flora ==== Die Mehrzahl der Pflanzen in Südafrika sind immergrüne Hartlaubgewächse mit feinen, nadelförmigen Blättern. Weitere typische Pflanzen sind die Zuckerbüsche (Gattung Protea), die zu den Blütenpflanzen gehören und von denen es etwa 130 verschiedene Arten im Land gibt. Während es in Südafrika eine große Vielzahl an Blütenpflanzen gibt, sind Wälder sehr selten. Nur etwa ein Prozent der Gesamtfläche ist Waldgebiet, das sich fast ausschließlich in der humiden Küstenebene entlang des Indischen Ozeans in KwaZulu-Natal befindet. Heute bestehen die Wälder überwiegend aus importierten Baumarten, wie zum Beispiel Eukalyptus und Kiefer. Der ursprünglich vorhandene Wald, der von den europäischen Siedlern bei ihrer Ankunft vorgefunden wurde, wurde weitgehend abgeholzt; gleichzeitig wurde rund um Johannesburg ein Grüngürtel aus eingeführten Baumarten gepflanzt. Reste der endemischen Waldbestände davon befinden sich beispielsweise im Auckland Nature Reserve bei Hogsback. Eine Reihe der eingeführten Baumarten hat sich in Südafrika als problematisch erwiesen. Sie verändern den Wasserhaushalt negativ, führen zu intensiveren Buschbränden und mehr Bodenerosion und verdrängen einheimische Arten. Mit Programmen wie Working for Water werden daher bestimmte Arten gezielt entfernt.Zu Beginn des 21. Jahrhunderts wurden südafrikanische Hartholzbäume wie die Breitblättrige Steineibe, der Stinkwood (Ocotea bullata) und der Black Ironwood (Olea capensis) von der Regierung unter Naturschutz gestellt. Damit soll auch der Fortbestand des Kappapageis gesichert werden. Diese Langflügelpapageienart gilt als der seltenste afrikanische Großpapagei und kommt nur noch in den stark fragmentierten Steineibenwäldern Südafrikas vor. Im sehr heißen und trockenen Namaqualand nahe der Westküste gibt es verschiedene Arten von wasserspeichernden Sukkulenten wie Aloe und Euphorbia. Die vorherrschende Vegetation im Landesinneren ist das Grasland, das besonders auf dem Highveld zu finden ist. Hier dominieren verschiedene Gräser, niedrige Sträucher und Akazien. Die Vegetation wird in Richtung Nordwesten spärlicher, was an den geringen Niederschlagsmengen liegt. Die Gras- und Dornsavanne östlich der Kalahari-Wüste wandelt sich im Verlauf nach Nordosten hin zu einer Feuchtsavanne mit dichterem Bewuchs. In der Gegend um das nördliche Ende des Kruger-Nationalparks gibt es besonders viele Affenbrotbäume. ==== Fauna ==== Die artenreiche Tierwelt kann in Hunderten kleiner Wildschutzgebieten und den großen Nationalparks beobachtet werden, von denen der Kruger-Nationalpark der größte ist. In Südafrika sind mehr als 300 Säugetierarten, mehr als 500 Vogelarten, mehr als 100 Reptilienarten sowie zahlreiche Insektenspezies zu Hause. Das Land ist Heimat sehr vieler Großtierarten, darunter die afrikanischen „Big Five“, die unter Jägern einst am meisten gefürchteten fünf Großwildarten: Löwe, Leopard, Büffel, Elefant und Nashorn. Dabei sind die Nashörner durch Breitmaulnashorn und Spitzmaulnashorn vertreten. Vor allem die Savannen im Norden werden von zahlreichen Antilopenarten wie Impala, Kudu, Nyala, Streifengnu oder Wasserbock besiedelt. Darüber hinaus kommen hier zahlreiche weitere Großtierarten vor, wie Giraffen, Flusspferde, Buschschweine, Warzenschweine, Steppenzebras, Geparde, Hyänen und Wildhunde. Neben dem Kruger-Nationalpark zählen der Hluhluwe-iMfolozi-Park und der Addo-Nationalpark zu den bekanntesten Nationalparks. In der Halbwüste des Südens, der sogenannten Karoo, kommen einige Arten vor, die in den Savannengebieten des Nordens fehlen. Dazu zählen Weißschwanzgnus, Blessböcke und Bergzebras. Einst gab es hier das mittlerweile ausgestorbene Quagga und den Blaubock. Die verbliebene typische Kapfauna lässt sich heute etwa im Bergzebra-Nationalpark finden. In den Halbwüstengebieten der Kalahari, die im Nordosten nach Südafrika hineinreicht, sind Spießböcke und Springböcke charakteristisch. Sie werden zusammen mit anderen Arten, wie Löwen und Geparden, etwa im Kalahari-Gemsbok-Nationalpark geschützt. Unter den Vögeln Südafrikas sind Strauße, Flamingos und zahlreiche Greifvögel zu nennen. Des Weiteren leben etwa 170.000 Brillenpinguine an den Küsten sowie auf den Inseln und stehen unter strengem Naturschutz. == Bevölkerung == === Demografie === Die Bevölkerung wuchs ab 1996 von 40,6 Millionen Einwohnern auf 51,7 Millionen (2011), auf 57,7 Millionen (2018) und schließlich auf 59,62 Millionen (Mitte 2020) an.Südafrika ist ein multiethnisches und multikulturelles Land, in dem immer noch die Folgen der Apartheid zu finden sind und die Bevölkerungsgruppen häufig in getrennten Wohnregionen leben. Die für die demographische Datenerfassung und deren Auswertung zuständige Behörde ist Statistics South Africa. Bis zum Jahr 1991 teilte die südafrikanische Verfassung die Bevölkerung in vier große demographische Gruppen: Schwarze, Weiße, Coloureds und Asiaten. Obwohl diese Einteilung im Gesetz heute nicht mehr vorgenommen wird, sehen sich viele Südafrikaner weiterhin als Zugehörige einer dieser Gruppen, und auch staatliche Statistiken benutzen diese Kategorisierung weiterhin. Die schwarzen Bevölkerungsgruppen stellen etwa 79,2 % der gesamten Bevölkerung Südafrikas und sind wiederum in unterschiedliche Volksgruppen unterteilbar. Die größten dieser Gruppen sind die Zulu, Xhosa, Basotho, Venda, Tswana, Tsonga, Swazi und Ndebele. Außerdem leben einige Millionen Flüchtlinge, vor allem aus Simbabwe, illegal in Südafrika.Der Anteil der europäischstämmigen Weißen an der Gesamtbevölkerung beträgt 8,9 %; hauptsächlich sind es Nachfahren niederländischer, deutscher, französischer und britischer Siedler, die hier ab Mitte des 17. Jahrhunderts einwanderten. Das Land hat damit die größte europäischstämmige Bevölkerung des Kontinents. Der relative Anteil der Weißen nimmt seit den 1990er-Jahren durch eine demographische Verschiebung im gesamten Bevölkerungswachstum Südafrikas kontinuierlich ab, die absolute Zahl hingegen stieg in den letzten Jahren wieder leicht an. Fast eine Million weiße Südafrikaner haben das Land verlassen. Die Intensität der Einwanderung aus schwarzafrikanischen Ländern nahm in der zweiten Dekade des 21. Jahrhunderts ab. 2011 wanderten nach Angaben von Statistics South Africa rund 2,189 Millionen Personen nach Südafrika ein, im Jahr 2016 waren es nur noch etwa 1,578 Millionen.Die Coloureds sind in Südafrika eine Bevölkerungsgruppe verschiedener ethnischer Abstammung, meist Nachkommen früher europäischer Einwanderer und deren Sklaven sowie Angehöriger von ursprünglich in der Kapregion lebenden indigenen Gruppen und zu einem kleineren Teil von Einwanderern aus Südostasien. Der Begriff Coloured gibt einen Hinweis auf die Bedeutung, die bereits der Kolonialismus und später die Apartheidspolitik dem äußeren Merkmal der Hautfarbe zuwiesen. Auch nach dem Ende der Apartheid wird er weiterhin verwendet und hat den Charakter einer neutralen Selbstbezeichnung angenommen. Etwa 8,9 % der Bevölkerung sind Coloureds.Die meisten in Südafrika lebenden Asiaten sind indischer Abstammung und Nachfahren von Einwanderern, die in der Mitte des 19. Jahrhunderts anfangs als Kontraktarbeiter in das Land kamen, um auf den Zuckerrohrfeldern Natals zu arbeiten, und zunehmend auch als Händler in den Städten lebten. Heute stellen die Asiaten 2,5 % der Gesamtbevölkerung und leben hauptsächlich in der Provinz KwaZulu-Natal, in Kapstadt und Johannesburg. Außerdem gibt es eine chinesische Gruppe von etwa 300.000 Mitgliedern (Stand 2008). 0,5 % der Bevölkerung zählen sich zu den „Sonstigen“.Im Jahre 2017 waren 7,1 % der Bevölkerung im Ausland geboren. Die größten Einwanderergruppen kamen aus Mosambik (680.000), Simbabwe (360.000) und Lesotho (310.000). Es wird vermutet, dass sich dazu Millionen unregistrierter Einwanderer im Land aufhalten, die vor allem aus Simbabwe stammen. In letzter Zeit erlebte das Land eine zunehmende Emigration der weißen Bevölkerungsgruppe. Deren bevorzugten Ziele waren das Vereinigte Königreich, Australien, die Vereinigten Staaten, Neuseeland und Kanada.Im Jahr 2016 lebten etwa 65 % der Südafrikaner in Städten. 28,3 % der Einwohner sind unter 15 Jahre alt, 66,1 % zwischen 15 und 64 Jahre und 5,6 % älter als 65 Jahre. Das Bevölkerungswachstum betrug 2019 ungefähr 1,7 %, die Geburtenrate lag im selben Jahr bei 20,5 Geburten pro 1000 Einwohner, die Kindersterblichkeit bei 34,5 pro 1000 Lebendgeburten. Die Lebenserwartung betrug 2020 durchschnittlich 67,9 Jahre bei den Frauen und 60,9 Jahre bei den Männern, nachdem sie in den Jahren zuvor deutlich niedriger gelegen hatte. Das Steigen der Lebenserwartung lässt sich auf die verbesserte HIV/AIDS-Prävention und die intensive Versorgung Infizierter mit antiretroviralen Medikamenten zurückführen. Eine südafrikanische Frau hat im Schnitt 2,3 Kinder (Schätzung 2016). 94,3 % der über 15-jährigen Südafrikaner können lesen und schreiben (Schätzung 2015). === Religionen === === Sprachen === Südafrika hat seit dem Ende der Apartheid elf amtliche Landessprachen: Englisch, Afrikaans, isiZulu, Siswati, Süd-Ndebele, Sesotho, Nord-Sotho, Xitsonga, Setswana, Tshivenda und isiXhosa. Damit ist das Land nach Bolivien und Indien dasjenige mit den meisten offiziellen Sprachen der Welt. Entsprechend gibt es elf unterschiedliche offizielle Landesnamen. Etwa 0,7 % der Schwarzen und 59,1 % der Weißen sprechen Afrikaans als Muttersprache, die Muttersprache der Coloureds ist überwiegend Afrikaans. Englisch wird von 0,5 % aller Schwarzen und von 39,3 % der Weißen als Muttersprache gesprochen. Die anderen Sprachen werden von der schwarzen Bantu-Bevölkerung als Muttersprache gesprochen. Etwa 22,3 % sprechen isiXhosa, 30,1 % isiZulu, 11,9 % Sepedi, 10,0 % der Schwarzen lernen Sesotho als Muttersprache, 10,3 % Setswana, 3,4 % SiSwati, 2,9 % Tshivenda, 5,6 % Xitsonga und 2,0 % Süd-Ndebele. Nur etwa 0,3 % der schwarzen Bevölkerung und 1,1 % der Weißen sprechen keine der elf offiziellen Landessprachen als Muttersprache. Neben den genannten Sprachen gibt es weitere, die überregional keinen offiziellen Status haben, wie Fanakalo, Lobedu, Nord-Ndebele, Phuthi, Khoe, Nama und San. Sie werden offiziell nur in den Gebieten verwendet, in denen ihre Sprecher hauptsächlich wohnen. Viele der nicht-offiziellen Landessprachen der San und Khoikhoi werden auch in den benachbarten nördlichen Ländern Namibia und Botswana gesprochen. Diese indigenen Völker, die sich von den anderen Afrikanern unterscheiden, haben ihre eigene kulturelle Identität, da sie von altersher Jäger und Sammler (iSan) bzw. nomadische Viehhirten (Khoikhoi) waren. Die Zahl der Angehörigen dieser Völker hat in den letzten Jahrhunderten rapide abgenommen, und ihre Sprachen sind vom Aussterben bedroht. Viele weiße Südafrikaner sprechen außer Afrikaans oder Englisch andere europäische Sprachen wie Portugiesisch, Deutsch oder Griechisch. Ferner werden in Südafrika indische Sprachen wie Gujarati und Tamil, vor allem von indischstämmigen Südafrikanern, gesprochen. Obwohl alle elf Amtssprachen laut Gesetz gleichberechtigt sind, hat sich das Englische als führende Verkehrssprache herausgebildet, da es über die unterschiedlichen Volksgruppen hinaus von den meisten Bewohnern Südafrikas verstanden und als von der Apartheidspolitik vergangener Zeiten weniger belastet angesehen wird. Der Einfluss des Afrikaans sank am Ende des 20. Jahrhunderts, da es für viele schwarze Südafrikaner mit der Erinnerung an das Apartheidsregime enger verknüpft ist. Allgemein ging in den vergangenen Jahren der Einfluss der Afrikaans sprechenden Weißen in der Gesellschaft durch politischen Machtverlust und demografischen und ökonomischen Wandel zurück – zugleich stärkte das Ende der Apartheid aber die gesellschaftliche Stellung der Coloureds, die überwiegend afrikaanssprachig sind. == Geschichte == === Vor der Ankunft europäischer Siedler === In Südafrika wurden einige der ältesten paläoanthropologischen Fossile der Welt ausgegraben. Überreste des Australopithecus africanus wurden bei Taung („Kind von Taung“) und in den Höhlen von Sterkfontein („Little Foot“), Kromdraai und Makapansgat gefunden, von denen die ältesten auf etwa 3,5 Millionen Jahre datiert werden. Nach diesen Vormenschen lebten hier verschiedene Arten der Gattung Homo wie Homo habilis, Homo naledi, Homo erectus und schließlich der moderne Mensch, Homo sapiens. Während der Wanderung der Bantu-Stämme überquerten die Bantu den Limpopo und ließen sich etwa 500 n. Chr. im heutigen Südafrika als Bauern und Hirten nieder. Sie gelangten im Verlauf ihrer Wanderung bis zum Fish River, der heute in der Provinz Ostkap liegt. Die seit etwa 20.000 Jahren in den Gebieten des heutigen Südafrika lebenden Jäger-und-Sammler-Völker der San und Khoikhoi wurden von den Bantu immer weiter zurückgedrängt. === Niederländische Kolonialzeit === Der Beginn der modernen Geschichtsschreibung in Südafrika wird auf den 6. April 1652 festgelegt, als der Niederländer Jan van Riebeeck im Auftrag der Niederländischen Ostindien-Kompanie (niederländisch Vereenigde Oostindische Compagnie, VOC) am Kap der Guten Hoffnung eine Versorgungsstation errichtete. Diese sollte aufgrund ihrer strategisch günstigen Lage Raststation für Handelsschiffe sein, die zwischen Europa und Südostasien unterwegs waren. Während des 17. und 18. Jahrhunderts war die Siedlung, die sich langsam, aber stetig vergrößerte, in niederländischem Besitz. Die Siedler breiteten sich zunächst in der westlichen Kapregion aus, die zu jener Zeit Rückzugsgebiet der Khoisan war. Einige Hundert französische Hugenotten kamen, nachdem sie ab 1686 in Frankreich verfolgt wurden, über die Niederlande ab 1688 ins Land und brachten die Weinbaukultur mit. Auf sie gehen die französischsprachigen Namen von Weingütern und Obstbaufarmen im westlichen Kapland zurück.Nachdem sie 1770 ostwärts die Siedlungsgrenze der Bantu erreicht hatten, führten sie eine Reihe von Kriegen – die Grenzkriege – gegen das Volk der Xhosa. Die Kapholländer holten zahlreiche Sklaven aus Indonesien, Madagaskar und Indien ins Land. Anfang des Jahres 1743 war die Zahl der Sklaven in der Provinz deutlich höher als die der europäischen Siedler. Die Nachfahren dieser Sklaven, die oft europäische Siedler heirateten, wurden später zusammen mit den San in die Bevölkerungsklasse der „Farbigen“ oder auch „Kap-Malaien“ eingestuft und stellen heute mit etwa 50 % die Mehrheit der Bevölkerung in der Provinz Westkap. === 19. Jahrhundert === Als die VOC schließlich dem Bankrott nahe war und der Einfluss der niederländischen Händler schwand, besetzten im Jahre 1797 Truppen des Königreichs Großbritannien die Region um das Kap der Guten Hoffnung. Die Niederlande wurden im Verlauf der Koalitionskriege von Napoleon Bonapartes Truppen besetzt und die 1795 gegründete Batavische Republik war nicht mehr mit den Briten verbündet. Die Kapregion wurde also vor dem Hintergrund besetzt, dass dieser für den Handel strategisch wichtige Standort nicht den Franzosen in die Hände fallen sollte. Die Briten mussten das Land nach dem Frieden von Amiens 1802 an die Niederlande zurückgeben, eroberten es im Jahr 1806 erneut und errichteten hier dauerhaft eine britische Kronkolonie, die Kapkolonie. Die Grenzkriege mit den Xhosa dauerten an und vergrößerten das Land immer weiter bis zum Ostufer des Great Fish River. Die Grenze der neuen Kronkolonie wurde von den Briten stark befestigt und das dahinter liegende Land rasch von Weißen besiedelt. Als im Jahr 1833 das britische Parlament die Abschaffung der Sklaverei in ihrem weltweiten Einflussgebiet verfügte, entzog das vielen Buren die Existenzgrundlage. Um sich dem Einflussbereich des britischen Rechts zu entziehen und die Ausbeutung der Nicht-Weißen fortführen zu können, wichen sie ins Hinterland aus. Im Großen Treck von 1835 bis 1841 wanderten rund 12.000 sogenannte Voortrekker in die Gebiete nördlich des Oranje-Flusses aus, wo sie zahlreiche Burenrepubliken gründeten – darunter die Südafrikanische Republik, auch Transvaal genannt, und den Oranje-Freistaat. Die Entdeckung von Diamanten im Jahr 1867 und Gold im Jahr 1886 führte zu starkem Wirtschaftswachstum und zur Einwanderung vieler Europäer, was Benachteiligung und Ausbeutung der ursprünglichen Bevölkerung vergrößerte. Die Buren wehrten sich während des sogenannten Ersten Burenkriegs (1880–1881) gegen britische Expansionsbestrebungen. Obwohl zahlenmäßig weit unterlegen, leisteten die Buren erfolgreich Widerstand, da sie sich strategisch besser an die örtlichen Gegebenheiten anpassten. So trugen beispielsweise die burischen Soldaten khakifarbene Uniformen, durch die sie besser getarnt waren, während die Briten durch ihre traditionellen Rotröcke zu einem leichten Ziel für burische Scharfschützen wurden. === 20. Jahrhundert === ==== Bis 1945 ==== In den Jahren 1899–1902 kehrten die Briten noch zahlreicher zurück und kämpften gegen die Buren im Zweiten Burenkrieg. Unter anderem zielte der Krieg auf die Kontrolle der reichen Goldvorkommen am Witwatersrand ab. Der burische Versuch, sich mit dem Deutschen Reich und der Kolonie Deutsch-Südwestafrika zu verbünden, war für die Briten ein zusätzlicher Grund, nun vollkommen die Kontrolle über die Burenrepubliken zu übernehmen. Die Buren leisteten diesmal vergeblich Widerstand, da die Briten zahlenmäßig überlegen waren und eine bessere Nachschubversorgung hatten. Im Frieden von Vereeniging wurden die beiden Burenrepubliken in das Britische Empire eingegliedert, ansonsten wurden den Buren aber großzügige Friedensbedingungen gewährt, wie beispielsweise die Anerkennung des Niederländischen als Amtssprache. Um die Buren weiterhin zu befrieden, stimmten die Briten in dem Vertrag aber auch diskriminierenden Regelungen zu, die die Bürgerrechte der nicht-weißen Einwohner Transvaals und des Oranje-Freistaats einschränkten. Nach vier Verhandlungsjahren wurde am 31. Mai 1910 aus den vier Kolonien Natal, Transvaal, Oranjefluss-Kolonie und Kapkolonie die Südafrikanische Union gegründet, auf den Tag genau acht Jahre nach dem Ende des Zweiten Burenkriegs. 1930 erhielten die weißen Frauen das Wahlrecht. 1934 vereinigten sich die britische South African Party (Südafrikanische Partei) und die rechtsgerichtete Nasionale Party der Buren zur United Party (Vereinigte Partei), mit der Absicht, Briten und Buren zu versöhnen. Diese Gemeinschaftspartei fiel 1939 wegen des Eintritts der Republik in den Zweiten Weltkrieg an der Seite Großbritanniens wieder auseinander. Nach der Kriegserklärung an Deutschland am 5. September 1939 kämpften über 330.000 Südafrikaner als Freiwillige in der südafrikanischen Armee in Ostafrika, in Nordafrika, in Italien sowie als Angehörige der britischen Luftwaffe und Marine im Zweiten Weltkrieg. Die Nasionale Party sympathisierte mit Hitler-Deutschland und strebte eine radikale Rassentrennung an. ==== Nach 1945, Apartheid ==== Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs konnte die weiße Bevölkerungsminderheit unter der politischen Führung der National Party ihre Macht festigen und die Apartheidsstrukturen autoritär ausbauen, indem sie eine zunehmende Zahl von Gesetzen durch das Parlament verabschieden ließ, die das Land und das alltägliche Leben konsequent und systematisch in ein Zweiklassenrecht zergliederten und viele Bürgerrechte umfassend einschränkten.Konkrete Folge dieser Politik war eine fortschreitende räumliche Trennung der Wohnstätten zwischen der europäischstämmigen und den anderen Bevölkerungsgruppen mit zunehmender wirtschaftlicher Ausbeutung und Entrechtung der dabei benachteiligten Einwohner, vorrangig Schwarze. Zusätzlich wuchsen die Repressionen gegen die Coloureds, Indischstämmige und Kapmalaien. Angestrebt wurde die dauerhafte Ansiedlung der Afrikaner (schwarze Bevölkerung) in schon länger als Native Reserves bezeichnete Gebiete (die späteren Bantustans), deren formelle staatliche Unabhängigkeit schrittweise vorbereitet und in vier Fällen auch erreicht wurde (TBVC-Staaten). Mehrere Regierungskommissionen hatten sich im 20. Jahrhundert mit der sozioökonomischen Entwicklung dieser Areale und ihrer Bevölkerung, schwerpunktmäßig aus der Sicht „weißer“ Politikmodelle, befasst; es gab auch alternative Ansätze. Südafrika erlebte in den 1960er Jahren einen rasanten wirtschaftlichen Aufstieg und wurde als einziges Land des afrikanischen Kontinents zur Ersten Welt gezählt. Investitionen flossen ins Land und zahlreiche ausländische Unternehmen gründeten wegen der in großer Zahl verfügbaren billigen Arbeitskräfte eigene Niederlassungen bzw. Tochterunternehmen. Allerdings kam der erwirtschaftete Wohlstand hauptsächlich der weißen Bevölkerungsminderheit zugute, was sich mehrere Jahrzehnte lang auch in der Bildungs-, Ausbildungs- und Lohnpolitik des Landes lang widerspiegelte. Nach einem Referendum (1960) und mit dem Republic of South Africa Constitution Act (Act No. 32 / 1961) wurde die bisherige Südafrikanische Union in Republik Südafrika umbenannt und der Bezug zum Commonwealth in einen neuen Staatsbegriff transformiert. Die Republik Südafrika führte am 1. Januar 1970 das metrische System ein.Die Apartheid war ein bedeutendes Konfliktfeld während der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Auf Drängen afrikanischer und asiatischer Mitgliedsstaaten musste Südafrika das Commonwealth of Nations verlassen (1961) und wurde erst 1994 wiederaufgenommen. Der wachsende Unmut der unterdrückten Bevölkerungsschichten erreichte einen Höhepunkt im Juni 1976, als Sicherheitskräfte während des Aufstands von Soweto gegen eine Schülerdemonstration vorgingen, wobei 176 schwarze Schüler und Studenten starben. In den 1980er Jahren geriet Südafrika international weiter unter Druck: es wurde verstärkt mit politischen und wirtschaftlichen Sanktionen belegt, um damit ein Einlenken auf den Gebieten seiner rassistisch geprägten Innen- und Außenpolitik zu bewirken. Wirkungsvoll waren dabei die Verhängung von UN-Sanktionen und eine internationale Divestment-Kampagne: ab Mitte der 1980er Jahre gab es eine Kapitalflucht. ==== Ende der Apartheid ==== Im Jahr 1990, nach einem langen Zeitraum des Widerstands mit Streiks, Protestmärschen, internationalen Aktivitäten, Sabotage und auch Terrorangriffen verschiedener Anti-Apartheid-Bewegungen – die bekannteste ist der African National Congress (ANC) – ging die nunmehr international isolierte Regierung der National Party einen ersten Schritt in Richtung ihrer eigenen Entmachtung, als sie das Verbot des ANC und anderer politischer Organisationen aufhob und Nelson Mandela – einen der bekanntesten Widerstandskämpfer – nach 27 Jahren aus dem Gefängnis freiließ. Die Apartheidsstrukturen verschwanden schrittweise aus der Gesetzgebung und so wurden im Ergebnis die ersten für alle Bewohner freien Wahlen am 27. April 1994 möglich. Der ANC errang einen überwältigenden Wahlsieg und ist seitdem die Regierungspartei. Nelson Mandela wurde zum ersten schwarzen Präsidenten Südafrikas gewählt und erhielt zusammen mit dem letzten Staatspräsidenten von der National Party, Frederik Willem de Klerk, den Friedensnobelpreis für ihre Beiträge zur Beendigung der Apartheid. Mandelas Nachfolger wurde 1999 Thabo Mbeki. Trotz des ursprünglich linksgerichteten politischen Konzepts verfolgten die ANC-Regierungen stets auch Aspekte einer liberalen Wirtschaftspolitik, was maßgeblich zu einem starken Wirtschaftswachstum, aber auch zu neuen Disparitäten im Sozialgefüge des Landes beigetragen hat. In der Folge bildete sich eine kleine schwarze, wohlhabende Mittelschicht heraus. Dennoch konnte sich die Lage von Millionen nicht-weißer Südafrikaner gegenüber der vergangenen Periode der Apartheid nicht oder nur geringfügig verbessern. === 21. Jahrhundert === Bei der dritten freien Parlamentswahl in Südafrika 2004 erstarkte der ANC von 66,4 auf 69,7 % der Wählerstimmen. Präsident Mbeki wurde vom Parlament im Amt bestätigt. Am 15. Mai 2004 wurde Südafrika in Zürich von den FIFA-Delegierten als erstes afrikanisches Land überhaupt zum Veranstalter einer Fußball-Weltmeisterschaft gewählt. Das Turnier wurde vom 11. Juni bis 11. Juli 2010 ausgetragen. Mitte Mai 2008 kam es vor allem in den Townships zu erheblichen fremdenfeindlichen Übergriffen durch schwarze Südafrikaner, insbesondere gegen Flüchtlinge aus Simbabwe und Somalia. Das mangelnde Vorgehen südafrikanischer Politiker gegen fremdenfeindliche Gewalt in der Vergangenheit trug schließlich auch seinen Teil zu den Ereignissen von 2008 bei. Am 25. September 2008 trat Präsident Mbeki zurück, nachdem spekuliert worden war, er habe auf das Gerichtsverfahren seines Parteirivalen Jacob Zuma Einfluss genommen. Kgalema Motlanthe wurde als Interimspräsident eingesetzt. Die Wahlen im Frühjahr 2009 konnte abermals der ANC für sich entscheiden. Jacob Zuma wurde anschließend zum Präsidenten gewählt. Am 7. Mai 2014 wurde erneut gewählt. Der ANC konnte abermals eine absolute Mehrheit mit rund 62 % der Stimmen erreichen, büßte jedoch einige Prozentpunkte ein. Zuma wurde damit in seinem Amt bestätigt. Die Democratic Alliance wurde mit rund 22 % zweitstärkste Partei, vor der neugegründeten Partei Economic Freedom Fighters. Im Jahre 2015 ereigneten sich erneut fremdenfeindliche Angriffe auf afrikanische Arbeitsmigranten, deren Zentrum die Industrieregion Durban war. Es kam im Verlaufe dieser Unruhen zu Todesopfern, Plünderungen und Vertreibung von mehreren tausend Menschen. Im Februar 2018 trat Präsident Zuma auf Druck seiner eigenen Partei zurück und wurde durch Cyril Ramaphosa (ebenfalls ANC) ersetzt, der die Wahlen 2019 gewann. == Politik == === Verfassung und Bürgerrechte === Nach den Wahlen von 1994 galt in Südafrika eine Übergangsverfassung. Eine verfassunggebende Versammlung musste einberufen werden, die bis zum 9. Mai 1996 eine neue, dauerhafte Verfassung entwarf und verabschiedete. Diese wurde am 4. Dezember 1996 vom südafrikanischen Verfassungsgericht anerkannt, von Präsident Nelson Mandela am 10. Dezember unterschrieben und ist seit dem 3. Februar 1997 gültig. Seither ist die Verfassung die oberste Gesetzesgrundlage des Staates. Die Verfassung besteht aus einer Präambel, 14 Kapiteln und sieben Anhängen, in denen ein bestimmter Teilbereich, wie beispielsweise Menschenrechte oder die Gewaltenteilung, festgeschrieben sind. Die Bill of Rights der neuen Verfassung garantiert den Bürgern umfangreiche Rechte, wie Gleichheit vor dem Gericht und den Schutz vor Diskriminierung. Als weitere Menschenrechte sind darin das Recht auf Leben, der Schutz vor Sklaverei und Zwangsarbeit, der Schutz der Privatsphäre und des persönlichen Eigentums sowie das Recht auf Freiheit und Unversehrtheit festgeschrieben. Weitere wichtige Punkte sind die Rede-, Religions-, Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit. Die Rechte von Gefangenen und Untersuchungshäftlingen sind ebenfalls aufgeführt. Außerdem sieht die Verfassung eine unabhängige und unparteiische Justiz vor. Die Gleichstellung zwischen den Geschlechtern für die gesamte Bevölkerung hat sich mit dem Ende der Apartheid im Verlaufe der Übergangsverfassung bis hin zum Verfassungsgesetz von 1996 schrittweise vollzogen. Im Februar 1994 beschrieb Cathi Albertyn vom Gender Research Project am Centre for Applied Legal Studies der Witwatersrand-Universität die Lage, wonach eine Gleichstellung der Frauen mit der damals existierenden Verfassung noch nicht gegeben gewesen sei, sondern dass die Frauen ihre Rechte selbst verteidigen und Gleichberechtigung im Rahmen der Verfassung einfordern müssten. Jedoch war das Gewohnheitsrecht, das dem Ehemann eine allumfängliche Entscheidungsgewalt über Angelegenheiten seiner Ehepartnerin gab, bereits durch den General Law Fourth Amendment Act vom Dezember 1993 abgeschafft. Das Vormundschaftsrecht über gemeinsame Kinder steht den Ehepartnern mit dem Guardianship Act von 1993 seit Januar 1994 (Inkrafttreten) nun zu gleichen Teilen zu. === Recht === Das Verfassungsgericht mit Sitz in Johannesburg ist die höchste Instanz in Verfassungsfragen, während der Supreme Court of Appeal of South Africa in Bloemfontein das höchste ordentliche Gericht ist. Die meisten Verhandlungen werden auf lokaler Ebene in den örtlichen Gerichten abgehalten. Die Verfassung garantiert jedem Staatsbürger das Recht auf eine faire, öffentliche Verhandlung, einen angemessenen Zeitraum für die Urteilsfindung und das Recht auf Berufung. === Regierung und Parlament === ==== Überblick ==== Südafrika ist seit 1961 offiziell Republik. Die ersten demokratischen Wahlen fanden aber erst nach dem Ende der Apartheid im April 1994 statt. Bis Anfang der 1990er-Jahre wurde das Leben in Südafrika durch die international geächtete Apartheid-Politik (Afrikaans Trennung; Politik der getrennten Entwicklung weißer, schwarzer und farbiger Bevölkerungsgruppen) bestimmt. Die sogenannte Wahrheits- und Versöhnungskommission (englisch Truth and Reconciliation Commission) unter Vorsitz des Friedensnobelpreisträgers Bischof Desmond Tutu versuchte zwischen 1996 und 1998, politisch motivierte Verbrechen, die während der Zeit der Apartheid begangen wurden, zu untersuchen und aufzuarbeiten. Die offiziellen Verlautbarungen der Regierung werden über die Government Gazette veröffentlicht. Seit dem Ende der Apartheid wird die südafrikanische Politik maßgeblich von der ehemaligen Anti-Apartheid-Bewegung African National Congress (ANC) beeinflusst, die in den Wahlen von 2019 rund 57 % aller Stimmen und 230 der 400 Sitze erhielt. Der ANC tritt gemeinsam mit der South African Communist Party (SACP) und dem Gewerkschaftsdachverband COSATU als Tripartite Alliance auf. Zweitstärkste Partei und damit wichtigste Oppositionspartei ist die Democratic Alliance (DA). Die Economic Freedom Fighters (EFF) gelangten 2014 erstmals in die Nationalversammlung, 2019 erhielten sie rund 11 % der Stimmen. Weitere Abgeordnete werden von kleineren Parteien gestellt. Der derzeitige Staats- und Regierungschef Cyril Ramaphosa ist, wie seine Vorgänger Jacob Zuma, Kgalema Motlanthe, Thabo Mbeki und Nelson Mandela, Angehöriger des ANC. Alle Minister im Kabinett Ramaphosa II werden von der Tripartite Alliance gestellt. ==== Legislative ==== Die Legislative des Landes besteht aus einem Zweikammerparlament mit Sitz in Kapstadt. Beide Kammern sind in historischen Parlamentsgebäuden untergebracht. Die erste Kammer, die Nationalversammlung (National Assembly), wird nach dem Verhältniswahlrecht gewählt, wobei jeweils die Hälfte der 400 Mitglieder über landesweite Listen und Provinzlisten in das Parlament einzieht. Die zweite Kammer ist der Provinzrat (National Council of Provinces).Eine Legislaturperiode dauert in den beiden Häusern fünf Jahre. Die Regierung wird von der National Assembly gewählt und gebildet. Seit 1995 wird die Parlamentsarbeit durch die davon unabhängige Parliamentary Monitoring Group (deutsch etwa „Parlamentarische Monitoringgruppe“) begleitet. Sie fördert mit ihrer Arbeit die öffentliche Bereitstellung von korrekten und nachprüfbaren Informationen.In diese Vertretung entsendet jede der neun Provinzen Südafrikas unabhängig von ihrer Größe oder Einwohnerzahl zehn Mitglieder, von denen sechs ständige (gewählte Vertreter aus den Provinzversammlungen / Provincial Legislature) und vier Sonderdelegierte sind, darunter immer der Premierminister der jeweiligen Provinz und von den Mitgliedern der Provincial Legislature nach thematischen Kriterien rotierend ernannte Delegierte. Der jeweilige Premierminister ist der Vorsitzende seiner Provinzdelegation.Gemäß der Verfassung von 1996 ersetzt der Provinzrat (National Council of Provinces) der Provinzen den früheren Senat (Senat entsprechend der Übergangsverfassung von 1993), wobei sich am Prinzip der Entsendung von durch die Provinzversammlungen ernannten Delegierten nichts geändert hat, wohl aber die Aufstellung der Mitglieder und die Zuständigkeiten der neuen Institution. Der Provinzrat hat heute die Aufgabe, die regionalen Interessen und Anliegen der Provinzen vorrangig durch Mandatsträger zu vertreten, was auch den Schutz kultureller und sprachlicher Traditionen der Minderheiten einschließt, und er ist Handlungsfeld des verfassungsgemäßen Regierungskonzeptes co-operative government (sinngemäß etwa: partnerschaftliches Handeln zwischen nationalen, provinzialen und lokalen Verantwortungsträgern).Das Parlament verfügt über eine eigene Bibliothek. Sie hält in ihrem Bestand etwa 120.000 Druckerzeugnisse für die Parlamentsmitglieder und -mitarbeiter auf relevanten Themengebieten bereit und ermöglicht den Zugriff auf verschiedene elektronische Datenbanken über SABINET, ein landesweit vernetzter Applikationsserver. Etwa 150 Zeitschriften und Zeitungen informieren aktuell. Ferner gibt es hier Sondersammlungen mit seltenen Monografien, Kunstwerken, historischen Karten, Manuskripten, Fotos und anderen Sammlungsobjekten. Bekannt sind die Mendelssohn Collection/Africana collection (Fotos), Jardine collection (Graphiken) und Anglo Boer War collection (Fotos, Dokumente).Am 21. Mai 1930 wurde weißen Frauen das aktive und passive Frauenwahlrecht (Women’s Enfranchisement Act, No. 41 of 1930) verliehen. Bei den weißen Männern galten immer noch Eigentumsschranken, bei den Frauen nicht. Männer und Frauen der Coloured- und indischstämmigen Bevölkerung kamen 1984 zu den Wahlberechtigten hinzu, doch durften diese nur für ihre jeweiligen Kammern im Parlament wählen und hatten nach den Verfassungsbestimmungen einen bewusst geringen Einfluss auf die Regierungspolitik. Die Wahlen zu den beiden Kammern waren sehr umstritten und wurden von den meisten Wählern aus diesen Bevölkerungsgruppen abgelehnt (Wahlbeteiligung: Coloureds 17,6 %; Inder 8 %). Auf schwarze Frauen und Männer wurde das Wahlrecht im Januar 1994 ausgedehnt. Erst 1994 wurde das allgemeine Wahlrecht für beide Geschlechter und alle Ethnien praktiziert. Mit der Bill of Rights (Grundrechte) der Verfassung von 1996 wurde das aktive und passive Wahlrecht in section 21 – Political rights für alle Bürger niedergelegt, aber bereits 1994 übten Frauen und Männer diese Rechte aus. ==== Exekutive ==== Verfassungsgemäß ist der Präsident der Republik Südafrika sowohl Staatsoberhaupt als auch Regierungschef. Seit dem 14. Februar 2018 ist dies Cyril Ramaphosa. Der Präsident wird in der Regel alle fünf Jahre von der Nationalversammlung gewählt und durch einen Vizepräsidenten vertreten, der auch Leader of Government Business (etwa: Leiter der Regierungsgeschäfte) ist. Die Minister werden als Mitglieder des Kabinetts vom Präsidenten ernannt und entlassen. Die Amtsbereiche des Präsidenten und des Vizepräsidenten verfügen jeweils über ein eigenständiges Büro mit einem Mitarbeiterstab. Außerdem sind in der Präsidentenverwaltung drei weitere Amtsträger (Principals) eingebunden: die Minister der Ressorts Performance, Monitoring and Evaluation as well as Administration (Zielerfüllung, Monitoring, Auswertung sowie Verwaltung) und Women (Frauen) sowie der Deputy Minister for Planning, Performance, Monitoring and Evaluation.Im Bereich der Präsidentenverwaltung gibt es das Cabinet Office, unterteilt in die Hauptabteilungen Cabinet Secretariate und Cabinet Operations, das die politische Arbeit zwischen dem Präsidentenamt und dem Kabinett koordiniert. Ein weiterer Bereich, der Policy Coordination and Advisory Services (PCAS) genannt wird, dessen Hauptaufgabe in der Entwicklung und Umsetzung der Staatspolitik nach einem integrativen Konzept besteht. Dabei wird ein Monitoring politischer Debatten auf strategisch wichtigen Themenfeldern, beispielsweise zur Armutsbekämpfung, ländlichen Entwicklung und Umstrukturierung staatlicher Vermögensbestände betrieben. Für diese Aufgabe existieren vier Hauptabteilungen (chief directorate) mit den Ressorts Governance and Administration (Regierungsarbeit und Verwaltung), International Relations, Peace and Security (Internationale Beziehungen, Frieden und Sicherheitspolitik), Economic Cluster (Wirtschaftskooperation), Justice, Crime Prevention and Security (Justiz, Kriminalprävention und Sicherheit) und Social Sector (Sozialer Sektor). === Politische Indizes === === Außenpolitik === ==== Überblick ==== Südafrika war ein Gründungsmitglied des Völkerbundes und begann im Jahr 1927 mit der Errichtung von Diplomatischen Vertretungen in den wichtigsten westeuropäischen Ländern und den USA. Die vormalige deutsche Kolonie Deutsch-Südwestafrika (heute Namibia) wurde nach dem Ersten Weltkrieg zum Völkerbund-Mandatsgebiet und als Südwestafrika unter südafrikanische Verwaltung gestellt. Die damaligen südafrikanischen Streitkräfte kämpften während der beiden Weltkriege auf der Seite der Alliierten. Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs war Südafrika wiederum eines der Gründungsmitglieder der Vereinten Nationen und der damalige Premierminister Jan Christiaan Smuts war sehr stark an der Ausarbeitung der Charta der Vereinten Nationen beteiligt. 1950 bis 1953 nahm die südafrikanische Armee als Teil der UNO-Truppen am Koreakrieg teil. Als Folge der seit 1948 verschärften Apartheid-Politik geriet das Land jedoch in eine jahrzehntelange außenpolitische Isolation. Dem Austritt aus dem Commonwealth of Nations im Jahr 1961 nach einer Volksabstimmung von 1960 folgten das UN-Waffenembargo 1977 sowie mehrere UN-Resolutionen und Sanktionen. Die Wirtschaft brach spürbar ein, Investoren zogen sich aus dem Land zurück, verweigerten Investitionen oder unterbanden den Handel mit südafrikanischen Unternehmen. Sportler und Sportmannschaften wurden von internationalen Veranstaltungen ausgeschlossen und der Tourismus boykottiert. Eine extrem verschärfte innenpolitische Krise flankierte die internationale Isolation des Landes. Der damalige Premierminister Pieter Willem Botha sprach angesichts dieser Lage von einem total onslaught (deutsch: Totalangriff) und setzte ihr ab 1978 sein als Bothanomics bezeichnetes Regierungsprogramm entgegen. Die damaligen südafrikanischen Streitkräfte wurden während der Apartheidszeit für verschiedene Einsätze in Afrika herangezogen. So wurden unter anderem Truppen in den Bürgerkrieg in Angola entsandt, partiell ein Stellvertreterkrieg zwischen den USA und der Sowjetunion. Das geschah trotz diplomatischer Isolation von amerikanischer Seite. Südafrika war bis 1991 eine Atommacht und besaß sechs Nuklearwaffen aus eigener Produktion und Interkontinentalraketen des Typs RSA-3. Die in den kernwaffentechnischen Anlagen von Pelindaba gebauten atomaren Sprengsätze wurden vor dem Beitritt zum Atomwaffensperrvertrag freiwillig zerstört. Als Teil einer neuen Politik, die mit dem Amtsantritt von Präsident F. W. de Klerk 1989 begann und die das Ende der Apartheid bedeutete, konnte Namibia im Jahr 1990 die Unabhängigkeit erklären, mit Ausnahme der kleinen Exklave Walfischbucht, die erst im März 1994 an Namibia übergeben wurde. Nach den ersten Wahlen im April 1994, die auch für Nicht-Weiße zugänglich waren, und der Wahl des ersten schwarzen Präsidenten Nelson Mandela, wurden die meisten Sanktionen, die von der internationalen Staatengemeinschaft gegen das Land verhängt wurden, aufgehoben. Am 1. Juni 1994 trat die Republik Südafrika wieder in den Commonwealth ein und wurde am 23. Juni desselben Jahres wieder in die UNO-Vollversammlung aufgenommen. Südafrika trat ebenfalls der Organisation für Afrikanische Einheit (englisch Organisation of African Unity, OAU) bei, die seit 2002 Afrikanische Union heißt. Nachdem das Land die internationale Isolation mit dem Ende der Apartheid überwunden hat, ist es wieder ein anerkannter Partner geworden. Wichtigste außenpolitische Zielsetzungen sind heute die Erhaltung und der Ausbau guter diplomatischer Beziehungen, besonders mit den Nachbarländern und den Mitgliedern der Afrikanischen Union. Südafrika ist der einzige Vertreter Afrikas in der G-20-Gruppe und der BRICS-Staaten. Bereits 2007 wurde das Land neben China, Indien, Brasilien und Mexiko zu den G-8-Verhandlungen in Heiligendamm eingeladen. Mit der OECD besteht ebenfalls eine „verstärkte Zusammenarbeit mit Blick auf eine mögliche Mitgliedschaft“. Das Land gilt als Fürsprecher des afrikanischen Kontinents und der Entwicklungs- und Schwellenländer sowie einer neuen Weltwirtschaftsordnung. Es sieht sich jedoch auch dem Vorwurf ausgesetzt, eine hegemoniale Machtposition in Afrika aufbauen zu wollen. ==== Auslandsvertretung Südafrikas ==== Das Land unterhält 2014 diplomatische und konsularische Beziehungen mit vielen Staaten in der Welt. Dazu werden 104 Botschaften bzw. Hochkommissariate, 15 Generalkonsulate sowie 84 Honorarkonsulate, Honorargeneralkonsulate, Konsularagenturen bzw. Vizekonsulate betrieben. Südafrika verfügt über offizielle Vertretungen bei neun internationalen Organisationen. == Öffentliche Verwaltung == === Überblick === Die Republik Südafrika ist auf der Basis ihrer Verfassung von 1996 in drei Verwaltungsebenen gegliedert. An der Spitze steht die Staatsverwaltung mit dem Präsidenten, die von ihm geführte nationale Regierung und ihre nachgeordneten Verwaltungsorgane. Die unterhalb der Regierung folgende Ebene bilden die neun Provinzen (Section 103 der südafrikanischen Verfassung) mit jeweils einem Premierminister (Section 127 der südafrikanischen Verfassung), der den Executive Council (Kabinett, Section 132 der südafrikanischen Verfassung) leitet. Die öffentliche Kontrolle wird durch ein frei gewähltes Abgeordnetengremium, der provincial legislature (Section 104 der südafrikanischen Verfassung), ausgeübt. Die Vertretung der Provinzen auf der nationalen Ebene wird vom National Council of Provinces wahrgenommen, der in Verbindung mit der National Assembly das Zweikammersystem Südafrikas repräsentiert. Die südafrikanischen Provinzen bestehen insgesamt aus acht Metropolgemeinden sowie 44 district municipalities (Distrikte), die zusammen mit ihren Untergliederungen, den local municipalities (Gemeinden), die Ebene der Lokalverwaltungen (local government) nach Section 151 der Verfassung darstellen. Zur öffentlichen Kontrolle dieser Verwaltungen existieren municipal councils (Munizipalräte, Section 157 der südafrikanischen Verfassung) aus frei gewählten Mitgliedern. Die Distrikte setzen sich aus insgesamt 205 local municipalities (Gemeinden) zusammen (Stand 2016). Bis 2011 gab es zusätzlich zu diesen Verwaltungseinheiten 20 district management areas, die von ihrer jeweiligen Distriktverwaltung geführt wurden. === Öffentlicher Dienst === Für die Entwicklung und Unterhaltung des öffentlichen Dienstes ist ein eigenes Ministerium zuständig, das auf der Grundlage des Public Service Act von 1994 (Proclamation 103 vom 3. Juni 1994 in der Government Gazette Nr. 15791) und seinem Änderungsgesetz (Act No. 30 / 2007) sowie weiterer Rechtsvorschriften arbeitet. Für leitende Mitarbeiter des öffentlichen Dienstes in Südafrika betreibt dieses Ministerium eine spezifische Bildungsinstitution. Das ist die Public Administration Leadership and Management Academy (PALAMA), zu deren Aufgaben die Fortbildung von Behördenleitern und den leitenden Bediensteten der mittleren Ebenen gehört. Das Ministerium befasst sich zudem auf seinem Fachgebiet mit Entwicklungsaufgaben in einigen afrikanischen Staaten. Dazu gehören die Demokratische Republik Kongo, Burundi, Ruanda, und Südsudan. Zur Förderung des Prinzips von good governance ist Südafrika hierbei am Programmsektor African Peer Review Mechanism (APRM) beteiligt.Der öffentliche Dienst einschließlich der Angehörigen der Streitkräfte bestand nach Regierungsinformationen zum Ende Oktober 2011 aus etwa 1,28 Millionen Mitarbeitern. Darunter befanden sich 391.922 Personen im Dienst der nationalen Ebene und 891.430 Personen in den Provinzverwaltungen. === Provinzen === Mit dem Ende der Apartheid im Jahr 1994 mussten die ehemaligen unabhängigen und quasi-selbstverwalteten Homelands in die politische Struktur Südafrikas reintegriert werden. Das führte zur Auflösung der bisherigen vier Provinzen (Kapprovinz, Natal, Oranje-Freistaat und Transvaal), die durch neun anders gegliederte Provinzen ersetzt wurden und die nun das gesamte Staatsgebiet Südafrikas umfassen. Die Provinzen sind in insgesamt 44 Distrikte unterteilt. Die Provinzen Südafrikas sind: === Städte und Gemeinden === In der großen Gemeindereform des Jahres 2000 wurden viele südafrikanische Städte mit ihren umliegenden Gemeinden und Townships vereinigt. Einige dieser neu entstandenen Metropolgemeinden (englisch metropolitan municipality) wurden in diesem Zuge umbenannt, wobei die neuen Namen meist von Bantusprachen abgeleitete Bedeutungen haben und auf diese Weise das neue Südafrika repräsentieren sollen. Hier eine Übersicht der metropolitan municipalities: == Militär == Südafrika hat eine eigene Armee, die South African National Defence Force (SANDF). Diese Freiwilligenarmee besteht aus etwa 74.500 Berufssoldaten (Stand 2019) und ist in die Teilstreitkräfte Heer (South African Army), Luftwaffe (South African Air Force), Marine (South African Navy) und Medizinischer Dienst (South African Military Health Service) unterteilt. Die allgemeine Wehrpflicht wurde im Jahr 1994 abgeschafft. Der Befehlshaber der Streitkräfte (seit 2011 General Solly Shoke) wird vom Präsidenten ernannt und ist dem Verteidigungsminister (derzeit Nosiviwe Mapisa-Nqakula) unterstellt. Die SANDF wurde 1994 aus verschiedenen militärischen Gruppierungen und Organisationen des Landes neu zusammengesetzt. Südafrika gab 2017 knapp 1 Prozent seiner Wirtschaftsleistung oder 3,6 Mrd. US-Dollar für seine Streitkräfte aus. Die südafrikanische Armee hat seit dem Ende der Apartheid vor allem friedenssichernde Missionen in Afrika ausgeführt (so in Lesotho). Südafrika stellt außerdem eine erhebliche Anzahl an Blauhelmsoldaten für UN-Friedensmissionen zur Verfügung. 2008 stehen 1158 Soldaten für die UN-Friedensmission MONUC in der Demokratischen Republik Kongo und 604 Soldaten für die UNAMID im sudanesischen Darfur im Einsatz. Die staatliche Rüstungsbeschaffung für die Streitkräfte und die Polizei Südafrikas liegt in der Zuständigkeit der Armaments Corporation of South Africa (ARMSCOR), die auch bei der Europäischen Union in der südafrikanischen Vertretung ein Verbindungsbüro unterhält. == Wirtschaft == === Wirtschaftsgeschichte === Im heutigen Südafrika dominierte lange die Subsistenzwirtschaft. Die ersten weißen Siedler richteten ab 1652 in Kapstadt eine Versorgungsstation für Schiffsbesatzungen ein, für die Nahrungsmittel angebaut werden mussten. Die Landwirtschaft dominierte, bis 1867 am Ufer des Oranje die ersten Diamanten entdeckt wurden. Vor allem in Kimberley wurden in der Folge Diamanten gefördert. Erste Goldfunde im östlichen Transvaal lockten viele Goldgräber an. 1886 wurde im Witwatersrand erstmals Gold gefunden, worauf zum Ende des Jahrhunderts ein Goldrausch folgte, der zur Entstehung großer Städte wie Johannesburg führte. In der Folge kam es zum Zweiten Burenkrieg, in dem die Briten die Oberhoheit über das Gebiet gewannen. Weitere Bodenschätze wurden in rascher Folge gefunden. Die hohen Gewinne kamen während der Apartheid vor allem der weißen Bevölkerungsgruppe zugute. Schwarze Bergleute mussten meist riskante, schlecht bezahlte Arbeiten verrichten. Oft waren es Wanderarbeiter – so arbeiteten 1977 über 128.000 Bergleute aus Lesotho in den südafrikanischen Minen. In den Jahren nach 1980 gingen vor allem im Bergbau viele Arbeitsplätze verloren. === Wirtschaftspolitik === ==== Staatshaushalt ==== Der Staatshaushalt umfasste 2016 Ausgaben von umgerechnet 86,5 Milliarden US-Dollar, dem standen Einnahmen von umgerechnet 76,6 Milliarden US-Dollar gegenüber. Daraus ergibt sich ein Haushaltsdefizit in Höhe von 3,5 % des BIP. Die Staatsverschuldung betrug 2016 129,7 Milliarden US-Dollar oder 43,4 % des BIP.Anteil der Staatsausgaben 2006 (in % des BIP) verschiedener Bereiche: Gesundheit: 8,0 % Bildung: 5,4 % Militär: 1,7 % ==== Internationale Abkommen ==== Seit 1975 ist ein Doppelbesteuerungsabkommen mit Deutschland in Kraft, seit 2008 gibt es einen Text für ein neues Abkommen, das aber noch nicht in Kraft getreten ist. Seit 21. September 2010 ist Südafrika offizielles Mitglied der BRIC-Staatengemeinschaften, die damit zur BRICS-Gemeinschaft erweitert wurde. === Wirtschaftsstruktur === ==== Wirtschaftskennzahlen ==== Die wichtigen Wirtschaftskennzahlen Bruttoinlandsprodukt, Inflation, Haushaltssaldo und Außenhandel entwickelten sich folgendermaßen: ===== Bruttoinlandsprodukt ===== Südafrika ist mit einem Bruttoinlandsprodukt von über 351 Milliarden US-Dollari im Jahr 2019 nach Nigeria die zweitgrößte Volkswirtschaft Afrikas und gehört der G8+5 an. Teilbereiche der ländlichen Gebiete in den ehemaligen Homelands ähneln jedoch einem Entwicklungsland. Das BIP pro Kopf liegt bei 5067 Dollar pro Kopf, damit liegt es auf Rang 6 in Afrika (Stand 2019). Im Global Competitiveness Index, der die Wettbewerbsfähigkeit eines Landes misst, belegte Südafrika Platz 61 von 137 Ländern (Stand 2017–18). Im Index für wirtschaftliche Freiheit belegte Südafrika 2017 Platz 81 von 180 Ländern.Südafrika dominiert die Wirtschaft des südlichen Afrika und bildet bereits seit 1910 zusammen mit Eswatini, Namibia, Lesotho und Botswana die Zollunion des Südlichen Afrika (SACU). Darüber hinaus ist Südafrika Mitglied der Entwicklungsgemeinschaft des südlichen Afrikas (SADC) sowie des Entwicklungsprogramms Neue Partnerschaft für Afrikas Entwicklung (NEPAD) der Afrikanischen Union. Der Beitrag der verschiedenen Wirtschaftssektoren zum Bruttoinlandsprodukt liegt zu 66 % beim Dienstleistungssektor und 31 % bei der Industrie. Südafrika hat ein gut entwickeltes Finanz- und Rechtssystem und eine allgemein gut ausgebaute Infrastruktur (Kommunikations-, Energie- und Transportwesen). Im Zeitraum 2005–2007 wuchs Südafrika um jährlich 5 %, 2012 verlangsamte sich das Wachstum auf geschätzt 2,6 %. Die Wachstumsrate der Wirtschaft hatte sich in den 2010er Jahren verlangsamt. Die Staatsverschuldung lag 2012 bei 43,3 % des BIP. Mit dem Staatsunternehmen Industrial Development Corporation verfügt das Land über einen über Jahrzehnte gewachsenen und erfahrenen Einflussfaktor auf dem Gebiet der Industrie- und Infrastrukturentwicklung. ===== Inflation ===== 2012 betrug die Inflationsrate fünf bis sechs Prozent, die Arbeitslosenquote lag 2017 bei offiziell 27 % und die Jugendarbeitslosigkeit bei fast 50 %. Zudem gehen nur 13,6 Millionen Südafrikaner einer Arbeit nach, rund 13 Millionen sind Sozialhilfeempfänger. Die Gini-Koeffizienten als Maß für das Ungleichgewicht bei Einkommen und Konsum gehören jeweils zu den höchsten weltweit. ==== Arbeitsmarkt ==== Die wirtschaftliche Benachteiligung der nicht-weißen Bevölkerung konnte nach dem Ende der Apartheid nicht grundlegend beseitigt werden. Zwischen 1994 und 2004 stieg die Arbeitslosigkeit bei Schwarzen von 36 % auf 47 %. Deren Durchschnittseinkommen sank sogar real um 19 %, das der Weißen stieg hingegen um 15 %. Die Armutsquote erhöhte sich ebenfalls. Allerdings stieg der Anteil schwarzer Manager in börsennotierten Unternehmen von 0 % auf 20 %. Um die wirtschaftliche Benachteiligung der schwarzen Bevölkerung zu beenden, versucht die ANC-geführte Regierung im Rahmen des Broad-Based Black Economic Empowerment-Programms, Stellen in der Verwaltung und den großen Industriekonzernen vermehrt mit schwarzen Bewerbern zu besetzen. Vertreter der weißen Bevölkerung kritisieren an dieser südafrikanischen Variante der Affirmative Action, dass die Leistung nicht mehr im Vordergrund stehe. Viele Fachkräfte, insbesondere Ärzte und Ingenieure, reagieren mit Auswanderung, vor allem nach Australien, Kanada und in die USA. === Südafrikanische Börse und Finanzdienstleister === Die wichtigste Börse Südafrikas ist die Johannesburger Börse. Sie ist zudem die größte Börse Afrikas und ist eine der zwanzig größten weltweit. Zu den größten Unternehmen im Finanzdienstleistungssektor des Landes zählen unter anderem Absa Bank, FirstRand, Nedbank, Sanlam und die Standard Bank Group. Der Dienstleistungssektor insgesamt bildet den stärksten Faktor in der südafrikanischen Wirtschaft. === Landwirtschaft === Obwohl nur 2,4 Prozent des südafrikanischen Bruttoinlandsprodukts aus der Landwirtschaft stammen, ist dieser Sektor für rund 5 % (2020) der Arbeitsplätze Südafrikas verantwortlich, dieser Anteil sinkt seit 2016 allerdings stetig. Produziert werden vor allem Getreide (überwiegend Mais und Weizen), Zuckerrohr, Obst und Gemüse, Fleisch und Wein. Regionen mit intensiver Landwirtschaft finden sich in den klimatisch begünstigten Arealen des Landes, nämlich in den Region um Kapstadt mit einem feuchten und gemäßigten Klimas, wo vor allem Gemüse und Obst wie Äpfel oder auch Trauben für Wein angebaut werden, und an der Küste zum Indischen Ozean, hier werden viele exotische Früchte aber auch Zuckerrohr aufgrund des tropischen Klimas angebaut. Des Weiteren findet man im Highveld, einem Hochplateau im Landesinneren, vor allem Getreideanbau, der hier aufgrund der Höhe deutlich bessere klimatische Bedingung findet als anderswo im Landesinneren. Als einer der Gebiete mit dem anspruchsvollsten Klima Südafrikas kann man in der Kalahari-Wüste und anderen Wüstenregionen an der Nordgrenze Südafrikas lediglich Viehzucht betreiben z. B. zur Produktion von Mohair. In den übrigen Regionen dominiert vor allem Landwirtschaft zur Selbstversorgung, da außerhalb der oben genannten Gebiete keine wirtschaftlich lohnende Landwirtschaft möglich ist. Allerdings wurden auf der Basis ausgedehnter Bewässerungssysteme im 20. Jahrhundert weitere Gebiete landwirtschaftlich erschlossen, wie beispielsweise durch Vaalharts Water. Diese frühen Investitionen haben dazu geführt, dass 60 % des Wasserbrauches Südafrikas auf die Landwirtschaft zurückzuführen sind, da die Systeme oft veraltet und ineffizient sind. Ein Problem für ein von Wasserknappheit gekennzeichnetes Land wie Südafrika. Der Weinbau in Südafrika ist international auf den vorderen Plätzen zu finden und wurde durch französische Hugenotten, die aufgrund von Verfolgung während der Französischen Revolution über Holland nach Südafrika flüchteten, populär. Die ersten Weinreben wurden allerdings schon vom holländischen Gründer von Kapstadt Jan van Riebeeck im Jahr 1656 gepflanzt. Dessen Nachfolger legte auch das erste Weingut Südafrikas 1679 an. Insgesamt produzieren heute 425 Güter fast 4000 verschiedene Weine. Die bekannten Weinbauregionen um Stellenbosch, Franschhoek, Paarl und Somerset West bilden den Schwerpunkt dieses Agrarsektors in der Provinz Westkap. Mehr als 300 Weingüter sind allein in diesem Gebiet angesiedelt. Seit 1994 stieg Südafrikas Weinexport von 51 Millionen auf 420 Millionen Liter im Jahr 2018 an. Der größere Teil der Gesamtproduktionsmenge von 960,2 Millionen Litern (Stand 2018) wird im Land selbst konsumiert oder weiter verarbeitet. Etwa 163,9 Millionen Liter gelangten im selben Jahr als abgefüllte Weine in den Export. Der Wein wird seit den 1980ern, nach dem Aufheben von Handelsrestriktionen aufgrund der Apartheid-Politik, auch nach Deutschland exportiert (siehe Weinbau in Südafrika). Die Preise starten hierzulande bei ca. 5 € pro Liter. Eine Obergrenze lässt sich hier natürlich nicht nennen, da das Weinanbaugebiet mittlerweile sehr renommiert ist und auch bei Weinkenner, aufgrund hochwertiger Weine, immer beliebter wird, sodass sich mittlerweile eine Art Weintourismus etabliert hat, auf den die Güter mit hochwertigen Gästehäusern und Hotels reagieren. Hierbei profitieren sie nicht nur von einer zusätzlichen Einnahmequelle, sondern auch von der Direktvermarktung ihrer Produkte. Insgesamt schafft der Weinanbau in Südafrika so direkt aber auch indirekt 300.000 Arbeitsstellen landesweit. Auch hochprozentige Alkoholika exportiert Südafrika in größerem Maßstab, u. a. Spirituosen wie Liköre. Eine Besonderheit nimmt hier die Marula-Frucht ein, eine Frucht des in Südafrika heimischen Elefantenbaums, dessen Destillat inform eines Sahne-Likörs auch in Deutschland, als einer der wenigen südafrikanischen Markenprodukte, großflächig vertrieben wird, nämlich als Amarula-Likör. Die Landwirtschaft Südafrikas produziert eine große Bandbreite pflanzlicher Produkte, das sind Früchte, Gemüsesorten und Tees. Besonders die Früchte dienen nicht nur der Binnenmarktversorgung, sondern gehören zu den ertragreichen Exportgütern. Darunter finden sich Zitrusfrüchte, wie Apfelsinen, Clementinen, Mandarinen, Pampelmusen, Satsumas und Zitronen. Auch andere Früchte sind Bestandteil des agrarwirtschaftlichen Exportvolumens, das Lieferungen aus Eswatinis Plantagen einschließt. Die wichtigsten Produkte sind Äpfel, Ananas, Aprikosen, Avocados, Bananen, Birnen, Erdbeeren, Kaki, Kirschen, Kiwis, Litchis, Mangos, Melonen, Nektarinen, Pfirsiche, Pflaumen und Weintrauben. Wichtige Exportabnehmer auf diesem Gebiet sind China, die Europäische Union, Iran, Japan, Südkorea und die Vereinigten Staaten. Ein großer Vorteil bei der Vermarktung ist hierbei der umgekehrte Jahreszyklus der Südhalbkugel, auf der Südafrika liegt, sodass die Früchte keine Konkorrurenz zu ihrer Erntezeit auf den heimischen Märkten der importierenden Ländern auf der Nordhalbkugel haben. Insgesamt exportiert Südafrika doppelt so viele Agrarprodukte als es sie importiert (nach Wert), sodass es theoretisch unabhängig von Lebensmittelimporten ist, eine Seltenheit für ein Land in Afrika mit einer großen Bevölkerungszahl, allerdings sind viele Importe auf Produkte zurückzuführen, die in Afrika nicht angebaut werden können wie z. B. Reis. Mehrere höhere Bildungseinrichtungen dieses Sektors tragen zur Personalgewinnung und Fortentwicklung der südafrikanischen Agrarwirtschaft bei. === Industrie === Industrielle Produkte, sowohl im primären Sektor als auch im sekundären Sektor, machen einen großen Teil der Exporteinnahmen Südafrikas aus. ==== Bergbau ==== Das Land ist sehr reich an Bodenschätzen, deren Förderung für 40 bis 50 Prozent der Exporterlöse Südafrikas verantwortlich sind. Das Land besitzt die weltweit größten Fördermengen an Chrom (44 % der Weltförderung), Platin (47 %), Mangan und Vanadium (57 %). Daneben besitzt es große Vorkommen an Gold (21 %), Diamanten (9 %), Kohle (6 %), Eisenerz, Nickel, Titan, Antimon und Palladium.Der Bergbau wird von wenigen Konzernen beherrscht, die zu den größten weltweit gehören, etwa Anglo American, Glencore, ARMgold, Anglogold Ashanti und Implats. Der Konzern Lonmin, der die Platinförderung beherrscht, und der Diamantenproduzent De Beers gehören ganz oder teilweise zu Anglo American. Die Wettbewerbsfähigkeit des südafrikanischen Bergbaus wird aber durch häufige Streiks aufgrund der niedrigen Löhne und mangelhaften Arbeitsbedingungen geschwächt. Zu den jüngeren größeren Ereignissen dieser Art zählt der Streik von 2012. Die Arbeit in den Bergwerken ist riskant. Zwischen 1984 und 2005 starben in Südafrika über 11.100 Minenarbeiter. Die Zahl der Beschäftigten in der Gold- und Steinkohleförderung sank zwischen 1987 und 1996 um rund 200.000. 1997 waren im Bergbau 560.000 Personen beschäftigt.Für den Export mineralischer Rohstoffe und metallurgischer Produkte als Massengüter besitzen die Häfen von Saldanha, Richards Bay und Ngqura eine hohe volkswirtschaftliche Bedeutung. Sie werden von dem staatlichen Transportkonzern Transnet verwaltet und betrieben. ==== Energieversorgung und chemische Industrie ==== Die Energieversorgung obliegt in hohem Maße dem Eskom-Konzern, der gemessen an der Produktion der siebtgrößte Stromerzeuger weltweit ist. Rund 91 % der Energie wurden 2009 aus fossilen Brennstoffen gewonnen, meist in Kohlekraftwerken. Daneben setzt Südafrika in geringem Maß auf die Kernenergie, zunehmend jedoch auf erneuerbare Energien wie Wasserkraftwerke, solarenergetische Anlagen und Windkraftanlagen. Seit 2011 existiert ein Regierungsprogramm zur Förderung erneuerbarer Energien. Vor der Küste bei Mossel Bay wird Erdgas gewonnen. Da Südafrika kaum über Erdöl verfügt, entstanden zur Zeit der Apartheid in Sasolburg und Secunda große Kohleverflüssigungsanlagen, mit denen Kraftstoffe und Grundstoffe für die chemische Industrie gewonnen werden.Die erneuerbaren Energien, speziell die Windenergie und Sonnenenergie, sollen stark ausgebaut werden und werden durch staatliche Ausschreibungen intensiv subventioniert. Bis 2030 sollen die Leistung erneuerbarer Energien auf rund 18 GW bzw. 42 % der Gesamtleistung steigen; hierfür wurden Fördermaßnahmen aufgelegt. Die Erzeuger erneuerbarer Energie haben sich zu einem Industrieverband, dem South African Renewable Energy Council, zusammengeschlossen. ==== Weitere Industrien ==== Von Bedeutung sind die Herstellung von Kraftfahrzeugen, deren Zulieferindustrie sowie die Textilindustrie und die Telekommunikationsindustrie. Die Rüstungsindustrie wurde zur Zeit der Apartheid stark ausgebaut, weil der Import von Rüstungsgütern aus anderen Ländern durch Embargos sehr erschwert war, und wird etwa durch die Unternehmen Denel und ARMSCOR weiterhin betrieben. === Dienstleistungen === ==== Medien ==== ===== Medienstruktur ===== Südafrika hat seit dem Ende der Apartheid eine umfangreiche, freie und sehr aktive Medienlandschaft. Die vielen unterschiedlichen Fernseh-, Hörfunksender und Printmedien des Landes, die in den verschiedenen Amtssprachen senden und veröffentlichen, verdeutlichen die kulturelle Vielfalt der Bewohner. Als meistgenutzte Sprache in den Medien hat sich jedoch in den vergangenen Jahren das Englisch etabliert, gefolgt von Afrikaans. ===== Pressefreiheit und Pressevielfalt ===== Die Pressefreiheit wurde in Südafrika nicht zu allen Zeiten garantiert. Zu Beginn der 1980er Jahre erarbeitete die Steyn-Kommission Vorschläge zur politischen Einflussnahme auf die Medien und hierfür notwendiger legislativer Schritte. Weil mehrere südafrikanische Medien das Apartheidsystem offen kritisierten, wurden sie bis Anfang der 1990er Jahre immer stärker durch staatliche Zensur eingeschränkt. Nach dem Ende der weißen Minderheitspolitik wurde die Zensur abgeschafft und eine neue, liberale, nicht diskriminierende Verfassung mit einem Grundrechtekatalog (bill of rights) in Kraft gesetzt. Dieser beinhaltete auch das Bürgerrecht auf freie Meinungsäußerung, die Freiheit der Presse und Medien sowie das Recht auf künstlerische Freiheit und wissenschaftliche Forschung. Im Jahr 2016 befand sich das Land auf dem weltweiten Index der Pressefreiheit, der von der Organisation Reporter ohne Grenzen herausgegeben wird, auf Rang 39 von 180 Staaten.Trotz all dieser Fortschritte gibt es immer noch Kritik an einigen Punkten der Pressefreiheit. Nahezu alle großen Tageszeitungen werden von nur vier großen Medienunternehmen herausgegeben, was zukünftig zu einseitiger Berichterstattung führen könnte. Zusätzlich wird bemängelt, dass die South African Broadcasting Corporation (SABC), der staatliche Rundfunk- und Fernsehsender, zu regierungs- bzw. ANC-freundlich berichtet, da die Mehrheit der führenden Angestellten des Senders Mitglieder der ANC sind oder von diesem beeinflusst werden. Problematisch sind auch neu erlassene Gesetze, wonach die Berichterstattung der südafrikanischen Medien, insbesondere die der Zeitungen, reguliert werden kann. ===== Hörfunk ===== Der Rundfunk in Südafrika ist seit langem das Massenmedium mit der größten Verbreitung. Die Liberalisierung dieses Sektors im Jahr 1996 führte zu einer starken Zunahme der Anzahl der Rundfunkstationen. 2005 hatte beispielsweise Johannesburg mehr als 40 verschiedene Radiostationen. Der Betrieb von Rundfunksendern wird weit weniger staatlich reguliert als die Fernsehsparte. In Südafrika gibt es sowohl Rundfunkstationen mit regionalem Sendegebiet als auch landesweite Rundfunkprogramme. Hinsichtlich der Finanzierung sind unterschiedliche Modelle vorhanden: Von den staatlichen Radiosendern des SABC bis zu komplett werbefinanzierten Privatsendern, die eine bestimmte Stadt, einen Stadtteil oder eine Bevölkerungsschicht als Zielgruppe haben. Die Mehrzahl der Stationen sendet auf Englisch, wobei auch die anderen offiziellen Sprachen des Landes in der Programmausstrahlung berücksichtigt werden. ===== Zeitungen ===== Die Geschichte der Zeitung in Südafrika beginnt im Jahr 1800, als der damalige Gouverneur der Kapkolonie die Cape Town Gazette und den African Advertiser initiierte. Die erste private Zeitung, der SA Commercial Advertiser wurde ab dem Jahr 1824 herausgegeben. Die erste niederländischsprachige Zeitung De Zuid Afrikaan wurde im Jahr 1830 veröffentlicht, die erste Zeitung in einer afrikanischen Sprache, Umshumayeli Wendaba 1837 und die erste Zeitung in Afrikaans, Die Afrikaanse Patriot, im Jahr 1876. Nach einem Bericht des South African Audit Bureau of Circulation (ABC) gibt es in den Städten 36 Tages- und Wochenzeitungen, 29 auf Englisch, vier auf Afrikaans, zwei in Zulu und eine in Xhosa. Die Gegensätzlichkeit zwischen Bevölkerungsstruktur und Sprachen der veröffentlichten Zeitungen kann erklärt werden durch die unterschiedliche Alphabetisierungsquoten, den weit verbreiteten Gebrauch von Englisch oder auch die früher vorhandene staatliche Zensur, die die Entwicklung einer gemischten Zeitungskultur verlangsamte. Des Weiteren gibt es eine sehr große Anzahl kostenloser (werbefinanzierter) lokaler Zeitungen in verschiedenen Sprachen. Täglich werden etwa 1,3 Millionen Zeitungen im ganzen Land verkauft. Im Gegensatz zu vielen anderen Ländern gibt es nur sehr wenige überregionale Tageszeitungen, diese Funktion ist größtenteils den Sonntagszeitungen vorbehalten.Einige Zeitungen sind heute noch nicht im Besitz großer Medienunternehmen, die Mehrheit wird aber von den vier großen Konzernen des Landes, Johnnic Publishing, Nasionale Pers, 'Independent News and Media und CTP/Caxton verlegt. ===== Fernsehen ===== Obwohl Südafrika das höchstentwickelte Land des afrikanischen Kontinents ist, war das Land eines der Letzten, in denen das Fernsehen eingeführt wurde. Gründe dafür waren die ideologischen Vorstellungen der weißen Minderheitsregierung, die das Fernsehen als Bedrohung für die staatliche Kontrolle der Medien ansah. Es wurde auch als Bedrohung für das Afrikaans und die niederländischstämmige Bevölkerung angesehen, die unfairen Wettbewerb gegen die Afrikaans-Presse fürchteten. Im Jahr 1971 wurde der staatlichen Medienanstalt South African Broadcasting Corporation (SABC), die bis dahin das De-facto-Monopol über den Radiofunk hatte, erlaubt, ein Fernsehprogramm auszustrahlen. Die Testsendungen begannen 1975 in den großen Städten, die landesweite Ausstrahlung begann 1976. Zu Anfang war das südafrikanische Fernsehen komplett gebührenfinanziert, was sich mit der Einführung von Fernsehwerbung im Jahr 1978 änderte. Das Fernsehen ist heute immer noch der am stärksten regulierte Mediensektor in Südafrika und wird (wie das Radio) durch die Independent Communications Authority of South Africa (ICASA) reguliert. Senderechte, besonders für das Fernsehen, werden nur von dieser Einrichtung vergeben. Bis heute haben lediglich zwei private Fernsehsender die Erlaubnis zur Programmausstrahlung erhalten. Die Sendelizenzen beinhalten Vorgaben über die Gestaltung des Programms, wie beispielsweise den Bildungsanteil, die von den Sendern unbedingt eingehalten werden müssen. Im Jahr 2005 gab es in Südafrika nur vier frei empfangbare Fernsehsender, die Kanäle 1, 2 und 3 der SABC und den Sender e.tv. Die einzigen Anbieter von kostenpflichtigen Programmen und Satellitenfernsehen sind Multichoice mit dem terrestrischen Bezahlfernsehsender M-Net und DStv, dem digitalen Satellitenfernsehen mit etwa 50 nationalen und internationalen Kanälen, sowie Star Sat, das 2013 Top TV übernommen hat. Das kommerzielle Fernsehen in Südafrika hat mittlerweile mehrere Hunderttausend Abonnenten. ==== Bibliotheken ==== Das Bibliothekswesen in Südafrika begann in der Zeit der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts, in der auch die ersten Missionsbibliotheken entstanden. Ab 1928 entstand langsam das moderne Bibliothekswesen, wobei es bis heute immer noch große Unterschiede zwischen arm und reich beziehungsweise innerhalb verschiedener Regionen gibt. Jede Provinz hat ihre eigene Bibliotheksautorität. In den Großräumen Johannesburg und Kapstadt sind die meisten Einzelbibliotheken konzentriert. ==== Tourismus ==== Der Tourismus hat sich seit dem Ende des 20. Jahrhunderts zu einem wichtigen Wirtschaftsfaktor entwickelt. Bedeutende Sehenswürdigkeiten Südafrikas sind unter anderem: Amathole-Berge Wiege der Menschheit mit den Ausgrabungsstätten Sterkfontein und Kromdraai, seit 1999 UNESCO-Weltkulturerbe Drakensberge Durban mit umliegenden Sandstränden Garden Route Kapstadt mit Tafelberg und Kap-Halbinsel Weinregion um Stellenbosch, Franschhoek und Paarl Kruger-Nationalpark und weitere Nationalparks Namaqualand Sun City (vor allem Inlandstourismus) Wild Coast Witwatersrand mit JohannesburgIm Jahr 2002 besuchten mehr als sechs Millionen Touristen das Land, 2005 wurde der Anteil des Tourismus am Bruttoinlandsprodukt auf mehr als sieben Prozent geschätzt. Ungefähr drei Prozent der erwerbstätigen Südafrikaner arbeiten in der Tourismusbranche, für die weitere Zuwachsraten prognostiziert werden. == Verkehrsinfrastruktur == === Qualität === Im Logistics Performance Index, der von der Weltbank erstellt wird und die Qualität der Infrastruktur misst, belegte Südafrika 2018 den 33. Platz unter 160 Ländern. Das Land verfügt damit über die beste Infrastruktur des afrikanischen Kontinents. === Straßenverkehr === ==== Straßenverkehrsstruktur ==== In Südafrika herrscht Linksverkehr. Das Land verfügt über ein gut ausgebautes Straßennetz. ==== Fahrradverkehr ==== Für viele Südafrikaner ist das Fahrrad ein gebräuchliches Verkehrsmittel. Besonders in ländlichen Gegenden sind Fahrräder für die ärmere Bevölkerung oft das einzige erschwingliche private Transportmittel. In den Städten gibt es eher wenige Hobby- und Sportradler, es gibt kaum Radwege. Angesichts der bisweilen großen Entfernungen, der Topografie und der klimatischen Verhältnisse sind Fahrradfahrer im Straßenbild dennoch insgesamt recht selten anzutreffen. Ferner ist es gefährlich, in Südafrika auf städtischen Straßen mit dem Fahrrad zu fahren, die Zahl der tödlichen Unfälle von Fahrradfahrern steigt deutlich.Die Argus Tour, die im März auf einer 105 km langen Route auf der Kap-Halbinsel stattfindet, gilt mit 35.000 Teilnehmern als eine der weltgrößten Eintagesradtouren überhaupt. ==== Kraftfahrzeugverkehr ==== Es bestehen Autobahnen in und zum Teil zwischen den Großstädten. Die längste Autobahn ist die National Route 3 (N3) zwischen Johannesburg und Durban, mit einer Länge von 578 km. Das gesamte Straßennetz umfasste 2014 etwa 747.014 km, wovon 158.952 km asphaltiert sind. Auf allen öffentlichen Straßen in Südafrika gibt es Geschwindigkeitsbegrenzungen. Diese liegen bei 120 km/h auf Autobahnen, 100 km/h auf Landstraßen und 60 km/h innerhalb der Ortschaften. Große Teilabschnitte der Autobahnen sind heute gebührenpflichtig und mit einer von der Fahrzeuggröße abhängigen Maut belegt. Eines der größten Infrastrukturprojekte jüngeren Datums stellt der Maputo Development Corridor dar, der von den industriellen Ballungsräumen um Pretoria und Johannesburg ausgehend, leistungsfähige Verkehrsverbindungen in Form der N4 und N12 sowie der Bahnstrecke Pretoria–Maputo über die südafrikanisch-mosambikanische Grenze hin zum Ballungsraum Maputo mit seinen modernisierten Hafenanlagen für den Güter- und Personentransport zur Verfügung hält. ==== Öffentlicher Transport ==== Da das öffentliche Transportsystem in vielen Regionen weniger gut ausgebaut ist, sind dort Pendler auf Sammeltaxis, Busse oder den Individualverkehr angewiesen. Das erhöht das Verkehrsaufkommen auf den Straßen erheblich und führt während der Hauptverkehrszeiten zu überfüllten Autobahnen und Staus in den Ballungsräumen. ==== Überregionaler Busverkehr ==== Internationale Busverbindungen stellen die Linien Intercape Mainliner von Windhoek nach Kapstadt und Translux von Harare über Bulawayo nach Johannesburg her. Translux verkehrt wie die Greyhound Coach Lines, die Baz-Busse und Intercape auch innerhalb Südafrikas. Die Haltestellen sind oft flexibel. === Schienenverkehr === Das südafrikanische Schienennetz wird vor allem von Transnet Freight Rail betrieben. Es hat eine Länge von rund 24.000 Kilometern, auf denen überwiegend Güterzüge verkehren. Für die Abwicklung des darauf ebenfalls verlaufenden Personenverkehrs ist hauptsächlich die Passenger Rail Agency of South Africa (PRASA) zuständig. Die Luxuszüge Blue Train und Pride of Africa gehören zu den bekanntesten ihrer Art. In der gehobenen Klasse gibt es noch Züge der Premier Classe aus dem PRASA-Bereich Luxrail. Daneben fahren weitere Fernzüge unterschiedlicher Standards als Shosholoza Meyl. Ferner gibt es regelmäßige Reisezugverbindungen zwischen den größeren Städten, aber auch auf einigen Nebenstrecken. Sie verkehren bis zu einmal täglich. Die Reisegeschwindigkeiten sind unter anderem wegen der Verwendung der Kapspur auf den meisten Strecken relativ niedrig. In den Großräumen der Städte Johannesburg/Pretoria, Durban, Kapstadt und Gqeberha/East London verkehren S-Bahn-artige Metrorail-Züge, die zur Passenger Rail Agency of South Africa gehören. Der Gautrain ist ein Nahverkehrssystem im Ballungsraum Johannesburg/Pretoria. Er verkehrt seit 2010. In Johannesburg nimmt das City Deep Container Terminal einen bedeutenden Anteil Containerfracht aus der industriellen Ballungsregion von Gauteng auf, die auf dem Schienenweg überwiegend die Seehäfen erreicht. Hier werden 30 Prozent des Exportaufkommens von Südafrika umgeschlagen. === Luftverkehr === Die beiden größten und wichtigsten Flughäfen des Landes sind in Johannesburg und Kapstadt. Ein weiterer befindet sich in Durban. Die staatliche südafrikanische Fluglinie South African Airways (SAA) bietet internationale Verbindungen von und zu diesen Flughäfen. Auch andere große internationale Gesellschaften wie British Airways, KLM, Lufthansa/Swiss, Iberia und Air France fliegen täglich nach Johannesburg oder Kapstadt. Für Inlandsflüge in Südafrika oder Flüge in afrikanische Nachbarstaaten bestehen viele Angebote von SAA, Airlink, Flysafair, Lift und Air Namibia. Des Weiteren werden auch die deutlich kleineren Flughäfen in Gqeberha, East London, George, Lanseria, Bloemfontein, Kimberley und Upington angeflogen. == Probleme des Landes == Trotz der Aufwärtstendenz in Südafrika seit den Wahlen 1994 gibt es anhaltend sehr große soziale Disparitäten. So werden Schwarze auch nach dem Ende der Apartheid meist immer noch weitaus schlechter bezahlt als Weiße. Große Teile der Bevölkerung leben in Townships am Rande vieler Städte. Dabei handelt es sich um Wohngebiete, in denen trotz positiver Entwicklung der Lebensstandard auch heute noch sehr niedrig ist. Während die wohlhabenden Einwohner des Landes, nach wie vor überwiegend Weiße, aber mittlerweile auch zunehmend Schwarze, in abgeschlossenen Wohnsiedlungen leben, die mitunter von Zäunen und Sicherheitspersonal umgeben sind, wohnt die Mehrzahl der Armen, hauptsächlich Schwarze und Coloureds, in den Townships und einfachen ländlichen Siedlungen. Dabei findet diese Bevölkerungsgruppe nur schwer Anschluss an die Aus- und Weiterbildungsmöglichkeiten des südafrikanischen Staates. Eine unmittelbare Auswirkung dieser Verhältnisse ist die enorm hohe Kriminalitätsrate in manchen unterentwickelten Regionen. Die Immunschwächekrankheit AIDS besitzt weiterhin eine zentrale politische Bedeutung bei der staatlichen Planung und Ausführung medizinischer und sozioökonomischer Vorhaben in Südafrika. === Ehemalige Homelands und Townships === Townships dienten vor und während der Apartheid in Südafrika als Wohngegenden in der Nähe von Großstädten oder Industrieansiedlungen für die schwarze, die farbige (Coloureds) oder die indischstämmige Bevölkerung. Sie können Ausmaße einer mittleren Stadt annehmen. Bekannte Beispiele sind Soweto (South Western Townships), heute ein Stadtteil von Johannesburg in der Provinz Gauteng im nordöstlichen Teil des Landes, oder Cato Manor am Rande der Großstadt Durban. Als Homelands bezeichnete man während der Apartheid die der schwarzen Bevölkerung in Südafrika und dem damaligen Südwestafrika zugewiesenen Wohngebiete, die überwiegend auf den vormaligen Reservaten beruhten und bereits 1913 mit dem Natives Land Act (Act No. 27) eine legislative Grundlage erhalten hatten. Im Politikverständnis der damaligen Bantu Administration wurden sie abwertend Bantustans genannt. Mit der Homelandpolitik fand die Rassentrennung der Apartheid nach dem erklärten Prinzip einer „separaten Entwicklung“ ihre demographische und territoriale Basis. Ein großer Teil der schwarzen Mehrheitsbevölkerung wurde auf diese Weise in Südafrika desintegriert, nicht zuletzt um einen von Schwarzen beherrschten Einheitsstaat zu verhindern. Die Homelands waren im Rahmen eines mehrjährigen Prozesses mit gesetzgeberischen Teilschritten als formell unabhängige Staaten vorgesehen, deren Bewohnern die (Schein-)Unabhängigkeit zugestanden werden sollte, diese wurden aber an dieser Entwicklung nicht einmal beteiligt. Für vier dieser Territorien vollzog die südafrikanische Regierung diesen Schritt. Jedoch waren sie ökonomisch, finanziell und militärisch fast vollständig von Südafrika abhängig. Tatsächlich stellten sie de facto lediglich vom übrigen Staatsgebiet abgetrennte Selbstverwaltungsgebiete dar. Die Transkei wurde 1976 zuerst für unabhängig erklärt, ein Jahr später folgte Bophuthatswana, Venda 1979 und Ciskei 1981. Im Rahmen der südafrikanischen Industriepolitik spielten die Homelands eine herausgehobene Rolle, da sie ein bedeutendes Reservoir niedrig entlohnter und überwiegend ungelernter Arbeitskräfte darstellten. Zunächst mit inländischen, später auch mit ausländischen Investitionen sowie mit Hilfe der staatlichen Entwicklungsbank Industrial Development Corporation schuf die Apartheidsregierung eine sogenannte border industry, eine gezielt geplante industrielle Konzentration an den Grenzen der Homelandgebiete. Die politische Kontrolle lag in Verantwortung des regierungsamtlichen Permanent Committee for the Location of Industry and the Development of Border Areas. In den 1980er und frühen 1990er Jahren begann man auch hier mit beruflichen Qualifikationsmaßnahmen, um die Effizienz der Betriebe erhalten zu können. Mit der zunehmenden internationalen Isolation des Landes infolge seiner Repressionspolitik gegen die nichteuropäischstämmige Bevölkerung traten die wirtschaftlichen Effekte dieser Industriepolitik nicht in dem von der Regierung erhofften Umfang ein. Nach dem Ende des Apartheidsregimes wurden die Homelands in die neun neuen und strukturell veränderten Provinzen der Republik Südafrika integriert. Südafrika hat noch heute mit den sozioökonomischen und infrastrukturellen Auswirkungen dieser getrennten Entwicklung zu kämpfen. Die Gebiete der ehemaligen Homelands sind am geringsten entwickelt, haben partiell sehr große Bevölkerungsdichten und das geringste Pro-Kopf-Einkommen. So ist beispielsweise die Provinz Ostkap, in die die größten und bevölkerungsreichsten Homelands Transkei und Ciskei integriert wurden, die ärmste und wirtschaftlich schwächste Provinz. Durch den niedrigen Lebensstandard in den ehemaligen Homelands und meisten Townships ist auch das Krankheitsrisiko höher und die Lebenserwartung geringer. === Landbevölkerung und Landlose === Ungefähr 40 Prozent der südafrikanischen Bevölkerung leben außerhalb der Städte und industriellen Ballungszentren. Die Existenzbedingungen des schwarzen Anteils dieser Landbevölkerung sind überwiegend ärmlich bis prekär. In den Regionen, die nicht zu den technisch hoch entwickelten agrarwirtschaftlichen Zonen gehören, leben etwa 12 Millionen Menschen. Deren langfristigen Perspektiven scheinen unter den gegenwärtigen politischen Schwerpunktsetzungen weitgehend unbeachtet zu sein, weil diese ländlichen Gebiete innerhalb der Landpolitik der südafrikanischen Regierung als randständige Relikte der Regionalplanungen unter Apartheidgesichtspunkten betrachtet werden und mit geringer Aufmerksamkeit belegt sind. Für einen großen Teil der davon betroffenen Bevölkerung bilden sozialstaatliche Transferzahlungen die einzige Form ihres regelmäßigen Einkommens. Weil sich die meisten strategischen Zielsetzungen der Regierung mit der Verbesserung von Lebens- und Infrastrukturbedingungen in urbanen Räumen befassen, sind die sich aus ländlichen Lebensverhältnissen ergebenden Problemstellungen im politischen Prozess deutlich unterrepräsentiert. Die unbefriedigenden Ergebnisse einer nach 1994 erhofften und politisch beabsichtigten Landreform in Südafrika, darunter beispielsweise Restitutionen und finanzielle Entschädigungen als Reaktion auf die Umverteilungsmaßnahmen nach dem Natives Land Act von 1913, sowie eine sich zunehmend ausbreitende Praxis, schwarze Farmarbeiter nur noch saisonal zu beschäftigen und die anschließende Vertreibung nicht mehr beschäftigter Personen vom Farmland (farm dweller), erzeugte eine sich zuspitzende Lage unter der betroffenen Bevölkerungsgruppe. Die investorenfreundliche ANC-Regierung trug mit ihrem GEAR-Programm (Growth, Employment and Redistribution Plan) von 1996 zu dieser Lage maßgeblich bei. Dieses Programm wurde zusammen mit Experten der Weltbank (World Bank), der Südafrikanischen Zentralbank (South African Reserve Bank) sowie der Entwicklungsbank für das südliche Afrika (Development Bank of Southern Africa) erarbeitet. Dessen Ziele umfassen Maßnahmen zur sogenannten Flexibilisierung des Arbeitsmarktes, zum Rückbau der Ein- und Ausfuhrzölle, für einen freieren Kapitalfluss, steuerliche Vergünstigungen für Investitionen und eine Senkung der staatlichen Kreditaufnahme. Mögliche Landreformprogramme fanden in diesem politischen Konzept nur eine marginale Erwähnung. Damit favorisierte die Regierungspolitik ein Primat des Marktes, noch vor eigenen staatlichen Handlungsperspektiven. Unter Leitung des damaligen Finanzministers Trevor Manuel wurde das GEAR-Programm ohne öffentliche Beteiligung vorbereitet. Zu einer entschlossenen politischen Reaktion aus dem Kreis der Betroffenen auf die eingetretenen negativen Auswirkungen dieser Politik kam es erst nach dem Jahr 2000. Nur 2,3 Prozent der agrarwirtschaftlich bedeutsamen Landfläche Südafrikas wurden zwischen 1994 und 2000 zu Gunsten einer Harmonisierung der Landeigentumsstrukturen transferiert, wobei nur ein geringer Teil davon an neue schwarze Eigentümer ging. Die Zahl der einkommens- und obdachlosen Personen im ländlichen Raum stieg stetig an. In Durban trafen sich im Jahr 2001 Vertreter von südafrikanischen Landloseninitiativen zur Beratung über die dadurch angewachsenen Probleme. Dabei verständigten sich die Teilnehmer auf die Gründung einer Dachorganisation, die sie Landless People’s Movement (LPM) nannten. Anfangs gelang dieser Organisation eine politische Mobilisierung unter den Landlosen. Beispielsweise geschah das im Jahr 2002, als sich parallel zum Weltgipfel für nachhaltige Entwicklung (WSSD) in Johannesburg etwa 5000 Vertreter der Landlosenbewegung bei Soweto trafen und in einer Abschlussdemonstration mit 25.000 Teilnehmern ihre Kritik an den neoliberalen Tendenzen des WSSD zum Ausdruck brachten. Die ANC- und damit regierungskritischen Positionen des LPM wurden auch von der Gewerkschaftsvereinigung COSATU und der SACP aufgegriffen, trotzdem war die südafrikanische Regierung nicht zu einer Kursänderung bereit. In der Folge zerfielen die regionalen Strukturen der LPM in weiten Teilen des Landes wieder. Ein Grund für diese Entwicklung bestand auch darin, dass trotz vereinzelt neu erlangtem Landeigentum daraus kein tragfähiges Existenzniveau erzielt werden konnte. Mit Hilfe von zwei Nichtregierungsorganisationen haben sich einige Landloseninitiativen in den Provinzen Westkap und Ostkap erhalten.Im Februar 2018 beschloss die Nationalversammlung, eine Kommission einzusetzen, die die zur entschädigungslosen Landenteignung notwendige Verfassungsänderung vorbereiten soll. Sowohl als ANC-Präsident als auch als Staatspräsident sprach sich Ramaphosa nach vorherigen Konsultationen mit traditionellen Führern verschiedener Gruppen für die Notwendigkeit einer Landreform aus, die nach der ihr zugrunde liegenden Sichtweise ein Ausgleich für Enteignungen (beispielsweise auf Grundlage des Natives Land Act und des Group Areas Act) während der Kolonial- und Apartheidperiode seien und die Nahrungsgüterproduktion für den inländischen Bedarf steigern soll. Er sieht darin die Chance junger Menschen, im Agrarsektor eine berufliche Zukunft zu finden, und verteidigt die Landreform als notwendige „landwirtschaftliche Revolution“. Widerstand gegen dieses Vorhaben kam neben anderen Stimmen aus der größten Oppositionsfraktion in der Nationalversammlung, vom DA-Vorsitzenden Mmusi Maimane, der Ramaphosa zum Schutz der gegenwärtigen Eigentumsrechte aufforderte. Kritische Stimmen aus Südafrika sahen in Ramaphosas Vorstoß jedoch den programmatischen Auftakt für die Parlamentswahl im Jahre 2019, wo der ANC seine Regierungsposition verteidigen wollte. === Gesundheit === Zu den größten Gesundheitsproblemen Südafrikas gehört AIDS. Nach Schätzungen von UNAIDS aus dem Jahr 2014 sind 6,5 bis 7,5 Millionen Einwohner mit dem HI-Virus infiziert, in der Bevölkerungsgruppe der 15- bis 49-Jährigen seien zirka 19 % davon betroffen. Diese Entwicklung und die weitere Ausbreitung der Krankheit hatten zeitweise dramatische demografische Folgen für das Land: Die Lebenserwartung nahm von 1990 bis 2005 von knapp 65 Jahren auf 52 Jahre ab, stieg bis 2014 aber wieder auf 61 Jahre.Die Ursachen für die Ausbreitung von HIV/AIDS liegen gemäß UNAIDS an der frühen sexuellen Aktivität der Jugendlichen (das Durchschnittsalter beim ersten Geschlechtsverkehr beträgt bei Männern 16,4 Jahre und bei Frauen 17 Jahre) in Zusammenhang mit schlechter bzw. fehlender Präventionsaufklärung. Bei den 15- bis 19-Jährigen sind 4,8 % infiziert, bei den 20- bis 24-Jährigen bereits 16,5 % (Stand 2014). Auch sexuelle Gewalt spielt in Südafrika eine große Rolle: Etwa 28 % der Frauen geben an, schon mindestens einmal gegen ihren Willen zum Geschlechtsverkehr gedrängt worden zu sein. 2005 starben in Südafrika rund 364.000 Menschen im Zusammenhang mit AIDS, 2014 sank die Zahl auf rund 172.000. Eine Mitschuld an der Verbreitung von AIDS in den 2000er Jahren trägt nach Meinung vieler Wissenschaftler der ehemalige Präsident Thabo Mbeki, ein AIDS-Leugner. Mbeki bestritt wiederholt den Zusammenhang zwischen HIV und AIDS, ebenso wie die Tatsache, dass es sich bei AIDS überhaupt um eine Krankheit handele. 2016 gab das Gesundheitsministerium bekannt, dass alle südafrikanischen HIV-Infizierten kostenlos behandelt werden sollen.2018 lag die Säuglingssterblichkeit in Südafrika geschätzt bei 33,8 pro 1000 Geburten, womit sie gegenüber der Zahl von 64,8 des Jahres 2008 fast halbiert wurde. 2013 betrugen die Gesundheitsausgaben 8,9 % des BIP.Ein weiteres, teilweise mit der HIV-Problematik verbundenes und anwachsendes Krankheitsbild stellen Tuberkuloseerkrankungen (TBC) dar. 2013 gab es rund 450.000 Fälle von TBC, davon waren 270.000 Menschen HIV-positiv. Im Jahr 2012 begann die südafrikanische Regierung mit einem dreijährigen medizinischen Programm, mit dem bis 2015 das Ziel einer Reduzierung der TBC-Sterbefälle zunächst um 50 % verfolgt wurde. 2013 lag die Heilungsrate bei 77 % und damit unterhalb der von der WHO gesetzten Marke von 85 %.Die Wasserversorgung des Landes hingegen ist annähernd auf dem Niveau der Industriestaaten: Zugang zu sauberem Trinkwasser, seit 2010 ein von der UNO gefordertes Menschenrecht, besitzen laut WHO und UNICEF über 90 % der Südafrikaner. Im Nachbarland Mosambik haben weniger als die Hälfte der Menschen Trinkwasserzugang.Zur Stärkung und Straffung der medizinischen Hochschulausbildung des Landes wurde 2014 die Sefako Makgatho Health Sciences University gegründet. Sie ging aus einer Vorgängerinstitution hervor. Ihr Ausbildungskrankenhaus ist das zweitgrößte Hospital Südafrikas.Die weltweite COVID-19-Pandemie erreichte Südafrika mit dem ersten im Land gemeldeten Fall am 5. März 2020. Die Regierung des Landes reagierte mit der Ausrufung des Katastrophenfalles und mit Ausgangssperren.Siehe auch: COVID-19-Pandemie in Südafrika === Kriminalität === Südafrika gehört unter den Ländern, in denen zuverlässige Polizeistatistiken existieren, zu denen mit den höchsten Kriminalitätsraten. Die Rate von Tötungsdelikten lag beispielsweise 2017 bei 36 pro 100.000 Einwohner. In der Kriminologie werden Mordraten als Index für Vergleiche des Kriminalitätslevels über lange Zeiträume verwendet. Dies ist insbesondere für Gewaltkriminalität und Diebstahl zuverlässig. Das Diagramm zeigt einen Anstieg der Rate der Tötungsdelikte in Südafrika von unter 10 pro 100.000 Einwohner bis in die 1930er Jahre auf 30 bis 1965, wo sie bis 1980 bleiben. Danach stiegen die Raten in nur 13 Jahren auf ca. 80 im Jahr 1993. Bis 2011 fiel sie wieder auf 30. (In westeuropäischen Ländern liegt dieser Wert bei ca. 1.) Der zeitliche Verlauf mit einem Anstieg von den 1960er bis in die frühen 1990er Jahre, gefolgt von ausgedehnten Kriminalitätsrückgang, ähnelt dem Muster in westlichen Ländern, allerdings auf sehr viel höherem Level. Die im Diagramm dargestellten Werte im 20. Jahrhundert sind wegen fehlender Daten und juristischer Uneinheitlichkeiten vermutlich wesentlich zu niedrig angesetzt. Allerdings lag die Rate in Südafrika mindestens seit den 1920er Jahren über dem Welt-Durchschnitt. Zumindest Teile des Anstiegs werden der Apartheidspolitik zugeschrieben, die Menschen gewaltsam aus kommunalen und sozialen Beziehungen riss sowie politische Konflikte auslöste. Damit wurden Faktoren verändert, die einen Einfluss auf das Kriminalitätsniveau haben.1994 gab es annähernd 26.000 Tötungsdelikte oder 63 pro 100.000 Einwohner. Bis zum Berichtsjahr 2017/18 (das Ende März 2018 endete) sank die jährliche Zahl auf reichlich 20.000 beziehungsweise 36 pro 100.000, was fast einer Halbierung der Rate entspricht. Als wichtigster Grund für die Veränderungen wird die verringerte Verfügbarkeit von Schusswaffen angeführt, als zweitwichtigster Verbesserungen der Politik. Von 2011 bis 2017 stieg die Rate von 30 auf 36 pro 100.000 Einwohner an. Als Ursache werden eine wieder bessere Verfügbarkeit von Schusswaffen durch korrupte Polizeibeamte sowie Unruhen der frustrierten Bevölkerung angeführt. Im Gegensatz zum zeitlichen Verlauf der Rate der Tötungsdelikte gab es bei schwerer Kriminalität insgesamt nur einen minimalen Anstieg nach 2011. Nach 2013 fiel diese Rate jedoch stark ab und erreichte Tiefstwerte.Bei einer Studie in den Provinzen Ostkap und KwaZulu-Natal gaben 27,6 % aller befragten Männer an, schon mindestens einmal eine Frau vergewaltigt zu haben, die Hälfte davon gab mehrere Vergewaltigungen zu. Umgerechnet auf die Bevölkerungszahl kann somit mit vielen Millionen Vergewaltigungen in den letzten Jahrzehnten gerechnet werden. Statistisch gesehen müssen demnach 40 % der Südafrikanerinnen damit rechnen, einmal in ihrem Leben vergewaltigt zu werden. Eine Besonderheit stellen die sogenannten Corrective rapes dar, bei denen lesbische Frauen durch Männer mit dem vorgeblichen Ziel, die sexuelle Orientierung des Opfers zu ändern, vergewaltigt werden. Außerdem geben 40 % der südafrikanischen Schüler an, schon mindestens einmal vergewaltigt worden zu sein. Im Berichtsjahr 2017/2018 wurden rund 50.000 Fälle von Sexualdelikten registriert, darunter etwa 40.000 Vergewaltigungen, was sehr hohe Werte sind. 10 Jahre davor (2008/2009) waren es allerdings noch fast 70.000 Sexualdelikte.Das Land verzeichnet einerseits Fortschritte, etwa den Rückgang von Gewaltkriminalität und Sexualdelikten, andererseits stieg die Zahl der Straftaten in Verbindung mit Drogen im selben Zeitraum auf fast die dreifache Zahl. Zwischen 1994 und 2001 wurden bei mehr als 5500 Überfällen auf zumeist abgelegene Farmen über 1100 Weiße ermordet. 2010 bis 2014 wurden jährlich rund 60 weiße Farmer ermordet; für das Berichtsjahr 2017/2018 wurden 62 Morde auf Farmen und Gehöften angegeben.Nach wie vor stellen vor allem die hohen Mord- und Vergewaltigungsraten eine große Bedrohung für die Bevölkerung dar. Das führte inzwischen dazu, dass viele wohlhabende Südafrikaner aller Bevölkerungsgruppen in Wohnquartiere ziehen, die mit dem inzwischen in seiner Bedeutung gewandelten Begriff Compound bezeichnet werden. Solche Wohnviertel können eine eigene Infrastruktur mit Geschäften und Schulen haben, sind rundum mit hohen Zäunen abgesperrt und werden rund um die Uhr von privaten Sicherheitsdiensten bewacht. Auch Elektrozäune sind sehr häufig. Diese Maßnahmen bieten einen gewissen Schutz vor Überfällen und ermöglichen ein Leben in relativer Sicherheit.Die Ursachen für die enorm hohe Kriminalität sind vielfältig. Das System der Rassentrennungspolitik mit seinen Spätfolgen über das Jahr 1994 hinaus, das die traditionellen Gesellschaften der Schwarzen zerstörte und zerrüttete Familien sowie häusliche Gewalt erzeugt hat, die an Kinder oder andere Personen weitergegeben wird, spielte für diese Entwicklung eine wichtige Rolle. Ebenso bedeutsam sind wirtschaftliche Gründe. Nach wie vor ist die Masse der Bevölkerung sehr arm und die Arbeitslosigkeit ist, vor allem in der jungen, schwarzen Bevölkerung, hoch. Langeweile und Perspektivlosigkeit entladen sich dabei oft in Gewalt. Dazu kommt die große soziale Ungleichheit mit ihren extremen Gegensätzen zwischen armen (meist schwarzen) und reichen Bewohnern in den Städten Südafrikas, die zu hoher Kriminalität führt. Während sich reiche Südafrikaner dagegen schützen können, trifft das auf die zahlreichen Einwanderer aus ärmeren afrikanischen Staaten nicht zu, so dass vor allem diese, von armen Südafrikanern als unliebsame Konkurrenten auf dem Arbeitsmarkt gesehen, besonders häufig Opfer von Übergriffen und Pogromen werden.Ineffizienz und Korruption bei Polizei und Justiz sind in manchen Regionen ebenfalls ein großes Problem. Viele Straftäter werden trotz Anzeige nicht zur Rechenschaft gezogen, häufig werden Gerichtsverfahren – vor allem bei Vergewaltigungsfällen – aus Mangel an Beweisen eingestellt.Nach dem Korruptionswahrnehmungsindex (Corruption Perceptions Index) von Transparency International lag Südafrika 2016 von 180 Ländern zusammen mit Vanuatu und Bulgarien auf dem 71. Platz, mit 43 von maximal 100 Punkten. === Oben und unten === Nach dem Ende der Apartheid konnten in Bezug auf das ideelle Ziel von gleichen individuellen Entwicklungschancen für alle Bürger und einem besseren Lebensstandard für die große Gruppe sehr armer Bürger nur fragmentarische und überwiegend als unbefriedigend empfundene Fortschritte erreicht werden. Trotz anerkennenswerter Erfolge bei der Verbesserung häuslicher Verhältnisse, wie Wasser- und Elektrizitätsversorgung in ländlichen Gebieten und Townships, sowie beim Ausbau des Bildungs- und Ausbildungssektors, der Gesundheitsversorgung und der Verkehrsinfrastruktur, nahm die Verbesserung der Erwerbsverhältnisse für weite Teile der nichteuropäischen Bevölkerung einen verhaltenen Verlauf. Durch den Wegfall des über die Jahrzehnte der Apartheid verfestigten Prinzips der job reservation (für Weiße ursprünglich vorbehaltene Tätigkeitsprofile) und mit dem neuen Regierungsprogramm Black Economic Empowerment verschoben sich die Arbeitsmarktstrukturen dahingehend, dass weniger gut ausgebildete Weiße häufiger arbeitslos wurden oder vom Arbeitsplatzverlust bedroht waren. Die makroökonomischen Muster haben sich jedoch nach dem Ende der Apartheidspolitik insgesamt wenig verändert. Demnach soll in der nach 1994 einsetzende Post-Apartheidsphase nur eine relativ kleine Zahl von Personen größeren Nutzen gezogen haben. Dazu zählen Angestellte des öffentlichen Dienstes und Unternehmer. Der Gini-Koeffizient ist nach 1995 in Südafrika sogar angestiegen. Nach Auffassung des südafrikanischen Soziologen Lawrence Schlemmer hielt der sozioökonomische Verfall am unteren Ende der Einkommenskette seit 1994 lange an und konnte nur mit erheblichen Transferleistungen des Staates auf niedrigem Niveau gestoppt werden. Dagegen ist der oft in den Medien propagierte Aufstieg einer „schwarzen“ Mittelschicht in der Realität viel geringer als dargestellt und er wird längere Zeit als offiziell in Anspruch nehmen. Nach einer Studie des International Council for Human Rights Policies (ICHRP) aus dem Jahr 2001 sollen sich ökonomische Marginalisierung und rassistische Diskriminierung gegenseitig verstärken. In Südafrika etabliert sich eine stereotype Haltung, wonach die arme Bevölkerung weiterhin zu Niedriglöhnen arbeiten könne. Die herrschende Gruppe (nicht mehr nur weiß, sondern Vertreter aus allen Gruppen) entfernt sich zunehmend von der beherrschten Bevölkerung.Das Land ist weiterhin durch ein hohes Maß an Armut und Ungleichheit gekennzeichnet. Der Gini-Koeffizient stieg auch während des Investitionsbooms vor der Finanzkrise 2008 weiter an. Während er im Jahr 2000 bei 57,8 lag, betrug er 2011 65. Damit gehört Südafrika weltweit zu den Staaten mit extrem ungleicher Einkommensverteilung, was zunehmend öffentlich diskutiert wird.Die Kritik des langjährigen Finanzministers und danach als Minister für nationale Planung tätigen Trevor Manuel vom April 2013 an den gegenwärtigen Verhältnissen im öffentlichen Sektor zielte auf dieses Missverhältnis zwischen Herrschenden und Beherrschten. Mit seinem National Development Plan (Nationalen Entwicklungsplan) unterbreitete der Minister Vorschläge einerseits für Maßnahmen zur „radikalen“ Bekämpfung von Armut und Ungleichheit sowie andererseits für die Entwicklung eines kompetenten, professionellen öffentlichen Dienstes im Land. Dabei wies er darauf hin, dass viele Mitarbeiter „keine Gesetzesänderungen oder politische Vorgaben benötigen, sondern nur einen gesunden Menschenverstand um die Dinge richtig zu machen“. Im Zentrum seiner Argumentation steht die Kritik, dass im Jahr 2013 immer noch die Apartheid pauschal als Ursache für jegliche Fehlentwicklung im gegenwärtigen politischen Handeln angeführt würde und er fordert deshalb eine allgemeine und transparente Rechenschaftspflicht aller Ebenen des öffentlichen Sektors. Desmond Tutu verwies im Mai 2013 mit internationaler Medienresonanz auf die wachsenden Probleme des Landes durch Korruption und das Parteiensystem, folglich auf einen Änderungsbedarf im Verfassungsrecht bezüglich des Wahlsystems. == Kultur == === Kulturen der Ethnien === Südafrika hat aufgrund seiner historischen Entwicklung und der ethnischen Vielfalt keine einheitliche Kultur, die Sitten und Gebräuche unterscheiden sich sehr stark je nach Region und Bevölkerungsstruktur. Deshalb wird das Land heute oft als Regenbogennation bezeichnet, da nur wenige Länder der Welt derart unterschiedliche Kulturen aus allen Erdteilen beheimaten. Von der schwarzen Bevölkerungsmehrheit lebt immer noch ein beträchtlicher Anteil in ärmlichen Verhältnissen in ökonomisch schwachen, ländlichen Gebieten. Besonders von diesen werden heute noch die traditionellen Riten mit Tanz und Musik gepflegt und am Leben gehalten, da mit der zunehmenden Verstädterung und Europäisierung Südafrikas und der ursprünglichen Bevölkerung auch traditionelle Bräuche und Gewohnheiten an Bedeutung verloren haben. Die schwarzen Südafrikaner, die in den Städten leben, sprechen nahezu alle zusätzlich zu ihren Muttersprachen auch Englisch oder Afrikaans. Zu Beginn des 21. Jahrhunderts gibt es noch immer kleine Bevölkerungsgruppen, die Khoisan-Sprachen sprechen. Diese sind zwar keine offiziellen Landessprachen, aber anerkannt als eine der weiteren acht Hauptsprachen. Weiterhin gibt es mehrere kleine Gruppen, die vom Aussterben bedrohte Sprachen sprechen, meist aus der Sprachfamilie der Khoi-San, und um die offizielle Anerkennung ihrer Sprache und ihren Erhalt kämpfen. Die Lebensgewohnheiten der weißen Bevölkerungsminderheit sind in vielen Belangen ähnlich wie in Westeuropa, Nordamerika oder Ozeanien. Historische Feindseligkeiten zwischen Afrikanern und britischstämmigen Weißen wurden mittlerweile ausgeräumt und machten den Weg frei für ein friedliches Miteinander der beiden Volksgruppen. Trotz der Diskriminierung während der Zeit der Apartheid fühlen sich die Coloureds heute näher mit der weißen Kultur als mit der schwarzen südafrikanischen Kultur verbunden. Das ist besonders bei denjenigen zu beobachten, die Afrikaans als Muttersprache sprechen und die gleichen oder ähnliche Religionen wie die Weißen haben. Nur eine kleine Minderheit der Coloureds, die als Kap-Malaien bekannt sind, sind Muslime. Asiaten, hauptsächlich indischer Herkunft, pflegen ihr eigenes kulturelles Erbe, ihre Sprachen und Religionen. Die Inder wurden im 18. Jahrhundert an die Südspitze des afrikanischen Kontinents angesiedelt, um zunächst auf den Zuckerrohrfeldern Natals zu arbeiten. Die meisten sind Hindus oder sunnitische Muslime und sprechen mittlerweile als Muttersprache Englisch, während Sprachen wie Tamil oder Gujarati in Südafrika immer seltener anzutreffen sind. === Bildung === Die überwiegende Zahl der Schulen ist öffentlich; daneben gibt es Privatschulen. Schüler besuchen ab ihrem 7. Lebensjahr für sieben Jahre die Primary School (Grundschule). Es besteht Schulpflicht; Schulgebühren werden an den Primary Schools nicht erhoben. Wie an allen Schulen wird eine Schuluniform getragen. Anschließend folgt der Besuch einer High School (Sekundarschule). Sie ist kostenpflichtig; die Schulpflicht besteht seit 1996 bis zur 9. Klasse. Schüler wählen Kurse auf drei unterschiedlichen Niveaus. Am Ende der 12. Klasse werden die Abschlussprüfungen (Matric) in sieben Fächern absolviert. 2010 bestanden 76 % der Schüler das Matric, 28 % aller Prüflinge erwarben die Berechtigung, eine Universität zu besuchen. Die Ergebnisse werden bei Bedarf standardisiert, das heißt bei landesweit schlechten Prüfungsleistungen können die Anforderungen nachträglich gesenkt werden und umgekehrt. Schüler bestehen das Matric bereits mit 30 % der erreichbaren Punktzahl. In Südafrika stieg die mittlere Schulbesuchsdauer über 25-Jähriger von 6,5 Jahren im Jahr 1990 auf 10,5 Jahre im Jahr 2015 an und ist damit die längste in Afrika.Es gibt 26 öffentliche Hochschulen in Südafrika, darunter sechs technische Hochschulen, elf Volluniversitäten und neun sogenannte umfassende Universitäten. Die Universitäten des Landes sind von unterschiedlicher Qualität, wobei mehrere zu den besten Universitäten Afrikas zählen. Laut den World University Rankings 2010 der Times Higher Education ist die Universität Kapstadt mit Platz 107 die beste Universität Afrikas. Die Technische Universität Tshwane in Pretoria ist mit 60.000 Studierenden die größte Universität im südlichen Afrika (abgesehen von der schnell wachsenden (Fern-)Universität von Südafrika mit über 300.000 Studierenden). Das Hochschulsystem des Landes wird insgesamt gesehen bei weitem nicht der Nachfrage nach Studienplätzen gerecht. Für ein Studium müssen Studiengebühren entrichtet werden. Das schnelle Wachstum der Studierendenzahlen hat zu erheblichen Qualitätsmängeln geführt, wie zwei in der Tendenz weitgehend übereinstimmende Berichte aus dem Jahr 2011 verdeutlichen – einer unter Federführung der Universität Kapstadt, der andere unter Leitung der Universität Johannesburg. Insbesondere die Sozial-, Human- und Kulturwissenschaften haben in der Nach-Apartheid-Zeit stark gelitten, die Studierendenzahlen gehen in diesen Bereichen permanent zurück. Die Bachelorausbildung sei durch die Verwaltung des Mangels, das Fehlen von Bildungskonzepten und „intellektuelle Stagnation“ geprägt, während die Ressourcen zum großen Teil in die Masterausbildung und auf Elitelehrstühle umgelenkt werden. In der Zeit der Apartheid waren vor allem die Bildungseinrichtungen der schwarzen Bevölkerungsmehrheit benachteiligt. Hauptursache war der 1953 erlassene Bantu Education Act, der eine qualitativ mindere Bildung erzeugte und die Basis vieler traditionell verwurzelter Missionsschulen im Land unterlief. An der Universität von Fort Hare in Alice konnten über die Apartheidsperiode hinweg Personen aus einheimischen Bevölkerungsgruppen eine eingeschränkte Hochschulausbildung erhalten. Zeitweilig waren auf Betreiben des oppositionellen ANC der Sekundarschulunterricht und die Hochschulbildung für schwarze Schüler und Studenten in das SOMAFCO-Camp nach Tansania ausgelagert. Während in Südafrika an Schulen für Weiße rund 96 % der Lehrkräfte eine entsprechende Ausbildung hatten, waren es an den Schulen für Schwarze nur 15 %. Auf einen Lehrer kamen 18 weiße Schüler bzw. 39 schwarze Schüler. Ungleiche Bildungschancen bestehen nach dem Ende der Apartheid fort und stellen eine große gesellschaftspolitische Herausforderung dar. Trotz hoher finanzieller Aufwendungen ist es der Regierung bislang kaum gelungen, diesem Problem zu begegnen. Die Bildungsausgaben belaufen sich auf etwa 20 % der gesamten Staatsausgaben und stellen damit den höchsten Einzelplan des Etats dar. Trotzdem haben die öffentlichen Schulen durchschnittlich über 30 Schüler pro Lehrer.Die sechs deutschen Schulen in Südafrika sind die Deutsche Schule Pretoria, die Deutsche Schule Hermannsburg, die Deutsche Internationale Schule Kapstadt, die Deutsche Internationale Schule Johannesburg, die Deutsche Schule Durban und die Deutsche Schule Kroondal. === Küche === In der südafrikanischen Küche liegt der Schwerpunkt auf Fleischgerichten aller Art, woraus sich eine beliebte Freizeitbeschäftigung der Südafrikaner entwickelte: das Grillen (Afrikaans Braai). Typische Gerichte und Speisen für den Braai bei der wohlhabenden Bevölkerung sind Boerewors (eine scharfe, grobe Wurstsorte), Steaks, Lamm-, Schweinekoteletts und Fisch über Holzkohle gegrillt. Eine weitere Spezialität ist Biltong, eine Art getrocknetes Fleisch vom Rind oder Wild, das in Südafrika oft als Snack gegessen wird. Häufig werden indisch inspirierte Curry-Gerichte gegessen. Die Küche der ärmeren, meist schwarzen Bevölkerung ist dominiert von schlichten Gerichten. Das bekannteste ist Mealie-Pap, eine Art Maisbrei. Des Weiteren entwickelte sich Südafrika zu einem großen Weinproduzenten. Einige der besten Weingüter der Welt befinden sich bei Stellenbosch, Franschhoek und Paarl im Westkap. === Musik === Die südafrikanische Musik ist von großer Vielfalt geprägt. Populär sind Pop-, Rock- und Jazzmusik in zahlreichen Subgenres, vor allem landestypische Musikstile, die teilweise mit bestimmten Bevölkerungsgruppen verknüpft sind. Im frühen 20. Jahrhundert bildete sich durch eine Vermischung europäischer Kirchenmusik, nordamerikanischer Gospelmusik und einheimischer Traditionen eine spezielle Form der Kirchenmusik, die sich einerseits durch zahlreiche Chöre auszeichnet, andererseits als von Solisten wie der Gospelsängerin Rebecca Malope vorgetragene Musik populär ist. Der Soweto Gospel Choir widmet sich ebenfalls der Gospelmusik. Der Kirchenmusiker Enoch Mankayi Sontonga schrieb um 1900 das Lied Nkosi Sikelel’ iAfrika, das seit 1996 Teil der Nationalhymne Südafrikas ist. Während der Zeit der Apartheid wurde es häufig als Symbol des Widerstands gesungen.Regionale Musikstile entstanden früh in den unterschiedlichen Ethnien. Bis heute pflegen etwa Zulu, Xhosa und Basotho diese Stile, die auch moderne Musikrichtungen aufnehmen. Bei den Zulu ist das von Männerchören gesungene Isicathamiya charakteristisch. Eine moderne Stilrichtung der Zulu-Musik ist Maskandi, auch Maskanda genannt. Bei den Basotho ist Famo populär, das zeitweise mit sexuell aufreizenden Tänzen einherging. Zu den weltweit bekanntesten Jazzmusikern Südafrikas zählen der Saxophonist Kippie Moeketsi, der Trompeter und Sänger Hugh Masekela und der Pianist Abdullah Ibrahim, dessen Stilrichtung Cape-Jazz genannt wird. Als Vorläufer des Cape-Jazz gilt die Marabi-Musik, die als Tanzmusik vor allem in den Shebeens der Townships gespielt wurde und auch andere südafrikanische Musikstile geprägt hat.Der älteste bestehende Chor ist der Stellenbosch University Choir. Der 1936 gegründete Chor der Universität Stellenbosch, der für a cappella gesungene Musik bekannt ist. Der erste Hit, von dem in Südafrika mehr als 100.000 Schallplatten verkauft wurden, war das von Solomon Linda komponierte Mbube im Jahr 1939. Aufbauend auf Rock ’n’ Roll und Swing entstand in den 1950er-Jahren die Kwelamusik, die sich durch den Einsatz von Blechflöten auszeichnete. Der Johannesburger Stadtteil Sophiatown galt damals als das Mekka des südafrikanischen Jazz. Die wohl bekannteste Vertreterin südafrikanischer Musik ist Miriam Makeba (1932–2008), die ebenfalls in Sophiatown ihre ersten Erfolge feierte und in den 1960er-Jahren mit dem auf isiXhosa gesungenen Lied Pata Pata einen Welthit landete. Aufgrund ihrer großen Popularität trug sie den Beinamen Mama Afrika.Mbaqanga ist eine weitere populäre Musikrichtung, die in den 1960er Jahren entstand und sich durch tanzbare Rhythmen und traditionelle Einflüsse auszeichnet. Eine spezielle Form, die Mgqashiyo-Musik, wurde durch die Mahotella Queens bekannt gemacht. Zu den erfolgreichen Mbaqanga-Musikern gehört die Sängerin Yvonne Chaka Chaka. Ihr 1985 erschienenes Lied I’m in Love with a DJ gilt als erster Hit der Bubblegum-Musik, einer Mbaqanga-Variante, die sich durch den Einsatz von Synthesizern und elektrischen Keyboards auszeichnete. In den 1990er-Jahren entwickelte sich der südafrikanische Musikstil Kwaito, eine Mischung aus afrikanischer Popmusik, Rap und House. Bekannte Vertreter waren die Sängerin Brenda Fassie, die zuvor mit Mbaqanga-Musik populär geworden war, und der Sänger Mandoza. Die Gruppe Ladysmith Black Mambazo singt A-cappella-Musik und wurde neben weiteren Gruppen wie Stimela durch die Zusammenarbeit mit dem US-amerikanischen Musiker Paul Simon 1986 weltweit bekannt. Zahlreiche weitere Bands und Solisten wurden im südlichen Afrika erfolgreich, etwa der Reggae-Musiker Lucky Dube und der schottischstämmige Johnny Clegg, der in den 1980er Jahren mit seinen Bands, die zur Hälfte aus Zulu bestanden, bei Schwarzen und Weißen populär war.Im 19. Jahrhundert entstand auf Grundlage europäischer Einflüsse die Boeremusiek, eine instrumental gespielte Tanzmusik, die unter Buren bis heute populär ist. Ihr Hauptinstrument ist die Konzertina. Zu den bekanntesten Musikern gehörte der Akkordeonist Nico Carstens (1926–2016). Daneben gibt es auf Afrikaans gesungene Musik, die häufig Elemente der Country-Musik enthält. Oft wird sie nach einem Tanzvergnügen unter dem Begriff Sokkie Dans vermarktet. Die Gereformeerde Blues Band von Johannes Kerkorrel spielte Blues und war Begründer der alternativen Voëlvry-Bewegung. Karen Zoid gehört in den 2010er Jahren zur alternativen Szene afrikaanssprachiger Musiker. In den 1970er Jahren gab es eine lebhafte Rockszene in Kapstadt. Verschiedene Spielarten des Rock wie Disco, Punk, Gothic Rock (No Friends of Harry) und Alternative Metal waren zeitweise ebenfalls vertreten. Die Sängerin Nianell singt Popmusik mit Folkeinflüssen auf Englisch oder Afrikaans. Auch Singer-Songwriter wie Zahara und Jennifer Ferguson treten in Südafrika auf. Mimi Coertse wurde eine bekannte Opernsängerin, die lange in Wien engagiert war. Das Soweto String Quartet führt klassische Musik europäischer Prägung auf, versetzt mit afrikanischen Elementen.Jährlich werden die South African Music Awards in über 20 Sparten verliehen. Heute international bekannte südafrikanische Bands sind unter anderem Die Antwoord, Seether, The Parlotones, Kongos und Watershed. In Kapstadt befindet sich die einzige Oper Afrikas mit ganzjährigem Betrieb – die Cape Town Opera. === Literatur === Viele der ersten schwarzen Autoren lernten das Lesen und Schreiben von europäischen Missionaren, weshalb die Mehrzahl der ersten südafrikanischen Bücher auf Englisch oder Afrikaans geschrieben wurden. Einer der ersten bekannten Romane, der von einem schwarzen Autor in einer afrikanischen Sprache geschrieben wurde, war Mhudi von Sol Plaatje im Jahr 1930. Zu den bekannten südafrikanischen Schriftstellern gehören außerdem Nadine Gordimer, geboren 1923, die als erste Südafrikanerin und siebte Frau insgesamt im Jahr 1991 den Nobelpreis für Literatur erhielt, und Athol Fugard, dessen Bühnenstücke regelmäßig in den Theatern Südafrikas, Londons and New Yorks Premiere feierten. Alan Paton veröffentlichte im Jahr 1948 seinen viel beachteten Roman Cry, the Beloved Country, der später auch verfilmt wurde. Die Geschichte, die von einem schwarzen Priester erzählt, der nach Johannesburg kommt, um seinen Sohn zu finden, wurde weltweit zum Bestseller. In den 1950er-Jahren begann die spätere Nobelpreisträgerin Nadine Gordimer mit der Veröffentlichung ihrer Werke. Ihr bekanntester Roman Julys Leute (original: July’s People) erschien im Jahr 1981 und handelt vom Fall der weißen Minderheiten-Herrschaft. Auch Schriftsteller, die in Afrikaans schrieben, veröffentlichten kontroverse Werke. Breyten Breytenbach wurde für seine Beteiligung an der Guerillabewegung gegen das Apartheidsregime inhaftiert. André Brink war der erste Afrikaaner, dessen Bücher von der Regierung indiziert wurden, nachdem er den Roman A Dry White Season veröffentlicht hatte, der von einem Weißen handelt, der die Wahrheit über den Tod eines schwarzen Freundes in Polizeigewahrsam herausfindet. Einige wichtige schwarze Schriftsteller gelangten in den 1970er-Jahren zu Berühmtheit, wie beispielsweise Mongane Wally Serote, dessen Werk No Baby Must Weep einen Einblick in den Alltag eines schwarzen Südafrikaners während der Apartheid gibt. Zakes Mda, ein weiterer bekannter schwarzer Romanschreiber, gewann mit seinem Roman The Heart of Redness den Commonwealth Writers’ Prize im Jahr 2001. Sein Werk wurde fest in den Lehrplan an südafrikanischen Schulen aufgenommen. J. M. Coetzee, der seine Tätigkeit als Schriftsteller in den 1970er-Jahren begann, wurde erst zwei Dekaden später international bekannt. Sein im Jahr 1999 erschienener Roman Schande (original: Disgrace) brachte ihm den renommierten Man Booker Prize und 2003 den Nobelpreis für Literatur. === Malerei === Im 19. Jahrhundert wurden die meisten Bilder aus England und den Niederlanden eingeführt. Diese historischen Stücke bilden heute noch einen Teil des Bestandes der Museen. Zu den wenigen Malern, die schon Ende des 19. Jahrhunderts eine akademische Ausbildung besaßen, gehörte der aus Rotterdam stammende Landschafts- und Porträtmaler Frans Oerder (1867–1944), der mit seinem Bild Magnolien eines der am häufigsten reproduzierten Bilder aus der Südafrikanischen Nationalgalerie schuf, das als Druck heute in vielen Wohnzimmern hängt. Zur Generation der romantischen Maler gehörte noch Hugo Naudé (1868–1938), der vor dem Ersten Weltkrieg u. a. in München studiert hatte. Eine große Stilvielfalt kennzeichnen die teils romantisch-impressionistischen, teils expressionistischen oder sachlich-realistischen Landschaftsbilder von Jacobus Hendrik Pierneef (1886–1957). Viele Maler der 1920er und 1930er Jahre waren deutscher oder polnisch-jüdischer Abstammung, so Irma Stern, die gemeinsam mit der von Holländern abstammenden Porträtmalerin Maggie Laubser (1886–1973) und dem in Russisch-Polen geborenen Wolf Kibel als Begründerin des Expressionismus in Südafrika gilt. Pranas Domšaitis (eigentlich Franz Carl Wilhelm Domscheit) studierte bei Lovis Corinth in Berlin, er wanderte erst 1949 im Alter von 69 Jahren nach Südafrika aus und gilt ebenfalls als einer der bedeutendsten Expressionisten Südafrikas. Der in Österreich geborene Jean Welz schuf Stillleben, Dorothy Kay einfühlsame Porträts. Alexis Preller studierte in Paris und orientierte sich an Paul Gauguin und Vincent van Gogh. Freida Lock, die aus England stammte und dort studierte, wurde 1938 Mitbegründerin der New Group, einer Künstlergruppe, die zahlreiche Ausstellungen bestritt. Viele nicht-weiße südafrikanische Künstler im Exil orientierten sich ebenfalls am Expressionismus oder vertraten einen sozialen Realismus, so Gerard Sekoto oder Gavin Jantjes, der in der Bundesrepublik Deutschland studierte. David Koloane schuf die erste schwarze Kunstgalerie in Johannesburg. Der weiße Apartheid-Gegner, Lyriker und Autor Breyten Breytenbach schuf im Exil surrealistische Bilder. Nach dem Ende der Apartheid wurden südafrikanische Künstler rasch in den USA und in Großbritannien bekannt. Ihre Kunst ist oft politisch und gesellschaftskritisch, so das Werk von Tracey Rose, das auch Performance- und Videokunst umfasst. Marlene Dumas experimentiert mit der menschlichen Gestalt und setzt sich dabei mit dem Konflikt zwischen Weiß und Schwarz auseinander. === UNESCO-Welterbe === === Feiertage === In Südafrika gibt es folgende gesetzliche Feiertage. Sollte einer dieser Tage auf einen Sonntag fallen, ist der darauf folgende Montag ein Feiertag. === Sport === In Südafrikas Sport lässt sich, wie in nahezu allen anderen öffentlichen Bereichen, eine Trennung in ethnische Gruppen beobachten. Die mit Abstand populärste Sportart unter der schwarzen Bevölkerung ist Fußball. Da auch Weiße die Sportart auf hohem Niveau ausüben, war Fußball während der Zeit der Apartheid weniger stark von den ethnischen Abgrenzungen betroffen als beispielsweise das Rugby. Die Südafrikanische Fußballnationalmannschaft, von den Fans Bafana Bafana (von isiZulu: „unsere Jungs“) genannt, konnte sich seit dem Ende der Apartheid und der Wiederaufnahme in die FIFA zweimal für die Endrunde um die Fußball-Weltmeisterschaft qualifizieren (1998 und 2002). Nach einem erfolglosen Bewerbungsversuch erhielt das Land als erste afrikanische Nation den Zuschlag für die Ausrichtung der WM 2010, bei der die Mannschaft allerdings als erster Gastgeber bereits in der Vorrunde ausschied. Ein weiterer Erfolg der Fußball-Nationalmannschaft ist der Gewinn der Afrikameisterschaft im Jahr 1996. Danach war Südafrika noch Gastgeber des Afrika-Cups 2013, bei dem man das Viertelfinale erreichte. Als etwas erfolgreicher gilt die Südafrikanische Fußballnationalmannschaft der Frauen, bekannt unter dem Spitznamen Banyana Banyana (von isiZulu: „unsere Mädchen“). Die wichtigste Sportart der Weißen ist Rugby Union, gefolgt von Cricket. Während der Apartheid waren diese beiden Sportarten nahezu ausschließlich der weißen Minderheit vorbehalten. Rugby ist bei den Afrikaanern besonders beliebt, während Cricket auch heute traditionell eher von den englischsprechenden Weißen gespielt wird. Die größten sportlichen Erfolge der Springboks, wie die Rugby-Nationalmannschaft genannt wird, waren die Gewinne der Rugby-Union-Weltmeisterschaften 1995 im eigenen Land, 2007 in Frankreich und 2019 in Japan sowie die Gewinne der Tri-Nations-Turniers bzw. der Rugby Championship in den Jahren 1998, 2004, 2009 und 2019. Die Springboks waren während der Apartheid aufgrund ihres Ausschlusses nicht-weißer Spieler ein Symbol für die Rassentrennung, wurden aber während der Weltmeisterschaft 1995 zu einem Teil des Neuen Südafrikas, als der damalige Präsident Nelson Mandela das Endspiel in einem Springbok-Trikot verfolgte. Die nationale Rugby-Meisterschaft ist der Currie Cup, vier Mannschaften spielen in der internationalen Liga United Rugby Championship. Nach Fußball und Rugby ist Cricket die drittbeliebteste Sportart in Südafrika. Die Proteas, die südafrikanische Cricket-Nationalmannschaft, sind nach den Springboks die international erfolgreichste Mannschaft Südafrikas. Südafrika erhielt 1889, als drittes Land überhaupt, vom Weltverband ICC Teststatus verliehen, was zur Teilnahme an der angesehensten Stufe des Crickets berechtigt. Wie im Rugby wurde Südafrika während der Apartheid auch im Cricket international boykottiert und kehrte 1992 auf die internationale Bühne zurück. In dem Jahr nahm Südafrika erstmals an der Weltmeisterschaft teil und erreichte das Halbfinale, was seitdem drei weitere Male gelang (1999, 2007 und 2015). 2003 war man zusammen mit Kenia und Simbabwe selbst Gastgeber dieses Turniers, schied jedoch bereits in der Vorrunde aus. Außerdem war Südafrika Gastgeber der World Twenty20 2007, der Champions Trophy 2009 und wird Gastgeber des Women’s T20 World Cup 2023 sein. Im November 2021 wurde Südafrika zusammen mit Namibia und Simbabwe zum Gastgeber des Cricket World Cup 2027 ernannt. Die nationale First-Class-Meisterschaft ist die Sunfoil Series, gefolgt vom List-A-Wettbewerb One-Day Cup und dem Twenty20-Wettbewerb SA20, dem Nachfolger der Ram Slam T20 Challenge. Die südafrikanische Freistilstaffel gewann 2004 überraschend die erste südafrikanische olympische Goldmedaille über die sonst von US-Amerikanern und Australiern dominierte 4 × 100-m-Freistilstrecke in Weltrekordzeit. Sie löste damit in Südafrika einen Schwimmsport-Boom aus. Roland Schoeman, Ryk Neethling und Chad le Clos zählen seither zu den erfolgreichsten Schwimmern des Landes. Special Olympics Südafrika wurde 1991 gegründet und nahm mehrmals an Special Olympics Weltspielen teil. Der Verband hat seine Teilnahme an den Special Olympics World Summer Games 2023 in Berlin angekündigt. Die Delegation wird vor den Spielen im Rahmen des Host Town Programs von Göttingen betreut.Auf dem Grand-Prix-Rundkurs von Kyalami wurde bis 1993 der Große Preis von Südafrika der Formel 1 ausgefahren. Der Fahrer Jody Scheckter gewann 1979 die Weltmeisterschaft. == Siehe auch == == Literatur == Alan Paton: South Africa and Here People. Lutterworth Press, London 1970, ISBN 0-7188-1695-1 Francis Wilson: Migrant Labour. SACC, Johannesburg 1972 Ernst Klimm, Karl-Günther Schneider, Bernd Wiese: Das Südliche Afrika. Republik Südafrika – Swasiland – Lesotho. (= Wissenschaftliche Länderkunden, Bd. 17) Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 1980, ISBN 978-3-534-04132-9 Jörg Fisch: Geschichte Südafrikas. Dtv, München 1990, ISBN 3-423-04550-7. Albrecht Hagemann: Kleine Geschichte Südafrikas. 2. durchgesehene Auflage. Verlag C. H. Beck, München 2003, ISBN 3-406-45949-8. Klemens H. Schrenk: Föderalismus in Südafrika. Historische Entwicklung, gegenwärtige Strukturen und Funktionsweise VDM Verlag, Saarbrücken 2007, ISBN 978-3-8364-2306-9. Martin Pabst: Südafrika. 2. völlig überarbeitete und ergänzte Auflage. Verlag C. H. Beck, München 2008, ISBN 978-3-406-57369-9. Breyten Breytenbach, Robert von Lucius, Scarlett Cornelissen et al.: Südafrika. (PDF; 3,1 MB). In: Aus Politik und Zeitgeschichte, 1/2010. Dana de la Fontaine, Franziska Müller, Claudia Hofmann, Bernhard Leubolt (Hrsg.): Das politische System Südafrikas. VS Springer Verlag, Wiesbaden 2017, ISBN 978-3-531-19067-9 Johannes Dieterich: Südafrika. Ein Länderporträt. Ch. Links Verlag, Berlin 2017, ISBN 978-3-86153-945-2. Robert Kappel, Heinrich Matthee, Martin Pabst, Klaus von der Ropp; Renate Wilke-Launer: Blickpunkt Südafrika. Südafrika 25 Jahre nach dem Ende der Apartheid – Wohin steuert die Republik am Kap der Guten Hoffnung? In: Deutsche Gesellschaft für die Vereinten Nationen (Hrsg.): Blaue Reihe. Nr. 117, 2019, ISSN 1614-547X (PDF 0,9 MB). Sara Dehkordi: Segregation, Inequality, and Urban Development. Forced Evictions and Criminalisation Practices in Present-Day South Africa. transcript, Bielefeld 2020, ISBN 978-3-8376-5310-6, zum Download (PDF; 9 MB). Christoph Marx: Südafrika. Geschichte und Gegenwart. 2. erw. Auflage, Verlag W. Kohlhammer, Stuttgart 2022 == Weblinks == === Staatliche Institutionen in Südafrika === www.gov.za – Südafrikanische Regierung (englisch) South Africa Yearbook. Offizielle Länderberichte, herausgegeben vom Government Communication and Information System (GCIS) der Südafrikanischen Regierung (englisch) South African Government: The Constitution of the Republic of South Africa. Verfassung der Republik Südafrika (englisch); als PDF auf der Webpräsenz des Justizministeriums (online) Statistics South Africa: Zusammenfassung der Ergebnisse der Volkszählung von 2011 (PDF; 1,72 MB) (englisch) Minerals, energy and geology. In: South Africa Yearbook, 2004/05 (Bericht über die mineralischen Rohstoffe und Energiesituation in Südafrika) === Landesprofil bei Ministerien deutschsprachiger Staaten === Auswärtiges Amt (D): Südafrika. auf www.auswaertiges-amt.de. Bundesministerium für europäische und internationale Angelegenheiten (A): Länderspezifische Reiseinformation: Südafrika (Republik Südafrika). auf www.bmeia.gv.at. Eidgenössisches Departement für auswärtige Angelegenheiten (CH): Südliches Afrika. auf www.eda.admin.ch. === Internationale Links === United Nations: United Nations Statistics Division. South Africa. auf www.data.un.org (englisch). The World Bank: Countries. South Africa. auf www.worldbank.org (englisch). US-Government: CIA World Fact Book. South Africa. auf www.cia.gov (englisch). Electoral Institute for Sustainable Democracy in Africa: African Democracy Encyclopaedia Project: South Africa. auf www.eisa.org (englisch). WHO: South Africa. auf www.afro.who.int (englisch, französisch, portugiesisch). UNHCR: South Africa. auf www.unhcr.org (englisch). Minority Rights Group International: South Africa. auf www.minorityrights.org (englisch). UNCTAD: Catalogue of Diversification Opportunities 2022. South Africa. auf www.unctad.org (PDF, englisch). === Weitere Weblinks === Länderprofil des Statistischen Bundesamtes SAHO. South African History Online. auf www.sahistory.org.za (englisch) Laufend aktualisiertes Dossier zu neuer und alter Musik in Südafrika auf www.norient.com (englisch) South African Newspapers. Curlie-Plattform www.curlie.org (englisch) == Einzelnachweise ==
https://de.wikipedia.org/wiki/S%C3%BCdafrika
Moskau
= Moskau = Moskau (russisch Москва́ [mɐskˈva] , Moskwa) ist die Hauptstadt der Russischen Föderation. Mit rund 13 Millionen Einwohnern (Stand 2021) ist sie die größte Stadt sowie mit 15,1 Millionen Einwohnern (2012) die größte Agglomeration Europas. Die Stadt liegt an der Moskwa im Westen des Landes. Moskau ist das politische, wirtschaftliche, wissenschaftliche und kulturelle Zentrum Russlands, mit Universitäten und Instituten sowie zahlreichen Kirchen, Theatern, Museen und Galerien. Im Stadtgebiet befinden sich einige der höchsten europäischen Hochhäuser und die markanten Sieben Schwestern sowie der 540 Meter hohe Ostankino-Turm, das höchste Bauwerk Europas. Moskau ist Sitz der Russisch-Orthodoxen Kirche, der Patriarch residiert im Danilow-Kloster, das größte russisch-orthodoxe Kirchengebäude ist die Moskauer Christ-Erlöser-Kathedrale. Es gibt im Stadtgebiet von Moskau über 300 Kirchen.Der Kreml und der Rote Platz im Zentrum Moskaus stehen seit 1990 auf der UNESCO-Liste des Weltkulturerbes. Mit acht Fernbahnhöfen, vier internationalen Flughäfen und drei Binnenhäfen ist die Stadt wichtigster Verkehrsknoten und größte Industriestadt Russlands. == Geographie == === Geographische Lage === Moskau befindet sich im europäischen Teil Russlands, im Durchschnitt 156 Meter über dem Meeresspiegel im Hügelland zwischen Oka und Wolga und an den zum Teil steilen Ufern der namensgebenden Moskwa, einem Nebenfluss der Oka, die wiederum in die Wolga mündet. Die Moskwa durchquert das Stadtgebiet in Mäandern von Nordwest nach Südost auf einer Länge von circa 80 Kilometern. Innerhalb Moskaus beträgt die Breite des Flusses 120 bis 200 Meter. Ungefähr 120 kleine Flüsse strömen der Moskwa zu. Mit Ausnahme von 14 wurden sie alle in unterirdische Rohrsysteme verlegt. Der 1937 fertiggestellte, 128 Kilometer lange Moskau-Wolga-Kanal, der im Westen der Stadt in Richtung Norden abzweigt, sorgt für die schiffbare Verbindung des Flusses zum Iwankowoer Stausee beziehungsweise zur Wolga. Die Stadtgrenze bildet, mit wenigen Ausnahmen, der 1962 angelegte, 109 Kilometer lange äußere Autobahnring (MKAD). Das Stadtgebiet hat eine Fläche von 2511 Quadratkilometern. Die Grünflächen machen etwa ein Drittel des Stadtgebietes aus. Dazu gehören circa 100 Parks und über 800 gepflegte Anlagen, bereichert durch ungefähr 500 Teiche. Um die Stadt zieht sich ein 30 bis 40 Kilometer langer Stadtwaldgürtel mit zahlreichen Erholungs- und Vergnügungseinrichtungen. Die Fläche des Stadtwaldgürtels beträgt 1725 Quadratkilometer. Das größte Waldgebiet stellt mit über 120 Quadratkilometern der Nationalpark Lossiny Ostrow (zu deutsch: „Elchinsel“) im Nordosten der Stadt dar, das zweitgrößte ist der Bitza-Park am südwestlichen Stadtrand. === Verwaltungsgliederung === Moskau ist Verwaltungssitz der Oblast Moskau, welche den Großraum Moskau ohne die Stadt selbst umfasst. Innerhalb des Föderationskreises Zentralrussland ist Moskau ein eigenständiges Föderationssubjekt. Während die Oblast Moskau in 36 Rajons und 36 Stadtkreise unterteilt ist, gliedert sich die Stadt selbst in 12 Verwaltungsbezirke (russisch administratiwny okrug). Diese bestehen wiederum aus insgesamt 146 Stadtteilen (bei den vor 2012 bestehenden Verwaltungsbezirken ebenfalls Rajon genannt, bei den zwei 2012 hinzugekommenen Verwaltungsbezirken Posselenije, wörtlich „Siedlung“, in Sinne einer „Gemeinde“). Die meisten Stadtteile (Rajons) bestehen inoffiziell aus zwei oder mehreren kleineren Ortsteilen, was meist historisch bedingt ist. 2011 wurde eine Änderung der Struktur von Stadt und Oblast beschlossen; die russische Regierung gab Pläne bekannt, die Fläche der Stadt um das Anderthalbfache zu vergrößern. Die Eingemeindung eines großen Gebietes südwestlich der Metropole, bis zur Grenze mit der Oblast Kaluga, wurde zum 1. Juli 2012 vollzogen. Neben den Stadtkreisen um die gleichnamigen Städte Troizk und Schtscherbinka wurden der Stadt Moskau Teile der Rajons Leninski (mit der Stadt Moskowski), Naro-Fominsk und Podolsk unterstellt. Hierfür wurden die zwei neuen Verwaltungsbezirke Nowomoskowski und Troizk geschaffen. Für die beiden Bezirke wurde ein (vorläufig) gemeinsamer Präfekt ernannt. In dem Gebiet sollen neue Regierungsgebäude, ein modernes Finanzzentrum und Wohnungen für Millionen Menschen entstehen. Moskaus Bürgermeister Sergei Sobjanin kündigte auf einer Pressekonferenz am 1. Juli 2012 an, die Erweiterung werde der „Mega-City“ von 20 Millionen Menschen helfen, sich „harmonisch“ zu entwickeln.Jeder der Verwaltungsbezirke hat einen Präfekten (die zwei neuen Bezirke einen gemeinsamen), der dem Moskauer Bürgermeister direkt unterstellt ist. Die Präfekten werden vom Bürgermeister ernannt. Jeder der Verwaltungsbezirke hat ein eigenes Parlament, das aus elf gewählten Abgeordneten besteht. Die Verwaltungsbezirke von Moskau sind: Anmerkungen: 2002 gehörten zum Föderationskreis Moskau noch die keinem Verwaltungsbezirk der Stadt Moskau unterstellten Siedlungen städtischen Typs Nekrassowka (7.803 Einwohner), Wnukowo (20.100) und Wostotschny (12.700). Mittlerweile wurden die drei Siedlungen entsprechend dem Südöstlichen, Westlichen und Östlichen Verwaltungsbezirk unterstellt. Bei der Berechnung des Zuwachses wurden die Einwohnerzahlen der Siedlungen berücksichtigt. Für die zum 1. Juli 2012 geschaffenen Verwaltungsbezirke Nowomoskowski und Troizki ist für die Volkszählung 2010 aus den Einwohnerzahlen der jeweiligen – zu dem Zeitpunkt noch zur Oblast Moskau gehörenden Stadtkreise und Landgemeinden – berechnete Summe angegeben. 2002 existierten die Stadtkreise und Landgemeinden in der Form noch nicht. === Klima === Moskau befindet sich mit seinem vollhumiden Klima in der kühlgemäßigten Klimazone mit Kontinentalklima. Die durchschnittliche Jahrestemperatur beträgt 5,4 Grad Celsius, der Jahresniederschlag liegt bei etwa 700 Millimetern. Der meiste Niederschlag fällt im Juli (90 Millimeter), der wenigste im März (33 Millimeter). Im Winter beträgt die Temperatur in Moskau meist −4 bis −10 Grad Celsius, manchmal werden aber auch Temperaturen unter −20 Grad Celsius gemessen. Recht oft herrscht aber auch Tauwetter. Die Winde sind mäßig, die Luft ist trocken. Der Windchill-Faktor ist deshalb relativ niedrig. Stärkere Fröste sind also verhältnismäßig leicht zu ertragen. Im Sommer beträgt die durchschnittliche Temperatur zwischen 17 und 19 Grad. Das Moskauer Temperaturmittel beträgt im Dezember −5,4, im Januar −7,5 und im Februar −6,7 Grad Celsius. Der Sommer in der Hauptstadt ist in der Regel warm und sonnig, mitunter aber auch sehr heiß – Temperaturen von über 35 Grad Celsius sind keine Seltenheit. Die langjährige Durchschnittstemperatur beträgt im Juni 17,1, im Juli 18,4 und im August 16,4 Grad Celsius. Im Frühling beträgt die Durchschnittstemperatur im März −1,4, im April 6,3 und im Mai 12,8 Grad Celsius. Im Herbst liegt die Durchschnittstemperatur im September bei 10,8, im Oktober bei 5,0 und im November bei −1,6 Grad Celsius. Die Schneeschmelze in der Stadt beginnt nach Berechnungen Moskauer Phänologen um den 16. März, der Eisbruch auf der Moskwa um den 12. April. Mit den ersten Gewittern ist um den 2. Mai zu rechnen, mit den ersten Nachtfrösten um den 14. September, und dem ersten Schneefall um den 28. Oktober. Die Moskwa friert um den 18. November wieder zu. Eine feste Schneedecke bildet sich um den 23. November. In Moskau sind die Klimaverhältnisse in der Innenstadt, den Vororten und erst recht in der Umgebung unterschiedlich. In der Innenstadt ist es trockener und wärmer. In den Vororten ist die durchschnittliche Temperatur um 2–3 Grad Celsius niedriger als im Stadtzentrum. Die höchste Temperatur wurde offiziell am 29. Juli 2010 mit 39,0 Grad Celsius in der Moskauer Innenstadt gemessen, die niedrigste am 17. Januar 1940 mit −42,2 Grad Celsius.Modellrechnungen zu den Folgen des Klimawandels aus dem Jahr 2019 ergeben, dass Moskau bereits bei Eintritt des als optimistisch eingeschätzten RCP4.5-Szenarios in eine andere Klimazone verlagert werden würde. Demnach wäre das Klima in Moskau bereits im Jahr 2050 dem bisherigen Klima im deutlich südlicher gelegenen bulgarischen Sofia ähnlicher als dem derzeitigen in Moskau. == Demographie == === Ethnische Gruppen === Insgesamt leben heute in Moskau Angehörige von mehr als 100 Nationalitäten und Ethnien. 84,83 % der Einwohner waren bei der Volkszählung 2002 ethnische Russen. Größte ethnische Minderheiten waren: Ukrainer (2,44 %), Tataren (1,60 %), Armenier (1,20 %), Aserbaidschaner (0,92 %), Juden (0,76 %, in der Moskauer Statistik sowohl als ethnische wie auch als religiöse Gruppe kategorisiert), Belarussen (0,57 %), Georgier (0,52 %), Moldawier (0,35 %), Tadschiken (0,34 %), Usbeken (0,23 %), Mordwinen (0,22 %), Tschuwaschen (0,16 %), Vietnamesen (0,15 %), Tschetschenen (0,14 %), Chinesen (0,12 %), Osseten (0,10 %), Koreaner (Korjo-Saram) (0,08 %), Kasachen (0,08 %), Paschtunen (0,06 %), Baschkiren (0,06 %) und Deutsche (0,05 %). Allerdings ist der Zustrom illegaler Zuwanderer aus dem Gebiet der ehemaligen Sowjetunion nicht erfasst. Zudem halten sich in der Stadt regelmäßig Saisonarbeiter auf, die Moskau in der Regel nach einigen Monaten wieder verlassen. Fremdenfeindlichkeit gibt es begrenzt gegen „Schwarze“, nach russischem Duktus Menschen mit dunkler Haarfarbe, worunter vor allem Immigranten sowohl aus dem Kaukasus als auch aus den ehemaligen Sowjetrepubliken Zentralasiens subsumiert werden. Der Terror einzelner Tschetschenen in Moskau gilt als Ursache für stärkere Feindlichkeit den Einwanderern gegenüber. === Religionen === Das Christentum ist die dominierende Religion in Moskau, wobei die Mehrheit der Christen der Russisch-orthodoxen Kirche angehört. Andere in Moskau verbreitete Religionen sind Islam, Buddhismus und Judentum. Um das Jahr 2008 lebten in Moskau 410.000 Muslime. Die älteste Moschee ist die Moskauer Historische Moschee. Sie wurde 1823 zum Dank für den Heldenmut, den die tatarischen und baschkirischen Regimenter während des Vaterländischen Krieges von 1812 gezeigt hatten, in der tatarischen Vorstadt errichtet und 1993 wiedereröffnet. Die zweite Moschee Moskaus war die Dschuma-Moschee bzw. Freitagsmoschee, die 1904 mit den Mitteln des reichen tatarischen Kaufmanns Salih Ersin erbaut wurde. 2011 wurde sie zerstört und durch einen Neubau ersetzt, der am 23. September 2015 eröffnet wurde. Eine weitere wichtige Moschee ist die Memorial-Moschee, die zwischen 1995 und 1997 im Westlichen Verwaltungsbezirk erbaut wurde. Alle drei Moscheen gehören zum Jurisdiktionsbereich der „Geistlichen Verwaltung der Muslime des europäischen Teils von Russland“ (Duchownoje uprawlenije Musulman ewropejskoj tschasti Rossii; DUMER), die von Mufti Rawil Ismagilowitsch Gainutdin geleitet wird. Er ist auch Vorsitzender des Russischen Muftirates, der in Moskau seinen Sitz hat. == Geschichte == === Ursprung === Eine der Sagen kündet davon, dass der Fürst Juri Dolgoruki (1090–1157) im Land der Wjatitschen eine hölzerne Stadt zu errichten befahl, und dass diese Stadt nach dem Fluss benannt wurde, an dessen Ufern sie emporwuchs. Die erste schriftliche Erwähnung Moskaus stammt aus dem Jahre 1147, das darum als Gründungsjahr gilt, doch schon lange davor gab es an der Stelle, wo heute Moskau steht, menschliche Niederlassungen. Archäologische Ausgrabungen bezeugen, dass die ältesten von ihnen vor etwa 5000 Jahren entstanden sind. Um 1156 entstand eine erste, noch hölzerne Wehranlage des Kremls, in deren Schutz sich der Marktflecken allmählich zu einer beachtlichen Ansiedlung entwickelte. Am 20. Januar 1238 wurde die Stadt im Zuge der mongolischen Invasion der Rus von Truppen der Goldenen Horde unter Batu Khan erobert und niedergebrannt. 1263 wurde das Umland zu einem Teilfürstentum im Großfürstentum Wladimir-Susdal, wenig später unter Fürst Daniel Alexandrowitsch ein eigenständiges Fürstentum. In der ersten Hälfte des 14. Jahrhunderts, als die Stadt bereits 30.000 Einwohner zählte, erkannte der tatarische Großkhan Usbek Khan den Moskauer Großfürsten Iwan Kalita als – ihm allerdings tributpflichtiges – Oberhaupt von Russland an. 1321 hatte der Metropolit der Russisch-Orthodoxen Kirche seinen Sitz von Wladimir nach Moskau verlegt, was dazu führte, dass Moskau auch die geistliche Vormachtstellung in Russland übernahm. Der Sieg über die Tataren in der Schlacht von Kulikowo am 8. September 1380, angeführt durch den Moskauer Großfürsten Dmitri Donskoi, befreite die Stadt zwar nicht von der Hegemonie der Goldenen Horde, und 1382 wurde Moskau erneut von den mongolischen Truppen unter Toktamisch niedergebrannt und geplündert. Doch die Stadt festigte dadurch ihr politisches und militärisches Ansehen erheblich und gewann beständig an wirtschaftlicher Macht. Der Moskauer Großfürst Wassili I. Dmitrijewitsch, ältester Sohn von Dmitri Donskoi, verweigerte zunächst die Anerkennung der Tatarenherrschaft. Daraufhin stand am 5. Dezember 1408 erneut eine mongolische Streitmacht unter Führung von Edigü vor den Toren Moskaus. Diesmal konnten die Mongolen die Stadt nicht einnehmen und zogen sich nach einer drei Wochen andauernden Belagerung mit 3000 Rubeln Lösegeld zurück, dennoch geriet Wassili I. Dmitrijewitsch in politische Schwierigkeiten und reiste 1412 in die Horde, um vom gerade regierenden Khan Gelal-ed-Din als russischer Großfürst bestätigt zu werden. 1480 konnte Moskau die Tatarenherrschaft endgültig abschütteln und wurde zur Hauptstadt des russischen Reiches. Der seit 1462 regierende Großfürst von Moskau Iwan III., der Große (1440–1505), heiratete 1472 die byzantinische Prinzessin Sofia (Zoe) Palaiologos, eine Nichte des letzten oströmischen Kaisers Konstantin XI. Palaiologos, denn nach der Eroberung Konstantinopels durch die osmanischen Türken hatte das Byzantinische Reich aufgehört zu existieren, und übernahm von dort die autokratische Staatsidee und ihre Symbole: den Doppeladler und das Hofzeremoniell. Seither gilt Moskau als „Drittes Rom“ und Hort der Orthodoxie. === Moskau wird Großstadt === In den beiden letzten Jahrzehnten des 15. Jahrhunderts begann der Ausbau des Kreml, in dessen Umkreis sich nun in großer Zahl Handwerker und Kaufleute niederließen. Die Einwohnerzahl stieg bald darauf auf mehr als 100.000, so dass um 1600 eine Ringmauer um Moskau und eine Erdverschanzung hinzukamen, die die blühende Stadt fortan nach außen abschirmten. 1571 war sie ein letztes Mal von den Tataren heimgesucht worden, als die überwiegend aus Holz gebaute Stadt abbrannte. Bereits ein Jahr später war die Tatarengefahr in der Schlacht von Molodi südlich von Moskau aber endgültig gebannt. In der Zeit der Wirren, die durch unklare Thronfolgeverhältnisse ausgelöst wurde, rückten polnische Truppen Ende Juli 1610 im Laufe des Polnisch-Russischen Krieges 1609–1618 in die Stadt und versuchten, eigene Marionetten zu installieren. Eine Volksarmee, die im Januar 1611 von bedeutenden russischen Städten wie Nischni Nowgorod, Wologda etc. aufgestellt wurde, belagerte die Polen jedoch im Moskauer Kreml und zwang sie am 25. Oktober 1612 vor dem von Kusma Minin und Dmitri Poscharski angeführten Landwehraufgebot zur Kapitulation. Diese Ereignisse ebneten den Weg für die Romanow-Dynastie auf den russischen Thron. Während die ersten Tuch-, Papier- und Ziegelmanufakturen, Glasfabriken und Pulvermühlen entstanden, kulminierten die sozialen Gegensätze des Großreiches: 1667 erhoben sich die Bauern im Wolga- und Dongebiet gegen die wachsende Unterdrückung, ihr Führer, Stepan Rasin, wurde 1671 auf dem Roten Platz in Moskau hingerichtet. Im Jahre 1687 ist die erste Hochschule Russlands, die „Slawisch-Griechische Akademie“ eröffnet worden, 1703 erschien die erste gedruckte russische Zeitung „Wedomosti“. Im Jahre 1712 ging unter Zar Peter dem Großen (1672–1725) das Privileg der Hauptstadt auf das neu gegründete Sankt Petersburg über, aber Moskau blieb das wirtschaftliche und geistig-kulturelle Zentrum des Landes. 1755 wurde in Moskau mit der heutigen Lomonossow-Universität die erste russische Universität eröffnet. 1771 erlebte Moskau während der Moskauer Pestrevolte gewalttätige Aufstände und verlor die Hälfte seiner Bevölkerung. Mit dem Moskau des 18. Jahrhunderts ist das Schaffen hervorragender russischer Schriftsteller und Dichter verknüpft wie Alexander Sumarokow, Denis Fonwisin, Nikolai Karamsin und vieler anderer. In Moskau trat der große russische Gelehrte Michail Lomonossow seinen Weg in die Wissenschaft an. Auch in späteren Zeiten lebten und wirkten in Moskau viele berühmte russische Schriftsteller und Dichter, Wissenschaftler und Künstler, die durch ihr Schaffen nicht nur zur russischen, sondern auch zur Weltkultur einen immensen Beitrag geleistet haben. Im Vaterländischen Krieg von 1812, als Napoleon Bonaparte mit seiner „Großen Armee“ in Moskau einmarschierte, verlor die Stadt in einem Flächenbrand – die Bewohner zündeten ihre Häuser an und flohen aus der Stadt – zwei Drittel ihrer Bausubstanz. Durch die daraus resultierende schlechte Versorgungslage war die französische Armee rund einen Monat später jedoch zum Rückzug gezwungen, der mit ihrem Untergang in der Schlacht an der Beresina endete. Der im Frühjahr 1813 einsetzende großstilige Wieder- und Neuaufbau sprengte rasch den alten städtischen Verteidigungsring und verschaffte der Stadt von der Mitte des 19. Jahrhunderts an durch zügigen Straßen- und Bahnstreckenbau Anschluss an die wichtigsten Städte des Landes. Dennoch fiel Moskau im 19. Jahrhundert endgültig auf den zweiten Platz hinter die damalige Hauptstadt Russlands, Sankt Petersburg, zurück. Nicht nur in puncto Einwohnerzahl überholte das neue Machtzentrum Russlands die alte Hauptstadt Moskau: Sankt Petersburg wurde zum kulturellen und wirtschaftlichen Zentrum des Landes. Während dort prestigeträchtige Bauprojekte der russischen Oberschicht aus dem Boden schossen, war dies in Moskau weit weniger der Fall. Dennoch entwickelte sich auch Moskau massiv. 1890 fuhren die ersten elektrischen Straßenbahnen; die erste Volkszählung des Landes fand am 28. Januar 1897 statt, die Bevölkerung der Stadt war auf etwa eine Million angewachsen, und bis 1914 hatte sie sich verdoppelt. In den letzten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts nahmen die sozialen Spannungen zu. Die Konzentration der Industrie, vornehmlich der Leichtindustrie, war hier, von Sankt Petersburg abgesehen, am weitesten fortgeschritten, die Aufhebung der Leibeigenschaft im Jahre 1861 hatte Zehntausende landloser Bauern zur Lohnarbeit in die Städte getrieben. 1898 wurde in Moskau die Sozialdemokratische Arbeiterpartei Russlands gegründet. Die russische Revolution von 1905 bis 1907 erfasste die Stadt im Dezember 1905, als die Moskauer Arbeiter vom politischen Massenstreik zum bewaffneten Aufstand übergingen. In den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg erlebte die Stadt eine rasante wirtschaftliche und kulturelle Entwicklung, die sich auch in einer regen Bautätigkeit äußerte. 1912 wurde das Kaiser Alexander III.-Museum der schönen Künste eröffnet. 1913 wurde in Moskau feierlich das 300. Jubiläum der Romanow-Dynastie begangen. === Moskau während der Revolution === Nach der Februarrevolution 1917 fand in Moskau im August 1917 die Moskauer Staatliche Versammlung mit Vertretern aller Stände statt. Von August 1917 bis September 1918 fand in Moskau das Russische Kirchenkonzil statt, auf dem das Moskauer Patriarchat wiederhergestellt wurde. Nach der Oktoberrevolution am 25. Oktoberjul. / 7. November 1917greg. in Petrograd organisierten die Bolschewiki auch in Moskau einen bewaffneten Aufstand, dem sich das Komitee für öffentliche Sicherheit widersetzte. Die Kämpfe um Moskau dauerten vom 25. Oktober bis 2. November 1917 und endeten nach dem Eintreffen von Verstärkungen mit dem Sieg der Bolschewiki. Ein letzter Aufstandversuch der konterrevolutionären Kräfte wurde 1919 niedergeschlagen. === Moskau als Hauptstadt der Sowjetunion === Am 12. März 1918 wurde die Hauptstadt des neuen sowjetischen Staates wieder nach Moskau verlegt und die bolschewistische Führung zog in den Kreml, der damit erstmals seit dem frühen 18. Jahrhundert wieder zum russischen Machtzentrum wurde. Am 30. Dezember 1922 ist dort die Sowjetunion gegründet worden. Nach Beendigung des Bürgerkrieges wurde 1925 eine grundlegende Umgestaltung Moskaus in Angriff genommen. 1926 zählte die Stadt wieder zwei Millionen Einwohner und hatte damit wieder Sankt Petersburg, inzwischen in Leningrad umbenannt, überholt. 1935 begann mit dem von Josef Stalin beschlossenen „Generalplan zur Stadterneuerung“ eine komplexe Neugestaltung Moskaus – damals sind die breiten Radialstraßen angelegt und die Moskauer Metro eröffnet worden, über die Moskwa spannte man neue Brücken und baute den Moskau-Wolga-Kanal. Quer durch die Altstadt wurden neue Magistralen geschlagen, zahlreiche historische Baudenkmäler wie der Sucharew-Turm wichen überdimensionierten sowjetischen Prunkbauten. Insbesondere wurden zielgerichtet zahlreiche Kirchen und Klöster zerstört. Etwa 200.000 Bauarbeiter – überwiegend politische Gefangene – waren an der Umsetzung des Generalplans beteiligt. Die vollständige Zerstörung des alten Moskau wurde paradoxerweise nur durch den Zweiten Weltkrieg verhindert, der zur Einstellung der Arbeiten führte. Auch das höchste Gebäude der Welt, der 415 Meter hohe „Palast der Sowjets“, konnte nicht mehr fertiggestellt werden. Anstelle der am 5. Dezember 1931 gesprengten Christ-Erlöser-Kathedrale sollte das gewaltige Politik- und Kulturforum die Überlegenheit des sozialistischen Gesellschaftsmodells zeigen. Zur Ausführung gelangte jedoch nur das Fundament, denn bei Ausbruch des „Großen Vaterländischen Krieges“ wurde das Projekt stillgelegt – und nach dem Krieg nicht wiederaufgenommen. === Der Zweite Weltkrieg === Nach dem Einmarsch der deutschen Wehrmacht am 22. Juni 1941 in die Sowjetunion begann am 30. September des Jahres ihre Offensive auf Moskau. Rund 80 Divisionen, unter ihnen 14 Panzer- und acht mechanisierte Divisionen, sowie hunderte Flugzeuge, tausende Panzer, Geschütze und Granatwerfer wurden gegen die Hauptstadt eingesetzt. In der Nacht vom 21. Juli zum 22. Juli 1941 begann eine Serie von Luftangriffen, die sich bis zum 5. April 1942 hinzog. Adolf Hitler erklärte, er werde in eigener Person die Parade seiner Truppen in Moskau abnehmen. Aus den geplanten Festlichkeiten wurde jedoch nichts. Eine andere Parade fand allerdings am 7. November auf dem Roten Platz statt, die traditionelle Militärparade der sowjetischen Armee. Am 15. November begann eine zweite Offensive der Deutschen, dabei konnten sie bis in einzelne westliche Vororte einrücken. Der sowjetische Gegenangriff begann am 5. Dezember 1941 und schlug die deutsche Armee um 100 bis 300 Kilometer zurück. Die deutsche Luftwaffe flog gegen Moskau 12.000 Einsätze, aber nur ein Teil der Maschinen konnte die Stadt erreichen. In der Schlacht um Moskau verloren die deutschen Truppen 250.000 Mann, 1300 Panzer, 2500 Geschütze, mehr als 15.000 Kraftfahrzeuge und vieles weitere Material. Etwa 700.000 sowjetische Soldaten wurden getötet, verwundet oder vermisst. Dies war die erste große Niederlage der deutschen Wehrmacht gegen die Sowjetunion und allgemein auf dem europäischen Festland, kaum sechs Monate nach dem Beginn des Blitzkrieges gegen die UdSSR. Im Juli 1944 demonstrierte Stalin mit einem Zug von rund 55.000 Kriegsgefangenen durch Moskau seine Überlegenheit.Am 24. Juni 1945 fand auf dem Roten Platz in Moskau die Siegesparade der Roten Armee statt. An der Kremlmauer ruht der Leichnam eines unbekannten Soldaten, der bei der Verteidigung der Hauptstadt fiel. Auf seinem Grabstein wurden die Worte gemeißelt: Dein Name ist unbekannt, deine Heldentat ist unsterblich. === Die Entwicklung nach dem Zweiten Weltkrieg === Moskau wurde nach den Zerstörungen im Krieg wieder aufgebaut. Im Jahre 1947 fasste man den Beschluss, die Stadt an acht ausgewählten Standorten mit Hochhäusern zu versehen. Moskau hatte durch den Abriss zahlreicher Kirchen und Kathedralen sowie die nun allgemein höhere Bebauung nicht nur bedeutende Orientierungspunkte, sondern auch ihre einst malerische Silhouette verloren. Die sowjetische Führung forderte dabei, dass die Gebäude von russischer Architekturtradition geprägt sein müssen. Am 5. März 1953 starb Josef Stalin auf seiner Datscha in Kunzewo bei Moskau. Er wurde zunächst im Mausoleum am Roten Platz neben Lenin aufgebahrt. Im Zuge der beginnenden Entstalinisierung unter Regierungschef Nikita Chruschtschow wurde Stalins Leichnam 1961 aus dem Mausoleum entfernt und an der Kremlmauer beigesetzt. Ein besonders intensives Baugeschehen erlebte Moskau nach dem Jahre 1955. Allein in der Zeitspanne von 1961 bis 1970 machte die Neubaufläche zweieinhalbmal soviel aus wie die Gesamtwohnfläche des ganzen vorrevolutionären Moskau. Das überdurchschnittlich hohe Wachstum der Einwohnerzahl um fast 40 % zwischen den Volkszählungen von 1959 und 1970 ist aber zu einem bedeutenden Teil auch auf die Ausdehnung der Stadtgrenze bis an die Moskauer Ringautobahn am 17. August 1960 zurückzuführen, wodurch die Stadtfläche auf ungefähr das Doppelte und die Bevölkerung um über 750.000 wuchs. Unter anderem wurden dabei die fünf zuvor eigenständigen Städte Babuschkin (113.919 Einwohner 1959), Kunzewo (128.630), Ljublino (86.110), Perowo (143.456) und Tuschino (89.885) und zwölf Siedlungen städtischen Typs mit teils über 20.000 Einwohnern eingemeindet. 1970 war die Einwohnerzahl auf fast sieben Millionen angestiegen. 1980 war Moskau Austragungsort der XXII. Olympischen Sommerspiele. Ende der 1980er-Jahre geriet die sowjetische Wirtschaft immer mehr in eine Krise. Im Zuge der Politik von Präsident Michail Gorbatschow (Perestroika und Glasnost) wurde der wirtschaftliche Niedergang des Landes immer offensichtlicher. Auf einigen Gebieten der Versorgung herrschte großer Mangel. Der Unmut der Bevölkerung entlud sich immer offener. Im August 1991 wollte Gorbatschow einen Vertrag für eine neue Sowjetunion zur Unterschrift vorlegen. Um dies zu verhindern und die alte Union zu retten, initiierten in Moskau einige Generäle, ranghohe Regierungsmitglieder und der KGB-Chef am 19. August desselben Jahres einen Putschversuch gegen den Präsidenten. Nach dessen Scheitern zwei Tage später trat vier Monate danach am 25. Dezember 1991 Gorbatschow von seinem Amt als Präsident zurück. Das Datum markiert gleichzeitig das Ende des ersten kommunistischen Staates. === Nach dem Ende der Sowjetunion === 1992 ließ der ein Jahr zuvor zum Präsidenten Russlands gewählte Boris Jelzin einen Föderationsvertrag unterzeichnen, der den Föderationssubjekten Russlands weitreichende Vollmachten zubilligte. Im September 1993 löste er den Volksdeputiertenkongress Russlands und den Obersten Sowjet auf. Infolgedessen kam es am 3. und 4. Oktober desselben Jahres in Moskau während der Russischen Verfassungskrise erneut zu einem Putschversuch konservativer Politiker und deren Anhänger. Als diese das Weiße Haus (damals Parlamentsgebäude), das Rathaus und den Fernsehturm in Moskau besetzten, ließ Jelzin den Aufstand mit Gewalt (190 Tote) niederschlagen, um so einen Verfassungskonflikt zu seinen Gunsten zu entscheiden.Am 12. Dezember 1993 verabschiedete das Volk eine neue Verfassung und gleichzeitig fanden erstmals freie Wahlen mit mehreren konkurrierenden Parteien statt. Vom 5. bis 7. September 1997 feierte die Stadt mit insgesamt 450 Veranstaltungen den 850. Jahrestag ihrer Gründung. Im Jahre 1999 wurde Moskau von den verheerendsten Terroranschlägen seiner Geschichte erschüttert. Am 8. September führte ein Bombenattentat auf ein neunstöckiges Wohnhaus an der Gurjanow-Straße zu 95 Toten und 264 Verletzten. Am 13. September kamen bei einem Anschlag auf ein neunstöckiges Wohnhaus an der Kaschirskoje-Chaussee 121 Menschen ums Leben, neun wurden verletzt. Die Urheberschaft der Anschläge konnte bis heute nicht geklärt werden. Während die Regierung tschetschenische Terroristen verantwortlich macht, beschuldigen Kritiker des russischen Präsidenten Geheimdienstagenten, die Bomben in den Hauskellern deponiert zu haben.Am 19. August 2000 wurde die 1931 gesprengte Christ-Erlöser-Kathedrale, der größte russisch-orthodoxe Kirchenbau der Welt, wiedereröffnet. Anfang September 2002 musste in einigen Bezirken Moskaus der Notstand ausgerufen werden; der in die Stadt eingedrungene Rauch von mehreren Hundert Wald- und Torfbränden in der Umgebung brachte das öffentliche Leben in Moskau zeitweise zum Erliegen. 2001 wurde der erste Wolkenkratzer im neuen Hochhaus-Stadtviertel Moskau City fertiggestellt, 2003 wurden auch die Arbeiten am Dritten Verkehrsring der Stadt abgeschlossen. Am 23. Oktober 2002 stürmte ein Kommando von 41 tschetschenischen Geiselnehmern, unter ihnen 19 Frauen, das Dubrowka-Theater während der Aufführung des Musicals „Nord-Ost“ und brachte rund 800 Zuschauer, Musiker und Schauspieler in seine Gewalt. Den Überfall leitete der tschetschenische Rebell Mowsar Barajew, als Organisator gilt der Feldkommandeur Schamil Bassajew. Bei der Erstürmung durch russische Sonderpolizeieinheiten kamen 170 Menschen, darunter 129 Geiseln, nach dem Einsatz eines Kampfgases ums Leben.Bei einem Anschlag auf jugendliche Teilnehmer eines Rockfestivals nahe dem Moskauer Flugplatz Tuschino kamen am 5. Juli 2003 einschließlich der Selbstmordattentäterinnen 16 Menschen ums Leben. Am 6. Februar 2004 wurden bei einem Bombenanschlag auf eine voll besetzte Metro in der Nähe der Station Awtosawodskaja 39 Menschen getötet und 140 verletzt.Im März 2010 ereigneten sich zwei weitere Selbstmordanschläge in der Moskauer Metro, bei denen 40 Fahrgäste ums Leben kamen. Laut der Forbes-Liste der World’s Most Expensive Cities To Live von 2009 gilt Moskau als eine der teuersten Städte der Welt.Die von Präsident Dmitri Medwedew schon im Jahre 2010 eingeleiteten Planungen zur Stadterweiterung Moskaus und Verlegung der Behörden an die Peripherie lösten in den Behörden und der Öffentlichkeit eine breite Diskussion aus, die in Vorschlägen über eine Verlagerung des Regierungssitzes in die geographische Mitte Russlands nach Sibirien gipfelten. Moskaus Bürgermeister Sergei Sobjanin bezeichnete diese Pläne zwar als absurd, denn Moskau könne aus politischen und praktischen Gründen nicht auf seine historische Hauptstadtrolle verzichten, es blieb aber der Gedanke, einige Hauptstadtfunktionen nach St. Petersburg und in Großstädte in anderen Regionen zu verlagern. Beim Terroranschlag am Flughafen Moskau-Domodedowo am 24. Januar 2011 wurden 36 Menschen getötet.Am 1. Juli 2012 wurde die Stadterweiterung Moskaus durch Eingemeindung von Bezirken im Südwesten der Hauptstadt tatsächlich vollzogen. Dadurch wurde Moskau zu einer flächenmäßig gigantischen Metropole, deren Außenbezirke nur noch der Füllung mit Menschen, der Einrichtung von Infrastruktur und Ansiedlung von Regierungsbehörden, Geschäfts- und Wohnzentren bedürfen. Gegen die Versetzung in die neuen Gebiete leisten die Beamten der Ministerien bisher erheblichen Widerstand, so dass bei der Umsetzung des Großprojekts „Neu-Moskau“ wenn nicht mit dem Scheitern, so doch mit erheblichen Verzögerungen zu rechnen ist.Im Sommer 2019 kam es zu Protesten in Moskau, nachdem Oppositionelle an der Teilnahme bei der Wahl zur Moskauer Staatsduma nicht zugelassen worden waren. === Einwohnerentwicklung === Moskau ist von alters her Anziehungspunkt für Ausländer. Die ersten Ansiedlungen wurden von angereisten Kaufleuten, Handwerkern, Lehnsleuten und deren Nachkommen schon im 16. Jahrhundert gegründet. Die deutsche Ansiedlung am Jausa-Ufer war die größte davon. Aber auch Menschen aus anderen Teilen Europas lebten dort. Damals hatte die Stadt etwa 100.000 Einwohner. Bei der Volkszählung 2002 waren es mit zehn Millionen einhundertmal so viel. Von der ethnischen Vielfalt der Bevölkerung in Moskau zeugen die alten Ortsnamen des kompakten Ansiedelns der nichtrussischen Völkerschaften. Die folgende Übersicht zeigt die Einwohnerzahlen nach dem jeweiligen Gebietsstand. Bei den Zahlen für 1897, 1926, 1939 und von 1959 bis 2010 handelt es sich um Volkszählungsergebnisse, bei anderen früheren um Schätzungen oder Berechnungen und für 2017 um eine Berechnung des Föderalen Dienstes für staatliche Statistik Russlands. Die Einwohnerzahlen beziehen sich auf die registrierten Bewohner mit Hauptwohnsitz in Moskau. Die Zahlen sind insofern ungenau, dass in Moskau eine größere Anzahl von Menschen ohne Registrierung lebte und lebt. Zum einen gibt es in Moskau „Illegale“ aus den übrigen postsowjetischen Staaten, zum anderen durfte und darf nicht jeder Bürger der UdSSR beziehungsweise heute der Russischen Föderation ohne bestimmte Voraussetzungen in Moskau wohnen; dies war und ist mit gewissen, nicht für alle überwindbaren, bürokratischen Hürden verbunden. == Politik == === Stadtregierung === Da Moskau Sitz des Präsidenten und seiner Präsidialverwaltung, der Föderationsregierung sowie zahlreicher Ministerien und Behörden ist, ist die Politik der Stadtverwaltung Moskaus naturgemäß geprägt von Koexistenz, aber auch von Konflikten mit dem Kreml und der Regierung. Dies ist seit langer Zeit eine Konstante der Politik in der Hauptstadt Russlands. Der latente Konflikt wird verstärkt, wenn das Stadtoberhaupt Ambitionen auf die Führung des Staates anmeldet – oder sie ihm nachgesagt werden. Die wichtigsten Akteure in diesem Konflikt sind einmal der Präsident und der Ministerpräsident von Russland mit den vielen Beamten und Staatsbediensteten sowie auf der anderen Seite der Bürgermeister Moskaus und die zahlreichen Mitarbeiter der Stadtverwaltung. Die Stadtverwaltung übt die Exekutivmacht (ausführende Gewalt) in Moskau aus, die aus der Regierung der Stadt und dem Oberbürgermeister besteht. Letzterer wird zusammen mit dem Vizebürgermeister auf Vorschlag des Staatspräsidenten vom Stadtparlament gewählt. Die Legislative (gesetzgebende Gewalt) wird von der Stadtduma Moskaus gestellt. Diese besteht aus insgesamt 45 Abgeordneten und überwacht in ihrer Funktion den Bürgermeister. Die Wähler in Moskau, die etwa zehn Prozent der gesamten Wählerschaft Russlands ausmachen, stimmten bei Wahlen seit Anfang der 1990er-Jahre in der Regel stärker für liberale oder sozialliberale Parteien der Opposition, als der restliche Teil des Landes. Eine Ausnahme von diesem Trend waren die überwältigenden Wahlergebnisse für den bis September 2010 amtierenden Bürgermeister Juri Luschkow von über 70 Prozent. Dabei wurde Luschkow trotz seiner pragmatischen Wirtschafts- und Investitionspolitik in Richtung Westeuropa nicht als liberal betrachtet. Bei den Wahlen in das Stadtparlament Ende 2005 errang die „Partei der Macht“, Einiges Russland, eine absolute Mehrheit. Im September 2010 unterzeichnete der russische Präsident ein Dekret zur Entlassung des Bürgermeisters Luschkow. Sein Nachfolger Sergei Sobjanin wurde am 21. Oktober 2010 von der Abgeordnetenkammer gewählt und bei der Oberbürgermeisterwahl 2013 vom Volk bestätigt. Im September 2017 gingen die Kommunalwahlen in Moskau „vergessen“, die Bewohner wurden nicht informiert. Eine hohe Wahlbeteiligung war nicht im Interesse der Regierung, sie betrug schließlich unter 15 Prozent. Die Opposition errang in einigen Stadtkreisen gar die Mehrheit. Trotz der sehr beschränkten Bedeutung der Abgeordneten sind sie Garanten, dass eine der Registrierungs-Hürden für eine Bürgermeisterwahl im Jahr 2018 für einen Oppositionellen zu nehmen ist, nämlich jene, dass 110 Unterschriften von Abgeordneten für eine Kandidatur nötig sind. === Partnerstädte === Moskau unterhält mit folgenden Städten Partnerschaften: seit November 1990: Berlin, Deutschland seit Juli 1991: Seoul, Südkorea seit Juli 1991: Wien, Österreich (lose Partnerschaft bereits seit 1956) seit Juli 1991: Präfektur Tokio, Japan seit Januar 1992: Paris, Frankreich seit Juni 1992: Düsseldorf, Deutschland seit Dezember 1992: Peking, VR China seit Juni 1993: Cusco, Peru Peru seit 1994: Almaty, Kasachstan Kasachstan seit 1995: Jerewan, Armenien seit April 1997: Chicago, Vereinigte Staaten Vereinigte Staaten seit Mai 1993: Warschau, Polen seit Juni 1997: Madrid, Spanien seit 2000: Tel Aviv, Israel Athen, Griechenland Astana, Kasachstan KasachstanEine Partnerschaft mit Kiew (Ukraine) bestand bis 2016. == Wirtschaft == Moskau spielt eine Schlüsselrolle in der Wirtschaft Russlands. Der Anteil der Stadt am Bruttoinlandsprodukt (BIP) des Landes beträgt 20 Prozent, am gesamten Einzelhandel Russlands etwa 30 Prozent. Das Wirtschaftswachstum liegt durchschnittlich bei rund zehn Prozent pro Jahr. 2005 wuchs das BIP der Hauptstadt gegenüber 2004 um rund 20 Prozent (Russland 6,4 Prozent).Laut einer Studie aus dem Jahre 2014 liegt Moskau mit einer Wirtschaftsleistung von über 550 Milliarden US-Dollar (Kaufkraftparität) auf Platz 10 von allen Städten der Welt. Das durchschnittliche Pro-Kopf Einkommen liegt auf dem Level der Niederlande und übersteigt den russischen Durchschnitt um fast das Doppelte.Laut dem amerikanischen Wirtschaftsmagazin Forbes ist Moskau die Stadt mit der weltweit dritthöchsten Anzahl an Milliardären gerechnet in US-Dollar (Stand 2016).Im Jahr 2018 war Moskau für 12 Spiele Spielstätte der Fußball-WM 2018. Die Durchführung des Turniers galt als ein zusätzlicher Treiber für die Entwicklung der städtischen Wirtschaft, sportliche und touristische Infrastruktur, sowie für die Verbesserung der städtischen Gebiete. === Industrie === Etwa ein Viertel der Industrieproduktion Moskaus entfallen auf den Maschinenbau. Seine Hauptzweige sind Werkzeugmaschinen- und Werkzeugbau, Elektroindustrie, Lagerfertigung, Kraftfahrzeugindustrie und Gerätebau. Weitere wichtige Industriezweige sind das Hüttenwesen, die Leicht-, Kraftfahrzeug-, Baustoff-, Chemie- und petrochemische Industrie. Die Stadt ist ein großes Zentrum des Militär-Industrie-Komplexes. So hat auch die staatliche Rüstungs- und Technologieholding Rostec (OAK, Russian Helicopters, UEC, Tecmasch, Shvabe und weitere) ihren Sitz in der Hauptstadt. Größere Industrieunternehmen mit rechtlichem Sitz in der Stadt sind unter anderem der Uhrenhersteller Slawa, der Autohersteller Avtoframos, der staatliche Atomkonzern Atomenergoprom, die United Metallurgical Company, Rusal sowie die Erdölunternehmen Gazprom, Lukoil und Rosneft. RKK Energija, das wichtigste russische Raumfahrtsunternehmen und Hersteller der Sojus-Raumschiffe, hat seinen Sitz im Moskauer Vorort Koroljow. === Finanzdienstleistungen === In Moskau sind etwa 80 Prozent des Finanzpotenzials des Landes konzentriert. Zwei Drittel des Gesamtumfanges ausländischer Investitionen in die Wirtschaft Russlands geht in die Hauptstadt. Moskau ist damit das größte Betätigungsfeld ausländischer Investoren. In der Stadt befinden sich etwa 18.500 Handelsbetriebe, Gaststätten und Dienstleistungsbetriebe, 9000 Kleinhandelsobjekte und circa 150 Märkte in denen ungefähr eine Million Personen beschäftigt sind. In der Stadt gibt es etwa 1200 Banken, über 60 Versicherungsgesellschaften und mehrere Dutzend Börsen. Etwa ein Viertel aller Einnahmen des Staatshaushalts steuert Moskau bei. === Handel === Die Stadt bietet heute – im Gegensatz zu Sowjetzeiten – eine Vielzahl von Einkaufsmöglichkeiten. Die Auswahl und die Vielfalt sind weit größer als in anderen Städten Russlands, dafür ist auch das Moskauer Preisniveau eines der höchsten im Land. Viele Geschäfte und Kaufhäuser sind in Moskau nicht nur von Montag bis Samstag, sondern auch sonntags geöffnet, große Supermärkte meist rund um die Uhr. Für Antiquitäten, Kunstwerke, Manuskripte und andere wertvolle Gegenstände, die nicht in den Souvenirgeschäften gekauft werden, ist eine Exportgenehmigung notwendig. Beliebte Souvenirs sind Matrjoschkas (buntbemalte Holzpuppen), geschnitztes Spielzeug und Schatullen mit Märchenmotiven und Malereien auf Holz oder Emaille. Das größte und bekannteste Kaufhaus in Moskau und eines der größten der Welt ist das Warenhaus GUM. Es befindet sich direkt am Roten Platz, gegenüber dem Lenin-Mausoleum und dem Kreml, mitten im Herzen Moskaus. Es wurde, ursprünglich als „Obere Handelsreihen“, zwischen 1890 und 1893 durch den Architekten Alexander Pomeranzew und den Ingenieur Wladimir Schuchow im neorussischen Stil erbaut, einer neoklassizistischen Spielart mit starken russisch-traditionalistischen Einflüssen. Zwei der beliebtesten Einkaufsstraßen in Moskau sind der Nowy Arbat, eine wichtige Durchgangsstraße westlich des Kremls und die Arbat-Straße, eine Parallelstraße zum Nowy Arbat und die älteste Fußgängerzone Moskaus. Die vom Roten Platz in nördlicher Richtung verlaufende Twerskaja-Straße ist die vornehmste Einkaufsstraße der Stadt und die Adresse einiger teurer Boutiquen. Klassische russische Mode kann man bei Walentin Judaschkin am Kutusow-Prospekt kaufen, einer der imposantesten Einkaufsstraßen Moskaus. Auch viele etablierte ausländische Handelsketten sind in Moskau präsent. Neben zahlreichen Lifestyle-Labels gehören auch die beispielsweise Metro Cash & Carry, Obi, Spar, Auchan und IKEA dazu. An den großen Einfallstraßen aus und nach Moskau sowie am äußeren Autobahnring MKAD entstehen außerdem jedes Jahr neue Einkaufszentren, die jeden Komfort bieten und auch jeden Einkaufswunsch erfüllen. Besonders beliebt ist die Kette von Megamalls „Mega“, die nicht nur vielfältige Shoppingmöglichkeiten, sondern mit Multiplex-Kinos und Kunsteisbahnen auch ein breites Unterhaltungsprogramm bieten. Hohe Umsätze werden auch auf den Märkten erzielt, wie auf dem, allerdings im Juni 2009 geschlossenen, Tscherkisowoer Markt im Osten der Stadt oder auf dem Luschniki-Markt in der Nähe des Olympiastadions. === IT- und Kommunikationstechnik === In den letzten Jahren hat sich Moskau auch zu einem bedeutenden Standort der IT- und Kommunikationstechnik entwickelt. Neben zahlreichen einheimischen, russischen Software- und Computerunternehmen, wie etwa 1C, Kaspersky Lab, ABBYY, Yandex, Luxoft, Noventiq (ehem. Softline) oder Rover Computers die ihren Sitz in Moskau haben, betreiben eine Vielzahl an internationalen Unternehmen, wie etwa Intel oder Hewlett-Packard Forschungs- und Entwicklungszentren in der russischen Hauptstadt. Auch die Mobilfunkanbieter Mobile TeleSystems, MegaFon und Beeline haben ihre Hauptniederlassung in Moskau. Der Bezirk Selenograd wurde ab den 1960ern als „russisches Silicon Valley“ entwickelt und wurde zum wichtigen Zentrum der Halbleiterindustrie. Es ist unter anderem Sitz der Nationalen Forschungsuniversität für Elektronische Technologie (MIET), der Wirtschaftshochschule MSABA und des Unternehmens Sitronics. Das international vielbeachtete Innovationszentrum Skolkowo soll im Moskauer Vorort Skolkowo entstehen und ebenfalls zu einem Zentrum der Digital- und IT-Industrie werden. === Gastronomie === Das Restaurantangebot der Stadt ist kaum überschaubar, ständig sind neue Lokalitäten im Trend, andere werden wieder geschlossen. Die Preise sind sehr unterschiedlich. Es gibt Gaststätten, die der Unterhaltung dienen, Bars, Cafés, Nobelrestaurants, aber auch Fastfood-Ketten, Selbstbedienungsrestaurants und Kantinen. Eines der berühmtesten Gerichte ist Borschtsch, eine ukrainische Suppe aus roter Bete, die auch in Russland und in Polen populär ist und dem Gast im Restaurant heiß mit saurer Sahne serviert wird. Weltweit bekannt sind Bœuf Stroganoff (geschnetzeltes Rinderfilet, in saurer Sauce geschmort), Ikra oder Krasnaja Ikra (schwarzer oder roter Kaviar), Bliny (das russische Wort für Pfannkuchen, eine Art Crêpes meist mit Kaviar oder Lachs und saurer Sahne serviert) und Oladji (süße Pfannkuchen mit Marmeladenfüllung). Zum Nachtisch besonders beliebt sind Blintschiki (eine Variation von Pfannkuchen) aus Grieß oder Buchweizen mit süßer Soße. == Infrastruktur und Lebensqualität == === Beschäftigungsquote === Bis zum Ausbruch der internationalen Wirtschaftskrise Ende 2008 herrschte in Moskau fast Vollbeschäftigung. Das durchschnittliche Monatsbruttoeinkommen im Jahr 2006 lag bei umgerechnet rund 850 Euro. Nicht berücksichtigt ist dabei, dass nach wie vor ein hoher Anteil der Löhne schwarz gezahlt wird, effektiv dürfte die Lohnsumme 30 bis 100 Prozent über den offiziellen Zahlen liegen. Ende April 2009 waren in Moskau nach offiziellen Angaben gut 50.000 Erwerbspersonen arbeitslos gemeldet, laut Gewerkschaftsangaben seien es rund sechsmal so viele gewesen. Für 2017 war eine offizielle Quote von 2,9 Prozent bekannt gegeben worden. === Lebensstandard === In Moskau verbesserte sich der Lebensstandard in den 2000er-Jahren erheblich. Die Stadt hat sich seit Anfang der 1990er-Jahre von einer der preiswertesten zu einer der teuersten Städte der Welt entwickelt. Nach dem Wert des Verbraucherkorbes, der über 150 Hauptwaren beinhaltet, nimmt sie den ersten Platz in Europa ein und steht nur den japanischen Städten Tokio und Osaka nach. Etwa fünf bis zehn Prozent der Moskauer Bevölkerung zählen zur wohlhabenden oder reichen Schicht. Das heißt, rund eine Million Menschen besitzen eine hohe Kaufkraft. Rund 40 Prozent der Einwohner, das sind etwa vier Millionen Menschen, gehören der neuen Mittelschicht an. === Immobilienpreise === Die Immobilienpreise sind insbesondere im Zentrum von Moskau exorbitant hoch: In den Verwaltungsbezirken am Stadtrand kosteten Wohnungen im Jahr 2010 rund 4000 Dollar pro Quadratmeter, im Verwaltungsbezirk Zentrum waren Kaufpreise von 8000 bis 8500 Dollar pro Quadratmeter üblich. Eine 117-Quadratmeter-Wohnung im Zentrum von Moskau mit russischem Ausbaustandard kostet demnach rund eine Million Dollar. Anfang 2018 stellte der Kommersant Areale vor, in welchen Preise über 12.000 Euro pro Quadratmeter existierten bis zu einem Maximum von 25.000 Euro pro Quadratmeter. Außerhalb der Ringautobahn und in schlechter Qualität konnten Wohnungen zu 1.400 Euro pro Quadratmeter gekauft werden, im Verwaltungsbezirk Jaroslawski an der Stadtgrenze kurz vor Mytischtschi und immer noch ohne genügenden U-Bahn-Anschluss, kosteten sie rund 2000 Euro.Die Kosten an teilweise guten Lagen waren auch ein Haupt-Kritikpunkt beim ab dem Jahr 2016 angestrebten Abriss von rund 8000 Plattenbauten aus den 1960er-Jahren mit 600.000 Wohnungen – einem Zehntel oder mehr der gesamten Wohnfläche Moskaus. Die Rechte der Bewohner und Wohneigentümer der Renovierungszonen wurden eingeschränkt. Die „Chruschtschowki“-Gebäude aus der Chruschtschow-Ära vom damaligen Typ K-7 waren in kürzester Zeit erbaut worden – die Errichtung eines K-7 war bestenfalls in zwei Wochen möglich gewesen. Später wurde die Zahl der abzureissenden Häuser auf unter 5000 korrigiert. Im Juni 2017 wurde der Abriss vom Parlament besiegelt und im Juli vom russischen Präsidenten Putin in Kraft gesetzt. Der Verdacht von Spekulation drängte sich auf, allgemein geht in Russland Korruption mit Bautätigkeit einher. === Abfallproblem === Eine bewirtschaftete Abfallentsorgung gibt es nicht (Stand 2018). Sämtlicher Abfall der Millionenmetropole wird ungetrennt am Stadtrand Moskaus deponiert. Die der Stadt am nächsten liegende Deponie wurde vom russischen Präsidenten Putin im Juli 2017 in „Kümmerer-Manier“ mit dem einzigen Effekt geschlossen, dass der Müll auf andere Deponien gelangte. Damit begannen die Probleme mit der etwa 100 Kilometer westlich von Moskau gelegenen Deponie bei Wolokolamsk. Deren eigene Probleme waren schon länger bekannt; bereits Anfang 2017 gab es kleinere Demonstrationen wegen scharfer Gerüche. Am 3. März 2018 demonstrierten nicht weniger als 5.000 Menschen in der Stadt von 24.000 Einwohnern, also gut ein Fünftel der Bevölkerung. Kurze Zeit später musste gar die Schule geschlossen und 50 Kinder im Krankenhaus behandelt werden. Die regierungskritische Journalistin Julija Latynina wies auf einen weiteren politischen Aspekt hin; Mülltrennung habe etwas mit ziviler Verantwortung zu tun, und Bürger, welche zivile Verantwortung übernehmen wollten, würden autoritären Behörden nicht behagen. == Medien == === Printmedien === Bei den Printmedien liegen die Boulevardzeitungen Moskowski Komsomolez und Komsomolskaja Prawda auf Platz eins und zwei in der Anzahl der Leser, gefolgt von den früheren kommunistischen Zeitungen Trud, Iswestija und Prawda. Die Iswestija gilt dabei allgemein als die seriöseste Zeitung Moskaus. Sie hat mit ihrer kommunistischen Vergangenheit gebrochen und dient heute als anerkannte Informationsquelle für ein breites Publikum. Für regierungskritischen und investigativen Journalismus bekannt ist die Nowaja gaseta. Die Wirtschaftszeitung Kommersant ist bei den Werbeeinnahmen führend, liefert sich aber mit ihrem härtesten Konkurrenten, der Wirtschaftszeitung „Wedomosti“ einen harten Kampf. Zu den am meisten gelesenen Blättern gehört auch das Anzeigenblatt „Is ruk w ruki“, eine Art Tauschbörse mit hunderten von Kleininseraten. Im Bereich der Wochen- und Monatszeitschriften können die Hochglanzzeitschriften unterschiedlicher Ausrichtungen ihre Leserschaft kontinuierlich vermehren. In Moskau erscheinen zahlreiche Fachzeitschriften, darunter etwa die bereits 1830 gegründete Literaturnaja gaseta. In letzter Zeit gewinnen auch Internetzeitungen, wie zum Beispiel lenta.ru, strana.ru und polit.ru, zunehmend an Bedeutung. Wöchentlich erscheinen die Moskowskije Nowosti, die Argumenty nedeli sowie die Argumenty i Fakty. Auch fremdsprachige Presse gibt es in Moskau. Zu den deutschsprachigen Wochenzeitungen gehören die Moskauer Deutsche Zeitung und die Moskauer Nachrichten, englischsprachige Tageszeitungen sind The Moscow Times und The Moscow Tribune. === Hörfunk === In Moskau senden zahlreiche Radiostationen. Dazu gehört auch „Echo Moskwy“ („Echo Moskaus“) mit einem einzigartigen Format. Die Station strahlt fast keine Musik aus, dafür ist sie als kritischer Nachrichten- und Diskussionssender bekannt. Als in der Sowjetunion unter Michail Gorbatschow im Jahre 1990 erstmals nichtstaatliche Medien zugelassen wurden, gründete eine Gruppe von Journalisten den Radiosender Echo Moskau. Auf die Sendelizenz Nummer eins sind die Mitarbeiter heute noch stolz. Alexei Wenediktow ist der Chefredakteur. Heute gehört der Sender dem quasi-staatlichen Energie-Riesen Gazprom und trotzdem ist es ihm weitgehend gelungen, die redaktionelle Unabhängigkeit zu bewahren. In Moskau hat der Sender etwa 500.000 Hörer. Fast jede Wohnung in Moskau besitzt auch heute noch einen Drahtfunkanschluss mit drei Kanälen, der noch aus sowjetischer Zeit stammt. Da er relativ preiswert ist, melden viele Bewohner diesen nicht ab, obwohl sie ihn nicht benutzen. Auf den beiden ersten Kanälen sind die staatlichen Sender „Radio Rossii“ („Radio Russlands“) und „Radio Majak“ („Radio Leuchtturm“) zu hören, die ein der Regierung nahes, aber breites Angebot an Informationen ausstrahlen. Auf dem dritten Kanal ist der kommerzielle Musikkanal „Jewropa Pljus“ aufgeschaltet. === Fernsehen === Die Moskauer sind stark auf das Fernsehen konzentriert. Die beiden staatlichen landesweit ausgestrahlten Fernsehsender „Perwy kanal“ (Erstes Programm) und „Rossija“ (Zweites Programm) sind in Moskau Marktführer. Sie strahlen ein breites Programm an Nachrichten und Unterhaltung aus und versuchen den Geschmack des Durchschnittsbürgers zu befriedigen. Der nichtkommerzielle Fernsehkanal „Rossija K“ sendet ausschließlich kulturelle Beiträge, tagsüber ist der Sender „Euronews“ aufgeschaltet. Der nichtstaatliche Fernsehsender NTW, der ebenfalls im ganzen Land zu empfangen ist, hat Marktanteile verloren, seit er vom weltweit größten Erdgasförderunternehmen Gazprom übernommen wurde, bei dem der russische Staat 51 Prozent der Aktien besitzt. In der Stadt gibt es noch weitere kleinere private Fernsehsender, daneben existieren die Musikkanäle MTV und Mus-TV sowie eine Anzahl regionaler Sender. Insgesamt sind mehr als zehn Sender über Antenne zu empfangen. Das Programmangebot reicht von alten sowjetischen Spielfilmen über Nachrichten bis hin zu Produktionen aus Hollywood (letztere werden überwiegend in schlechter Synchronisation ausgestrahlt). Ausländische Fernsehstationen sind nur per Parabolantenne über Satellit zu empfangen, denn Kabelfernsehen ist noch nicht sehr verbreitet. == Verkehr == === Fernverkehr === Die zentrale Lage prädestiniert Moskau zum wichtigsten Verkehrsknotenpunkt des Straßen-, Schienen-, Schiffs- und internationalen Flugverkehrs im europäischen Teil des Landes. Ein Kanalsystem verbindet die Stadt mit fünf Meeren (Weißes Meer, Ostsee, Schwarzes Meer, Asowsches Meer und Kaspisches Meer), Moskau wird daher auch „Hafen der fünf Meere“ genannt. Moskau besitzt vier internationale Flughäfen: Scheremetjewo (1960 eröffnet), Domodedowo (1964), Wnukowo (1941) und Schukowski (1941, Passagierflüge ab 2016). Der Flughafen Bykowo, der ab 1933 den ältesten Moskauer Passagierflughafen auf dem Chodynkafeld ersetzte, wurde zuletzt ausschließlich für Inlandsflüge genutzt und 2010 geschlossen. Ab 2016 übernahm der wenige Kilometer südwestlich von Bykowo befindliche Flughafen Schukowski seine Rolle, als auf dem Militärflughafen ein Passagierterminal eröffnet wurde. Der 1934 errichtete ursprüngliche Militärflugplatz Ostafjewo wird seit 2000 zivil genutzt und dient vorrangig dem Geschäftsflugverkehr. In Moskau laufen alle Hauptlinien der Eisenbahn im europäischen Teil Russlands zusammen. Die Stadt ist größter Eisenbahnknotenpunkt des Landes mit mehreren Rangierbahnhöfen. Weitere Verkehrsverbindungen verlaufen sternförmig nach Europa, Zentralasien und zum Kaukasus. Die Stadt ist Verwaltungssitz der Moskauer Regionaldirektion der Russischen Staatsbahn. Die Direktion betreibt nicht nur alle Eisenbahnlinien samt zugehöriger Infrastruktur im Großraum Moskau, sondern auch ein knapp 9000 Kilometer langes Schienennetz. Moskau hat keinen Hauptbahnhof für den Personenverkehr. Allerdings liegen einige wichtige Bahnhöfe am Komsomolskaja-Platz direkt nebeneinander: der Leningrader Bahnhof für den Verkehr nach Sankt Petersburg (Nikolai-Bahn), der Jaroslawler Bahnhof für die Transsibirische Eisenbahn (nach Wladiwostok am Japanischen Meer) und der Kasaner Bahnhof für den Verkehr in Richtung der Wolgarepubliken Tatarstan und Baschkortostan. Von Bedeutung sind außerdem der Kiewer Bahnhof für den Verkehr in die Ukraine, der Kursker Bahnhof und der Pawelezer Bahnhof für Züge nach Südrussland, der Rigaer Bahnhof für Züge Richtung Lettland und der Weißrussische Bahnhof für Züge nach Mittel-/Westeuropa und nach Kaliningrad. Der Sawjolowoer Bahnhof, vormals Fernbahnhof für Züge Richtung Rybinsk, wird heute nur für den Regionalverkehr genutzt. Alle Fernbahnhöfe mit Ausnahme des Rigaer Bahnhofs sind mittels einer ringförmig verlaufenden U-Bahn-Linie (Kolzewaja-Linie) verbunden. Rund um Moskau existiert ein autobahnartig ausgebauter Fernstraßenring (MKAD, von „Московская кольцевая автомобильная дорога“), der einen Umfang von 108,9 Kilometern besitzt und im Jahre 1962 fertiggestellt wurde. MKAD wird von mehreren föderalen Fernstraßen gekreuzt: M1 Belarus, die in westlicher Richtung nach Minsk in Belarus führt, M2 Krim, die über ukrainisches Gebiet nach Krim verläuft, M3 Ukraina, die Moskau mit Ukraine verbindet, M4 Don, die bis zur Schwarzmeerküste reicht, M5 Ural, die einen Teil der transkontinentalen Straßenverbindung von Moskau nach Wladiwostok darstellt, M7 Wolga, die die russische Hauptstadt durch das namensgebende Wolgagebiet mit Ufa westlich des Ural verbindet, M8 Cholmogory, die in nordöstlicher Richtung über Jaroslawl und Wologda nach Archangelsk und weiter nach Sewerodwinsk am Weißen Meer führt, M9 Baltija, die über Welikije Luki zur lettischen Grenze verläuft, sowie die M10 Rossija, die in nordwestlicher Richtung über Twer und Weliki Nowgorod nach Sankt Petersburg führt. === Nahverkehr === Der innere Autoverkehr wird durch die Straßenringe Boulevardring (russ. „Бульварное кольцо“), Gartenring (russ. „Садовое кольцо“) sowie den 2003 in Betrieb genommenen, 36 Kilometer langen Dritten Verkehrsring (russ. „Третье транспортное кольцо“) in der Innenstadt und den Autobahnring MKAD am Rande der Stadt verteilt. Seit 2007 sollten die Straßenringe noch zusätzlich um einen weiteren Autobahnring (den Vierten Verkehrsring) erweitert werden, dessen Bau allerdings 2011 aufgrund der enormen Kosten gestoppt worden ist. Es sind weitere Entlastungs- und Ringstraßen geplant, da das Straßennetz überlastet ist. Oft kommt es auf den Autobahnringen und den Ausfallstraßen zu langen Staus. Moskau verfügt über ein leistungsfähiges System von U-Bahnen, die Metro Moskau genannt werden. 1932 wurde mit dem Bau begonnen und der erste Streckenabschnitt am 15. Mai 1935 eröffnet. Heute ist ein Netz von 317,5 Kilometern mit 14 Linien und 238 Stationen in Betrieb. Es werden acht bis neun Millionen Personen pro Tag befördert. Zur Rush-Hour fahren die Züge auf einigen Linien alle 90 Sekunden, und auch zu normalen Verkehrszeiten beträgt der Abstand zwischen den Zügen auf den meisten Linien nicht mehr als zwei bis drei Minuten. Einige Bahnhöfe der Metro sind mit Mosaiken, Bronzestatuen und Marmor prunkvoll ausgestattet. Die tieferen Stationen können im Verteidigungsfall als Bunker verwendet werden, indem Zugänge und Streckentunnel durch das Schließen entsprechender Schotts abgedichtet werden. Während der Bombenangriffe im Zweiten Weltkrieg wurden Metrostationen unter anderem als Lazarette und Kommandopunkte genutzt. Hauptzubringer der Metro in Moskau ist neben städtischen und privaten Buslinien die Moskauer Straßenbahn. Die erste fuhr am 22. Juni 1872 als Pferdebahn; der elektrische Betrieb der Straßenbahn wurde am 6. April 1899 eröffnet. Der innerstädtische Schienenverkehr Moskaus wird ferner durch Nahverkehrszüge sowie die neue Monorail ergänzt. Seit 2016 wird auf dem 54 Kilometer langen Kleinen Moskauer Eisenbahnring, der viele Jahre nur für den Güterverkehr genutzt worden war, ein S-Bahn-ähnlicher Personenverkehr angeboten, der als oberirdische Linie 14 in das Netz der Moskauer Metro eingebunden ist. Der Stadtbus- und Straßenbahnbetrieb wird vom staatlichen Verkehrsunternehmen Mosgortrans abgewickelt. 1924 fuhren die ersten Omnibusse und am 15. November 1933 der erste Oberleitungsbus in Moskau. Die Stadt verfügte über das längste Oberleitungsbusnetz der Welt, in der Nacht zum 25. August 2020 wurden die letzten Oberleitungsbuslinien eingestellt. == Bildung == 80 Hochschulen mit etwa 250.000 Studenten, die in 380 verschiedenen Fachrichtungen ausgebildet werden, und über 1000 Forschungsinstituten und Konstruktionsbüros machen Moskau zum überragenden Zentrum des wissenschaftlichen Lebens. Des Weiteren befinden sich in der Stadt etwa 4000 Bibliotheken, deren Buchbestand circa 400 Millionen Exemplare verschiedener Arten der Druckerzeugnisse beträgt. Zu den hervorragenden Bildungs- und Forschungseinrichtungen der Stadt gehören neben der berühmten staatlichen Lomonossow-Universität, die staatliche Technische Universität für Bauwesen (MSUCE), die Staatliche Technologische Universität „Stankin“ Moskau, die Hochschule für Bergbau, das Institut für Kristallographie der Akademie der Wissenschaften, die Russische Universität für Luft- und Raumfahrt (MAI), die Pädagogische Staatliche Universität Moskau, die Staatliche Technische Universität Moskau, die Russische Universität der Völkerfreundschaft, die Staatliche Akademie für Lebensmittelindustrie und die Hochschule für Energetik (MEI). Das staatliche Gerassimow-Institut für Kinematographie (WGIK) ist mit der Gründung im Jahre 1919 die erste Filmhochschule weltweit. Die Lomonossow-Universität ist die größte und älteste Universität Russlands. Sie wurde am 25. Januar 1755 per Erlass von Elisabeth I. auf Anregung des Universalgelehrten und Schriftstellers Michail Lomonossow gegründet. Viele sowjetische und russische Persönlichkeiten aus Politik, Kunst und Wissenschaft waren Absolventen dieser Universität, zu denen auch Ex-Staatschef Michail Gorbatschow zählt. Im Jahr 2021 waren rund 38.000 Studenten aller Fachrichtungen dort eingeschrieben. == Kunst, Kultur und Tourismus == === Theater === Das Bolschoi-Theater („Großes Theater“) in Moskau ist das bekannteste Theater der Stadt. Es besteht seit dem Jahre 1776. Damals erhielt Fürst Peter Urussow vom Zaren das Alleinrecht, in Moskau Schau- und Singspiele aufzuführen. Die ersten Schauspieler waren Leibeigene des Fürsten. Die Aufführungen fanden zuerst noch in einem Privathaus statt, erst im Jahre 1780 entstand der Theaterbau am heutigen Standort. Das Bauwerk steht auf Holzpfählen in einem sumpfigen Teil des Moskauer Zentrums. Zuerst war das Theater nach der vorbeiführenden Straße „Petrowski-Theater“ benannt. Im 18. Jahrhundert wurden überwiegend Opern russischer Komponisten aufgeführt, aber auch Dramen und Ballette. 1805 brannte das Theatergebäude ab und wurde 20 Jahre später durch den Architekten Joseph Bové neu errichtet. Erst damals erhielt es den Namen „Bolschoi-Theater“. Am 18. Januar 1825 wurde das neue Bolschoi-Theater mit dem Prolog Der Triumph der Musen zur Musik von Alexei Werstowski und Alexander Aljabjew eröffnet. 1853 zerstörte erneut ein Brand die Inneneinrichtung des Theaters. Daraufhin stattete der Architekt Albert Cavos das Gebäude noch kostbarer aus. Bis heute ist bis auf kleinere Veränderungen diese Einrichtung erhalten geblieben. Durch seine außergewöhnliche Architektur im Stil des russischen Klassizismus gehört das Bolschoi-Theater heute zu den schönsten Theatern der Welt. Heute arbeiten dort etwa 900 Schauspieler, Tänzer, Sänger und Musiker. Die Stars sind meistens auf Tournee in aller Welt unterwegs und daher selten in Moskau anzutreffen. Das Bolschoi-Theater ist heute die Heimat einer der ältesten und besten Ballettkompanien der Welt, dem weltberühmten Bolschoi-Ballett. Weitere bekannte Theaterhäuser in Moskau sind beispielsweise das Wachtangow-Theater an der alten Arbat-Straße, das 1897 gegründete Tschechow-Künstlertheater sowie das in der späteren Sowjetzeit bekannt gewordene Taganka-Theater. === Museen === Unter den vielen Museen der Stadt besonders sehenswert ist das „Puschkin-Museum für Bildende Künste“ mit hervorragenden Exponaten zur Kulturgeschichte des Altertums, zur Renaissance und einer breitgefächerten Gemäldesammlung vornehmlich westeuropäischer Künstler. Die „Tretjakow-Galerie“ im historischen Stadtteil Samoskworetschje präsentiert als größtes Museum der russischen nationalen Kunst mehr als 100.000 Gemälde, Graphiken und Skulpturen vom 11. Jahrhundert bis zur Gegenwart. Die Galerie wurde 1902 durch den russischen Kaufmann Pawel Tretjakow (1832–1898) erbaut. Als ein leidenschaftlicher Sammler begann Tretjakow 1856, die Werke zeitgenössischer russischer Maler zu erwerben. 1892 betrug seine Sammlung, die nun auch Ikonen umfasste, ungefähr 2000 Werke. Im selben Jahr schenkte er seine Sammlung der Stadt Moskau. Nach Tretjakows Tod wurde das Museum von der Stadtduma geleitet. Zu den Mitgliedern der Duma gehörten meist russische Künstler wie Ilja Ostruchow. Nach der Oktoberrevolution im Jahre 1917 erlangte die Galerie nationalen Status. 1920 bis 1930 wurden Sammlungen zahlreicher anderer Museen in die Tretjakow-Galerie übertragen. Mitte der 1930er Jahre erfolgten wegen des mit dem ständigen Zuwachs einhergehenden Raummangels umfangreiche Erweiterungen. Auf Grund des Besucherandrangs erfolgte in den 1980er und 1990er Jahren ein weiterer Um- und Ausbau. 1995 öffnete eine Abteilung für Moderne Kunst. Einen Besuch wert ist auch das Panorama der Schlacht von Borodino, geschaffen von Franz Roubaud (1856–1928), im Borodino-Panorama-Museum, das Staatliche Historische Museum am Roten Platz oder eine der zahlreichen Kunstausstellungen. Östlich des Stadtzentrums, im früheren Andronnikow-Kloster, befindet sich das Museum des Malers Andrei Rubljow (1360–1430), in dem der Meister der russischen Ikonenmalerei und Begründer der Moskauer Malschule im 15. Jahrhundert als Mönch lebte, starb und auch beigesetzt wurde. Das Museum beherbergt Ikonenmalerei des 14. bis 17. Jahrhunderts. Eines der schönsten Klöster Moskaus ist das Nowodewitschi-Kloster am rechten Moskwa-Ufer südwestlich des Stadtzentrums. Es war für 400 Jahre Zeuge historischer Ereignisse in Zusammenhang mit Persönlichkeiten wie Iwan der Schreckliche, Boris Godunow und Peter der Große. Die architektonische Gesamtheit des Klosters entstand Ende des 17. Jahrhunderts und ist bis heute eines der Besten seiner Art in ganz Russland. In der Smolensker Kathedrale ist eine wertvolle Wandmalerei des 16. Jahrhunderts und eine prächtige Ikonostase mit den Ikonen der bekanntesten kaiserlichen Herrschaften jener Zeit zu besichtigen. In der Nähe des Klosters liegt der Nowodewitschi-Ehrenfriedhof, auf dem zahlreiche berühmte Persönlichkeiten ihre letzte Ruhestätte gefunden haben. === Bauwerke === Zu den zahlreichen sehenswerten Bauwerken gehören viele Zeugnisse der Baukunst aus Vergangenheit und Gegenwart, Denkmäler berühmter Schriftsteller, Gelehrter und Staatsmänner sowie Monumente und Denkmäler zu Ehren großer historischer Ereignisse. Der Kreml und der Rote Platz stehen seit 1990 auf der UNESCO-Liste des Weltkulturerbes. Allein die Russisch-Orthodoxe Kirche hat seit 1990 im Großraum Moskau etwa 1000 Kirchen renoviert und 200 neue Kirchen gebaut. ==== Der Kreml ==== Ein bedeutsames Bau- und Geschichtsdenkmal ist der Kreml, der älteste Teil Moskaus. Dort befindet sich der Sitz des russischen Präsidenten. Die bis auf den heutigen Tag erhalten gebliebenen Mauern und 19 Türme wurden im 15. Jahrhundert errichtet und waren damals eine beachtliche Befestigungsanlage. Die ältesten erhaltenen Baudenkmäler sind die Mariä-Entschlafens-Kathedrale von 1479, die Verkündigungs-Kathedrale von 1489 und die Erzengel-Kathedrale aus dem Jahre 1509, die Mariä-Gewandniederlegungs-Kirche von 1486, der Facettenpalast aus dem Jahre 1491 sowie der 80 Meter hohe Glockenturm Iwan der Große (Kolokolnja Iwana Welikogo) von 1508. Später kamen die Kirche zu den zwölf Aposteln mit dem Patriarchenpalast und der Terem-Palast, beide erbaut im 17. Jahrhundert, das Arsenal von 1736, der Senatspalast aus dem Jahre 1787 und der 1849 vollendete Große Kremlpalast hinzu. Im Senatspalast lebte und arbeitete von 1918 bis 1922 Lenin. Sein dortiges Arbeitszimmer und Wohnung sind heute originalgetreu in Lenins ehemaliger Vorstadtresidenz Gorki Leninskije nachgestellt. Das Gebäude der Rüstkammer von 1851 enthält ein einzigartiges Museum mit Sammlungen alter Waffen und Kriegstrophäen, der größten Sammlung von Zarengewändern, Insignien, Thronsesseln, Kutschen und anderen Meisterstücken des russischen und ausländischen Kunsthandwerks, die mit der Geschichte Russlands verbunden sind. Unweit des Glockenturms Iwan der Große stehen die Zarenkanone und die Zarenglocke, einzigartige Denkmäler der russischen Gießerkunst des 16. bis 18. Jahrhunderts. 1961 wurde auf dem Kreml-Gelände der Kongresspalast errichtet, ein sachlicher und zugleich festlicher Bau, dessen großer Saal ein Fassungsvermögen von 6000 Personen hat. Hier finden wichtige öffentliche Veranstaltungen und internationale Kongresse statt, aber auch Schauspiele sowie Opern- und Ballettaufführungen des Bolschoi-Theaters. ==== Der Rote Platz ==== An den Kreml grenzt der Rote Platz, der Hauptplatz Moskaus, auf dem sich das Lenin-Mausoleum befindet. Der Name leitet sich vom russischen Krasnaja Ploschtschad ab. Die Bezeichnung Roter Platz ist nicht politisch (aus der Zeit der Sowjetunion) motiviert und bezieht sich nicht auf die Farbe der Kremlmauern und -türme, deren Anstrich bis zum 19. Jahrhundert weiß war. Die Bezeichnung stammt aus dem 16. Jahrhundert und bedeutet eigentlich „Schöner Platz“. Obwohl krasnaja auf Altrussisch „schön“ bedeutete, ist „rot“ die Hauptbedeutung dieses Wortes im heutigen Russischen geworden. Die Bezeichnung des Platzes wird meistens auch von den Russen in dem neuen Sinne verstanden und wird dementsprechend im Deutschen mit „rot“ übersetzt. Neben dem Platz befinden sich einige Gräber. In die Kremlmauer sind Urnen mit der Asche berühmter Persönlichkeiten aus Politik, Wissenschaft und Kultur eingelassen; beispielsweise von Josef Stalin und Juri Gagarin. Auf dem Roten Platz stehen die Basilius-Kathedrale, errichtet 1561, sowie ein Denkmal für Kusma Minin und Fürst Dmitri Poscharski, die Führer der Volkswehr von Nischni Nowgorod und Helden des Befreiungskrieges gegen die polnisch-weißrussische Intervention zu Beginn des 17. Jahrhunderts; das Denkmal (siehe hierzu Minin-und-Poscharski-Denkmal) wurde 1818 von Iwan Petrowitsch Martos (1754–1835) fertiggestellt. Weitere markante Bauwerke am Roten Platz sind das Warenhaus GUM und das Gebäude des Historischen Museums – beide Ende des 19. Jahrhunderts in einem stark an die altrussische Baukunst angelehnten Stil errichtet – sowie die Kasaner Kathedrale, die ursprünglich Anfang des 17. Jahrhunderts erbaut, zu Sowjetzeiten abgerissen und 1993 wiederaufgebaut wurde. Ebenfalls in den 1930er-Jahren zerstört und nach Zusammenbruch der Sowjetunion wiederaufgebaut worden ist das Auferstehungstor aus dem Jahr 1680, das sich am nördlichen Zugang zum Roten Platz befindet. An der Kremlmauer befindet sich im Alexandergarten das Grabmal des unbekannten Soldaten, ein 1967 errichtetes Ehrenmal für die Gefallenen des Zweiten Weltkrieges. Ganz in der Nähe des Kreml und des Roten Platzes, angrenzend an das ehemalige Hotel Rossija, sind einige der ältesten Steinbauten des Kitai-Gorod, der Moskauer Altstadt, erhalten geblieben – unter ihnen Baulichkeiten des alten Zarenhofs, erbaut zwischen dem 16. und 18. Jahrhundert, das Haus des Bojaren Romanow, die Annen-Kirche aus dem 15. Jahrhundert sowie andere interessante Kirchen und Häuser. ==== Die Twerskaja-Straße ==== Der Weg nach Twer und weiter nach Sankt Petersburg nimmt an der Twerskaja-Straße, nur ein paar Hundert Meter von der Kremlmauer entfernt, seinen Anfang. Hier fuhr einstmals Tatjana Larina, die Heldin des Romans in Versen „Eugen Onegin“ von Alexander Puschkin (1799–1837), in die Stadt ein. In den 1930er- und 1940er-Jahren wurde die Straße erweitert und mit neuen Gebäuden bebaut, einige alte sind von ihrem Standort hin bewegt und in die Tiefe der Wohnviertel verschoben worden. Die Straße ist heute ein Sammelort von luxuriösen Hotels, Bars, Restaurants und Einzelhandels-Geschäften. 1782 ist hier nach einem Entwurf des Architekten Matwei Kasakow (1733–1812) das Rathaus der Stadt Moskau errichtet worden. Gegenüber dem Rathaus erhebt sich das Reiterstandbild des Begründers der Stadt Juri Dolgoruki. Die Denkmäler der russischen Dichter Alexander Puschkin und Wladimir Majakowski (1893–1930), hergestellt durch die Bildhauer Alexander Opekuschin 1880 beziehungsweise Alexander Kibalnikow 1958, stehen an der Kreuzung der Straße mit dem Boulevard- und dem Gartenring. ==== Boulevard- und Gartenring ==== Straßen und Plätze des Stadtkerns umrahmen zahlreiche weitere Bau- und Geschichtsdenkmäler des 15. bis 18. Jahrhunderts. Ende des 16. Jahrhunderts wurde das Zentrum Moskaus mit einer neun Kilometer langen und rund 30 Türme zählenden Stadtmauer umgeben, die nicht erhalten blieb. An ihrer Stelle entstand der Boulevardring. Jenseits der Stadtmauer umzog die Stadt zusätzlich ein etwa 16 Kilometer langer Erdwall mit Palisaden und hölzernen Wehrtürmen. Den einstigen Verlauf des Wallgrabens markiert heute der Gartenring, von dem sternförmig die größten Straßen Moskaus abgehen. Der Komsomolskaja-Platz etwas außerhalb des Gartenringes stellt das Haupteisenbahntor der Hauptstadt dar und ist einer der belebtesten Orte Moskaus. Von den drei hier gelegenen Bahnhöfen laufen Eisenbahnstrecken nach unterschiedlichen Richtungen auseinander. Das Bauensemble des Platzes ist beeindruckend. An seiner Schaffung nahmen berühmte Architekten teil. Konstantin Thon entwarf den 1851 fertiggestellten Nikolai-Bahnhof (heute Leningrader Bahnhof), Fjodor Schechtel den Jaroslawler Bahnhof von 1904, Alexei Schtschussew das 1926 eröffnete Gebäude des Kasaner Bahnhofs und das Klubgebäude und Leonid Poljakow das 28-geschossige Hotel „Leningradskaja“ von 1953. ==== Moscow City ==== Fünf Kilometer westlich vom Kreml befindet sich das momentan größte Bauprojekt in Europa. Bereits in den 1990er-Jahren hatte man in Moskau von einem „russischen Manhattan“ geträumt, doch wegen Geldmangel wurde das Projekt zunächst gestoppt. Mit dem Wirtschaftsaufschwung und durch private Investitionen wurde im Jahr 2001 der erste Wolkenkratzer fertiggestellt, nun befinden sich fast alle Projekte im Bau. Damit sollte die riesige Nachfrage nach Bürogebäuden in Moskau gedeckt werden. Die Fertigstellung aller Gebäude war ursprünglich bereits für das Jahr 2012 geplant; die Kosten belaufen sich auf über zwölf Milliarden US-Dollar. Zu Moscow City gehören auch die von deutschen Architekten entworfenen „Federazija“-Zwillingstürme, auf deutsch „Föderation“, für die 2005 der Grundstein gelegt wurde. Im Zuge der Finanzkrise wurde im Dezember 2009 jedoch bekannt, dass beide Türme des „Federazija“ nur 243 Meter hoch sein werden statt der ursprünglich geplanten 360 Meter (mit Antenne 506 Meter) für einen der beiden Türme. Höchstes Gebäude Moskaus (und Europas) blieb damit der 339 Meter hohe Mercury City Tower. 2017 wurde jedoch einer der beiden Federazija-Türme mit einer Höhe von 374 Metern fertiggestellt, während der kleinere Turm bei 243 Metern verblieb. ==== Weitere Bauwerke ==== Sehenswert sind des Weiteren das „Schloss Ostankino“, ein einmaliges Architekturdenkmal des 18. Jahrhunderts; der Ostankino-Fernsehturm von 1967; der Schuchow-Radioturm aus dem Jahre 1922 und der ihm nachempfundene, 2006 fertiggestellte Oktod-Sendeturm; das zwischen 1888 und 1893 erbaute Warenhaus GUM am Roten Platz, das größte seiner Art in Russland; der Arbat, ein altes historisches Stadtviertel, 1493 das erste Mal erwähnt; die Christ-Erlöser-Kathedrale, im Jahre 2000 wiedereröffnet; sowie die sieben „Wolkenkratzer“, erbaut im Zuckerbäckerstil, auch „Stalinfinger“ oder „Sieben Schwestern“ genannt, wie zum Beispiel das Hotel Ukraina, das Außenministerium und die Lomonossow-Universität. Mit einer Höhe von 537 Metern ist der Moskauer Fernsehturm in Ostankino der zweithöchste der Welt. Das Ausflugsziel im Norden der Stadt wurde in der Zeit von 1960 bis 1967 erbaut. Nach dem Brand im August 2000 wurde die Aussichtsplattform im Juni 2001 in 337 Metern Höhe wiederhergestellt und ist nach längerer Schließung inzwischen wieder für Besucher zugänglich. Mehrere Schnellaufzüge befördern die Touristen innerhalb von 58 Sekunden in die Höhe. Bei Sturm kann die Turmspitze mehr als zehn Meter ausschwingen. Direkt neben dem Fernsehturm und dem Ostankino-Fernsehzentrum befindet sich der alte Adelssitz Ostankino. In vergangenen Epochen hatte das Schlösschen der russischen Fürstenfamilie Scheremetew als Landsitz gedient. Nach der Oktoberrevolution war hier das „Museum für das Kunstschaffen der Leibeigenen“ eingerichtet worden. Die Lomonossow-Universität befindet sich etwas außerhalb des Stadtzentrums. Über der Moskwa unverkennbar auszumachen das 240 Meter hohe Zentralgebäude der Universität, 1949 bis 1953 errichtet, um das sich vier 17-stöckige Seitenflügel gruppieren. Etwa 30.000 Studenten sind hier eingeschrieben, und um jeden der rund 45.000 Räume aufzusuchen, müsste man einen Weg von 145 Kilometern zurücklegen. Ganz in der Nähe liegt der Luschniki-Sportpark – wichtigster Austragungsort der Olympischen Spiele 1980 – mit dem 84.000 Gäste fassenden Luschniki-Stadion, erbaut in den Jahren 1955 und 1956, mehreren kleineren Wettkampfanlagen und dem Sportpalast Luschniki für 17.000 Zuschauer. Das rund 95 Meter hohe Denkmal für Peter I. an einer Flussteilung der Moskwa zählt zu den höchsten Statuen der Welt. === Parks === Der „Gorki-Park für Kultur und Erholung“ ist der populärste unter den rund 100 Parks in Moskau. Er befindet sich im Zentrum der Stadt, am Ufer der Moskwa. Hier gab es zahlreiche Attraktionen, eine Bootsstation, Bars, Restaurants, Cafés und im Winter Eisbahnen. Seit dem Sommer 2011 wurden die Attraktionen aus Sicherheitsgründen abgebaut. Es soll eine „Grünfläche“ entstehen. Auf den Freilichtbühnen treten hier Künstler auf, an Festtagen finden Volksvergnügungen statt und werden farbenprächtige Feuerwerke abgebrannt. Den älteren Teil des Parks bildet der Lustgarten (Neskutschny sad) mit malerischen Hügeln, Hainen und kleinen Brücken. Hier befanden sich im 18. Jahrhundert die Gutsgärten des Moskauer Adels. Weiter südlich geht der Lustgarten in die Sperlingsberge (Worobjowy gory) über, eine dicht durchgrünte Hügellandschaft, von der aus sich ein Ausblick auf das Stadtzentrum Moskaus eröffnet. Im Südosten der Stadt findet sich über der Moskwa der Park von Kolomenskoje, heute ein Freilichtmuseum. Berühmt ist hier vor allem die Christi-Himmelfahrtskirche, die erste russische Zeltdachkirche aus Stein. Im Nordosten der Stadt befindet sich der etwa 300 Hektar große „Sokolniki-Park für Kultur und Erholung“ in herrlicher Waldlandschaft. Größter Moskauer Erholungspark – er umfasst rund 1800 Hektar – ist, ganz am nordöstlichen Stadtrand gelegen, der „Park von Ismailowo“, die einstige Vergnügungsstätte der letzten Zarendynastie; einige wenige Feudalbauten, unter anderen eine barocke Kathedrale vom Ende des 17. Jahrhunderts, haben sich zwischen modernen Cafés, Pavillons und ähnlichem noch erhalten. Erwähnenswert sind weiterhin der Park von Kuskowo im Osten der Stadt – ein Schlosspark, teilweise im englischen und französischen Stil errichtet – sowie die Parks von Zarizyno, Fili und Ostankino mit dem angeschlossenen Botanischen Garten. === Musik === == Sport == Die Stadt Moskau war im Laufe ihrer Geschichte immer wieder Austragungsort von Welt- und Europameisterschaften und anderen internationalen Wettkämpfen, wie der XXII. Olympischen Spiele 1980. Die Stadt besitzt mehr als 6000 sportliche Einrichtungen, unter ihnen etwa 100 Stadien, sechs Sportpaläste, über 180 Schwimmhallen, mehr als 2500 Sportsäle und Turnhallen, 3500 Sportplätze, den Ruderkanal Krylatskoje, mehrere Sportkomplexe, ein Wasserstadion, die Radrennbahn Velodrom von Krylatskoje und 60 Schießsportplätze. Die größten Stadien der Hauptstadt sind: das Luschniki-Stadion mit 84.000 Plätzen, das 1956 eröffnet und für die Olympischen Spiele 1980 ausgebaut wurde; das Dynamo-Stadion mit 51.000 Plätzen, hat außer der eigentlichen Arena Sportsäle, Schwimmbecken, Spielfelder, Trainingsplätze etc.; das neue Lokomotive-Stadion, das im Jahre 1923 erbaute Oval des Clubs Lokomotive Moskau, welches zu Beginn des neuen Jahrtausends einer Generalüberholung unterworfen wurde. Heute hat das Stadion eine Kapazität von 33.979 Plätzen.Auch wird die Rekonstruktion der Territorien und der darauf befindlichen Stadien „Dynamo“, und „Imeni E. Strelzowa“ durchgeführt. Im August 2014 wurde das Stadion „Otkrytije Arena“ in Betrieb genommen, im August 2016 die „Arena ZSKA“, im Jahr 2017 „Luzhniki“. Im „Lokomotiw“ werden die Spiele der Premier-Liga durchgeführt. Im Jahr 2018 wurden „Luzhniki“ und „Otkrytije Arena“ zu Spielstätten der Fußball-Weltmeisterschaft 2018; in „Luschniki“ fand das Eröffnungsspiel und das Finale statt. Das 1834 gegründete Hippodrom Moskau ist die älteste und größte Pferderennbahn in Russland. Im Juli 2016 wurde in Moskau die U-20-Handball-Weltmeisterschaft der Frauen 2016 ausgetragen. === Schach === Moskau war Austragungsort der Schacholympiaden 1956 und 1994. Das Aeroflot Open ist ein Schachturnier, das jährlich in Moskau ausgerichtet und von der russischen Fluggesellschaft Aeroflot gesponsert wird. Es wurde 2002 erstmals ausgetragen und entwickelte sich zu einem der bestbesetzten Turniere des jeweiligen Jahres. === Fußball === Mit dem Lokomotive-Stadion entstand eine der damals modernsten Arenen des Landes. Eingeweiht wurde es am 5. Juli 2002 mit dem Fußball-Ligaspiel Lokomotive Moskau gegen FK Uralan. Neben den Heimspielen des Clubs Lokomotive Moskau finden hier immer wieder auch Länderspiele der russischen Nationalmannschaft, Finalpartien des Russischen Fußballpokales sowie vereinzelte Europapokal-Spiele diverser Moskauer Clubs statt. Die Moskauer Clubs dominierten über Jahrzehnte die höchsten sowjetische bzw. russische Fußballligen. Erst seit der neueren Zeit müssen sie sich der namhaften Konkurrenz aus St. Petersburg erwehren. Die wichtigsten Moskauer Fußballteams sind Spartak – Serienmeister in den 1990ern –, ZSKA, der den UEFA-Pokal 2004/05 gewann, Lokomotive – mehrfacher Pokalsieger –, Dynamo und Torpedo. Moskau war einer der Austragungsorte der Fußball-Weltmeisterschaft 2018, als einzige Stadt mit zwei Stadien: das umgebaute Olympiastadion Luschniki und die 2014 errichtete Otkrytije Arena, die ebenfalls für den FIFA-Konföderationen-Pokal 2017. In Luschniki fanden bereits die Finalpartien des UEFA-Pokals 1998/99 und der UEFA Champions League 2007/08 statt. === Basketball === Der russische Spitzenbasketballclub PBK ZSKA Moskau gewann die EuroLeague in den Jahren 2006, 2008 und 2016. Auch der MBK Dynamo Moskau konnte den ULEB Cup im Jahr 2006 gewinnen. Die Basketball-Weltmeisterschaften der Damen wurden 1959 und 1986 in der Stadt ausgetragen. Außerdem fanden die Basketball-Europameisterschaften der Herren 1953 und 1965 sowie EM der Damen 1952 in Moskau statt. === Eishockey === In der Kontinentalen Hockey-Liga ist die Stadt durch HK Spartak Moskau, HK ZSKA Moskau, die dominierende Mannschaft der sowjetischen Eishockeyliga, und HK Dynamo Moskau vertreten. Außerdem ist der HK Krylja Sowetow Moskau in der Stadt ansässig. In Moskau wurde in den Jahren 1957, 1973, 1979, 1986, 2007 und 2016 um die Eishockey-Weltmeisterschaft gespielt. Der Iswestija Pokal wird im Rahmen der Euro Hockey Tour ausgerichtet und ist ein jährlich in Moskau und anderen russischen Orten stattfindendes Eishockeyturnier, an welchem normalerweise die Nationalmannschaften aus Schweden, Finnland, Russland (früher UdSSR) und Tschechien (früher ČSSR) teilnehmen. Auf dem Roten Platz wurde am 10. Januar 2009 das allererste KHL All-Star Game bei Temperaturen um −10 °C vor 2.500 Zuschauern ausgerichtet. === Bandy === Der Bandyverein Dynamo Moskau nimmt am Spielbetrieb der Superliga teil. Die Mannschaft gewann mehrfach die sowjetische bzw. russische Meisterschaft, konnte mehrmals den Bandy World Cup sowie den Europapokal gewinnen und trägt seine Heimspiele im Eispalast Krylatskoje aus. Moskau war Austragungsort der Bandy-Weltmeisterschaften 1965, 1973, 1989, 2008 und 2010. === Tennis === Das erste internationale Tennisturnier in Russland, das Herren-Tennisturnier Kremlin Cup wird seit 1990 in der russischen Hauptstadt – in der Olympiahalle von Moskau, dem Sportkomplex Olimpijski – ausgerichtet. Auch Damen spielen um den Kremlin Cup, ein Damen-Tennisturnier der WTA Tour. Seit 2015 findet in Moskau ein jährlich ausgetragenes Turnier Hoff Open statt. === Volleyball === Der Damen-Volleyballverein VK Dynamo Moskau spielt in der höchsten Spielklasse Russlands, der Superleague und ist mit elf Titeln die erfolgreichste Damenmannschaft der Volleyball Champions League. Auch die Männermannschaft gehört zu den besten Russlands. === Handball === Im Feldhandball gewann MAI Moskau 1960 und Trud Moskau 1961 die nur sechsmal ausgetragene Sowjetische Handballmeisterschaft der Männer. Im Hallenhandball wurde MAI Moskau 1965, 1968, 1970, 1971, 1972, 1974 und 1975 Meister. International triumphierte die Mannschaft im Europapokal der Landesmeister 1972/73 und im Europapokal der Pokalsieger 1976/77. 1971 wurde die Handballabteilung von ZSKA Moskau gegründet, die 1973, 1976, 1977, 1978, 1979, 1980, 1982, 1983 und 1987 die sowjetische Meisterschaft sowie 1994, 1995, 2000 und 2001 die russische Meisterschaft gewann. International errang ZSKA den Europapokal der Pokalsieger 1986/87 und den Europapokal der Landesmeister 1987/88. Im Jahr 2001 zog die Mannschaft ins 80 km entfernte Tschechow, wo sie seitdem als Medwedi Tschechow antritt. Die Handballabteilung von Spartak Moskau, 2018 und 2019 Vizemeister, tritt seit Sommer 2020 als GK ZSKA Moskau an. Bei den Frauen wurde Trud Moskau 1962, 1963, 1964 und 1965 sowjetischer Meister. Zudem siegte das Team im Europapokal der Landesmeister 1962/63. Luch Moskau gewann 1968 die sowjetische Meisterschaft. Der 2019 gegründete Verein PGK ZSKA Moskau gewann 2021 als erste Moskauer Mannschaft die russische Meisterschaft. Die Handballwettbewerbe der Olympischen Spiele 1980 wurden an zwei Orten ausgetragen: Im Sportpalast Sokolniki (im Zentrum von Moskau) und im Sportpalast Dynamo in Chimki (im Nordwesten Moskaus). Der Wettbewerb begann am 20. Juli 1980 und endete mit dem Finale am 30. Juli 1980. Die Sowjetische Frauen-Handballnationalmannschaft gewann Gold, die Sowjetische Männer-Handballnationalmannschaft Silber. == Persönlichkeiten == Moskau ist Geburtsort zahlreicher prominenter Persönlichkeiten. Siehe: Liste von Söhnen und Töchtern Moskaus == Siehe auch == Moskovium == Literatur == Klaus Bednarz (Hrsg.): Das Alte Moskau 1880–1920. C. J. Bucher, München 1983, ISBN 3-7658-0298-0. Lew Besymenski: Die Schlacht um Moskau 1941. Pahl-Rugenstein, Köln 1987, ISBN 3-7609-0570-6. Hildburg Bethke (Hrsg.), Werner Jaspert (Hrsg.): Moskau, Leningrad heute : Berichte und Impressionen von einer Reise. (= Kleine antworten-Reihe), Stimme-Verlag, Frankfurt am Main 1965. Jörg Esefeld und Sascha Neroslavsky: Mojamo-Moja Moskva, Edition Esefeld & Traub, Stuttgart 2011, ISBN 978-3-9809887-5-9. Lion Feuchtwanger: Moskau 1937. Aufbau, Berlin 1993, ISBN 3-7466-5020-8. Wolfgang Knackstedt: Moskau. Studien zur Geschichte einer mittelalterlichen Stadt. F.-Steiner-Verlag, Stuttgart 1998, ISBN 3-515-01881-6. Monica Rüthers (Hrsg.): Moskau. Böhlau, Köln 2003, ISBN 3-412-04703-1 Karl Schlögel: Moskau offene Stadt. Eine europäische Metropole. Rowohlt, Reinbek 1992, 1990-ISBN 3-499-19188-1. Karl Schlögel: Moskau offene Stadt. Eine europäische Metropole. Rowohlt, Reinbek 1992, 1990-ISBN 3-499-19188-1. Albert J. Schmidt: The Architecture and Planning of Classical Moscow. A Cultural History. American Philosophical Society, Philadelphia 1989, ISBN 0-87169-181-7 (Digitalisat). Roman A. Silantjew: Islam w sowremennoj Rossii, enziklopedija. Algoritm, Moskau, 2008. S. 403–413. Eugen Tarlé: Der Brand von Moskau 1812. Rütten & Loening, Berlin 1951. == Weblinks == Fotogalerie Moskau und Umgebung == Einzelnachweise ==
https://de.wikipedia.org/wiki/Moskau
Mond
= Mond = Der Mond (mittelhochdeutsch mâne; lateinisch luna) ist der einzige natürliche Satellit der Erde. Sein Name ist etymologisch verwandt mit Monat. Weil die Trabanten anderer Planeten des Sonnensystems im übertragenen Sinn meist ebenfalls als Monde bezeichnet werden, spricht man zur Vermeidung von Verwechslungen mitunter vom Erdmond. Er ist mit einem Durchmesser von 3476 km der fünftgrößte bekannte Mond des Sonnensystems und gegenüber seinem Zentralkörper Erde außergewöhnlich groß (über ein Viertel des Erddurchmessers). Weil der Mond die Erde in einem mittleren Abstand von nur rund 384.400 Kilometern umkreist (siehe Bahngestalt: etwa 30 Erddurchmesser), ist er bisher der einzige fremde Himmelskörper, den Menschen betreten haben, und auch der am besten erforschte. Trotzdem gibt es noch viele Unklarheiten, etwa in Bezug auf seine Entstehung und manche Geländeformen. Seine jüngere Entwicklung ist jedoch weitgehend geklärt. Sein astronomisches Symbol ☾ ist die abnehmende Mondsichel, wie sie (nach rechts offen) von der Nordhalbkugel der Erde aus erscheint. == Etymologie == Die gemeingermanische Bezeichnung des Himmelskörpers ist in Mittelhochdeutsch mān[e], in Althochdeutsch māno und geht zurück auf die Indogermanische Ursprache mēnōt- „Mond; Mondwechsel, Monat“, von indogermanisch *mē(n)s-, ableitbar vom Verbalstamm *mē- (der sich auch in deutsch „messen“ und lateinisch mensis „Monat“, ursprünglich „Mondmonat“, findet). == Umlaufbahn == === Scheinbare Bewegung === Der Mond umkreist die Erde bezüglich der Fixsterne in durchschnittlich 27 Tagen, 7 Stunden und 43,7 Minuten. Er umläuft von Westen nach Osten die Erde im gleichen Drehsinn, mit dem die Erde um ihre Achse rotiert. Er umkreist für einen irdischen Beobachter die Erde wegen ihrer viel schnelleren Rotation scheinbar an einem Tag – wie auch die Sonne, die Planeten und die Fixsterne – und geht wie diese im Osten auf und im Westen unter. Der Mond bewegt sich vor dem Hintergrund der Fixsterne im prograden (rechtläufigen) Drehsinn der Erdrotation, sodass sein scheinbarer Erdumlauf etwa 50 Minuten länger als 24 Stunden dauert. Dies addiert sich in einem Monat zu einem ganzen Tag, da der Mond in dieser Zeit tatsächlich die Erde einmal umläuft. Die scheinbaren Bahnen von Mond und Sonne liegen ähnlich, da die Mondbahn nur geringfügig (derzeit 5,2°) gegen die Ekliptik geneigt ist. Der Mond steht für einen Beobachter auf der Nordhalbkugel über 5,2° nördlich des Wendekreises (d. h. bei einer geografischen Breite über 28,6°) bei seinem täglichen Höchststand (Kulmination) immer im Süden, für einen Beobachter auf der Südhalbkugel südlicher als −28,6° immer im Norden (für die Sonne beträgt der analoge Winkel 23,4° – die Breite der Wendekreise). Diese ±28,6° sind der Maximalwert. Dieser Wert schwankt in einem 18-jährigen Zyklus zwischen dem Minimum 18,3° und dem Maximum 28,6°, weil die Lage der Mondbahn (bei fast konstanter Bahnneigung von 5,2°) langsam gegenüber der Ekliptik rotiert, was von der Präzession (Kreiselbewegung) der Mondbahnebene infolge der Erdabplattung von 0,3 % verursacht wird. Die scheinbare Größe des Mondes aus Erdsicht schwankt entfernungsabhängig zwischen 29,4′ und 33,5′ um einen Mittelwert von knapp 32′ (Winkelminuten), etwa 0,5°. Die Größe der Sonnenscheibe schwankt zwischen 31,5′ bis 32,5′ um einen ähnlichen Mittelwert, da die im Durchmesser rund vierhundertmal größere Sonne ungefähr vierhundertmal weiter als der Mond entfernt ist. Bei geeigneter Konstellation kann der Mond daher die Sonne vollständig verdecken und eine totale Sonnenfinsternis eintreten. === Bahngestalt === Die Bahn des Mondes um die Erde ist etwa kreisförmig, genauer elliptisch. In einem der beiden Brennpunkte der Ellipse befindet sich nicht der Erdmittelpunkt, sondern der gemeinsame Schwerpunkt, das Baryzentrum. Der mittlere Abstand des Schwerpunktes des Mondes vom Baryzentrum – die große Halbachse der Ellipse – misst 383.399 km, etwa 60 Erdradien. Der Erdmittelpunkt ist weniger als einen Erdradius vom Baryzentrum entfernt; das Baryzentrum liegt im Erdmantel. Der Abstand des Baryzentrums vom Mittelpunkt der Ellipse, ihre Exzentrizität, beträgt im Mittel 21.296 km oder 5,55 % der großen Halbachse. Um so viel ist der erdnächste Punkt der Bahn, das Perigäum, näher bzw. der erdfernste Punkt, das Apogäum, weiter als die große Halbachse vom Baryzentrum entfernt. Der Mond umläuft zusammen mit der Erde die Sonne, durch die Bewegung um die Erde pendelt der Mond jedoch um eine gemeinsame Ellipsenbahn. Die Variation der Gravitation während dieser Pendelbewegung führt zusammen mit geringeren Störungen durch die anderen Planeten zu Abweichungen von einer exakten Keplerellipse um die Erde. Die Durchgänge des Mondes durch die Bahnebene der Erde (die Ekliptik) nennt man Mondknoten (oder Drachenpunkte). Der aufsteigende Knoten ist der Übergang auf die Nordseite der Ekliptik, der absteigende markiert den Übergang auf die südliche Seite. Der erdnächste Punkt der Bahn wird nicht nach genau einem Umlauf (relativ zu den Fixsternen) des Mondes wieder erreicht. Durch diese Apsidendrehung umläuft das Perigäum die Erde in 8,85 Jahren. Auch zwei aufsteigende Knotendurchgänge erfolgen nicht exakt nach einem Umlauf, sondern bereits nach kürzerer Zeit. Die Mondknoten umlaufen die Erde folglich retrograd, das heißt gegen die Umlaufrichtung des Mondes in 18,61 Jahren. Wenn ein Knotendurchgang mit Neumond zusammenfällt, kommt es zu einer Sonnenfinsternis, und falls der Knotendurchgang mit Vollmond zusammenfällt, kommt es zu einer Mondfinsternis. Dieser Zyklus führt auch zu den Mondwenden: Der Aufgangsort des Mondes am Horizont schwankt während eines Monats zwischen einem südlichsten und einem nördlichsten Punkt hin und her, so wie es auch bei der Sonne im Verlauf eines Jahres der Fall ist (vgl. Obsigend und Nidsigend). Im Laufe des Zeitraumes von 18,61 Jahren verändert sich die Spanne zwischen diesen beiden Extrempunkten in ihrem Abstand: Der Zeitpunkt (zuletzt im Jahre 2006), an dem diese Punkte am weitesten auseinanderliegen, heißt große Mondwende, der des geringsten Abstandes kleine Mondwende. In der frühzeitlichen Astronomie spielten diese Mondwenden eine wichtige Rolle. === Bahnperiode === Die Dauer eines Bahnumlaufs des Mondes, den Monat (von „Mond“), kann man nach verschiedenen Kriterien festlegen, die jeweils unterschiedliche Aspekte abdecken. Nach einem synodischen Monat (29,53 d; Periode der Mondphasen) erreicht der Mond wieder die gleiche Stellung zur Sonne (von der Erde aus beobachtet). Dieser Monatsbegriff entspricht dem landläufigen Verständnis von Monat, da er die Zeitspanne von Neumond zu Neumond bezeichnet (für einen Beobachter auf dem Mond von Mittag zu Mittag). Nach einem siderischen Monat (27,32 d) nimmt der Mond wieder die gleiche Stellung zu den Fixsternen ein (von der Erde oder vom Mond aus beobachtet). Einen drakonitischen Monat (27,21 d) benötigt er, um wieder durch den gleichen Knoten seiner Bahn zu laufen; er ist wichtig für die Sonnen- und Mondfinsternisse. Einen anomalistischen Monat (27,56 d) benötigt der Mond von einem Perigäumdurchgang zum nächsten.Bei diesen Werten handelt es sich um Mittelwerte. Insbesondere die Längen einzelner synodischer Monate schwanken durch die Wanderung der Neumondposition über die Bahnellipse. Die Monatslänge nimmt langsam zu, siehe Abschnitt: Vergrößerung der Umlaufbahn. === Mondphasen === Von der Erde aus gesehen erscheint der Mond unter einem Winkel von rund einem halben Grad (0,5°), sein scheinbarer Durchmesser schwankt abhängig von der Entfernung zur Erde zwischen 29′ 10″ und 33′ 30″. Für Beobachter auf der Erde ist die voll beleuchtete Mondscheibe damit ungefähr ebenso groß wie die Sonnenscheibe (31′ 28″ bis 32′ 32″), doch verändert sich der Anblick im Laufe eines Monats. Das Aussehen des Mondes, seine Lichtgestalt, variiert im Laufe seines Bahnumlaufs und durchläuft die Mondphasen: Neumond (1 und 9): der Mond läuft zwischen Sonne und Erde durch, verdeckt wegen seiner Bahnneigung die Sonne aber meist nicht, zunehmender Mond (2 bis 4): Mondsichel (2) westlich am Abendhimmel sichtbar, Vollmond (5): die Erde steht zwischen der Sonne und dem Mond (ohne oder mit Mondfinsternis), abnehmender Mond (6 bis 8): Mondsichel (8) östlich am Morgenhimmel sichtbar, zunehmender (3) und abnehmender (7) Halbmond (Dichotomie).Die Zahlen in Klammern beziehen sich auf vorstehende Abbildung. Der Neumond ist von der nahen Sonne überstrahlt, durch Kamerareflexe angedeutet. === Mondalter === Die Zeitspanne seit dem letzten Neumond wird als Mondalter bezeichnet und in Tagen angegeben. Beispielsweise ist Vollmond am 15. Tag des synodischen Monats und das Mondalter dann 14 Tage (wenn Neumond = 0). Manchmal ist aber der Vollmond schon am 14. Tag, weil die Mondbahn elliptisch ist und am Sternhimmel unterschiedlich schnell verläuft. Beim Mondalter 1 oder 2 wird die schmale sichelförmige Lichtgestalt des zunehmenden Mondes – die Mondsichel – am tiefen westlichen Abendhimmel kurz vor ihrem Untergang erstmals sichtbar und erscheint dem nördlich stehenden Betrachter als nach Süden zu offene bzw. nach rechts gekrümmte, konkav-konvexe Figur. Dieses Neulicht gilt in einigen religiös geprägten Kalendern als Beginn des Monats. Statt der früheren Merkregel mit dem zweimal geschwungenen Z (𝔷) für zunehmend ist die Klammer zu viel einfacher. Mit etwas Raumvorstellung ist aber klar, dass die untergegangene Sonne von rechts die rechte Mondseite beleuchtet. Einem Betrachter in südlichen Breiten erscheint die Mondsichel ebenfalls tiefstehend im Westen, aber nach rechts geöffnet Richtung Norden, wo für ihn der Mond den höchsten Stand erreicht wie ebenso die Sonne zu Mittag. An Beobachtungsorten in Äquatornähe erscheint die Figur im Westen eher waagrecht „auf dem Rücken“ liegend bzw. nach oben hin offen, da hier der Höhenwinkel einer Kulmination größer ist. Diese Abhängigkeit der scheinbaren Lage der Mondfigur vom Breitengrad spiegelt sich bei der Verwendung einer symbolischen Mondsichel in Form einer Schale („Mondschiffchen“) auf der Staatsflagge einiger äquatornaher Länder wider (Beispiel: Flagge Mauretaniens). Die nicht unmittelbar von der Sonne beleuchteten Anteile der erdzugewandten Mondseite sind dabei nie völlig dunkel, denn sie werden durch das von der sonnenbeleuchteten Erde zurückgeworfene Licht – Erdlicht oder Erdschein genannt – erhellt. Dessen Widerschein durch die Reflexion an Stellen der Mondoberfläche wird auch Aschgraues Mondlicht genannt. Es ist am besten in der Dämmerung einige Tage vor oder nach Neumond zu sehen, denn dann stört weder viel Tages- noch Mondlicht, und der Mond hat nahezu „Vollerde“. Seine Ursache wurde schon von Leonardo da Vinci richtig erkannt. Mit einem Fernglas selbst geringer Vergrößerung sind auf den nur durch die Erde beschienenen Mondflächen sogar Einzelheiten erkennbar, denn aufgrund des fast vierfachen Durchmessers und des höheren Rückstrahlungsvermögens (Albedo) der Erde ist die „Vollerde“ rund 50-mal so hell wie der Vollmond, etwa 10 statt 0,2 lux. Messungen des aschgrauen Mondlichts erlauben Rückschlüsse auf Veränderungen der Erdatmosphäre. Die ständig erdabgewandte Rückseite des Mondes unterliegt entsprechend versetzt dem Phasenwechsel: Bei Neumond wird sie vom Sonnenlicht vollständig beschienen. Die beschienene Mondfläche (Überdeckungsgrad) kann angegeben werden mit 100 % 2 ( 1 − cos ⁡ e ) {\displaystyle {\tfrac {100\;\%}{2}}(1-\cos e)} , wobei e {\displaystyle e} die Elongation (d. h., der Winkel zwischen Mond, Erde und Sonne) ist. === Finsternisse === Verfinsterungen treten auf, wenn die Himmelskörper Sonne und Mond mit der Erde auf einer Linie liegen. Dazu kommt es nur bei Vollmond oder Neumond und wenn der Mond sich dann nahe einem der zwei Mondknoten befindet. ==== Mondfinsternis ==== Bei einer Mondfinsternis, die nur bei Vollmond auftreten kann, steht die Erde zwischen Sonne und Mond. Eine Mondfinsternis kann auf der gesamten Nachtseite der Erde beobachtet werden und dauert maximal 3 Stunden 40 Minuten. Man unterscheidet die totale Mondfinsternis, bei der der Mond völlig in den Schatten der Erde wandert. Die Totalität dauert maximal etwa 106 Minuten. Bei einer totalen Mondfinsternis sollte wegen der Geometrie der Mond im Kernschatten der Erde liegen. Der Kernschatten sollte theoretisch knapp 1,4 Millionen Kilometer in den Raum reichen, tatsächlich reicht er aber wegen der starken Streuung durch die Erdatmosphäre nur etwa 250.000 km weit. Deshalb wird der Mond auch bei einer totalen Finsternis nicht völlig verdunkelt. Da die Erdatmosphäre die blauen Anteile des Sonnenlichts stärker streut als die roten, erscheint der Mond bei einer totalen Finsternis als dunkle rotbraune Scheibe; daher auch die gelegentliche Bezeichnung „Blutmond“. die partielle Mondfinsternis, bei der nur ein Teil des Mondes von der Erde abgeschattet wird, das heißt, ein Teil des Mondes bleibt während der gesamten Finsternis sichtbar. die Halbschattenfinsternis, bei der der Mond nur (ganz oder teilweise) in den Halbschatten der Erde eintaucht. Eine Halbschattenfinsternis ist ziemlich unauffällig; nur die Mondseite wird etwas grauer, die dem Kernschatten der Erde am nächsten ist.Eine Mondfinsternis ist vom Mond aus gesehen eine Sonnenfinsternis. Dabei verschwindet die Sonne hinter der schwarzen Erde. Bei einer totalen Mondfinsternis herrscht auf der ganzen Mondvorderseite totale Sonnenfinsternis, bei einer partiellen Mondfinsternis ist die Sonnenfinsternis auf dem Mond nur in einigen Gebieten total, und bei einer Halbschatten-Mondfinsternis herrscht auf dem Mond partielle Sonnenfinsternis. Auf dem Mond kann keine ringförmige Sonnenfinsternis beobachtet werden, da der scheinbare Durchmesser der Erde im Vergleich zu dem der Sonne viel größer ist. Lediglich wird der Rand der schwarzen Erdscheibe zu einem kupferrot schimmernden Ring, der durch die beschriebene Lichtstreuung in der Erdatmosphäre entsteht und dem Mond auf der Erde seine Farbe verleiht. ==== Sonnenfinsternis ==== Bei einer Sonnenfinsternis, die nur bei Neumond auftreten kann, steht der Mond zwischen Sonne und Erde. Eine Sonnenfinsternis kann nur in den Gegenden beobachtet werden, die den Kern- oder Halbschatten des Mondes durchlaufen; diese Gegenden sind meist lange, aber recht schmale Streifen auf der Erdoberfläche. Man unterscheidet die totale Sonnenfinsternis, bei der der Mond die Sonne einige Minuten lang vollständig bedeckt und die Erde den Kernschatten (Umbra) des Mondes durchläuft; die partielle Sonnenfinsternis, bei der der Mond die Sonne nicht vollständig bedeckt; der Beobachter befindet sich dabei im Halbschatten (Penumbra) des Mondes; die ringförmige Sonnenfinsternis, wenn der Mond durch zu große Erdferne die Sonne nicht ganz abdeckt (siehe auch: Durchgang).Eine Sonnenfinsternis wird nur vom irdischen Beobachter als solche wahrgenommen. Die Sonne leuchtet natürlich weiter, dagegen liegt die Erde im Schatten des Mondes. Entsprechend zur Mondfinsternis müsste man korrekterweise also von einer Erdfinsternis sprechen. ==== Sarosperiode ==== Die Sarosperiode kannten bereits die Chaldäer (um etwa 1000 v. Chr.), dabei wiederholen sich Finsternisse nach einem Zeitraum von 18 Jahren und 11 Tagen. Nach 223 synodischen beziehungsweise 242 drakonitischen Monaten (von lat. draco, Drache, altes astrologisches Symbol für die Mondknoten, da man dort einen mond- und sonnenfressenden Drachen vermutete) stehen Sonne, Erde und Mond fast wieder gleich zueinander, so dass sich eine Finsternis nach 18 Jahren und 11,33 Tagen erneut ergibt. Die Sarosperiode wird dadurch verursacht, dass bei einer Finsternis sowohl die Sonne als auch der Mond nahe der Knoten der Mondbahn liegen müssen, die in 18 Jahren einmal um die Erde laufen. Thales nutzte die Sarosperiode, die er bei einer Orientreise kennengelernt hatte, für seine Finsternisprognose vom 28. Mai 585 v. Chr., wodurch die Schlacht am Halys zwischen Lydern und Medern abgebrochen und ihr Krieg beendet wurde. Ein Saros-Zyklus ist eine Folge von Sonnen- oder Mondfinsternissen, die jeweils im Abstand einer Sarosperiode aufeinanderfolgen. Da die Übereinstimmung der 223 bzw. 242 Monate nicht exakt ist, reißt ein Saros-Zyklus etwa nach 1300 Jahren ab. In diesem Zeitraum beginnen aber gleich viele neue Zyklen, und es existieren immer ungefähr 43 gleichzeitige verschachtelte Saros-Zyklen. === Vergrößerung der Umlaufbahn === Der mittlere Erde-Mond-Abstand wächst aufgrund der Gezeitenreibung jährlich etwa um 3,8 cm (siehe Lunar Laser Ranging). Dabei wird Drehimpuls (hauptsächlich) der Erdrotation in Bahndrehimpuls verwandelt (hauptsächlich des Mondes, siehe Tabelle). === Rotation und Libration === Als der Mond noch flüssig und der Erde viel näher war, bremste umgekehrt das Feld der Erde die Rotation des Mondes schnell bis zur gebundenen Rotation. Seither dreht er sich pro Umlauf genau einmal um die eigene Achse, zeigt uns stets die gleiche Seite. Der gleichmäßigen Rotation ist eine sehr geringe Pendelbewegung überlagert, die sogenannte echte Libration. Der größte Teil der Libration ist jedoch ein nur scheinbares Pendeln, bedingt durch die variable Winkelgeschwindigkeit der Bahnbewegung. Wegen der Libration und der Parallaxe, sprich durch Beobachtung von verschiedenen Punkten etwa bei Mondaufgang und Monduntergang, sind von der Erde aus insgesamt fast 59 % der Mondoberfläche einsehbar bzw. ist von Punkten dieser Fläche aus die Erde zumindest zeitweise sichtbar. Mit der Raumsonde Lunik 3 konnte 1959 erstmals auch die Rückseite des Mondes beobachtet werden. == Physikalische Eigenschaften == === Gestalt === Der mittlere Äquatordurchmesser des Mondes beträgt 3476,2 km und der Poldurchmesser 3472,0 km. Sein mittlerer Durchmesser insgesamt – als volumengleiche Kugel – beträgt 3474,2 km.Die Gestalt des Mondes gleicht mehr der eines dreiachsigen Ellipsoids als der einer Kugel. An den Polen ist er etwas abgeplattet, und die in Richtung der Erde weisende Äquatorachse ist etwas größer als die darauf senkrecht stehende Äquatorachse. Der Äquatorwulst ist auf der erdabgewandten Seite dabei noch deutlich größer als auf der erdnahen Seite. In Richtung Erde ist der Durchmesser durch die Gezeitenkraft am größten. Hierbei ist der erdferne Mondradius an dieser Achse größer als der erdnahe. Dies ist überraschend, und bis heute nicht schlüssig erklärt. Pierre-Simon Laplace hatte schon 1799 vermutet, dass der Äquatorwulst zur erdabgewandten Seite hin stärker ausgebildet ist und die Bewegung des Mondes beeinflusst und dass diese Form nicht einfach ein Ergebnis der Drehung des Mondes um die eigene Rotationsachse sein kann. Seitdem rätseln Mathematiker und Astronomen, wie der Mond diese Ausbuchtung gebildet und behalten hat, nachdem sein Magma erstarrt war. === Atmosphäre === Der Mond hat keine Atmosphäre im eigentlichen Sinn – der Mondhimmel ist z. B. nicht blau –, sondern nur eine Exosphäre. Sie besteht zu etwa gleichen Teilen aus Helium, Neon, Wasserstoff und Argon und hat ihren Ursprung in eingefangenen Teilchen des Sonnenwindes. Ein sehr kleiner Teil entsteht auch durch Ausgasungen aus dem Mondinneren, wobei insbesondere 40Ar, das durch Zerfall von 40K im Mondinneren entsteht, von Bedeutung ist. Allerdings wird ein Teil dieses 40Ar durch den Sonnenwind wieder auf die Mondoberfläche zurückgetrieben und dort in die obersten Partikel des Regoliths implantiert. Da 40K früher häufiger war und damit mehr 40Ar ausgaste, kann durch Messung des 40Ar/36Ar-Verhältnisses von Mondmaterial bestimmt werden, zu welcher Zeit es exponiert war. Es besteht ein Gleichgewicht zwischen der Implantation und thermischem Entweichen. === Oberflächentemperatur === Aufgrund der langsamen Rotation des Mondes und seiner nur äußerst dünnen Gashülle gibt es auf der Mondoberfläche zwischen der Tag- und der Nachtseite sehr große Temperaturunterschiede. Mit der Sonne im Zenit steigt die Temperatur auf etwa 130 °C und fällt in der Nacht auf etwa −160 °C. Die Durchschnittstemperatur über die gesamte Oberfläche beträgt 218 K = −55 °C. In manchen Gebieten gibt es lokale Anomalien, in Form von einer etwas höheren oder auch etwas niedrigeren Temperatur an benachbarten Stellen. Krater, deren Alter als relativ jung angesehen wird, wie zum Beispiel Tycho, sind nach Sonnenuntergang etwas wärmer als ihre Umgebung. Wahrscheinlich können sie durch eine dünnere Staubschicht die während des Tages aufgenommene Sonnenenergie besser speichern. Andere positive Temperaturanomalien gründen eventuell auf örtlich etwas erhöhter Radioaktivität. === Masse === Die Bestimmung der Mondmasse kann über das newtonsche Gravitationsgesetz erfolgen, indem die Bahn eines Körpers im Gravitationsfeld des Mondes untersucht wird. Eine recht gute Näherung für die Mondmasse erhält man bereits, wenn man das Erde-Mond-System als reines Zweikörperproblem betrachtet. Erde und Mond stellen in erster Näherung ein Zweikörpersystem dar, wobei beide Partner ihren gemeinsamen Schwerpunkt S {\displaystyle S} umkreisen. Beim Zweikörpersystem aus Erde und Sonne fällt dieser Schwerpunkt praktisch mit dem Sonnenmittelpunkt zusammen, da die Sonne sehr viel massereicher als die Erde ist. Bei Erde und Mond ist der Massenunterschied jedoch nicht so groß, daher liegt der Erde-Mond-Schwerpunkt nicht im Zentrum der Erde, sondern deutlich davon entfernt (aber noch innerhalb der Erdkugel). Bezeichnet man nun mit r 1 {\displaystyle r_{1}} den Abstand des Erdmittelpunkts und mit r 2 {\displaystyle r_{2}} den Abstand des Mondmittelpunkts vom Schwerpunkt S {\displaystyle S} , folgt aus der Definition des Schwerpunkts r 1 r 2 = m M {\displaystyle {\frac {r_{1}}{r_{2}}}={\frac {m}{M}}} ,dass das Massenverhältnis von Erde M zu Mond m gerade dem Verhältnis von r 1 {\displaystyle r_{1}} zu r 2 {\displaystyle r_{2}} entspricht. Somit geht es nur darum, wie groß r 1 {\displaystyle r_{1}} und r 2 {\displaystyle r_{2}} sind – also wo sich der Schwerpunkt des Systems befindet. Ohne den Mond und dessen Schwerkraft durchliefe die Erde eine elliptische Bahn um die Sonne. Tatsächlich bewegt sich der Schwerpunkt des Erde-Mond-Systems auf einer elliptischen Bahn. Die Rotation um den gemeinsamen Schwerpunkt erzeugt eine leichte Welligkeit in der Erdbahn, die eine kleine Verschiebung der von der Erde aus gesehenen Position der Sonne verursacht. Aus der gemessenen Größe dieser Verschiebung wurde r 1 {\displaystyle r_{1}} zu etwa 4670 km berechnet, also etwa 1700 km unter der Erdoberfläche (der Radius der Erde beträgt 6378 km). Da der Mond keine genaue Kreisbahn um die Erde beschreibt, berechnet man r 2 {\displaystyle r_{2}} über die mittlere große Halbachse abzüglich r 1 {\displaystyle r_{1}} . Es gilt also r 2 {\displaystyle r_{2}} = 384.400 km − 4670 km = 379.730 km. Damit ergibt sich für das Massenverhältnis r 1 r 2 ≈ 1 81 , 3 . {\displaystyle {\frac {r_{1}}{r_{2}}}\approx {\frac {1}{81{,}3}}.} Die Masse des Mondes beträgt daher etwa 1⁄81 der Masse der Erde. Durch Einsetzen der Erdmasse M ≈ 5,97 · 1024 kg ergibt sich die Masse des Mondes zu m ≈ M 81 , 3 ≈ 7 , 34 ⋅ 10 22 kg {\displaystyle m\approx {\frac {M}{81{,}3}}\approx 7{,}34\cdot 10^{22}{\text{ kg}}} .Genauere Messungen vor Ort ergeben einen Wert von m ≈ 7,349 · 1022 kg. === Magnetfeld des Mondes === ==== Allgemeines ==== Die Analyse des Mondbrockens Troctolite 76535, der mit der Mission Apollo 17 zur Erde gebracht wurde, deutet auf ein früheres dauerhaftes Magnetfeld des Erdmondes und damit auf einen ehemals oder immer noch flüssigen Kern hin. Jedoch hat der Mond inzwischen kein Magnetfeld mehr. ==== Lokale Magnetfelder ==== ===== Interaktion mit dem Sonnenwind ===== Der Sonnenwind und das Sonnenlicht lassen auf der sonnenzugewandten Mondseite Magnetfelder entstehen. Dabei werden Ionen und Elektronen aus der Oberfläche freigesetzt. Diese wiederum beeinflussen den Sonnenwind. ===== Magcons ===== Die seltenen „Mondwirbel“ ohne Relief, sogenannte Swirls, fallen außer durch ihre Helligkeit auch durch eine Magnetfeldanomalie auf. Diese werden als Magcon (Magnetic concentration) bezeichnet. Zu ihrer Entstehung gibt es unterschiedliche Theorien. Eine davon geht von großen antipodischen Einschlägen aus, von denen Plasmawolken rund um den Mond liefen, sich auf der Gegenseite trafen und dort den eisenhaltigen Mondboden auf Dauer magnetisierten. Nach einer anderen Vorstellung könnten manche der Anomalien auch Reste eines ursprünglich globalen Magnetfeldes sein. == Geologie des Mondes == === Entstehung des Mondes === Der Mond hat mit 3476 km etwa ein Viertel des Durchmessers der Erde und weist mit 3,345 g/cm3 eine geringere mittlere Dichte als die Erde auf. Aufgrund seines im Vergleich zu anderen Monden recht geringen Größenunterschieds zu seinem Planeten bezeichnet man Erde und Mond gelegentlich auch als Doppelplanet. Seine im Vergleich zur Erde geringe mittlere Dichte blieb auch lange ungeklärt und sorgte für zahlreiche Theorien zur Entstehung des Mondes. Das heute weithin anerkannte Modell zur Entstehung des Mondes besagt, dass vor etwa 4,5 Milliarden Jahren der Protoplanet Theia, ein Himmelskörper von der Größe des Mars, nahezu streifend mit der Protoerde kollidierte. Dabei wurde viel Materie, vorwiegend aus der Erdkruste und dem Mantel des einschlagenden Körpers, in eine Erdumlaufbahn geschleudert, ballte sich dort zusammen und formte schließlich den Mond. Der Großteil des Impaktors vereinte sich mit der Protoerde zur Erde. Nach aktuellen Simulationen bildete sich der Mond in einer Entfernung von rund drei bis fünf Erdradien, also in einer Höhe zwischen 20.000 und 30.000 km. Durch den Zusammenstoß und die frei werdende Gravitationsenergie bei der Bildung des Mondes wurde dieser aufgeschmolzen und vollständig von einem Ozean aus Magma bedeckt. Im Laufe der Abkühlung bildete sich eine Kruste aus den leichteren Mineralen aus, die noch heute in den Hochländern vorzufinden sind. Die frühe Mondkruste wurde bei größeren Einschlägen immer wieder durchschlagen, so dass aus dem Mantel neue Lava in die entstehenden Krater nachfließen konnte. Es bildeten sich Mare, die erst einige hundert Millionen Jahre später vollständig erkalteten. Das sogenannte letzte große Bombardement endete erst vor 3,8 bis 3,2 Milliarden Jahren, nachdem die Anzahl der Einschläge von Asteroiden vor etwa 3,9 Milliarden Jahren deutlich zurückgegangen war. Danach ist keine starke vulkanische Aktivität nachweisbar, doch konnten einige Astronomen – vor allem 1958/59 der russische Mondforscher Nikolai Kosyrew – vereinzelte Leuchterscheinungen beobachten, sogenannte Lunar Transient Phenomena. Im November 2005 konnte eine internationale Forschergruppe der ETH Zürich sowie der Universitäten Münster, Köln und Oxford erstmals die Entstehung des Mondes präzise datieren. Dafür nutzten die Wissenschaftler eine Analyse des Isotops Wolfram-182 und berechneten das Alter des Mondes auf 4527 ± 10 Millionen Jahre. Somit ist er 30 bis 50 Millionen Jahre nach der Herausbildung des Sonnensystems entstanden. Neuere Untersuchungen von deutschen Wissenschaftlern, die das Kristallisationsverhalten des Magmaozeans berücksichtigen, kommen auf ein Alter von 4425 ± 25 Millionen Jahren. === Innerer Aufbau === ==== Überblick ==== Das Wissen über den inneren Aufbau des Mondes beruht im Wesentlichen auf den Daten der vier von den Apollo-Missionen zurückgelassenen Seismometer, die diverse Mondbeben sowie Erschütterungen durch Einschläge von Meteoroiden und durch extra zu diesem Zweck ausgelöste Explosionen aufzeichneten. Diese Aufzeichnungen lassen Rückschlüsse über die Ausbreitung der seismischen Wellen im Mondkörper und damit über den Aufbau des Mondinneren zu, wobei die geringe Anzahl der Messstationen nur sehr begrenzte Einblicke ins Mondinnere liefert. Über die Oberflächengeologie, die bereits durch Beobachtungen von der Erde aus grob bekannt war, wurden durch die von den Apollo- und Luna-Missionen zur Erde gebrachten Mondgesteinsproben sowie durch detaillierte Kartierungen der Geomorphologie, der mineralischen Zusammensetzung der Mondoberfläche und des Gravitationsfeldes im Rahmen der Clementine- und der Lunar-Prospector-Mission neue Erkenntnisse gewonnen. Seismisch lässt sich die Mondkruste aus Anorthosit (mittlere Gesteinsdichte 2,9 g/cm3) auf der Mondvorderseite in einer durchschnittlichen Tiefe von 60 km gegen den Mantel abgrenzen. Auf der Rückseite reicht sie vermutlich bis in 150 km Tiefe. Die größere Mächtigkeit der Kruste und damit der erhöhte Anteil relativ leichten feldspatreichen Krustengesteins auf der erdabgewandten Seite könnte zumindest teilweise dafür verantwortlich sein, dass das Massezentrum des Mondes etwa 2 km näher an der Erde liegt als sein geometrischer Mittelpunkt. Unterhalb der Kruste schließt sich ein fast vollständig fester Mantel aus mafischem und ultramafischem Gestein (Olivin- und Pyroxenreiche Kumulate) an. Zwischen Mantel und Kruste wird eine dünne Schicht basaltischer Zusammensetzung vermutet, die bei der Auskristallisierung der anderen beiden Gesteinshüllen mit inkompatiblen Elementen angereichert wurde und daher einen hohen Anteil an Kalium, Rare Earth Elements (dt. Seltene Erden) und Phosphor aufweist. Diese spezielle chemische Signatur, die sich auch durch hohe Konzentrationen von Uran und Thorium auszeichnet, wird KREEP genannt. Nach traditionellen Hypothesen tritt diese sogenannte Ur-KREEP-Schicht gleichmäßig verteilt unterhalb der Mondkruste auf. Neueren, aus Daten der Lunar-Prospector-Sonde gewonnenen Erkenntnissen zufolge scheint sich KREEP aber schon während der Ausdifferenzierung von Kruste und Mantel vorwiegend in der Kruste der heutigen Oceanus-Procellarum-Mare-Imbrium-Region angereichert zu haben. Die Wärmeproduktion durch die radioaktiven Elemente wird für den vermuteten „jungen“ Vulkanismus in dieser Mondregion (bis 1,2 Milliarden Jahre vor heute) verantwortlich gemacht.Die seismische Erkundung des Mondes erbrachte Hinweise auf Unstetigkeitsflächen (Diskontinuitäten) in 270 und 500 km Tiefe, die als Grenzflächen verschieden zusammengesetzter Gesteinshüllen gedeutet werden und deshalb als die Grenzen zwischen oberem und mittlerem (270 km) bzw. mittlerem und unterem (500 km) Mondmantel gelten. Der obere Mantel wird in diesem Modell als quarzführender Pyroxenit interpretiert, der mittlere als mit FeO-angereichterter olivinführender Pyroxenit und der untere Mantel als Olivin-Orthopyroxen-Klinopyroxen-Granat-Vergesellschaftung. Aber auch andere Interpretationen sind möglich.Über den Mondkern ist kaum etwas bekannt und über dessen genaue Größe und Eigenschaften existieren unterschiedliche Ansichten. Durch aufwendige Aufbereitung seismischer Daten wurde nunmehr ermittelt, dass der Mondkern mit einem Radius von etwa 350 km ungefähr 20 % der Größe des Mondes besitzt (vgl. Erdkern relativ zur Größe der Erde: ≈ 50 %) und sich die Mantel-Kern-Grenze damit in einer Tiefe von etwa 1400 km befindet. Es wird angenommen, dass er, wie der Erdkern, vor allem aus Eisen besteht. Hierbei liefern die seismischen Daten (u. a. die Dämpfung von Scherwellen) Hinweise darauf, dass ein fester innerer Kern von einem flüssigen äußeren Kern umgeben ist, an den sich wiederum nach außen eine teilaufgeschmolzene Zone des untersten Mantels (PMB, partially molten boundary layer) anschließt. Aus diesem Modell lassen sich die ungefähren Temperaturen ableiten, die im Kern des Mondes entsprechend herrschen müssen, die, deutlich unter denen des Erdkerns, um die 1400 °C (± 400 °C) liegen. Unterster Mantel und Kern mit ihrem teilaufgeschmolzenen bzw. flüssigen Material werden zusammen auch als Mondasthenosphäre bezeichnet. Die sich offenbar vollständig rigide verhaltenden Bereiche darüber (mittlerer und oberer Mantel sowie Kruste), in denen keine Dämpfung von Scherwellen stattfindet, bilden entsprechend die Mondlithosphäre. ==== Mondbeben ==== Die zurückgelassenen Seismometer der Apollo-Missionen registrierten bis zum Ende der Messungen im Jahr 1977 etwa 12.000 Mondbeben. Die stärksten dieser Beben erreichten mit einer Magnitude von knapp 5 nur einen Bruchteil der Magnitude der stärksten Erdbeben. Die meisten Mondbeben hatten Magnituden um 2. Die seismischen Wellen der Beben konnten ein bis vier Stunden lang verfolgt werden. Sie wurden im Mondinneren also nur sehr schwach gedämpft. Bei mehr als der Hälfte der Beben befand sich das Hypozentrum in einer Tiefe von 800 bis 1000 km, oberhalb der Mondasthenosphäre. Diese Beben traten bevorzugt bei Apogäum- und Perigäumdurchgang auf, das heißt alle 14 Tage. Daneben sind auch Beben mit oberflächennahem Hypozentrum bekannt. Ursache der Beben sind mit der Erdentfernung schwankende Gezeitenkräfte. Abweichungen vom mittleren Gezeitenpotential sind am erdnächsten und erdfernsten Punkt der Mondbahn groß. Die Hypozentren der Beben verteilten sich jedoch nicht gleichmäßig über eine gesamte Mantelschale. Die meisten Beben entstanden in nur etwa 100 Zonen, die jeweils nur wenige Kilometer groß waren. Der Grund für diese Konzentration ist noch nicht bekannt. ==== Massenkonzentrationen ==== Durch ungewöhnliche Einflüsse auf die Bahnen der Lunar-Orbiter-Missionen erhielt man Ende der 1960er Jahre erste Hinweise auf Schwereanomalien, die man Mascons (Mass concentrations, Massenkonzentrationen) nannte. Durch Lunar Prospector wurden diese Anomalien näher untersucht, sie befinden sich meist im Zentrum der Krater und sind vermutlich durch die Einschläge entstanden. Möglicherweise handelt es sich um die eisenreichen Kerne der Impaktoren, die aufgrund der fortschreitenden Abkühlung des Mondes nicht mehr bis zum Kern absinken konnten. Nach einer anderen Theorie könnte es sich um Lavablasen handeln, die als Folge eines Einschlags aus dem Mantel aufgestiegen sind. === Regolith === Der Mond besitzt nur eine sehr geringe Atmosphäre. Deshalb schlagen bis heute ständig Meteoroiden unterschiedlicher Größe ohne Abbremsung auf der Oberfläche ein, die das an der Mondoberfläche anstehende Krustengestein zertrümmert, ja regelrecht pulverisiert haben. Durch diesen Prozess entsteht Mondregolith (im Englischen z. T. auch als lunar soil, „Monderde“, bezeichnet). Er bedeckt weite Areale der Mondoberfläche mit einer mehrere Meter dicken Schicht, welche Details der ursprünglichen Geologie des Mondes verbirgt und so die Rekonstruktion seiner Entstehungsgeschichte erschwert. Obwohl er gemeinhin als Mondstaub bezeichnet wird, entspricht der Regolith eher einer Sandschicht. Die Korngröße reicht von Staubkorngröße direkt an der Oberfläche über Sandkörner wenig tiefer bis hin zu Steinen und Felsen, die erst später hinzukamen und noch nicht vollständig zermahlen sind. Der Regolith entsteht hauptsächlich aus dem normalen Material der Oberfläche. Er enthält aber auch Beimengungen, die durch Einschläge an den Fundort transportiert wurden. Ein weiterer wichtiger Bestandteil sind glasige Erstarrungsprodukte von Einschlägen. Das sind zum einen kleine Glaskugeln, die an Chondren erinnern, und zum anderen Agglutinite, also durch Glas verbackene Regolithkörner. Diese machen an manchen Stellen fast die Hälfte des Oberflächengesteins des Mondes aus und entstehen, wenn die durch den Einschlag erzeugten Spritzer geschmolzenen Gesteins erst nach dem Auftreffen auf die Regolithschicht erstarren. Wegen der fehlenden Erosion sind die Körner sehr scharfkantig und erzeugen hohen Verschleiß an Textilien, aber auch an metallischen Oberflächen. Im Mondmeteoriten Dhofar 280, der 2001 im Oman gefunden wurde, wurden neue Eisen-Silizium-Mineralphasen identifiziert. Eine davon (Fe2Si), damit erstmals eindeutig in der Natur nachgewiesen, wurde nach Bruce Hapke als Hapkeit benannt. Dieser hatte in den 1970er Jahren die Entstehung derartiger Eisenverbindungen durch Weltraumverwitterung vorhergesagt. Weltraum-Erosion verändert auch die Reflexionseigenschaften des Materials und beeinflusst so die Albedo der Mondoberfläche. Der Mond hat kein nennenswertes Magnetfeld, d. h. die Teilchen des Sonnenwindes – vor allem Wasserstoff, Helium, Neon, Kohlenstoff und Stickstoff – treffen nahezu ungehindert auf die Mondoberfläche und werden im Regolith implantiert. Dies ähnelt der Ionenimplantation bei der Herstellung integrierter Schaltungen. Auf diese Weise bildet der Mondregolith ein Archiv des Sonnenwindes, vergleichbar dem Eis in Grönland für das irdische Klima. Dazu kommt, dass kosmische Strahlung bis zu einen Meter tief in die Mondoberfläche eindringt und dort durch Kernreaktionen (hauptsächlich Spallationsreaktionen) instabile Nuklide bildet. Diese verwandeln sich u. a. durch Alphazerfall mit verschiedenen Halbwertszeiten in stabile Nuklide. Da beim Alphazerfall jeweils ein Helium-Atomkern entsteht, enthalten Gesteine des Mondregoliths bedeutend mehr Helium als irdische Oberflächengesteine. Da der Mondregolith durch Einschläge umgewälzt wird, haben die einzelnen Bestandteile meist eine komplexe Bestrahlungsgeschichte hinter sich. Man kann jedoch durch radiometrische Datierungsmethoden für Mondproben herausfinden, wann sie nahe der Oberfläche waren. Damit lassen sich Erkenntnisse über die kosmische Strahlung und den Sonnenwind zu diesen Zeitpunkten gewinnen. === Wasser === Der Mond ist ein extrem trockener Körper. Jedoch konnten Wissenschaftler mit Hilfe eines neuen Verfahrens im Sommer 2008 winzige Spuren von Wasser (bis zu 0,0046 %) in kleinen Glaskügelchen vulkanischen Ursprungs in Apollo-Proben nachweisen. Diese Entdeckung deutet darauf hin, dass nach der gewaltigen Kollision, durch die der Mond entstand, nicht das ganze Wasser verdampft ist.Erstmals hat 1998 die Lunar-Prospector-Sonde Hinweise auf Wassereis in den Kratern der Polarregionen des Mondes gefunden, dies wird aus dem Energiespektrum des Neutronenflusses evident. Dieses Wasser könnte aus Kometenabstürzen stammen. Da die tieferen Bereiche der polaren Krater aufgrund der geringen Neigung der Mondachse gegen die Ekliptik niemals direkt von der Sonne bestrahlt werden und somit das Wasser dort nicht verdampfen kann, könnte es sein, dass dort noch im Regolith gebundenes Wassereis vorhanden ist. Der Versuch, durch den gezielten Absturz des Prospectors in einen dieser Polarkrater einen eindeutigen Nachweis zu erhalten, schlug allerdings fehl. Im September 2009 lieferten Reflexionsminima im 3-µm-Bereich von Infrarotspektren der Mondoberfläche, die das NASA-Instrument Moon Mineralogy Mapper (kurz M3) an Bord der indischen Sonde Chandrayaan-1 aufgenommen hatte, Hinweise auf oberflächennahes „Wasser und Hydroxyl“ an permanent beschatteten Stellen der beiden Mondpole. Dieses Phänomen wurde bereits bei der Instrumentenkalibrierung der Raumsonde Cassini bei ihrem Vorbeiflug am Mond im Jahr 1999 festgestellt. Nachfolgend wurde im Zuge der Auswertung weiterer M3-Daten zumindest ein Teil dieses Materials „definitiv“ als Wassereis identifiziert.Am 13. November 2009 bestätigte die NASA, dass die Daten der LCROSS-Mission auf größere Wasservorkommen auf dem Mond schließen lassen.Im März 2010 gab der United States Geological Survey bekannt, dass bei erneuten Untersuchungen der Apollo-Proben mit der neuen Methode der Sekundärionen-Massenspektrometrie bis zu 0,6 % Wasser gefunden wurden. Das Wasser weist ein Wasserstoffisotopenverhältnis auf, welches deutlich von den Werten irdischen Wassers abweicht.Im Oktober 2010 ergab eine weitere Auswertung der LCROSS- und LRO-Daten, dass viel mehr Wasser auf dem Mond vorhanden ist als früher angenommen. Die Sonde Chandrayaan-1 fand allein am Nordpol des Mondes Hinweise auf mindestens 600 Millionen Tonnen Wassereis. Auch wurden Hydroxylionen, Kohlenmonoxid, Kohlendioxid, Ammoniak, freies Natrium und Spuren von Silber detektiert.Wasser(eis) überdauert oberflächennah am längsten an den Polen des Mondes, da diese am wenigsten vom Sonnenlicht beschienen und erwärmt werden, und besonders in der Tiefe von Kratern. Durch Untersuchung mit Neutronenspektrometern im Orbit fanden Matthew Siegler et al. die höchsten Konzentrationen von Wasserstoff (wahrscheinlich in Form von Wassereis) etwas abseits der aktuellen Pole an zwei Stellen, die sich diametral gegenüberliegen. Sie leiten daraus die Hypothese ab, dass – etwa durch vulkanische Massenverschiebung – sich die Polachse um etwa 6° verschoben hat.Im Jahr 2020 berichteten Astronomen die Entdeckung von Wasser außerhalb des Südpols auf der sonnenbeschienenen Seite des Mondes. Dies deutet darauf hin, dass Wasser für potenzielle zukünftige Mondmissionen – etwa um Sauerstoff zum Atmen oder Wasserstoff für Triebwerke herzustellen – zugänglicher sein könnte als bisher angenommen. Tagestemperaturen auf dem Mond liegen über dem Siedepunkt von Wasser. Die Entdeckung wurde mittels dreier Raumsonden und dem luftgestützten Teleskop SOFIA gemacht. == Oberflächenstrukturen == === Größe und Gliederungen === Die Mondoberfläche beträgt 38 Mio. km2 und ist damit etwa 15 % größer als die Fläche von Afrika mit der arabischen Halbinsel. Sie ist nahezu vollständig von einer grauen Regolith-Schicht bedeckt. Des Mondes redensartlicher „Silberglanz“ wird einem irdischen Beobachter nur durch den Kontrast zum Nachthimmel vorgetäuscht. Tatsächlich hat der Mond eine relativ geringe Albedo (Rückstrahlfähigkeit). Die Mondoberfläche gliedert sich in Terrae („Länder“) und Maria („Meere“). Die Terrae sind ausgedehnte Hochländer und die Maria (Singular: Mare) sind große Beckenstrukturen, die von Gebirgszügen gerahmt sind und in denen sich weite Ebenen aus erstarrter Lava befinden. Sowohl die Maria als auch die Terrae sind übersät von Kratern. Zudem gibt es zahlreiche Gräben und Rillen sowie flache Dome, jedoch keine aktive Plattentektonik wie auf der Erde. Auf dem Mond ragt der höchste Gipfel 16 km über den Boden der tiefsten Senke, was rund 4 km weniger sind als auf der Erde (Ozeanbecken inbegriffen). === Maria === ==== Täler, Berge, Meere ==== Die erdzugewandte Mondseite wird von den meisten und größten Maria geprägt. Die Maria sind dunkle Tiefebenen, die insgesamt 16,9 % der Mondoberfläche bedecken. Sie bedecken 31,2 % der Vorderseite, aber nur 2,6 % der Rückseite. Die meisten Maria gruppieren sich auffällig in der Nordhälfte der Vorderseite und bilden das sogenannte „Mondgesicht“. Die dunklen Maria hielt man in der Frühzeit der Mondforschung tatsächlich für Meere; deshalb werden sie nach Giovanni Riccioli mit dem lateinischen Wort für Meer (mare) bezeichnet. Die Maria bestehen aus erstarrten basaltische Lavadecken im Inneren ausgedehnter kreisförmiger Becken und unregelmäßiger Einsenkungen. Die Vertiefungen sind vermutlich durch große Einschläge in der Mondfrühphase entstanden. Da in der Frühphase der Mondmantel noch sehr heiß und daher magmatisch aktiv war, wurden diese Einschlagsbecken anschließend von aufsteigendem Magma bzw. Lava gefüllt. Dies wurde vermutlich durch die geringere Krustendicke der erdnahen Mondseite, im Vergleich zur erdfernen Mondseite, stark begünstigt. Allerdings ist der ausgedehnte Vulkanismus der Mondvorderseite wahrscheinlich noch von weiteren Faktoren begünstigt worden (siehe KREEP). Die Maria haben nur wenige große Krater, und außerhalb der Krater variieren ihre Höhen nur um maximal 100 m. Zu diesen kleinen Erhebungen gehören die Dorsa. Die Dorsa wölben sich als Rücken flach auf und erstrecken sich über mehrere dutzend Kilometer. Die Maria sind von einer 2 bis 8 m dicken Regolithschicht bedeckt, die aus Mineralen besteht, die relativ reich an Eisen und Magnesium sind. Die Maria wurden anhand von Proben ihrer dunklen Basalte radiometrisch auf 3,1 bis 3,8 Milliarden Jahre datiert. Das jüngste vulkanische Mondgestein ist ein in Afrika gefundener Meteorit mit KREEP-Signatur, der ca. 2,8 Milliarden Jahre alt ist. Dazu passt jedoch die Kraterdichte in den Maria nicht, die auf ein teilweise deutlich geringeres geologisches Alter der Maria von lediglich 1,2 Milliarden Jahren hinweist. ==== Irregular Mare Patches ==== Nach Auswertung von Aufnahmen und Oberflächendaten der Sonde Lunar Reconnaissance Orbiter stellten Wissenschaftler der Arizona State University und der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster im Oktober 2014 die These auf, dass es noch vor deutlich weniger als 100 Millionen Jahren weit verbreitet vulkanische Aktivität auf dem Mond gegeben haben könnte. Innerhalb der großen Maria existieren demnach zahlreiche kleinere Strukturen mit Abmessungen zwischen 100 m und 5 km, die als Irregular Mare Patches bezeichnet und als lokale Lavadecken gedeutet werden. Die geringe Größe und Dichte der Einschlagskrater in diesen „Patches“ (dt. „Flecken“ oder „Flicken“) deuten darauf hin, dass sie für Mondverhältnisse sehr jung sind, bisweilen kaum mehr als 10 Millionen Jahre. Eine dieser Strukturen namens „Ina“ war bereits seit der Apollo-15-Mission bekannt, wurde jedoch bislang als Sonderfall mit geringer Aussagekraft für die geologische Geschichte des Mondes betrachtet. Die nun festgestellte Häufigkeit der Irregular Mare Patches lässt den Schluss zu, dass die vulkanische Aktivität auf dem Mond nicht wie bisher angenommen vor etwa einer Milliarde Jahren „abrupt“ endete, sondern langsam über einen langen Zeitraum schwächer wurde, was unter anderem die bisherigen Modelle zu den Temperaturen im Mondinneren in Frage stellt. === Terrae === Die Hochländer wurden früher als Kontinente angesehen und werden deshalb als Terrae bezeichnet. Sie weisen deutlich mehr und auch größere Krater als die Maria auf und werden von einer bis zu 15 m dicken Regolithschicht bedeckt, die überwiegend aus hellem, relativ aluminiumreichem Anorthosit besteht. Die ältesten Hochland-Anorthositproben sind radiometrisch mit Hilfe der Samarium-Neodym-Methode auf ein Kristallisationsalter von 4,456 ± 0,04 Milliarden Jahren datiert worden, was als Bildungsalter der ersten Kruste und als Beginn der Kristallisation des ursprünglichen Magmaozeans interpretiert wird. Die jüngsten Anorthosite sind etwa 3,8 Milliarden Jahre alt. Die Hochländer sind von sogenannten Tälern (Vallis) durchzogen. Dabei handelt es sich um bis zu einige hundert Kilometer lange, schmale Einsenkungen innerhalb der Hochländer. Ihre Breite beträgt oft wenige Kilometer, ihre Tiefe einige hundert Meter. Die Mondtäler sind in den meisten Fällen nach in der Nähe gelegenen Kratern benannt (Siehe auch: Liste der Täler des Erdmondes). In den Hochländern gibt es mehrere Gebirge, die Höhen von etwa 10 km erreichen. Sie sind möglicherweise dadurch entstanden, dass der Mond infolge der Abkühlung geschrumpft ist und sich dadurch Faltengebirge aufwölbten. Nach einer anderen Erklärung könnte es sich um die Überreste von Kraterwällen handeln. Sie sind nach irdischen Gebirgen benannt worden, zum Beispiel Alpen, Apenninen, Kaukasus und Karpaten. === Krater === Die Mondkrater entstanden durch Einschläge kosmischer Objekte und sind deshalb Einschlagkrater. Die größten von ihnen entstanden vor etwa 3 bis 4,5 Milliarden Jahren in der Frühzeit des Mondes durch Einschläge großer Asteroiden. Sie werden, der Nomenklatur von Riccioli folgend, vorzugsweise nach Astronomen, Philosophen und anderen Gelehrten benannt. Einige der großen Einschlagkrater sind von sternförmigen Strahlensystemen umgeben. Diese Strahlen stammen unmittelbar vom Einschlag und bestehen aus Auswurfmaterial (sogenannte Ejecta), das zu zahlreichen Glaskügelchen erstarrt ist. Die Glaskügelchen streuen das Licht bevorzugt in die Einfallsrichtung zurück, wodurch sich die Strahlen bei Vollmond hell vom dunkleren Regolith abheben. Die Strahlen sind besonders lang und auffällig beim Krater Tycho. Der größte Einschlagkrater auf dem Mond ist das Südpol-Aitken-Becken, das 2240 km durchmisst. Die kleinsten sind Mikrokrater, die erst unter dem Mikroskop sichtbar werden. Auf der Mondvorderseite sind mit irdischen Teleskopen allein mehr als 40.000 Krater, die mehr als 100 m durchmessen, sichtbar. Die Kraterdichte ist auf der Rückseite, da ihre Oberfläche durchschnittlich geologisch älter ist, deutlich höher. Vulkanische Krater sind bislang noch nicht zweifelsfrei identifiziert worden. Da die Mondkruste einen geringeren SiO2-Anteil hat als die kontinentale Erdkruste, haben sich dort keine Schichtvulkane gebildet, wie sie z. B. für den pazifischen Feuerring auf der Erde typisch sind. Aber auch Schildvulkane mit zentraler Caldera, wie sie in den Ozeanbecken der Erde oder auf dem Mars vorkommen, scheinen auf dem Mond nicht zu existieren. Stattdessen fand lunarer Vulkanismus offenbar überwiegend in Form von Spalteneruptionen statt. === Rillen === Auf der Mondoberfläche gibt es auch Rillenstrukturen (Rimae), über deren Ursprung vor dem Apollo-Programm lange spekuliert worden war. Man unterscheidet gerade Rillen, und mäandrierende Rillen.Seit den Untersuchungen der Hadley-Rille durch Apollo 15 geht man davon aus, dass es sich bei den mäandrierenden Rillen um Lavaröhren handelt, deren Decke eingestürzt ist. Hochauflösende Satellitenfotos sowie doppelte Radarechos von der Mondoberfläche in den Marius Hills (Oceanus-Procellarum-Becken), wo zudem eine negative Schwereanomalie registriert wurde, lassen es als sehr wahrscheinlich erscheinen, dass es auch heute noch ausgedehnte intakte Lavaröhrensysteme gibt.Die Entstehung der geraden Rillen ist deutlich unklarer – es könnte sich um Schrumpfungsrisse handeln, die sich in erkaltender Lava gebildet haben. Neben den als Rimae bezeichneten Strukturen bestehen noch schmale, vertiefte Strukturen, die eine Länge bis über 400 km erreichen. Sie ähneln den langgestreckten Rillen und werden als Furchen oder Risse (Rupes) bezeichnet. Diese Furchen gelten als Beweis für das Wirken von Spannungskräften innerhalb der Mondkruste. === Gruben oder Löcher === In Aufnahmen der Mondsonde Kaguya entdeckte der Astronom Junichi Haruyama mit seiner Arbeitsgruppe im Jahr 2009 erstmals ein „schwarzes Loch“ mit ca. 65 m Durchmesser in der Mondoberfläche im Bereich der Marius-Hügel im Oceanus Procellarum auf der erdzugewandten Mondseite. Es liegt annähernd mittig in einer flachen Rille des mäandrierenden Typs. Neun verschiedene Aufnahmen, die unter verschiedenen Blickwinkeln und bei unterschiedlichen Sonnenständen gemacht wurden, erlaubten eine Schätzung der Tiefe des Lochs auf 80 bis 88 Meter. Dieses führt wiederum in eine größere Kaverne, die ca. 50 km lang und 100 m breit ist, die größte entdeckte Mondhöhle.Weil um das Loch herum kein offensichtlich dort ausgeflossenes Material erkennbar ist, wird eine Entstehung als vulkanischer Schachtkrater ausgeschlossen. Am wahrscheinlichsten handelt es sich um ein sogenanntes Skylight einer Lavaröhre, das dadurch entstanden sein muss, dass die Decke der Lavaröhre an dieser Stelle eingestürzt ist. Die flache Rille repräsentiert demnach eine Lavaröhre, deren Decke noch weitgehend intakt ist, aber topographisch etwas unterhalb des Niveaus des Umlandes liegt. Ursächlich für die Bildung des Skylights können Mondbeben, Einschläge von Meteoriten oder die Auflast eines noch flüssigen Lavastroms gewesen sein. Auch ein Einfluss der irdischen Schwerkraft (Gezeitenkräfte) ist denkbar.Bis 2011 wurden zwei weitere mögliche Skylights entdeckt. Anfang 2018 betrug die Anzahl der Skylight-Kandidaten rund 200. === Mondrückseite === Über die Mondrückseite war vor den ersten Raumfahrtmissionen nichts bekannt, da sie von der Erde nicht sichtbar ist; erst Lunik 3 lieferte die ersten Bilder. Die Rückseite unterscheidet sich in mehreren Aspekten von der Vorderseite. Ihre Oberfläche prägen fast nur kraterreiche Hochländer. Zu den Kratern zählt auch das große Südpol-Aitken-Becken, das 13 km tief ist, 2240 km durchmisst, und von vielen anderen Kratern überzeichnet ist. Hier hat, wie Untersuchungen der Clementine-Mission und des Lunar Prospectors vermuten lassen, ein sehr großer Einschlagkörper die Mondkruste durchstoßen und möglicherweise Mantelgesteine freigelegt. Die Rückseitenkruste ist mit 150 km gegenüber 70 km der Vorderseitenkruste etwa doppelt so dick. Auf der Rückseite entdeckte die Raumsonde LRO auch Grabenstrukturen. Dort ist auf dem Mond auch der höchste bekannte Punkt (10.750 m), der mit dem Laser-Altimeter der Raumsonde Kaguya gemessen wurde und am Rande des Engelhardt-Kraters liegt. Am 3. Januar 2019 landete erstmals eine Raumsonde, die Chang’e-4, auf der Mondrückseite.Rück- und Vorderseite haben sich auch unterschiedlich entwickelt, weil das geometrische Mondzentrum (Mittelpunkt der volumensgleichen Kugel) und sein Schwerpunkt um 1,8 km (1 Promille des Mondradius) voneinander abstehen. Diese Asymmetrie von innerem Aufbau und Mondkruste könnte von einer Kollision mit einem zweiten Erdtrabanten herrühren, die einige Forscher in der Frühzeit des Mondes annehmen. Für die Mondrückseite ist die „dunkle Seite des Mondes“ (englisch dark side of the Moon) eine erhalten gebliebene Redensart, die aber nur symbolisch im Sinne einer unbekannten Seite zu verstehen ist; im eigentlichen Wortsinn ist die Redensart falsch, da – wie schon zu den Mondphasen angemerkt – Rück- und Vorderseite im Laufe der Mondrotation abwechselnd von der Sonne beschienen werden. Die Rückseite ist durch den viel geringeren Flächenanteil der dunklen Mareebenen insgesamt sogar deutlich heller als die Vorderseite. === Mondvorderseite === == Einflüsse auf die Erde == === Wie es dazu kommt === Die Gravitation des Mondes treibt auf der Erde die Gezeiten an. Dazu gehören nicht nur Ebbe und Flut in den Meeren, sondern auch Hebungen und Senkungen des Erdmantels. Die durch die Gezeiten frei werdende Energie wird der Drehbewegung der Erde entnommen und der darin enthaltene Drehimpuls dem Bahndrehimpuls des Mondes zugeführt. Dadurch verlängert sich gegenwärtig die Tageslänge um etwa 20 Mikrosekunden pro Jahr. In ferner Zukunft wird die Erdrotation an den Mondumlauf gebunden sein, und die Erde wird dem Mond immer dieselbe Seite zuwenden. Die Erde ist nicht perfekt kugelförmig, sondern durch die Rotation abgeflacht. Die Gezeitenkraft von Sonne und Mond erzeugt ein aufrichtendes Drehmoment, das zweimal jährlich bzw. monatlich maximal wird. Die Erde folgt diesem als Kreisel nicht direkt, sondern präzediert mit in erster Näherung konstanter Neigung der Erdachse. Wäre die Sonne die einzige Ursache für Präzession, würde sich die Neigung der Erdachse innerhalb von Millionen Jahren in weiten Bereichen ändern. Dies würde ungünstige Umweltbedingungen für das Leben auf der Erde bedeuten, weil die Polarnacht abwechselnd die gesamte Nord- bzw. Südhalbkugel erfassen würde. Die durch den Mond bewirkte schnelle Präzession stabilisiert die Neigung der Erdachse. So trägt der Mond zu dem das Leben begünstigenden Klima der Erde bei. === Einfluss auf Lebewesen === Nach dem Skeptic’s Dictionary habe keine ausgewertete wissenschaftliche Studie eine signifikante positive Korrelation zwischen Mondphasen und dem Auftreten von Schlafstörungen, Verkehrsunfällen, Operationskomplikationen, der Häufigkeit von Suizidhandlungen oder der Häufigkeit von Geburten ergeben. Manche Menschen, z. B. in der Land- und Forstwirtschaft, achten seit alters her darauf, dass bestimmte Arbeiten in der Natur in der „richtigen“ Mondphase erledigt werden (siehe auch: Mondholz, Mondkalender). Die tägliche Bewegung des Mondes und die darin enthaltene Information über die Himmelsrichtungen wird von Zugvögeln und einigen Arten nachtaktiver Insekten zur Navigation genutzt. Bei manchen Arten der Ringelwürmer (wie bei dem Samoa-Palolo), Krabben und Fische (Leuresthes) ist das Fortpflanzungsverhalten sehr eng an den monatlichen Phasenwechsel des Mondes gekoppelt. Die schon im 18. Jahrhundert erforschte Korrelation von Mondposition und Wetter ist so gering, dass ein dadurch verursachter Einfluss auf Lebewesen vollständig vernachlässigt werden kann.Das Schlafwandeln von Menschen wird irreführend als Mondsüchtig-Sein interpretiert. == Atmosphärische Erscheinungen == === Mondhof und Mondhalo === Als Mondhof werden farbige Ringe um den Mond bezeichnet, die durch die Beugung des Lichts an den Wassertröpfchen der Wolken verursacht werden. Dabei ist der äußerste Ring von rötlicher Farbe und hat eine Ausdehnung von etwa zwei Grad, in seltenen Fällen auch bis zu zehn Grad. Umgangssprachlich wird der Begriff des Mondhofs auch für einen Halo um den Mond gebraucht. Dafür sind Eiskristalle in Luftschichten verantwortlich, die aus dünnem Höhennebel oder Dunst entstanden sind und das auf die Erde fallende Licht in einem sehr schwachen Winkel ablenken und dadurch eine Art leuchtenden Ringeffekt für den Betrachter hervorrufen. Eine spezielle Haloerscheinung des Mondes ist der Nebenmond. Analog zu den Nebensonnen treten Nebenmonde mit einem Abstand von rund 22 Grad neben dem Mond auf. Wegen der geringeren Lichtstärke des Mondes sieht man sie jedoch seltener und meistens bei Vollmond. === Mondregenbogen === Bei Nacht kann durch Zusammentreffen von Mondlicht und Regentropfen ein Mondregenbogen entstehen, der analog zum physikalischen Prinzip des Regenbogens der Sonne funktioniert. === Mondtäuschung und Mondsichelneigung === Als Mondtäuschung bezeichnet man den Effekt, dass der Mond in Horizontnähe größer aussieht als im Zenit. Dies ist keine Folge der Lichtbrechung an den Luftschichten, sondern eine optische Täuschung, die von der Wahrnehmungspsychologie untersucht und erklärt wird. Auch das Phänomen, dass die beleuchtete Seite des Mondes oft nicht genau zur Sonne zu zeigen scheint, ist eine optische Täuschung und wird dort unter der Überschrift Relativität des Blickwinkels erläutert. Man kann sich davon überzeugen, dass die beleuchtete Mondsichel tatsächlich – wie zu erwarten – jederzeit senkrecht auf der Verbindungslinie zwischen Sonne und Mond steht, indem man diese Verbindungslinie durch eine mit ausgestreckten Armen – visiert – zwischen Sonne und Mond gespannte Schnur sichtbar macht. === Brechungseffekte === Am Terminator können unter günstigen Bedingungen grün und manchmal auch blaue Farbsäume beobachtet werden, wenn der Mond sehr nahe am Horizont steht. In diesem Fall leuchten die von der unter dem Horizont befindlichen Sonne noch beleuchteten Ränder der Mondkrater hell vor den oberhalb befindlichen Schattenbereichen. Durch die astronomische Refraktion des weißlichen Mondlichts auf dem mehrere hundert Kilometer langen Weg durch die Atmosphäre werden rote Anteile stärker gebrochen, so dass von den hellen Seiten der Schattengrenzen vor allem grüne Anteile zum Beobachter auf der Erdoberfläche gelangen. Wegen der geringen Farbtemperatur des Mondlichts von ungefähr 4100 Kelvin gibt es nur vergleichsweise geringe blaue Anteile im Mondlicht, die manchmal aber ebenfalls beobachtet werden können. Dieser Effekt kann auch bei der Sonne als Grüner Blitz wahrgenommen werden. == Geschichte der Mondbeobachtung == === Freiäugige Beobachtung, Mondbahn und Finsternisse === Der Mond ist nach der Sonne das mit Abstand hellste Objekt des Himmels; zugleich kann man seinen einzigartigen Helligkeits- und Phasenwechsel zwischen Vollmond und Neumond auch mit bloßem Auge sehr gut beobachten. Das letzte Auftauchen der abnehmenden Mondsichel am Morgenhimmel (Altlicht des Morgenletztes) oder das erste Auftauchen der zunehmenden Mondsichel am Abendhimmel (Neulicht des Abenderstes) markiert oder markierte in einigen Kulturkreisen den Beginn eines Monats.Die Mondphasen und die Sonnen- bzw. Mondfinsternisse sind mit Sicherheit schon früh von Menschen beobachtet worden. Die genaue Länge des siderischen und des synodischen Monats war schon im 5. Jahrtausend v. Chr. bekannt, ebenso die Neigung der Mondbahn gegen die Ekliptik (5,2°). Mindestens 1000 v. Chr. kannten die babylonischen Astronomen die Bedingungen, unter denen Sonnenfinsternisse auftreten, und die Vorhersage der Sonnenfinsternis vom 28. Mai 585 v. Chr. durch Thales von Milet entschied 585 v. Chr. den Krieg zwischen den Lydern und Medern. Von Anaxagoras ist die Aussage überliefert, der Mond erhalte sein Licht von der Sonne, und es gebe auf ihm Täler und Schluchten; diese und andere Lehren trugen ihm eine Verurteilung wegen Gotteslästerung ein.Auch Bedeckungen von Planeten oder ekliptiknahen Sternen durch den Mond sind in der Antike bezeugt. Aristoteles erwähnt in seiner Schrift Über den Himmel zum Beispiel die Bedeckung des Planeten Mars durch den zunehmenden Halbmond im Sternbild Löwe am 5. April 357 v. Chr. in den frühen Abendstunden. Er erwähnte in diesem Zusammenhang auch, dass die Babylonier und die Ägypter solche Phänomene über lange Zeit beobachtet und dokumentiert hatten.Die am Mond freiäugig erkennbaren Details (siehe Mondgesicht, Gesicht am Südpol des Mondes) werden in anderen Kulturkreisen auch als Hase etc. bezeichnet. Die dunklen, scharf begrenzten Flächen wurden schon früh als Meere interpretiert (diese glatten Ebenen werden daher bis heute Mare genannt), während die Natur der bei Vollmond sichtbar werdenden Strahlensysteme erst im 20. Jahrhundert geklärt werden konnte. === Fernrohrbeobachtung, Mondkarten und Raumfahrt === Als erdnächster Himmelskörper zeigt der Mond bereits durch einfache Fernrohre topographische Details, insbesondere in der Nähe des Terminators, da dort die Schatten lang sind, wie zum Beispiel der Goldene Henkel oder das Lunar X. So begann bald nach Erfindung des Fernrohrs 1608 die Erforschung des Mondes, zu nennen sind Galileo Galilei, David Fabricius, Thomas Harriot und Simon Marius. Höhepunkte der Selenografie waren die Arbeiten von Johann Hieronymus Schroeter, der 1791 seine Selenotopografie publizierte, die genaue Kartierung der Mondkrater und Gebirge sowie deren Benennung. Im März 1840 gelangen John William Draper in New York City mit einem entgegen der Erdrotation mitgeführten Teleskop der New York University die ersten fotografischen Aufnahmen des Mondes.Es folgte die Ära der hochpräzisen Mondkarten durch Beer, Mädler und andere, ab etwa 1880 die langbrennweitige Astrofotografie (siehe auch Pariser Mondatlas) und erste geologische Deutungen der Mondstrukturen. Anschauliche zeitgenößische Darstellungen der Mondoberfläche von 1930 durch Lucien Rudaux finden sich im Kosmos Handweiser für Naturfreunde, Heft 1/1930. Das durch die Raumfahrt (erste Mondumkreisung 1959) gesteigerte Interesse am Mond führte zur erstmaligen Beobachtung leuchtender Gasaustritte durch Kosyrew, doch die Vulkanismus-Theorie der Mondkrater musste der Deutung als Einschlagkrater weichen. Vorläufiger Höhepunkt waren die bemannten Mondlandungen 1969–1972, die dadurch ermöglichten zentimetergenauen Laser-Entfernungsmessungen und in den letzten Jahren die multispektrale Fernerkundung der Mondoberfläche sowie die genaue Vermessung ihres Schwerefeldes durch verschiedene Mondorbiter. === Mythologische Anfänge === Die älteste bekannte Darstellung des Mondes ist eine 5000 Jahre alte Mondkarte aus dem irischen Knowth. Als weitere historisch bedeutende Abbildung in Europa ist die Himmelsscheibe von Nebra zu nennen. Das Steinmonument Stonehenge diente wahrscheinlich als Observatorium und war so gebaut, dass damit auch spezielle Positionen des Mondes vorhersagbar oder bestimmbar gewesen sind. In vielen archäologisch untersuchten Kulturen gibt es Hinweise auf die große kultische Bedeutung des Mondes für die damaligen Menschen. Der Mond stellte meist eine zentrale Gottheit dar, als weibliche Göttin, zum Beispiel bei den Thrakern Bendis, bei den alten Ägyptern Isis, bei den Griechen Selene, Artemis und Hekate sowie bei den Römern Luna und Diana, oder als männlicher Gott wie beispielsweise bei den Sumerern Nanna, in Ägypten Thot, in Japan Tsukiyomi, bei den Azteken Tecciztecatl und bei den Germanen Mani. Fast immer wurden Sonne und Mond dabei als entgegengesetzt geschlechtlich gedacht, auch wenn die Zuordnung variierte. In China dagegen galt der Mond als Symbol für Westen, Herbst und Weiblichkeit (Yin). Ein häufig vorkommendes Motiv ist das Bild von den drei Gesichtern der Mondgöttin: bei zunehmendem Mond die verführerische Jungfrau voller Sexualität, bei Vollmond die fruchtbare Mutter und bei abnehmendem Mond das alte Weib oder die Hexe mit der Kraft zu heilen, zum Beispiel bei den Griechen mit Artemis, Selene und Hekate sowie bei den Kelten Blodeuwedd, Morrígan und Ceridwen. Der Mond als Himmelskörper ist Gegenstand von Romanen und Fiktionen, von Jules Vernes Doppelroman Von der Erde zum Mond und Reise um den Mond über Paul Linckes Operette Frau Luna oder Hergés zweibändigem Tim-und-Struppi-Comic-Abenteuer Reiseziel Mond und Schritte auf dem Mond bis hin zu der futuristischen Vorstellung einer Besiedelung des Mondes oder dem Reiseführer Reisen zum Mond von Werner Tiki Küstenmacher. === Kalenderrechnung === Neben der mythologischen Verehrung nutzten Menschen schon sehr früh den regelmäßigen und leicht überschaubaren Rhythmus des Mondes für die Beschreibung von Zeitspannen und als Basis eines Kalenders, noch heute basiert der islamische Kalender auf dem Mondjahr mit 354 Tagen (12 synodische Monate). Mit dem Übergang zum Ackerbau wurde die Bedeutung des Jahresverlaufs für Aussaat und Ernte wichtiger. Um dies zu berücksichtigen, wurden zunächst nach Bedarf, später nach feststehenden Formeln wie zum Beispiel dem metonischen Zyklus Schaltmonate eingefügt, die das Mondjahr mit dem Sonnenjahr synchronisierten. Auf diesem lunisolaren Schema basieren zum Beispiel der altgriechische und der jüdische Kalender. Die noch heute gebräuchliche Länge einer Woche von sieben Tagen basiert wahrscheinlich auf der zeitlichen Folge der vier hauptsächlichen Mondphasen (siehe oben). Bei der Osterrechnung spielt das Mondalter am letzten Tag des Vorjahres eine Rolle und heißt Epakte. Von den alten Hochkulturen hatten einzig die alten Ägypter ein reines Sonnenjahr mit zwölf Monaten à 30 Tage sowie fünf Schalttage, das heißt ohne strengen Bezug zum synodischen Monat von 29,5 Tagen, vermutlich, weil für die ägyptische Kultur die genaue Vorhersage der Nilüberschwemmungen und damit der Verlauf des Sonnenjahres überlebensnotwendig war. == Forschungsgeschichte == Wissenschaftliche Teildisziplinen, die sich mit der Untersuchung des Mondes befassen, tragen nach dem griechischen Wort für Mond, Σελήνη (Selene) gebildete Namen. Es sind: Selenologie, auch Geologie des Mondes, beschäftigt sich mit seiner Entstehung, seinem Aufbau und seiner Entwicklung sowie mit der Entstehung der beobachteten Strukturen und den dafür verantwortlichen Prozessen. Selenografie ist die Erfassung und Bezeichnung von Oberflächenstrukturen des Mondes, insbesondere das Erstellen von Mondkarten. Selenodäsie, befasst sich mit der Vermessung des Mondes und seines Schwerefeldes. === Erdgebundene Erforschung === Die früheste grobe Mondkarte mit Konturen der Albedomerkmale und dem ersten Versuch einer Nomenklatur skizzierte William Gilbert im Jahr 1600 nach dem bloßen Auge. Die erste, wenn auch ebenfalls nur skizzenhafte Darstellung der mit einem Fernrohr sichtbaren Mondstrukturen stammt von Galileo Galilei (1609), die ersten brauchbaren stammen von Johannes Hevelius, der mit seinem Werk Selenographia sive Lunae Descriptio (1647) als Begründer der Selenografie gilt. In der Nomenklatur der Mondstrukturen setzte sich das System von Giovanni Riccioli durch, der in seinen Karten von 1651 die dunkleren Regionen als Meere (Mare, Plural: Maria) und die Krater nach Philosophen und Astronomen bezeichnete. Allgemein anerkannt ist dieses System jedoch erst seit dem 19. Jahrhundert. Tausende Detailzeichnungen von Mondbergen, Kratern und Wallebenen wurden von Johann Hieronymus Schroeter (1778–1813) angefertigt, der auch viele Mondtäler und Rillen entdeckte. Den ersten Mondatlas gaben Wilhelm Beer und Johann Heinrich Mädler 1837 heraus, ihm folgte bald eine lange Reihe fotografischer Atlanten. Ende des 19. Jahrhunderts konnten bereits Aussagen über die Erscheinung des Mondes getroffen werden, die auch heute noch weitestgehend Gültigkeit besitzen. Der österreichische Geologe Melchior Neumayr traf diesbezüglich folgende Aussage: Allerdings war die tatsächliche Entstehung dieser Krater bis zu diesem Zeitpunkt noch ungewiss. Neumayr nahm infolgedessen den Vulkanismus als die wahrscheinlichste Ursache dafür an: Neumayr gibt an, dass sich einzelne Gebirge mehr als 8000 m über ihre Umgebung erhöben. Die Höhenbestimmung von Kratern, Gebirgen und Ebenen war mit teleskopischen Beobachtungen jedoch sehr problematisch und erfolgte meist durch Analyse von Schattenlängen, wofür Josef Hopmann im 20. Jahrhundert Spezialmethoden entwickelte. Erst durch die Sondenkartierungen kennt man verlässliche Werte: Die Krater, mit Durchmessern bis zu 300 km, wirken zwar steil, sind aber nur wenige Grad geneigt, die höchsten Erhebungen hingegen erreichen eine Höhe von bis zu 10 km über dem mittleren Niveau. === Erforschung mit ersten Raumfahrzeugen === Den zweiten großen Sprung der Fortschritte in der Mondforschung eröffnete dreieinhalb Jahrhunderte nach der Erfindung des Fernrohrs der Einsatz der ersten Mondsonden. Die sowjetische Sonde Lunik 1 kam dem Mond rund 6000 km nahe, Lunik 2 traf ihn schließlich und Lunik 3 lieferte die ersten Bilder von seiner Rückseite. Die Qualität der Karten wurde in den 1960er Jahren deutlich verbessert, als zur Vorbereitung des Apollo-Programms eine Kartierung durch die Lunar-Orbiter-Sonden aus einer Mondumlaufbahn heraus stattfand. Die heute genauesten Karten stammen aus den 1990ern durch die Clementine- und Lunar-Prospector-Missionen. Das US-amerikanische Apollo- und das sowjetische Luna-Programm brachten mit neun Missionen zwischen 1969 und 1976 insgesamt 382 Kilogramm Mondgestein von der Mondvorderseite zur Erde; die folgende Tabelle gibt einen Überblick darüber. 1979 wurde der erste Mondmeteorit in der Antarktis entdeckt, dessen Herkunft vom Mond allerdings erst einige Jahre später durch Vergleiche mit den Mondproben erkannt wurde. Mittlerweile kennt man noch mehr als zwei Dutzend weitere. Diese bilden eine komplementäre Informationsquelle zu den Gesteinen, die durch die Mondmissionen zur Erde gebracht wurden: Während man bei den Apollo- und Lunaproben die genaue Herkunft kennt, dürften die Meteorite, trotz der Unkenntnis ihres genauen Herkunftsortes auf dem Mond, repräsentativer für die Mondoberfläche sein, da einige aus statistischen Gründen auch von der Rückseite des Mondes stammen sollten. === Menschen auf dem Mond === Der Mond ist nach der Erde bisher der einzige von Menschen betretene Himmelskörper. Im Rahmen des Kalten Kriegs unternahmen die USA und die UdSSR einen Wettlauf zum Mond (auch bekannt als „Wettlauf ins All“) und in den 1960er Jahren als Höhepunkt einen Anlauf zu bemannten Mondlandungen, die jedoch nur mit dem Apollo-Programm der Vereinigten Staaten verwirklicht wurden. Das bemannte Mondprogramm der Sowjetunion wurde daraufhin abgebrochen. Am 21. Juli 1969 UTC setzte mit Neil Armstrong der erste von zwölf Astronauten im Rahmen des Apollo-Programms seinen Fuß auf den Mond. Nach sechs erfolgreichen Missionen wurde das Programm 1972 wegen der hohen Kosten eingestellt; als bisher letzter Mensch verließ am 14. Dezember 1972 Eugene Cernan den Mond.Die folgende Tabelle führt die zwölf Männer auf, die den Mond betreten haben. Alle waren Bürger der USA. Daneben haben noch weitere zwölf US-Raumfahrer des Apollo-Programms den Mond besucht, jedoch ohne auf ihm zu landen. Dazu zählen die sechs Piloten Michael Collins, Richard Gordon, Stuart Roosa, Alfred Worden, Ken Mattingly und Ronald Ellwin Evans der jeweils im Mondorbit wartenden Kommandokapseln, sowie die Erstbesucher Frank Borman, Jim Lovell und William Anders mit Apollo 8 am 24. Dezember 1968, mit Apollo 10 Tom Stafford mit John Young und Eugene Cernan bei ihrem ersten Mondflug, und mit Apollo 13 noch mal Jim Lovell sowie Jack Swigert und Fred Haise, die wegen einer Panne auf dem Hinflug nur ein Swing-by-Manöver am Mond unternahmen. === Mondsonden seit den 1990er Jahren === Nach einer Pause in der gesamten Mondraumfahrt von gut 13 Jahren startete am 24. Januar 1990 die japanische Experimentalsonde Hiten ohne wissenschaftliche Nutzlast. Sie setzte am 19. März desselben Jahres in einer Mondumlaufbahn die Tochtersonde Hagoromo aus, schwenkte am 15. Februar 1992 selbst in einen Mondorbit ein und schlug am 10. April 1993 auf den Mond auf. Am 25. Januar 1994 startete die US-amerikanische Raumsonde Clementine zum Mond, um dort neue Geräte und Instrumente zu testen. Am 19. Februar 1994 erreichte sie eine polare Mondumlaufbahn und kartierte von dort aus etwa 95 % der Mondoberfläche. Neben den zahlreichen Fotografien lieferte sie Hinweise auf Vorkommen von Wassereis am lunaren Südpol. Im Mai desselben Jahres vereitelte eine fehlerhafte Triebwerkszündung den geplanten Weiterflug zum Asteroiden Geographos. Die Sonde ist seit Juni 1994 außer Betrieb. Am 24. Oktober 2007 hatte die Volksrepublik China ihre erste Mondsonde Chang’e 1 gestartet. Chang’e 1 erreichte den Mond am 5. November, und umkreiste ihn über die Pole für etwa ein Jahr. Sie analysierte die Mondgesteine spektroskopisch und kartografierte die Mondoberfläche dreidimensional, wobei auch erstmals eine umfassende Mikrowellenkarte des Mondes entstand, die auch Bodenschätze anzeigt. Chang’e-1 schlug am 1. März 2009 gezielt auf dem Mond auf (siehe auch: Mondprogramm der Volksrepublik China). Die ursprüngliche Ersatzsonde von Chang’e 1 wurde zur Nachfolgesonde Chang’e 2. Sie umkreiste den Mond vom 6. Oktober 2010 bis zum 9. Juni 2011 und bereitete die weiche Landung für Chang’e 3 vor. Der Start der indischen Mondsonde Chandrayaan-1, und damit der ersten Raumsonde Indiens, erfolgte am 22. Oktober 2008. Sie hat zu Beginn ihrer Mission am 14. November aus ihrer polaren Umlaufbahn einen Lander in der Nähe des lunaren Südpols hart aufschlagen lassen. Weiters sollte unter anderem eine mineralogische, eine topografische und eine Höhenkarte des Mondes erstellt werden. Die Mission sollte zwei Jahre dauern, der Kontakt brach jedoch am 29. August 2009 vorzeitig ab. Am 23. Juni 2009 um 9:47 UTC schwenkte der Lunar Reconnaissance Orbiter (LRO) der NASA auf eine polare Umlaufbahn ein, um den Mond in einer Höhe von 50 km mindestens ein Jahr lang zu umkreisen und dabei Daten für die Vorbereitung zukünftiger Landemissionen zu gewinnen. Die Geräte der US-amerikanischen Sonde liefern die Basis für hochaufgelöste Karten der gesamten Mondoberfläche (Topografie, Orthofotos mit 50 cm Auflösung, Indikatoren für Vorkommen von Wassereis) und Daten zur kosmischen Strahlenbelastung. Es wurden 5185 Krater mit einem Durchmesser von mindestens 20 km erfasst. Aus deren Verteilung und Alter wurde geschlossen, dass bis vor 3,8 Milliarden Jahren hauptsächlich größere Brocken den Mond trafen, danach vorwiegend kleinere. Die Raumsonde LRO entdeckte auch Grabenstrukturen auf der Mond-Rückseite. Wann die Mission enden soll, ist noch nicht bekannt. Am 14. Dezember 2013 führte die Nationale Raumfahrtbehörde Chinas mit Chang’e 3 ihre erste weiche Mondlandung durch. Die rund 3,7 Tonnen schwere Sonde diente u. a. dem Transport des 140 kg schweren Mondrovers Jadehase, der mit einem Radionuklid-Heizelement ausgestattet war, um während der 14-tägigen Mondnacht nicht einzufrieren. Nachdem mit der Sonde Chang’e 4 am 3. Januar 2019 erstmals in der Geschichte der Raumfahrt eine Landung auf der erdabgewandten Seite des Mondes gelungen war, brachte Chang’e 5 im Dezember 2020 in der Nähe des Mons Rümker auf der Mondvorderseite entnommene Bodenproben im Gesamtgewicht von 1731 g zur Erde zurück. == Geplante Erkundungsmissionen im 21. Jahrhundert == === Neue bemannte Mondprogramme === Konkrete Pläne für eine Rückkehr zum Mond zeichneten sich erst wieder durch Ankündigungen des damaligen US-Präsidenten George W. Bush und der NASA im Jahr 2004 ab. Das daraus entstandene Constellation-Programm wurde 2010 wegen Terminüberschreitungen und ausufernder Kosten eingestellt und kurz darauf durch das SLS/Exploration-Mission-Programm ersetzt, das von denselben Problemen geplagt ist. Nachdem sich der Plantermin für die nächste Mondlandung auf 2028 verschoben hatte, ergriff 2019 die Regierung unter Donald Trump die Initiative und forderte eine Rückkehr zum Mond bis 2024. Dieses als Artemis-Programm bezeichnete Projekt soll „nachhaltig“ sein und mit einer Landung in der Südpolregion beginnen. Die Mittel hierfür müssen noch vom Gesetzgeber bewilligt werden.Neben der NASA plant auch das US-Unternehmen SpaceX mit seinem Starship bemannte Mondlandungen in den 2020er Jahren. Ebenso möchten Russland, China und Japan in den 2030er Jahren mit eigenen Raumschiffen und Raumfahrern die Mondoberfläche erreichen. === Geplante Mondsonden === Im Jahr 2024 soll der 4. Schritt des Mondprogramms der Volksrepublik China beginnen, die Erkundung der Polregion. Mit den drei Sonden Chang’e 6, Chang’e 7 und Chang’e 8 soll hierbei der Aufbau einer zunächst zeitweise, später permanent besetzten Mondbasis am südlichen Rand des Südpol-Aitken-Beckens auf der erdabgewandten Seite des Mondes vorbereitet werden. Verschiedene Unternehmen aus Deutschland, Japan, den USA und Israel planen den Start privat finanzierter Mondsonden in den Jahren ab 2022. Die NASA hat für frühestens 2022[veraltet] den Lunar Flashlight und weitere CubeSats geplant, die im Rahmen der Mission Artemis 1 gestartet werden und unter anderem Wassereisvorkommen auf dem Mond untersuchen sollen.Seit 2006 ist von Seiten Russlands der Einsatz der Mondsonde Luna 25 geplant. Sie sollte ursprünglich zwölf Penetratoren hauptsächlich für seismische Untersuchungen absetzen und einen Lander zur Suche nach Wassereis in einem Krater in Nähe des lunaren Südpols niedergehen lassen. Sowohl der Starttermin als auch die Missionsziele wurden seitdem mehrmals geändert. Stand November 2022 ist nach wie vor unklar, in welchem Jahr die Sonde startbereit sein wird. Weitere Mondmissionen Luna 26 bis Luna 28 sind ebenfalls bereits in Planung. == Eigentumsverhältnisse == Der Weltraumvertrag (Outer Space Treaty) von 1967 verbietet Staaten, einen Eigentumsanspruch auf Weltraumkörper wie den Mond zu erheben. Dieses Abkommen wurde bis heute von 109 Staaten der Vereinten Nationen ratifiziert und ist damit in Kraft. Da im Weltraumvertrag nur von Staaten die Rede ist, wird von manchen interpretiert, dass dieses Abkommen nicht für Firmen oder Privatpersonen gelte. 1979 wurde deshalb der Mondvertrag (Agreement Governing the Activities of States on the Moon and Other Celestial Bodies) entworfen, um diese vom Weltraumvertrag hinterlassene angebliche Gesetzeslücke zu schließen. Der „Moon-Treaty“-Entwurf hatte explizit die Besitzansprüche von Firmen und Privatpersonen adressiert und ausgeschlossen (Artikel 11, Absatz 2 und 3). Aus diesem Grund wird das „Moon Treaty“ oft als Hindernis für Grundstücksverkäufe zitiert; nur wurde dieses Abkommen tatsächlich nie unterschrieben oder in den Vereinten Nationen korrekt ratifiziert. Nur fünf Staaten, die alle nicht weltraumgängig sind, haben versucht, es zu ratifizieren. 187 andere Staaten sowie die USA, Russland und China haben es nicht unterschrieben und auch nicht ratifiziert. Das „Moon Treaty“ ist deshalb heute in den meisten Ländern der Erde nicht in Kraft. Die wählenden Staaten hatten damals zu viele Bedenken, dass es die profitable Nutzung des Mondes gefährden könnte, und somit wurde das Abkommen auch nicht ratifiziert (und deshalb nicht Gesetz). Daraus schlussfolgern einige, dass eine Rechtsgrundlage für Mond-Grundstücksverkäufe existiere. Es sollte ebenfalls darauf hingewiesen werden, dass die Internationale Astronomische Union sich nicht mit dem Verkauf von Himmelskörpern befasst. Der Amerikaner Dennis M. Hope meldete 1980 beim Grundstücksamt von San Francisco seine Besitzansprüche auf den Mond an. Da niemand in der nach amerikanischem Recht ausgesetzten Frist von acht Jahren Einspruch erhob und da der Weltraumvertrag solche Verkäufe durch Privatpersonen in den USA explizit nicht verbietet, vertreibt Hope die Grundstücke über seine dafür gegründete Lunar Embassy. Da allerdings das Grundstücksamt in San Francisco für Himmelskörper nicht zuständig ist und von Hope sowohl das Gesetz, das solche Besitzansprüche regelt, als auch der Text aus dem Weltraumvertrag sehr abenteuerlich interpretiert wurden, sind die „Grundstückszertifikate“, die er verkauft, praktisch wertlos. Der amerikanische Politiker Newt Gingrich betrieb im Jahr 1981 erfolglos eine Gesetzesinitiative für eine „Northwest Ordinance for Space“, welche die Aufnahme des Mondes als Bundesstaat der USA ermöglichen sollte, sobald die Zahl von 13.000 Einwohnern erreicht war. Als er sich im Jahr 2012 (vergeblich) um die Nominierung als Kandidat der Republikaner für die Präsidentschaftswahl 2012 bewarb, stellte er für den Fall seiner Präsidentschaft die Einrichtung einer Weltraumkolonie auf dem Mond in Aussicht, wobei er sich auf das damalige Gesetzesvorhaben bezog. == Koorbitale Objekte und ein weiterer Erdtrabant == In den Librationspunkten L4 und L5 des Erde-Mond-Systems gibt es je eine Staubwolke, die Kordylewskischen Wolken. Weitere Erdtrabanten sind Gegenstand von unbestätigten Beobachtungsbehauptungen oder von Hypothesen für vergangene Zeitabschnitte wie die Zeit der Entstehung des Mondes. == Trivia == === Mondkolonisation === Die Errichtung von dauerhaften Außenposten und Kolonien auf dem Mond wurde bereits vor der Erfindung der Raumfahrt diskutiert und spielt nach wie vor in der Science-Fiction-Literatur eine Rolle. Eine NASA-Studie zum Bergbau auf dem Mond listete 1979 die dafür notwendige Technologieentwicklung auf. === Suche nach außerirdischer Intelligenz === Der Mond könnte auch Hinweise für die Suche nach außerirdischen Zivilisationen liefern. Wissenschaftler wie Paul Davies halten eine Suche nach Artefakten und Überresten extraterrestrischer Technologie auf der lunaren Oberfläche für förderlich. === Können irdische Mikroben ein längeres Verweilen auf dem Mond überleben? === Möglicherweise befanden sich in dem durch die Apollo-12-Mission geborgenen Kameragehäuse der Sonde Surveyor 3 Mikroben 31 Monate lang auf dem Erdtrabanten und waren danach zur Vermehrung fähig. Für Details und Zweifel siehe Vorwärts-Kontamination. == Literatur == Bernd Brunner: Mond. Die Geschichte einer Faszination. Kunstmann, München 2011, ISBN 978-3-88897-732-9. Alan Chu, Wolfgang Paech, Mario Weigand: Fotografischer Mondatlas. 69 Mondregionen in hochauflösenden Fotos. Oculum, Erlangen 2010, ISBN 978-3-938469-41-5. Thorsten Dambeck: Der Mond bebt. In: Bild der Wissenschaft. Nr. 7, 2002, ISSN 0006-2375, S. 48–53. Ulrike Feist: Sonne, Mond und Venus: Visualisierungen astronomischen Wissens im frühneuzeitlichen Rom (= Actus et Imago, Band 10). Akademie-Verlag, Berlin 2013, ISBN 978-3-05-006365-2 (Dissertation Universität Augsburg 2011, 259 Seiten). David M. Harland: Exploring the moon. The Apollo expeditions. 2. Auflage. Springer u. a., Berlin u. a. 2008, ISBN 978-0-387-74638-8. Ralf Jaumann, Ulrich Köhler: Der Mond. Entstehung, Erforschung, Raumfahrt. Fackelträger, Köln 2009, ISBN 978-3-7716-4387-4 (mit einem Gespräch von Buzz Aldrin und Thomas Reiter). Josef Sadil: Blickpunkt Mond. Illustriert von Gerhard Pippig. Urania, Leipzig / Jena / Berlin 1962 (Originaltitel: Cíl měsíc, übersetzt von Max A. Schönwälder), DNB 454251394, OCLC 65043150. Elmar Schenkel, Kati Voigt (Hrsg.): Sonne, Mond und Ferne: der Weltraum in Philosophie, Politik und Literatur. PL Academic Research, Frankfurt am Main 2013, ISBN 978-3-631-64081-4. Werner Wolf: Der Mond im deutschen Volksglauben. Bühl 1929. == Weblinks == Aktuelle Mondphase The Lunar Sourcebook: A User’s Guide to the Moon amerikan. und sowjet. Missionen in einer enzyklopädischen Referenz, 736 S. (englisch) Mondatlas Mondatlassoftware 2004 veröffentlichte Detailaufnahmen der Mondoberfläche aus den Apollo-Missionen 15–17 Unser Mond br.de lunar photo of the day, abgerufen am 29. Dezember 2011. Complete Sun and Moon Data for One Day United States Naval Observatory, usno.navy.mil, abgerufen am 29. Dezember 2011 Eugen Reichel bzw. Alexander Soucek: Wem gehört der Mond, in Astra’s Spacelog auf Kosmologs, 8. Februar 2011 www.der-mond.de von Stefan van Ree (www.astronomie.de) Terra X-Doku über den Mond vom 11. November 2018 mit Alexander GerstMedien Literatur zum Mond im Katalog der Deutschen Nationalbibliothek Evolution of the Moon – NASA video Wie entstand der Mond? aus der Fernseh-Sendereihe alpha-Centauri (ca. 15 Minuten). Erstmals ausgestrahlt am 31. Jan. 1999. Warum fällt der Mond nicht auf die Erde? aus der Fernseh-Sendereihe alpha-Centauri (ca. 15 Minuten). Erstmals ausgestrahlt am 20. Juni 1999. War die Mondlandung echt? aus der Fernseh-Sendereihe alpha-Centauri (ca. 15 Minuten). Erstmals ausgestrahlt am 29. Sep. 2002. DLR-Animation: Flug über die Mondoberfläche 17. April 2012 == Anmerkungen == == Einzelnachweise ==
https://de.wikipedia.org/wiki/Mond
Ghana
= Ghana = Ghana [ˈgaːna] ist ein Staat in Westafrika, der an die Elfenbeinküste, Burkina Faso, Togo sowie im Süden an den Golf von Guinea als Teil des Atlantischen Ozeans grenzt. Seine Fläche ist fast so groß wie die des Vereinigten Königreichs, mit dessen Geschichte es durch die Kolonialzeit eng verbunden ist. Mit dem Namen Ghana sollte historisch eine Verbindung mit dem Reich von Ghana, dem ersten namentlich nachweisbaren Großreich in Westafrika, hergestellt werden. Die Hauptstadt Ghanas ist die Metropole Accra, die zweite Millionenstadt ist Kumasi. Der Volta-Stausee mit dem 1966 fertiggestellten Akosombo-Staudamm ist der größte Binnensee des Landes und bis heute das oberflächengrößte künstliche Gewässer der Erde. Mit dem Bau des Damms verfolgte die Nkrumah-Regierung das Ziel, die Energieversorgung für die wirtschaftliche Entwicklung und Industrialisierung Ghanas sicherzustellen. Weltwirtschaftlich bedeutend ist Ghana aufgrund seines Rohstoffreichtums. Gold, das der ehemaligen Kolonie auch den Namen „Goldküste“ gab, ist Ghanas wichtigstes Exportgut. Etwa ein Drittel der Exporterlöse und 93 Prozent der Produktion des Bergbausektors hängen mit der Förderung von Gold zusammen. == Geographie == Ghana hat insgesamt ein flaches Relief, das nur an wenigen Stellen Höhen von 900 Metern erreicht. Etwa die Hälfte des Landes liegt unterhalb einer Höhe von 150 Metern. Die Küste hat eine Länge von 543 Kilometern. Das Land wird geographisch in Küstenebene, Regenwald und Savanne unterteilt. Neben der geografischen Gliederung lässt sich Ghana auch nach der Oberflächenstruktur in die fünf Naturräume Low Plains, Hochland von Aschanti, Akwapim-Togo-Kette, Volta-Becken und High Plains einteilen. Von der Küstenniederung, den Low Plains, die in die Küstenebene mit weiten Sandstränden und Mangrovengebieten und einem Flachland zwischen dem fünften und sechsten Breitengrad unterteilt ist, steigt das westliche Land zum Hochland von Aschanti an, das im Mittel die Höhe von 450 Meter über dem Meeresspiegel erreicht. Östlich des Hochlandes schließt sich das Volta-Becken an, welches mit insgesamt 87.000 km² auch den größten Naturraum darstellt. Im Norden schließen die High Plains das Land ab. Die Gebiete zählen bereits zur Großlandschaft des Sudan. Die Akwapim-Togo-Kette ist eine Bergkette und ein Naturraum, der in der Nähe von Accra beginnt und bis nach Togo hinein führt. Hier liegen die höchsten Berge des Landes. Etwa zwei Drittel der Fläche Ghanas, rund 158.000 km², werden über den Volta entwässert, der in seinem Unterlauf durch den Akosombo-Staudamm zum oberflächengrößten künstlich angelegten Gewässer der Erde aufgestaut wird. Aus dem Hochland von Aschanti entspringt zudem eine Vielzahl von Flusssystemen, die in den Atlantik münden. Die artenreiche Tier- und Pflanzenwelt ist in der Vergangenheit vermehrt unter Schutz gestellt worden. Immer mehr dieser Refugien werden für den Tourismus erschlossen. Die Einnahmen aus diesem Wirtschaftszweig sollen als Ökotourismus auch einen wichtigen Beitrag zum Erhalt der Artenvielfalt liefern. Der in Resten vorhandene Regenwald ist sehr artenreich und die ganzjährig konstante Temperatur und die hohe Luftfeuchtigkeit fördern das Pflanzenwachstum. === Klima === Ghana ist ein tropisches Land, kennt also keine Jahreszeiten, sondern einen Wechsel zwischen Regen- und Trockenzeit. Nahezu gleich lange Tage und Nächte bestimmen das Leben. Grob lässt sich das Klima in den feuchten Süden mit seinen immergrünen Regenwaldgebieten vom trockeneren Norden mit seiner Baumsavanne, Strauchsavanne und der Grassavanne im nördlichsten Teil unterscheiden. Der Harmattan, ein aus dem Nordosten wehender Passatwind, bestimmt zwischen November und Februar die trockene Jahreszeit. Die Regenfälle in der Regenzeit bringt der westafrikanische Monsun. Der meiste Niederschlag fällt mit über 2000 mm pro Jahr im äußersten Südwesten des Landes an der Küste. Die jährliche Niederschlagsmenge beträgt im Norden um 1000 mm, im westlichen Küstenabschnitt bei der Stadt Axim bis zu 2200 mm; bei Accra erreicht sie kaum 800 mm (zum Vergleich: dies entspricht ungefähr dem langjährigen Jahresmittel Deutschlands). Nur im feuchtheißen Südwesten wächst immergrüner Regenwald, der in regengrünen Tropenwald übergeht. Die Waldbestände sind durch die fortschreitende Rodung bedroht. Landeinwärts folgen Feuchtsavanne und Trockensavanne. === Gebirge === Die Akwapim-Togo-Kette ist ein hügeliger und leicht bergiger Ausläufer des Togo-Atakora-Gebirges in den Ländern Togo und Benin. Diese Bergkette beginnt in der Nähe von Accra und zieht sich dann eine Weile an der Grenze zum Nachbarland Togo entlang, bis sie endgültig die Grenze überschreitet. Hier sind auch Wasserfälle in den zahlreichen Schluchten anzutreffen. Die Berghänge und Bergkuppen sind teilweise vulkanischen Ursprungs und durchweg mit Regenwald bewachsen. Die größte Erhebung im Land ist mit 885 Metern Höhe der Mount Afadjato in der Nähe des Dorfes Liati Wote direkt an der Grenze zu Togo. Der zweithöchste Berg Ghanas ist der Mount Dzebobo mit 876 Metern, er liegt nördlich des Mount Afadjato, ebenfalls direkt an der Grenze zu Togo. Beide Berge sind Teil der Akwapim-Togo-Kette. Der Akwawa ist der vierthöchste Berg Ghanas. === Gewässer === Der riesige Volta-Stausee liegt im Zentrum des Landes und ist mit einer Größe von 8.502 km² etwa 15-mal größer als der Bodensee mit 536 km² und würde mehr als die Hälfte Schleswig-Holsteins (15.799 km²) bedecken. Er speist sich im Wesentlichen aus dem Schwarzen Volta (Mouhoun) und dem Weißen Volta, Afram, Daka und Oti. Nachdem der Akosombo-Staudamm passiert ist, mündet der dann als Volta bezeichnete Fluss in einem weiten Flussdelta in den Atlantischen Ozean. Zusammen mit den Nebenflüssen Roter Volta (Nazinon), Nasia und Kulpawn ist der Volta-Fluss das größte zusammenhängende Gewässersystem. Der etwa eine Million Jahre alte Bosumtwisee, dessen Ursprung auf den Einschlag eines Meteoriten zurückgeht, hat keine Zu- und Abflüsse. Für die traditionelle Bevölkerung ist er von großer religiöser Bedeutung. Weniger bekannte Flüsse sind Pra, Bia, Ankobra und Tano, die direkt in den Atlantik münden. Die Nebenflüsse des Pra sind der Anum, Offin und Birim; sie bilden zusammen mit dem Pra das zweitwichtigste Entwässerungssystem Ghanas. Der Pra ist nur in seinem Mündungsbereich mit Schiffen befahrbar, weil der Oberlauf durch Stromschnellen gekennzeichnet ist. Weitere kleinere Flüsse sind Laboni, Obosum, Sisili, Senne, Tain und Todzie. === Naturraum === ==== Übersicht ==== In Ghana überwiegen drei verschiedene Biome. Der tropische Regenwald und der Feuchtwald befinden sich im Südwesten des Landes, der Norden und der mittlere Teil des Landes sind von der Feuchtsavanne gekennzeichnet, die in Baum- und Grassavanne unterteilt wird. Außerdem besteht ein schmaler Streifen der Küste auch noch als Küstensavanne. Im immergrünen tropischen Regenwald befindet sich die üppigste Vegetation des Landes. Der Regenwald bestand ursprünglich aus 85.000 km² Fläche und ist Heimat für eine artenreiche Pflanzen- und Tierwelt. Durch die unterschiedlichen Ökosysteme gibt es im Land auch keine landestypische Pflanzen- oder Tierwelt. Die einzelnen Lebensräume unterscheiden sich sehr stark. In der Savanne mit ihren typischen Bewohnern, dem Regenwald mit seinem Artenreichtum und dem Volta-Delta als Zufluchtsstätte für eine Vielzahl von Zugvögeln und heimischen Arten ist die Natur üppig. Aufgrund der unterschiedlichen Vegetationsformen und der größeren menschlichen Besiedlungsdichte ist die Tierwelt Westafrikas nicht mit Ostafrika vergleichbar. Es gibt keine großen Tierherden wie in den ostafrikanischen Nationalparks. ==== Flora ==== In Ghana kommen viele Pflanzen- und Tierarten vor. Besonders der tropische Regenwald Ghanas trägt stark zur Biodiversität des Landes bei. Die Fläche an tropischem Regenwald betrug im letzten Jahrhundert noch 85.000 km². Innerhalb der letzten 50 Jahre schrumpfte die Fläche um mehr als die Hälfte auf 40.000 km². Jährlich verzeichnet das Land eine Waldabnahme von 1,7 Prozent. Rodungen und der Export von Edelhölzern sind die Hauptgründe für diese sehr schnelle Abnahme der Waldfläche. Eine genaue Aufzählung der im Regenwald lebenden Pflanzen ist schwer vorzunehmen, da Wissenschaftler dort noch unbekannte Arten vermuten. Der immergrüne Regenwald wird überdacht von hohen Baumriesen, die bis zu 50 Meter hoch, drei Meter dick und 300 Jahre alt werden können. Dies sind auch Arten, die im Rahmen der ghanaischen Holzexportwirtschaft eine große Rolle spielen: Wertvolle Harthölzer liefern Mahagoniarten wie Azobé, Sapeli und der auch afrikanische Mahagoni genannte Khaya sowie mehrere Arten des afrikanischen Walnussbaumes. Weitere Baumarten sind Odum, Wawa (wird teilweise auch Samba genannt, der Handelsname des Holzes ist Abachi), Bombax sowie Afrormosia. Verschiedene Feigenbäume wie Ficus spp. erreichen in den Regenwäldern Ghanas durchaus die Größe einer mittelgroßen deutschen Buche. Verschiedene Aufsitzerpflanzen wie Orchideenarten aber auch Lianen zeigen eine große Artenvielfalt. Häufige Nutzpflanzen sind der afrikanische Kolabaum, der Kalebassenbaum (Flaschenkürbis Crescentia cujete) oder der brasilianische Kautschukbaum. Allein ungefähr 1200 verschiedene Palmenarten kommen über das ganze Land verteilt vor. Die kubanische Königspalme (Roystonea regia) wird in den Städten als Alleebaum verwendet, da diese Schattenspender eine Höhe von bis zu 25 Metern erreichen. Häufig mit einer Palme verwechselt wird der madagassische Baum der Reisenden, eine in Ghana beliebte Dekorationspflanze vor öffentlichen Gebäuden oder in Gärten. Die ursprünglich pazifischen Kokospalmen haben für den Menschen einen beträchtlichen Nutzwert und wurden daher in Ghana eingeführt. Viele Produkte der Kokosnuss wie Kokosmilch, Kokosfett, aber auch Bast sowie Blätter für Dachkonstruktionen und Matten werden von der Kokospalme geerntet. Die heimische Ölpalme (Elaeis guineensis) ist als Plantagenbaum sehr weit verbreitet. Aus den roten Früchten der Ölpalme wird Palmöl gepresst, dieses hat in Westafrika einen hohen Stellenwert in der landestypischen Küche. Die vielfältigsten Nutzpflanzen werden im Rahmen von Plantagenwirtschaft produziert. Zumeist finden sich diese Plantagen auf dem nunmehr gerodeten Gebiet des ehemaligen Regenwaldes. Hier werden Ananas, Bananen, Kochbananen, Avocados, Papayas, Guaven, Orangen und andere Zitrusfrüchte angebaut. Auch viele Gewürzpflanzen, wie beispielsweise Gewürzvanille, werden in Ghana kultiviert. Neben den Baumarten und den Nutzpflanzen sind viele dekorative Pflanzen aus aller Welt in Ghana zu finden. Hibiskus, Flammenbaum und Fuchsien sind nur einige. Gräser sind typische Savannenpflanzen, doch die Charakterpflanze der Savannen Ghanas ist ein Baum: Der einzeln stehende Afrikanische Affenbrotbaum fällt durch seinen dicken Stamm auf und ist weithin erkennbar. Ebenfalls in der Savanne wächst der heimische Karitébaum, auch Sheabutterbaum genannt. Die aus den Samen gewonnene Sheabutter ist ein wichtiges Exportprodukt Ghanas und wird zur Herstellung von Kosmetika und Lebensmitteln verwendet. Die Küste ist neben Mangrovenwäldern auch von verschiedenen Palmenarten gekennzeichnet. ==== Fauna ==== Die Tierwelt Ghanas ist sehr artenreich. Neben tropischen Vogelarten wie Papageien, Nashornvögel, Adlern, Spechten, Perlhühner und Tauben, die im Regenwald beheimatet sind, wird die heimische Vogelwelt durch eine Vielzahl von Zugvögeln erweitert. Im Volta-Delta, aber auch in den Wasserlandschaften der Lagunen und entlang der vielen Flussläufe, kommen verschiedene Wasservogelarten vor. Zahlreiche Säugetierarten sind in Ghana beheimatet. Mehrere Antilopenarten wie Pferdeantilope, Kob und Bongo, Leoparden, Zibetkatzen, Elefanten, Büffel, Flusspferde, Warzenschweine leben hauptsächlich in der Savanne. Es gibt viele verschiedene Affenarten. In den Regenwäldern im Südwesten leben Schimpansen, so im Ankasa-Schutzgebiet. In Ankasa und in Bia kommt auch die ebenfalls seltene Roloway-Meerkatze vor, diese lebt auch auf dem Monkey hill in Takoradi. Grüne Meerkatzen sind wesentlich häufiger und in vielen Schutzgebieten zu finden. Monameerkatzen sind die am leichtesten zu beobachtenden Waldarten und leben u. a. in den Reservaten von Tafi-Atome und Buabeng-Fiema. In Buabeng-Fiema sind auch Geoffroy-Stummelaffen regelmäßig zu sehen. Paviane werden insbesondere im Mole-Nationalpark und in den Shai Hills angetroffen.Reptilien kommen in allen Lebensbereichen vor. Kleine Geckos und Eidechsen leben teilweise in den Häusern der Menschen, Leguane, Warane, Schlangen und Krokodile in den Gewässern des Landes. Ghana verfügt über einen ausgesprochen großen Artenreichtum an Insekten. Termitenhügel prägen die Landschaft. Einige der vorkommenden Mücken und Bremsen übertragen Krankheiten, wie die Stechmücke Anopheles Malaria. Mehr in den Savannengebieten ist die Tsetse-Fliege beheimatet, welche die auch für den Menschen gefährliche Afrikanische Trypanosomiasis, die Schlafkrankheit, überträgt. Im Atlantik vor der Küste Ghanas befinden sich einige der fischreichsten Gebiete der Erde. Wichtige Fischarten sind Barrakudas, Heringe, Makrelen, Haie, Thunfische, Tintenfische, Barsche, aber auch Meerestiere wie Hummer, Langusten und Krabben sowie Muscheln und Schnecken sind beheimatet. Einige Tierarten, die in den tropischen Regenwäldern leben, sind als gefährdet oder vom Aussterben bedroht einzustufen. Eine unbekannte Zahl von Tierarten gilt bereits als verschwunden, wie Miss Waldrons Roter Stummelaffe, ehemals beheimatet in den tropischen Regenwäldern der Elfenbeinküste, Ghanas und von Sierra Leone, der in den 1970er-Jahren letztmals gesichtet wurde. Die West African Primate Conservation Action (WAPCA) wurde als internationaler Zusammenschluss von insgesamt elf europäischen zoologischen Gärten gegründet, um das Aussterben weiterer Arten zu verhindern. Auch der Conservation des espèces et des populationes animales (CEPA) sowie die Zoologische Gesellschaft für Artenschutz (ZGAP) sind an dieser Aktion maßgeblich beteiligt. Die Zoos und die Vereinigungen bemühen sich um den Schutz der hoch bedrohten Roloway-Meerkatzen und der Weißnackenmangaben. Beide Arten gehören zu den am meisten gefährdeten 25 Primatenarten weltweit. Der Zoo in Accra besitzt einige dieser Tiere zur Nachzucht. Am 29. Juni 2006 hatte dort ein Paar Weißscheitelmangaben ihren ersten Nachwuchs. == Umwelt == Das Bewusstsein für einen nachhaltigen Umgang mit den natürlichen Ressourcen des Landes nimmt erst in jüngster Zeit immer mehr zu. Die ghanaische Wirtschaft, insbesondere der Bergbau in Ghana, hat im Land teilweise erhebliche Umweltschäden verursacht. Die Politik der Regierung von Präsident John Agyekum Kufuor ging vermehrt auf umweltpolitische Themen ein, doch in der Bevölkerung ist ein Umweltbewusstsein eher gering ausgeprägt. Gerade auch die Forstwirtschaft spielt neben dem Bergbau eine entscheidende Rolle bei der eher negativ zu bewertenden Umweltbilanz des Landes. Die jährliche Abnahme des Waldes wird auf 1,7 Prozent beziffert, wobei auch Primärwald betroffen ist. Die fehlende staatliche Organisation der Müllbeseitigung ist ein weiteres großes Problem besonders in den Metropolen. Nur ungefähr 5 Prozent des Mülls in Ghana werden wiederverwendet oder dem Recycling zugeführt. Zudem landet ein großer Teil illegal eingeführten Elektroschrotts aus Europa bei der Elektronikschrottverarbeitung in Agbogbloshie in Accra, wo er unter Freisetzung hochgiftiger Dämpfe teilweise verbrannt wird. Der Umweltschutz liegt in der ghanaischen Regierung nicht im Aufgabenbereich eines Ministeriums, sondern ist aufgeteilt zwischen dem Land- und Forstwirtschaftsministerium für mit der Zuständigkeit für Böden und Wälder und dem Ministerium für Umwelt und Wissenschaft mit der Zuständigkeit für die Vorbereitung, Überwachung und Durchsetzung der internationalen Abkommen und die Entwicklung der Umweltpolitik. === Naturkatastrophen === Naturkatastrophen größeren Ausmaßes sind eher selten. Doch gibt es regelmäßig Probleme mit den teilweise schweren Regenfällen. Nach der mehrere Monate andauernden Trockenzeit kann der Boden nur langsam wieder Wasser aufnehmen. Die starken tropischen Regenfälle sind von großer Heftigkeit. In den teilweise ausgetrockneten Flussbetten entstehen in kürzester Zeit reißende Fluten. Auch normale Straßen verwandeln sich in Kürze in zwar seichte, aber schnell fließende Flüsse. Häufig werden Menschen gerade in den ersten Wochen der Regenzeit von diesen Wassermassen überrascht, denen kleinere Brücken nicht standhalten. In fast jedem Jahr kommen in den Fluten Menschen ums Leben. Vor allem der südliche Teil des Landes war in den vergangenen Jahrhunderten immer wieder von größeren Erdbeben betroffen. In den Jahren 1615, 1636, 1862, 1906, 1939, 1964, 1969 und zuletzt 1997 wurden in Küstennähe starke Beben verzeichnet, die auch mehrere Todesopfer forderten. So zerstörte 1615 in der Nähe des heutigen Takoradi ein Erdbeben die gesamte damalige Siedlung Takoradi. Am 18. Dezember 1636 ereignete sich ganz im Westen des Landes, in der Gegend um Axim, ein Erdbeben, das zu sehr starken Erschütterungen im Distrikt East Nzema führte. In einem großen Radius wurden die Gebäude der Gegend fast vollständig zerstört. In einer Goldmine in Aboasi starben viele Minenarbeiter. Das Erdbeben von 1862 hatte sein Epizentrum in der Nähe der heutigen Hauptstadt Accra. Viele Steingebäude, auch die kolonialen Forts, unter ihnen der heutige Regierungssitz in Osu Castle, wurden stark beschädigt. Weniger Schäden richteten die Erdbeben von 1906 an, wenn auch aus Accra von Gebäudeschäden berichtet wurde. Das bisher stärkste Erdbeben ereignete sich in der Nähe von Accra am 22. Juni 1939. Dieses Beben verursachte sehr starke Schäden an den Gebäuden, siebzehn Menschen starben, 133 Menschen wurden zum Teil schwer verletzt. Es entstand Sachschaden in Höhe von etwa einer Million Pfund. Auf der Richter-Skala erreichte das Beben den Wert 6,5. Jüngste Erdbeben waren zwar weniger stark, doch lösten sie in der Bevölkerung große Panik aus. === Naturreservate === In fast allen Landesteilen wurden Naturreservate errichtet, die sich erheblich in ihrer Größe und Zielrichtung voneinander unterscheiden. Es gibt vier verschiedene Arten von Naturreservaten: Zum einen sind Nationalparks ausgewiesen worden, um einem möglichst großen Publikum die erhaltenswerte Natur vorzuführen und die Menschen für deren Schutz zu interessieren. Die wohl bekanntesten Nationalparks sind der Mole-Nationalpark im Norden Ghanas sowie der Kakum-Nationalpark aufgrund seiner Nähe zu den geschichtlich und daher touristisch interessanten Städten Cape Coast und Elmina. Wildtierreservate haben zunächst den Zweck, die Population der heimischen Wildtierarten zu erhöhen. Einige Arten sind bereits der Jagd durch die Menschen zum Opfer gefallen. Im ganzen Land ist Bush-Meat, also Wildtierfleisch, sehr beliebt. Hier gibt es durchaus Unterschiede zwischen den einzelnen Volksgruppen. Andere Schutzgebiete (Strict Nature Reserves) sind ausgewiesen worden, um Tierarten zu retten, die vom Aussterben bedroht sind. Diese Schutzgebiete sind nur mit einer speziellen Genehmigung zu besuchen. Diese Genehmigung wird in der Regel nur zu Forschungszwecken ausgestellt. Ausdrücklich zur Rettung des Regenwaldes wurden Forstreservate eingerichtet, in denen grundsätzlich keine Rodungen stattfinden dürfen. In diesen Forstreservaten sollen Möglichkeiten untersucht und aufgezeigt werden, wie eine nachhaltige Forstwirtschaft betrieben werden kann. In den Forstreservaten soll eine ausgeglichene Vegetation der Forstwirtschaft eine breitere Grundlage verschaffen. Illegaler Holzeinschlag und Schmuggel stellen ein Problem dar. Durch unkontrolliertes Abholzen ist der Bestand des Regenwaldes weiterhin gefährdet. Neben den Nationalparks gibt es in Aburi, das nördlich von Accra in den Akuakim-Bergen gelegen ist, einen botanischen Garten, der bereits 1890 durch die britischen Kolonialherren als landwirtschaftliche Forschungsstation angelegt wurde. Hier wachsen auch tropische Pflanzen, die in Ghana ursprünglich nicht vorkamen. == Bevölkerung == Die Einwohner Ghanas werden heute korrekt als Ghanaer bezeichnet, veraltet ist die Bezeichnung Ghanesen. === Demografie === Die Lebenserwartung der Einwohner Ghanas ab der Geburt lag 2020 bei 64,3 Jahren (Frauen: 65,5, Männer: 63,2) und ist die zweithöchste in Westafrika. Die hohe Kindersterblichkeit und Säuglingssterblichkeit ist eine der Hauptursachen für den im Vergleich mit der westlichen Welt niedrigen Wert. Aufgrund verbesserter medizinischer Versorgung und einer Aufklärungsarbeit im Bereich der Hygiene sinkt die Rate der Kindersterblichkeit kontinuierlich. Die Bevölkerungsstruktur stellt die klassische Bevölkerungspyramide dar. 37,4 % der Bevölkerung ist unter 15 Jahre alt. Jährlich ist ein Bevölkerungswachstum von 2,2 % zu verzeichnen, das geringste Bevölkerungswachstum aller Staaten im südlichen Westafrika. Die Bevölkerung Ghanas wuchs rasant an und hat sich von 1990 bis 2020 mehr als verdoppelt. In der Tabelle sind die Ergebnisse der letzten Volkszählungen von 1984, 2000 und 2010 aufgelistet sowie die Schätzungen für die Jahre 1950 und 2020. Für das Jahr 2050 wird laut der mittleren Bevölkerungsprognose der UN mit einer Bevölkerung von über 52 Millionen gerechnet.Ghana hat im Vergleich zu den Nachbarländern (vor allem im Norden) einen höheren Grad an Wohlstand erreicht. Das ist der Grund, warum einige zehntausend Flüchtlinge aus Togo, Burkina Faso, Liberia, Niger und Nigeria dort leben. Es gibt eine ausgeprägte Wanderungsbewegung vom Land in die Städte. Dort besteht allerdings eine immer höher werdende Arbeitslosigkeit gerade unter jungen Menschen. Vor allem junge Männer wandern daher ins Ausland ab, mit dem Ziel, in Europa oder Nordamerika Arbeit zu finden. Einige Familien sammeln Geld, um einen jungen Familienangehörigen ins Ausland schicken zu können, damit dieser von dort die Großfamilie unterstützen kann. === Volksgruppen === Ghana ist ein Vielvölkerstaat, der aus beinahe ebenso vielen Ethnien wie Sprachgruppen heterogen zusammengesetzt ist. Die Bevölkerungszahl der unterschiedlichen Ethnien reicht von einigen hundert bis zu einigen Millionen Menschen. Mittlerweile werden immer häufiger Ehen zwischen Angehörigen unterschiedlicher Ethnien geschlossen, so dass die kleineren Volksgruppen langsam in den größeren aufgehen und die Grenzen zwischen den einzelnen Volksgruppen immer stärker verschwimmen. Diese Tatsache macht eine genaue Zuordnung zu den einzelnen Ethnien schwierig und führt zu stark abweichenden Angaben in verschiedenen Quellen. Die wichtigste ethnische Gruppe sind die Akan (rund 47,5 Prozent), deren bekannteste Untergruppe die Aschanti sind. Minderheiten bilden die Mole-Dagbani (16,6 Prozent), die Ewe (13,9 Prozent), die Ga-Adangme (7,4 Prozent) und die Gurma (5,7 Prozent). Etwa 1,4 Prozent der Bevölkerung stammt aus Europa oder ist anderer ethnischer Herkunft wie beispielsweise Chinesen oder Libanesen. === Sprachen === Mit 79 verschiedenen Sprachen und Idiomen ist die Sprachvielfalt recht groß. Amtssprache ist Englisch. Die meisten Ghanaer wachsen bereits vor ihrem Schulbesuch mehrsprachig auf und lernen dann in der Schule zusätzlich die lokal dominierende Sprachgruppe Akan (80 Prozent) und/oder Englisch (70 Prozent). Nicht selten sprechen Ghanaer drei bis fünf Sprachen fließend. Viele Sprachen Ghanas sind bedroht, da die Zahl der Sprecher kontinuierlich abnimmt. Hauptursachen sind das größere Sozialprestige einzelner Sprachen (z. B. die Akan-Sprache Fante als Sprache des Handels), interethnische Eheschließungen und die Abwanderung von Sprechern in große Städte, in denen die Kinder die Mehrheitssprache übernehmen. Zusätzlich wird dem Französischen seitens der Regierung ein immer größerer Stellenwert eingeräumt, insbesondere im Bildungssystem. Seit 2006 ist Ghana assoziiertes Mitglied der Internationalen Organisation der Frankophonie (OIF). === Religionen === Gemäß der Volkszählung von 2010 gehören in Ghana ca. 71,2 Prozent der Bevölkerung christlichen Kirchen an, die Mehrheit von ihnen protestantischen Glaubensgemeinschaften (18 Prozent) und charismatischen bzw. Pfingstkirchen (28,3 Prozent), der Rest zu der Römisch-katholischen Kirche (13,1 Prozent); andere christliche Konfessionen machen 11,4 Prozent aus. Ungefähr 17,6 Prozent werden dem Islam zugerechnet und etwa 5,2 Prozent gehören traditionellen Religionen an, vor allem zu der Religion der Akan und der Religion der Ga. 0,8 Prozent gehören anderen Glaubensrichtungen an und 5,3 Prozent sind konfessionslos.Die Grenzen zwischen den verschiedenen Religionen sind nicht genau bestimmbar, da sich der traditionelle Glaube mit christlichen Hauptströmungen und Sekten vermischt hat. Viele christliche oder muslimische Ghanaer sehen im Besuch eines „Fetischpriesters“ keinen Widerspruch zu ihrer Religion. Alle hohen christlichen Feiertage sind nationale Feiertage, ebenso wie das Islamische Opferfest und das Fest des Fastenbrechens am Ende des Ramadan. Von einzelnen ethnischen Gruppen werden zudem die ihrer traditionellen Religion entsprechenden Feste gefeiert. === Struktur und Migration === Die meisten Ghanaer leben in Großfamilien, die einerseits Unterstützung für Verwandte bereithalten und bei Problemen helfen, andererseits müssen viele Angehörige bis zur Hälfte ihres Lohnes an die Familie abgeben. Diese Strukturen weichen allerdings in den Städten immer mehr auf, so dass dort manche Kinder nicht mehr von ihren Eltern versorgt werden. Im ganzen Land vollzieht sich eine starke Wanderung Richtung Süden. Jugendliche aus der Zentralregion ziehen nach Accra und Tema, um dort Arbeit zu finden, während Jugendliche aus den nördlichen Gebieten Zuflucht in Städten wie Kumasi und Sunyani suchen. Da ihr Ausbildungsstand meistens gering und das Arbeitsangebot begrenzt ist, landen sehr viele dieser Jugendlichen auf der Straße. Allein in Accra sind nach Angaben der Welthungerhilfe etwa 30.000 Kinder und Jugendliche obdachlos.Im Jahre 2017 waren 1,2 % der Bevölkerung im Ausland geboren. Die meisten Migranten stammen aus Togo (90.000), Nigeria (70.000) und Burkina Faso (60.000). == Soziale Lage == === Gesundheitswesen === Das Gesundheitswesen stützt sich auf zwei Säulen. Einerseits versuchen der Staat und internationale Gesundheitsorganisationen bessere Bedingungen für die Volksgesundheit zu organisieren, zum anderen spielt die traditionelle Medizin eine starke Rolle. Die Kindersterblichkeit sinkt, die Versorgung der Mütter verbessert sich und die Zahl der Impfungen hat inzwischen eine Abdeckung von 80 Prozent der Bevölkerung erreicht. Im Gesundheitswesen investierte die ghanaische Regierung zwischen 1992 und 2002 etwa 7 Prozent der gesamten Staatsausgaben. Bis in die 1980er-Jahre war das Gesundheitssystem hinter den politischen und wirtschaftlichen Themen in der Politik wenig in Erscheinung getreten. Durch ein Umdenken in der Politik sowie durch einen starken Einsatz internationaler Hilfskräfte verbessert sich die Lage im Gesundheitswesen zunehmend. Entwicklung der Lebenserwartung in Ghana ==== Krankheiten ==== Ghana hat neben den üblichen medizinischen Anforderungen zusätzlich das Problem der tropischen Krankheiten zu bewältigen. Malaria, Cholera, Typhus, Tuberkulose, Gelbfieber sowie Hepatitis A und Hepatitis B sind einige der am häufigsten auftretenden Krankheiten. Auch Bilharziose und Poliomyelitis sind ein großes Problem. Vom hier früher verbreiteten und gefürchteten Guineawurm (dracunculiasi, auch Medinawurm genannt) scheint allerdings heute keine besondere Gefährdung mehr für die Bevölkerung auszugehen. Im Jahr 1974 sollen 75 Prozent aller Krankheiten in einem direkten Zusammenhang mit unsauberem Wasser gestanden haben. Malaria zählt zu den häufigsten Todesursachen im Land. Etwa 40 Prozent der Krankenhausaufenthalte haben ihre Ursache in einer Malariaerkrankung. Bei der Kindersterblichkeit ist Malaria für ein Viertel aller Todesfälle verantwortlich.Während der Trockenzeit zwischen Dezember und April werden im Nordosten des Landes immer wieder Fälle durch Meningokokken ausgelöster Meningitis gemeldet. Etwa 1,9 Prozent aller erwachsenen Personen waren 2007 mit HIV infiziert. ==== Gesundheitsdaten ==== Ghana ist grundsätzlich kein Land, das aufgrund von Dürrekatastrophen oder sonstigen Problemen an einem Mangel an Nahrungsmitteln leidet. Die ungleiche Verteilung der Nahrungsmittel stellt jedoch ein Problem dar. So litten noch im Jahr 2000 etwa 20 Prozent der Kinder unter fünf Jahren an Unterernährung. Diese Zahl hat sich aber in den letzten Jahren deutlich verringert. Im Jahr 1985 galten noch etwa 35 Prozent der Kinder der gleichen Altersstufe als unterernährt. Die Sterblichkeitsquote von Kindern bis fünf Jahren sank in den letzten 20 Jahren erheblich. So starben im Jahr 1988 von 1000 Geburten noch 79,2 Jungen und 79,4 Mädchen. Bereits 1993 war die Zahl auf 63,4 bei Jungen und 62,2 bei Mädchen gesunken. Im Jahr 2003 starben von 1000 Kindern noch 44,2 Jungen und 52,3 Mädchen. Auch die Zahl der Impfungen stieg in den vergangenen Jahren erheblich an. Im Jahr 2004 wurden ungefähr 80 Prozent der Kinder gegen Diphtherie und Polio geimpft. Die Müttersterblichkeit sank seit 1990 von ungefähr 740 von 100.000 Geburten auf ungefähr 540 von 100.000 Geburten, wobei die Zahl der Geburten, die durch medizinisches Personal überwacht wurden, nur leicht anstieg von etwa 40 Prozent im Jahr 1986 auf etwa 47 Prozent im Jahr 2004.Im ganzen Land regulierten im Jahr 2005 etwa 25,2 Prozent der Frauen ihre Schwangerschaften durch irgendeine Methode der Geburtenkontrolle, dabei lag der Anteil des Kondoms als Verhütungsmethode 2003 bei ungefähr 12,7 Prozent.Im Jahr 2001 lebten etwa 200.000 Kinder, von denen beide Eltern oder mindestens ein Elternteil an AIDS gestorben ist, in Waisenhäusern. === Bildung === Seit der Unabhängigkeit Ghanas erweitert sich das Bildungsangebot des Landes kontinuierlich. Im Bildungswesen investierte die ghanaische Regierung zwischen 1992 und 2002 etwa 7 Prozent der gesamten Staatsausgaben. Bereits seit 1957 besteht eine allgemeine neunjährige Schulpflicht, die mit dem sechsten Lebensjahr beginnt. Im Jahr der Unabhängigkeit waren nur etwa 450.000 Grundschüler in den Schulen aufgenommen worden. Die Schulbildung erreicht nunmehr fast jedes Dorf, die Lehrer stellen teilweise Studenten oder Abiturienten, die ihren National Service, eine Art soziales Jahr, in einer Dorfschule absolvieren. Das Bildungssystem war von Anfang an den Strukturen der ehemaligen Kolonialmacht Großbritannien angelehnt. Erst im Jahr 1986, während der Präsidentschaft von Jerry Rawlings, wurde das System verändert. Die allgemeine Schulpflicht besteht aus einer sechsjährigen Grundschule mit einem anschließenden dreijährigen Besuch der Junior Secondary School. Erst mit dem erfolgreichen Abschluss der Junior Secondary School kann ein Schüler die höhere Schulbildung in der Senior Secondary School beginnen, die weitere drei Jahre dauert, mit dem West African Senior Secondary Certificate Examination (WASSCE) (auch: Advanced Level Certificate) abschließt und zum Studium berechtigt. Alternativ kann ein Schüler eine technisch ausgerichtete Schule besuchen, deren Abschluss am ehesten mit dem deutschen Fachabitur vergleichbar ist. Damit kann ein Schüler die Hochschulzugangsberechtigung nach frühestens zwölf Jahren erlangen. Auf die Ausbildung der Lehrer, bereits beginnend mit den Mitarbeitern in Kindergärten und den Grundschulen, wird immer mehr Wert gelegt. So dauert beispielsweise die Ausbildung eines regulären Grundschullehrers drei Jahre. Vor allem im Norden und in den größeren Städten haben sich auch Koranschulen unter dem islamischen Teil der Bevölkerung durchgesetzt. Es wird zudem ein Fernstudium für Abiturienten angeboten, die aufgrund von persönlichen oder praktischen Gegebenheiten nicht regelmäßig an den Vorlesungen in den Universitäten teilnehmen können. 2018 lag die Alphabetisierungsrate der erwachsenen Bevölkerung bei 79 %. == Geschichte == === Mythologie === Die alte Stadt Gana lag im Norden der heutigen Republik Ghana. Ghana war die arabische Schreibweise des afrikanischen Namens Gana, dessen Bedeutung unbekannt ist. Vergeblich haben Archäologen die weiten Flächen Westafrikas nach ihrem genauen Standort abgesucht. Viele Geschichten erzählen von ihrem Reichtum, der Macht ihrer Könige und der Schönheit ihrer Gebäude. Andere Geschichten handeln von der Ursache ihres Falls. Es folgt eine davon. Die Stadt New Wagadoo, die heute Wa-Gana heißt, war die Hauptstadt von 80 Häuptlingen. Aber als der König starb und nur eine Tochter hinterließ, machten sich diese 80 Häuptlinge unabhängig. Die Prinzessin Tu-Bari war eine Frau von unübertrefflicher Schönheit und versprach jenem Mann die Ehe, der die 80 rebellischen Häuptlinge unterwerfen würde. Viele Prinzen, die von ihrer Schönheit gehört hatten, versuchten ihr Glück, aber keiner war erfolgreich. Schließlich erschien der König aus Gana namens Samba (stark). Er besiegte nacheinander die 80 rebellischen Häuptlinge und schickte einen jeden von ihnen zur Königin Annalia, damit er sich ihr unterwarf. Als sich der letzte Häuptling ergeben hatte, stimmte Annalia einer Ehe mit Samba zu, der König von Gana und Wa-Gana wurde. Einige Jahre später brach im Land eine verheerende Dürre aus und eine Hungersnot stand drohend bevor. Die Dürre wurde von einem Drachen namens Isa Bere verursacht, der in den Bergen von Futa Jallon lebte und den Fluss Niger leer trank. König Samba musste sich aufmachen und den Drachen bekämpfen. Sein berühmter Barde Tarafe, der als Erster Annalias Ruhm besungen hatte, begleitete ihn. Acht Jahre lang kämpfte König Samba gegen den Drachen und zerbrach 800 Speere an dessen Schuppenhaut. Schließlich traf er mit seinem langen Schwert das Herz des Drachen, worauf das Ungeheuer starb und der Niger, der heilige Fluss Jolliba, wieder floss. Tarafe sang ein Loblied auf das Schwert. König Samba liebte das Gebirge und die bewaldeten Hänge und entschied sich dort zu bleiben. Das alte Gana verfiel während seiner Abwesenheit. === Vorgeschichte und Archäologie === Es wird davon ausgegangen, dass das Gebiet des heutigen Ghana irgendwann im Zeitraum von vor 150.000 bis vor 20.000 Jahren erstmals von Menschen besiedelt war. Diese ersten Bewohner waren Angehörige der Sango- oder Sangoan-Kultur – benannt nach ersten Fundplätzen in der Sango-Bucht auf der ugandischen Seite des Viktoria-Sees –, einer Kultur, die durch den Übergang von der älteren zur jüngeren Altsteinzeit charakterisiert werden kann. Das Einsetzen einer Phase extremer Trockenheit, die vor etwa 25.000 Jahren begann und bis etwa vor 13.000 Jahren andauerte, veranlasste die Menschen der Sangoan-Kultur jedoch zum Verlassen der immer unwirtlicher werdenden Ebenen. Die ältesten Keramikfunde auf dem Gebiet des heutigen Ghana wurden auf ein Alter von etwa 5800 Jahren datiert. Im Allgemeinen wird der Zeitpunkt des Auftretens von Keramik mit dem Beginn der Nahrungsmittelerzeugung durch Feldbau gleichgesetzt, auch wenn Beweise dafür aus der Frühzeit der Keramikpräsenz bislang fehlen. Vor etwa 3800 bis circa vor 2000 Jahren erfuhr das Klima in Westafrika und dem westlichen Zentralafrika eine intensive Trockenphase mit starken Winden. In dieser Zeit existierte auf dem Gebiet des heutigen Ghana am Nordrand des Regenwaldgürtels etwa im Zeitraum von vor 4000 Jahren bis vor etwa 2700 Jahren mit der Kintampo-Kultur eine weitere vorgeschichtliche Kulturstufe. Die Kintampo-Kultur besaß eine sehr komplexe Wirtschaftsform, welche von einer Vermischung von feldbaulicher Waldlandbewirtschaftung und nahrungsproduzierender Viehhaltung in der Savanne gekennzeichnet war. Mit Sicherheit kann das Halten von Schafen und Ziegen für die Zeit vor 3750 bis 3550 Jahren nachgewiesen werden, wahrscheinlich wurden in der Spätzeit auch Rinder gehalten. Der durch die Trockenheit immer lichter werdende Regenwald und das plötzliche verstärkte Auftreten der Ölpalme, die Nahrung, Faser- und Baumaterial lieferte, förderte wahrscheinlich den Entwicklungsprozess einer feldbaulichen Waldlandbewirtschaftung. Dennoch scheinen auf dem Höhepunkt der Trockenphase die Menschen erneut die immer unfreundlicher werdenden Gegenden wieder verlassen zu haben. Die heute als autochthon geltende Bevölkerungsschicht in Ghana und Togo sind im Wesentlichen Gruppen, die, beginnend im 9. und 10. Jahrhundert, in großen Gruppen aus Norden oder Nordosten kommend in die Gebiete südlich des Savannengürtels des Togo und Ghana einwanderten. Auslöser dieser Migrationsbewegung war eine Klimaveränderung, die mit Änderungen in der Vegetation der Savannengebiete verknüpft war. Aber auch das Erstarken von Alt-Gana und der Vorläuferstaaten des Mali-Reiches trugen zum Auslösen der Migrationsbewegung bei sowie auch ein gewisser Zwang zu mehr Segmentierung innerhalb der Sozialordnung, der letztlich den Druck auf eine freiwillige Abspaltung vom bisherigen Volksverband erhöhte. Zwischen dem 11. und 15. Jahrhundert haben große Bewegungen im Volta-Becken stattgefunden. Aber diese Einwanderergruppen sind nicht über große Räume hinweg gewandert, sondern sie sind mehr oder weniger allmählich in Nachbargebiete eingedrungen, aus denen sie wieder durch das Sich-Einschieben weiterer Völker aus dem Norden in weiter südlich gelegene Gebiete gedrängt wurden. === Mittelalter und frühe Neuzeit === Der moderne Staat Ghana hat seinen Namen vom alten Reich Ghana, das geografisch einige Tausend Kilometer nordwestlich gelegen war und in keinem ethnischen oder historischen Zusammenhang zum heutigen Staat Ghana steht. Auf dem Gebiet des heutigen Staates gab es in vorkolonialer Zeit mehrere große Reiche beziehungsweise Föderationen. Die ersten dieser Staatswesen, die Reiche der Dagomba, Mamprusi oder der Gonja, entstanden in der Savannenregion von Nordghana und waren kulturell vom weiter nördlich gelegenen Reich der Mossi und damit dem Islam geprägt. Die Macht ihrer Reiterheere endete am Regenwaldgürtel. In der Regenwaldzone siedelten sich aus dem Norden kommend ab etwa 1300 n. Chr. Akanvölker an und gründeten verschiedene kleinere Reiche. Um 1600 begann dort in Zentralghana der Aufstieg des Aschantireichs zur beherrschenden Macht im gesamten heutigen Ghana. Die Aschantiföderation war eines der wenigen afrikanischen Reiche, das es bis Ende des 19. Jahrhunderts mit den britischen Kolonialtruppen aufnehmen konnte und diese in mehreren Kriegen schlug. Erst Anfang des 20. Jahrhunderts wurde es endgültig von den britischen Kolonialherren bezwungen. Mit dem Aschantireich konkurrierten im Süden des Landes die mit den Briten verbundenen Fantistaaten, die sich Ende des 19. Jahrhunderts zur Konföderation der Fanti zusammenschlossen. An der Goldküste reihten sich seit dem 17. Jahrhundert die befestigten Niederlassungen europäischer Mächte (Portugiesen, Engländer, Niederländer, Brandenburger, Schweden, Dänen) in einer Dichte aneinander wie in keinem anderen Gebiet Afrikas. Groß Friedrichsburg in Princes Town war beispielsweise im 17. Jahrhundert eine brandenburgisch-preußische Festung. === Kronkolonie Goldküste === Um 1820 übernahm das Colonial Office die britischen Handelsposten an der Goldküste. Zwischen den Briten und dem Volk der Fanti wurde ein Abkommen geschlossen, um sich gegen die Aschanti aus dem Binnenland zu verteidigen. Im Jahr 1874 erklärten die Briten den Küstenstreifen zur Kronkolonie. Das Aschantigebiet im Innern des Landes und auch die so genannten „Nördlichen Territorien“ wurden 1901 endgültig annektiert und vom Gouverneur in Accra direkt verwaltet. Einigen Küstenstädten wurde bereits Mitte des 19. Jahrhunderts indigene Gemeinderäte zugestanden. 1925 kam es unter Gouverneur Gordon Guggisberg zu einer Verfassungsreform. Im Aschantiland und in den Nordterritorien wurde die indirect rule eingeführt. Die dortigen traditionellen Oberhäupter waren dem Gouverneur in Accra direkt unterstellt. In der eigentlichen Colony an der Küste wurde ein Legislativrat mit 29 Mitgliedern eingeführt, in welchem erstmals neun Afrikaner vertreten waren. Für Ghana bedeutete die Kolonialisierung nicht nur Schlechtes, denn der Lebensstandard verbesserte sich signifikant, nachdem zu Beginn des 20. Jahrhunderts der Kakaoanbau einsetzte. Ähnliches lässt sich auch nach dem Zweiten Weltkrieg erkennen. Insgesamt wies Ghana zu diesen Zeiten höhere Lebensstandards auf als in der Zeit nach der Unabhängigkeit.Am Zweiten Weltkrieg nahmen über 40.000 Soldaten aus der Goldküste auf der Seite des Britischen Empires teil. Der Großteil davon wurde in Südostasien eingesetzt. === Weg zur Unabhängigkeit === Durch die so genannte Burns-Constitution wurden 1946 den Nordterritorien und dem Aschantiland Sitze im Legislativrat zugesprochen. Die Stellung der traditionellen Häuptlinge wurde dadurch weiter gestärkt. 1947 bildete sich die United Gold Coast Convention Party (UGCC), zu deren Sekretär Kwame Nkrumah ernannt wurde. Er und weitere Führer der UGCC wurden ein Jahr später nach Unruhen in Accra vorübergehend inhaftiert. Dieses Jahr kann als Wendepunkt in der ghanaischen Geschichte angesehen werden. In den folgenden zwei Jahren machte vor allem die Nationalbewegung um Kwame Nkrumah – der sich inzwischen von der UGCC getrennt und die Convention People’s Party (CPP) gegründet hatte – von sich reden. Sie organisierte Boykotte und Streiks und forderte von Großbritannien das Selbstbestimmungsrecht („Self-Government Now!“). 1950 wurde Nkrumah von den Briten inhaftiert. Dennoch konnte die CPP bei den anstehenden Wahlen einen großen Sieg erringen. Die Wahlen im Jahr darauf gewann sie ebenfalls mit überwältigender Mehrheit. Nkrumah wurde von Gouverneur Charles Noble Arden-Clarke (1949–1957) freigelassen und umgehend in die Regierung aufgenommen. Seit 1952 war er Premierminister. Unter britischer Verwaltung wurde 1954 das aktive und passive Frauenwahlrecht eingeführt. In der Praxis behinderten die komplizierten Wahlvorschriften auch nach dem Erlangen des Rechts einer beschränkten Selbstverwaltung (außer im Norden) 1951 und nur Mabel Dove Danquah gelang es, 1954 in das koloniale gesetzgebende Gremium gewählt zu werden. === Wiedererlangung der Unabhängigkeit === Am 6. März 1957 wurden die britische Kronkolonie Goldküste und Britisch-Togoland unter dem Namen Ghana unabhängig. Im Mai 1956 hatte sich in Britisch-Togoland, also in dem seit dem Ende des Ersten Weltkriegs unter britischer Verwaltung stehenden Teil der ehemaligen deutschen Kolonie Togo, in einer Volksabstimmung eine Mehrheit für den Anschluss an den neuen Staat entschieden. Der 6. März wurde bewusst als Tag der Unabhängigkeitserklärung gewählt, da am 6. März 1844 die Fanti-Föderation einem Vertrag mit den Briten zugestimmt hatte, durch den die Föderation zu einem britischen Protektorat wurde. Das Aschantiland und die Northern Territories wurden erst 1901 endgültig von Großbritannien annektiert. Nach der wiedererlangten Unabhängigkeit wurden die Verbindungen mit Großbritannien jedoch nicht gekappt. Ghana wurde als erstes schwarzafrikanisches Land Vollmitglied im Commonwealth of Nations – von 1957 bis 1960 als Commonwealth Realm, seither als Republik. Das Frauenwahlrecht wurde bei der Unabhängigkeit 1957 bestätigt. === Zeit der Militärputsche === In den Jahren 1966, 1972, 1978 und 1979 putschte das Militär. Auch die Militärregierungen wurden der Schwierigkeiten nicht Herr. Unter der Herrschaft der kleptokratischen Militärjunta von Ignatius Kutu Acheampong geriet das Land noch weiter in die Schuldenfalle. Korruption und Willkür bestimmten in den 1970er-Jahren die Politik des Landes. 1981 putschte der Luftwaffenhauptmann Jerry Rawlings, nachdem er zwischenzeitlich die Macht an eine demokratisch gewählte Regierung zurückgegeben hatte, ein zweites Mal und herrschte zunächst diktatorisch. Eine 1985 mit Burkina Faso vereinbarte Westafrikanische Union scheiterte 1987. Während seiner Herrschaft verhalf Rawlings Ghana unter anderem mit Hilfe von Weltbank und IWF wieder zu wirtschaftlicher Stabilität. === Demokratische Entwicklung === 1992 gab Jerry Rawlings Ghana eine demokratische Verfassung, in der freie Wahlen, Meinungs- und Pressefreiheit, das Recht auf körperliche Unversehrtheit und die Gleichheit vor dem Gesetz garantiert wurden. Das Einparteiensystem wurde abgeschafft. Die von der UNO festgeschriebenen Menschenrechte wurden ebenso anerkannt. Nach den Wahlen 1993 und 1996 herrschte Rawlings als gewählter Präsident weiter. Nachdem Rawlings laut Verfassung bei den Wahlen 2000 nicht ein drittes Mal antreten durfte, gewann John Agyekum Kufuor (NPP) die Wahl gegen den früheren Vizepräsidenten John Atta Mills (NDC). Kufuor wurde bei den Wahlen im Dezember 2004 im Amt bestätigt. Im Jahr 2008 fanden erneut freie demokratische Wahlen statt. Aus Verfassungsgründen konnte sich Präsident Kufuor nicht mehr zur Wahl stellen. Den ersten Wahlgang am 7. Dezember hatte Nana Akufo-Addo gewonnen, aber die absolute Mehrheit verfehlt. In der folgenden Stichwahl setzte sich NDC-Politiker Atta-Mills mit 50,23 Prozent der Stimmen durch, während Akufo-Addo nur auf 49,77 Prozent kam, so die Wahlkommission Anfang Januar 2009. Am 24. Juli 2012 verstarb John Atta Mills unerwartet in Accra. Der bisherige Vizepräsident John Dramani Mahama legte am selben Tag den Amtseid als Nachfolger ab. Im Dezember 2012 wurde Mahama mit 50,7 Prozent der Stimmen im Amt bestätigt, sein Herausforderer Akufo-Addo erhielt 47,8 Prozent der Stimmen. Bei den Wahlen am 7. Dezember 2016 traten insgesamt sieben Präsidentschaftskandidaten an, darunter der bisherige Präsident John Mahama und der oppositionelle Kandidat Nana Akufo-Addo. Akufo-Addo erhielt 53,85 Prozent der Stimmen, Mahama kam auf 44,40 Prozent. Damit verlor zum ersten Mal in der Geschichte Ghanas ein amtierender Präsident sein Amt durch eine demokratische Wahl. Am 7. Januar 2017 wurde Akufo-Addo als Präsident vereidigt. == Politik == === Politisches System === Ghana erhielt am 6. März 1957 als erstes Land Afrikas die Unabhängigkeit von Großbritannien. Seither gab es verschiedene Phasen der Demokratie und militärischer Putsche. Seit dem 7. Januar 1993 besteht die bisher als stabil bewertete vierte Republik in der Form einer Präsidialrepublik im Commonwealth mit einem Einkammerparlament. Seit den Wahlen von 2012 wurde die Anzahl der Parlamentssitze von 230 auf 275 angehoben. Die Judikative ist streng von den anderen beiden Staatsgewalten getrennt. Das Mehrheitswahlrecht bevorzugt die beiden großen Parteien im Lande, die beinahe alle Sitze im Parlament und den regionalen Vertretungen innehaben. Obwohl Ghana Mitglied des Commonwealth of Nations ist, wird das Land als Präsidialrepublik organisiert. Parlament und Präsident werden für eine Amtszeit von jeweils vier Jahren direkt vom Volk gewählt. Sitz des Präsidenten ist die ehemalige Sklavenburg Osu Castle an der Küste der Hauptstadt Accra. Die Verfassung Ghanas garantiert der Bevölkerung neben den umfassenden Menschenrechten insbesondere die Freiheit, sich zu versammeln und Parteien und Gewerkschaften zu gründen. Eine Vielzahl von Parteien, die nach der Verfassung allerdings nationale und keine lokalen Interessen oder Interessen von einzelnen Ethnien zu vertreten haben, wurde in der Vergangenheit gegründet. Zurzeit sind zehn Parteien registriert. Unter dem Trade Union Congress (TUC) sind 16 Einzelgewerkschaften Ghanas zusammengefasst. Ghana ist in 16 Regionen unterteilt, die eine eigene Gerichtsbarkeit, eine regionale Regierung und eine eigene Verwaltung stellen. Diese Regionen sind in 216 kleinere Distrikte unterteilt, die in ihrem Bereich durch lokal ansässige Verwaltungseinheiten zur Machtverteilung im Land beitragen und auch der großen ethnischen Breite der Bevölkerung in kleinen Einheiten besser Rechnung tragen können. Für Gesetzgebung auf regionaler Ebene ist das „House of Chiefs“ zuständig. Dabei vertreten die sogenannten „Häuptlinge“ (Chiefs) ihre jeweilige Abstammungslinie analog zum Organisationssystem des vorkolonialen Aschantireichs. Diese Chiefs haben auf lokaler Ebene viel Macht und haben die Rolle von Schlichtern inne. Die Rolle der Chiefs ist in der Verfassung von 1992 verankert.Im Demokratieindex 2022 der britischen Zeitschrift The Economist belegt Ghana Platz 63 von 167 Ländern und gilt als eine „unvollständige Demokratie“. Im Länderbericht Freedom in the World 2023 der US-amerikanischen Nichtregierungsorganisation Freedom House wird das politische System des Landes als „frei“ bewertet. Das Land wird als eines der freisten innerhalb Afrikas bewertet. === Politische Parteien === Im Jahr 2003 gab es offiziell zehn registrierte Parteien, von denen bei der Parlamentswahl 2013 vier in das Einkammerparlament mit 275 Sitzen gewählt wurden. Stärkste Partei war die Partei National Democratic Congress (NDC) mit 146 Sitzen, als stärkste Oppositionspartei erhielt die New Patriotic Party (NPP) 121 Sitze; jeweils 1 Sitz entfiel auf die People’s National Convention (PNC) sowie die Convention People’s Party (CPP), daneben gab es drei parteilose Parlamentsmitglieder. Bei den Wahlen am 7. Dezember 2016 entfielen 169 Sitze auf die NPP und 106 Mandate auf den NDC. Andere Parteien sind nicht mehr im Parlament vertreten. Die Verfassung bezeichnet die Parteien ausdrücklich als meinungs- und willensbildend im Rahmen des politischen Prozesses. === Politische Indizes === === Menschenrechte === Dem Land wird von europäischen Beobachtern, verglichen mit den Nachbarländern, eine relativ hohe Beachtung der Menschenrechte attestiert. Im Jahresbericht 2009 der Menschenrechtsorganisation Amnesty International wird jedoch unter anderem bemängelt, dass die Strafjustiz zu langsam arbeite und die Gefängnisse überfüllt sind. Auch der Umstand, dass keine Schritte zur Abschaffung der Todesstrafe unternommen wurden, findet in dem Bericht Erwähnung. In Ghana ist seit 1993 kein zum Tod verurteilter Häftling mehr hingerichtet worden. Dennoch ist die Todesstrafe weiterhin im Strafgesetz verankert.Laut Amnesty International werden in Ghana jährlich tausende Menschen Opfer rechtswidriger Zwangsräumungen oder waren von Zwangsräumung bedroht. Gemäß einer Ende 2020 veröffentlichten Studie der Universität Chicago gehen in Ghana und der Elfenbeinküste – alleine in der Kakaoproduktion – mehr als 1,5 Millionen Minderjährige Kinderarbeit nach.Diskriminierung und Gewalt gegen Frauen ist an der Tagesordnung, obwohl neue Gesetze eigentlich zu einer Besserung der Situation beitragen sollten. Schätzungen zufolge war jede dritte Frau von familiärer Gewalt betroffen. Das seit 2007 geltende Gesetz gegen familiäre Gewalt zeigte offensichtlich noch keine Wirkung. Auch die weibliche Genitalverstümmelung findet Anwendung. In Ghana fällt das Problem der „Heimsklaverei“ auf. In einigen Gebieten Ghanas werden vor allem Mädchen aufgrund der Verschuldung der Eltern von wohlhabenden Personen als Pfand beansprucht oder mit dem Versprechen auf Ausbildung und Jobs ausgebeutet. Homosexualität unter Männern ist illegal und wird strafrechtlich verfolgt. Menschen, die zu sexuellen Minderheiten (LGBT) gehören, werden massiv diskriminiert, gedemütigt und mitunter von der Polizei erpresst. Homosexuelle Männer sind in Gefängnissen oft sexuellen und sonstigen körperlichen Misshandlungen ausgesetzt.Laut einem im Jahr 2009 veröffentlichtem Bericht des US-Außenministeriums gibt es gesellschaftliche Diskriminierung gegenüber Menschen mit Behinderungen. Auch gebe es gesellschaftliche Diskriminierung gegenüber Menschen mit HIV/AIDS. Der Bericht erwähnt auch Handel mit Frauen und Kindern, ethnische Diskriminierung, politisch und ethnisch motivierte Gewalt sowie Kinderarbeit einschließlich Zwangsarbeit von Kindern. === Außenpolitik === Die aktuelle Außenpolitik orientiert sich an den westlichen Staaten, vor allem an den USA. Ghana hat ein großes Gewicht in Westafrika und gilt als stabilisierender Faktor. Die Regierungen Ghanas haben in der Vergangenheit mehrfach internationale humanitäre und militärische Einsätze unterstützt. Es besteht eine teilweise langjährige Mitgliedschaft in vielen internationalen Organisationen. Seit 1957 ist das Land Mitglied der Vereinten Nationen, deren ehemaliger Generalsekretär Kofi Annan gebürtiger Ghanaer ist, und im Commonwealth of Nations. Ghana war 1963 eines der Gründungsmitglieder des OAE, der Vorgängerorganisation der Afrikanischen Union. Weitere Mitgliedschaften bestehen bei dem EG-AKP Abkommen zwischen der EU und einigen afrikanischen, karibischen und pazifischen Staaten, der Welthandelsorganisation, der Westafrikanischen Wirtschaftsgemeinschaft ECOWAS, der UNESCO, der Weltgesundheitsorganisation, der Internationale Arbeitsorganisation, der Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation und dem Internationalen Währungsfonds. Das Land hat an vielen Friedensmissionen der Vereinten Nationen teilgenommen, unter anderem in Afrika in Burundi, der Elfenbeinküste, der Demokratischen Republik Kongo und Ruanda, im Kosovo und im Libanon. === Militär === Ghana verfügt über eigene Streitkräfte mit insgesamt etwa 14.000 Soldaten. Die Streitkräfte sind gegliedert in Heer, Marine, und Luftwaffe. Es besteht keine gesetzliche Wehrpflicht. Das ghanaische Militär war in den drei Jahrzehnten nach der Unabhängigkeit Ghanas an mehreren Militärputschen beteiligt.Accra ist Sitz des Verteidigungsministeriums sowie Sitz des Hauptquartiers der militärischen Führung der Streitkräfte. Am Flughafen Accra wird von der Luftwaffe ein militärischer Teil genutzt. In Tamale und in Takoradi befinden sich Militärstützpunkte sowie Militärflugplätze. In Kumasi wurde eine Versorgungseinheit eingerichtet. Die Marineeinheiten schützen die Gewässer im Inland (Volta-See) sowie die Fischereiinteressen und militärischen Zonen im Atlantik. Das Waffeninventar der ghanaischen Streitkräfte ist ein Mix aus russischer, chinesischer und westlicher Ausrüstung. Die Spitzenlieferanten von Rüstungsgütern seit 2010 sind China, Deutschland, Spanien und Russland. Die Staatsausgaben für das Militär liegen mit 0,4 % der Wirtschaftsleistung auf sehr niedrigen Niveau (Platz 151 im Jahr 2019).Ghana ist Mitglied der Vereinten Nationen und engagiert sich seit mehreren Jahrzehnten bei UN-Friedensmissionen. Das Kofi Annan International Peacekeeping Training Centre (KAIPTC) wurde in der Nähe von Accra eingerichtet und dient der Ausbildung und Schulung von Personal für den Friedenseinsatz. Jährlich werden hier Personen aus dem Militär, der Polizei oder Justiz aus Ghana und anderen westafrikanischen Ländern für die Durchführung von Friedensmissionen weitergebildet, wobei auch Ausbilder aus Deutschland eingesetzt werden. == Verwaltungsgliederung == Ghana gliedert sich seit Februar 2019 in 16 Regionen mit jeweils einem „Regional Minister“ an der Spitze. Die einzelnen Regionen untergliedern sich wiederum in kleinere Bezirke, die so genannten districts. Zunächst gab es 110 Distrikte, doch wurde diese Zahl in einer Verwaltungsreform auf nunmehr 260 (Stand 2019) angehoben. === Größte Städte === Die größten Städte in Ghana waren (nach Daten der Volkszählung): Accra ist die größte Stadt des Landes und zugleich Hauptstadt mit Regierungssitz. Die Küstenstadt Accra ist ein Schmelztiegel beinahe aller in Ghana vertretenen Ethnien sowie zahlreicher Ausländer. Kumasi liegt etwa 220 km von der Küste entfernt im Landesinneren und ist nicht nur die zweitgrößte Stadt des Landes, sondern auch Hauptstadt der größten Volksgruppe, der Aschanti. Das über 300 Jahre alte Kumasi ist eine der traditionsreichsten Städte des Landes und wird aufgrund seiner Grünanlagen und Straßenbegrünungen von den Ghanaern auch Gardentown genannt. Als Verwaltungshauptstadt der Aschanti-Region ist Kumasi ein wichtiges Kultur-, Handels- und Verwaltungszentrum für das gesamte Land. In Kumasi lebt der Asantehene, das traditionelle – und immer noch einflussreiche – Oberhaupt der Aschanti. Tamale, die Hauptstadt der Northern Region, ist die mit Abstand größte Stadt des gesamten Nordens. Anders als Accra und Kumasi, deren Bevölkerung überwiegend aus Anhängern christlicher Glaubensrichtungen besteht, leben in Tamale überwiegend Muslime. Die Städte Sekondi und Takoradi werden häufig als eine Stadt genannt, da sie inzwischen nahezu zusammengewachsen sind. Die Stadtkerne liegen kaum zehn Kilometer auseinander. Man spricht auch von der „Zwillingsstadt“ Sekondi-Takoradi. In Takoradi sowie in Tema (bei Accra) liegen die beiden einzigen Überseehäfen des Landes. Ihr Wachstum beruht auf der sich hier ansiedelnden Industrie und den stetig zuwandernden Menschen auf der Suche nach Arbeit. Die Stadt Ashaiman war noch vor 60 Jahren lediglich ein kleines Fischerdorf. Ihre Entwicklung hat im Besonderen mit dem Bau der vollständig aus wirtschaftlichen Gesichtspunkten geplanten Stadt Tema als Überseehafen zu tun. Viele Menschen nutzten Ashaiman mit den günstigeren Mieten als Wohnort aufgrund seiner Nähe sowohl zu Tema als auch zur Hauptstadt Accra. Dieser Ort zieht Landflüchtlinge auf der Suche nach Arbeit und günstigem Wohnraum an. == Wirtschaft == === Basisdaten === Das Bruttosozialprodukt hatte im Jahr 2016 eine Höhe von 43,264 Mrd. Euro und war damit laut IMF auf Platz 86 weltweit.Ghana ist trotz der Ansätze zur Industrialisierung insgesamt ein Agrarland. Die Landwirtschaft trug 2015 21,1 Prozent zum Bruttosozialprodukt bei. Etwa 56 Prozent der Bevölkerung sind in der Landwirtschaft und Fischerei tätig, meistens im Rahmen von Subsistenzwirtschaft, also als Selbstversorger. Die wirtschaftliche Gesamtsituation hat sich seit dem Jahr 2001 etwas stabilisiert. Die Regierung schloss sich im Jahr 2004 dem Entschuldungsprogramm der Weltbank und des Internationalen Währungsfonds für die am höchsten verschuldeten Länder an. Es erreichte den so genannten Completion Point unter der erweiterten HIPC-Initiative zur Entschuldung der am höchsten verschuldeten Entwicklungsländer. Weitgehend wurde Ghana durch die verschiedensten multi- und bilateralen Gläubiger von seinen Schulden freigestellt (Die Gesamtentlastung Ghanas betrug 7,4 Milliarden US-Dollar). Deutschland erließ die Schulden mit einem Nominalwert von 1,49 Millionen US-Dollar Handelsforderungen und 169 Millionen US-Dollar aus der finanziellen Zusammenarbeit vollständig.Die Wirtschaftspolitik gilt als schlüssig. Noch 2003 belief sich der Anteil der Bevölkerung mit einem Einkommen von weniger als einem US-Dollar pro Tag auf 45 Prozent. Von 2002 bis 2013 hat sich das Bruttoinlandsprodukt pro Kopf jedoch von 312 auf 1858 US-Dollar versechsfacht. Weniger als 30 Prozent der Bevölkerung gelten als arm; es gibt eine wachsende Mittelschicht. Auf dem Index der menschlichen Entwicklung von 2016 steht Ghana auf dem 139. Platz von 187 Ländern. Im Weltbank-Bericht „Doing Business 2010“, der das Investitionsklima in 181 Ländern misst, liegt Ghana auf Platz 92 und hat sich damit gegenüber dem Vorjahr um fünf Ränge verschlechtert. Die Wachstumsrate der letzten Jahre (bis 2014) betrug im Durchschnitt 6 bis 7 Prozent. Im Global Competitiveness Index, der die Wettbewerbsfähigkeit eines Landes misst, belegt Ghana 111 von 137 Ländern (Stand 2017–2018). In der Rangliste von 2017 gemäß dem Index für wirtschaftliche Freiheit liegt Ghana auf Platz 118 von 180. Nach dem Korruptionswahrnehmungsindex von Transparency International lag Ghana 2017 von 180 Ländern zusammen mit Indien, Marokko und der Türkei auf dem 81. Platz, mit 40 von maximal 100 Punkten. === Wirtschaftsbeziehungen === Seit dem 23. November 1998 ist das ghanaisch-deutsche Investitionsschutzabkommen in Kraft. Zudem wurde ein Doppelbesteuerungsabkommen am 2. August 2004 unterzeichnet, welches zum 14. Dezember 2007 in Kraft getreten ist. Deutschland und Ghana hatten 2008 ein Handelsvolumen von etwa 291 Mio. Euro. Im Vergleich zwischen den Exporten Deutschlands von 192,9 Millionen Euro nach Ghana und den entsprechenden Importen von 98,3 Millionen Euro besteht zu Gunsten Deutschlands ein Handelsüberschuss von etwa 94,6 Millionen Euro. Es existiert eine deutsche Auslandshandelskammer, die als Delegation der Deutschen Wirtschaft in Ghana in Accra ansässig ist. Ihr Arbeitsschwerpunkt bildet die Versorgung mit Energie, besonders mit erneuerbaren Energien. Hierzu organisiert sie seit 2009 jährlich im November die West African Clean Energy and Environment Exhibition and Conference (WACEE). === Rohstoffe === Bis zur Erschließung der kalifornischen Goldfelder 1850 war die Goldküste einer der großen Goldproduzenten der Welt. Trotz des eher bescheidenen Anteils an der Weltgoldproduktion ist Gold für das heutige Ghana nach wie vor ein sehr wichtiger Rohstoff, denn der Goldexport hat einen Anteil am Gesamtexport Ghanas von etwa 32 Prozent. Weitere mineralische Rohstoffe des heutigen Ghana sind Erdöl, Diamanten (größtenteils Industriediamanten), Bauxit, Mangan und Kalkstein. 2007 wurden Erdgasvorkommen vor der Küste Ghanas entdeckt, 2008 auch Erdöl, das seit 2010 gefördert wird. Mit der Förderung ließ auch die Haushaltsdisziplin nach. Zudem fiel der Ölpreis 2014 stark, so dass die Erlöse gerade noch ausreichen, um ein Viertel der Zinszahlungen der Staatsschulden zu begleichen.Für den Export bestimmte landwirtschaftliche Güter sind insbesondere Kakao, Zuckerrohr, Kaffee, Tee und Kautschuk. Diese landwirtschaftlichen Produkte werden in großen Plantagen in Monokulturen angebaut. Die Grundzüge für diesen Wirtschaftszweig legten schon die Kolonialherren. Diese Grundstoffe werden, nunmehr zu höherwertigen Waren umgewandelt, wieder importiert wie z. B. Instant-Kaffee, Beutel-Tee, Schokolade, Würfelzucker, Autoreifen. Nach der Elfenbeinküste ist Ghana der zweitgrößte Produzent von Kakao (20 Prozent). Es gibt etwa eine Million Kakaobauern sowie drei Millionen Erntehelfer. Wildkautschuk (1880–1890) und die Kakaowirtschaft (Landwirtschaft, Handel, Transport der Bohnen) waren bereits vor 1900 Haupttreiber für eine höhere Kaufkraft. Die Ostprovinz der Goldküstenkolonie war zu dieser Zeit der früheste und größte Kakaoproduzent, die Exporte von Ashanti-Kakao nahmen jedoch bis 1917 rasch zu.Von den traditionellen Produkten wurde in der Vergangenheit zugunsten anderer landwirtschaftlicher Produkte immer weiter abgerückt. So werden in der Landwirtschaft nunmehr auch Ananas, Tabak, Bananen, Palmkernöl, getrocknete Kokosfaser, Kolanüsse, Sheabutter und Baumwolle produziert. Steigende Bedeutung erlangte die Fleischverarbeitung. Das Land ist der drittgrößte Lieferant von Hartholz und anderen Holzprodukten in Afrika und Deutschlands größter Lieferant für Holzprodukte. Es werden 23 Edelholzarten geschlagen, darunter Mahagoni, Kokrodua, Utile, auch Sipo-Mahagoni genannt, und Sapeli. Es ist verboten, unverarbeitetes Holz zu exportieren. Mit diesem Verbot soll die heimische Holzwirtschaft gestützt werden. 1999 wurden etwa 475.000 Tonnen Holz und Holzprodukte exportiert, insgesamt machte dieser Wirtschaftszweig 10 Prozent der gesamten Exportumsätze aus. Die Fischerei als traditioneller Wirtschaftszweig ist zunehmend bedroht. In den küstennahen Gewässern und teilweise auch im Bereich der Hohen See gehen die Fischbestände zurück. In den Fischereihäfen Sekondi-Takoradi und Tema gibt es eine moderne Hochseeflotte. Die Fischmärkte des Landes werden jedoch mehrheitlich von Fischereigenossenschaften beliefert, dieser Fischhandel hat sich inzwischen zu einer Domäne der Frauen entwickelt. Fisch wird auch in die westafrikanischen Nachbarländer exportiert. Hauptsächlich werden Heringe, Barrakudas, Thunfische, Makrelen und Haie gefangen. Über Meerwasserentsalzungsanlagen wird Salz gewonnen. Dieser Rohstoff nimmt eine immer wichtiger werdende Stellung in der Exportwirtschaft ein. Jährlich werden ungefähr 600.000 Tonnen exportiert. Importiert werden vor allem Maschinen, Transportausrüstungen, Brennstoffe und Nahrungsmittel, insbesondere Fleisch und Reis. === Energie === Im Jahr 2010 bestand eine Produktionskapazität von 6,489 Milliarden Kilowattstunden elektrische Energie und ein Bedarf von 7,095 Milliarden Kilowattstunden. Der Großteil des Stromes stammt aus Wasserkraftwerken (5,57 Milliarden kWh, etwa dem Akosombo-Staudamm), der Rest aus meist ölbefeuerten Wärmekraftwerken. Die staatliche Volta River Authority erzeugt und überträgt den größten Teil des Stromes, daneben existieren die Takoradi International Company und kleinere Erzeuger. Verteilung und Abrechnung liegen bei den beiden staatlichen Unternehmen Electricity Company of Ghana und Northern Electricity Department. Nach der durch starke Trockenheit ausgelösten Stromkrise 2006/2007 unternahm die Regierung Anstrengungen, ihre Kapazität bei Wasser-, Öl- und Gaskraftwerken auszubauen. 2007 wurde diskutiert, bis zum Jahr 2018 ein Kernkraftwerk mit 400 MW Leistung zu errichten. Von China wurde für 600 Millionen Dollar am südlichen Ende des Bui-Nationalparks ein Staudamm errichtet. Die Turbinen des Bui-Staudamms haben eine Leistung von insgesamt 400 MW. Das Wasserkraftwerk ging 2013 in Betrieb.Zur Versorgung der Gaskraftwerke käme nigerianisches Gas, das über die westafrikanische Gaspipeline geliefert werden soll, zum Einsatz. Die Versorgung mit Gas ist nicht sichergestellt, wie das Beispiel des von chinesischen Investoren gebauten 560 MW Sunon Asogli Gaskraftwerks zeigte (1. Stufe 200 MW ist seit 2009 fertiggestellt; 2. Stufe ist gerade im Bau), welches aufgrund von Gasmangel nicht wie geplant in Betrieb genommen werden konnte.Überschüssige Energie wurde eine Zeit lang von Ghana in die Nachbarländer Elfenbeinküste, Burkina Faso und Mali exportiert. Seit 2014 steckt Ghana jedoch erneut wie schon 2006/2007 in einer schweren Energiekrise. Aufgrund des starken Wirtschaftswachstums der letzten Jahre und wegen des für Afrika überdurchschnittlichen Elektrifizierungsgrades sowie aufgrund von Übertragungsverlusten im ineffizienten Stromnetz übersteigt der Energiebedarf die Produktion um ca. 50 Prozent. Die Ausbeute der Erdgasvorkommen verzögerte sich. Goldminen, Getränkeindustrie und Tierkörperverarbeitung sind besonders betroffen, hier kommt es durch die Energieknappheit zu Entlassungen. Der staatliche Stromproduzent, die Volta River Authority ist stark verschuldet. === Industrie === Nur etwa ein Viertel des Wirtschaftsvolumens ist bisher der Industrie zuzuschreiben. Um die Abhängigkeit von Importen für höher verarbeitete Waren zu reduzieren, wurde und wird versucht, den industriellen Sektor weiter auszubauen. Von Bierbrauereien über Textilbetriebe bis hin zu Lebensmittel verarbeitenden Betrieben erstreckt sich die Bandbreite der Leichtindustrie. Besonders im Großraum Accra finden sich die Standorte der Schwerindustrie. Hier werden Stahl, Aluminium (aus dem Rohstoff Bauxit), Zement und Öle hergestellt. Mittlerweile arbeiten etwa 15 Prozent der Erwerbstätigen in der Industrie. === Tourismus === Ein Sektor, der für die wirtschaftliche Zukunft Ghanas zunehmend an Bedeutung gewinnt, ist der Tourismus. Hinsichtlich seiner Entwicklung hat im Jahre 1996 die ghanaische Regierung einen auf 15 Jahre angesetzten Integrated National Tourism Development Plan initiiert, mit dem versucht werden soll, die Zahl der alljährlich Ghana besuchenden Touristen auf 1 Million im Jahre 2020 zu steigern. Ghanas touristische Attraktionen sind die Strände der Atlantikküste, Naturparks und Wildtierreservate, traditionelle Festivals und die alten Europäerforts an der Küste. Gerade unter Afroamerikanern hat Ghana aufgrund der Geschichte des Sklavenhandels eine große touristische Bedeutung. Besonders im Küstenbereich ist bereits eine nennenswerte Tourismusindustrie mit kleineren und mittelgroßen Hotelanlagen entstanden. Die Bettenkapazität liegt bei ca. 10.000 Betten und steigt stetig an. Haupttourismuszentren sind die Regionen um Accra für den Badetourismus, Elmina und Cape Coast aufgrund der historischen Vergangenheit sowie Kumasi. Daneben wird aber auch z. B. das Volta-Delta bevorzugt von Wassersportlern und Vogelkundlern besucht. Ökotourismus gewinnt in Ghana zunehmend an Bedeutung. === Außenhandel === Ghana exportiert vor allem Rohstoffe und landwirtschaftliche Erzeugnisse während gleichzeitig überwiegend industrielle Güter importiert werden. 2015 waren die Hauptlieferanten Ghanas China (32,6 % der Importe), Nigeria (14,1 %), Niederlande (5,5 %) und die Vereinigten Staaten (5,5 %). Das Land exportierte vorwiegend nach Indien (27,4 % der Exporte), die Schweiz (11,8 %), China (10,2 %) und Frankreich (5,5 %). Ghana hatte ein Außenhandelsdefizit in Höhe von ca. 6 % des Bruttoinlandsprodukts. === Staatshaushalt === Der Staatshaushalt umfasste 2016 Ausgaben von umgerechnet 11,55 Milliarden US-Dollar. Dem standen Einnahmen von umgerechnet 9,06 Milliarden US-Dollar gegenüber. Daraus ergibt sich ein Haushaltsdefizit in Höhe von 5,7 Prozent des BIP. Die Staatsverschuldung betrug 2016 31,3 Mrd. US-Dollar oder 72,4 Prozent des BIP (zum Vergleich: vor der Finanzkrise 2007 nur 26 Prozent). Im Februar 2020 verkündete Präsident Nana Addo Dankwa Akufo-Addo beim Staatsbesuch in Bern (Schweiz), dass Ghana in Zukunft ohne Entwicklungshilfe auskommen will. Aufwendungen im Staatshaushalt 2009 == Infrastruktur == Das Land besitzt für ein westafrikanisches Land ein gut ausgebautes Verkehrsnetz, mit allen bekannten Verkehrsmitteln. === Straßenverkehr === Das Straßennetz wurde bisher auf über 109.515 Kilometer ausgebaut. Davon sind etwa 13.787 Kilometer asphaltiert, jedoch von unterschiedlicher Qualität und in teilweise erneuerungsbedürftigem Zustand. Die wichtigsten Straßen sind die Küstenstraße, die Accra zum einen mit Togo und zum anderen mit Elfenbeinküste verbindet. Alle Städte an der Küste werden hierüber verbunden. Ferner ist als Nord-Süd-Achse eine Hauptstrecke über Kumasi und eine weitere Nord-Süd-Achse über den Volta-Fluss geleitet worden, um die Gebiete östlich des Volta-Sees in die Infrastruktur einzubinden. Eine sehr gut ausgebaute gebührenpflichtige Autobahn verbindet Accra und den wichtigsten Hafen Tema. Das Straßennetz wird hauptsächlich von privaten Pkw und Tro-Tro genannten Kleinbussen, aber auch Bussen und Lkw befahren, seltener von Zweirädern. Auch in den Städten sind Fahrräder trotz der hohen Kosten für Kraftstoffe selten zu finden. Fahrräder haben jedoch in den nördlichen Gebieten eine weite Verbreitung gefunden. In den letzten Jahren waren die Straßen in den Städten und der Hauptverkehrsstraßen häufig zu den Stoßzeiten völlig überlastet. Der weit überwiegende Teil der PKW besteht aus alten, in Europa und Amerika bereits ausrangierten, Gebrauchtwagen. Mehrere Gesellschaften (z. B. STC) bieten Transitfahrten in die größten Städte des Landes in relativ modernen Überlandbussen an. Allerdings ist auch hier mit Ausfällen zu rechnen, da die Zahl der Busse den derzeitigen Anforderungen nicht genügt. Für breite Teile der Bevölkerung ist der Kleinbus Tro-Tro das Hauptverkehrsmittel. Diese Tro-Tros fassen zwölf bis 35 Personen und kommen in allen Formen und Farben vor. Oft wird das Fahrzeug von einem Wahlspruch vorne auf der Windschutzscheibe oder am Heck geschmückt, der häufig religiösen Charakter hat oder einfach nur der Name des Fahrzeugs ist. Tro-Tros sind innerstädtisches Verkehrsmittel, befahren aber auch Überlandrouten. Beinahe jedes Dorf ist mit Tro-Tros wenigstens einmal am Tag zu erreichen. Auch Routen in die Nachbarländer werden befahren. Tro-Tros haben Sammelpunkte innerhalb der Städte und es gibt über das ganze Land verteilt Umsteigepunkte. Ein Tro-Tro startet meist dann, wenn alle Plätze besetzt sind. Über die Fahrtroute verteilt haben Tro-Tros in der Regel keine weiteren festen Haltestellen. Wer einsteigen will, gibt dem Fahrer ein Zeichen und wird bei freien Plätzen mitgenommen. Individuelle Massenverkehrsmittel sind auch die zahlreichen Taxis, zu erkennen an den orange beklebten oder lackierten Kotflügeln, die fast ausschließlich in den Städten vorkommen, aber auch Überlandfahrten machen, wenn dieses individuell vereinbart wird. Verschiedene Mietwagenanbieter sind überwiegend in Hotels vertreten, jedes Taxi kann auch mitsamt Fahrer als Mietwagen genutzt werden, soweit mit dem Fahrer ein akzeptabler Preis ausgehandelt ist. === Luftverkehr === Ghana hat mit dem Kotoka International Airport in Accra einen internationalen Flughafen, den unter anderem mit Turkish Airlines, KLM, British Airways, Emirates, TAP Portugal, Iberia, Alitalia, Royal Air Maroc und Afriqiyah Airways auch große Fluggesellschaften ansteuern. Neben dem internationalen Personenverkehr wird hier ein wesentlicher Teil des Frachtverkehrs abgewickelt. Der Flughafen soll in den nächsten Jahren zu einem bedeutenden regionalen Hub entwickelt werden. Der Kotoka International Airport in Accra wurde bis vor wenigen Jahren grundlegend erneuert und modernisiert. Zwei Gesellschaften haben den Luftverkehr mit Inlandsflügen seit 2003 wieder aufgenommen. Insgesamt verfügt das Land über neun öffentliche Flughäfen, die sich über das ganze Land verteilen und hauptsächlich dem Inlandsverkehr und dem Warentransport dienen. Folgende Städte haben einen Flughafen: Accra Kumasi Sekondi-Takoradi Obuasi Sunyani Wa Bolgatanga Tamale KadeDer Aufbau einer neuen nationalen Fluggesellschaft ist mit Unterstützung von Air Mauritius, Ethiopian Airlines oder Africa World Airlines (Stand November 2017) vorgesehen. === Schiffsverkehr === Der Hauptwarenstrom ins Ausland und nach Ghana verläuft über die Häfen in Tema und Sekondi-Takoradi. Im August 2002 wurde in Tema, dem wirtschaftlich wichtigeren der beiden Häfen, ein modernes Containerterminal mit einer Umschlagskapazität von 40.000 Containern im Jahr errichtet. Der Bau dieses Containerterminals verursachte Kosten in Höhe von zehn Millionen US-Dollar. Neben den großen atlantischen Häfen hat der Volta-See mit seinen Binnenhäfen eine nicht unbeträchtliche Bedeutung. Auf dem Wasser des Volta-Sees werden in alle Richtungen Waren und Personen befördert. Auch für den Tourismus hat der Schiffsverkehr auf dem Volta-See eine Bedeutung. Häfen am Volta-See sind Kpandu, Kete Krachi, Yeji und Yapei (Tamale Port). Auf dem Volta-See werden Fährverbindungen betrieben, die häufig mehrmals täglich Personen und leichte Waren befördern. === Schienenverkehr === Ein Erbe aus der Kolonialzeit mit noch ungewissem Schicksal ist das Schienennetz, welches von der Ghana Railway Corporation betrieben wird. Die Schienen wurden in der Kolonialzeit von der Gold Coast Government Railways verlegt, um die Rohstoffe und Waren aus dem gesamten südlichen Land nach Accra zu transportieren, das zum damaligen Zeitpunkt Hauptumschlagplatz für Waren aller Art war. Im Wesentlichen ist ein dreieckiges Schienennetz entstanden, das sich zwischen Sekondi, Kumasi und Accra spannt. Die ersten Gleise wurden ab 1898 zwischen Sekondi und Tarkwa gelegt und in den folgenden Jahren über Dunkwa, Obuasi und Bekwai nach Kumasi verlängert. Von Kumasi wurde die Eisenbahnstrecke ab 1922 in vielen Jahren Arbeit über Konongo, Nkawkaw und Koforidua bis nach Accra ausgebaut. Letztlich wurde von Accra die Bahnlinie parallel zur Küste im Inland vorbei an den Ortschaften Akoroso, Achiasi, Foso und Twifo-Praso etwas nördlich von Tarkwa mit der ersten Linie zwischen Sekondi und Kumasi verbunden. In den letzten Jahren wurde der Unterhalt des Schienennetzes stark vernachlässigt, so dass 2006 nur noch die Strecke zwischen Kumasi und Sekondi-Takoradi regelmäßig befahren wird. Der Zug verkehrt im Zwei-Tagesrhythmus zwischen diesen beiden Städten; das heißt an einem Tag fährt er von Kumasi nach Sekondi-Takoradi und am anderen Tag wieder zurück. Aktuell gibt es Planungen, das Schienennetz auszubauen. Insgesamt geht es um die Entwicklung, Wiederherstellung und Erweiterung eines 1500 km langen Streckenbereiches, welches in der ersten Stufe von Tema nach Paga durch Accra, Ejisu, Nkoranza, Techniman und Tamale sowie über 350 km von Tema nach Kumasi verläuft. Die Spurweite soll von Kapspur, 1067 mm auf Normalspur, 1435 mm verändert werden, wodurch die Geschwindigkeit von 56 km/h auf 160 km/h angehoben werden kann. Die erlaubte Achslast soll auf der Westlichen Eisenbahnstrecke auf 16 Tonnen, auf der Östlichen Eisenbahnstrecke auf 14 Tonnen und auf der Zentralen Eisenbahnstrecke auf 25 Tonnen angehoben werden. Das Projekt soll als Public Private Partnership mit der chinesischen NIT Holdings Limited durchgeführt werden. Der Projektzeitraum ist vom vierten Quartal 2007 bis 2013/2014 angesetzt. Nach 35 Jahren soll das gesamte Schienennetz dem Staat Ghana für den symbolischen Preis von einem Dollar übergeben werden. NIT Holdings Limited gibt sechs Milliarden US-Dollar als Budget an. Die Machbarkeitsstudie für dieses Projekt wurde von der Deutschen-Bahn-Tochter DE-Consult durchgeführt. In den Budgetplanungen des Staates Ghana für das Jahr 2009 wird angemerkt, dass die Machbarkeitsstudie für den Westlichen Korridor (Westliche Eisenbahnstrecke, Hafen von Takoradi) im Jahr 2009 abgeschlossen sein wird. Im Jahr 2008 wurde die Machbarkeitsstudie für das Teilstück des westlichen Korridors von Tema über Akosombo nach Buipe abgeschlossen. === Telekommunikation === Die Verbreitung von Telekommunikation und Computern ist von einem starken Stadt-Land-Gefälle geprägt. In den Städten wie auf dem Land existieren öffentliche Internetcafés. Der private Internetanschluss ist auch in der Stadt selten. Die meisten Unternehmen haben wenigstens einen Internetzugang und sind in den Städten mit Computern ausgerüstet. Häufig sieht man in den Straßen kleine Holzhäuser, in denen ein öffentlicher Telefonanschluss verlegt ist den ein Betreiber beinahe Tag und Nacht gegen Entgelt anbietet, Verbindungen herzustellen oder Anrufe entgegenzunehmen. Dabei handelt es sich meist nicht um einen Münzfernsprecher, sondern um ein normales Telefon, für dessen Benutzung das Entgelt nach Dauer fällig wird. In der Regel sind von diesen Telefonbuden nur nationale Gespräche ins Mobil- oder Festnetz möglich, doch es gibt auch flächendeckend diese Telefonhäuschen mit internationalem Anschluss. Auch zahlreiche Münzfernsprecher sind in den Städten zu finden. Ein Mobilfunknetz besteht in Ghana seit 1992, als die Mobitel mit dem Betrieb eines entsprechenden Netzes begann. Bis 1997 wurden die Basis-Dienste für die Telekommunikation von der Staatsmonopolgesellschaft Ghana Posts and Telecom Corporation (GPTC) zur Verfügung gestellt. Im Jahre 1995 wurde in Ghana ein Kommunikationsgesetz verabschiedet, was den Weg ebnete, Anfang 1997 ein neues duopoliges Festnetz einzurichten. Gleichzeitig wurde 1995 ein zweiter Operator zugelassen, die ACG (inzwischen Westel Telecom). Einige Jahre später erfolgte der Zusammenschluss zwischen Celtel Ghana und Scancom als Antwort auf diese beiden Konkurrenzunternehmen. Ghana Telecom und Westel waren damals vom Staat ermächtigt worden, Mobilfunkservices einzurichten, die erstmals zwischen Ende 1999 und Anfang 2000 als Dienstleistung angeboten wurden. Inzwischen wurde die GPTC (zwischenzeitlich in Ghana Telecom umbenannt) privatisiert, den Hauptanteil mit 30 Prozent der Anteile hielt im Jahre 2000 die Telecom Malaysia (G-Com of Malaysia). Beide Operatoren besaßen im Jahre 2000 20-Jahres-Lizenzen für die wichtigsten Telefon-Dienstleistungen. Die ehemalige Onetouch ist eine Mobilfunksparte von Ghana Telecom, die von Areeba Ghana (ehemals Spacefon) angeboten wird. Die nationalen und internationalen Verbindungen werden von der GS Telecom Ghana realisiert, die ein Ableger der kanadischen GS Telecom ist. Im Jahr 2008 hat der Kommunikations-Konzern Vodafone einen Großteil der Ghana Telecom und deren Mobilfunksparte übernommen. Das Unternehmen firmiert nun unter dem Namen Vodafone Ghana. Seither wird verstärkt in den Ausbau der Mobilfunknetze investiert. Mit der Übernahme wurden erstmals drahtlose Internet-Dienste in einem Großteil des Landes verfügbar, die zuvor vom Internet abgeschnitten waren. Festnetztelefonie ist in den urbanen Bereichen des südlichen Ghanas so gut wie flächendeckend möglich, hier bestehen seit Februar 1997 Telekommunikationsangebote von der Capital Telecom, einer 1994 gegründeten Gesellschaft, die sich vollständig im Staatsbesitz befindet. Der Telekommunikationssektor Ghanas wird von der 1996 gegründeten National Communications Authority reguliert. Internet-Provider waren im Jahre 2000 in Ghana Network Computersystems (NCS), Africa Online und Internet Ghana Limited. Die Internetbenutzung wird vor allem an den Universitäten und von der jüngeren Generation betrieben. Im Jahr 2020 nutzten 58 Prozent der Einwohner Ghanas das Internet. == Kultur und Gesellschaft == Neben der Vielzahl verschiedener Sprachen existiert eine Vielfalt an Kulturen. Das Staatsgefüge stützt sich auf ein multi-ethnisches Zusammenspiel der verschiedensten Kulturen, die zu einem Volk zusammengewachsen sind. Neben den ghanaischen Volksgruppen lebt eine Vielzahl von Minderheiten aus anderen, vor allem afrikanischen Volksgruppen der angrenzenden Staaten, in Ghana. Auch ungefähr 6000 Europäer und einige Asiaten, vor allem Chinesen, leben überwiegend in Accra und den anderen größeren Städten entlang der Küste. Die Mehrheit der Ghanaer wird aber zu der großen, heterogenen Gruppe der Akan gezählt. Die Akan sind traditionell matriarchalisch organisiert, was sich ursprünglich auch erbrechtlich niedergeschlagen hat. So erbte bei dem Tod eines Familienvaters nicht seine Witwe und/oder seine Kinder dessen Vermögen, sondern seine Neffen, also die Kinder der Schwester des Verstorbenen. Dieses traditionelle Muster wird immer weniger anerkannt. Berühmte Elemente der Akankultur sind beispielsweise die Kente-Stoffe, die Adinkra-Kleidung oder die Goldgewichte der Ashanti. Frauen nehmen in der ghanaischen Kultur eine selbstbewusste prägende Stellung ein. Über 80 Prozent der ghanaischen Frauen sind neben ihrer eher traditionellen Rolle in den Familien erfolgreich beruflich tätig. Nicht selten haben sich Frauen als Händlerinnen, Näherinnen oder Köchinnen einer der vielen Straßenküchen ihre wirtschaftliche Selbstständigkeit erarbeitet. Oware ist ein weltweit bekanntes Brettspiel, das auch zu den ältesten bekannten Spielen gehört und bereits von frühester Kindheit von den Ghanaern gespielt wird. Da das Spiel notfalls auch in Erdmulden oder auf gezeichneten Papierkreisen gespielt werden kann, erfreut es sich einer großen Beliebtheit und ist zu einem Nationalspiel geworden. In Ghana gibt es neben der einfachen Oware-Brettform auch ein Spielbrett, das an einen Aschanti-Thron erinnert. Bedeutende Artefakte ghanaischer Kultur sind im National Museum in Accra zu sehen. Hier werden neben einer wertvollen Sammlung der Goldgewichte der Aschanti auch kostbare Kente-Stoffe ausgestellt. Ebenfalls wichtiger Ausstellungsort der Kulturgeschichte der Aschanti ist in Kumasi das Prempeh II Jubilee Museum und der Manhiya Palace, der ehemalige Königspalast der Asantehene. In Cape Coast wird im Museum des Cape Coast Castle eine der weltweit umfassendsten Ausstellungen zum Thema Sklaverei ausgestellt. Diese ehemalige Militärburg war eine Sammelstelle für Sklaven vor der Verschiffung nach Amerika, die hier die berüchtigte „Door of no Return“ durchschritten. === Medien === Die Bedeutung der Medien in Ghana war lange Zeit eingeschränkt, vor allem da die Printmedien aufgrund der hohen Analphabetenquote kaum genutzt wurden. Von der Organisation Reporter ohne Grenzen wurde Ghana 2011 auf der „Rangliste der Pressefreiheit“ auf Platz neun aller weltweiten Staaten geführt, womit Ghana der bestplatzierte nicht-europäische Staat war. Laut Bericht der Organisation Reporter ohne Grenzen hat Ghana eine vielfältige Medienlandschaft und Kritik an der Regierung ist möglich. ==== Presse ==== Die National Media Commission (NMC) bezifferte 2006 die Zahl der Zeitungen im gesamten Land auf 450. Allerdings schwankt dieser Wert sehr stark. Insbesondere im Vorfeld von Wahlen erscheinen viele neue Zeitungen und Zeitschriften, die oftmals danach wieder eingestellt werden. Ende 2009 erschienen insgesamt neun Tageszeitungen. Ghanaian Times und Daily Graphic sind regierungseigene überregionale Zeitungen. Ein größeres Spektrum besteht bei der unabhängigen Tages-, Mehrtages- und Wochenpresse in unterschiedlicher Qualität. Fast alle Zeitungen und Zeitschriften erscheinen auf Englisch. Ausnahmen bilden der Pioneer und Nsɛmpa, die als Regionalzeitungen für die Ashanti Region auch Artikel auf Akan veröffentlichen. Als erste sub-saharaische Nachrichtenagentur wurde 1957 die Ghana News Agency (GNA) gegründet. ==== Rundfunk ==== in Ghana besteht Lizenzierungspflicht für Radio und Fernsehen. Zuständig für die Vergabe von Frequenzen ist die Regulierungsbehörde National Communication Authority (NCA). Die Ghana Broadcasting Corporation (GBC), die sich an öffentlich-rechtlichen Prinzipien orientiert, verfügt (Stand 2022) landesweit über 33 Radiostationen. Darüber hinaus bestehen 437 kommerziell geführte Privatsender sowie 102 Community- und Campus-Radiostationen. Im TV-Bereich sind aktuell (Stand 2022) 146 Lizenzen vergeben.Von besonderer Bedeutung waren in der Vergangenheit die nationalen Rundfunksender. Bereits zu Zeiten Kwame Nkrumahs und im Zuge der Militärputsche im Land wurden Themen nationaler Bedeutung über den Rundfunk verbreitet. So rief beispielsweise Col. Emmanuel Kotoka den erfolgreichen Putsch gegen Nkrumah im Radiosender GBC in Accra am 24. Februar 1966 aus. Bei den Radiosendern ist bemerkenswert, dass hier in den letzten Jahren besonders regionale oder lokale Radiosender entstanden, die den nicht englischsprachigen Bereich bedienen. Während früher eher nur in englischer Sprache oder einem Akan-Dialekt gesendet wurde, gibt es nunmehr Radiosender in allen häufig gesprochenen Sprachen Ghanas. Allein in Accra sind derzeit etwa 29 Radiosender aktiv. Neben den ghanaischen Radiosendern haben auch BBC, RFI und die Deutsche Welle einen eigenen Sendeplatz. Bedingt durch das mittlerweile große Angebot an Radiosendern, suchen Programmdirektoren ständig nach neuen Nischen im Programm. Fernsehen ist in Ghana eine beliebte Freizeitgestaltung. Neben der staatlichen Rundfunkanstalt Ghana Broadcasting Corporation (GBC) gibt es in Ghana einen wachsenden Markt für die verschiedenen Privatsender wie beispielsweise Metro TV, TV Africa, TV3, Private TV channel, Crystal TV (Kumasi), Multichoice Satellite TV sowie für fünf Kabelfernsehanbieter (MNET Cable, TV channel, V-NET Cable TV channel, Fantazia Cable TV channel, DSTV und Cable Gold). Erst in der ersten Hälfte der 1990er-Jahre wurden in Ghana im Zuge der verfassungsmäßig garantierten Pressefreiheit weitere Fernsehsender neben dem bis dahin einzig auf Sendung stehenden GBC gegründet. === Literatur in Ghana === Zur ersten Generation von Autoren nach der Unabhängigkeit gehörten Cameron Duodu, der in The Gab Boy (1967) den Generationenkonflikt und die Bildung von Jugendbanden mit Gabardinehosen (daher Gab) im Accra der 1960er Jahre thematisiert, sowie Ayi Kwei Armah, der in den USA studiert hatte und in The beautiful ones are not yet born (1968) in satirischer Form die Korruption der Parteifunktionäre und den alltäglichen Widerstand dagegen darstellt. Besondere Bekanntheit genießen ghanaische Autoren im englischen Sprachraum, da einige als Professoren in den USA tätig sind, zum Beispiel Abena Busia, spezialisiert auf afroamerikanische Literatur an der amerikanischen Rutgers-Universität, oder Michael Dei-Anang, der nicht nur einer Lehrtätigkeit in den USA nachging, sondern auch wegen seiner Verbindungen zum Regime von Kwame Nkrumah nach dessen Sturz in Haft war. Unter den Schriftstellern befinden sich Namen wie Ama Ata Aidoo, die durch die Übersetzung ihres Werkes Die Zweitfrau auch in Deutschland Bekanntheit erlangt hat. Jojo Cobbinah wurde bekannt für seine Reiseführer und Zeitungsartikel über Ghana. Efua Dorkenoo ist eine Autorin, deren Werk Cutting The Rose: Female Genital Mutilation the Practice and its Prevention aus dem Jahr 1994 in die Liste der 100 besten Bücher Afrikas aus dem 20. Jahrhundert aufgenommen worden ist. Der häufig ins Deutsche übersetzte Kinderbuchautor Meshack Asare ist international bekannt geworden und hat wichtige Preise gewonnen, wie für das mit dem von der UNESCO vergebenen Titel Bestes Bilderbuch aus Afrika ausgezeichnete Werk Tawai Goes to Sea. === Musik === Eine charakteristische Musikgattung ist der seit den 1940er-Jahren populäre Highlife, der seit einigen Jahren wieder beliebter wird. Die vielen lokalen Radiosender sind tagtäglich in den beiden Hauptverkehrsmitteln, den Taxis und den Trotros (Kleinbussen), zu hören. Auf Hochzeiten, Taufen und Todesfeiern spielen Musik und Tanz im Rahmen eines geselligen und gastfreundlichen Beisammenseins eine große Rolle. ==== Traditionelle Musik ==== Vor allem in den Dörfern und zu traditionellen Festen in den Städten wird die Trommelkunst hoch geschätzt. Häufig wird zu traditioneller Musik auch getanzt, etwa die Tänze Bosoe, Adowa, Agbadza, Taka, Kpanlogo. In Nordghana hat sich unter den Hirten eine Musik mit der kleinen Holzflöte yua entwickelt. Die yua wird auch zeremoniell in Ensembles und als Sprechflöte verwendet. Die atenteben ist eine Bambuslängsflöte im Süden. Das ntahera ist das aus fünf bis sieben Elfenbeintrompeten bestehende Zeremonialorchester der Aschanti-Herrscher. An deren Hof wird auch die lange Kerbflöte odurugya gespielt. Traditionelle Saiteninstrumente sind in Ghana selten und drohen zu verschwinden. Im Norden gibt es die einsaitige Fiedel gonje, die der goge entspricht, und im Süden die Stegharfe seperewa und den Mundbogen bentu. Im Norden werden eher Balafon oder Xylophon gespielt, im Süden sind Rhythmusinstrumente wie Zimbeln, Klappern, die Gefäßrassel axatse, die Doppelglocke gankogui und Trommeln zu finden. Die Trommelmusik und der Trommelbau sind wesentlicher Bestandteil der traditionellen Musik. Trommeln waren in der Geschichte in viele wichtige Lebensbereiche integriert. So wurden Trommeln in Kriegen eingesetzt, um die eigenen Leute anzufeuern und auf die Ereignisse einzustimmen. Ebenso dienten sie lange vor dem Telefon als Nachrichten- und Verständigungsmedium über lange Entfernungen hinweg. Bei gesellschaftlichen Anlässen wie Festen und Feiertagen, Inthronisationen, Initiationsriten und religiösen Ereignissen, aber auch bei familiären Festen und Feiern wie Hochzeiten oder Beerdigungen spielten und spielen Trommler eine Rolle. Durch diese breite Einsetzbarkeit der Trommel erreichte ein Trommler einen gewissen Status in der traditionellen ghanaischen Gesellschaft. Die Position eines Trommlers, wenn auch nur im Familienkreis auf einem Fest, ist angesehen und respektiert. Der Trommelbau hat eine lange, ehrenvolle Tradition. Es ist eine große Zahl verschiedener Trommeln zu finden, die teilweise nur bestimmte Funktionen wahrnehmen oder auch nur zu bestimmten Anlässen gespielt werden. Die donno-Trommel ist eine Trommel, die von beiden Seiten gespielt werden kann. Der Spieler klemmt sich das Instrument unter den Arm und kann mit dem Druck seines Armes die Spannung der Felle der Trommel variieren. Die bekannte Sprechtrommel mit der Bezeichnung atumpan ist mit Elefantenhaut bespannt und darf nur von Spezialisten hergestellt werden. Die Trommel etwiay wurde traditionell in Schlachten verwendet oder um den König anzukündigen, sie soll das Fauchen eines Leoparden nachahmen. Im National Museum in Accra ist eine Ausstellung dieser Trommeln und weiterer Exemplare zu sehen. Um 1900 wurde an der Küste die quadratische Rahmentrommel gome eingeführt. ==== Moderne Musik ==== Die moderne Musik hat nach wie vor traditionelle Einflüsse. Nach der Unabhängigkeit entwickelte sich die Musikrichtung Highlife. Sie ist eine Tanz- und Musikform, die in den täglichen Radiosendungen, den Clubs und Bars gespielt wird. Highlife vereinigt traditionelle Einflüsse mit Instrumenten, die durch die Kolonialmacht England nach Ghana gebracht worden waren. In den frühen Formen wurden relevante Elemente aus dem Jazz entliehen und weiterentwickelt sowie Instrumente wie Saxophone, Schlagzeug, Trompete und Bass verwendet. Später kamen verstärkt Percussioninstrumente dazu. Seit den 1990er Jahren entstand aus der westlichen Popmusik die typisch ghanaische Variante Hiplife (auch: Hip Life). Hierbei wird mit der Unterstützung von Mischpulten und Computern gearbeitet. Auch die Musikrichtung Gospel hat in Ghana erhebliche Bedeutung. Im Genre Highlife erregte Ofori Amponsah im Jahr 2006 besonderes Aufsehen. Er gewann den Titel des besten Künstlers des Jahres 2006 sowie den Titel des besten Songs und des besten Albums (Otoolege). Castro wurde bester Künstler im Bereich Hiplife. Der Gospelsong des Jahres 2006 Metease stammt von Nobel Nketia. === Küche === Die Landesküche ist vielfältig und greift beinahe auf alles Essbare zurück, was das Land zu bieten hat. Als Fleischsorte ist neben Rind-, Schaf-, Geflügel- und Ziegenfleisch das in Ghana gebräuchliche Bush-Meat (Wildfleisch) gerade in den ländlichen Regionen ein weiterer Bestandteil der Ernährung. Schweinefleisch hatte in der Vergangenheit so gut wie keine Bedeutung. Seit einigen Jahrzehnten dehnt sich jedoch die Schweinezucht in Südghana aus, da die Produktion von Schweinefleisch billiger ist als die Produktion von Rindfleisch. Jedoch findet dieses Nahrungsmittel aus religiösen Gründen bei der großen Zahl der muslimischen Bevölkerung, vor allem in Nordghana keine Verwendung. Der Fischreichtum des Volta-Sees und seiner Zubringer sowie die Küstenlage des Landes zu einer der fischreichsten Regionen der Erde, dem Golf von Guinea, führt dazu, dass besonders Fisch gerne gegessen wird. Außerdem wird häufig eine Wildtierart verzehrt, die auf Englisch grasscutter oder cane rat und auf Deutsch als Rohrratten bezeichnet werden. Es gibt inzwischen auch Versuche, die Tiere in Käfighaltung zu vermehren. Fisch und Fleisch sind sehr wichtige Bestandteile der kulinarischen Kultur, doch sind sie auf den Märkten nur relativ teuer zu haben. Daher bilden die Basis jeden Essens die sättigenden Kohlenhydratlieferanten wie Reis, Mais, Hirse, Grieß, Maniok, Yams, Taro, Süßkartoffeln und Kochbananen. Nudeln sind eher unbeliebt und werden, anders als die vorgenannten Nahrungsmittel, lediglich durch Importe ins Land gebracht. Ghana produziert zurzeit erheblich weniger Reis als es selbst verbraucht. Als Importgut ist er für viele Familien etwas Besonderes. Maniok, Yams oder Süßkartoffeln werden häufig von der ländlichen Bevölkerung direkt angebaut und dienen der Selbstversorgung. Brot ist als Grundnahrungsmittel erst im Rahmen der Kolonialisierung Ghanas zur Zeit der Kronkolonie Goldküste durch die Briten eingeführt worden. Daher sind lediglich zwei Brotsorten bekannt, Sugar-Bread, eine Art Milchbrötchen in größerem Format und Tea-Bread, eine Art Baguette; beides sind Brote lediglich aus Weizenmehl. Milchprodukte sind aufgrund ihrer kurzen Haltbarkeit sehr teuer, Käse ist weitgehend unbekannt. Frische Milch ist in ländlichen Gebieten aufgrund der Tierhaltung häufig anzutreffen. Die Milch wird sofort verwendet. Anstelle von Butter wird oft importierte Margarine verwendet. Kondensmilch hat weite Verbreitung gefunden. Auch Milchpulver ist beliebt. Mit dem Milo-Pulver wird auf der Basis von heißem Wasser eine Art Schokolade getrunken. Zu vielen Mahlzeiten bevorzugen die Menschen Gemüsesorten wie Zwiebeln, Tomaten, Auberginen, Garteiei, auch Gardenegg oder afrikanische Aubergine genannt, Bohnen, Avocados, Karotten, Okra und Spinat. Ghanaer ziehen warme Mahlzeiten vor und kennen traditionell kein Frühstück direkt nach dem Aufstehen. Die erste Mahlzeit wird im Laufe des Vormittags eingenommen, bei der dann häufig die Reste vom Abendbrot des Vortages oder frisch zubereitete warme Bohnen, Porridge oder Omeletts gegessen werden. Als Zwischenmahlzeit, selten auch als Dessert, werden in Ghana die vielfältigen Früchte verwendet. Äpfel sind eine beliebte Importware, Südfrüchte wachsen jedoch an den Straßen, in vielen Gärten, Plantagen und Wäldern. Bananen, Papaya, Ananas, Mangos, Apfelsinen, Mandarinen, Melonen, Brotfrüchte, Guaven, Zitronen, Orangen und Grapefruits gibt es vielerorts direkt von Händlern am Straßenrand zu kaufen oder werden von den Händlern auf der Straße auf dem Kopf in einem Korb oder in einer Schüssel transportiert und zum Verkauf angeboten. Zu jedem Essen sind in Ghana Saucen oder Suppen beliebt, die in großer Menge gegessen werden. Diese Saucen oder Suppen bestehen aus den vielfältigsten Kräutern, Gewürzen und Gemüse. In der Regel wird das Essen sehr scharf gewürzt. Hierzu dienen mindestens zehn verschiedene Chilisorten, die hauptsächlich frisch im Essen verarbeitet werden. In getrockneter Form kommen sie seltener vor. Typische Gerichte sind Jollofreis, Kelawele, Banku, Kenkey, Gari und das Nationalgericht Fufu. Shito ist eine dem Pesto ähnliche Sauce, die vielfältig und häufig bei schnellen Gerichten Verwendung findet. === Traditionelle Kleidung === Neben der Musik ist die Kleidung der Ghanaer mit ihrer Farbenpracht eine leuchtende Freude. Die Frauen tragen, unabhängig von ihrer Religion, aus modischen Gründen häufig kunstvoll gewickelte Kopfbedeckungen aus demselben Stoff wie ihre Kleider. Unifarbene Drucke sind eine absolute Seltenheit. Bei gesellschaftlichen Ereignissen, wie etwa einer Hochzeit oder einem Todesfall, ist es üblich, dass sich die Ausrichter (beispielsweise die Braut) einen Stoff aussucht und die geladenen Gäste sich ein Kleid aus diesem Stoff nach traditionellen und modischen Aspekten von den vielen lokalen Schneiderinnen fertigen lassen. Männer tragen traditionell ein aus einem Stoffstück hergestelltes gewickeltes Gewand, das einer römischen Toga ähnelt. Kente ist eine typisch ghanaische Webkunst in leuchtenden Farben. Aus diesen gewebten Stoffen werden viele der traditionellen Kleider vor allem der Aschanti hergestellt. Insbesondere traditionelle Stammeshäuptlinge tragen nicht selten Kente-Stoff als Ausdruck ihres nationalen Stolzes. === Sport === Der Sport in Ghana wird organisiert vom Ghana Olympic Committee, das 1952 gegründet und im selben Jahr vom IOC anerkannt wurde.Nationalsport ist Fußball, Verband ist die 1957 gegründete Ghana Football Association (GFA). Die ghanaische Nationalmannschaft konnte bisher viermal Afrikameister werden und nahm 2006 zum ersten Mal an einer Fußball-Weltmeisterschaft teil. Dabei gelang den Black Stars auf Anhieb der Einzug ins Achtelfinale. Sie unterlagen dort gegen den fünfmaligen Weltmeister Brasilien. Ghana war vom 20. Januar 2008 bis zum 10. Februar 2008 Austragungsort des Africa Cup of Nations, bei dem sie Dritter wurden. 2009 gewann Ghana die U-20-Fußball-Weltmeisterschaft in Ägypten durch einen Sieg im Elfmeterschießen im Finale gegen Brasilien. Bei der Fußball-Weltmeisterschaft 2010 in Südafrika schaffte es das Nationalteam als dritte afrikanische Fußballmannschaft (neben Kamerun bei der WM 1990 und Senegal bei der WM 2002) bis in das Viertelfinale, wo es gegen Uruguay unglücklich im Elfmeterschießen unterlag. In der deutschen Bundesliga spielten und spielen viele ghanaische Fußballer, von denen einige mittlerweile auch die deutsche Staatsangehörigkeit besitzen; Gerald Asamoah spielte in den vergangenen Jahren mehrfach im Trikot der deutschen Nationalmannschaft. In Ghana am bekanntesten ist Abédi Pelé, der unter anderem mit Olympique Marseille den Europapokal der Landesmeister gewann und in Deutschland in der Bundesliga spielte und seit dem Ende seiner aktiven Karriere hauptsächlich in der Nachwuchsförderung im ghanaischen Fußball tätig ist. Ghana nahm mit 31 Sportlern an den Olympischen Spielen 2004 in Athen teil, diese konnten aber keine Medaille gewinnen. Auch 2008 in Peking konnte keiner der neun Teilnehmer eine Medaille erobern. In der olympischen Geschichte haben ghanaische Sportler bisher eine Silber- und drei Bronzemedaillen gewonnen. Special Olympics Ghana wurde 1978 gegründet und nahm mehrmals an Special Olympics Weltspielen teil. Der Verband hat seine Teilnahme an den Special Olympics World Summer Games 2023 in Berlin angekündigt. Die Delegation wird vor den Spielen im Rahmen des Host Town Programs von Thale betreut.In der Vergangenheit stellte Ghana zusammen mit Gambia, Nigeria und Sierra Leone Spieler für die Westafrikanische Cricket-Nationalmannschaft zur Verfügung. Seit 2002 wird das Land von seiner eigenen Nationalmannschaft vertreten, qualifizierte sich jedoch noch nicht für ein internationales Cricketturnier. === Welterbe === Die Festungen und Schlösser der Kolonialzeit sowohl an der Volta-Mündung als auch in Accra und entlang der gesamten Küste der Zentral- und der Westregion wurden 1979 in die Liste des Welterbes aufgenommen; die traditionellen Gebäude der größten ghanaischen Volksgruppe, der Aschanti, folgten im Jahr 1980. Von der UNESCO zum Biosphärenreservat ernannt wurde 1983 der Bia-Tawaya-Nationalpark. === Feiertage === Landesweit werden eine Reihe nationaler Feiertage sowie die christlichen und islamischen Hauptfeste gefeiert. Falls diese Tage auf einen Sonntag fallen, werden sie dann am nachfolgenden Werktag „nachgefeiert“. Daneben gibt es eine große Zahl regionaler und traditioneller Feste. In Ghana finden alle zwei Jahre das Panafest Pan African Festival (2007, 2009) und das NAFAC (National Festival of Arts and Culture) (2006, 2008) statt. Das Panafest ist ein Fest zur Solidarität zwischen den afrikanischen Völkern und wird in Accra und Cape Coast gefeiert. Dieses Festival ist ein kultureller Höhepunkt. Das NAFAC findet in den Jahren zwischen dem Panafest seit 1992 in jeweils einer anderen regionalen Hauptstadt Ghanas statt. == Siehe auch == Liste der Abkürzungen (Ghana) == Literatur == Dennis Austin: Politics in Ghana 1946–1960. Oxford 1964. Hans-Heinrich Bass: Structural Problems of West African Cocoa Exports and Options for Improvement. (PDF-Datei; 174 kB). In: African Development Perspectives Yearbook. Volume 11, 2005/06 und Afrika – escaping the Primary Commodities Dilemma. Lit-Verlag, Münster 2006, ISBN 3-8258-7842-2, S. 245–263. Adu Boahen: Ghana. Evolution and Change in the Nineteenth and Twentieth Century. London 1975. (Neudruck: 2000, Accra, ISBN 9988-7884-0-1) Angela Christian: Facetten der Kultur Ghanas. Heidelberg 1992, ISBN 3-927198-07-2. Jojo Cobbinah: Ghana. Praktisches Reisehandbuch für die »Goldküste« Westafrikas. 11. Auflage. Frankfurt am Main 2012, ISBN 978-3-89859-155-3. Oliver Davies: The Sangoan culture in Africa. In: South African Journal of Science. 50 (10), 1954, S. 273–277. Roger S. Gocking: The history of Ghana. Westport 2005, ISBN 0-313-31894-8. Eboe Hutchful: The IMF and Ghana. The confidential record. London 1987, ISBN 0-86232-614-1. John Iliffe: Geschichte Afrikas. 2. Auflage. C.H. 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https://de.wikipedia.org/wiki/Ghana
Aristoteles
= Aristoteles = Aristoteles (griechisch Ἀριστοτέλης Aristotélēs, Betonung lateinisch und deutsch: Aristóteles; * 384 v. Chr. in Stageira; † 322 v. Chr. in Chalkis auf Euböa) war ein griechischer Universalgelehrter. Er gehört zu den bekanntesten und einflussreichsten Philosophen und Naturforschern der Geschichte. Sein Lehrer war Platon, doch hat Aristoteles zahlreiche Disziplinen entweder selbst begründet oder maßgeblich beeinflusst, darunter Wissenschaftstheorie, Naturphilosophie, Logik, Biologie, Medizin, Physik, Ethik, Staatstheorie und Dichtungstheorie. Aus seinem Gedankengut entwickelte sich der Aristotelismus. == Überblick == === Leben === Der aus einer Arztfamilie stammende Aristoteles kam mit siebzehn Jahren nach Athen. Im Jahr 367 v. Chr. trat er in Platons Akademie ein. Dort beteiligte er sich an Forschung und Lehre. Nach Platons Tod verließ er 347 Athen. 343/342 wurde er Lehrer Alexanders des Großen, des Thronfolgers im Königreich Makedonien. 335/334 kehrte er nach Athen zurück. Er gehörte nun nicht mehr der Akademie an, sondern lehrte und forschte selbständig mit seinen Schülern im Lykeion. 323/322 musste er wegen politischer Spannungen Athen erneut verlassen und begab sich nach Chalkis, wo er bald darauf verstarb. === Werk === Die an eine breite Öffentlichkeit gerichteten Schriften des Aristoteles in Dialogform sind verloren. Die erhalten gebliebenen Lehrschriften waren größtenteils nur für den internen Gebrauch im Unterricht bestimmt und wurden fortlaufend redigiert. Themenbereiche sind: Logik, Wissenschaftstheorie, Rhetorik: In den logischen Schriften arbeitet Aristoteles auf der Grundlage von Diskussionspraktiken in der Akademie eine Argumentationstheorie (Dialektik) aus und begründet mit der Syllogistik die formale Logik. Auf der Basis seiner Syllogistik erarbeitet er eine Wissenschaftstheorie und liefert unter anderem bedeutende Beiträge zur Definitionstheorie und Bedeutungstheorie. Die Rhetorik beschreibt er als die Kunst, Aussagen als plausibel zu erweisen, und rückt sie damit in die Nähe der Logik. Naturlehre: Aristoteles’ Naturphilosophie thematisiert die Grundlagen jeder Naturbetrachtung: die Arten und Prinzipien der Veränderung. Der damals aktuellen Frage, wie Entstehen und Vergehen möglich ist, begegnet er mit Hilfe seiner bekannten Unterscheidung von Form und Materie: Dieselbe Materie kann unterschiedliche Formen annehmen. In seinen naturwissenschaftlichen Werken untersucht er auch die Teile und die Verhaltensweisen der Tiere sowie des Menschen und ihre Funktionen. In seiner Seelenlehre – in der „beseelt sein“ „lebendig sein“ bedeutet – argumentiert er, dass die Seele, die die verschiedenen vitalen Funktionen von Lebewesen ausmache, dem Körper als seine Form zukomme. Er forscht aber auch empirisch und liefert bedeutende Beiträge zur zoologischen Biologie. Metaphysik: In seiner Metaphysik argumentiert Aristoteles (gegen Platons Annahme von abstrakten Entitäten) zunächst dafür, dass die konkreten Einzeldinge (wie Sokrates) die Substanzen, d. h. das Grundlegende aller Wirklichkeit sind. Dies ergänzt er um seine spätere Lehre, wonach die Substanz konkreter Einzeldinge ihre Form ist. Ethik und Staatslehre: Das Ziel des menschlichen Lebens, so Aristoteles in seiner Ethik, ist das gute Leben, das Glück. Für ein glückliches Leben muss man Verstandestugenden und (durch Erziehung und Gewöhnung) Charaktertugenden ausbilden, wozu ein entsprechender Umgang mit Begierden und Emotionen gehört. Seine politische Philosophie schließt an die Ethik an. Demnach ist der Staat als Gemeinschaftsform eine Voraussetzung für das menschliche Glück. Aristoteles fragt nach den Bedingungen des Glücks und vergleicht zu diesem Zweck unterschiedliche Verfassungen. Die Staatsformenlehre, die er entwickelt hat, genoss über viele Jahrhunderte unangefochtene Autorität. Dichtungstheorie: In seiner Theorie der Dichtung behandelt Aristoteles insbesondere die Tragödie, deren Funktion aus seiner Sicht darin besteht, Furcht und Mitleid zu erregen, um beim Zuschauer eine Reinigung von diesen Emotionen zu bewirken (katharsis). === Nachwirkung === Das naturwissenschaftliche Forschungsprogramm des Aristoteles wurde nach seinem Tod von seinem Mitarbeiter Theophrastos von Eresos fortgesetzt, der auch die aristotelische Schule, den Peripatos, im juristischen Sinne gründete. Die Aristoteles-Kommentierung setzte erst im 1. Jahrhundert v. Chr. ein und wurde insbesondere von Platonikern betrieben. Durch die Vermittlung von Porphyrios und Boethius wurde die aristotelische Logik für das lateinischsprachige Mittelalter wegweisend. Seit dem 12./13. Jahrhundert lagen alle grundlegenden Werke des Aristoteles in lateinischer Übersetzung vor. Sie waren für den Wissenschaftsbetrieb der Scholastik bis in die Frühe Neuzeit maßgeblich. Die Auseinandersetzung mit der aristotelischen Naturlehre prägte die Naturwissenschaft des Spätmittelalters und der Renaissance. Im arabischsprachigen Raum war Aristoteles im Mittelalter der am intensivsten rezipierte antike Autor. Sein Werk hat auf vielfältige Weise die Geistesgeschichte geprägt; wichtige Unterscheidungen und Begriffe wie „Substanz“, „Akzidenz“, „Materie“, „Form“, „Energie“, „Potenz“, „Kategorie“, „Theorie“ und „Praxis“ gehen auf Aristoteles zurück. == Leben == Aristoteles wurde 384 v. Chr. in Stageira, einer damals selbständigen ionischen Kleinstadt an der Ostküste der Chalkidike, geboren. Daher wird er mitunter „der Stagirit“ genannt. Sein Vater Nikomachos war Leibarzt des Königs Amyntas III. von Makedonien, seine Mutter Phaestis stammte aus einer Arztfamilie von Chalkis auf Euboia. Nikomachos starb, bevor Aristoteles volljährig wurde. Proxenos aus Atarneus wurde zum Vormund bestimmt. === Erster Athenaufenthalt === 367 v. Chr. kam Aristoteles als Siebzehnjähriger nach Athen und trat in Platons Akademie ein. Dort beschäftigte er sich zunächst mit den mathematischen und dialektischen Themen, die den Anfang der Studien in der Akademie bildeten. Schon früh begann er Werke zu verfassen, darunter Dialoge nach dem Vorbild derjenigen Platons. Er setzte sich auch mit der zeitgenössischen Rhetorik auseinander, insbesondere mit dem Unterricht des Redners Isokrates. Gegen das auf unmittelbaren Nutzen abzielende pädagogische Konzept des Isokrates verteidigte er das platonische Erziehungsideal der philosophischen Schulung des Denkens. Er nahm eine Lehrtätigkeit an der Akademie auf. In diesem Zusammenhang entstanden als Vorlesungsmanuskripte die ältesten seiner überlieferten Lehrschriften, darunter die logischen Schriften, die später unter der Bezeichnung Organon („Werkzeug“) zusammengefasst wurden. Einige Textstellen lassen erkennen, dass der Hörsaal mit Gemälden geschmückt war, die Szenen aus dem Leben von Platons Lehrer Sokrates zeigten. === Reisejahre === Nach Platons Tod verließ Aristoteles 347 v. Chr. Athen. Möglicherweise war er nicht damit einverstanden, dass Platons Neffe Speusippos die Leitung der Akademie übernahm; außerdem war er in politische Schwierigkeiten geraten. Im Jahr 348 v. Chr. hatte König Philipp II. von Makedonien die Chalkidike erobert, Olynth zerstört und auch Aristoteles’ Heimatstadt Stageira eingenommen. Dieser Feldzug wurde von der antimakedonischen Partei in Athen als schwere Bedrohung der Unabhängigkeit Athens erkannt. Wegen der traditionellen Verbundenheit der Familie des Aristoteles mit dem makedonischen Hof richtete sich die antimakedonische Stimmung auch gegen ihn. Da er kein Athener Bürger war, sondern nur ein Metöke von zweifelhafter Loyalität, war seine Stellung in der Stadt relativ schwach. Er folgte einer Einladung des Hermias, der die Städte Assos und Atarneus an der kleinasiatischen Küste gegenüber der Insel Lesbos beherrschte. Zur Sicherung seines Machtbereichs gegen die Perser war Hermias mit Makedonien verbündet. In Assos fanden auch andere Philosophen Zuflucht. Der sehr umstrittene Hermias wird von der ihm freundlichen Überlieferung als weiser und heldenhafter Philosoph, von der gegnerischen aber als Tyrann beschrieben. Aristoteles, der mit Hermias befreundet war, blieb zunächst in Assos; 345/344 v. Chr. übersiedelte er nach Mytilene auf Lesbos. Dort arbeitete er mit seinem aus Lesbos stammenden Schüler Theophrast von Eresos zusammen, der sein Interesse für Biologie teilte. Später begaben sich beide nach Stageira. 343/342 v. Chr. ging Aristoteles auf Einladung von Philipp II. nach Mieza, um dessen damals dreizehnjährigen Sohn Alexander (später „der Große“ genannt) zu unterrichten. Die Unterweisung endete spätestens 340/339 v. Chr., als Alexander für seinen abwesenden Vater die Regentschaft übernahm. Aristoteles ließ für Alexander eine Abschrift der Ilias anfertigen, die der König als Verehrer des Achilleus später auf seinen Eroberungszügen mit sich führte. Das Verhältnis zwischen Lehrer und Schüler ist nicht näher überliefert; es hat zur Legendenbildung und vielerlei Spekulationen Anlass gegeben. Sicher ist, dass ihre politischen Überzeugungen grundverschieden waren; ein Einfluss des Aristoteles auf Alexander ist jedenfalls nicht erkennbar. Aristoteles soll allerdings am makedonischen Hof den Wiederaufbau seiner zerstörten Heimatstadt Stageira erreicht haben; die Glaubwürdigkeit dieser Nachricht ist aber zweifelhaft.Die Hinrichtung des Hermias durch die Perser 341/340 berührte Aristoteles tief, wie ein dem Andenken des Freundes gewidmetes Gedicht zeigt.Als nach dem Tode des Speusippos 339/338 v. Chr. in der Akademie das Amt des Scholarchen (Schulleiters) frei wurde, konnte Aristoteles nur wegen seiner Abwesenheit an der Wahl des Nachfolgers nicht teilnehmen; er galt aber weiterhin als Akademiemitglied. Später ging er mit seinem Großneffen, dem Geschichtsschreiber Kallisthenes von Olynth, nach Delphi, um im Auftrag der dortigen Amphiktyonen eine Siegerliste der Pythischen Spiele anzufertigen. === Zweiter Athenaufenthalt === Mit der Zerstörung der rebellischen Stadt Theben 335 v. Chr. brach der offene Widerstand gegen die Makedonen in Griechenland zusammen, und auch in Athen arrangierte man sich mit den Machtverhältnissen. Daher konnte Aristoteles 335/334 v. Chr. nach Athen zurückkehren und begann dort wieder zu forschen und zu lehren, war aber nun nicht mehr an der Akademie tätig, sondern in einem anderen öffentlichen Gymnasium, dem Lykeion. Hier schuf er eine eigene Schule, deren Leitung nach seinem Tod Theophrastos übernahm. Neue Grabungen haben möglicherweise die Identifizierung des Gebäudekomplexes ermöglicht. Im juristischen Sinne hat aber erst Theophrastos die Schule gegründet und das Grundstück erworben – die später üblichen Bezeichnungen Peripatos und Peripatetiker speziell für diese Schule sind für die Zeit des Theophrastos noch nicht bezeugt. Die Fülle des Materials, das Aristoteles sammelte (etwa zu den 158 Verfassungen der griechischen Stadtstaaten), lässt darauf schließen, dass er über zahlreiche Mitarbeiter verfügte, die auch außerhalb von Athen recherchierten. Er war wohlhabend und besaß eine große Bibliothek. Sein Verhältnis zum makedonischen Statthalter Antipatros war freundschaftlich. === Rückzug aus Athen, Tod und Nachkommen === Nach dem Tod Alexanders des Großen 323 v. Chr. setzten sich in Athen und anderen griechischen Städten zunächst antimakedonische Kräfte durch. Delphi widerrief ein Aristoteles verliehenes Ehrendekret. In Athen kam es zu Anfeindungen, die ihm ein ruhiges Weiterarbeiten unmöglich machten. Daher verließ er 323/322 v. Chr. Athen. Angeblich äußerte er bei diesem Anlass, dass er nicht wollte, dass die Athener sich ein zweites Mal gegen die Philosophie vergingen (nachdem sie bereits Sokrates zum Tode verurteilt hatten). Er zog sich nach Chalkis auf Euboia in das Haus seiner Mutter zurück. Dort starb er im Oktober 322 v. Chr. Aristoteles war mit Pythias, einer Verwandten seines Freundes Hermias, verheiratet. Von ihr hatte er eine Tochter, die ebenfalls Pythias hieß. Nach dem Tod seiner Gattin wurde Herpyllis, die niedriger Herkunft war, seine Lebensgefährtin; sie war möglicherweise die Mutter seines Sohnes Nikomachos. In seinem Testament, dessen Vollstreckung er Antipatros anvertraute, regelte Aristoteles unter anderem die künftige Verheiratung seiner noch minderjährigen Tochter und traf Vorkehrungen zur materiellen Absicherung von Herpyllis. == Werk == Hinweis: Belege aus Werken des Aristoteles sind folgendermaßen angegeben: Titelangabe (Abkürzungen werden an der ersten Stelle im Kapitel per Link aufgelöst) und gegebenenfalls Buch- und Kapitelangabe sowie Bekker-Zahl. Die Bekker-Zahl gibt eine genaue Stelle im Corpus an. Sie ist in guten modernen Ausgaben vermerkt. Aufgrund von Brüchen und Inkonsequenzen im Werk des Aristoteles ist die Forschung von der früher verbreiteten Vorstellung abgekommen, das überlieferte Werk bilde ein abgeschlossenes, durchkomponiertes System. Diese Brüche gehen vermutlich auf Entwicklungen, Perspektivwechsel und unterschiedliche Akzentuierungen in verschiedenen Kontexten zurück. Da eine sichere chronologische Reihenfolge seiner Schriften nicht bestimmt werden kann, bleiben Aussagen über Aristoteles’ tatsächliche Entwicklung Vermutungen. Zwar bildet sein Werk de facto kein fertiges System, doch besitzt seine Philosophie Eigenschaften eines potentiellen Systems. === Überlieferung und Charakter der Schriften === Verschiedene antike Verzeichnisse schreiben Aristoteles fast 200 Titel zu. Sofern die Angabe des Diogenes Laertios stimmt, hat Aristoteles ein Lebenswerk von über 445.270 Zeilen hinterlassen (wobei in dieser Zahl zwei der umfangreichsten Schriften – die Metaphysik und die Nikomachische Ethik – vermutlich noch nicht berücksichtigt sind). Nur etwa ein Viertel davon ist überliefert. In der Forschung werden zwei Gruppen unterschieden: exoterische Schriften (die für ein breiteres Publikum veröffentlicht worden sind) und esoterische (die zum internen Gebrauch der Schule dienten). Alle exoterischen Schriften sind nicht oder nur in Fragmenten vorhanden, die meisten esoterischen sind hingegen überliefert. Die Schrift Die Verfassung der Athener galt als verloren und wurde erst Ende des 19. Jahrhunderts in Papyrusform gefunden. ==== Exoterische und esoterische Schriften ==== Die exoterischen Schriften bestanden vor allem aus Dialogen in der Tradition Platons, z. B. der Protreptikos – eine Werbeschrift für die Philosophie –, Untersuchungen wie Über die Ideen, aber auch propädeutische Sammlungen. Cicero lobt ihren „goldenen Fluss der Rede“. Die auch Pragmatien genannten esoterischen Schriften sind vielfach als Vorlesungsmanuskripte bezeichnet worden; gesichert ist dies nicht und für einige Schriften oder Abschnitte auch unwahrscheinlich. Weitgehend herrscht die Auffassung, dass sie aus der Lehrtätigkeit erwachsen sind. Weite Teile der Pragmatien weisen einen eigentümlichen Stil voller Auslassungen, Andeutungen, Gedankensprünge und Dubletten auf. Daneben finden sich jedoch auch stilistisch ausgefeilte Passagen, die (neben den Dubletten) deutlich machen, dass Aristoteles wiederholt an seinen Texten gearbeitet hat, und die Möglichkeit nahelegen, dass er an die Veröffentlichung mindestens einiger der Pragmatien gedacht hat. Aristoteles setzt bei seinen Adressaten große Vorkenntnisse fremder Texte und Theorien voraus. Verweise auf die exoterischen Schriften zeigen, dass deren Kenntnis ebenfalls vorausgesetzt wird. ==== Die Manuskripte des Aristoteles ==== Nach dem Tod des Aristoteles blieben seine Manuskripte zunächst im Besitz seiner Schüler. Als sein Schüler und Nachfolger Theophrast starb, soll dessen Schüler Neleus die Bibliothek des Aristoteles erhalten und mit dieser – aus Ärger darüber, nicht zum Nachfolger gewählt worden zu sein – mit einigen Anhängern Athen Richtung Skepsis in der Nähe Trojas in Kleinasien verlassen haben. Die antiken Berichte erwähnen eine abenteuerliche und zweifelhafte Geschichte, nach der die Erben des Neleus die Manuskripte zur Sicherung vor fremdem Zugriff im Keller vergruben, wo sie dann aber verschollen blieben. Weitgehend gesichert ist, dass im ersten Jahrhundert v. Chr. Apellikon von Teos die beschädigten Manuskripte erworben und nach Athen gebracht hat und dass sie nach der Eroberung von Athen durch Sulla im Jahr 86 v. Chr. nach Rom gelangten. Dessen Sohn beauftragte Mitte des Jahrhunderts Tyrannion, die Manuskripte zu sichten und durch weiteres Material zu ergänzen. ==== Weitere Überlieferungswege ==== Auch wenn mit der Bibliothek des Aristoteles seine Manuskripte jahrhundertelang verschollen waren, ist es unbestritten, dass seine Lehre im Hellenismus mindestens teilweise bekannt war, vor allem durch die exoterischen Schriften und indirekt wohl auch durch Theophrasts Wirken. Daneben müssen einige Pragmatien bekannt gewesen sein, von denen es möglicherweise Abschriften in der Bibliothek des Peripatos gab. ==== Andronikos von Rhodos. Die erste Ausgabe ==== Auf der Grundlage der Arbeit Tyrannions besorgte dessen Schüler Andronikos von Rhodos in der zweiten Hälfte des ersten Jahrhunderts v. Chr. die erste Ausgabe der aristotelischen Pragmatien, die wohl nur zum Teil auf den Manuskripten des Aristoteles beruhte. Die Schriften dieser Edition bilden das Corpus Aristotelicum. Vermutlich gehen einige Zusammenstellungen von zuvor ungeordneten Büchern sowie einige Titel auf diese Ausgabe zurück. Möglicherweise hat Andronikos auch darüber hinaus Eingriffe in den Text – wie etwa Querverweise – vorgenommen. Im Fall der zahlreichen Dubletten hat er möglicherweise verschiedene Texte zum selben Thema hintereinander angeordnet. Die heutige Anordnung der Schriften entspricht weitgehend dieser Ausgabe. Die zu seiner Zeit noch vorliegenden exoterischen Schriften berücksichtigte Andronikos nicht. Sie gingen in der Folgezeit verloren. ==== Handschriften und Druckausgaben ==== Heutige Ausgaben beruhen auf Abschriften, die auf die Andronikos-Ausgabe zurückgehen. Mit über 1000 Handschriften ist Aristoteles unter den nichtchristlichen griechischsprachigen Autoren derjenige mit der weitesten Verbreitung. Die ältesten Handschriften stammen aus dem 9. Jahrhundert. Das Corpus Aristotelicum ist wegen seines Umfangs nie vollständig in einem einzigen Kodex enthalten. Nach der Erfindung des Buchdrucks erschien 1495–1498 die erste Druckausgabe aus der Hand von Aldus Manutius. Die von Immanuel Bekker 1831 besorgte Gesamtausgabe der Berliner Akademie ist die Grundlage der modernen Aristotelesforschung. Sie beruht auf Kollationen der besten damals zugänglichen Handschriften. Nach ihrer Seiten-, Spalten- und Zeilenzählung (Bekker-Zählung) wird Aristoteles heute noch überall zitiert. Für einige wenige Werke bietet sie noch immer den maßgeblichen Text; die meisten liegen jedoch heute in neuen Einzelausgaben vor. === Einteilung der Wissenschaften und Grundlegendes === Aristoteles’ Werk deckt weite Teile des zu seiner Zeit vorhandenen Wissens ab. Er teilt es in drei Bereiche: theoretische Wissenschaft praktische Wissenschaft poietische WissenschaftDas theoretische Wissen wird um seiner selbst willen gesucht. Praktisches und poietisches Wissen hat einen weiteren Zweck, die (gute) Handlung oder ein (schönes oder nützliches) Werk. Nach der Art der Gegenstände untergliedert er das theoretische Wissen weiter: (i) Die Erste Philosophie („Metaphysik“) behandelt (mit der Substanztheorie, der Prinzipientheorie und der Theologie) Selbstständiges und Unveränderliches, (ii) die Naturwissenschaft Selbstständiges und Veränderliches und (iii) die Mathematik behandelt Unselbständiges und Unveränderliches (Met. VI 1). Eine Sonderstellung scheinen die in dieser Einteilung nicht vorkommenden Schriften zu haben, die erst nach dem Tod des Aristoteles im sogenannten Organon zusammengestellt worden sind. Die wichtigsten Schriften lassen sich grob folgendermaßen gliedern: Mit dieser Einteilung der Wissenschaften geht für Aristoteles die Einsicht einher, dass jede Wissenschaft aufgrund ihrer eigentümlichen Objekte auch eigene Prinzipien besitzt. So kann es in der praktischen Wissenschaft – dem Bereich der Handlungen – nicht dieselbe Genauigkeit geben wie im Bereich der theoretischen Wissenschaften. Es ist zwar eine Wissenschaft der Ethik möglich, aber ihre Sätze gelten nur in der Regel. Auch kann diese Wissenschaft nicht für alle möglichen Situationen die richtige Handlungsweise vorgeben. Vielmehr vermag die Ethik nur ein nicht-exaktes Wissen im Grundriss zu liefern, das zudem allein noch nicht zu einer erfolgreichen Lebensführung befähigt, sondern hierfür an Erfahrungen und bestehende Haltungen anschließen muss (EN I 1 1094b12–23). Aristoteles war davon überzeugt, dass die „Menschen für das Wahre von Natur aus hinlänglich begabt sind“ (Rhet. I 1, 1355a15–17). Daher geht er typischerweise zunächst (allgemein oder bei Vorgängern) anerkannte Meinungen (endoxa) durch und diskutiert deren wichtigsten Probleme (aporiai), um einen möglichen wahren Kern dieser Meinungen zu analysieren (EN VII 2). Auffällig ist seine Vorliebe, in einer Allaussage zu Beginn einer Schrift die Grundlage für die Argumentation zu legen und den spezifischen Gegenstand abzustecken. === Sprache, Logik und Wissen === ==== Das Organon ==== Der Themenbereich Sprache, Logik und Wissen ist vor allem in den Schriften behandelt, die traditionell unter dem Titel Organon (griech. Werkzeug, Methode) zusammengestellt sind. Diese Zusammenstellung und ihr Titel stammen nicht von Aristoteles, und die Reihenfolge ist nicht chronologisch. Die Schrift Rhetorik gehört dem Organon nicht an, steht ihm aber inhaltlich wegen ihrer Art der Behandlung des Gegenstands sehr nahe. Eine Berechtigung für die Zusammenstellung besteht in dem gemeinsamen methodologisch-propädeutischen Charakter. ==== Bedeutungstheorie ==== Im folgenden Abschnitt – der als der einflussreichste Text in der Geschichte der Semantik gilt – unterscheidet Aristoteles vier Elemente, die in zwei verschiedenen Beziehungen zueinander stehen, einer Abbildungsbeziehung und einer Symbolbeziehung: Gesprochene und geschriebene Worte sind demnach bei den Menschen verschieden; geschriebene Worte symbolisieren gesprochene Worte. Seelische Widerfahrnisse und die Dinge sind bei allen Menschen gleich; seelische Widerfahrnisse bilden die Dinge ab. Demnach ist die Beziehung von Rede und Schrift zu den Dingen durch Übereinkunft festgelegt, die Beziehung der mentalen Eindrücke zu den Dingen hingegen naturgegeben. Wahrheit und Falschheit kommt erst der Verbindung und Trennung von mehreren Vorstellungen zu. Auch die einzelnen Wörter stellen noch keine Verbindung her und können daher je allein nicht wahr oder falsch sein. Wahr oder falsch kann daher erst der ganze Aussagesatz (logos apophantikos) sein. ==== Prädikate und Eigenschaften ==== Einige sprachlich-logische Feststellungen sind für Aristoteles’ Philosophie fundamental und spielen auch außerhalb der (im weiteren Sinne) logischen Schriften eine bedeutende Rolle. Hierbei geht es insbesondere um das Verhältnis von Prädikaten und (wesentlichen) Eigenschaften. ===== Definitionen ===== Unter einer Definition versteht Aristoteles primär keine Nominaldefinition (die er auch kennt; siehe An. Post. II, 8–10), sondern eine Realdefinition. Eine Nominaldefinition gibt nur Meinungen an, welche sich mit einem Namen verbinden. Was diesen Meinungen in der Welt zugrunde liegt, gibt die Realdefinition an: eine Definition von X gibt notwendige Eigenschaften von X an und was es heißt, ein X zu sein: das Wesen. Möglicher Gegenstand einer Definition ist damit (nur) das, was ein (universales) Wesen aufweist, insbesondere Arten wie Mensch. Eine Art wird definiert durch die Angabe einer (logischen) Gattung und der artbildenden Differenz. So lässt sich Mensch definieren als vernunftbegabtes (Differenz) Lebewesen (Gattung). Individuen lassen sich mithin nicht durch Definition erfassen, sondern nur ihrer jeweiligen Art zuweisen. ===== Kategorien als Aussageklassen ===== Aristoteles lehrt, dass es zehn nicht aufeinander zurückführbare Aussageweisen gibt, die auf die Fragen Was ist X?, Wie beschaffen ist X?, Wo ist X? etc. antworten (→ die vollständige Liste). Die Kategorien haben sowohl eine sprachlich-logische als auch eine ontologische Funktion, denn von einem zugrunde liegenden Subjekt (hypokeimenon) (z. B. Sokrates) werden einerseits Prädikate ausgesagt, und ihm kommen andererseits Eigenschaften zu (z. B.: weiß, Mensch). Entsprechend stellen die Kategorien die allgemeinsten Klassen sowohl von Prädikaten als auch des Seienden dar. Dabei hebt Aristoteles die Kategorie der Substanz, die notwendig zukommende, wesentliche Prädikate enthält, von den anderen ab, die akzidentelle Prädikate enthalten. Wenn man von Sokrates Mensch prädiziert (aussagt), so handelt es sich um eine wesentliche Aussage, die vom Subjekt (Sokrates) angibt, was er ist, also die Substanz benennt. Dies unterscheidet sich offensichtlich von einer Aussage wie Sokrates ist auf dem Marktplatz, mit der man etwas Akzidentelles angibt, nämlich wo Sokrates ist (also den Ort benennt). ==== Deduktion und Induktion: Argumenttypen und Erkenntnismittel ==== Aristoteles unterscheidet zwei Typen von Argumenten oder Erkenntnismitteln: Deduktion (syllogismos) und Induktion (epagôgê). Die Übereinstimmung mit den modernen Begriffen Deduktion und Induktion ist dabei weitgehend, aber nicht vollständig. Deduktionen und Induktionen spielen in den verschiedenen Bereichen der aristotelischen Argumentationstheorie und Logik zentrale Rollen. Beide stammen ursprünglich aus der Dialektik. ===== Deduktion ===== Nach Aristoteles besteht eine Deduktion aus Prämissen (Annahmen) und einer von diesen verschiedenen Konklusion. Die Konklusion folgt mit Notwendigkeit aus den Prämissen. Sie kann nicht falsch sein, wenn die Prämissen wahr sind. Die Definition der Deduktion (syllogismos) ist also weiter als die der (unten behandelten) – traditionell Syllogismus genannten – Deduktion, die aus zwei Prämissen und drei Termen besteht. Aristoteles unterscheidet dialektische, eristische, rhetorische und demonstrative Deduktionen. Diese Formen unterscheiden sich vor allem nach der Art ihrer Prämissen. ===== Induktion ===== Der Deduktion stellt Aristoteles explizit die Induktion gegenüber; deren Bestimmung und Funktion ist allerdings nicht so klar wie die der Deduktion. Er nennt sie Aristoteles ist klar, dass ein derartiges Übergehen von singulären zu allgemeinen Sätzen ohne weitere Bedingungen nicht logisch gültig ist (An. Post. II 5, 91b34 f.). Entsprechende Bedingungen werden beispielsweise in dem ursprünglichen, argumentationslogischen Kontext der Dialektik erfüllt, da der Kontrahent einen durch Induktion eingeführten Allgemeinsatz akzeptieren muss, wenn er kein Gegenbeispiel nennen kann. Vor allem aber hat die Induktion die Funktion, in anderen, nicht folgernden Kontexten durch das Anführen von Einzelfällen das Allgemeine deutlich zu machen – sei es als didaktisches, sei es als heuristisches Verfahren. Eine derartige Induktion stellt plausible Gründe dafür bereit, einen allgemeinen Satz für wahr zu halten. Aristoteles rechtfertigt aber nirgends ohne weitere Bedingungen induktiv die Wahrheit eines solchen Satzes. ==== Dialektik: Theorie der Argumentation ==== Die in der Topik behandelte Dialektik ist eine Form der Argumentation, die (ihrer genuinen Grundform nach) in einer dialogischen Disputation stattfindet. Sie geht vermutlich auf Praktiken in Platons Akademie zurück. Die Zielsetzung der Dialektik lautet: Die Dialektik hat demnach keinen bestimmten Gegenstandsbereich, sondern kann universal angewendet werden. Aristoteles bestimmt die Dialektik durch die Art der Prämissen dieser Deduktion. Ihre Prämissen sind anerkannte Meinungen (endoxa), das heißt Für dialektische Prämissen ist es unerheblich, ob sie wahr sind oder nicht. Weshalb aber anerkannte Meinungen? In ihrer Grundform findet Dialektik in einem argumentativen Wettstreit zwischen zwei Gegnern statt mit genau zugewiesenen Rollen. Auf ein vorgelegtes Problem der Form ‚Ist S P oder nicht?‘ muss der Antwortende sich auf eine der beiden Möglichkeiten als These festlegen. Das dialektische Gespräch besteht nun darin, dass ein Fragender dem Antwortenden Aussagen vorlegt, die dieser entweder bejahen oder verneinen muss. Die beantworteten Fragen gelten als Prämissen. Das Ziel des Fragenden besteht nun darin, mithilfe der bejahten oder verneinten Aussagen eine Deduktion zu bilden, so dass die Konklusion die Ausgangsthese widerlegt oder aus den Prämissen etwas Absurdes oder ein Widerspruch folgt. Die Methode der Dialektik weist zwei Bestandteile auf: herausfinden, welche Prämissen ein Argument für die gesuchte Konklusion ergeben. herausfinden, welche Prämissen der Antwortende akzeptiert.Für 2. bieten die verschiedenen Typen (a)–(ciii) anerkannter Meinungen dem Fragenden Anhaltspunkte dafür, welche Fragen der jeweilige Antwortende bejahen wird, das heißt, welche Prämissen er verwenden kann. Aristoteles fordert dazu auf, Listen solcher anerkannter Meinungen anzulegen (Top. I 14). Vermutlich meint er nach den Gruppen (a)–(ciii) getrennte Listen; diese werden wiederum nach Gesichtspunkten geordnet. Für 1. hilft dem Dialektiker in seinem Argumentationsaufbau das Instrument der Topen. Ein Topos ist eine Konstruktionsanleitung für dialektische Argumente, das heißt zur Auffindung geeigneter Prämissen für eine gegebene Konklusion. Aristoteles listet in der Topik etwa 300 dieser Topen auf. Der Dialektiker kennt diese Topen auswendig, die sich aufgrund ihrer Eigenschaften ordnen lassen. Die Basis dieser Ordnung stellt das System der Prädikabilien dar. Nach Aristoteles ist die Dialektik für dreierlei nützlich: (1) als Übung, (2) für die Begegnung mit der Menge und (3) für die Philosophie. Neben (1) der Grundform des argumentativen Wettstreits (bei der es eine Jury und Regeln gibt und die wahrscheinlich auf Praktiken in der Akademie zurückgeht) gibt es mit (2) auch Anwendungsweisen, die zwar dialogisch, aber nicht als regelbasierter Wettstreit angelegt sind, sowie mit (3) solche, die nicht dialogisch sind, sondern in denen der Dialektiker im Gedankenexperiment (a) Schwierigkeiten nach beiden Seiten hin durchgeht (diaporêsai) oder auch (b) Prinzipien untersucht (Top. I 4). Für ihn ist die Dialektik aber nicht wie bei Platon die Methode der Philosophie oder eine Fundamentalwissenschaft. ==== Rhetorik: Theorie der Überzeugung ==== Aristoteles definiert Rhetorik als „Fähigkeit, bei jeder Sache das möglicherweise Überzeugende (pithanon) zu betrachten“ (Rhetorik I 2, 1355b26 f.). Er nennt sie ein Gegenstück (antistrophos) zur Dialektik. Denn ebenso wie die Dialektik ist die Rhetorik ohne abgegrenzten Gegenstandsbereich, und sie verwendet dieselben Elemente (wie Topen, anerkannte Meinungen und insbesondere Deduktionen), und dem dialektischen Schließen entspricht das auf rhetorischen Deduktionen basierende Überzeugen. Der Rhetorik kam im demokratischen Athen des vierten Jahrhunderts eine herausragende Bedeutung zu, insbesondere in der Volksversammlung und den Gerichten, die mit durch Los bestimmten Laienrichtern besetzt waren. Es gab zahlreiche Rhetoriklehrer, und Rhetorikhandbücher kamen auf. Aristoteles’ dialektische Rhetorik ist eine Reaktion auf die Rhetoriktheorie seiner Zeit, die – wie er kritisiert – bloße Versatzstücke für Redesituationen bereitstellt und Anweisungen, wie man durch Verleumdung und die Erregung von Emotionen das Urteil der Richter trüben kann. Im Gegensatz dazu beruht seine dialektische Rhetorik auf der Auffassung, dass wir dann am meisten überzeugt sind, wenn wir meinen, dass etwas bewiesen worden ist (Rhet. I 1, 1355a5 f.). Dass die Rhetorik sachorientiert sei und das jeweils in der Sache liegende Überzeugungspotential entdecken und ausschöpfen müsse, drückt er ebenfalls in der Gewichtung der drei Überzeugungsmittel aus. Diese sind: der Charakter des Redners (Ethos) der emotionale Zustand des Hörers (Pathos) das Argument (Logos)Das Argument hält er für das wichtigste Mittel. Unter den Argumenten unterscheidet Aristoteles das Beispiel – eine Form der Induktion – und das Enthymem – eine rhetorische Deduktion (wobei wiederum das Enthymem wichtiger als das Beispiel ist). Das Entyhmem ist eine Art der dialektischen Deduktion. Sein besonderes Merkmal aufgrund der rhetorischen Situation ist, dass seine Prämissen nur die anerkannten Meinungen sind, die von allen oder den meisten für wahr gehalten werden. (Die verbreitete, kuriose Ansicht, das Enthymem sei ein Syllogismus, in dem eine der zwei Prämissen fehle, vertritt Aristoteles nicht; sie basiert auf einem schon in der antiken Kommentierung belegten Missverständnis von 1357a7 ff.) Der Redner überzeugt demnach die Zuhörer, indem er eine Behauptung (als Konklusion) aus den Überzeugungen (als Prämissen) der Zuhörer herleitet. Die Konstruktionsanleitungen dieser Enthymeme liefern rhetorische Topen, z. B.: An den zeitgenössischen Rhetoriklehrern kritisiert Aristoteles, dass sie die Argumentation vernachlässigten und ausschließlich auf Emotionserregung abzielten, etwa durch Verhaltensweisen wie Jammern oder Mitbringen der Familie zur Gerichtsverhandlung, wodurch ein sachbezogenes Urteil der Richter verhindert werde. Aristoteles’ Theorie zufolge können alle Emotionen definiert werden, indem drei Faktoren berücksichtigt werden. Man fragt: (1) Worüber, (2) wem gegenüber und (3) in welchem Zustand empfindet jemand die jeweilige Emotion? So lautet die Definition von Zorn: Wenn der Redner mit diesem Definitionswissen den Zuhörern deutlich machen kann, dass der entsprechende Sachverhalt vorliegt und sie sich im entsprechenden Zustand befinden, empfinden sie die entsprechende Emotion. Sofern der Redner mit dieser Methode bestehende Sachverhalte eines Falles hervorhebt, lenkt er damit nicht – wie bei den kritisierten Vorgängern – von der Sache ab, sondern fördert nur dem Fall angemessene Emotionen und verhindert somit unangemessene. Schließlich soll der Charakter des Redners aufgrund seiner Rede für die Zuhörer glaubwürdig, das heißt tugendhaft, klug und wohlwollend erscheinen (Rhet. I 2, 1356a5–11; II 1, 1378a6–16). Die sprachliche Form dient ebenfalls einer argumentativ-sachorientierten Rhetorik. Aristoteles definiert nämlich die optimale Form (aretê) dadurch, dass sie primär klar, dabei aber weder banal noch zu erhaben ist (Rhet. III 2, 1404b1–4). Durch solche Ausgewogenheit fördert sie das Interesse, die Aufmerksamkeit und das Verständnis und wirkt angenehm. Unter den Stilmitteln erfüllt insbesondere die Metapher diese Bedingungen. ==== Syllogistische Logik ==== Besteht Aristoteles’ dialektische Logik in einer Methode des konsistenten Argumentierens, so besteht seine syllogistische in einer Theorie des Beweisens selbst. In der von ihm begründeten Syllogistik zeigt Aristoteles, welche Schlüsse gültig sind. Hierfür verwendet er eine Form, die in der Tradition wegen der Bedeutung dieser Logik schlicht Syllogismus (die lateinische Übersetzung von syllogismos) genannt wird. Jeder Syllogismus ist eine (besondere Form der) Deduktion (syllogismos), aber nicht jede Deduktion ist ein Syllogismus (und zwar weil Aristoteles’ sehr allgemeine Definition der Deduktion viele mögliche Argumenttypen beschreibt). Aristoteles verwendet selbst auch keinen eigenen Begriff, um den Syllogismus von anderen Deduktionen abzugrenzen. Ein Syllogismus ist eine spezielle Deduktion, die aus genau zwei Prämissen und einer Konklusion besteht. Prämissen und Konklusion weisen zusammen genau drei verschiedene Begriffe, Terme (in der Tabelle dargestellt durch A, B, C) auf. Die Prämissen haben genau einen Term gemeinsam (in der Tabelle B), der in der Konklusion nicht vorkommt. Durch die Stellung des gemeinsamen Terms, des Mittelterms (hier immer B) unterscheidet Aristoteles folgende syllogistische Figuren: Ein Prädikat (P) (z. B. 'sterblich') kann einem Subjekt (S) (z. B. 'Grieche') entweder zu- oder abgesprochen werden. Dies kann in partikulärer oder in allgemeiner Form geschehen. Somit gibt es vier Formen, in denen S und P miteinander verbunden werden können, wie die folgende Tabelle zeigt (nach De interpretatione 7; die Vokale werden seit dem Mittelalter für den jeweiligen Aussagetypus und auch in der Syllogistik verwendet). Der Syllogismus verwendet genau diese vier Aussagetypen in folgender Form: Aristoteles untersucht folgende Frage: Welche der 192 möglichen Kombinationen sind logisch gültige Deduktionen? Bei welchen Syllogismen ist es nicht möglich, dass, wenn die Prämissen wahr sind, die Konklusion falsch ist? Er unterscheidet vollkommene Syllogismen, die unmittelbar einsichtig sind, von unvollkommenen. Die unvollkommenen Syllogismen führt er mittels Konversionsregeln auf die vollkommenen zurück (dieses Verfahren nennt er analysis) oder beweist sie indirekt. Ein vollkommener Syllogismus ist der – seit dem Mittelalter so genannte – Barbara: Weitere gültige Syllogismen und deren Beweise finden sich im Artikel Syllogismus. Die in den Analytica Priora ausgearbeitete Syllogistik wendet Aristoteles in seiner Wissenschaftstheorie, den Analytica Posteriora an. Aristoteles entwickelt zudem eine modale Syllogistik, die die Begriffe möglich und notwendig einschließt. Diese Modalsyllogistik ist sehr viel schwieriger zu interpretieren als die einfache Syllogistik. Ob eine konsistente Interpretation dieser modalen Syllogistik überhaupt möglich ist, ist noch heute umstritten. Interpretatorisch problematisch, aber auch bedeutend ist Aristoteles’ Definition von möglich. Er unterscheidet hierbei die sogenannte einseitige und die zweiseitige Möglichkeit: Einseitig: p ist möglich, insofern nicht-p nicht notwendig ist. Zweiseitig: p ist möglich, wenn p nicht notwendig und nicht-p nicht notwendig ist, das heißt p ist kontingent.Damit lässt sich der Indeterminismus, den Aristoteles vertritt, als der Zustand charakterisieren, der kontingent ist. ==== Kanonische Sätze ==== In der aristotelischen Logik wird zwischen folgenden konträren und kontradiktorischen Satzarten unterschieden – F und G stehen dabei für Subjekt und Prädikat: Diese „kanonischen Sätze“ gehören zum Fundament der traditionellen Logik und werden unter anderem bei einfacher bzw. eingeschränkter Konversion angewandt. ==== Wissen und Wissenschaft ==== ===== Stufen des Wissens ===== Aristoteles unterscheidet verschiedene Stufen des Wissens, die sich folgendermaßen darstellen lassen (Met. I 1; An. post. II 19): Mit dieser Stufung beschreibt Aristoteles auch, wie Wissen entsteht: Aus Wahrnehmung entsteht Erinnerung und aus Erinnerung durch Bündelung von Erinnerungsinhalten Erfahrung. Erfahrung besteht in einer Kenntnis einer Mehrzahl konkreter Einzelfälle und gibt nur das Dass an, ist bloße Faktenkenntnis. Wissen hingegen (oder Wissenschaft; epistêmê umfasst beides) unterscheidet sich von Erfahrung dadurch, dass es allgemein ist; nicht nur das Dass eines Sachverhalts, sondern auch das Warum, den Grund oder die erklärende Ursache angibt.In diesem Erkenntnisprozess schreiten wir nach Aristoteles von dem, was für uns bekannter und näher an der sinnlichen Wahrnehmung ist, zu dem vor, was an sich oder von Natur aus bekannter ist, zu den Prinzipien und Ursachen der Dinge. Dass Wissen an oberster Stelle steht und überlegen ist, bedeutet aber nicht, dass es im konkreten Fall die anderen Stufen in dem Sinne enthält, dass es sie ersetzte. Im Handeln ist zudem die Erfahrung als Wissen vom Einzelnen den Wissensformen, die aufs Allgemeine gehen, mitunter überlegen (Met. 981a12–25). ===== Ursachen und Demonstrationen ===== Unter einer Ursache (aitia) versteht Aristoteles in der Regel nicht ein von einem verursachten Ereignis B verschiedenes Ereignis A. Die Untersuchung von Ursachen dient nicht dazu, Wirkungen vorherzusagen, sondern Sachverhalte zu erklären. Eine aristotelische Ursache gibt einen Grund als Antwort auf bestimmte Warum-Fragen an. (Aristoteles unterscheidet vier Ursachentypen, die genauer hier im Abschnitt Naturphilosophie behandelt werden.) Nach Aristoteles hat Ursachenwissen die Form einer bestimmten Deduktion: der Demonstration (apodeixis) eines Syllogismus mit wahren Prämissen, die Ursachen für den in der Konklusion ausgedrückten Sachverhalt angeben. Ein Beispiel: Aristoteles spricht davon, dass die Prämissen einiger Demonstrationen Prinzipien (archē; wörtl. Anfang, Ursprung) sind, erste wahre Sätze, die selbst nicht demonstrativ bewiesen werden können. ===== Nicht-Beweisbare Sätze ===== Neben den Prinzipien können auch die Existenz und die Eigenschaften der behandelten Gegenstände einer Wissenschaft sowie bestimmte, allen Wissenschaften gemeinsame Axiome nach Aristoteles nicht durch Demonstrationen bewiesen werden, wie beispielsweise der Satz vom Widerspruch. Vom Satz des Widerspruchs zeigt Aristoteles, dass er nicht geleugnet werden kann. Er lautet: X kann Y nicht zugleich in derselben Hinsicht zukommen und nicht zukommen (Met. IV 3, 1005b19 f.). Aristoteles argumentiert, dass, wer dies leugnet, etwas und somit etwas Bestimmtes sagen muss. Wenn er z. B. ‚Mensch‘ sagt, bezeichnet er damit Menschen und nicht Nicht-Menschen. Mit dieser Festlegung auf etwas Bestimmtes setze er aber den Satz vom Widerspruch voraus. Dies gelte sogar für Handlungen, insofern eine Person etwa um einen Brunnen herumgeht und nicht in ihn hinein fällt. Dass diese Sätze und auch Prinzipien nicht demonstriert werden können, liegt an Aristoteles’ Lösung eines Begründungsproblems: Wenn Wissen Rechtfertigung enthält, dann führt dies in einem konkreten Fall von Wissen entweder (a) zu einem Regress, (b) einem Zirkel oder (c) zu fundamentalen Sätzen, die nicht begründet werden können. Prinzipien in einer aristotelischen demonstrativen Wissenschaft sind solche Sätze, die nicht demonstriert, sondern auf andere Weise gewusst werden (An. Post. I 3). ===== Das Verhältnis von Definition, Ursache und Demonstration ===== Aristoteles spricht zudem davon, dass, sofern die Prämissen Prinzipien sind, sie auch Definitionen darstellen können. Wie sich Demonstration, Ursache und Definition zueinander verhalten, illustriert folgendes Beispiel: Der Mond weist zum Zeitpunkt t eine Finsternis auf, weil (i) immer, wenn etwas im Sonnenschatten der Erde ist, es eine Finsternis aufweist und (ii) der Mond zum Zeitpunkt t im Sonnenschatten der Erde liegt.Demonstration: Mittelterm: Verdecken der Sonne durch die Erde.Ursache: Verdecken der Sonne durch die Erde kommt dem Mond zum Zeitpunkt t zu. Die Definition wäre hier etwa: Mondfinsternis ist der Fall, in dem die Erde die Sonne verdeckt. Sie erklärt nicht das Wort ‚Mondfinsternis‘. Vielmehr gibt sie an, was eine Mondfinsternis ist. Indem man die Ursache angibt, schreitet man von einem Faktum zu seinem Grund fort. Das Verfahren der Analyse besteht darin, bottom-up zu einem bekannten Sachverhalt die nächste Ursache zu suchen, bis eine letzte Ursache erreicht ist. ===== Status der Prinzipien und Funktion der Demonstration ===== Das aristotelische Wissenschaftsmodell wurde in der Neuzeit und bis ins 20. Jahrhundert als ein Top-down-Beweisverfahren verstanden. Die unbeweisbaren Prinzipien seien notwendig wahr und würden durch Induktion und Intuition (nous) erlangt. Alle Sätze einer Wissenschaft würden – in einer axiomatischen Struktur – aus ihren Prinzipien folgen. Wissenschaft beruht demnach auf zwei Schritten: Zunächst würden die Prinzipien intuitiv erfasst, dann würde top-down aus ihnen Wissen demonstriert.Gegner dieser Top-down-Interpretation stellen vor allem infrage, dass für Aristoteles die Prinzipien immer wahr sind; die Prinzipien durch Intuition gewonnen werden; die Funktion der Demonstration darin besteht, dass aus obersten Prinzipien Wissen erschlossen wird.Eine Interpretationsrichtung behauptet, die Demonstration habe didaktische Funktion. Da Aristoteles in den naturwissenschaftlichen Schriften seine Wissenschaftstheorie nicht befolge, lege diese nicht dar, wie Forschung durchgeführt, sondern wie sie didaktisch präsentiert werden soll. Eine andere Auslegung weist auch die didaktische Interpretation zurück, da sich sehr wohl Anwendungen des wissenschaftstheoretischen Modells in den naturwissenschaftlichen Schriften finden ließen. Vor allem aber kritisiert sie die erste Lesart dahingehend, dass sie nicht zwischen Wissensideal und Wissenskultur unterscheide; denn Aristoteles halte Prinzipien für fallibel und die Funktion der Demonstration für heuristisch. Sie liest die Demonstration bottom-up: Zu bekannten Sachverhalten würden mithilfe der Demonstration deren Ursachen gesucht. Die wissenschaftliche Forschung gehe von den für uns bekannteren empirischen (meist universalen) Sätzen aus. Zu einer solchen Konklusion werden Prämissen gesucht, die für den entsprechenden Sachverhalt Ursachen angeben. Der wissenschaftliche Forschungsprozess besteht nun darin, beispielsweise die Verknüpfung von Schwere und Statue oder Mond und Finsternis in der Weise genauer zu analysieren, dass man Mittelterme sucht, die sie als Ursachen miteinander verknüpfen. Im einfachsten Fall gibt es dabei nur einen Mittelterm, in anderen mehrere. Top-down wird dann das Wissen von den erklärenden Prämissen zu den erklärten universalen empirischen Sätzen präsentiert. Dabei geben die Prämissen den Grund für den in der Konklusion beschriebenen Sachverhalt an. Das Ziel jeder Disziplin besteht in einer derartigen demonstrativen Darstellung des Wissens, in der die nicht demonstrierbaren Prinzipien dieser Wissenschaft Prämissen sind. ===== Erfassen der Prinzipien ===== Wie die Prinzipien nach Aristoteles erfasst werden, bleibt undeutlich und ist umstritten. Vermutlich werden sie durch Allgemeinbegriffe gebildet, die durch einen induktiven Vorgang entstehen, einen Aufstieg innerhalb der oben beschriebenen Wissensstufen: Wahrnehmung wird Erinnerung, wiederholte Wahrnehmung verdichtet sich zu Erfahrung, und aus Erfahrung bilden wir Allgemeinbegriffe. Mit dieser auf der Wahrnehmung basierenden Konzeption der Bildung von Allgemeinbegriffen weist Aristoteles sowohl Konzeptionen zurück, die die Allgemeinbegriffe aus einem höheren Wissen ableiten, als auch diejenigen, die behaupten, Allgemeinbegriffe seien angeboren. Vermutlich auf Grundlage dieser Allgemeinbegriffe werden die Prinzipien, Definitionen gebildet. Die Dialektik, die Fragen in der Form ‚Trifft P auf S zu oder nicht?‘ behandelt, ist vermutlich ein Mittel, Prinzipien zu prüfen. Das Vermögen, das diese grundlegenden Allgemeinbegriffe und Definitionen erfasst, ist der Geist, die Einsicht (nous). === Naturphilosophie === ==== Natur ==== In Aristoteles’ Naturphilosophie bedeutet Natur (physis) zweierlei: Zum einen besteht der primäre Gegenstandsbereich aus den von Natur aus bestehenden Dingen (Menschen, Tiere, Pflanzen, die Elemente), die sich von Artefakten unterscheiden. Zum anderen bilden die Bewegung (kínēsis) und Ruhe (stasis) den Ursprung, beziehungsweise das Grundprinzip (archē) aller Natur (Phys. II 1, 192b14). Bewegung bedeutet wiederum Veränderung (metabolē) (Phys. II 1,193a30). So ist beispielsweise die Ortsbewegung eine Form der Veränderung. Ebenso stellen die „Eigenbewegungen“ des Körpers, wenn dieser (zum Beispiel durch Nahrungsaufnahme) wächst oder abnimmt, eine Veränderung dar. Beide Begriffe, kínēsis und metabolē, sind für Aristoteles folglich nicht trennbar. Gemeinsam bilden sie das Grundprinzip und den Anfang aller Naturdinge. Bei Artefakten kommt das Prinzip jeder Veränderung von außen (Phys. II 1, 192b8–22). Die Wissenschaft der Natur hängt in der Folge von den Arten der Veränderung ab. ==== Definition, Prinzipien und Arten der Veränderung ==== Ein Veränderungsprozess von X ist gegeben, wenn X, das (i) der Wirklichkeit nach die Eigenschaft F und (ii) der Möglichkeit nach G aufweist, die Eigenschaft G verwirklicht. Bei Bronze (X), die der Wirklichkeit nach ein Klumpen ist (F) und der Möglichkeit nach eine Statue (G), liegt Veränderung dann vor, wenn die Bronze der Wirklichkeit nach die Form einer Statue (G) wird; der Prozess ist abgeschlossen, wenn die Bronze diese Form besitzt. Oder wenn der ungebildete Sokrates gebildet wird, so verwirklicht sich ein Zustand, welcher der Möglichkeit nach schon vorlag. Der Veränderungsprozess ist also durch seinen Übergangsstatus gekennzeichnet und setzt voraus, dass etwas, das der Möglichkeit nach vorliegt, verwirklicht werden kann (Phys. III 1, 201a10–201b5). Für alle Veränderungsprozesse hält Aristoteles (in Übereinstimmung mit seinen naturphilosophischen Vorgängern) Gegensätze für grundlegend. Er vertritt darüber hinaus die These, dass in einem Veränderungsprozess diese Gegensätze (wie gebildet-ungebildet) immer an einem Substrat oder Zugrundeliegenden (hypokeimenon) auftreten, so dass sein Modell folgende drei Prinzipien aufweist: Substrat der Veränderung (X); Ausgangszustand der Veränderung (F); Zielzustand der Veränderung (G).Wird der ungebildete Sokrates gebildet, so ist er dabei an jedem Punkt der Veränderung Sokrates. Entsprechend bleibt die Bronze Bronze. Das Substrat der Veränderung, an dem diese sich vollzieht, bleibt dabei mit sich selbst identisch. Den Ausgangszustand der Veränderung fasst Aristoteles dabei als einen Zustand, dem die entsprechende Eigenschaft des Zielzustands ermangelt (Privation; Phys. I 7). Aristoteles unterscheidet vier Arten der Veränderung: Qualitative Veränderung Quantitative Veränderung Ortsbewegung Entstehen/Vergehen.Bei jeder Veränderung – so Aristoteles – gibt es ein zugrunde liegendes, numerisch identisches Substrat (Physik I 7, 191a13–15). Im Falle qualitativer, quantitativer und örtlicher Veränderung ist dies ein konkretes Einzelding, das seine Eigenschaften, seine Größe oder seine Position verändert. Wie verhält sich dies aber beim Entstehen/Vergehen konkreter Einzeldinge? Die Eleaten hatten die einflussreiche These vertreten, Entstehen sei nicht möglich, da sie es für widersprüchlich hielten, wenn Seiendes aus Nicht-Seiendem hervorginge (bei Entstehen aus Seiendem sahen sie ein ähnliches Problem). Die Lösung der Atomisten, Entstehen sei ein Prozess, in dem durch Mischung und Trennung unvergänglicher und unveränderlicher Atome aus alten neue Einzeldinge hervorgehen, führt nach Aristoteles’ Ansicht Entstehen illegitimerweise auf qualitative Veränderung zurück (Gen. Corr. 317a20 ff.). ==== Form und Materie bei Entstehen/Vergehen ==== Aristoteles’ Analyse von Entstehen/Vergehen basiert auf der innovativen Unterscheidung von Form und Materie (Hylemorphismus). Er akzeptiert, dass kein konkretes Einzelding aus Nichtseiendem entstehe, analysiert den Fall Entstehen jedoch folgendermaßen. Ein konkretes Einzelding des Typs F entsteht nicht aus einem nicht-seienden F, sondern aus einem zugrunde liegenden Substrat, das nicht die Form F aufweist: der Materie. Ein Ding entsteht, indem Materie eine neu hinzukommende Form annimmt. So entsteht eine Bronzestatue, indem eine Bronzemasse eine entsprechende Form annimmt. Die fertige Statue besteht aus Bronze, die Bronze liegt der Statue als Materie zugrunde. Die Antwort auf die Eleaten lautet, dass einer nicht-seienden Statue die Bronze als Materie entspricht, die durch Hinzukommen einer Form zur Statue wird. Der Entstehungsprozess ist dabei von verschiedenen Seinsgraden gekennzeichnet. Die tatsächliche, aktuale, geformte Statue entsteht aus etwas, das potentiell eine Statue ist, nämlich Bronze als Materie (Phys. I 8, 191b10–34). Materie und Form sind Aspekte eines konkreten Einzeldings und treten nicht selbständig auf. Materie ist immer Stoff eines bestimmten Dings, das schon eine Form aufweist. Sie ist ein relativer Abstraktionsbegriff zu Form. Indem eine derartige Materie in einer neuen Weise strukturiert wird, entsteht ein neues Einzelding. Ein Haus setzt sich aus Form (dem Bauplan) und Materie (Holz und Ziegel) zusammen. Die Ziegel als Materie des Hauses sind durch einen bestimmten Prozess auf eine bestimmte Weise geformter, konfigurierter Lehm. Unter Form versteht Aristoteles seltener die äußere Gestalt (dies nur bei Artefakten), in der Regel die innere Struktur oder Natur, dasjenige, was durch eine Definition erfasst wird. Die Form eines Gegenstandes eines bestimmten Typs beschreibt dabei Voraussetzungen, welche Materie für diesen geeignet ist und welche nicht. ==== Ortsbewegung ==== Bewegungen erfolgen nach Aristoteles entweder naturgemäß oder naturwidrig (gewaltsam). Nur Lebewesen bewegen sich aus eigenem Antrieb, alles andere wird entweder von etwas bewegt oder es strebt möglichst geradlinig seinem natürlichen Ort entgegen und kommt dort zum Stillstand. Der natürliche Ort eines Körpers hängt von der in ihm vorherrschenden Materieart ab. Wenn Wasser oder Erde vorherrscht, bewegt sich der Körper zum Mittelpunkt der Erde, dem Zentrum der Welt, wenn Feuer oder Luft dominiert, strebt er nach oben. Erde ist ausschließlich schwer, Feuer absolut leicht, Wasser relativ schwer, Luft relativ leicht. Der natürliche Ort des Feuers ist oberhalb der Luft und unterhalb der Mondsphäre. Leichtigkeit und Schwere sind Eigenschaften von Körpern, die mit deren Dichte nichts zu tun haben. Mit der Einführung der Vorstellung einer absoluten Schwere und absoluten Leichtigkeit (Schwerelosigkeit des Feuers) verwirft Aristoteles die Auffassung Platons und der Atomisten, die alle Objekte für schwer hielten und das Gewicht als relative Größe auffassten. Das fünfte Element, der Äther des Himmels, ist masselos und bewegt sich ewig in gleichförmiger Kreisbewegung um das Zentrum der Welt. Der Äther füllt den Raum oberhalb der Mondsphäre; er ist keinerlei Veränderung außer der Ortsbewegung unterworfen. Die Annahme, auf der Erde und am Himmel gälten verschiedene Gesetze, ist für Aristoteles nötig, weil die Bewegung der Planeten und Fixsterne nicht zur Ruhe kommt. Aristoteles nimmt an, dass für jede Ortsbewegung ein Medium, das entweder als bewegende Kraft wirkt oder der Bewegung Widerstand leistet, erforderlich ist; eine kontinuierliche Bewegung im Vakuum ist prinzipiell unmöglich. Aristoteles schließt sogar die Existenz eines Vakuums aus. Die Bewegungslehre des Aristoteles war bis zur Entwicklung eines neuen Trägheitsbegriffs durch Galilei und Newton einflussreich. ==== Ursachen ==== Um Wissen von Veränderungsprozessen und somit von der Natur zu besitzen, muss man – so Aristoteles – die entsprechenden Ursachen (aitiai) kennen (Phys. I 1, 184a10–14). Aristoteles behauptet, es gebe genau vier Ursachentypen, die jeweils auf verschiedene Weise auf die Frage Warum antworten und die in der Regel bei einer vollständigen Erklärung alle angegeben werden müssen (Phys. II 3, 194b23–35): Der aristotelische Ursachenbegriff unterscheidet sich weitgehend vom modernen. In der Regel treffen zur Erklärung desselben Sachverhaltes oder Gegenstandes verschiedene Ursachen zugleich zu. Die Formursache fällt oft mit der Bewegungsursache und der Finalursache zusammen. Die Ursache eines Hauses sind so Ziegel und Holz, der Bauplan, der Architekt und der Schutz vor Unwetter. Letztere drei fallen oft zusammen, insofern beispielsweise der Zweck Schutz vor Unwetter den Bauplan (im Geist) des Architekten bestimmt. Die Finalursache ist vom Standpunkt der neuzeitlichen mechanistischen Physik aus kritisiert worden. Von einer insgesamt teleologisch ausgerichteten Natur wie bei Platon setzt sich Aristoteles jedoch weitgehend ab. Finale Ursachen treten für ihn in der Natur vor allem in der Biologie auf, und zwar beim funktionellen Aufbau von Lebewesen und der Artenreproduktion. === Metaphysik === Metaphysik als Erste Philosophie Aristoteles gebraucht den Ausdruck „Metaphysik“ nicht. Gleichwohl trägt eines seiner wichtigsten Werke traditionell diesen Titel. Die Metaphysik ist eine von einem späteren Herausgeber zusammengestellte Sammlung von Einzeluntersuchungen, die ein mehr oder weniger zusammenhängendes Themenspektrum abdecken, indem sie nach den Prinzipien und Ursachen des Seienden und nach der dafür zuständigen Wissenschaft fragen. Ob der Titel (ta meta ta physika: die <Schriften, Dinge> nach der Physik) einen bloß bibliografischen oder einen sachbezogenen Hintergrund hat, ist unklar. Aristoteles spricht in der Metaphysik von einer allen anderen Wissenschaften vorgeordneten Wissenschaft, die er Erste Philosophie, Weisheit (sophia) oder auch Theologie nennt. Diese Erste Philosophie wird in dieser Sammlung aus Einzeluntersuchungen auf drei Weisen charakterisiert: als Wissenschaft der allgemeinsten Prinzipien, die für Aristoteles’ Wissenschaftstheorie zentral sind (→ Satz vom Widerspruch) als Wissenschaft vom Seienden als Seienden, die aristotelische Ontologie als Wissenschaft vom Göttlichen, die aristotelische Theologie (→ Theologie)Ob oder inwieweit diese drei Projekte zusammenhängende Aspekte derselben Wissenschaft oder voneinander unabhängige Einzelprojekte sind, ist kontrovers. Aristoteles behandelt später metaphysisch genannte Themen auch in anderen Schriften. ==== Ontologie ==== Im Corpus Aristotelicum finden sich in zwei Werken, den frühen Kategorien und der späten Metaphysik, unterschiedliche Theorien des Seienden. ===== Substanzen in den Kategorien ===== Die Kategorien, die die erste Schrift im Organon bilden, sind vermutlich das einflussreichste Werk des Aristoteles und der Philosophiegeschichte überhaupt. Die frühe Ontologie der Kategorien befasst sich mit den Fragen ‚Was ist das eigentlich Seiende?‘ und ‚Wie ist das Seiende geordnet?‘ und ist als Kritik an der Position Platons zu verstehen. Der mutmaßliche Gedankengang lässt sich folgendermaßen skizzieren. Unterschieden werden Eigenschaften, die Einzeldingen zukommen (P kommt S zu). Dafür liegen zwei Deutungsmöglichkeiten nahe: Das eigentlich Seiende, die Substanz (ousia) sind abstrakte, unabhängig existierende Urbilder als Ursache und Erkenntnisgegenstand von Eigenschaften. konkrete Einzeldinge als Träger von Eigenschaften.Aristoteles selbst berichtet (Met. I 6), Platon habe gelehrt, man müsse von den wahrnehmbaren Einzeldingen getrennte, nicht sinnlich wahrnehmbare, unveränderliche, ewige Urbilder unterscheiden. Platon nahm an, dass es Definitionen (und damit aus seiner Sicht auch Wissen) von den Einzeldingen, die sich beständig ändern, nicht geben kann. Gegenstand der Definition und des Wissens sind für ihn die Urbilder (Ideen) als das für die Ordnungsstruktur des Seienden Ursächliche. Verdeutlichen lässt sich dies an einer von allen Menschen getrennten, einzelnen und numerisch identischen Idee des Menschen, die für das jeweilige Menschsein ursächlich ist und die Erkenntnisgegenstand ist für die Frage ‚Was ist ein Mensch?‘. Aristoteles’ Einteilung des Seienden in den Kategorien scheint sich von der skizzierten Position Platons abzugrenzen. Er orientiert sich dabei an der sprachlichen Struktur einfacher Sätze der Form ‚S ist P‘ und der sprachlichen Praxis, wobei er die sprachliche und die ontologische Ebene nicht explizit voneinander scheidet. Einige Ausdrücke – wie ‚Sokrates‘ – können nur die Subjektposition S in dieser sprachlichen Struktur einnehmen, alles andere wird von ihnen prädiziert. Die Dinge, die in diese Kategorie der Substanz fallen und die er Erste Substanz nennt, sind ontologisch selbständig; sie bedürfen keines anderen Dinges, um zu existieren. Daher sind sie ontologisch primär, denn alles andere ist von ihnen abhängig und nichts würde ohne sie existieren. Diese abhängigen Eigenschaften bedürfen eines Einzeldings, einer ersten Substanz als eines Trägers, an der sie vorkommen. Derartige Eigenschaften (z. B. weiß, sitzend) können einem Einzelding (etwa Sokrates) jeweils zukommen oder auch nicht zukommen und sind daher akzidentelle Eigenschaften. Dies betrifft alles außerhalb der Kategorie der Substanz. Für einige Eigenschaften (z. B. ‚Mensch‘) gilt nun, dass sie in der Weise von einem Einzelding (z. B. Sokrates) ausgesagt werden können, dass ihre Definition (vernünftiges Lebewesen) auch von diesem Einzelding gilt. Sie kommen ihm daher notwendig zu. Dies sind die Art und die Gattung. Aufgrund dieses engen Bezugs, in dem die Art und die Gattung angeben, was eine erste Substanz jeweils ist (etwa in der Antwort auf die Frage ‚Was ist Sokrates?‘: ‚ein Mensch‘), nennt Aristoteles sie zweite Substanz. Dabei hängt auch eine zweite Substanz von einer ersten Substanz ontologisch ab. A) Kategorie der Substanz: 1. Substanz: Merkmal der Selbständigkeit. 2. Substanz: Merkmal der Erkennbarkeit. B) Nichtsubstanziale Kategorien: Akzidenzien.Aristoteles vertritt also folgende Thesen: Nur Einzeldinge (erste Substanzen) sind selbständig und daher ontologisch primär. Alle Eigenschaften hängen von den Einzeldingen ab. Es existieren keine unabhängigen, nicht-exemplifizierten Urbilder. Neben kontingenten, akzidentellen Eigenschaften (wie ‚weiß‘) gibt es notwendige, essentielle Eigenschaften (wie ‚Mensch‘), die angeben, was ein Einzelding jeweils ist. ===== Die Substanztheorie der Metaphysik ===== Für Platon ergibt sich als Konsequenz aus seiner Auffassung von den Ideen die Annahme, dass im eigentlichen, unabhängigen Sinne allein die unveränderlichen Ideen existieren; die Einzeldinge existieren nur in Abhängigkeit von den Ideen. Diese ontologische Konsequenz kritisiert Aristoteles eingehend in der Metaphysik. Er hält es für widersprüchlich, dass die Anhänger der Ideenlehre einerseits die Ideen dadurch von den Sinnesobjekten abgrenzen, dass sie ihnen das Merkmal der Allgemeinheit und damit Undifferenziertheit zuweisen, und andererseits zugleich für jede einzelne Idee eine separate Existenz annehmen; dadurch würden die Ideen selbst Einzeldinge, was mit ihrem Definitionsmerkmal Allgemeinheit unvereinbar sei (Met. XIII 9, 1086a32–34). In der Metaphysik vertritt Aristoteles im Rahmen seines Vorhabens, das Seiende als Seiendes zu untersuchen, die Auffassung, dass alles Seiende entweder eine Substanz ist oder auf eine bezogen ist (Metaphysik IV 2). In den Kategorien hatte er ein Kriterium für Substanzen formuliert und Beispiele (Sokrates) für diese gegeben. In der Metaphysik thematisiert er nun abermals die Substanz, um nach den Prinzipien und Ursachen einer Substanz, eines konkreten Einzeldings zu suchen. Hier fragt er nun: Was macht etwa Sokrates zu einer Substanz? Substanz ist hier also ein zweistelliges Prädikat (Substanz von X), so dass man die Frage so formulieren kann: Was ist die Substanz-X einer Substanz? Dabei spielt die Form-Materie-Unterscheidung, die in den Kategorien nicht präsent ist, eine entscheidende Rolle. Aristoteles scheint die Substanz-X vor allem mit Hilfe zweier Kriterien zu suchen, die in der Theorie der Kategorien auf die erste und die zweite Substanz verteilt sind: (i) selbständige Existenz oder Subjekt für alles andere, aber nicht selbst Prädikat zu sein (individuelles Wesen = erste Substanz); (ii) Definitionsgegenstand zu sein, Erkennbarkeit zu garantieren, das heißt auf die Frage ‚Was ist X?‘ zu antworten (allgemeines Wesen = zweite Substanz).Das Kriterium (ii) wird genauer erfüllt, indem Aristoteles das Wesen als Substanz-X bestimmt. Mit Wesen meint er dabei, was ontologisch einer Definition entspricht (Met. VII 4; 5, 1031a12; VIII 1, 1042a17). Das Wesen beschreibt die notwendigen Eigenschaften, ohne die ein Einzelding aufhören würde, ein und dieselbe Sache zu sein. Fragt man: Was ist die Ursache dafür, dass diese Materieportion Sokrates ist?, so ist Aristoteles’ Antwort: Das Wesen von Sokrates, welches weder ein weiterer Bestandteil neben den materiellen Bestandteilen ist (dann bedürfte es eines weiteren Strukturprinzips, um zu erklären, wie es mit den materiellen Bestandteilen vereint ist) noch etwas aus materiellen Bestandteilen (dann müsste man erklären, wie das Wesen selbst zusammengesetzt ist). Aristoteles ermittelt die Form (eidos) eines Einzeldings als sein Wesen und somit als Substanz-X. Mit Form meint er weniger die äußere Gestalt als vielmehr die Struktur: Die Form wohnt dem Einzelding inne, bewirkt bei Lebewesen die Entstehung eines Exemplars derselben Art (Met. VII 8, 1033b30–2) bei Artefakten (z. B. Haus) als formale Ursache (Bauplan) (Met. VII 9, 1034a24) im Geist des Produzenten (Met. VII 7, 1032b23) (Architekt) die Entstehung des Einzeldings. geht der Entstehung eines aus Form und Materie zusammengesetzten Einzeldings voraus und entsteht und verändert sich nicht und bewirkt so (bei natürlichen Arten) eine Kontinuität der Formen, die für Aristoteles ewig ist (Met. VII 8, 1033b18) ist Ursache, Erklärung der wesentlichen Eigenschaften und Fähigkeiten eines Einzeldings (Beispielsweise ist die Form eines Menschen die Seele (Met. VII 10, 1035b15), welche sich aus Fähigkeiten wie Nährvermögen, Wahrnehmungsvermögen, Denkvermögen unter anderem konstituiert (An. II 2, 413b11–13)).Dass die Form als Substanz-X auch das genannte Kriterium (ii), selbständig zu sein, erfüllen muss, und dies teilweise als Kriterium für etwas Individuelles aufgefasst wird, ist einer von vielen Aspekten in folgender zentralen interpretatorischen Kontroverse: Fasst Aristoteles die Form (A) als etwas Allgemeines oder (B) als etwas (dem jeweiligen Einzelding) Individuelles auf? Als Problem formuliert: Wie kann die Form, das eidos, zugleich Form eines Einzeldings und Gegenstand des Wissens sein? Für (A) spricht insbesondere, dass Aristoteles an mehreren Stellen davon ausgeht, dass die Substanz-X und somit die Form definierbar ist (Met. VII 13) und dies für ihn (wie für Platon) nur auf Allgemeines zutrifft (VII 11, 1036a; VII 15, 1039b31–1040a2). Für (B) hingegen spricht vor allem, dass Aristoteles kategorisch die unplatonische Position zu vertreten scheint: Kein Allgemeines kann Substanz-X sein (Met. VII 13). Nach (B) besitzen Sokrates und Kallias zwei auch qualitativ verschiedene Formen. Definierbar müssten dann zu separierende, überindividuelle Aspekte dieser beiden Formen sein. Die Interpretation (A) hingegen löst das Dilemma etwa, indem sie die Aussage Kein Allgemeines ist Substanz-X als Nichts allgemein Prädizierbares ist Substanz-X interpretiert und so entschärft. Die Form werde nicht auf herkömmliche Weise (wie die Art ‚Mensch‘ von ‚Sokrates‘ in den Kategorien) prädiziert und sei daher nicht im problematischen Sinne allgemein. Vielmehr werde die Form von der unbestimmten Materie in einer Weise ‚prädiziert‘, die einen Einzelgegenstand erst konstituiere. ===== Akt und Potenz ===== Die für die Ontologie wichtige Beziehung zwischen Form und Materie wird durch ein weiteres Begriffspaar genauer erläutert: Akt (energeia, entelecheia) und Potenz (dynamis). Für die Form-Materie-Unterscheidung ist die später ontologisch genannte Bedeutung von Potenz oder Vermögen wichtig. Potentialität ist hier ein Zustand, dem ein anderer Zustand – Aktualität – gegenübersteht, indem ein Gegenstand der Wirklichkeit nach F oder dem Vermögen, der Möglichkeit nach F ist. So ist ein Junge der Möglichkeit nach ein Mann, ein ungebildeter Mensch der Möglichkeit nach ein gebildeter (Met. IX 6). Dieses (hier diachron beschriebene) Verhältnis von Aktualität und Potentialität bildet die Grundlage für das (auch synchron zu verstehende) Verhältnis von Form und Materie, denn Form und Materie sind Aspekte eines Einzeldings, nicht dessen Teile. Sie sind im Verhältnis von Aktualität und Potentialität miteinander verbunden und konstituieren so (erst) das Einzelding. Die Materie eines Einzeldings ist demnach genau das potentiell, was die Form des Einzeldings und das Einzelding selbst aktual sind (Met. VIII 1, 1042a27 f.; VIII 6, 1045a23–33; b17–19). Zum einen ist zwar (diachron betrachtet) eine bestimmte Portion Bronze potentiell eine Kugel wie auch eine Statue. Zum anderen aber ist (synchron als konstituierender Aspekt) die Bronze an einer Statue potentiell genau das, was die Statue und deren Form aktual sind. Die Bronze der Statue ist ein Konstituens der Statue, ist aber nicht mit ihr identisch. Und so sind auch Fleisch und Knochen potentiell das, was Sokrates oder seine Form (die für einen Menschen typische Konfiguration und Fähigkeiten seiner materiellen Bestandteile,→ Psychologie) aktual sind. So wie die Form gegenüber der Materie ist für Aristoteles auch die Aktualität gegenüber der Potentialität primär (Met. IX 8, 1049b4–5). Unter anderem ist sie der Erkenntnis nach primär. Man kann nur dann ein Vermögen angeben, wenn man Bezug auf die Wirklichkeit nimmt, zu der es ein Vermögen ist. Das Sehvermögen etwa lässt sich nur bestimmen, indem man auf die Tätigkeit ‚Sehen‘ Bezug nimmt (Met. IX 8, 1049b12–17). Des Weiteren ist die Aktualität im entscheidenden Sinne auch zeitlich früher als die Potentialität, denn ein Mensch entsteht durch einen Menschen, der aktual Mensch ist (Met. IX 8, 1049b17–27). ==== Theologie ==== Aristoteles unterscheidet im Vorfeld seiner Theologie drei mögliche Substanzen: (i) sinnlich wahrnehmbare vergängliche, (ii) sinnlich wahrnehmbare ewige und (iii) nicht sinnlich wahrnehmbare ewige und unveränderliche (Met. XII 1, 1069a30–1069b2). (i) sind die konkreten Einzeldinge (der sublunaren Sphäre), (ii) die ewigen, bewegten Himmelskörper, (iii) erweist sich als der selbst unbewegte Ursprung aller Bewegung. Aristoteles argumentiert für einen göttlichen Beweger, indem er feststellt, dass, wenn alle Substanzen vergänglich wären, alles vergänglich sein müsste, die Zeit und die Veränderung selbst jedoch notwendig unvergänglich sind (Phys. VIII 1, 251a8–252b6; Met. XII 6, 1071b6–10). Aristoteles zufolge ist die einzige Veränderung, die ewig existieren kann, die Kreisbewegung (Phys. VIII 8–10; Met. XII 6,1071b11). Die entsprechende beobachtbare kreisförmige Bewegung der Fixsterne muss daher als Ursache eine ewige und immaterielle Substanz haben (Met. XII 8, 1073b17–32). Enthielte das Wesen dieser Substanz Potentialität, könnte die Bewegung unterbrochen werden. Daher muss sie reine Aktualität, Tätigkeit sein (Met. XII, 1071b12–22). Als letztes Prinzip muss dieser Beweger selbst unbewegt sein. Nach Aristoteles bewegt der unbewegte Beweger „wie ein Geliebtes“, nämlich als Ziel (Met. XII 7, 1072b3), denn das Begehrte, das Gedachte und insbesondere das Geliebte kann bewegen, ohne bewegt zu sein (Met. XII 7, 1072a26). Seine Tätigkeit ist die lustvollste und schönste. Da er immaterielle Vernunft (nous) ist und seine Tätigkeit im Denken des besten Gegenstandes besteht, denkt er sich selbst: das „Denken des Denkens“ (noêsis noêseôs) (Met. XII 9, 1074b34 f.). Da nur Lebendiges denken kann, muss er zudem lebendig sein. Den unbewegten Beweger identifiziert Aristoteles mit Gott (Met. XII 7, 1072b23 ff.). Der unbewegte Beweger bewegt die gesamte Natur. Die Fixsternsphäre bewegt sich, da sie mit der Kreisbewegung die Vollkommenheit nachahmt. Die anderen Himmelskörper werden vermittelt über die Fixsternsphäre bewegt. Die Lebewesen haben Anteil an der Ewigkeit, indem sie mittels der Fortpflanzung ewig bestehen (GA II 1, 731b31–732a1). === Biologie === Stellung der Biologie Nicht nur in der Philosophiegeschichte, sondern auch in der Geschichte der Naturwissenschaften nimmt Aristoteles einen bedeutenden Platz ein. Ein großer Teil seiner überlieferten Schriften ist naturwissenschaftlich, von denen die bei weitem bedeutendsten und umfangreichsten die biologischen Schriften sind, die fast ein Drittel des überlieferten Gesamtwerks umfassen. Vermutlich in Arbeitsteilung wurde die Botanik von seinem engsten Mitarbeiter Theophrast, die Medizin bzw. Geschichte der Medizin von seinem Schüler Menon bearbeitet. Aristoteles vergleicht das Studium unvergänglicher Substanzen (Gott und Himmelskörper) und vergänglicher Substanzen (der Lebewesen). Beide Forschungsgebiete haben ihren Reiz. Die unvergänglichen Substanzen, die höchsten Erkenntnisgegenstände zu untersuchen, bereiten zwar die größte Freude, aber das Wissen über Lebewesen ist leichter zu erlangen, da sie uns näher stehen. Er betont den Wert der Erforschung auch niederer Tiere und weist darauf hin, dass auch diese etwas Natürliches und Schönes zeigen, das sich nicht in ihren zerlegten Bestandteilen erschöpft, sondern erst durch die Tätigkeiten und das Zusammenwirken der Teile hervortritt (PA I 5, 645a21–645b1). Aristoteles als empirischer Forscher Aristoteles hat selbst empirische Forschung betrieben, jedoch vermutlich nicht Experimente im – erst in der neuzeitlichen Naturwissenschaft eingeführten – Sinne einer methodischen Versuchsanordnung angestellt. Sicher ist, dass er selbst Sezierungen vornahm. Einem Experiment am nächsten kommt die in festgelegten zeitlichen Abständen wiederholte Untersuchung von befruchteten Hühnereiern, mit dem Ziel zu beobachten, in welcher Reihenfolge die Organe entstehen (GA VI 3, 561a6–562a20). Experimente sind jedoch in seiner eigentlichen Domäne – der deskriptiven Zoologie – auch nicht das wesentliche Instrument der Forschung. Neben eigenen Beobachtungen und einigen wenigen Textquellen stützte er sich hier auch auf Informationen von einschlägig Berufstätigen wie Fischern, Bienenzüchtern, Jägern und Hirten. Er ließ die Inhalte seiner Textquellen teilweise empirisch überprüfen, übernahm aber auch unkritisch fremde Irrtümer. Ein verlorenes Werk bestand vermutlich großenteils aus Zeichnungen und Diagrammen von Tieren. ==== Methodologie der Biologie: Trennung von Fakten und Ursachen ==== Aufgrund des lange vorherrschenden Interpretationsmodells der Wissenschaftstheorie des Aristoteles und der Vernachlässigung der biologischen Schriften, ging man früher davon aus, dass er diese Theorie nicht auf die Biologie angewendet hat. Demgegenüber wird heute durchaus angenommen, dass seine Vorgehensweise in der Biologie von seiner Wissenschaftstheorie beeinflusst war, wenngleich Umfang und Grad umstritten sind. Faktensammlungen Von Aristoteles ist keine Beschreibung seines naturwissenschaftlichen Vorgehens überliefert. Erhalten sind neben der allgemeinen Wissenschaftstheorie nur Texte, die ein Endprodukt der wissenschaftlichen Forschung darstellen. Die biologischen Schriften sind in einer bestimmten Reihenfolge angeordnet, die der Vorgehensweise entspricht. Die erste Schrift (Historia animalium) beschreibt die verschiedenen Tierarten und ihre spezifischen Differenzen. Sie bietet die Sammlung des Faktenmaterials wie z. B., dass alle Lebewesen mit Lungen Luftröhren aufweisen. Dabei wird nicht erörtert, ob etwas notwendig oder unmöglich so sei. In der Faktensammlung ordnet Aristoteles die Lebewesen nach verschiedenen Einteilungsmerkmalen wie blutführend, lebendgebärend usw. Nach Merkmalen geordnet stellt er allgemeine Relationen zwischen verschiedenen Aspekten der Beschaffenheit fest. So bemerkt er beispielsweise: Alle Vierfüßler, die lebendgebärend sind, weisen Lungen und Luftröhren auf (HA II 15, 505b32 f.). Erst die an dieses Werk anschließenden und darauf aufbauenden Schriften De generatione animalium (Über die Entstehung der Tiere) und De partibus animalium (Über die Teile der Tiere) befassen sich mit den Ursachen, welche die Fakten erklären. Ursachenwissen Die Faktensammlung ist die Voraussetzung dafür, Wissen auf der Grundlage von Ursachenkenntnis zu erreichen. Zentral für die Biologie sind dabei finale Ursachen, die den Zweck der Bestandteile des Körpers angeben. Die Ursache für die Existenz einer Luftröhre bei allen Lebewesen, die eine Lunge besitzen, besteht für Aristoteles in der Funktionsweise der Lunge. Die Lunge kann – anders als der Magen – nicht unmittelbar an den Mund anschließen, da sie eines zweigeteilten Kanals bedarf, so dass Einatmen und Ausatmen auf optimale Weise möglich ist. Da dieser Kanal eine gewisse Länge aufweisen muss, haben alle Lebewesen mit Lunge einen Hals. Fische haben daher keinen Hals, weil sie keine Luftröhre benötigen, da sie mit Kiemen atmen (PA III 3, 664a14–34). Finale Ursachen in der Biologie Die Verwendung finaler Erklärungen in der Biologie (und auch anderen Forschungsgebieten des Aristoteles) ist insbesondere in der Frühen Neuzeit und bis ins 20. Jahrhundert vielfach kritisiert worden. Unter finalen Erklärungen oder Ursachen versteht Aristoteles hier allerdings in der Regel keine übergreifenden Zwecke, die etwa eine bestimmte Spezies hätte. Ihm geht es vielmehr um eine interne Funktionsbestimmung der Organismen und ihrer Teile. ==== Inhalte der Zoologie ==== Aristoteles hat über 500 Spezies untersucht. Seine Schriften behandeln systematisch die inneren und äußeren Teile der einzelnen Tiere, Bestandteile wie Blut und Knochen, Arten der Fortpflanzung, die Nahrung, den Lebensraum und das Verhalten. Er beschreibt das Verhalten von Haustieren, exotischen Raubtieren wie dem Krokodil, Vögeln, Insekten und Meerestieren. Zu diesem Zweck ordnet er die Lebewesen. Einteilung der Arten Aristoteles unterscheidet zwei Hauptgruppen von Lebewesen: blutführende und blutlose Tiere. Dies entspricht der Einteilung in Wirbeltiere und Wirbellose. Diese ordnet er nach größten Gattungen: Blutführende Tiere: lebendgebärende Vierfüßler eierlegende Vierfüßler Vögel Fische Cetaceen (Meeressäuger) eierlegende Fußlose (Schlangen) lebendgebärende Fußlose (Vipern) Mensch (bildet eine isolierte Gattung) Blutlose Tiere: Weichtiere Krustentiere Schalentiere KerbtiereVermutlich war es nicht Aristoteles’ Absicht, eine vollständige Taxonomie zu schaffen. Das System einer Taxonomie ist für ihn auch kein Hauptgegenstand. Ziel seiner Untersuchungen war eher eine Morphologie, eine Klassifikation der Lebewesen anhand charakteristischer Merkmale. So hat er die Gattungen zwischen den genannten sowie Untergattungen nicht terminologisch fixiert. Beispiel einer Beschreibung. Der Krake Aristoteles und die Erkenntnisse der modernen Biologie In vielen Fällen hat sich Aristoteles als Biologe geirrt. Einige seiner Irrtümer erscheinen reichlich kurios, wie die Beschreibung des Bisons, das sich „durch Ausschlagen und Ausstoßen seines Kots, welchen es bis siebeneinhalb Meter weit von sich schleudern kann, verteidigt“ (HA IX 45, 630b8 f.). Offenbar war seine Informationsquelle über dieses exotische Tier nicht sehr verlässlich. Weitere bekannte Irrtümer sind unter anderem die Behauptung, der Mann habe mehr Zähne als die Frau (HA II 3, 501b19), das Gehirn sei ein Kühlorgan und das Denken geschehe in der Herzgegend (PA II 7, 652b21–25; III 3, 514a16–22) sowie das Konzept der Telegonie, wonach eine vorangegangene Trächtigkeit den Phänotyp von Nachkommen aus späteren Trächtigkeiten beeinflussen könne. Aristoteles hat aber auch auf der Grundlage seiner Beobachtungen Einsichten gewonnen, die nicht nur zutreffen, sondern die erst in der Moderne wiederentdeckt oder bestätigt worden sind. Beispielsweise erwähnt er bei der Beschreibung des angeführten Kraken, dass die Paarung durch einen Fangarm des Männchens geschieht, der gegabelt ist – die sogenannte Hektokotylisation –, und beschreibt diesen Fortpflanzungsvorgang (HA V 5, 541b9–15; V 12, 544a12; GA V 15, 720b33). Dieses Phänomen war bis ins 19. Jahrhundert nur durch Aristoteles bekannt; die genaue Art der Fortpflanzung wurde erst 1959 vollständig verifiziert. Bedeutender noch ist seine Hypothese, nach der die Teile eines Organismus in einer hierarchischen Ordnung ausgebildet werden und nicht – wie die (bereits von Anaxagoras vertretene) Präformationslehre annimmt – vorgebildet sind (GA 734a28–35). Diese Auffassung von der embryonalen Entwicklung ist in der Neuzeit unter der von Aristoteles noch nicht verwendeten Bezeichnung Epigenesis bekannt geworden. Ihre empirische Grundlage waren für Aristoteles seine Sezierungen. In der Neuzeit war aber die Präformationslehre vom 17. bis in das 19. Jahrhundert hinein die allgemein akzeptierte Theorie, und Vertreter der Epigenesis wie William Harvey (1651) und Caspar Friedrich Wolff (1759) fanden mit ihren embryologischen Untersuchungen, die klar zeigten, dass die Embryonen sich aus ganz undifferenzierter Materie entwickeln, wenig Beachtung. Diese Einsicht setzte sich erst im frühen 19. Jahrhundert durch und verdrängte schließlich die präformistischen Spekulationen. Endgültig wurde erst im 20. Jahrhundert in der Experimentalbiologie durch Hans Driesch und Hans Spemann bestätigt, dass die embryonale Entwicklung eine Kette von Neubildungen, ein epigenetischer Prozess ist. Ferner gibt es eine Analogie zwischen der aristotelischen zielhaften Epigenesis und der Genetik. === Seelenlehre: Theorie des Lebendigseins === ==== Ausgangssituation ==== Lebewesen unterscheiden sich von anderen natürlichen und künstlichen Objekten dadurch, dass sie lebendig sind. Bei Homer ist die Seele (psychê) das, was einen Leichnam verlässt. Im Laufe des 6. und 5. Jahrhundert v. Chr. findet der Begriff zunehmend eine deutliche Ausweitung: beseelt (empsychos) zu sein bedeutet lebendig zu sein und das Konzept Seele weist nun auch kognitive und emotionale Aspekte auf. Aristoteles nimmt diesen Sprachgebrauch auf. In seiner Seelentheorie ist er mit zwei Positionen konfrontiert: zum einen mit dem Materialismus vorsokratischer Naturphilosophen (vor allem Demokrit und Empedokles), die behaupten, die Seele bestehe aus einer besonderen Art Materie, zum anderen mit der dualistischen Position Platons, für den die Seele unsterblich, immateriell und ihrer Natur nach eher etwas Intelligibles ist. Hinsichtlich der Streitfrage zwischen Materialismus und Dualismus, ob Körper und Seele miteinander identisch sind oder nicht, ist Aristoteles der Auffassung, dass die Frage falsch gestellt ist. Dies erläutert er mit einem Vergleich: Die Frage Sind Körper und Seele identisch? ist ebenso unsinnig wie die Frage Sind Wachs und seine Form identisch? (An. II 1, 412b6–9). Zustände der Seele sind zwar immer auch Zustände des Körpers, aber eine Identität von Körper und Seele verneint Aristoteles ebenso wie die Unsterblichkeit der Seele. ==== Bestimmung der Seele ==== Was die Seele ist, bestimmt Aristoteles mittels seiner Unterscheidung von Form und Materie. Die Seele verhält sich zum Körper wie die Form zur Materie, das heißt wie eine Statuenform zur Bronze. Form und Materie eines Einzeldings sind aber nicht zwei verschiedene Objekte, nicht dessen Teile, sondern Aspekte ebendieses Einzeldings. Die Seele definiert Aristoteles als „erste Wirklichkeit (entelecheia) eines natürlichen organischen Körpers“ (An. II 1, 412b5 f.). Eine Wirklichkeit oder Aktualität ist die Seele, weil sie als Form den Aspekt des Lebendigen an der potentiell belebten Materie (nämlich der organischen) darstellt. Eine erste Wirklichkeit ist sie, insofern das Lebewesen auch dann lebendig ist, wenn es nur schläft und keine weiteren Tätigkeiten ausübt (die ebenfalls Aspekte des Seelischen sind). (An. II 1, 412a19–27). ==== Fähigkeiten ==== Die weiteren seelischen Aspekte sind die Funktionen, die für ein Lebewesen charakteristisch sind, seine spezifischen Fähigkeiten oder Vermögen (dynamis). Aristoteles unterscheidet vor allem folgende Fähigkeiten: Ernährungs- und Fortpflanzungsvermögen (threptikon) Wahrnehmungsvermögen (aisthêtikon) Denkvermögen (dianoêtikon)Ernährungs- und Fortpflanzungsvermögen kommen – als grundlegendes Vermögen alles Lebendigen – auch den Pflanzen zu, Wahrnehmungsvermögen (und Fortbewegungsfähigkeit) weisen nur die Tiere (einschließlich des Menschen) auf. Das Denken besitzt allein der Mensch. ==== Wahrnehmungsvermögen ==== Aristoteles unterscheidet folgende fünf Sinne und behauptet, dass es nicht mehr geben kann: Tastsinn Geschmackssinn Riechen Hören SehenWahrnehmung (aisthesis) fasst Aristoteles allgemein als ein Erleiden oder eine qualitative Veränderung (An. II 5, 416b33 f.). Das, was die Sinne wahrnehmen, ist dabei jeweils durch ein kontinuierliches Gegensatzpaar bestimmt: Sehen durch hell und dunkel, Hören durch hoch und tief, Riechen und Schmecken durch bitter und süß; Tasten weist verschiedene Gegensatzpaare auf: hart und weich, heiß und kalt, feucht und trocken. Aristoteles behauptet, dass beim Wahrnehmungsvorgang das jeweilige Organ wie das Wahrgenommene wird (An. 418a3–6). Des Weiteren sagt er, dass das Organ die Form „ohne die Materie“ aufnimmt, so „wie das Wachs das Siegel des Ringes ohne Eisen und ohne Gold aufnimmt“ (An. II 12, 424a18 f.). Dies ist von manchen Kommentatoren, darunter Thomas von Aquin, so interpretiert worden, dass das Organ keine natürliche Veränderung (mutatio naturalis), sondern eine geistige (mutatio spiritualis) erfahre. Andere Interpreten meinen, dass „ohne Materie“ schlicht bedeutet, dass zwar keine Partikel in das Organ gelangen, dieses sich aber tatsächlich dem Wahrnehmungsobjekt entsprechend verändert. Den Tastsinn besitzen alle Lebewesen, welche Wahrnehmung besitzen. Der Tastsinn ist ein Kontaktsinn, das heißt zwischen Wahrnehmungsorgan und Wahrgenommenem befindet sich kein Medium (An. II 11, 423a13 f.). Der Geschmacksinn ist eine Art Tastsinn (An. II 10, 422a8 f.). Die drei Distanzsinne Riechen, Hören und Sehen hingegen benötigen ein Medium, das den Eindruck vom Wahrgenommenen zum Organ transportiert. ==== Vernunft ==== Die Vernunft oder das Denkvermögen (nous) ist spezifisch für den Menschen. Aristoteles definiert sie als „das, womit die Seele denkt und Annahmen macht“ (An. III 4, 429a22 f.). Die Vernunft ist unkörperlich, da sie anderenfalls in ihren möglichen Denkgegenständen eingeschränkt wäre, was aber nicht der Fall sein darf (An. III 4, 429a17–22). Allerdings ist sie körpergebunden, da sie auf Vorstellungen (phantasmata) angewiesen ist. Vorstellungen bilden das Material der Denkakte, sie sind konservierte Sinneswahrnehmungen. Das entsprechende Vorstellungsvermögen (phantasia; weder interpretierend noch produktiv im Sinne von Phantasie) ist auf Sinneseindrücke angewiesen, wenngleich Sinneseindruck und Vorstellung qualitativ mitunter stark voneinander abweichen können, etwa bei Halluzinationen. Das Vorstellungsvermögen ist den Wahrnehmungsvermögen zugeordnet (An. III 8, 428b10–18). Insofern die Vernunft also in ihrer Tätigkeit an Vorstellungen gebunden ist, ist sie auch an einen Körper gebunden. === Ethik === Glück (eudaimonia) und Tugend oder Bestzustand (aretê) sind die in Aristoteles’ Ethik zentralen Begriffe. Aristoteles vertritt die These, dass das Ziel aller absichtlichen Handlungen das im „guten Leben“ verwirklichte Glück ist. Die Ausbildung von Tugenden ist nach seiner Ansicht wesentlich dafür, dieses Ziel zu erreichen (→ Tugendethik). ==== Glück als das Ziel des guten Lebens ==== ===== Strebenshierarchie der Güter ===== In ihren (absichtlichen) Handlungen streben alle Menschen nach etwas, das ihnen gut erscheint. Einige dieser erstrebten Güter werden nur als Mittel erstrebt, um andere Güter zu erreichen, andere sind sowohl Mittel als auch selbst ein Gut. Da das Streben nicht unendlich sein kann, muss es ein oberstes Gut und letztes Strebensziel geben. Dieses wird nur um seiner selbst willen erstrebt. Es wird offenbar allgemein „Glück“ (eudaimonia) genannt (EN I 1). ===== Definition des Glücks als des obersten Guts ===== Um umrisshaft zu bestimmen, worin das Glück als oberstes Gut für den Menschen besteht, fragt Aristoteles: Worin besteht die spezifische Funktion (telos) oder Aufgabe (ergon) des Menschen? Sie besteht im Vermögen der Vernunft (logos), das ihn von anderen Lebewesen unterscheidet. Der für den Menschen spezifische Seelenteil verfügt über dieses Vermögen der Vernunft; der andere Seelenteil, der sich aus Emotionen und Begierden zusammensetzt, ist zwar selbst nicht vernünftig, kann sich aber durch die Vernunft leiten lassen. Um das Glück zu erlangen, muss das Individuum das Vermögen Vernunft gebrauchen, nicht bloß besitzen, und zwar auf Dauer und in einem Bestzustand (aretê). Demgemäß ist „das Gut für den Menschen“, das Glück, eine ==== Tugenden ==== Um den Zustand der Vortrefflichkeit zu erreichen, muss man den beiden Seelenteilen entsprechend (a) Verstandestugenden und (b) Charaktertugenden ausbilden. Tugenden sind für Aristoteles Haltungen, zu denen jeder Mensch die Anlage besitzt, die sich jedoch durch Erziehung und Gewöhnung erst ausbilden müssen. ===== Verstandestugenden ===== Unter den Verstandestugenden beziehen sich einige auf das Wissen von Unveränderlichem oder die Herstellung von Gegenständen. Allein die Klugheit (phronêsis) ist mit dem Handeln verknüpft, und zwar als Tugend mit dem Ziel eines guten Lebens. Sie ist – neben den Charaktertugenden – notwendig, um in konkreten Entscheidungssituationen im Hinblick auf das gute Leben handeln zu können. Im Bereich menschlicher Handlungen gibt es – anders als in den Wissenschaften – keine Beweise, und um klug zu sein, bedarf es dabei auch der Erfahrung. Die Funktion der Klugheit besteht darin, die Mitte (mesotês) zu wählen. ===== Charaktertugenden ===== Charaktertugenden sind Haltungen (hexeis), für die kennzeichnend ist, dass man sie loben und tadeln kann. Sie werden durch Erziehung und Gewöhnung ausgeprägt, wobei dies nicht als eine Konditionierung zu verstehen ist. Zwar hängt von Kindheit an sehr viel von der Gewöhnung ab (EN II 1, 1103b24), Charaktertugenden liegen jedoch erst vor, wenn jemand sich wissentlich für die entsprechenden Handlungen entscheidet, und zwar nicht wegen möglicher Sanktionen, sondern um der tugendhaften Handlungen selbst willen, und wenn er dabei auch nicht ins Wanken gerät (EN II 3, 1105a26–33). Auch unterscheidet sich der Tugendhafte vom Selbstbeherrschten (der dieselben Handlungen ausführen mag, sich aber dazu zwingen muss) dadurch, dass er an der Tugend Freude empfindet (EN II 2, 1104b3 ff.). Durch Gewöhnung ausgeprägt werden die Charaktertugenden, indem Übermaß und Mangel vermieden werden. Das Instrument der Mitte bestimmt die Charaktertugenden genauer. So ist beispielsweise die Tugend der Tapferkeit eine Mitte zwischen den Lastern Tollkühnheit und Feigheit. Grundlage für die Tugenden sind dabei sowohl die Handlungen als auch die Emotionen und Begierden. Nicht tapfer, sondern tollkühn ist jemand, der entweder in einer bestimmten Situation völlig furchtlos ist, obwohl die Situation bedrohlich ist, oder der in einer ernsten Bedrohungssituation seine Furcht ignoriert. Die Mitte besteht also – hier wie bei den anderen Charaktertugenden – darin, angemessene Emotionen zu haben und demgemäß angemessen zu handeln. Dabei ist diese Lehre von der Mitte vermutlich nicht in konkreten Situationen als normativ handlungsleitend, sondern nur als Beschreibungsinstrument der Charaktertugenden aufzufassen. Sie ist auch keine arithmetische Mitte, sondern eine Mitte für uns (pros hêmas), die die jeweilige Emotion, die Person sowie die Situation berücksichtigt. Diese Tabelle zeigt einige wichtige Charaktertugenden (EN II 7): Aristoteles definiert die Charaktertugend dementsprechend als ==== Lebensformen und Lust ==== Im Kontext der Analyse des guten Lebens unterscheidet Aristoteles drei Lebensformen, die verschiedene Ziele verfolgen: das Genussleben – mit dem Ziel Lust; das politische Leben – mit dem Ziel Ehre; das theoretische Leben – mit dem Ziel Erkenntnis (EN I 3).Das Genussleben im Sinne einer bloßen Befriedigung der Begierden hält Aristoteles für sklavisch und verwirft es. Gelderwerb und Reichtum als Ziel hält er nicht für eine Lebensform, da Geld immer nur Mittel zu einem Zweck, aber nie selbst Ziel ist. Er plädiert für das theoretische Leben als beste Lebensform. Die beste Tätigkeit, die in der Glücksdefinition gesucht wird, ist diejenige des Theoretikers, der auf Gebieten wie Philosophie, Mathematik usw. forscht und neue Erkenntnisse gewinnt, denn sie bedeutet Muße, dient keinem anderen Zweck, betätigt mit den Verstandestugenden das Beste im Menschen und weist die besten Erkenntnisgegenstände auf (EN X 7, 1177a18–35). Obwohl er das theoretische Leben für das bestmögliche hält, weist er darauf hin, dass die Betrachtung als Lebensform den Menschen als Menschen übersteigt und eher etwas Göttliches ist (EN X 7, 1177b26–31). Das zweitbeste Leben ist das politische. Es besteht in der Betätigung der Charaktertugenden, die den Umgang mit anderen Menschen sowie mit unseren Emotionen bestimmen. Da Charaktertugenden und Verstandestugenden einander nicht ausschließen, meint Aristoteles möglicherweise, dass selbst der Theoretiker, insofern er ein soziales und mit Emotionen ausgestattetes Wesen ist, sich im Sinne des zweitbesten Lebens betätigen muss. Aristoteles fasst die Betätigung der Verstandestugenden (zumindest der Klugheit) und der Charaktertugenden als wesentliche Elemente des Glücks auf. Aber auch äußere oder körperliche Güter und auch die Lust hält er für Bedingungen, die hilfreich oder sogar notwendig sind, um glücklich zu werden. Güter wie Reichtum, Freunde und Macht verwenden wir als Mittel. Fehlen einige Güter, wird das Glück getrübt, wie bei körperlicher Verunstaltung, Einsamkeit oder missratenen Kindern (EN I 9, 1099a31–1099b6). Aristoteles meint, das Genussleben führe nicht zum Glück. Er hält die Lust nicht für das oberste Gut. Gegenüber lustfeindlichen Positionen macht er jedoch geltend, dass das gute Leben Lust einschließen müsse und bezeichnet die Lust als ein Gut (EN VII 14). Auch meint er, man könne einen Tugendhaften, der „auf das Rad geflochten“ sei, nicht als glücklich bezeichnen (EN VII 14, 1153b18–20). Gegen Platons Auffassung, Lüste seien Prozesse (kinêsis), die einen Mangel beseitigen (wie Lust beim Durstlöschen), und somit sei das Vollenden des Prozesses besser als dieser selbst, argumentiert Aristoteles dafür, dass Lüste Tätigkeiten (energeia) sind, die kein Ziel außer sich aufweisen. Paradigmatische Fälle sind Wahrnehmen und Denken. Mit diesem Lustkonzept, das Lust als „unbehinderte Tätigkeit“ oder „Vervollkommnung der Tätigkeit“ definiert (EN VII 13, 1153a14 f.; X 4, 1174b33), macht er geltend, dass die Betätigung der Verstandestugenden und der Charaktertugenden lustvoll sein kann. Ob Lüste gut oder schlecht sind, hängt davon ab, ob die entsprechenden Tätigkeiten gut oder schlecht sind. Bei körperlichen Lüsten ist Letzteres etwa der Fall, wenn sie im Übermaß auftreten oder wenn sie gute Handlungen verhindern und so dem Glück abträglich sind. === Politische Philosophie === Die politische Philosophie des Aristoteles schließt an seine Ethik an. Als umfassende Form aller Gemeinschaften besteht der Staat (polis) um des höchsten Gutes willen, des Glücks (EN I 1, 1094a26–b11; Pol. I 1, 1252a1–7). Die politische Philosophie fragt also nach den Bedingungen des Glücks hinsichtlich des Lebens im Staat. Hierfür analysiert er die Bestandteile jeder menschlichen Gemeinschaft und jedes Staates und untersucht, welche Verfassung (politeia) die beste ist und für welche besonderen Bedingungen welche Verfassung die richtige ist. ==== Entstehung, Bestandteile und Zweck des Staates ==== Aus der Sicht von Aristoteles besteht der Staat von Natur aus, weil der einzelne Mensch nicht für sich allein zu existieren vermag. Betrachtet man die aus den einzelnen Haushalten sich zusammensetzenden Teile des Staates, so liegen zunächst zwei grundlegende Beziehungen vor: die zwischen Mann und Frau, deren Zweck die Fortpflanzung ist, und die von Herr und Sklave, die dem Lebensunterhalt und der Besitzmehrung dient. (Pol. I 2, 1253b, 1253a und 1253b) Aristoteles rechtfertigt die Sklaverei, indem er sie als dem Prinzip von Herrschaft und Unterordnung entsprechend auffasst. Er vertritt die These, dass es Sklaven gibt, die von Natur aus zu nichts anderem bestimmt sind als zum Sklavendasein. Das begründet er damit, dass solche „Sklaven von Natur“ nur in geringem Maße Anteil an der Vernunft hätten; daher sei es nicht nur gerechtfertigt, sondern sogar für sie selbst vorteilhaft, dass sie ihr Leben als Sklaven verbringen müssen (Pol. I 5, 1254b20–23; 1255a1 f.). Allerdings ist sein Konzept unklar und widersprüchlich, da er die Freilassung von Sklaven grundsätzlich billigt und für die Unterscheidung zwischen akzidentellen Sklaven (etwa durch Kriegsgefangenschaft) und Sklaven von Natur keine klaren Kriterien nennt. Sein Rat, Sklaven als Lohn die Freiheit zu versprechen (Pol. VII 10, 1330a20 f.), widerspricht der Vorstellung eines „Sklaven von Natur“. Entsprechend argumentiert er auch für eine Unterordnung der Frau (Pol. VII 10, 1330a20 f.). Es sei für sie besser, vom Mann beherrscht zu werden, da ihre Urteilskraft schwächer sei als die männliche (Pol. I 5, 1254b10–15; I 13, 1259a12). Mehrere Haushalte ergeben ein Dorf, in dem Arbeitsteilung bessere Versorgung ermöglicht, und mehrere Dörfer einen Staat. Dieser ist autark in dem Sinne, dass er die Bedingungen für ein gutes Leben bereitstellen kann. Aristoteles unterscheidet den Grund der Entstehung des Staates von seinem Zweck. Der Staat entsteht zum Zweck des Überlebens, des Lebens an sich, sein Zweck aber ist das gute Leben: εὖ ζῆν = eu zēn = gut leben (Pol. I 2, 1252a25–1253a1). Nach Aristoteles gehört es zur Natur des Menschen, in Gemeinschaft zu leben, denn er ist ein „zôon politikon“, ein Lebewesen in der Polisgemeinschaft (Pol. I 2, 1253a3). Nur im Staat kann der Mensch das gute Leben verwirklichen. Wer des Staates nicht bedürfe, sei „entweder ein Tier oder ein Gott“ (Pol. I 2, 1253a29). ==== Bürger und Verfassung eines Staates ==== Eine Polis (ein Staat) besteht aus den freien Bürgern. Der Zweck des Staates ist immer das gute Leben. Militär- oder Handelsbündnisse, also Verträge, machen noch keinen Staat aus. Kennzeichnendes Merkmal eines bestimmten Staates ist seine Verfassung. Der Bürger Bürger sind die mit dem Bürgerrecht ausgestatteten Einwohner, die sich aktiv am politischen Geschehen (am Richten und Regieren) beteiligen (Pol. III 1, 1275a22). Den Bürger bestimmt Aristoteles also primär nicht über die Herkunft oder den Wohnort, sondern über die Partizipation an den politischen Institutionen des Staates. Entsprechend den damaligen Verhältnissen in Athen betrachtet Aristoteles Frauen, Kinder, Sklaven und Fremde nicht als Bürger. Ein Bürger darf auch nicht für seinen Lebensunterhalt arbeiten müssen. Lohnarbeiter und Handwerker können somit keine Bürger sein (Pol. III 5, 1278a11). Die jeweilige Verfassung eines Staates bestimmt genauer, wer Bürger ist und wer nicht. Theorie der Verfassungen In seiner Unterscheidung der verschiedenen Verfassungen stellt Aristoteles zwei Fragen: Wer herrscht? Zu wessen Nutzen wird geherrscht?Bei der ersten Frage unterscheidet er drei mögliche Antworten: einer, wenige, viele. Bei der zweiten Frage unterscheidet er zwei mögliche Zustände und Nutznießer: die Verfassung ist gerecht, wenn zum Nutzen aller regiert wird; sie ist ungerecht oder verfehlt, wenn allein zum Nutzen der Herrschenden regiert wird (Pol. III 6, 1279a17–21). Auf dieser Grundlage entwirft er eine erste Staatsformenlehre mit sechs Verfassungen (Pol, III 6–8): Die verschiedenen Verfassungen wenden auf unterschiedliche Weise die distributive Gerechtigkeit an (Pol. III 9, 1280a7–22). Distributive Gerechtigkeit bestimmt er als die Verteilung proportional zur Leistung oder Würde (EN V 6). Kritik an schlechten Verfassungen Unter den schlechten, nicht am Gemeinwohl orientierten Verfassungen hält er die Tyrannis für die schlechteste, denn in ihr herrscht der Tyrann über den Staat im Sinne einer despotischen Alleinherrschaft wie der Herr über den Sklaven (Pol. III 8, 1279b16). Für etwas weniger schlecht erachtet er die durch die Herrschaft der Reichen gekennzeichnete Oligarchie, die ebenso wie die Tyrannis sehr instabil ist (Pol. V 12). Für den Grundirrtum der Oligarchie hält Aristoteles die Auffassung, dass die, die in einer Hinsicht (Besitz) ungleich sind, in allen Hinsichten ungleich seien. Entsprechend besteht der Grundirrtum der Demokratie in der Ansicht, dass die, die in einigen Hinsichten gleich sind, dies in allen seien (Pol. V 1, 1301a25–36). Die Demokratie hält Aristoteles für weniger schlecht als die Tyrannis und Oligarchie. Sie ist neben Gleichheit durch Freiheit gekennzeichnet. Freiheit bedeutet dabei, so zu leben wie man will, Gleichheit, dass das Regieren und Regiertwerden reihum geht (1317b2–12). Die absolute Freiheit, so zu leben wie man will, hält Aristoteles insofern für problematisch, als sie mit der Herrschaft der Verfassung in Konflikt steht (Pol. V 9, 1310a30–35). Gleichheit kritisiert er, wenn sie als totale arithmetische interpretiert wird, die dazu führe, dass die Herrschaft der Unvermögenden die Besitzenden enteignet. Dafür, dass Aristoteles die Beteiligung des „einfachen Volkes“ an der Herrschaft durchaus nicht rundweg abgelehnt hat, spricht ferner seine so genannte „Summierungsthese“ (Pol. III 11, 1281 a38–b9) und eine differenzierte Untersuchung der Formen der Volksherrschaft im Rahmen seiner zweiten Staatsformenlehre. Gute Verfassungen Unter den guten Verfassungen ist die Monarchie (unter der Aristoteles nicht zwingend ein Königtum, sondern nur eine dem Gemeinwohl dienende Alleinherrschaft versteht) am wenigsten gut. Insofern sie nicht gesetzgebunden ist, ist sie eine bloße Herrschaftsform, teilweise kaum eine Verfassung, und insofern problematisch, als nur das Gesetz unbeeinflusst von Emotionen herrschen kann. Unter einer Aristokratie versteht er eine Herrschaft der Guten, das heißt derjenigen, die am meisten Anteil an der Tugend (aretê) haben, was nicht unbedingt Herrschaft eines Geburtsadels bedeuten muss. Da das Ziel des Staates, das gute Leben, in einer Aristokratie im höchsten Maße verwirklicht wird, hält Aristoteles sie (neben einer bestimmten Form der Monarchie, nämlich der Königsherrschaft) für die beste Verfassung (Pol. IV 2, 1289a30–32). Aristoteles diskutiert Verfassungstheorie allerdings nicht ohne Realitätsbezug. Oft ist aus seiner Sicht eine absolut beste Verfassung in einem bestimmten Staat nicht möglich. Was am besten für einen konkreten Staat ist, muss immer relativ zu den Umständen bestimmt werden (Pol. IV 1, 1288b21–33). Solche Überlegungen durchziehen die ganze Verfassungstheorie. Sie zeigen sich insbesondere im Modell der Politie, die Aristoteles als die bestmögliche für die meisten zeitgenössischen Staaten ansieht (Pol. IV 11, 1295a25). Sie ist eine Mischverfassung, die Elemente der Demokratie und der Oligarchie enthält. Dabei wird für die Bestrebungen nach Gleichheit auf der einen und nach Reichtum auf der anderen Seite ein Ausgleich geschaffen. Dieser Ausgleich wird unter anderem durch Ämterzuteilung nach Klassenzugehörigkeit erreicht (Pol. V 8, 1308b26). Auf diese Weise wird nach seiner Auffassung die Stabilität erhöht und sozialen Unruhen vorgebeugt (die in griechischen Staaten häufig waren). Besondere Stabilität verleiht dem Staat ein breiter Mittelstand (Pol. IV 11, 1295b25–38). === Poetik === ==== Theorie der Dichtung ==== Mimêsis Der zentrale Begriff der aristotelischen Theorie der Dichtung, die er in seiner zu Lebzeiten nicht veröffentlichten Poetik (poiêtikê) ausarbeitet, ist die mimêsis, das heißt die „Nachahmung“ oder „Darstellung“. Neben der Dichtung im engeren Sinne (Epik, Tragödie, Komödie und Dithyrambendichtung) zählen auch Teile der Musik und der Tanz für Aristoteles zu den mimetischen Künsten (Poet. 1, 1447a). Abbildende Künste wie Malerei und Plastik behandelt Aristoteles nicht weiter, sondern erwähnt nur, dass sie ebenfalls nach dem Prinzip der Nachahmung arbeiten (Poet. 1, 1447a19 f.). Gemeinsam ist allen mimetischen Künsten die zeitliche Sukzession. Insofern lässt sich mimêsis als ästhetisches Handeln auffassen. In der Lust an der mimêsis sieht Aristoteles eine anthropologische, allen Menschen gemeinsame Grundgegebenheit. Denn die Freude an ihr sowie an ihren Produkten ist den Menschen angeboren, da sie gerne lernen (Poet. 4, 1448b5-15). Im Gegensatz zu den anderen mimetischen Künsten ist für die Dichtung die Verwendung von Sprache spezifisch. Alle Dichtung ist zudem Darstellung von Handlungen; allerdings nicht von tatsächlich Geschehenem, sondern von dem, „was geschehen könnte, das heißt das nach den Regeln der Wahrscheinlichkeit oder Notwendigkeit Mögliche“ (Poet. 9, 1451a37 f.). Dargestellt werden Handlungen, die etwas über den Menschen im Allgemeinen aussagen, nicht über zufällige und beliebige Verhältnisse. Ziel ist nicht die Nachahmung von Menschen; nicht auf Figuren oder Charaktere, sondern auf Handlungen kommt es an; Erstere sind nur Mittel (Poet. 6, 1450a26–23). Arten der Dichtung Aristoteles klassifiziert vier Formen der existierenden Dichtung nach zwei Kriterien: (i) der Art der Darstellung von Handlung und (ii) der Art der dargestellten Figuren. Dramatische Darstellung ist dadurch gekennzeichnet, dass die jeweilige Figur selbst die Handlung darstellt, berichtende dadurch, dass über die Handlung berichtet wird. Mit „besser“ und „schlechter“ sind die Figuren und ihre Handlungen gemeint. Bessere Figuren oder Charaktere sind etwas besser als wir selbst, schlechtere schlechter; beides aber nie so weit, dass wir uns nicht mehr mit ihnen identifizieren können (Poet. 5, 1449a31–1449b13). Aristoteles vertritt dabei die Hypothese, dass die Tragödie aus dem Epos und die Komödie aus dem Spottlied entstanden ist (Poet. 4, 1449a2–7). Eine Untersuchung der Komödie kündigt Aristoteles an. Sie ist aber – wie auch eine des Spottliedes – nicht überliefert. Das Epos behandelt er recht kurz. Seine überlieferte Dichtungstheorie ist daher primär eine Tragödientheorie. Tragödie Aristoteles definiert die Tragödie als eine Dieser kurze Satz ist eine der meistdiskutierten Passagen im gesamten Werk des Aristoteles. (3) nennt das dramatisch-darstellende Element. (1) nennt (neben oben schon genannten Aspekten) die (später sogenannte) Einheit der Handlung. Die Einheit des Ortes und der Zeit wurde in der Renaissance der aristotelischen Tragödientheorie zugeschrieben, er vertrat sie aber selbst so nicht. (2) bezieht sich darauf, dass die Sprache der Tragödie Melodie und Rhythmus aufweist. Die weitaus meiste Aufmerksamkeit hat (4) erhalten, insbesondere (4b). Emotionserregung und Katharsis In (4) beschreibt Aristoteles die Funktion der Tragödie, das was sie leisten soll. Weitgehend unumstritten ist nur (4a): Beim Zuschauer sollen durch die dargestellte Handlung die Emotionen Mitleid und Furcht erregt werden. Unklar ist allerdings, ob eleos und phobos tatsächlich mit „Mitleid“ und „Furcht“ oder mit „Elementareffekten“ „Jammer“ und „Schauder“ wiederzugeben sind. Dass die Handlung selbst und nicht die Aufführung die entscheidende Rolle bei der Emotionserregung spielt, ist daraus ersichtlich, dass Aristoteles auch die gelesene Tragödie durch seine Theorie berücksichtigt sieht. Mitleid wird erregt, wenn die Protagonisten unverdient Unglück erleiden, Furcht, wenn sie dabei dem Zuschauer (oder Leser) ähnlich sind. (4b) ist höchst kontrovers, da die Funktionsweise nicht weiter erläutert ist. Das Wort Katharsis, das als Metapher (wie „Reinigung“ im Deutschen) einen Sinnüberschuss aufweist, hat zu den verschiedensten Deutungen Anlass gegeben, insbesondere weil es schon vor Aristoteles verwendet wurde, nämlich unter anderem in der Medizin (Reinigung durch Brech- und Abführmittel) und in religiösen Kulten (Reinigung von unreinen Personen durch religiöse Praktiken). Die grammatikalische Konstruktion Reinigung der Emotionen lässt dabei verschiedene Deutungen zu, worin die Reinigung besteht. Vermutlich sollen die Emotionen selbst (durch eine Emotionserregung) gereinigt werden; die Aussage ist aber auch als Reinigung von den Emotionen verstanden worden. Der normativ-deskriptive Charakter der Tragödientheorie Aristoteles’ Tragödientheorie weist zwei Typen von Aussagen auf. Zum einen untersucht er die Grundlagen der Dichtung, unterscheidet verschiedene Arten von ihr und nennt Teile einer Tragödie und deren Funktionsweise. Zum anderen spricht er aber auch davon, was eine gute Tragödie ist und was der Dichter entsprechend machen soll. So äußert er etwa, dass in einer guten Tragödie ein Protagonist weder aufgrund seines guten noch seines schlechten Charakters vom Glück ins Unglück gerät, sondern aufgrund eines Fehlers (Hamartie), beispielsweise wie Ödipus aufgrund von Unwissenheit. Nur eine schlechte Tragödie würde zeigen, wie ein guter Charakter vom Glück ins Unglück oder ein schlechter vom Unglück ins Glück gerät. Der Grund hierfür ist die Funktion der Tragödie, das Bewirken von Mitleid und Furcht. In schlechten Tragödien würden Mitleid und Furcht nicht erregt werden, in guten ist dies aufgrund der Beschaffenheit des Protagonisten und des Fehlers als Ursache des Unglücks der Fall (Poet. 13, 1452b28–1453a12). ==== Hymnos ==== Von Aristoteles ist zudem ein Hymnos an Aretê überliefert, den er in Erinnerung an seinen Freund Hermias verfasst hat. == Rezeption == === Antike === Die Lehre des Aristoteles hat auf seine Schule, den Peripatos, nach seinem Tode weit weniger Einfluss ausgeübt als Platons Lehre auf dessen Akademie. Aristoteles wurde keine Verehrung zuteil, die mit derjenigen Platons bei den Platonikern vergleichbar wäre. Dies bedeutete einerseits Offenheit und Flexibilität, andererseits Mangel an inhaltlich begründetem Zusammenhalt. Die Peripatetiker widmeten sich vor allem empirischer Naturforschung, aber unter anderem auch der Ethik, Seelenlehre und Staatstheorie. Dabei kamen Aristoteles’ Schüler Theophrastos, sein Nachfolger als Leiter der Schule, und dessen Nachfolger Straton zu teilweise anderen Ergebnissen als der Schulgründer. Nach Stratons Tod (270/268 v. Chr.) begann eine Periode des Niedergangs. Das Studium und die Kommentierung der Schriften des Aristoteles wurde damals im Peripatos anscheinend vernachlässigt, jedenfalls weit weniger eifrig betrieben als das Platonstudium in der konkurrierenden Akademie. Erst im ersten Jahrhundert v. Chr. sorgte Andronikos von Rhodos für eine Zusammenstellung der Lehrschriften (Pragmatien) des Aristoteles, und auch bei deren Auslegung durch die Peripatetiker kam es zu einem Aufschwung. Die für die Öffentlichkeit bestimmten „exoterischen“ Schriften, insbesondere die Dialoge, waren lange populär, gingen aber in der römischen Kaiserzeit verloren. Cicero hat sie noch gekannt. Die Peripatetiker betrachteten die Lehrschriften als speziell für ihren internen Unterrichtsgebrauch bestimmt. In der römischen Kaiserzeit war der einflussreichste Repräsentant des Aristotelismus Alexander von Aphrodisias, der gegen die Platoniker die Sterblichkeit der Seele vertrat. Obwohl Aristoteles großen Wert auf die Widerlegung von Kernbestandteilen des Platonismus gelegt hatte, waren es gerade die Neuplatoniker, die in der Spätantike einen maßgeblichen Beitrag zur Erhaltung und Verbreitung seiner Hinterlassenschaft leisteten, indem sie seine Logik übernahmen, kommentierten und in ihr System integrierten. Eine besonders wichtige Rolle spielten dabei im 3. Jahrhundert n. Chr. Porphyrios, im 5. Jahrhundert Proklos, Ammonios Hermeiou (der in Alexandria die Tradition der Aristoteles-Kommentierung begründete) und im 6. Jahrhundert Simplikios, der bedeutende Aristoteleskommentare verfasste. Im 4. Jahrhundert schrieb Themistios Paraphrasen zu Werken des Aristoteles, die eine starke Nachwirkung erzielten. Er war unter den spätantiken Kommentatoren der einzige (wenn auch neuplatonisch beeinflusste) Aristoteliker; die anderen befassten sich mit dem Aristotelismus aus neuplatonischer Perspektive und strebten eine Synthese platonischer und aristotelischer Auffassungen an, wobei oft ein Übergewicht der platonischen erkennbar ist. Noch zu Beginn des 7. Jahrhunderts kommentierte der angesehene, in Konstantinopel lehrende christliche Philosoph Stephanos von Alexandria Werke des Aristoteles. Bei den prominenten antiken Kirchenvätern war Aristoteles wenig bekannt und unbeliebt, manche verachteten und verspotteten seine Dialektik. Sie verübelten ihm, dass er das Universum für ungeschaffen und unvergänglich hielt und die Unsterblichkeit der Seele bezweifelte (oder nach ihrem Verständnis bestritt). Ein positiveres Verhältnis zu Aristoteles hatten hingegen manche christliche Gnostiker und andere häretische Christen: Arianer (Aëtios von Antiochia, Eunomius), Monophysiten, Pelagianer und Nestorianer – ein Umstand, der den Philosophen für die kirchlichen Autoren erst recht suspekt machte. Syrer – monophysitische wie nestorianische – übersetzten das Organon in ihre Sprache und setzten sich intensiv damit auseinander. Im 6. Jahrhundert schrieb Johannes Philoponos Aristoteles-Kommentare, übte aber auch scharfe Kritik an der aristotelischen Kosmologie und Physik. Er war mit seiner Impetustheorie ein Vorläufer spätmittelalterlicher und frühneuzeitlicher Kritik an der aristotelischen Bewegungslehre. === Mittelalter === Im Byzantinischen Reich des Frühmittelalters wurde Aristoteles wenig beachtet. Sein Einfluss machte sich vorwiegend indirekt geltend, nämlich über die meist neuplatonisch gesinnten spätantiken Autoren, die Teile seiner Lehre übernommen hatten. Daher war Vermischung mit neuplatonischem Gedankengut von vornherein gegeben. Bei Johannes von Damaskus tritt die aristotelische Komponente deutlich hervor. Im 11. und 12. Jahrhundert kam es zu einer Wiederbelebung des Interesses an aristotelischer Philosophie: Michael Psellos, Johannes Italos und dessen Schüler Eustratios von Nikaia (beide wegen Häresie verurteilt) sowie der primär philologisch orientierte Michael von Ephesos schrieben Kommentare. Die Kaisertochter Anna Komnena förderte diese Bestrebungen. Im islamischen Raum dagegen setzte die Wirkung der Werke des Aristoteles früh ein und war breiter und tiefer als in der Spätantike und im europäischen Früh- und Hochmittelalter. Der Aristotelismus dominierte qualitativ und quantitativ gegenüber der übrigen antiken Tradition. Schon im 9. Jahrhundert waren die meisten Werke des Aristoteles, häufig durch vorangehende Übersetzung ins Syrische vermittelt (der erste syrische Aristoteleskommentator war Sergios von Resaina), in arabischer Sprache verfügbar, ebenso antike Kommentare. Hinzu kam ein reichhaltiges unechtes (pseudo-aristotelisches) Schrifttum teilweise neuplatonischen Inhalts, darunter Schriften wie die Theologie des Aristoteles und der Kalam fi mahd al-khair (Liber de causis). Die aristotelischen Ideen waren von Anfang an mit neuplatonischen vermischt, und man glaubte an eine Übereinstimmung der Lehren Platons und des Aristoteles. In diesem Sinne deuteten al-Kindī (9. Jahrhundert) und al-Fārābī (10. Jahrhundert) und die ihnen folgende spätere Tradition den Aristotelismus; bei ibn Sina (Avicenna) trat das neuplatonische Element stärker in den Vordergrund. Einen relativ reinen Aristotelismus vertrat hingegen im 12. Jahrhundert ibn Rušd (Averroes), der zahlreiche Kommentare schrieb und die aristotelische Philosophie gegen al-Ghazālī verteidigte. Muslimische Gelehrte des Mittelalters bezeichneten Aristoteles oft als den "Ersten Lehrer". Der Titel "Lehrer" wurde Aristoteles zuerst von muslimischen Gelehrten verliehen und später von westlichen Philosophen verwendet (wie in dem berühmten Gedicht von Dante), die von der Tradition der islamischen Philosophie beeinflusst waren.Im lateinischen Mittelalter war zunächst bis ins 12. Jahrhundert nur ein kleiner Teil des Gesamtwerks des Aristoteles verbreitet, nämlich zwei der logischen Schriften (Kategorien und De interpretatione), die Boethius im frühen 6. Jahrhundert übersetzt und kommentiert hatte, zusammen mit der Einleitung des Porphyrios zur Kategorienlehre. Dieses Schrifttum, später als Logica vetus bezeichnet, bildete die Grundlage des Logikunterrichts. Mit der großen Übersetzungsbewegung des 12. und 13. Jahrhunderts änderte sich diese enge Begrenzung. Im 12. Jahrhundert wurden die bisher fehlenden logischen Schriften (Analytica priora und posteriora, Topik, Sophistische Widerlegungen) in lateinischer Sprache verfügbar; sie machten die Logica nova aus. Dann wurden eines nach dem anderen fast alle restlichen Werke zugänglich (teils erst im 13. Jahrhundert). Die meisten Schriften wurden mehrmals ins Lateinische übertragen (entweder aus dem Arabischen oder aus dem Griechischen). Michael Scotus übersetzte Aristoteleskommentare des Averroes aus dem Arabischen. Sie wurden eifrig benutzt, was in der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts zur Entstehung des lateinischen Averroismus führte, der ein für damalige Verhältnisse relativ konsequenter Aristotelismus war. Im Lauf des 13. Jahrhunderts wurden die Schriften des Aristoteles als Standardlehrbücher zur Grundlage der an den Universitäten (in der Fakultät der Freien Künste) betriebenen scholastischen Wissenschaft; 1255 wurden seine Logik, Naturphilosophie und Ethik an dieser Fakultät der Pariser Universität als Lehrstoff vorgeschrieben. Die Führungsrolle kam der Pariser und der Oxforder Universität zu. Wegweisend waren die Aristoteleskommentare des Albertus Magnus. Das Verfassen von Aristoteleskommentaren wurde eine Hauptbeschäftigung der Magister, und viele von ihnen hielten die kommentierten Lehrbücher für irrtumsfrei. Besonders intensiv studierte man neben der aristotelischen Methodik die Wissenschaftstheorie, um sie als Basis für ein hierarchisch geordnetes System der Wissenschaften zu verwenden. Widerstand erhob sich allerdings von theologischer Seite gegen einzelne Lehren, vor allem gegen die Thesen von der Ewigkeit der Welt und der absoluten Gültigkeit der Naturgesetze (Ausschluss von Wundern), sowie gegen den Averroismus. Daher kam es 1210, 1215, 1231, 1245, 1270 und 1277 zu kirchlichen Verurteilungen von Lehrsätzen und zu Aristotelesverboten. Sie richteten sich aber nur gegen die naturphilosophischen Schriften oder gegen einzelne Thesen und konnten den Siegeszug des Aristotelismus nur vorübergehend hemmen. Diese Verbote betrafen nur Frankreich (vor allem Paris), in Oxford galten sie nicht. Aristoteles wurde „der Philosoph“ schlechthin: mit Philosophus (ohne Zusatz) war immer nur er gemeint, mit Commentator Averroes. Gegenpositionen (vor allem in der Erkenntnistheorie und Anthropologie) vertraten Anhänger der platonisch beeinflussten Lehren des Augustinus, besonders Franziskaner („Franziskanerschule“). Ein prominenter Kritiker des Aristotelismus war der Franziskaner Bonaventura. Ein anderer Franziskaner, Petrus Johannis Olivi, stellte um 1280 missbilligend fest: „Man glaubt ihm (Aristoteles) ohne Grund – wie einem Gott dieser Zeit.“ Schließlich setzte sich das von dem Dominikaner Thomas von Aquin abgewandelte und weiterentwickelte aristotelische Lehrsystem (Thomismus) durch, zunächst in seinem Orden und später in der gesamten Kirche. Allerdings schrieb man weiterhin neuplatonische Schriften zu Unrecht dem Aristoteles zu, wodurch das Gesamtbild seiner Philosophie verfälscht wurde. Dante würdigte in seiner Göttlichen Komödie Bedeutung und Ansehen des Aristoteles, indem er ihn als „Meister“ darstellte, der von den anderen antiken Philosophen bewundert und geehrt wird; jedoch verwarf Dante manche aristotelische Lehren.Die Politik des Aristoteles wurde erst um 1260 von Wilhelm von Moerbeke ins Lateinische übersetzt und dann von Thomas von Aquin und anderen Scholastikern kommentiert und zitiert. Besonders die Rechtfertigung der Sklaverei bzw. Knechtschaft stieß bei den Gelehrten auf Interesse und grundsätzliche Zustimmung. Die Politik regte Kommentatoren und Verfasser politischer Traktate zu Erörterungen über Vor- und Nachteile von Erb- bzw. Wahlmonarchie sowie von absoluter bzw. ans Gesetz gebundener Herrschaft an. In der Epoche des Übergangs vom Spätmittelalter zur Frühen Neuzeit setzte sich Nikolaus von Kues kritisch mit Aristoteles auseinander. Er stellte sich Aristoteles als fiktiven Gesprächspartner vor, dem man die Berechtigung der cusanischen Lehre von der Coincidentia oppositorum einsichtig machen könnte, obwohl Aristoteles sie nach seinem Satz vom Widerspruch hätte verwerfen müssen. === Neuzeit === In der Renaissance fertigten Humanisten neue, viel leichter lesbare Aristotelesübersetzungen ins Lateinische an, weshalb man weniger auf die Kommentare angewiesen war. Bedeutend sind u. a. die Übersetzungen der Nikomachischen Ethik und der Politik durch Leonardo Bruni. Man begann aber auch, die griechischen Originaltexte zu lesen. Es kam zu heftigem Streit zwischen Platonikern und Aristotelikern, wobei die beteiligten Humanisten mehrheitlich zu Platon neigten. Es gab in der Renaissance aber auch bedeutende Aristoteliker wie Pietro Pomponazzi (1462–1525) und Jacopo Zabarella (1533–1589), und es entstanden damals im Abendland mehr Aristoteleskommentare als während des gesamten Mittelalters. Wie im Mittelalter herrschte auch noch bei vielen Renaissance-Gelehrten das Bestreben vor, platonische und aristotelische Standpunkte untereinander und mit der katholischen Theologie und Anthropologie zu versöhnen. Seit dem 15. Jahrhundert war es aber möglich, dank des besseren Zugangs zu den Quellen das Ausmaß der fundamentalen Gegensätze zwischen Platonismus, Aristotelismus und Katholizismus besser zu verstehen. Bei der Vermittlung dieser Erkenntnisse spielte der byzantinische Philosoph Georgios Gemistos Plethon eine wichtige Rolle. Unabhängig davon herrschte der (neu)scholastische Aristotelismus, der die mittelalterliche Tradition fortsetzte, mit seiner Methode und Terminologie an Schulen und Universitäten noch bis tief in die Neuzeit, auch in den lutherischen Gebieten, obwohl Martin Luther den Aristotelismus ablehnte. Im sechzehnten Jahrhundert unternahmen Bernardino Telesio und Giordano Bruno Frontalangriffe auf den Aristotelismus, und Petrus Ramus trat für eine nichtaristotelische Logik ein (Ramismus). Bereits Giovanni Battista Benedetti (1530–1590) widerlegte 1554 in seinem Werk Demonstratio proportionum motuum localium contra Aristotilem et omnes philosophos in einem simplen Gedankenexperiment die aristotelische Annahme, dass Körper im freien Fall umso schneller fallen, je schwerer sie sind: Zwei gleiche Kugeln, die durch eine (masselose) Stange fest verbunden werden, fallen mit derselben Geschwindigkeit wie jede der beiden Kugeln allein. Aber erst seit dem 17. Jahrhundert verdrängte ein neues Wissenschaftsverständnis die aristotelisch-scholastische Tradition. Den Umschwung in der Physik leitete Galileo Galilei ein. 1647 konnte die von Aristoteles aufgestellte Hypothese eines Horror Vacui von Blaise Pascal mit dem Versuch Leere in der Leere widerlegt werden. Erst in der 1687 veröffentlichten Schrift Philosophiæ Naturalis Principia Mathematica von Isaac Newton wurde mit dem Trägheitsprinzip ein Fundament der neuen klassischen Mechanik errichtet, das die aristotelischen Annahmen ersetzte. In der Biologie konnten sich aristotelische Auffassungen bis ins 18. Jahrhundert halten. Sie erwiesen sich teilweise als fruchtbar. So ging William Harvey bei der Entdeckung des Blutkreislaufs von dem Prinzip des Aristoteles aus, dass die Natur nichts Unnötiges hervorbringt, und wendete es auf die Beschaffenheit der Blutgefäße und Herzkammern, von denen Aristoteles fälschlich drei annahm, an. Charles Darwin bezeichnete 1879 Aristoteles als „einen der größten Beobachter (wenn nicht den größten), die jemals gelebt haben“.Sehr stark und anhaltend war die Nachwirkung von Aristoteles’ Poetik, insbesondere seiner Tragödientheorie (→ Regeldrama). Sie prägte Theorie und Praxis des Theaters während der gesamten Frühen Neuzeit, abgesehen von manchen gewichtigen Ausnahmen besonders in Spanien und England (Shakespeare). Die Poetik lag seit 1278 in lateinischer Übersetzung vor, 1498 und 1536 erschienen humanistische Übersetzungen. Auf ihr fußte die Poetik des Julius Caesar Scaliger (1561), die Dichtungslehre von Martin Opitz (1624), die französische Theaterlehre des 17. Jahrhunderts (doctrine classique) und schließlich die von Johann Christoph Gottsched geforderte Regelkunst (Critische Dichtkunst, 1730). Im 19. Jahrhundert setzte insbesondere in Deutschland die intensive philologische Auseinandersetzung mit dem Werk des Aristoteles ein. 1831 erschien die von der Preußischen Akademie der Wissenschaften in Auftrag gegebene und durch Immanuel Bekker besorgte Gesamtausgabe. Hermann Bonitz verfasste zahlreiche Übersetzungen und den noch heute maßgeblichen Index Aristotelicus. Ende des 19. Jahrhunderts wurde unter der Leitung von Hermann Diels ebenfalls in der in Berlin ansässigen Akademie die 15.000 Seiten umfassende Ausgabe der antiken griechischen Aristoteles-Kommentare (Commentaria in Aristotelem Graeca) veröffentlicht. Infolge der intensiven philologischen Auseinandersetzung wurde Anfang des 20. Jahrhunderts das lange vorherrschende Bild, das Corpus Aristotelicum sei ein als Ganzes komponiertes philosophisches System, vor allem von Werner Jaeger revidiert. Die moderne Aristotelesforschung wurde in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts neben Jaeger vor allem von William David Ross in Oxford bestimmt; zahlreiche Schüler sorgten für eine zunehmende Beschäftigung mit Aristoteles nicht nur in den philologischen, sondern auch den philosophischen Abteilungen angelsächsischer Universitäten, die bis heute anhält.Martin Heideggers Seinsanalyse der Fundamentalontologie geschah in intensiver Auseinandersetzung mit Aristoteles, was auch für Schüler wie Hans-Georg Gadamer gilt. Den größten Einfluss hatte Aristoteles im 20. Jahrhundert in der Ethik (Tugendethik) und der politischen Philosophie (in Deutschland insbesondere in der Schule um Joachim Ritter, im angelsächsischen Raum im Kommunitarismus). In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts griff die zuvor metaphysikkritische analytische Philosophie Aristoteles’ Substanztheorie explizit (etwa David Wiggins: Sameness and Substance, die Vier-Kategorien-Ontologie von E. J. Lowe oder die Ontologie von Barry Smith) oder seinen Essentialismus implizit auf (z. B. Kripke). Nach ihm ist der Mondkrater Aristoteles benannt. Gleiches gilt seit 1995 für den Asteroiden (6123) Aristoteles und seit 2012 für die Aristotle Mountains im Grahamland auf der Antarktischen Halbinsel. == Siehe auch == Aristoteles-Archiv Symposium Aristotelicum == Textausgaben und Übersetzungen (Auswahl) == Sammlungen Diverse Herausgeber in der Reihe Oxford Classical Texts (OCT) bei Oxford University Press Diverse Herausgeber und Übersetzer in der Reihe Loeb Classical Library (LCL) bei Harvard University Press (griechischer Text mit englischer Übersetzung) Ernst Grumach, Hellmut Flashar (Hrsg.): Aristoteles, Werke in deutscher Übersetzung. 20 Bände, Akademie Verlag, Berlin 1956 ff. (mit extensivem und in der Regel sehr gutem Kommentar) Jonathan Barnes (Hrsg.): The Complete Works of Aristotle. The revised Oxford translation. 2 Bände. Princeton (New Jersey) 1984, 6. Auflage 1995, ISBN 0-691-09950-2 (Sammlung der maßgeblichen englischen Übersetzungen) Aristoteles: Philosophische Schriften in sechs Bänden. Felix Meiner, Hamburg 1995, ISBN 3-7873-1243-9 (Übersetzungen; diverse Übersetzer) Immanuel Bekker (Hrsg.): Aristotelis opera. 2. Auflage. besorgt von Olof Gigon. De Gruyter, Berlin 1960–1987 Band 1. 1960 (Nachdruck der Ausgabe von 1831 mit Verzeichnis neuerer Einzelausgaben). Ausgabe von 1831 online Band 2. 1960 (Nachdruck der Ausgabe von 1831 mit Verzeichnis neuerer Einzelausgaben). Ausgabe von 1831 online Band 3. Librorum deperditorum fragmenta, hrsg. von Olof Gigon, 1987, ISBN 3-11-002332-6. Band 4. Scholia in Aristotelem, hrsg. von Christian August Brandis; Supplementum scholiorum, hrsg. von Hermann Usener; Vita Marciana, hrsg. von Olof Gigon, 1961 (Nachdruck der Scholia-Ausgabe von 1836 und der Supplementum-Ausgabe von 1870; Vita Marciana als Neuausgabe). Ausgabe der Scholia von 1836 online Band 5. Index Aristotelicus, hrsg. von Hermann Bonitz, 2. Auflage besorgt von Olof Gigon, 1961Einzelausgaben == Literatur == === Der historische Aristoteles === Biographie Carlo Natali: Aristotle. His Life and School. Princeton University Press, Princeton/Oxford 2013, ISBN 978-0-691-09653-7.Einführungen John Lloyd Ackrill: Aristoteles. Eine Einführung in sein Philosophieren. De Gruyter, Berlin 1985, ISBN 3-11-008915-7 (knappe Einführung vor allem in die theoretische Philosophie) Jonathan Barnes: Aristoteles. Eine Einführung. Reclam, Stuttgart 1999 [1982], ISBN 3-15-008773-2 (knappe Einführung; Biographisches und Naturwissenschaftliches relativ ausführlich, wenig zur praktischen Philosophie) Thomas Buchheim: Aristoteles. Herder, Freiburg i. Br. 1999, ISBN 3-451-04764-0 (Einführung mit Schwerpunkt auf dem Organon, der Naturphilosophie und Metaphysik; wenig praktische Philosophie, keine Rezeption; kommentierte Bibliografie) Wolfgang Detel: Aristoteles. Reclam, Leipzig 2005, ISBN 3-379-20301-7 (Einführung mit hohem systematischem Anspruch, insbesondere zu Wissenschaftstheorie und Metaphysik; Kapitel zum Neoaristotelismus des 20. Jahrhunderts) Otfried Höffe: Aristoteles. 3. Auflage. Beck, München 2006, ISBN 3-406-54125-9 (Biographisches, praktische Philosophie und Rezeption ausführlich; Bezüge zu anderen Epochen, insbesondere der Neuzeit). Christian Mueller-Goldingen: Aristoteles. Eine Einführung in sein philosophisches Werk (= Olms Studienbücher Antike. Band 11). Olms, Hildesheim 2003, ISBN 3-487-11795-9. Christof Rapp: Aristoteles zur Einführung. 4. Auflage. Junius, Hamburg 2012, ISBN 978-3-88506-690-3 (singuläre Darstellung der Handlungstheorie, der Semantik, Dialektik und Rhetorik sowie Ontologie; nichts zur Person; hilfreiche, thematisch gegliederte Bibliografie) Christopher Shields: Aristotle. Routledge, New York 2007, ISBN 978-0-415-28332-8 (umfangreiche thematisch gegliederte Einführung; Review) Wolfgang Welsch: Der Philosoph: Die Gedankenwelt des Aristoteles. Fink (Wilhelm), München 2012, ISBN 978-3-7705-5382-2.Gesamtdarstellungen Ingemar Düring: Aristoteles. Darstellung und Interpretation seines Denkens. Winter, Heidelberg 1966 Hellmut Flashar: Aristoteles. (= Ders., Hrsg., Grundriss der Geschichte der Philosophie. Die Philosophie der Antike. Band 3: Ältere Akademie, Aristoteles, Peripatos.) 2. Auflage. Schwabe, Basel 2004, ISBN 3-7965-1998-9, S. 167–492. Hellmut Flashar: Aristoteles: Lehrer des Abendlandes. Beck, München 2013, ISBN 978-3-406-64506-8. William K. C. Guthrie: A History of Greek Philosophy. Band 6: Aristotle. An Encounter. Cambridge University Press, Cambridge 1981, ISBN 0-521-23573-1 (sehr gut lesbar, aber nichts zur Logik) John M. Rist: The Mind of Aristotle: A Study in Philosophical Growth. University of Toronto Press, Toronto 1989, ISBN 0-8020-2692-3 (behandelt die Entwicklung von Aristoteles’ Denken) William David Ross: Aristotle. 1956; 6. Auflage. Routledge, London 1995, ISBN 0-415-32857-8 (solide und ausführliche Darstellung, besonders für Naturphilosophie und Biologie wertvoll)Kompendien Georgios H. Anagnostopoulos (Hrsg.): A Companion to Aristotle. Wiley-Blackwell, Malden 2009, ISBN 978-1-4051-2223-8. Jonathan Barnes (Hrsg.): The Cambridge Companion to Aristotle. Cambridge University Press, Cambridge 1995, ISBN 0-521-41133-5 (gute Einführung mit einer umfangreichen, thematisch gegliederten Bibliografie) Christof Rapp, Klaus Corcilius (Hrsg.): Aristoteles-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung. Metzler, Stuttgart/Weimar 2011, ISBN 978-3-476-02190-8.Hilfsmittel Ferdinand Edward Cranz (Hrsg.): A Bibliography of Aristotle Editions 1501–1600. Baden-Baden 1971. Otfried Höffe (Hrsg.): Aristoteles-Lexikon (= Kröners Taschenausgabe. Band 459). Kröner, Stuttgart 2005, ISBN 3-520-45901-9 (Rezension) === Rezeption === Übersichts- und Gesamtdarstellungen Vincent Fröhlich: Aristoteles. In: Peter von Möllendorff, Annette Simonis, Linda Simonis (Hrsg.): Historische Gestalten der Antike. Rezeption in Literatur, Kunst und Musik (= Der Neue Pauly. Supplemente. Band 8). Metzler, Stuttgart/Weimar 2013, ISBN 978-3-476-02468-8, Sp. 95–106. Olof Gigon u. a.: Aristoteles/Aristotelismus. In: Theologische Realenzyklopädie. Band 3, De Gruyter, Berlin 1978, ISBN 3-11-007462-1, S. 726–796, hier: 760–796. Charles H. Lohr, Friedo Ricken: Aristotelismus. In: Der Neue Pauly (DNP). Band 13, Metzler, Stuttgart 1999, ISBN 3-476-01483-5, Sp. 251–265. François Queyrel u. a.: Aristote de Stagire. In: Richard Goulet (Hrsg.): Dictionnaire des philosophes antiques. Band Supplément, CNRS Éditions, Paris 2003, ISBN 2-271-06175-X, S. 109–654.Epochenübergreifende Untersuchungen zu einzelnen Themen Christoph Horn, Ada Neschke-Hentschke (Hrsg.): Politischer Aristotelismus. Die Rezeption der aristotelischen Politik von der Antike bis zum 19. Jahrhundert. Metzler, Stuttgart 2008, ISBN 978-3-476-02078-9. Joachim Knape, Thomas Schirren (Hrsg.): Aristotelische Rhetorik-Tradition. Franz Steiner, Stuttgart 2005, ISBN 3-515-08595-5. Cees Leijenhorst u. a. (Hrsg.): The Dynamics of Aristotelian Natural Philosophy from Antiquity to the Seventeenth Century (= Medieval and Early Modern Science. Band 5). Brill, Leiden 2002, ISBN 90-04-12240-0. Jürgen Wiesner (Hrsg.): Aristoteles. Werk und Wirkung. Band 2: Kommentierung, Überlieferung, Nachleben. De Gruyter, Berlin 1987, ISBN 3-11-010976-X.Antike Andrea Falcon (Hrsg.): Brill’s Companion to the Reception of Aristotle in Antiquity (= Brill’s Companions to Classical Reception. Band 7). Brill, Leiden 2016, ISBN 978-90-04-26647-6. Paul Moraux: Der Aristotelismus bei den Griechen. 3 Bände. De Gruyter, Berlin 1973–2001. Richard Sorabji (Hrsg.): Aristotle Transformed. The Ancient Commentators and Their Influence. 2., überarbeitete Auflage. Bloomsbury, London 2016, ISBN 978-1-4725-8907-1.Mittelalter Edward Grant: Das physikalische Weltbild des Mittelalters. Artemis, Zürich 1980, ISBN 3-7608-0538-8. Volker Honemann: Aristoteles. In: Die deutsche Literatur des Mittelalters. Verfasserlexikon. 2., neu bearbeitete Auflage. Band 1. De Gruyter, Berlin 1978, ISBN 3-11-007264-5, Sp. 436–450. Ludger Honnefelder u. a. (Hrsg.): Albertus Magnus und die Anfänge der Aristoteles-Rezeption im lateinischen Mittelalter. Aschendorff, Münster 2005, ISBN 3-402-03993-1. Fernand Van Steenberghen u. a.: Aristoteles. In: Lexikon des Mittelalters (LexMA). Band 1. Artemis & Winkler, München/Zürich 1980, ISBN 3-7608-8901-8, Sp. 934–948. Neuzeit Charles B. Schmitt: Aristotle among the physicians. 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Reeve: Aristotle’s Metaphysics. 2020 (stanford.edu). Fred Miller: Aristotle's Political Theory. 2017 (stanford.edu). Christopher Shields: Aristotle’s Psychology. 2020 (stanford.edu). Christof Rapp: Aristotle's Rhetoric. 2010 (stanford.edu). Internet Encyclopedia of Philosophy: Justin Humphreys: Aristotle (384–322 BCE): Overview. (utm.edu). Michael Boylan: Aristotle: Biology. (utm.edu). Joe Sachs: Aristotle: Ethics. (utm.edu). Louis F. Groarke: Aristotle: Logic. (utm.edu). Joe Sachs: Aristotle: Metaphysics. (utm.edu). Joe Sachs: Aristotle: Poetics. (utm.edu). Edward Clayton: Aristotle: Politics. (utm.edu). Auswahlbibliographie (Memento vom 29. Januar 2012 im Internet Archive) nach Themenfeldern (PDF-Datei; 38 kB)Texte von Aristoteles Druckschriften von und über Aristoteles im VD 17. Werke von Aristoteles im Projekt Gutenberg-DE Texte (griechisch/englisch) im Perseus Project Texte von Aristoteles (englisch) (MIT Classics) == Anmerkungen ==
https://de.wikipedia.org/wiki/Aristoteles
Philosophie
= Philosophie = In der Philosophie (altgriechisch φιλοσοφία philosophía, latinisiert philosophia, wörtlich „Liebe zur Weisheit“) wird versucht, die Welt und die menschliche Existenz zu ergründen, zu deuten und zu verstehen. Von anderen Wissenschaftsdisziplinen unterscheidet sich die Philosophie dadurch, dass sie sich oft nicht auf ein spezielles Gebiet oder eine bestimmte Methodologie begrenzt, sondern durch die Art ihrer Fragestellungen und ihre besondere Herangehensweise an ihre vielfältigen Gegenstandsbereiche charakterisiert ist. In diesem Artikel geht es um die westliche (auch: abendländische) Philosophie, die im 6. Jahrhundert v. Chr. im antiken Griechenland entstand. Nicht behandelt werden hier die mit der abendländischen Philosophie in einem mannigfaltigen Zusammenhang stehenden Traditionen der jüdischen und der islamischen Philosophie sowie die ursprünglich von ihr unabhängigen Traditionen der afrikanischen und der östlichen Philosophie. In der antiken Philosophie entfaltete sich das systematische und wissenschaftlich orientierte Denken. Im Laufe der Jahrhunderte differenzierten sich die unterschiedlichen Methoden und Disziplinen der Welterschließung und der Wissenschaften direkt oder mittelbar aus der Philosophie, zum Teil auch in Abgrenzung zu irrationalen oder religiösen Weltbildern oder Mythen. Kerngebiete der Philosophie sind die Logik (als die Wissenschaft des folgerichtigen Denkens), die Ethik (als die Wissenschaft des rechten Handelns) und die Metaphysik (als die Wissenschaft der ersten Gründe des Seins und der Wirklichkeit). Weitere Grunddisziplinen sind die Erkenntnistheorie und Wissenschaftstheorie, die sich mit den Möglichkeiten des Erkenntnisgewinns im Allgemeinen bzw. speziell mit den Erkenntnisweisen der unterschiedlichen Einzelwissenschaften beschäftigen. == Einführung == Es gibt Probleme, die sich nicht oder nur unzureichend mit Hilfe der exakten Wissenschaften bearbeiten lassen: die Fragen etwa nach dem, was „gut“ und „böse“ ist, was „Gerechtigkeit“ bedeutet, ob es einen Gott gibt, ob der Mensch eine unsterbliche Seele besitzt oder was der „Sinn des Lebens“ ist. Eine weitere Klasse von Fragen kann ebenfalls nicht eigentlicher Gegenstand von z. B. Naturwissenschaften sein: Die Biologie untersucht zwar die Welt des Lebendigen, sie kann aber nicht bestimmen, was das „Wesen“ des Lebendigen ausmacht, ob und wann lebende Organismen getötet werden dürfen oder welche Rechte und Pflichten das menschliche Leben beinhaltet. Mit Hilfe von Physik und Mathematik können zwar Naturgesetze ausgedrückt werden, aber die Frage, ob die Natur überhaupt gesetzmäßig aufgebaut ist, kann keine Naturwissenschaft beantworten. Die Rechtswissenschaften untersuchen und legen fest, wann etwas im Einklang mit den Gesetzen geschieht; was aber wünschenswerte Inhalte des Gesetzbuches sein sollten, dies übersteigt ihren Rahmen. Allgemein erhebt sich nicht nur hinsichtlich jeder Einzelwissenschaft, sondern grundsätzlich die Frage, wie wir mit dem daraus gewonnenen Wissen umgehen sollen. Zudem gibt es Fragestellungen, welche die Grenzen des Denkens berühren, wie etwa die Frage, ob die in diesem Moment individuell erlebte Wirklichkeit auch tatsächlich existiert.In allen solchen Fällen versagen die Erklärungsmodelle der Einzelwissenschaften, es sind philosophische Fragen. Der griechische Philosoph Platon (428/27 – 348/47 v. u. Z.) hegte deshalb Zweifel an dem Bild, das der Mensch von sich selbst und von der Welt entwickelte. In seinem berühmten Höhlengleichnis reflektierte er unter anderem die begrenzte Wahrnehmungs- und Erkenntnisfähigkeit des gewöhnlichen Menschen. Dieser sitzt mit seinesgleichen nebeneinander aufgereiht in einer Höhle, alle in einer Weise gefesselt, dass sie nur starr geradeaus die Höhlenwand vor sich betrachten können. Licht gibt ein Feuer, das weit im Rücken der Menschen im entfernten Teil der Höhle brennt. Zwischen den Menschen und dem Feuer befindet sich – ebenfalls in ihrem Rücken – eine Mauer, hinter der verschiedene Gegenstände getragen und bewegt werden, welche die Mauer überragen und den auf ihre Höhlenwand fixierten Menschen als mobile Schatten erscheinen. Stimmen und Geräusche von dem Treiben hinter der Mauer würden den fixierten Beobachtern demzufolge ebenfalls als Hervorbringungen der Schatten vor ihren Augen gelten müssen. Mit diesem Szenario kontrastiert Platon die uns geläufige „wirkliche“ Welt im Sonnenlicht außerhalb der Höhle und macht durch diesen Kunstgriff begreiflich, warum Philosophen die Wahrheit, d. h. die Nähe zur Wirklichkeit menschlicher Wahrnehmung in Frage stellen. Die Philosophie behandelt zumeist Sachverhalte, die im Alltag zunächst einmal völlig selbstverständlich erscheinen: „Du sollst nicht töten“, „Demokratie ist die beste aller Staatsformen“, „Wahrheit ist, was nachprüfbar stimmt“, „Die Welt ist, was sich im Universum vorfindet“ oder „Die Gedanken sind frei“. Für manche Philosophen ist erst der Augenblick, in dem solche Überzeugungen, in dem das bisher fraglos Hingenommene fragwürdig wird, der Geburtsmoment der Philosophie. Menschen, denen nichts fragwürdig erscheint, werden demnach nie Philosophie betreiben. Auch das kindliche Staunen wird oft als Beginn philosophischen Denkens angeführt: Anders als Religionen, religiöse Gemeinschaften und Weltanschauungen stützt sich die Philosophie bei der Bearbeitung der oben genannten „philosophischen“ Fragen allein auf die Vernunft, d. h. auf rationale Argumentation, die keine weiteren Voraussetzungen (wie z. B. den Glauben an eine bestimmte zugrundeliegende Lehre) erfordert. === Begriffsdefinition === „Philosophie“ lässt sich nicht allgemeingültig definieren, weil jeder, der philosophiert, eine eigene Sicht der Dinge entwickelt. Daher gibt es annähernd so viele mögliche Antworten auf die oben gestellte Frage wie Philosophen. Carl Friedrich von Weizsäcker hat einmal formuliert: „Philosophie ist die Wissenschaft, über die man nicht reden kann, ohne sie selbst zu betreiben.“ Daneben hat der Begriff auch viele weichere Konnotationen und kann dann Weltanschauung, Unternehmenskultur etc. bedeuten.Umso erstaunlicher ist die Präzision der materialistischen Fassung des Begriffes, wonach die Philosophie die Wissenschaft von den allgemeinen Bewegungs- und Strukturgesetzen der Natur, der Gesellschaft und des Denkens (Erkennens) sowie der Stellung des Menschen in der Welt ist.Zu den philosophischen Arbeitsfeldern gehört zunächst die Untersuchung von Methoden, Prinzipien und der Gültigkeit jeglicher Erkenntnisgewinnung wie auch der Argumente und Theorien auf wissenschaftlicher Ebene. Philosophie kann in diesem Zusammenhang als Grundlagenwissenschaft verstanden werden. Denn philosophisches Nachdenken und In-Frage-Stellen hat die Einzelwissenschaften stets befruchtet und in ihrer Entwicklung gefördert. Die Philosophie stellt Fragen von einer Art, die Spezialwissenschaften (bisher) nicht beantworten können, die durch Versuche, Berechnungen oder andere Forschungen mit den bisherigen Instrumenten nicht zu beantworten sind. Derartige Problemstellungen können aber das Forschen in eine neue Richtung lenken. So werden mitunter neuartige Forschungsfragen in den einzelnen Wissenschaften auf den Weg gebracht; Philosophie leistet folglich über das ureigene Feld hinaus einen Beitrag zur Hypothesenbildung. Weitergehende philosophische Bemühungen erstrecken sich auf eine systematische Ordnung menschlichen Wissens zwecks Herstellung eines in sich schlüssigen Weltbilds unter Einbeziehung menschlicher Werte, Rechte und Pflichten. === Sinn und Arten des Philosophierens === Viele Menschen betreiben Philosophie um ihrer selbst willen: um sich selbst und die Welt, in der sie leben, besser zu verstehen; um ihr Handeln, ihr Weltbild auf eine gut begründete Basis zu stellen. Wer ernsthaft philosophiert, stellt kritische Fragen an die ihn umgebende Welt sowie an sich selbst, lässt sich im Idealfall nicht so leicht täuschen oder von anderen seelisch-geistig manipulieren, übt sich in Wahrhaftigkeit und begeht nicht so leicht Fehlschlüsse. Ein kritisches Potenzial der Philosophie liegt im Hinterfragen der gesellschaftlichen Verhältnisse ebenso wie in einer Relativierung der Ansprüche von Wissenschaften und Religionen. Hierbei beschränkt sich die Philosophie nicht auf die kritische Analyse, sondern sie liefert auch konstruktive Beiträge, beispielsweise durch die rationale Rekonstruktion und Präzisierung vorhandener Wissenssysteme oder die Formulierung von Ethiken. Ein selbstbestimmtes und vernunftbasiertes Leben auf der Grundlage eigenen Nachdenkens (sapere aude!) ist das Ziel vieler Philosophierender. Bei dem auf individuellen Nutzen gerichteten Philosophieren sind vor allem zwei Arten oder Ausrichtungen zu unterscheiden: Das Streben nach Weltweisheit soll dem Verstand Orientierung und Sicherheit in allen lebenspraktischen Bezügen verschaffen und die Fähigkeit zu sinnvoller gedanklicher Einordnung alles Begegnenden begünstigen. Es soll gleichsam die Unerschütterlichkeit des eigenen Verstandes durch das Geschehen in der Welt bewirken, sodass der Intellekt jede Lebenssituation souverän zu verarbeiten vermag. Wem von seinen Mitmenschen Weisheit zuerkannt wird, der vermittelt durch seine Reaktionen und Äußerungen den Eindruck, dass er über solche Souveränität verfügt. Demgegenüber legt die Philosophie als Lebensweise den Akzent auf die Umsetzung der Ergebnisse philosophischer Reflexion in die eigene Lebenspraxis. Auf die richtige Weise zu leben und den Lebensalltag zu gestalten, setzt hiernach ein in vertiefter Form eingeübtes und daraus sich entwickelndes richtiges Denken voraus. Und umgekehrt ist es zur Beglaubigung des philosophischen Denkens nötig, dass es sich in der Lebensweise erkennbar spiegelt. Sehr ausgeprägte Anwendungsformen einer philosophisch bestimmten Lebensweise hat es insbesondere in der Antike gegeben, vor allem in den Reihen der Stoiker, der Epikureer und der Kyniker. Für das Ideal der Übereinstimmung von Denken und Tun hat der Kyniker Diogenes von Sinope durch seine von radikaler Enthaltsamkeit gekennzeichnete Lebensweise Anhängern wie Gegnern dieser Art philosophischer Ausrichtung ein oft zitiertes Beispiel gegeben. Die Einheit von Theorie und Praxis wird jedoch auch in der östlichen Philosophie betont. Diogenes, der seinem philosophischen Denken Ausdruck verlieh, indem er dem weltlichen Treiben entsagte, zeugt auch davon, dass zum Philosophieren Ruhe und Muße gehören. (Noch das Wort Schule geht auf das griechische Wort in der alten Bedeutung für „Muße“ [σχολή, scholḗ] zurück.) Ein großer Gewinn des Philosophierens besteht in der Schulung des Denkens und des Argumentierens, denn sowohl in methodischer Hinsicht als auch beim sprachlichen Ausdruck werden im fachlichen Diskurs strenge Anforderungen an die Philosophierenden gestellt. Das akademische Philosophieren unterscheidet sich vom alltäglichen Philosophieren nicht prinzipiell durch die Fragen, sondern eher durch den Rahmen – in der Regel die Universität – und durch bestimmte Formen der Aus- und Abgrenzung philosophischer Tätigkeit. Es gelten verschiedene Übereinkünfte über die Formen des Argumentierens und der wissenschaftlichen Publikation sowie die zugelassene Fachterminologie. Die Tätigkeiten des akademisch Philosophierenden umfassen dabei die unten genannten Methoden. Philosophisch gebildete Menschen unterscheiden sich von den übrigen nicht unbedingt darin, dass ihnen mehr (nützliches) Wissen zur Verfügung stünde. Ihnen steht allerdings in der Regel ein besserer Überblick über die Argumente zur Verfügung, die in einer philosophischen Debatte hinsichtlich eines bestimmten Diskussionsgegenstands bereits vorgebracht wurden. So kann es etwa hilfreich sein, bei einem aktuell diskutierten Problem (z. B. Euthanasie) danach zu fragen, welche Antwortmöglichkeiten die Philosophie in den letzten 2500 Jahren dazu angeboten hat und wie die Auseinandersetzungen um diese Vorschläge bisher verlaufen sind. Neben dieser historischen Kenntnis sollte ein ausgebildeter Philosoph eher in der Lage sein, die prinzipiell vertretbaren Positionen zu unterscheiden, deren Folgen vorauszusehen sowie Probleme und Widersprüche zu erkennen. Weitere Anwendungen und Aufgaben der Philosophie bestehen darin, die grundlegenden Begriffe, Fragen, Thesen und Positionen, welche die einzelnen Wissenschaften verwenden, zu thematisieren. So fragt die Philosophie etwa, was den Begriff der „Würde“ ausmacht, wenn er in Diskussionen der Rechtswissenschaften oder der Soziologie verwendet wird. die unausgesprochenen Begriffe, Fragen, Thesen und Positionen herauszuarbeiten, die anderen Wissenschaften zugrunde liegen. So fragt etwa die Ethik: „Was ist Gerechtigkeit?“ und untersucht dabei auch Begriff, Grundlagen und Bedingungen der Rechtswissenschaften überhaupt. die Fragen nach Denkmustern bzw. Denkgewohnheiten vergangener Zeiten zu beantworten, auf die die überlieferten Artefakte im Museum keine Antworten zu geben vermögen. === Methoden === Die Methoden der Philosophie umfassen verschiedene geistige Bemühungen. „Geistige Bemühungen“ kann dabei das Nachspüren von Denkrichtungen, Denktraditionen und Denkschulen meinen. Um das Denken geht es beim Philosophieren immer. Denken kann Nach-Denken sein, Analysieren oder Systematisieren. Intuitive Erkenntnisse, Glaubenswahrheiten und rationale Argumente werden auf der Grundlage der Lebenswirklichkeit des philosophierenden Menschen, mithilfe der Mittel des vernünftigen, rationalen und kritischen Denkens, geprüft. Zudem vermag die philosophische Geisteshaltung in einem methodischen Zweifel radikal alles in Frage zu stellen – sogar die Philosophie selbst. Dabei beginnt die Philosophie mit jedem Philosophierenden gleichsam wieder bei null. Es gehört zur Haltung eines Philosophierenden, auch scheinbar grundlegende oder alltägliche Gewissheiten in Frage stellen zu können. Menschen, denen sich die Lebenswirklichkeit nicht auch als Frage oder Problem aufdrängt, erscheint solch fundamentaler Zweifel nicht selten befremdlich. Über lange Zeiträume gesehen stellt die Philosophie in zentralen Bereichen immer wieder dieselben Grundfragen, deren Antwortmöglichkeiten sich prinzipiell ähneln (Philosophia perennis). Aufgrund der historischen und sozialen Veränderungen der Lebensumstände und Weltanschauungen werden jeweils neue Formulierungen für die Antworten auf die Grundfragen des Menschen notwendig. Anders als in den einzelnen Wissenschaften häufen weder die Philosophie noch die einzelnen Philosophierenden Wissen an oder verfügen über definitive und allgemein anerkannte Ergebnisse („Skandal der Philosophie“). Sie sammeln historische Antworten, reflektieren diese und können dadurch zeitgebundene Blickwinkelverengungen, wie sie in manchen Spezialwissenschaften anzutreffen sind, vermeiden. Insofern kann der philosophische Diskurs als ein in sich nicht abschließbarer Prozess betrachtet werden – als ein kontroverses Gespräch über die Jahrhunderte hinweg. Grundsätzlich lassen sich zwei Ansätze bzw. Bereiche des heutigen „professionellen“ Philosophierens unterscheiden: die historische und die systematische Vorgehensweise: Historisch arbeiten Philosophen dann, wenn sie versuchen, die Positionen und Thesen von Denkern wie z. B. Platon, Thomas von Aquin oder Immanuel Kant zu rekonstruieren und zu interpretieren. Auch die Herausarbeitung bestimmter philosophischer Strömungen oder Auseinandersetzungen in der Geschichte gehört hierzu, ebenso das Verfolgen der Geschichte von Begriffen und Ideen. Systematisch gehen Philosophen vor, wenn sie versuchen, zu einem bestimmten Problemfeld Standpunkte auszuarbeiten und zu verteidigen, Fragen innerhalb der verschiedenen philosophischen Disziplinen zu beantworten oder die offenen bzw. unausgesprochenen Voraussetzungen einer bestimmten Frage oder Behauptung zu analysieren; oder wenn sie sich darum bemühen, die in bestimmten Fragen, Thesen oder Positionen verwendeten Begriffe zu klären. Lautet die Frage etwa: „Hat der Mensch einen freien Willen?“, so müssen für eine Antwort zunächst die Begriffe „Willen“, „Freiheit“ und „Mensch“ – vielleicht sogar die Bedeutung von „haben“ – einer genauen Bedeutungsanalyse unterzogen werden.Die historischen und die systematischen Herangehensweisen bzw. Bereiche sind dabei prinzipiell durch das jeweilige Ziel der philosophischen Untersuchungen voneinander abgrenzbar. Viele Philosophen arbeiten allerdings sowohl historisch wie systematisch. Beide Ansätze ergänzen einander insofern, als einerseits die Schriften herausragender philosophischer Autoren auch für aktuelle systematische Fragen hilfreiche Überlegungen enthalten und andererseits systematische Ausarbeitungen oft Positionen der Klassiker präzisieren helfen. Außerdem können in vielen Fällen heutige Fragen nur dann präzise gestellt und beantwortet werden, wenn der historische Hintergrund für ihr Aufkommen und die seitdem für die Behandlung des Problems entwickelten Begrifflichkeiten und Lösungsvorschläge bekannt sind und verstanden werden. == Begriffsgeschichte == Der Begriff „Philosophie“ (bis ins 19. Jahrhundert im Deutschen auch gelegentlich Filosofie geschrieben), zusammengesetzt aus griechisch φίλος (phílos) „Freund“ und σοφία (sophía) „Weisheit“, bedeutet wörtlich „Liebe zur Weisheit“ bzw. einfach „zum Wissen“ – denn sophía bezeichnete ursprünglich jede Fertigkeit oder Sachkunde, auch handwerkliche und technische. Das Verb philosophieren taucht erstmals beim griechischen Historiker Herodot (484–425 v. Chr.) auf (I,30,2), wo es zur Beschreibung des Wissensdurstes des Athener Staatsmannes Solon (ca. 640–559 v. Chr.) dient. Dass Heraklit schon den Begriff philósophos verwendete, ist nicht anzunehmen. In der Antike pflegte man die Einführung des Begriffs Philosophie Pythagoras von Samos zuzuschreiben. Der Platoniker Herakleides Pontikos überlieferte eine Erzählung, wonach Pythagoras gesagt haben soll, nur ein Gott besitze wahre sophía, der Mensch könne nur nach ihr streben. Hier ist mit sophia bereits metaphysisches Wissen gemeint. Die Glaubwürdigkeit dieses – nur indirekt und fragmentarisch überlieferten – Berichts des Herakleides ist in der Forschung umstritten. Erst bei Platon tauchen die Begriffe Philosoph und philosophieren eindeutig in diesem von Herakleides gemeinten Sinne auf, insbesondere in Platons Dialog Phaidros, wo festgestellt wird, dass das Streben nach Weisheit (das Philosophieren) und Besitz der Weisheit sich ausschließen und letzterer nur Gott zukomme. Philosophie wurde im Laufe ihrer Geschichte als Streben nach dem Guten, Wahren und Schönen (Platon) oder nach Weisheit, Wahrheit und Erkenntnis (Hobbes, Locke, Berkeley) definiert. Sie forsche nach den obersten Prinzipien (Aristoteles) und ziele auf den Erwerb wahren Wissens (Platon). Sie ringe um die Erkenntnis aller Dinge, auch der unsichtbaren (Paracelsus), sei Wissenschaft aller Möglichkeit (Wolff) und vom Absoluten (Fichte, Schelling, Hegel). Sie ordne und verbinde alle Wissenschaft (Kant, Mach, Wundt), stelle die „Wissenschaft aller Wissenschaften“ dar (Fechner). Die Analyse, Bearbeitung und exakte Bestimmung von Begriffen stehe in ihrem Mittelpunkt (Sokrates, Kant, Herbart). Philosophie sei jedoch zugleich auch die Kunst, sterben zu lernen (Platon), sei normative Wertlehre (Windelband), das vernunftgemäße Streben nach Glückseligkeit (Epikur, Shaftesbury) bzw. das Streben nach Tugend und Tüchtigkeit (Aristoteles, Stoa). Aus europäischer Sicht verbindet sich der Begriff Philosophie mit den Ursprüngen im antiken Griechenland. Die gleichfalls jahrtausendealten asiatischen Denktraditionen (östliche Philosophie) werden oftmals übersehen oder unterschätzt. Auch religiöse Weltanschauungen gehören zur Philosophie, insoweit ihre Vertreter nicht theologisch, sondern philosophisch argumentieren. == Wissenschaftsgeschichte == Das Selbstverständnis der Philosophie als Wissenschaft hat sich im Laufe ihrer Geschichte immer wieder gewandelt. Die ersten griechischen Philosophen bis etwa zur Zeit von Sokrates und Platon verstanden ihre Tätigkeit als vernunftgelenktes Erkenntnisstreben im Unterschied zum bloßen Übernehmen eines mythischen Weltbilds und religiöser Traditionen. Einerseits emanzipierte sich so das Denken vom Mythos, andererseits wurden die Mythen in der Regel nicht grundsätzlich verworfen. Die Philosophen bedienten sich ihrer gern und nutzten dichterische Ausdrucksmittel, um ihre Lehren zu verbreiten. Während Sokrates und seine Schüler das Erkenntnisstreben als Selbstzweck betrachteten, boten die Sophisten ihren Unterricht gegen Entgelt an. Für manche Sophisten ging es dabei vor allem um die Kunst, in einer Debatte mit rhetorischen Mitteln und logischen Kunstgriffen einen Gegner zu besiegen. Ihr Ziel war es, notfalls auch mit Tricks (Sophismen), „die schwächere Seite zur stärkeren zu machen“ (vgl. Eristik). Nachdem sich das Christentum in der Spätantike durchgesetzt hatte, war Philosophie für viele Jahrhunderte nur noch auf der Basis des damaligen religiösen Weltbilds möglich; sie durfte nicht mit den Grundannahmen der christlichen Theologie in Konflikt geraten. Eine analoge Begrenzung bestand auch im Islam und im Judentum. In Westeuropa dominierte daher lange Zeit das Bild der Philosophie als einer „Magd der Theologie“ (ancilla theologiae), also einer Hilfswissenschaft, welche die göttlichen Offenbarungen mit rationalen Argumenten stützen sollte. An den im Mittelalter neu entstehenden Universitäten wurde die Philosophie zu einem grundlegenden („propädeutischen“) Lehrfach. Der Kern des Studiums war durch die sogenannten Artes liberales bestimmt, zu denen „Grammatik“, „Dialektik“, „Rhetorik“ sowie „Geometrie“, „Arithmetik“, „Astronomie“ und „Musik“ gehörten. Ein erster Abschluss in diesem studium generale an der so genannten Artistenfakultät war notwendig, um die „höheren“ Studien in Medizin, Recht und Theologie aufnehmen zu können. (Aus dieser Tradition stammen noch heute die Bezeichnungen der akademischen Grade des B.A., M.A., Ph.D. bzw. Dr. phil.). In Westeuropa führte im 13. Jahrhundert die verstärkte Auseinandersetzung mit der Philosophie des Aristoteles zu höherer Eigenständigkeit der Philosophie, welche die Grenzen der artes-Disziplinen überschritt. Zahlreiche Philosophen und Theologen wie Albert der Große und Thomas von Aquin versuchten, Anschluss an die Aristotelesrezeption des Ostens zu halten und die aristotelische Philosophie mit den Lehren der katholischen Kirche zu einer in sich geschlossenen Gesamtdeutung der Wirklichkeit zusammenzuführen. Eine solche Synthese legte etwa Thomas in der Summa theologica vor. Unabhängig davon kam es schon seit dem 12. Jahrhundert zu einer neuen Hochschätzung des Erfahrungswissens, die eine Voraussetzung für die Entstehung des neuzeitlichen naturwissenschaftlichen Denkens und der experimentellen Vorgehensweise bildete. Seit der Renaissance überschritt die Philosophie zunehmend die Grenzen, welche die Theologie ihr gesetzt hatte. Die Philosophen scheuten sich nicht mehr, Ansichten zu vertreten, die mit kirchlichen Lehren oder sogar mit dem Christentum unvereinbar waren. Seit den Zeiten des Renaissance-Humanismus und der Aufklärung setzte sich die Philosophie bis in die Gegenwart hinein kritisch mit der Religion auseinander, grenzte sich von ihr ab und betrachtete sich ihr oft als überlegen. Es gab aber auch stets zahlreiche Philosophen, die großen Wert darauf legten, dass ihre Positionen mit ihren religiösen Überzeugungen in vollem Einklang stehen. Vor allem in bestimmten Phasen der Neuzeit wurde die Philosophie als eine allen Einzelwissenschaften übergeordnete Universalwissenschaft begriffen, die, um die Wirklichkeit als Ganzes zu erfassen und zu den letzten Ursachen und Prinzipien vorzudringen, ewiggültige, allgemeine Wahrheiten aufdeckt und zugänglich macht (Philosophia perennis). Das heißt, die Chance, dass Philosophie untergeht, ist von allen Fächern wohl am geringsten. Wenn man nur Philosophie betreibt, braucht man sich auf nichts weiter spezialisieren, denn Philosophie ist dasjenige Fach, das alle Grundlagen benutzen kann (Heißler).Noch bis ins 18. Jahrhundert hinein blieb die Philosophie eine der klassischen vier Fakultäten. Weiterhin war eine grundlegende Ausbildung in Philosophie erforderlich, bevor sich die Studenten z. B. naturwissenschaftlichen Fragen und Forschungen zuwenden durften. An einigen traditionsbewussten Universitäten ist ein „Philosophicum“ im Grundstudium bis heute für alle Studenten Pflicht. Im 19. Jahrhundert begann eine zunehmende Verselbstständigung zunächst der Naturwissenschaften und später auch der philologischen und der gesellschaftswissenschaftlichen Fächer. Die philosophischen Lehrstühle gerieten in der Folge in ihrer inhaltlichen Ausrichtung zunehmend unter den Spezialisierungsdruck der sich verselbständigenden Fachwissenschaften. In der Moderne verblieb der Philosophie zeitweise nur die Aufgabe der Reflexion der Fachwissenschaften und die Diskussion über deren Voraussetzungen. Die moderne Fachwissenschaft Philosophie zieht ihre Rechtfertigung aus dem Anspruch, philosophische Methoden könnten auch für andere Wissens- und Praxisgebiete hilfreich sein. Darüber hinaus betrachten die Philosophen die Erörterung ethischer Themen und Grundsatzfragen als ihr ureigenes Gebiet. Die Universitäten sind in ihrem Selbstverständnis gegenwärtig durch die Vermittlung der traditionellen philosophischen Disziplinen Logik, Ethik, Erkenntnistheorie, Wissenschaftstheorie und Philosophiegeschichte im Rahmen der Lehrerausbildung geprägt. So findet der Diskurs der Philosophie an den Universitäten häufig abgetrennt nicht nur von der Religion, sondern auch von den Sozialwissenschaften, von Literatur und Kunst weitgehend als theoretische Philosophie mit einer starken Betonung von Wissenschaftstheorie, Sprachanalyse und Logik statt. Dennoch gibt es auch in der „Fachwissenschaft Philosophie“ immer wieder Impulse, an öffentlichen Debatten der Gegenwart teilzunehmen und Stellung zu beziehen z. B. zu ethischen Fragen der Verwendung von Technik, zur Ökologie, zur Genetik, (seit der Antike auch) zu medizinischen Problemen (Medizinphilosophie, Medizinethik) oder zu solchen der interkulturellen Philosophie. Neben der universitären Philosophie gab es jedoch auch immer eigenständige Denker außerhalb der Institutionen. Seitdem die Aufklärer Voltaire, Rousseau und Diderot (als Impulsgeber der Enzyklopädie mit dem Ziel der Aufklärung durch Wissen) in Frankreich philosophes genannt wurden, verstand man darunter in der Tradition von Montaigne allgemein auch gelehrte Schriftsteller, die sich über populäre, also über Themen von allgemeinem öffentlichen Interesse äußerten – so auch Universalgelehrte wie Goethe und Schiller. Denkern des 18. und 19. Jahrhunderts wie Adam Smith, Abraham Lincoln, Jean Paul, Friedrich Nietzsche, Émile Zola, Lew Tolstoi, Karl Marx, Sigmund Freud oder Søren Kierkegaard war gemeinsam, dass sie allesamt nicht an eine Universität angebunden waren und keine akademische Schulphilosophie betrieben. Dennoch gingen von ihnen in der Öffentlichkeit viel beachtete philosophische Impulse aus und sie reflektierten die Philosophiegeschichte eigenständig – vergleichbar mit in der Gegenwart viel gelesenen Denkern wie Paul Watzlawick, Umberto Eco oder Peter Sloterdijk. Eine recht junge Entwicklung ist die Einrichtung von Philosophischen Praxen, die eine Alternative zu anderen gesellschaftlichen Beratungs- und Orientierungsmöglichkeiten anbieten wollen. Im Mai 1988 kam es im Zuge der Perestroika zu einer Wiederbelebung der philosophischen und wissenschaftlichen Tradition. Es wurde eine Bibliothek mit etwa vierzig Bänden, darunter Werke von Denkern des neunzehnten Jahrhunderts, die in der Sowjetunion nicht mehr publiziert worden waren, und Texte von Intellektuellen, die das Land auf dem Philosophenschiff hatten verlassen müssen, zusammengestellt. == Disziplinen == === Allgemein === Die heutige Philosophie gliedert sich in systematische Sachdisziplinen und die Philosophiegeschichte. Erstere lassen sich im Wesentlichen der theoretischen oder praktischen Richtung zuordnen (s. u.). Berührungspunkte zwischen systematischem Philosophieren und Philosophiegeschichte finden sich etwa in der Systematologie. Systematische Philosophie im strengen Sinne erhebt den Anspruch, „die Totalität der in irgend einem Zeitpunkt erreichten Erkenntnisse als ein Ganzes darzustellen, dessen Teile durchgängig in logischen Verhältnissen verknüpft sind“.Auch wenn sich der Bereich, den die Philosophie insgesamt umfasst, in gewissem Sinne nicht eingrenzen lässt (da sie „alles“ behandelt), gibt es doch bestimmte Domänen, in denen sie hauptsächlich tätig ist. Der Philosoph Immanuel Kant hat diese in den folgenden Fragen zusammengefasst: Was kann ich wissen? Was soll ich tun? Was darf ich hoffen? Was ist der Mensch?Etwas weniger allgemein gestellt können diese Fragen ungefähr so lauten: Wie können wir zu Erkenntnis gelangen und wie sind diese Erkenntnisse einzuschätzen? (Erkenntnis- und Wissenschaftstheorie, Logik) Wie sollen wir handeln? (Ethik) Was ist die Welt? Warum gibt es überhaupt etwas und „nicht vielmehr nichts“? Gibt es einen Gott oder was sollte man sich unter dem Begriff „Gott“ überhaupt vorstellen? Steuert die Geschichte auf ein Ziel zu und wenn ja auf welches? (Metaphysik, Religions- und Geschichtsphilosophie) Was sind wir für Wesen? In welchem Verhältnis stehen wir zu der Welt, die wir vorfinden? (Philosophische Anthropologie, Kultur- und Sozialphilosophie, Philosophische Ästhetik) === Abgrenzung theoretische und praktische Philosophie === Die Unterscheidung zwischen praktischer und theoretischer Philosophie geht auf Aristoteles zurück. Für ihn richtete sich die theoretische Philosophie auf zweckfreie Erkenntnis notwendiger Gründe, die praktische Philosophie dagegen auf das optionale, zweckgebundene praktische und politische Handeln des Menschen. Ab dem 17. Jahrhundert wurde diese Unterscheidung wieder aufgegriffen und – vor allem in der Schulphilosophie des Christian Wolff – terminologisch fixiert. Vor dem Hintergrund der Forderung nach Wissenschaftlichkeit verkehrte sich jedoch der Sinn dieser Unterscheidung: Theoretische und praktische Philosophie sollten beide gleichermaßen wissenschaftlich werden. Nach einer vielfach aufgenommenen Unterscheidung Immanuel Kants handelt die praktische Philosophie von dem, was sein soll, während die theoretische Philosophie sich mit dem beschäftigt, was ist. Einige interdisziplinäre Gebiete der Philosophie der Gegenwart widersetzen sich teilweise dieser Zweiteilung, siehe etwa die Kritik von Jürgen Habermas an Edmund Husserl und die Kontroverse der Werturteilsfreiheit.Klassischerweise werden der theoretischen Philosophie Logik, Metaphysik und Ontologie, Erkenntnis- und Wissenschaftstheorie, aber auch mathematische und Naturphilosophie zugerechnet. Vor allem die ersten drei beanspruchen Priorität als oberste philosophische Grundlagendisziplin. Zur praktischen Philosophie werden Ethik, Rechtsphilosophie, politische Philosophie, Handlungstheorie, Wirtschaftsphilosophie und Sozialphilosophie gezählt. === Theoretische Philosophie === ==== Logik ==== Die Logik beschäftigt sich nicht mit konkreten Inhalten, sondern mit den Gesetzmäßigkeiten der Folgerichtigkeit. Sie fragt, auf Grundlage welcher Regeln aus bestimmten Voraussetzungen („Prämissen“) bestimmte Schlussfolgerungen („Konklusionen“) gezogen oder nicht gezogen werden können (vgl. Fehlschlüsse). Insofern thematisiert sie die Grundlage aller auf Argumenten basierenden Arten von Wissenschaft. In früheren Zeiten wurde der Ausdruck „Logik“ in weiterer Bedeutung verwendet als heute. Typisch ist das Beispiel der Logik der Stoa. Diese umfasste auch den Bereich, der heute Erkenntnistheorie genannt wird, sprachphilosophische Probleme sowie die Rhetorik. Ganz ähnlich gilt dies noch für viele Logikbücher bis ins frühe 20. Jahrhundert. In der modernen Philosophie bezeichnet Logik als Wissenschaft des korrekten Folgerns nur noch die formale Logik. Diese überschneidet sich mit Gebieten aus Mathematik und Informatik. Die Logizisten meinen sogar, die gesamte Mathematik sei, abgesehen von Axiomfindung, nur logisches Ableiten bzw. Folgern. Inwieweit sich Logik auch auf andere Gebiete ausdehnt (z. B. Argumentationstheorie, Sprechakttheorie) ist hingegen umstritten. Zu den wichtigsten Logikern der Philosophiegeschichte zählen Aristoteles, Chrysipp, Johannes Buridanus, Gottlob Frege, Charles Sanders Peirce, Bertrand Russell mit Alfred N. Whitehead, Kurt Gödel und Alfred Tarski. ==== Erkenntnistheorie ==== Die Erkenntnistheorie fragt nach der Möglichkeit, Wissen zu erlangen und zu sichern. Umfang des Wissens, Natur des Wissens, Arten des Wissens, Quellen des Wissens und Struktur des Wissens werden untersucht, ebenso die Problematik der Wahrheit oder Falschheit von Theorien. Die Wahrnehmung der Wirklichkeit stellt sie genauso auf den Prüfstand, wie den Einfluss von Sprache und Denken auf den Erkenntnisvorgang. Außerdem versucht sie, die Grenzen der Erkenntnis abzustecken und zu definieren, was prinzipiell als „wissenschaftlich“ bezeichnet werden kann. Diese Erkenntniskritik stellt seit Immanuel Kant für viele Philosophen den fundamentalen Kern der Erkenntnistheorie dar. Wichtige Erkenntnistheoretiker waren u. a. Platon, Aristoteles, René Descartes, John Locke, David Hume, Immanuel Kant, Auguste Comte, Edmund Husserl und Ludwig Wittgenstein. ==== Wissenschaftstheorie ==== Die Wissenschaftstheorie ist eng verbunden mit der Erkenntnistheorie und analysiert bzw. postuliert die Voraussetzungen, Methoden und Ziele von Wissenschaft. Sie legt vor allem die Kriterien für die Begriffe „Wissenschaft“ und „wissenschaftlich“ fest und versucht sie damit von Para- und Pseudowissenschaften abzugrenzen. Dazu haben sich heute mehrere grundlegende, nicht durch die Einzelwissenschaften selbst zu rechtfertigende methodische Vorgaben, herausgebildet. Beispielsweise die Notwendigkeit der Wiederholbarkeit von Experimenten, das Ökonomieprinzip („Ockhams Rasiermesser“) und das Prinzip der Falsifizierbarkeit als Voraussetzung für sinnvolle wissenschaftliche Aussagen sind so Bestandteile dieser Wissenschaftsmodelle. Weiterhin beschäftigt sich die Wissenschaftstheorie mit dem Verhältnis zwischen wissenschaftlichen Erkenntnissen und den Konzepten von Wahrheit bzw. Wirklichkeit. Auch die mögliche Einteilung und Ordnung des menschlichen Wissens in Gebiete und ihre Hierarchisierung, sowie die Untersuchungen der Prinzipien des wissenschaftlichen Fortschreitens (vgl. Paradigmenwechsel) gehören zu ihrem Aufgabenbereich. Wichtige Vertreter der Wissenschaftstheorie sind z. B. Aristoteles, Francis Bacon, Rudolf Carnap, Karl Popper, Thomas Kuhn, Paul Feyerabend und Hilary Putnam. ==== Metaphysik und Ontologie ==== Die Metaphysik bildet fast seit jeher den Kern der Philosophie. Sie versucht die gesamte Wirklichkeit, wie sie uns erscheint, in einen sinnvollen Zusammenhang – oft auch in ein universelles System – zu bringen. Sie untersucht die Fundamente und allgemeinen Strukturen der Welt. Des Weiteren stellt sie die „letzten Fragen“ nach dem Sinn und Zweck allen Seins. Traditionell wird die Metaphysik in einen generellen und einen speziellen Zweig geteilt. Die generelle Metaphysik ist die Ontologie, welche in der Tradition des Aristoteles die Frage nach den Grundstrukturen alles Seienden und dem Sein stellt. Ihr Gegenstandsbereich ist uneingeschränkt. Philosophiegeschichtlich ist die Metaphysik vor allem durch drei Grundfragen geprägt: Gibt es Arten von Dingen, die für die Existenz anderer Arten grundlegend sind? (Aristoteles’ „Kategorien“) Gibt es eine erste/letzte Ursache, von deren Existenz die Existenz von allem anderen abhängt? (Aristoteles) Warum gibt es überhaupt etwas und nicht nichts? (nach Gottfried Wilhelm Leibniz, von Martin Heidegger zur Grundfrage erklärt)Die spezielle Metaphysik teilt sich in drei Disziplinen auf, die folgende Fragen stellen: nach der Existenz Gottes und seinen möglichen Eigenschaften (rationale bzw. natürliche Theologie); nach der Möglichkeit einer unsterblichen Seele und eines freien Willens, sowie nach Unterschieden zwischen Geist und Materie (rationale Psychologie); nach der Ursache, Verfasstheit und dem Zweck des Universums (rationale Kosmologie);Diese Fragen können und wollen die Naturwissenschaften mit ihrem Instrumentarium aus prinzipiellen Gründen nicht mehr behandeln, da die Gegenstände der Metaphysik prinzipiell jeder (sinnlichen) menschlichen Erfahrungsmöglichkeit entzogen sind. Wird die Existenz empirisch nicht untersuchbarer Bereiche der Wirklichkeit bestritten oder für nicht relevant erklärt, so erübrigen sich die Fragen der Metaphysik. Die traditionelle Metaphysik wurde auf zwei verschiedene Weisen kritisiert. Während der Positivismus und Vertreter analytischer Philosophie in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts tendenziell auf eine Abschaffung der Metaphysik durch logische Analyse der Sprache drängten, versuchte beispielsweise Martin Heidegger, in einer Überwindung der Metaphysikgeschichte und in einer radikalen Wende der Fragestellung auf die Analyse des menschlichen Daseins einen Neuansatz für eine alternative Metaphysik zu schaffen (Fundamentalontologie, Existenzphilosophie). Mittlerweile finden traditionelle metaphysische, insbesondere ontologische Fragen und Probleme wieder breitere Beachtung in der philosophischen Diskussion – auch in viel debattierten Disziplinen wie der Philosophie des Geistes. Wichtige Metaphysiker waren u. a. Platon, Aristoteles, Thomas von Aquin, René Descartes, Gottfried Wilhelm Leibniz sowie die Vertreter des Deutschen Idealismus und der Neuscholastik. ==== Sprachphilosophie ==== Die Sprachphilosophie untersucht die Beziehung zwischen Sprache, Denken und Wirklichkeit. Die Analyse von Sprache, z. B. mittels der genauen Zerlegung von Begriffen, ist in der Philosophie von jeher betrieben worden. Von Anfang an war damit die überragende Bedeutung der Sprache für kommunikative Prozesse, Wahrheitsfindung, Erkenntnismöglichkeiten und die Beschreibung und Wahrnehmung der Welt ein zentrales Thema der Philosophie. So wurde beispielsweise bereits in der Antike die Frage erörtert, ob einem Ding eine bestimmte Bezeichnung „von Natur aus“ oder nur durch willkürliche Festlegung durch den Menschen zukomme. Auch das sich hieran anschließende wichtige Thema der mittelalterlichen Philosophie – der Universalienstreit – kann teilweise als ein Problem dieses Bereichs begriffen werden. Die moderne Sprachphilosophie, welche im 20. Jahrhundert die so genannte „Linguistische Wende“ (linguistic turn) auslöste, befasst sich u. a. mit der Abhängigkeit der Wirklichkeitserfassung von den individuellen sprachlichen Möglichkeiten (vgl. Sapir-Whorf-Hypothese), mit der Herstellung von Wahrheit, Erkenntnis und Wissen durch Kommunikation (vgl. Sprachspiel), wie man mit Hilfe sprachlicher Äußerungen Handlungen vollzieht (John Langshaw Austin: „How to do things with words“, vgl. Pragmatik), dem verzerrenden Einfluss der Sprache auf die Realität (z. B. in der feministischen Linguistik) sowie mit der Frage, was „Bedeutung“ ist. Zu den wichtigsten Sprachphilosophen zählen Gottlob Frege, Charles S. Peirce, George Edward Moore, Bertrand Russell, W.v.O. Quine, Saul Kripke und Ludwig Wittgenstein. Wichtige Beiträge haben auch die Schüler Ferdinand de Saussures (Strukturalismus), Martin Heidegger (Etymologie und Neologismen), Michel Foucault (Diskursanalyse) und Jacques Derrida (Poststrukturalismus) geliefert. === Praktische Philosophie === Praktische Philosophie bezeichnet gemäß der aristotelischen Tradition denjenigen Teilbereich der Philosophie, der sich aus den Disziplinen Ethik, Rechtsphilosophie, Staatsphilosophie, Politische Philosophie und den Grundlagen der Ökonomie (siehe auch Wirtschaftsphilosophie) zusammensetzt. Praktische Philosophie ist auf die philosophische Erforschung der menschlichen Praxis gerichtet. Aristoteles hatte der theoretischen Philosophie, die sich auf zweckfreie Erkenntnis notwendiger Gründe richtet, die praktische Philosophie (Ethik, Ökonomie und Politik) gegenübergestellt, die sich auf das zweckgebundene praktische und politische Handeln des Menschen im Bereich dessen bezieht, was sich auch anders verhalten kann. Vor dem Hintergrund der Forderung nach Wissenschaftlichkeit relativierte sich jedoch der Sinn dieser Unterscheidung: Theoretische und praktische Philosophie sollten beide gleichermaßen wissenschaftlich werden. Mitte des 19. Jahrhunderts begannen sich die einzelnen Teildisziplinen der praktischen Philosophie zu spezialisieren und allmählich als Einzeldisziplinen herauszubilden. ==== Ethik und Metaethik ==== Die philosophische Ethik befasst sich mit Antworten auf die Kantsche Frage "Was sollen wir tun?". Sie erstellt Kriterien für die Beurteilung von Handlungen und bewertet diese hinsichtlich ihrer Motive und Konsequenzen. Dabei unterscheidet sie sich von der Moral, die bestimmte Handlungen traditionell oder konventionell vorschreibt, obgleich das Ziel der normativen Ethik in der Begründung von allgemeingültigen Normen und Werten gesehen werden kann. Dieses Ziel gilt vielen Philosophen als gescheitert, da es gemäß der deontischen Logik als auch aufgrund von Humes Gesetz unmöglich ist, Normen aus nichtnormativen Sätzen zu deduzieren, d. h. bestimmte Werte, Normen oder Präferenzen müssen immer schon vorausgesetzt werden, damit weitere Normen abgeleitet werden können. Rationale Ethik bestünde daher nur in der Prüfung, ob bestimmte Normen mit übergeordneten Zielen logisch vereinbar sind oder nicht. Bei einer voraussetzungslosen Philosophie hingegen wären ethische Maßstäbe für grundsätzliche Zweckorientierungen logisch nicht zu gewinnen. Andere Philosophen versuchen trotzdem, in verschiedenen, einander widersprechenden Konzepten, eine absolute Begründung von Normen zu finden. Am bekanntesten in Deutschland ist die transzendentalpragmatische, absolute Normenbegründung der Diskursethik nach Apel, der zufolge jeder Zweifler bereits Teilnehmer an einem Diskurs ist und daher ethische Diskursregeln anerkannt habe. Praktische Philosophen versuchen auch oft, eine oberste Regel oder ein allgemeines Kriterium für moralisches Handeln zu finden. Dabei ist die Goldene Regel wenig populär, da sie gleiche Wünsche aller Beteiligten voraussetzt. Dem Utilitarismus zufolge ist das oberste Moralprinzip, das größte Glück der größten Zahl anzustreben. Verbreitet ist auch Kants kategorischer Imperativ: Die deskriptive Ethik hingegen beschäftigt sich mit den verschiedenen vorhandenen Moralvorstellungen und versucht diese genau zu fassen und zu beschreiben, sie ist eher Teil der empirischen Humanwissenschaften als der Philosophie. Basis der allgemeinen Ethik ist die Metaethik, die das Sprechen über Ethik und ethische Begriffe („gut“, „böse“, „Handlung“) sowie normenlogische Folgerungen analysiert. Die Ethik gehört zu den wenigen Disziplinen der Philosophie, die bisher nur in geringem Maße von (anderen) Wissenschaften in Frage gestellt wurden. Dies ist nämlich logisch kaum möglich, da empirische Wissenschaften nur Fakten beschreiben und Mittel zur Erreichung von Zwecken entwickeln und verbessern, aber nicht sagen können, welche Zwecke jemand überhaupt verfolgen soll. Die Infragestellung aller ethischen Werte durch Amoralismus und Relativismus steht im Kontrast zur gesellschaftlichen Nachfrage nach Bereichsethiken wie der Medizin-, Tier- oder Wissenschaftsethik bis hin zur Hacker- und Informationsethik, aber auch der Schaffung von Institutionen wie dem Nationalen Ethikrat. Einflussreiche Ethiker sind unter anderem Aristoteles, die Stoiker und Epikureer, Thomas von Aquin, Immanuel Kant, Jeremy Bentham und John Stuart Mill, Max Scheler, Hans Jonas und Karl-Otto Apel. ==== Rechtsphilosophie ==== Eine direkte Anwendung der Ethik findet sich in der Rechtsphilosophie, die zugleich eine der Grundlagendisziplinen der Rechtswissenschaften darstellt. Basierend auf der Beurteilung von Handlungen in „gut“ und „schlecht“ wird die Frage nach Recht und Gerechtigkeit und der Folge der Verletzung von moralischen und ethischen Normen gestellt. Natürlich fragt die Rechtsphilosophie auch nach der Entstehung, Einsetzung und Legitimation des Rechts, dem Verhältnis von „natürlichem Recht“ (vgl. Menschenrechte) und „gesetztem Recht“ („positives Recht“), nach der Reihenfolge der Wichtigkeit von Rechtsnormen und ihrer Außerkraftsetzung. Hier gibt es Überschneidungen mit der politischen Philosophie. Bekannte Rechtsphilosophen sind Hugo Grotius, Niccolò Machiavelli, Thomas Hobbes, Hans Kelsen, Gustav Radbruch, H.L.A. Hart, Niklas Luhmann, Jürgen Habermas, John Rawls, Ronald Dworkin und Robert Alexy. ==== Politische Philosophie ==== Die politische Philosophie ist ähnlich wie die Rechtsphilosophie in großen Teilen von den benachbarten Wissenschaften vereinnahmt worden. So finden große Teile der philosophischen Diskussion in den Rechts- bzw. Politikwissenschaften statt. Die Entstehung, Rechtmäßigkeit und Verfasstheit eines Staates wird von der Staatstheorie untersucht. Die politische Theorie fragt nach der besten Herrschaftsform, dem Verhältnis zwischen Bürger und Staat, nach Machtverteilung, Gesetz, Eigentum, Sicherheit und Freiheit. Wichtige Beiträge hierzu haben u. a. die politischen Denker Platon, Aristoteles, Augustinus, Marsilius von Padua, Niccolò Machiavelli, Thomas Hobbes, John Locke, Jean-Jacques Rousseau, Immanuel Kant, Karl Marx, Michail Bakunin, Carl Schmitt, Hannah Arendt, Karl Popper und Michel Foucault geliefert. === Neuere Disziplinen === ==== Philosophie des Geistes und des Bewusstseins ==== Obgleich sie sehr alte Fragestellungen behandeln, ist die Philosophie des Geistes bzw. die Philosophie des Bewusstseins noch eine junge, interdisziplinär angelegte Disziplin, die an die Kognitions- und Neurowissenschaften angrenzt. Im Mittelpunkt stehen Fragen nach dem Wesen von Geist bzw. Bewusstsein, nach dem Verhältnis von Leib und Seele, Materie und Geist. Aber auch die Möglichkeit eines freien Willens, sowie das Wesen mentaler Zustände, von Bewusstseinsinhalten und Emotionen (Qualia) wird hier untersucht. Weiterhin befasst sich dieses Gebiet mit der Beurteilung verschiedener Bewusstseinszustände, Überlegungen zu künstlicher Intelligenz, mit der Identität des Selbst und mit dem Problem eines möglichen Weiterlebens nach dem physischen Tod. Untersuchungsebenen sind die ontologische, die epistemologische, die semantische und die methodologische.Bekannte Vertreter dieser Problemfelder sind Gottfried Wilhelm Leibniz, Baruch de Spinoza, Alan Turing, Hilary Putnam, John Searle, Jaegwon Kim und Donald Davidson. Von großer philosophischer Bedeutung sind hier auch im Kontext des Buddhismus ausgearbeitete Theorien. ==== Moderne philosophische Anthropologie ==== Die moderne philosophische Anthropologie befasst sich mit dem Wesen des Menschen, und zwar vornehmlich nicht als Individuum, sondern als Gattungswesen. Da sie von Menschen selbst betrieben wird, ist sie eine (dialektische) Selbstreflexion, die gleichzeitig eine Innen- und eine Außenperspektive aufweist. Die Daseinssituation des Menschen wird unter Einbeziehung aller wichtigen einzelwissenschaftlichen Erkenntnisse untersucht. Das Wesen des Menschen gibt viele Rätsel auf. Seine Stellung im Kosmos, das Verhältnis von Kultur zu Natur, Vereinzelung und Vergemeinschaftung, die Probleme der Geschlechtlichkeit, die Rolle von Liebe und Tod sind einige der Grundfragen der philosophischen Anthropologie. Ob der Mensch von Natur aus gut oder böse sei, ob Gewalt und Leid zwingend zur menschlichen Existenz gehören, ob das Leben überhaupt einen Sinn hat: all dies sind weitere Probleme dieser Disziplin. Sie untersucht aber auch grundsätzliche menschliche Bedürfnisse und Fähigkeiten wie Selbstverwirklichung, Kreativität, Neugier und Wissensdurst, Machtstreben und Altruismus, das Phänomen der Freiheit und die Wahrnehmung des Anderen. Wichtige Philosophen, die zu anthropologischen Problemen gearbeitet haben, sind Thomas von Aquin, Immanuel Kant, Arthur Schopenhauer, Friedrich Nietzsche, Søren Kierkegaard, Max Scheler, Arnold Gehlen, Ernst Cassirer, Helmuth Plessner und die Vertreter der Existenzphilosophie. Besonders in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts haben einige Philosophen Theorien über allgemeine Wesenszüge des Menschen kritisiert, darunter beispielsweise (mit unterschiedlicher Akzentuierung) Michel Foucault oder Jürgen Habermas. ==== Rationalitäts-, Handlungs- und Spieltheorie ==== Zu den aktuellen Problemen der philosophischen Forschung gehört die Analyse des menschlichen Handelns unter dem Gesichtspunkt der Vernünftigkeit. Dabei werden weniger die ethischen Motive berücksichtigt, sondern vielmehr rein mathematische Kosten-Nutzen-Abwägungen oder das logische Kalkül unter der Voraussetzung, dass der Mensch gewöhnlich rational handelt. Einige Philosophen verwenden die Spieltheorie, um Modelle für ethische Probleme zu entwickeln. Sowohl individuelle (z. B. das Gefangenendilemma), als auch gesellschaftliche Paradoxa (z. B. die Tragik der Allmende) lassen sich in diesem Rahmen, wenn schon nicht lösen, so doch verstehen. Die Handlungstheorie versucht, motivierte Handlungen zu erklären, so etwa, ob und wie es möglich ist, bei zwei alternativen Handlungen, frei und absichtlich die selbst für schlechter gehaltene zu wählen (Akrasia). Die Klärung des Begriffs „Rationalität“ ist, gerade wenn die Rationalität von Handlungen untersucht wird, ein in jüngerer Zeit umfänglich debattiertes Gebiet. In der Geschichte der Philosophie waren die Begriffe „Verstand“ und „Vernunft“, „ratio“ und „Intellekt“ oft strittig. An ihrer Bestimmung entschied sich oft, welche Konzeption von Philosophie vertreten wurde. In der Moderne ist „Rationalität“ in verschiedener Hinsicht zunehmend fragwürdig geworden, sodass die gegenwärtige Philosophie vor der Aufgabe steht, ihre eigene Minimalbestimmung kritisch zu hinterfragen. ==== Philosophische Mystik ==== Obwohl mystische Elemente in westlichen und östlichen philosophischen Traditionen oft präsent waren, ist der Begriff der „Philosophischen Mystik“ noch jung. Sie hält zum einen – ähnlich der Philosophia perennis – daran fest, dass es ewige, unveränderliche und universal gültige Wahrheiten bezüglich der Wirklichkeit und des Menschen zu erkennen gibt. Zum anderen betont sie, wie alle mystische Strömungen, den Vorrang des gegenwärtigen Hier-und-jetzt-Daseins, die Wichtigkeit der zweckfreien Kontemplation, die Würde der Schöpfung und die zentrale Bedeutung des Eingebettetseins der individuellen Existenz in das Ganze des Weltgefüges. In ihrer Arbeitsweise überschreitet sie die Grenzen von Vernunft und Verstand und betont auch erfahrbare, aber dennoch intersubjektiv mitteilbare und philosophisch behandelbare Gewissheiten. Zentrale Themen der philosophischen Mystik sind u. a. die Erfahrung der Aufhebung der Subjekt-Objekt-Spaltung, der Zusammenfall aller Gegensätze in Gott (coincidentia oppositorum), die mögliche Einheit des Menschen mit dem All-Ganzen (unio mystica) und die Spur des Göttlichen im menschlichen Wesen (scintilla animae). Einige westliche Philosophen, in deren Lehren sich mystische Elemente finden, sind Plotin, Meister Eckhart, Nikolaus von Kues, Jakob Böhme, Gottfried Wilhelm Leibniz, Blaise Pascal, Baruch de Spinoza, Martin Heidegger, Simone Weil und Ken Wilber. In der außereuropäischen, besonders der östlichen Philosophie, spielt die Mystik traditionell eine große Rolle. Typischerweise überwindet sie nicht nur die Grenzen der Philosophie, sondern auch die der Religion, so etwa im Zen, im Yoga, im Sufismus, in der Kabbala und in der christlichen Mystik. == Philosophiegeschichte aus westlicher Perspektive == Die Geschichte der westlichen Philosophie beginnt im 6. Jahrhundert v. Chr. im antiken Griechenland. Zu ihren wesentlichen Merkmalen gehört, dass immer wieder neue Antworten auf die philosophischen Grundfragen gefunden, begründet und diskutiert wurden. Dies lässt sich teils auf veränderte Bedürfnisse des jeweils herrschenden Zeitgeists, teils auf die fortdauernde Weiterentwicklung der übrigen Wissenschaften zurückführen. „Fortschritte“ im Sinne eines endgültigen Widerlegens oder Beweisens von Lehren macht die Philosophie aus Sicht mancher Philosophen allerdings kaum. Der Philosoph Alfred North Whitehead charakterisierte die Geschichte der europäischen Philosophie seit Aristoteles einmal als bloße „Fußnoten zu Platon“. Da philosophische Ideen und Begriffe nicht veralten, hat für die Philosophie die Untersuchung ihrer eigenen Geschichte eine weitaus größere Bedeutung als für die meisten anderen Wissenschaften. === Antike === In den Städten des antiken Griechenland kam es infolge kultureller Fortschritte und verstärkten Kontakts zu benachbarten Kulturen zu wachsender Kritik am traditionellen, vom Mythos geprägten Weltbild. In diesem geistigen Klima begann mit den Vorsokratikern – wie man die griechischen Philosophen vor oder zu Lebzeiten des Sokrates nennt – die Geschichte der westlichen Philosophie. Ihr nur bruchstückhaft überliefertes Denken ist von naturphilosophischen Fragen nach den Grundlagen der Welt bestimmt. Mittels einer Mischung aus Spekulation und empirischer Beobachtung versuchten sie, die Natur und die Vorgänge in ihr zu begreifen. Sie wollten alle Dinge auf ein ursprüngliches Prinzip (griechisch ἀρχή arché), und zwar einen „Urstoff“ zurückführen. So hielt der erste bekannte Philosoph Thales von Milet das Wasser für diesen „Urstoff“. Empedokles begründete die bis zum 18. Jahrhundert in der Naturphilosophie herrschende Lehre von den vier Elementen Wasser, Feuer, Erde und Luft, aus denen alle Dinge zusammengesetzt seien. Neben diesen Ansätzen gab es noch andere Modelle der Welterklärung. Pythagoras und seine Schule hielten die Zahl für das alles bestimmende Prinzip und nahmen damit einen wichtigen Grundsatz der modernen Naturwissenschaften vorweg. Heraklit betonte das Werden und Vergehen und sah als Grundlage der Wirklichkeit den Logos, ein einheitsstiftendes Prinzip der Gegensätze. Die Philosophie von Parmenides, der im Gegensatz dazu die Einheit und Unvergänglichkeit des Seins annahm, wird als Beginn der Ontologie aufgefasst. Mit dem Auftreten der Sophisten Mitte des 5. Jahrhunderts trat der Mensch in den Mittelpunkt philosophischer Betrachtung (Protagoras: „Der Mensch ist das Maß aller Dinge“). Sie beschäftigten sich besonders mit ethischen und politischen Problemen, etwa mit der Frage, ob Normen und Werte naturgegeben oder von Menschen festgelegt sind. Zu einem Leitbild der europäischen Philosophie wurde der Athener Sokrates (469–399 v. Chr.). Seine Methode der Mäeutik („Hebammenkunst“) bestand darin, dass Sokrates in scheinbarer Naivität seine Gesprächspartner durch eine tiefgründige und zielgerichtete Fragetechnik auf Widersprüche in ihrem Denken hinwies und zu Einsichten führte („beim Gebären unterstützte“), die ihnen zu einem philosophisch veränderten Blick auf die Welt verhalfen. Seine demonstrative geistige Unabhängigkeit und sein unangepasstes Verhalten trugen ihm ein Todesurteil wegen Gottlosigkeit und Verderbnis der Jugend ein (vgl. Apologie). Da Sokrates selbst nichts schriftlich festhielt, ist sein Bild maßgeblich von seinem Schüler Platon (ca. 428–347 v. Chr.) bestimmt worden, in dessen Werk Sokrates zentrale Bedeutung hat. Dieses weitestgehend in Dialogform abgefasste Werk bildet einen zentralen Ausgangspunkt der abendländischen Philosophie. Ausgehend von der sokratischen Was-ist-Frage („Was ist Tugend? Gerechtigkeit? Das Gute?“) schuf Platon die Ansätze einer Definitionslehre. Außerdem war er Urheber einer Ideenlehre, der die Vorstellung einer zweigeteilten Wirklichkeit zugrunde liegt: Dem mit den Sinnesorganen wahrnehmbaren dinglichen Objekt steht auf der Ebene der Ideen eine nur dem dafür empfänglichen Intellekt zugängliche abstrahierte, allgemeine Entsprechung gegenüber. Nach Platons Überzeugung führt das Wissen von diesen Ideen zu einem tiefergehenden Verständnis der gesamten Wirklichkeit. Platons Schüler Aristoteles (384–322 v. Chr.) verwarf die Ideenlehre als eine unnötige „Verdopplung der Welt“. Für ihn bestand das Wesen eines Dinges nicht in einer zusätzlich existierenden Idee, sondern in der Form, die dem Ding innewohnt. Seine Schule begann die gesamte erfahrbare Wirklichkeit – Natur und Gesellschaft – in verschiedene Wissensgebiete zu gliedern, zu analysieren und wissenschaftlich zu ordnen. Außerdem begründete Aristoteles die klassische Logik (Syllogistik), Wissenschaftssystematik und Wissenschaftstheorie. Dabei führte er philosophische Grundbegriffe ein, die bis in die Neuzeit maßgeblich blieben. Am Übergang vom 4. zum 3. Jahrhundert v. Chr. entstanden in Athen im Hellenismus zwei weitere philosophische Schulen, die in deutlicher Akzentverschiebung gegenüber der platonischen Akademie und dem aristotelischen Peripatos das individuelle Seelenheil in das Zentrum ihres Bemühens stellten: Für Epikur (ca. 341–270 v. Chr.) und seine Anhänger einerseits sowie für die Stoiker um Zenon von Kition andererseits diente Philosophie hauptsächlich dazu, mit ethischen Mitteln psychisches Wohlbefinden bzw. Gelassenheit zu erlangen. Epikur sah dafür ein maßvoll gestaltetes, wohldosiertes Genussleben vor, das sich von aller politischen Betätigung fernhielt. Die Stoiker erstrebten die Seelenruhe, indem gegenüber allen inneren und äußeren Herausforderungen Gleichmut bewahrt werden sollte. Dies sollte vor allem durch Kontrolle der Emotionen in Verbindung mit einer schicksalsbejahenden Grundhaltung im Einklang mit der Ordnung des Universums erreicht werden; zugleich wusste man um die Verpflichtungen gegenüber den Mitmenschen und der Gemeinschaft. Diese Lehre fand später Eingang in führende Kreise der Römischen Republik. Während die Anhänger der pyrrhonischen Skepsis grundsätzlich die Möglichkeit sicherer Urteile und unzweifelhaften Wissens bestritten, formte Plotin im 3. Jahrhundert Platons Ideenlehre um (Neuplatonismus). Seine Konzeption von der Abstufung des Seins (vom „Einen“ bis hinab zur Materie) bot dem Christentum mannigfaltige Anknüpfungsmöglichkeiten und war die vorherrschende Philosophie der Spätantike. === Mittelalter === Die Philosophie des Mittelalters sonderte sich nur allmählich von der Theologie ab und blieb auch dann wesentlich durch religiöse Institutionen, Lebensformen und Lehren geprägt. Sie orientierte sich methodisch und inhaltlich stark an Traditionen und Autoritäten. Fundament und Bezugsgröße bildeten im christlichen Kontext wesentlich die Lehren, welche die Kirchenväter der Patristik geschaffen hatten. Als maßgeblich erwiesen sich bis zum Beginn des Spätmittelalters vor allem die Ansichten des Augustinus von Hippo. Er fasste die Weltgeschichte als unablässigen Kampf des Reichs des Bösen gegen das Reich des Guten auf. Gesellschaft und Kirche, Theologie und Philosophie bilden demnach eine Einheit, die keine Zweifel an Entscheidungen der Kirche zulässt. Der „letzte Römer“ und „erste Scholastiker“ Boethius stand am Anfang der mittelalterlichen Versuche, eine Synthese zwischen dem platonischen und dem aristotelischen Denken zu bilden, begründete die mittelalterliche Logik, bildete Begriffe wie „Person“ oder „Natur“, löste den Universalienstreit aus und entwarf eine folgenreiche Wissenschaftskonzeption, an die etwa die Schule von Chartres anschloss. Während im Osten das griechischsprachige byzantinische Reich wichtige Teile des antiken Wissens bewahrte, beschränkte sich die bruchstückhafte Erhaltung des antiken Erbes im „lateinischen Westen“ bis zum Beginn des Spätmittelalters weitgehend auf die Kloster- und Domschulen. Bis 1100 traten nur wenige Philosophen hervor, darunter Anselm von Canterbury, der einen rein philosophischen Gottesbeweis formulierte, dem eine anhaltende Nachwirkung beschieden war. Seit dem späten 11. Jahrhundert erlebte die westliche Philosophie einen Aufschwung. Dabei spielte die Verbreitung von übersetzten Werken arabischsprachiger Philosophen, die ihrerseits an antike Traditionen anknüpften, eine wesentliche Rolle. Eines der Hauptthemen der mittelalterlichen Philosophie wurde schon früh der Universalienstreit. Dabei ging es um die Frage, ob Allgemeinbegriffe bloße gedankliche Abstraktionen und Konventionen zum Zweck der Verständigung sind oder ob sie eine eigenständige objektive Realität bezeichnen, wie die platonische Tradition mit ihrer Ideenlehre behauptet. Im Zusammenhang mit diesem Problemfeld setzten sich viele Denker intensiv mit der Sprachlogik auseinander; es entstand die „spekulative Grammatik“, die nach der Verbindung zwischen einer Theorie der Grammatik und einer Theorie der Wirklichkeit fragt. Viele Philosophen nahmen im Universalienstreit vermittelnde Positionen ein, darunter Petrus Abaelardus. Dieser trug viel zur Herausbildung der scholastischen Methode der Gegenüberstellung und Abwägung gegensätzlicher Lehrmeinungen bei. Im 13. Jahrhundert wurden zahlreiche bisher im Westen unbekannte Werke des Aristoteles in neuen Übersetzungen zugänglich; hinzu kamen die Schriften der arabischsprachigen Aristoteleskommentatoren. Sie wurden zur Grundlage des universitären Unterrichts. Besonders Albertus Magnus und sein Schüler Thomas von Aquin sorgten für die Verbreitung des Aristotelismus, der sich schließlich gegenüber dem bisher vorherrschenden Platonismus bzw. Augustinismus weitgehend durchsetzte und bis tief in die Frühe Neuzeit hinein die maßgebliche philosophische Richtung in der akademischen Welt blieb. Thomas begründete den Thomismus, einen großangelegten Versuch der Zusammenführung aristotelischer Philosophie mit den Lehren der katholischen Kirche. Während der Orden der Dominikaner schon früh diese zunächst noch verurteilte Konzeption durchsetzte, entwarfen besonders Denker der Franziskaner wie Johannes Duns Scotus Alternativen. Dieser erkannte u. a. die Eigenständigkeit der Philosophie gegenüber der Theologie an. Gegenstand der Metaphysik war für ihn nicht Gott (Averroes), sondern das Seiende als Seiendes (Avicenna). Darüber hinaus bestand er auf der Differenz zwischen geglaubtem und im Rahmen der Philosophie gedachtem Gott, was zahlreiche rein philosophische Beweisverfahren – etwa für die Unsterblichkeit der Seele – unmöglich machte. Konzepte, in denen geistige Erkenntnis nicht auf das Allgemeine, sondern auf das Einzelne abzielte, ermöglichten die Begründung einer erfahrungsorientierten Wissenschaft, wie sie auch ein anderer Vorläufer naturwissenschaftlichen Denkens, Roger Bacon, forderte: durch eine Abkehr von Spekulation und Autoritätsgläubigkeit. Ein weiterer Vorbereiter der Moderne war der prominenteste Vorkämpfer des Nominalismus, Wilhelm von Ockham, der im frühen 14. Jahrhundert einen neuen Weg in der Philosophie einschlug (via moderna). Marsilius von Padua begründete eine neue Staatstheorie, in der sich wichtige Ideen der Neuzeit (Gesellschaftsvertrag, Trennung von Kirche und Staat) ankündigten. Wichtigster Vertreter der christlichen Mystik des Mittelalters war Meister Eckhart, der sich als „Lebensmeister“ sah und die Bedeutung der praktischen Umsetzung philosophischer Erkenntnis im eigenen Lebensvollzug betonte. Ebenfalls in dieser Tradition stand Nikolaus von Kues, der an der Schwelle zur Neuzeit viele Entwicklungen der folgenden Jahrhunderte vorwegnahm. Seine Ideen, die von der Unerkennbarkeit Gottes bis zu den Gesetzen und Grenzen der Physik oder der Erkenntnis reichen, weisen auf spätere Denker wie Immanuel Kant, Isaac Newton und Albert Einstein voraus. === Frühe Neuzeit === Der Übergang vom Mittelalter zur Neuzeit wird von der Renaissance und dem Humanismus markiert. In dieser Epoche konnte sich neben der breiten Strömung der traditionellen Scholastik allmählich die neuzeitliche Philosophie etablieren. Besonders die politische Philosophie geriet in der Renaissance in Bewegung: Niccolò Machiavellis These, die Ausübung politischer Herrschaft sei nicht unter moralischem, sondern allein unter dem Nützlichkeitsaspekt zu beurteilen, erregt noch heute Anstoß. Eine ganz andere Richtung schlug Thomas Morus ein, der in seiner Utopie (Utopia, 1516) einen Staat mit Bildung für alle, mit Religionsfreiheit und ohne Privateigentum entwarf, womit er einige Ideen der Moderne vorwegnahm. Während der Humanist Pico della Mirandola versuchte, eine grundsätzliche Übereinstimmung aller philosophischen Traditionen zu erweisen, wurde das Denken von Männern wie Johannes Kepler, Nikolaus Kopernikus oder Giordano Bruno von dem Versuch bestimmt, Philosophie und Naturwissenschaften miteinander zu verbinden. Vorstellungen wie das heliozentrische Weltbild, die des unendlichen Kosmos oder des Allgottglaubens stießen dabei auf heftigen Widerstand der Kirche. Das naturwissenschaftliche Weltbild, die Methoden der Mathematik und der Glaube an die Vernunft bestimmten die Philosophie der Neuzeit im 17. und 18. Jahrhundert. In der Theorie nahm sie die politischen Umbrüche vorweg, die dann in der Französischen Revolution gipfelten. Der Welterklärung des Rationalismus liegen „vernünftige Schlussfolgerungen“ zugrunde, somit auch dem von René Descartes (1596–1650) begründeten Cartesianismus. Sein Satz „Ich denke, also bin ich“, mit dem er den unbezweifelbaren Ursprung aller Gewissheiten gefunden zu haben glaubte, gehört zu den bekanntesten philosophischen Thesen. Denker wie Spinoza und Leibniz entwickelten seinen Ansatz in großen metaphysischen Systementwürfen (vgl. Monade) weiter. Diese erkenntnistheoretische Vorgehensweise wurde auf alle Teilgebiete der Philosophie angewendet; man versuchte, selbst die elementaren Grundsätze menschlicher Moral aus „vernünftigen“ Überlegungen abzuleiten, die so zwingend seien wie geometrische Beweise (Ethica, ordine geometrico demonstrata, 1677). Bei dem Theorietyp des Empirismus werden nur solche Hypothesen anerkannt, die sich auf „sinnliche Wahrnehmung“ zurückführen lassen. Ihm verpflichtet waren u. a. Thomas Hobbes, John Locke und David Hume. Das Prinzip der Ableitung aller Erkenntnis aus Sinneserfahrungen hat als Grundlage des naturwissenschaftlichen Arbeitens eine überragende Bedeutung bis in die Gegenwart. So ist auch die analytische Philosophie in dieser Denktradition verwurzelt. Die emanzipatorisch-bürgerliche Bewegung der Aufklärung erhob die Vernunft zur Grundlage aller Erkenntnis und zum Maßstab allen menschlichen Handelns. Sie forderte die Menschenrechte ein und dachte über die Wiederherstellung einer „unverfälschten natürlichen Lebensweise“ nach. Sie trat für staatliche Gewaltenteilung (Montesquieu) und Mitspracherechte insbesondere des Bürgertums ein. Eine theoretische Basis dafür war die Idee eines Gesellschaftsvertrags (z. B. bei Jean-Jacques Rousseau); Verfassungen sollten die neuen Rechte absichern. Die französischen Aufklärer Voltaire und Diderot kritisierten die Macht der Kirche und der absolutistischen Monarchen. Die Enzyklopädisten (d'Alembert) versuchten erstmals, das gesamte Wissen ihrer Zeit in einem Lexikon zusammenzufassen. Radikalere Vertreter der französischen Aufklärung waren Holbach, der erstmals eine naturalistische Sicht des Menschen im Sinne der Naturwissenschaft ohne Gott und Metaphysik entwarf, La Mettrie, der den Menschen als Maschine und Lust als Lebensziel ansah, und Sade, der aus beiden die Konsequenz zog, jegliche allgemein verbindliche Ethik zu verneinen. Schließlich erarbeitete einer der zentralen Philosophen der Neuzeit, Immanuel Kant, seine von vielen Zeitgenossen als revolutionär empfundene Erkenntniskritik. Sie besagt, dass wir nicht die Dinge selbst erkennen können, sondern immer nur deren Erscheinungen, die von den Möglichkeiten, die der Verstand und die Sinne bieten, vorgeformt werden. Danach ist jede Erkenntnis immer vom erkennenden Subjekt abhängig. Auch Kants weitere Arbeiten u. a. zur Ethik („kategorischer Imperativ“), Ästhetik und zum Völkerrecht (Zum ewigen Frieden, 1795/96) hatten erhebliche Bedeutung für die nachfolgenden Jahrhunderte. === 19. Jahrhundert === Ein Teil der Philosophie war in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts von dem Streben geprägt, die Erkenntnisse Kants zu „vollenden“, zu „verbessern“ oder zu übertreffen. Kennzeichnend für den Deutschen Idealismus (Fichte, Schelling, Hegel) sind die allumfassenden spekulativen metaphysischen Systeme, in denen das „Ich“, das „Absolute“ bzw. der „Geist“ die Grundlagen der Welt bestimmen. Eine andere Richtung schlugen empiristisch geprägte Strömungen wie der Positivismus ein, der die Welt allein mit Hilfe der empirischen Wissenschaften, d. h. ohne Metaphysik erklären wollte. In England erarbeiteten Bentham und Mill den Utilitarismus, der der Ökonomie und der Ethik durch ein konsequentes Kosten-Nutzen-Konzept und mit der Idee einer Art „Wohlstand für alle“ (das Prinzip des größten Glücks der größten Zahl) wichtige Impulse gab. Die Ökonomie steht neben der Geschichtsphilosophie auch im Mittelpunkt der Philosophie von Marx, der im Anschluss an Hegel und die Materialisten den Kommunismus begründete. Marx forderte, theoretische Reflexionen an der Umgestaltung der konkreten sozialen Verhältnisse zu messen: Prominente Denker, die neue Wege einschlugen, waren Arthur Schopenhauer, Sören Kierkegaard und Friedrich Nietzsche. Schopenhauer betonte im Anschluss an die indische Philosophie die Priorität und Übermacht des Willens gegenüber der Vernunft. Seine pessimistische Weltsicht, die von der Erfahrung des Leidens bestimmt ist, geht auch von buddhistischen Vorstellungen aus. Friedrich Nietzsche, der wie Schopenhauer großen Einfluss auf die Künste hatte, bezeichnete sich selbst als Immoralisten. Für ihn waren die Werte der überkommenen christlichen Moral Ausdruck von Schwäche und Dekadenz. Er thematisierte Ideen des Nihilismus, des Übermenschen und der „ewigen Wiederkunft“, der endlosen Wiederholung der Geschichte. Der religiöse Denker Sören Kierkegaard war in mancher Hinsicht ein Vorläufer des Existenzialismus. Er vertrat einen radikalen Individualismus, der nicht danach fragt, wie man grundsätzlich richtig handeln könne, sondern wie man sich als Individuum in der jeweils konkreten Situation zu verhalten habe. === 20. Jahrhundert === Die Philosophie des 20. Jahrhunderts zeichnete sich durch ein großes Spektrum von Positionen und Strömungen aus. In seinen Anfängen war dieses Jahrhundert von einer starken Fortschritts- und Wissenschaftsgläubigkeit geprägt. Erst in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts – das auf gesellschaftlicher Ebene die Erfahrung der beiden Weltkriege, der Shoa und der Bedrohung des Planeten durch Kernwaffen gebracht hatte und das die Gefährdung der Ökosysteme durch den Menschen selbst hat hervortreten lassen – kamen die nach Rousseau weitgehend an den Rand gedrängten Fortschrittsskeptiker auch in der Philosophie wieder stärker zur Geltung. Die enormen Erfolge der Technik im 19. Jahrhundert führten zu einem Erstarken neopositivistischer Positionen. Der logische Empirist Rudolf Carnap plädierte dafür, die Philosophie gänzlich durch eine „Wissenschaftslogik“ – d. h. durch die logische Analyse der Wissenschaftssprache – zu ersetzen. Der kritische Rationalist Karl Popper argumentierte, dass wissenschaftlicher Fortschritt vor allem durch Widerlegung einzelner Theorien durch Experimente („Falsifizierung“) geschehe. Seiner Ansicht nach setzen sich in einem evolutionsartigen Selektionsprozess diejenigen wissenschaftlichen Theorien durch, die der Wahrheit am nächsten kommen. Thomas S. Kuhn hielt dagegen verschiedene Theorien zur selben Frage prinzipiell für unvergleichbar, eine Überlegenheit der einen über die andere daher für nicht sachlich begründbar, wodurch die Dominanz einer Theorie eine Sache der Rhetorik würde. In eine ähnliche Richtung ging auch das Plädoyer Paul Feyerabends für methodische Freiheit. Für den Pragmatismus schließlich müssen Theorien unter dem Gesichtspunkt ihrer Brauchbarkeit und Anwendbarkeit in der Praxis beurteilt werden. Als Reaktion auf die zunehmende Verwissenschaftlichung aller Lebensbereiche können jene Denkströmungen verstanden werden, die sich dem Einzelnen und dem Leben zuwenden. So war das Grundverständnis der Lebensphilosophie, dass sich die Ganzheitlichkeit des Lebens nicht allein durch Wissenschaft, Begriffe und Logik beschreiben lässt. Henri Bergson etwa sah einen fundamentalen Unterschied zwischen der individuell erlebten Zeit und der analytischen Zeit der Naturwissenschaft. Ähnlich kritisch forderte auch Edmund Husserl, der Begründer der Phänomenologie, dazu auf, sich bei der analytischen Betrachtung der Dinge zunächst an das zu halten, was dem Bewusstsein unmittelbar erscheint, um eine vorschnelle Weltdeutung zu vermeiden. Von großem Einfluss war die Existenzphilosophie seines Schülers Martin Heidegger. Dessen Ausgangspunkt war die Analyse der allgemeinen menschlichen Befindlichkeit und führte ihn zu der Frage nach dem Sinn von Sein überhaupt. Im Anschluss an Heidegger vertrat der Existenzialismus, insbesondere repräsentiert durch Jean-Paul Sartre, die These, dass der Mensch „zur Freiheit verurteilt“ sei. Er müsse mit jeder seiner Handlungen eine Wahl treffen, für die er selbst verantwortlich sei. Das 20. Jahrhundert war von sozialen Umwälzungen und dem Konflikt zwischen Sowjetkommunismus und westlich-kapitalistischen Gesellschaftsformen geprägt. Im Zuge dieser Auseinandersetzung, die im Kalten Krieg kulminierte und mit der Globalisierung weltweite Dimensionen annahm, wurden geschichts- und sozialphilosophische Fragestellungen in der philosophischen Debatte stark akzentuiert. Das von Karl Marx am Ende aller Klassenkämpfe in Aussicht gestellte „Reich der Freiheit“ suchte Ernst Bloch in Prinzip Hoffnung als konkrete Utopie zu erweisen, die gegenüber allen vorherigen Utopien den Vorzug habe, auf dem Fundament des Dialektischen Materialismus zu gründen. Auch Herbert Marcuse und die Begründer der Kritischen Theorie, Theodor W. Adorno und Max Horkheimer, entwickelten ihre philosophischen Ansätze zur Entfremdungsproblematik vor dem Hintergrund der Gesellschaftsanalysen von Marx und Engels. Mit Jürgen Habermas hat die auch als Frankfurter Schule bezeichnete Kritische Theorie einen Philosophen hervorgebracht, der mit seiner Theorie des kommunikativen Handelns und dem Ideal des „herrschaftsfreien Diskurses“ ebenfalls dem Leitbild einer aus Abhängigkeitsverhältnissen befreiten Gesellschaft verpflichtet ist, dabei aber die chancenreichen Potentiale der westlichen Demokratien schätzt. Vor den Gefahren eines „atomistischen Individualismus“ in modernen Gesellschaften warnt der Vordenker des Kommunitarismus Charles Taylor, der den Weg zur Erhaltung bzw. Schaffung humaner gesellschaftlicher und gesamtökologischer Lebensbedingungen in einer noch zu findenden Balance zwischen Individualrechten und Gemeinschaftspflichten der Menschen sieht. === Gegenwart === Die Philosophie der Gegenwart steht vor dem Problem, ihren Gegenstand überhaupt zu erfassen, da eine rückblickende Bewertung der verschiedenen Ansätze noch nicht vorzunehmen ist. Die Wissenschaftstheorie ist jedoch weiterentwickelt worden, indem sie klarere Begriffe von „Bestätigung“ und „Theorienreduktion“ prägte. Seit Ende des 19. Jahrhunderts wird der Sprache eine zunehmend zentrale Stellung in der Philosophie eingeräumt. Ludwig Wittgenstein entwarf ein völlig neues Verständnis von Sprache, die er als ein unüberschaubares Konglomerat einzelner „Sprachspiele“ begriff. Dabei behandle die Philosophie nur „Scheinprobleme“, d. h. sie heile lediglich ihre eigenen „Sprachverwirrungen“. Philosophieren sei also keine „erklärende“, sondern eine „therapeutische“ Tätigkeit: Die anfangs vorwiegend sprachphilosophisch orientierte analytische Philosophie dominiert in angelsächsischen Kontexten und zunehmend auch im deutschen Sprachraum die Methode akademischer Philosophie. An den meisten Universitäten herrscht jedoch ein ausgeprägter Pluralismus bezüglich der gelehrten philosophischen Themen und Strömungen. In den deutschsprachigen Ländern eher wenig beachtet, stellt auch die Neuscholastik, vor allem der Neuthomismus, weltweit eine einflussreiche Strömung der Gegenwartsphilosophie dar, seitdem die katholische Kirche diese Ende des 19. Jahrhunderts zum offiziellen Lehrinhalt u. a. der Priesterausbildung erhoben hatte. Die Postmoderne (z. B. Gilles Deleuze, Jean-François Lyotard, Jean Baudrillard, Jacques Derrida) ist eine Gegenbewegung zu den Ideen der Moderne und betont die Differenzen von Denk- und Lebenswelten. Auch die menschliche Identität schätzt sie als instabil ein. Die der Postmoderne nahestehende feministische Philosophie zielt auf die Abhängigkeit der Weltinterpretation vom Geschlecht. == Lehr- und Forschungsbetrieb == Der philosophische Lehr- und Forschungsbetrieb umfasst die wissenschaftlichen Einrichtungen des Faches Philosophie. In Europa handelt es sich dabei meist um vom Staat finanzierte philosophische Institute, die Teil einer Universität sind. Ihre wissenschaftlichen Aufgaben sind erstens die Organisation eines Lehrbetriebs, der von Interessenten im Rahmen eines gesetzlich geregelten Studiums durchlaufen werden kann und zweitens die Forschung. Dazu haben die Institute bezahlte Stellen zur Verfügung, sowohl für wissenschaftliche Angestellte wie für Verwaltungsbeamte. Neben den Universitäts-Instituten existieren eigene philosophische Einrichtungen wie beispielsweise die Hochschule für Philosophie München. Im Jahr 2011 waren in Deutschland 1.191 Philosophen in Vollzeit angestellt, 2002 waren es noch 869. 2008 gab es an über 150 Lehrstühlen etwa 330 Professoren. In demselben Jahr studierten ungefähr 15.000 Personen Philosophie. Diese Zahl ging gegenüber 1996, als 24.000 Personen studierten, deutlich zurück, wodurch sich das Betreuungsverhältnis erheblich verbesserte.In Österreich kann an den Universitäten Wien, Graz, Innsbruck, Salzburg und Klagenfurt Philosophie studiert werden. 2010 gab es insgesamt 3.651 Eingeschriebene. Das größte Institut befindet sich an der Universität Wien. == Siehe auch == Didaktik der Philosophie Forschungsfrage Frauen in der Philosophie Liste philosophischer Schulen Philosophische Fakultät Philosophische Praxis Zeittafel zur Philosophiegeschichte == Literatur == === Einführungen === Philosophiebibliographie: Einführungen in die Philosophie – Zusätzliche Literaturhinweise zum Thema Arno Anzenbacher: Einführung in die Philosophie. 10. Auflage. Herder, Freiburg i.Br. u. a. 2004, ISBN 3-451-27851-0 (bewährte Einführung, die historische und systematische Aspekte verbindet, von einem Theologen geschrieben) Kwame Anthony Appiah: Thinking it Through – An Introduction to Contemporary Philosophy. Oxford University Press, Oxford u. a. 2003, ISBN 0-19-516028-2 (Systematische Einführung mit konsequenter Anwendung der sokratischen Methode) Karl Bärthlein: Zur Geschichte der Philosophie. Band 2: Von Kant bis zur Gegenwart. Kastellaun 1983. Peggy H. Breitenstein, Johannes Rohbeck (Hrsg.): Philosophie: Geschichte – Disziplinen – Kompetenzen. Metzler, Stuttgart/Weimar 2011, ISBN 978-3-476-02299-8 (aus Bachelor-Vorlesungen entstandener systematischer und historischer Überblick auf gehobenem Niveau) Rafael Ferber: Philosophische Grundbegriffe. 2 Bände. Beck, München 2003, ISBN 3-406-45654-5 (Einführung in die zentralen Begriffe der Philosophie) Johannes Hübner: Einführung in die theoretische Philosophie. J.B. Metzler, Stuttgart/Weimar 2015. Thomas Nagel: Was bedeutet das alles? Eine ganz kurze Einführung in die Philosophie. Neudruck. Reclam, Stuttgart 2002, ISBN 3-15-008637-X (kurze, dichte Einführung anhand philosophischer Alltagsprobleme: Sinn des Lebens, Gerechtigkeit usw.) David Papineau (Hrsg.): Philosophie. Eine illustrierte Reise durch das Denken. WBG, Darmstadt 2006, ISBN 3-89678-565-6 eRef Hans Reiner: Philosophieren. Eine Einleitung in die Philosophie. PAIS-Verlag, Oberried 2002, ISBN 978-3-931992-15-6. Jay Rosenberg: Philosophieren. Ein Handbuch für Anfänger. Klostermann, Frankfurt am Main 2002, ISBN 3-465-01718-8 (Anleitung zum Philosophieren) Jens Soentgen: Selbstdenken! Peter Hammer Verlag, Wuppertal 2003, ISBN 3-87294-943-8 (insbesondere an jüngere Leser gerichtete Einführung in die Philosophie mit Vorstellung der wichtigsten Philosophen) Elisabeth Ströker, Wolfgang Wieland (Hrsg.): Handbuch Philosophie. 10 Bände. Alber, Freiburg/München 1981–1996. (Jeder Band behandelt eine philosophische Disziplin) Lukas Trabert (Hrsg.): Philosophischer Wegweiser. Alber, Freiburg/München 2010, ISBN 978-3-495-48500-2 (101 Autoren äußern sich zu Fragen nach der heutigen und zukünftigen Bedeutung der Philosophie und nach ihrem Selbstverständnis als Philosophen. Sie geben weiterhin darüber Auskunft, was sie für besonders lesenswert halten und welche Thesen sie gerne diskutieren möchten.) Stefan Jordan, Christian Nimtz (Hrsg.): Grundbegriffe der Philosophie. Reclam-Verlag premium 2019, ISBN 978-3-15-019630-4 (Auflistung der wichtigsten Grundbegriffe der Philosophie mit umfangreicher Erläuterung) === Hilfsmittel/Nachschlagewerke === Philosophiebibliographie: Hilfsmittel zur Philosophie – Zusätzliche Literaturhinweise zum Thema Kompakte LexikaRobert Audi (Hrsg.): The Cambridge dictionary of philosophy. Cambridge Univ. Press, Cambridge 1995, 1999, ISBN 0-521-63136-X, ISBN 0-521-63722-8 (kompaktes Handlexikon; umfangr. Register) Walter Brugger und Harald Schöndorf (Hrsg.): Philosophisches Wörterbuch. Alber, Freiburg / München 2010, ISBN 978-3-495-48213-1 (vollständige Überarbeitung von Bruggers Wörterbuch, Schwerpunkt auf Antike, Scholastik und Klassische neuzeitliche Philosophie.) Martin Gessmann (Hrsg.): Philosophisches Wörterbuch. Begründet 1965 von Heinrich Schmidt. 23., vollständig von Martin Gessmann neu bearbeitete Auflage 2009, Kröner Verlag Stuttgart, ISBN 978-3-520-01323-1 ( Nachfolgeauflage der von Georgi Schischkoff bearbeiteten 19. Auflage: Philosophisches Wörterbuch. Kröner, Stuttgart 1974; Nachdruck 1991 (22. Aufl.), ISBN 3-520-01322-3) Ted Honderich (Hrsg.): The Oxford Companion to Philosophy. Oxford University Press, Oxford 2005 (2. Aufl.), ISBN 0-19-926479-1 (kompaktes Handbuch) Anton Hügli, Poul Lübcke (Hrsg.): Philosophielexikon. Personen und Begriffe der abendländischen Philosophie von der Antike bis zur Gegenwart. Rowohlt, Reinbek bei Hamburg 2013 (6. Aufl.), ISBN 3-499-55689-8, und in elektronischer Form, ISBN 3-634-22405-3 Peter Kunzmann, Franz–Peter Burkard, Franz Wiedmann: dtv–Atlas Philosophie, Deutscher Taschenbuch Verlag, München 2001, 9. aktualisierte Auflage, ISBN 3-423-03229-4. Christian Nimtz, Stefan Jordan (Hrsg.): Lexikon Philosophie. 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Komet, Köln 2003, ISBN 3-89836-373-2 (umfassendes, leicht verständliches Nachschlagewerk zur Philosophie von der Antike bis heute) Franco Volpi, Julian Nida-Rümelin (Hrsg.): Lexikon der philosophischen Werke (= Kröners Taschenausgabe. Band 486). Kröner, Stuttgart 1988, ISBN 3-520-48601-6 (handlich, mit informativen Einstiegsinformationen)Umfängliche NachschlagewerkeDonald M. Borchert (Hrsg.): Encyclopedia of Philosophy. 10 Bände. 2. Auflage. Thomson Gale, Macmillan Reference, Detroit [u. a.] 2006, ISBN 0-02-866098-6; auch in elektronischer Form erhältlich (aktuelles Standardwerk) Historisches Wörterbuch der Philosophie, hrsg. von Joachim Ritter [u. a.], fortgeführt von Karlfried Gründer [u. a.] [= 2. Auflage von: Rudolf Eisler: Wörterbuch der philosophischen Begriffe], I-XII Basel [und Darmstadt] 1971–2005. (Das umfassendste Werk seiner Art, deutschsprachiges Standardwerk) Jürgen Mittelstraß mit Martin Carrier (Band 3–4) und Gereon Wolters (Hrsg.): Enzyklopädie Philosophie und Wissenschaftstheorie. 4 Bände. (Mannheim/)Stuttgart/Weimar (1984) 1995–1996; Nachdruck ebenda 2004; Gesamtwerk in acht Bänden: Metzler, Stuttgart 2005 ff., 2., neu bearbeitete und erweiterte Auflage, ISBN 978-3-476-02108-3 (wissenschaftsorientiert, stark im Bereich Logik und Mathematik) Hans Jörg Sandkühler (Hrsg.): Enzyklopädie Philosophie. 3 Bände. Meiner, Hamburg 2010, ISBN 978-3-7873-1999-2 (Nur umfassende Artikel zu Sachthemen) Edward Craig (Hrsg.): The Routledge Encyclopedia of Philosophy. 10 Bde. Routeledge, London 1998. (ein sehr umfangreiches Nachschlagewerk; auch als einbändige, allerdings sehr knappe Kurzfassung erschienen; außerdem auf CD-ROM erhältlich und als Online-Version) Hermann Krings, Hans Michael Baumgartner, Christoph Wild (Hrsg.): Handbuch Philosophischer Grundbegriffe. 3 Bde. (Studienausgabe: 6 Bde.) Kösel, München 1973–74. auf CD-ROM (PDF-Dateien): 2., vollständig durchgesehene Auflage 2003, ISBN 978-3-936532-22-7 in Nachfolge: Neues Handbuch philosophischer Grundbegriffe. Hrsg. von Petra Kolmer und Arnim G. Wildfeuer. Karl Alber, Freiburg i. Br. / München 2011 ff. Band 1 (A–F), ISBN 978-3-495-48222-3 (195 Autoren behandeln in 215 Abhandlungen Grundbegriffe der Philosophie.) Franco Volpi (Hrsg.): Großes Werklexikon der Philosophie. 2 Bde. Jubiläumsausgabe. Kröner, Stuttgart 2004, ISBN 3-520-83901-6 Dictionnaire des philosophes. 2 Bde. 2. Aufl. Hrsg. v. Denis Huisman. Presses universitaires de France, Paris 1993, ISBN 2-13-045524-7 Ernst R. Sandvoss: Geschichte der Philosophie, Directmedia Publishing, Berlin 2007, Digitale Bibliothek, CD-ROM, KDB Band 47, ISBN 978-3-89853-347-8LiteraturempfehlungenMarcel van Ackeren, Theo Kobusch, Jörn Müller (Hgg.): Warum noch Philosophie? Historische, systematische und gesellschaftliche Positionen, Walter de Gruyter, Berlin/Boston 2011, ISBN 978-3-11-022375-0. Annemarie Pieper, Urs Thurnherr: Was sollen Philosophen lesen? Schmidt, Berlin 1994, ISBN 3-503-03079-4 Norbert Retlich: Literatur für das Philosophiestudium. Metzler, Stuttgart u. a. 1998, ISBN 3-476-10308-0 Robert Zimmer: Basis Bibliothek Philosophie. Hundert klassische Werke. Reclam, Stuttgart 2003, ISBN 978-3-15-020137-4 === Periodika === Liste der Philosophiezeitschriften. == Weblinks == Literatur von und über Philosophie im Katalog der Deutschen NationalbibliothekHilfsmittel Hauptseite der Stanford Encyclopedia of Philosophy Handwörterbuch Philosophie Online Hauptseite der Internet Encyclopedia of Philosophy Index (Memento vom 28. September 2008 im Internet Archive) des Dictionary of the History of Ideas Rudolf Eisler: Wörterbuch der philosophischen Begriffe (1904) Friedrich Kirchner: Wörterbuch der philosophischen Grundbegriffe (1907)→ Hilfsmittel zur Geschichte der Philosophie siehe dort.Zeitschriften Information Philosophie – Portal der Zeitschrift im Internet mit Nachrichten und Informationen Notre Dame Philosophical Reviews − Onlinemagazin mit Buchbesprechungen der aktuellen Forschungsliteratur (englisch) Philosophia: E-Journal of Philosophy and Culture – Onlinemagazin (en, de, bg, fr)→ Liste der PhilosophiezeitschriftenMedien Sammlung von Mitschnitten von Vorträgen u. ä. in der Philosophischen Audiothek (MP3) Paul Hoyningen-Huene: Einführung in die Theoretische Philosophie (YouTube) Dietmar Hübner: Einführung in die Praktische Philosophie (YouTube)Sonstiges deutschlandfunk.de, Essay und Diskurs, 25. Dezember 2016, Carlos Fraenkel im Gespräch mit Thomas Kretschmer: Philosophie-Workshops: Über die Unverzichtbarkeit der Philosophie in einer zerrissenen Welt Kommentierte Literaturliste der Universität Erfurt (Memento vom 10. Juni 2007 im Internet Archive) (PDF; 47 kB) Studienführer Philosophie – sortiertes Verweisverzeichnis philosophischer Institute (mit Karte) Zwölf Klassiker der Philosophie – in je einem Satz In: Philomag, 15. Juni 2021 Thomas Grundmann: Hinweise zum strukturierten Lesen von philosophischen Texten (DOC-Datei; 50 kB) und Grundregeln für das Verfassen philosophischer Arbeiten (Word-Dokumente, 51 und 47 kB; DOC-Datei) Peter Suber: Metaphilosophy – Kursunterlagen (engl.) == Einzelnachweise ==
https://de.wikipedia.org/wiki/Philosophie
Peking
= Peking = Peking, auch Beijing (chinesisch 北京, Pinyin Běijīng, W.-G. Pei-ching – „Nördliche Hauptstadt“, [pei˨˩tɕiŋ˥˥] ), ist die Hauptstadt der Volksrepublik China. Peking hat eine über dreitausendjährige Geschichte und ist eine der vier regierungsunmittelbaren Städte Chinas, das heißt, sie hat den Rang einer Provinz. Das gesamte 16.411 Quadratkilometer (fast halb so groß wie Nordrhein-Westfalen) große Verwaltungsgebiet Pekings hat 21.893.095 Einwohner (Stand: Zensus 2020). Der größte Teil der Fläche ist ländlich strukturiert, und darin eingebettet liegen außer der Kernstadt Peking noch weitere städtische Siedlungen. Von der Gesamtbevölkerung sind 11,8 Millionen registrierte Bewohner mit ständigem Wohnsitz (戶口 / 户口, hùkǒu) und 7,7 Millionen temporäre Einwohner (流動人口 / 流动人口, liúdòng rénkǒu) mit befristeter Aufenthaltsgenehmigung (暫住證 / 暂住证, zànzhùzhèng). Wird die Kernstadt (hohe Bebauungsdichte und geschlossene Ortsform) als Grundlage genommen, leben in Peking rund 7,7 Millionen Menschen mit Hauptwohnsitz; der Ballungsraum (einschließlich Vororte) hat 11,8 Millionen Einwohner (Stand 2007). Ab 2018 soll die Metropole Kern einer Megalopolis von 130 Millionen Einwohnern namens Jing-Jin-Ji werden. Peking ist als Hauptstadt das politische Zentrum Chinas. Aufgrund der langen Geschichte beherbergt Peking ein bedeutendes Kulturerbe. Dies umfasst die traditionellen Wohnviertel mit Hutongs, den Tian’anmen-Platz (天安門廣場 / 天安门广场 – „wörtl. Platz am Tor des Himmlischen Friedens“), die 1987 von der UNESCO zum Weltkulturerbe erklärte Verbotene Stadt, den neuen und alten Sommerpalast und verschiedene Tempel, wie z. B. 2012 den Himmelstempel, den Lamatempel und den Konfuziustempel. == Etymologie == === Namen im Deutschen === Der Name Beijing, deutsch Peking (北京, Běijīng), bedeutet wörtlich „Nördliche Hauptstadt“. Auf die gleiche Art und Weise ist auch der Name der Stadt Nanjing (南京, Nánjīng) für „Südliche Hauptstadt“' gebildet worden. Gleiches gilt zudem für das japanische Tokio (japanisch 東京 Tōkyō) und das vietnamesische Đông Kinh (alte Bezeichnung für Hanoi), die beide „Östliche Hauptstadt“ (in ihrem jeweiligen Bezugsrahmen) bedeuten und im Chinesischen Dōngjīng (東京 / 东京) heißen. Der im Deutschen übliche Name „Peking“ folgt der Schreibweise des alten Transkriptionssystems der Chinesischen Post. Auf Hochchinesisch wird die Stadt [b̥èɪ̯.d̥ʑ̥íŋ] () ausgesprochen. In der offiziellen Transkription Pinyin wird sie demnach Běijīng bzw. ohne Tonzeichen Beijing geschrieben. In den 1930er Jahren befand sich auch die Umschrift Peiping oder Pekin im Mediengebrauch.In Deutschland wird zum Beispiel auch vom Auswärtigen Amt nach wie vor die Schreibweise „Peking“ verwendet. Aufgrund der Pressezensur seitens der chinesischen Regierung wird in deutschsprachigen Publikationen aus China ausschließlich die amtliche chinesische Schreibweise Beijing verwendet. Die deutschen Medien nutzen diese Form verstärkt. Dagegen hieß die Stadt historisch auf Deutsch auch „Pekingen“ und „Pecking“. === Adaptationen === Der Peking-Mensch sowie die Hunderasse Pekingese sind nach der Stadt benannt. == Geographie == === Geographische Lage === Peking liegt 110 Kilometer nordwestlich des Golfs von Bohai inmitten der Provinz Hebei, ist jedoch eine unabhängig verwaltete regierungsunmittelbare Stadt mit einer Fläche von 16.807,8 km², das entspricht in etwa der Bodenfläche des Freistaats Thüringen oder der Steiermark. Davon gehören aber nur 1.369,9 km² (8 %) zur Kernstadt (hohe Bebauungsdichte und geschlossene Ortsform). 15.398,4 km² (92 %) bestehen aus Vorstädten und Gebieten mit ländlicher Siedlungsstruktur. Die Metropolregion Peking, einschließlich des die eigentliche Stadt umgebenden Vorortgürtels, hat eine Fläche von 8.859,9 km². Die Stadt befindet sich am nordwestlichen Rand der dicht bevölkerten Nordchinesischen Tiefebene durchschnittlich 63 Meter über dem Meeresspiegel und ist von Bergen (Mongolisches Plateau) umgeben. Die höchste Erhebung des Verwaltungsgebietes von Beijing ist der Ling Shan (genauer: Dongling Shan 東靈山 / 东灵山) mit 2303 Metern. In Nord-Süd-Richtung erstreckt sich das Gebiet über 180 km, in Ost-West-Richtung über 170 km. Weitere große Städte im Verwaltungsgebiet von Peking sind (Stand 1. Januar 2007): Mentougou 205.574 Einwohner, Tongzhou 169.770 Einwohner, Shunyi 122.264 Einwohner, Huangcun 109.043 Einwohner und Fangshan 100.855 Einwohner. === Geologie === Die Nordchinesische Ebene (Große Ebene), in der Peking liegt, ist geologisch ein Einbruchsfeld, das später von den Deltabildungen der nordchinesischen Ströme ausgefüllt wurde. Sie besteht aus Schwemmlöss und Sanden, die von den Flüssen aus den westlichen Gebirgsländern herangeführt worden sind. Die Ebene ist also eine Fortsetzung des Lösslandes. Auch klimatisch – heißfeuchte Sommer und trockenkalte Winter mit Staubstürmen – und pflanzengeographisch – Parklandschaft mit steppenhaften Zügen – ähnelt sie den benachbarten Lössbergländern. Die Nordchinesische Ebene stellt einen riesigen Schwemmkegel dar, den der Huang He, der schlammreichste Fluss der Erde, im Laufe vieler Jahrtausende aufgeschüttet hat und dessen Ausläufer nördlich und südlich der Halbinsel Shandong das Gelbe Meer erreichen. Das Gebiet ist starken tektonischen Spannungen ausgesetzt die immer wieder zu Erdbeben führen, darum wurde bereits 1930 die Jiufeng-Erdbebenstation eingerichtet. Ursache ist die langsame Verschiebung der indischen Kontinentalplatte nach Norden in die eurasische Kontinentalplatte. Die Geschwindigkeit der Plattentektonik beträgt im Mittel etwa vier Zentimeter pro Jahr. Am 28. Juli 1976 ereignete sich in Tangshan, 140 km östlich von Peking, das folgenschwerste Erdbeben des 20. Jahrhunderts (siehe Beben von Tangshan 1976). Es hatte eine Stärke von 8,2 auf der Richterskala. Die offizielle Angabe der Regierung der Volksrepublik China über die Zahl der Toten beträgt 242.419, doch manche Schätzungen geben eine Zahl bis zu 800.000 Toten an, auch die Stärke wird offiziell nur mit 7,8 angegeben. Das Beben führte auch in Peking und anderen Städten der Region zu Schäden. === Stadtgliederung === Die Innenstadt von Peking (rot und blau markiert) ohne Vorortgürtel setzt sich aus sechs Stadtbezirken zusammen. Am 1. Juli 2010 wurden der Stadtbezirk Chongwen (崇文區 / 崇文区, Chóngwén Qū) in den Stadtbezirk Dongcheng und der Stadtbezirk Xuanwu (宣武區 / 宣武区, Xuānwǔ Qū) in den Stadtbezirk Xicheng eingegliedert. Chaoyang (朝陽區 / 朝阳区, Cháoyáng Qū), Dongcheng (東城區 / 东城区, Dōngchéng Qū), Fengtai (豐台區 / 丰台区, Fēngtái Qū), Haidian (海澱區 / 海淀区, 'Hǎidiàn Qū), Shijingshan (石景山區 / 石景山区, Shíjǐngshān Qū), Xicheng (西城區 / 西城区, Xīchéng Qū),In der nahen Umgebung der Innenstadt von Peking (grün markiert) befinden sich weitere sechs Stadtbezirke. Diese wurden zwischen 1986 und 2001 aus Kreisen in Stadtbezirke umgewandelt. Mentougou (門頭溝區 / 门头沟区, Méntóugōu Qū), Fangshan (房山區 / 房山区, Fángshān Qū) – Kreis Fangshan bis 1986, Tongzhou (通州區 / 通州区, Tōngzhōu Qū) – Kreis Tongxian bis 1997, Shunyi (順義區 / 顺义区, Shùnyì Qū) – Kreis Shunyi bis 1998, Changping (昌平區 / 昌平区, Chāngpíng Qū) – Kreis Changping bis 1999, Daxing (大興區 / 大兴区, Dàxīng Qū) – Kreis Daxing bis 2001.Weiter vom Innenstadtgebiet entfernt gibt es vier weitere Stadtbezirke (gelb markiert). Diese wurden 2001 und 2015 aus ehemaligen Kreisen gebildet. Stadtbezirk Pinggu (平谷區 / 平谷区, Pínggǔ Qū) – Kreis Pinggu bis 2001. Stadtbezirk Huairou (懷柔區 / 怀柔区, Huáiróu Qū) – Kreis Huairou bis 2001. Stadtbezirk Miyun (密雲區 / 密云区, Mìyún Qū),– Kreis Miyun bis 2015. Stadtbezirk Yanqing (延慶區 / 延庆区, Yánqìng Qū).– Kreis Yanqing bis 2015. === Klima === Obwohl Peking nur etwa 150 Kilometer von der Küste entfernt liegt, hat es aufgrund der Lage im Westwindgürtel ein gemäßigtes, kontinentales Klima, das heißt warme, feuchte Sommer und kalte, trockene Winter. Der Jahresniederschlag beträgt 578 mm im Mittel, davon fallen etwa 62 % in den Monaten Juli und August. Die Jahresdurchschnittstemperatur liegt bei 11,8 °C. Wärmster Monat ist der Juli mit einer mittleren Tageshöchsttemperatur von 30,8 °C und einer mittleren Tagestiefsttemperatur von 21,6 °C. Der kälteste Monat ist in der Gegend um Peking der Januar mit einer mittleren Tageshöchsttemperatur von 1,6 °C und einer mittleren Tagestiefsttemperatur von −9,6 °C. Im Winter herrschen Temperaturen bis zu −20 °C und ein eisiger, aus den Ebenen der Inneren Mongolei wehender Wind. Der Sommer (Juni bis August) ist schwül und heiß mit Temperaturen bis zu 40 °C, der kurze Frühling (April und Mai) trocken, aber windig. Im Herbst (September und Oktober) herrscht trockenes und mildes Wetter. Wenn der Wind aus dem Süden oder Südosten kommt, ist die Sicht, vor allem von Juni bis August, schlecht. Wenn der Wind hingegen aus dem Norden kommt, wird es im Winter sehr kalt, und im Frühjahr gibt es dann die Sandstürme. Die höchste Temperatur wurde offiziell am 15. Juni 1942 mit 42,6 °C gemessen, die tiefste am 22. Februar 1966 mit −27,4 °C. === Umweltprobleme === Die chinesische Hauptstadt hat mit zahlreichen Umweltproblemen zu kämpfen. Dazu gehören eine übermäßige Verschmutzung der Flüsse, Probleme bei der Trinkwasserversorgung, Luftverschmutzung, Defizite im öffentlichen Personennahverkehr und eine übermäßige Verkehrsbelastung. Seit Anfang der 1990er Jahre unternimmt die Regierung verstärkt Anstrengungen, um den Umweltschutz zu fördern. Es wurden Gesetze zum Recycling, zur Umweltverträglichkeitsprüfung, zur Steigerung der Energieeffizienz und zur Luftreinhaltung erlassen. Zur Verbesserung der Luftqualität wurden strengere Abgasregeln erlassen. Seit dem 1. Januar 2003 wurden nur noch Personenkraftwagen zugelassen, welche die Euronorm 2 erfüllen. Seit dem 1. März 2008 müssen alle Neuwagen den Euro-IV-Standard erfüllen. Zahlreiche dieselbetriebene Busse wurden durch Erdgasbusse ersetzt. Außerdem stieg der Anteil von elektrisch betriebenen Oberleitungsbussen an den insgesamt 18.000 Omnibussen in Peking auf rund fünf Prozent. Auch wird der schienengebundene Nahverkehr, besonders das U-Bahn-Netz, stark ausgebaut. Die Luftverschmutzung in der Metropole ist jedoch weiterhin bedenklich. Der hohe Gehalt an Feinstaub und anderen Luftschadstoffen stellen ein großes Problem dar.Im Rahmen des Saubere-Luft-Plans wurden von 2013 bis 2017 alle Kohlekraftwerke der Stadt stillgelegt und durch emissionsarme Gaskraftwerke ersetzt. Ebenfalls wurde ein Programm aufgelegt, das zum Ziel hat mit Kohle beheizte Wohngebäude auf elektrische Wärmepumpenheizungen umzustellen.Die Luftqualität der Hauptstadt gilt nach Angaben der Weltgesundheitsorganisation (WHO) als eine der schlechtesten der Welt. Die Ursachen liegen sowohl in den zahlreichen Fabrikanlagen und Kraftwerken als auch am Verkehr und in den privaten Haushalten. Bedingt durch die schnelle Verstädterung, das stark gestiegene Verkehrsaufkommen und die Industriekonzentration im Ballungsraum stellen die übermäßige Emissionsbelastung und der Smog eine ernsthafte Bedrohung für die öffentliche Gesundheit dar. Während Inversionswetterlagen nehmen besonders Atemwegserkrankungen unter der Bevölkerung der Hauptstadt zu. == Geschichte == === Urgeschichte === Im Gebiet der heutigen Stadt Peking lebten schon vor 770.000 ± 80.000 Jahren Vertreter des Homo erectus; sie wurden unter der Herkunftsbezeichnung Peking-Menschen bekannt, nachdem ihre Überreste in den 1920er und 1930er Jahren in Zhoukoudian, 50 km südwestlich der Stadtmitte, entdeckt worden waren. Am Fundort wurden viele Steinwerkzeuge vom Oldowan-Typ und Knochenwerkzeuge gefunden. Im Jahre 1987 wurde Zhoukoudian von der UNESCO in die Liste des Weltkulturerbes aufgenommen. === Die Zeit bis zur Machtübernahme der Yuan-Dynastie === ==== Ji (Schilf) – 1000 v. Chr. ==== Die Geschichte der Stadt Peking reicht zurück bis in die Zeit der westlichen Zhou-Dynastie (1121 bis 770 v. Chr.), als sie den Namen Ji (Schilf) trug. Unter diesem Namen wurde die Stadt 1000 v. Chr. zum ersten Mal urkundlich erwähnt. Ji war zu dieser Zeit ein Zentrum für den Handel mit den Mongolen und Koreanern sowie verschiedenen Stämmen aus Shandong und Zentralchina. ==== Yanjing (Hauptstadt der Yan) – 475 bis 221 v. Chr. ==== In der Zeit der Streitenden Reiche war Peking die Hauptstadt von Yan, weshalb die Stadt den Namen Yanjing (Hauptstadt der Yan) trug. 221 v. Chr. besetzte der spätere erste Kaiser Qin Shihuangdi (259–210 v. Chr.) bei seinem Reichseinigungskrieg die Stadt. Unter seiner Regierung wurden die nördlichen Mauern befestigt. ==== Rückbenennung in Ji (Schilf) – nach 221 v. Chr. ==== Die Kaiser der Qin-Dynastie änderten den Namen erneut in Ji. Unter ihrer Herrschaft verlor Peking seinen Status als Hauptstadt an Xianyang sowie an Bedeutung. In den folgenden Jahrhunderten entwickelte sich Ji von einer unbedeutenden Provinzstadt zu einem Handelsknotenpunkt und wichtigen Militärbasis zur Verteidigung der Nordgrenzen Chinas und wurde wegen ihrer strategischen Bedeutung mehrfach durch Steppen- und Nomadenvölker aus dem Norden besetzt. ==== Youzhou – 618 bis 907 n. Chr. ==== In der Zeit der Tang-Dynastie (618–907 n. Chr.) regierte in der Stadt, die nun Youzhou hieß, ein Militärgouverneur. Sie stand stets im Schatten der damaligen chinesischen Hauptstadt Chang’an. Erst unter der Fremdherrschaft der Liao-Dynastie erreichte Peking einen Teil seiner früheren Bedeutung zurück. Im Jahre 937 eroberten die Kitan unter Te-kuang (926–947) einen Teil Nordchinas und errichteten in Peking ihren Herrschaftssitz. 960 entstand den Kitan in der Song-Dynastie ein ebenbürtiger Gegner. Die Song-Dynastie versuchte 979 Nordchina zurückzuerobern, konnte aber den Kitan-General Yelü Hsiu-ko vor Peking nicht besiegen. Auch 986 blieb Yelü Hsiu-ko siegreich. ==== Zhongdu (Mittlere Hauptstadt) – 1153 bis 1215 ==== Nach der Eroberung durch die Jurchen im Jahre 1153 wurde Peking zur Hauptstadt der Jin-Dynastie und unter dem Namen Zhongdu („Mittlere Hauptstadt“) prächtig ausgebaut. Über 100.000 Arbeiter wurden für die Erweiterung der Stadt verpflichtet. ==== Khanbaliq / Dadu (Stadt des Khan / Große Hauptstadt) – nach 1215 ==== 1215 nahmen die Heerscharen des Dschingis Khan (1162–1227) Peking ein. Sie plünderten die Stadt und setzten sie in Brand. Auf den alten Trümmern ließ später Kublai Khan Dadu (die große Hauptstadt) errichten, die auch unter dem Namen Khanbaliq (Stadt des Khan, bei Marco Polo Cambaluc) bekannt wurde. Mit der Schaffung des Mongolenreiches erlangte die Stadt im Laufe des 13. Jahrhunderts eine vorherrschende Stellung. === Die Herrschaft der Yuan-Dynastie === Während der Herrschaft von Kublai Khan (1215–1294), dem Begründer der Yuan-Dynastie, wurde Peking unter dem Namen Dadu als Hauptstadt der Yuan geplant und ausgebaut. Die Stadt war von 1264 bis 1368 Hauptresidenz der Mongolen. Zu dieser Zeit unterstand dem Enkel des Dschingis Khan fast ganz Ostasien und die ersten Europäer – unter ihnen auch nach eigenen Angaben Marco Polo (1254–1324) – kamen über die berühmte Seidenstraße nach Peking. Marco Polo, der Kublais Gast war und eine Zeit lang in der Stadt arbeitete, war angesichts der großen Kultiviertheit überaus beeindruckt: „So zahlreich sind Häuser und Menschen, dass niemand ihre Zahl nennen könnte… Ich glaube es gibt keinen Ort auf der Welt, der so viele Händler, so viele kostbare und eigentümliche Waren und Schätze sieht, wie aus allen Himmelsrichtungen in diese gelangen …“ Der Reichtum war auf die Lage der Stadt am Ausgangspunkt der Seidenstraße zurückzuführen, und nach Polos Beschreibungen waren es „fast täglich mehr als eintausend mit Seide beladene Karren“, die in der Stadt eintrafen, um von dort ihre Weiterreise in Ländereien westlich von China anzutreten. In einer für die Großkhane, die später Kaiser genannt wurden, beispiellosen Entfaltung von Stil und Pracht errichtete sich Kublai einen an allen Seiten durch Mauern geschützten und über Marmortreppen zugänglichen Palast enormer Ausmaße. === Machtentfaltung unter den Ming- und Qing-Dynastien === 1368 wurde die Yuan- von der Ming-Dynastie abgelöst. Hongwu (1328–1398), der erste Kaiser der Ming-Dynastie, ließ seine Hauptstadt in Nanjing (Südliche Hauptstadt) am Fluss Yangzi errichten und änderte den Namen Dadus in Beiping (北平, Běipíng, Pei-p'ing – „Nördlicher Friede“). Seit 1408 begann Kaiser Yongle die Stadt unter ihrem neuen Namen Beijing (Nördliche Hauptstadt) völlig neu zu erbauen. Er schuf unter anderem die Verbotene Stadt und den Himmelstempel, womit Yongle wichtige Elemente der Stadtentwicklung vorzeichnete. Im Jahre 1421 ernannte Yongle Peking zur neuen Hauptstadt der Ming-Dynastie. Während der nachfolgenden Qing-Dynastie (1644–1911) wurde die Stadt durch weitere Tempel und Paläste erweitert. Diese Periode war vom Aufstieg und Niedergang der Mandschu beziehungsweise der Qing-Dynastie gekennzeichnet. Ihre größte Blütezeit erlebte die Hauptstadt während der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts unter den Kaisern Kangxi, Yongzheng und Qianlong. In jener Zeit errichteten die Qing nördlich der Stadt auch den legendären Sommerpalast, eine in der Welt einzigartige Gartenanlage für den Adel mit 200 Pavillons, Tempeln und Palastbauten vor der Kulisse einer weitläufigen Landschaft aus künstlich angelegten Seen und Hügeln. Gemeinsam mit dem Kaiserpalast bildete er den Mittelpunkt und das Symbol chinesischer Herrlichkeit und Machtentfaltung. Im Zweiten Opiumkrieg drangen jedoch britische und französische Truppen im Jahre 1860 bis an die Mauern der Hauptstadt vor, und der Sommerpalast wurde von den Briten zunächst geplündert und dann in Brand gesteckt, wobei er praktisch bis auf die Grundmauern niederbrannte. Während der Kaiserhof in einer separaten, ummauerten Stadt auf großzügigem Raum lebte, musste die Zivilbevölkerung unter menschenunwürdigen Bedingungen wohnen. Mit Geldern, die eigentlich für die Modernisierung der chinesischen Marine gedacht waren, begann die Kaiserinwitwe Cixi (1835–1908) ab 1884 einen neuen Sommerpalast für sich zu errichten. Ihr Projekt markierte als letztes großes Symbol das Ende kaiserlichen Bauglanzes und Patronats – und wurde wie sein Vorgänger von ausländischen Soldaten während des Boxeraufstands im Jahre 1900 durch Brand verwüstet. Zu jener Zeit standen das Reich und die kaiserliche Hauptstadt infolge sukzessiver Wellen ausländischer Besatzung kurz vor dem Zusammenbruch. === Peking nach der Abdankung der Mandschu === Nach der Abdankung der Mandschu und der Gründung der Republik China im Jahre 1912 blieb Peking bis 1928 das politische Zentrum Chinas. Dann richtete Chiang Kai-shek (1887–1975) die Hauptstadt in Nanjing ein. Peking war unter der Kontrolle rivalisierender Warlords und wurde daher von der Kuomintang 1928 wieder in Beiping (Nördlicher Friede) umbenannt, um deutlich zu machen, dass es sich nicht um eine Hauptstadt handelt. Während der turbulenten 1920er Jahre kam es in Peking zu Massenkundgebungen der Bewohner, zuerst 1925, um gegen das Massaker an chinesischen Demonstranten in Shanghai durch britische Soldaten zu protestieren, und 1926, um ihren Unmut über die schmähliche Kapitulation der Regierung vor Japan in der Mandschurei-Krise kundzutun. Als die Demonstranten auf Regierungsbehörden zumarschierten, eröffneten Soldaten das Feuer auf sie. Die Stadt wurde während des Zwischenfalls an der Marco-Polo-Brücke (Lugouqiao) zu Beginn des Zweiten Japanisch-Chinesischen Krieges am 19. Juli 1937 von der japanischen Armee besetzt. Erst nach Ende des Pazifikkriegs wurde die Stadt 1945 von Kuomintang und US-amerikanischen Marines befreit. === Die Zeit seit der Machtübernahme durch die Kommunisten === Im Januar 1949 nahmen die Kommunisten Peking ein – neun Monate, bevor die Flucht Chiang Kai-sheks nach Taiwan den endgültigen Sieg zur Gewissheit werden ließ. Im Anschluss an die Gründung der Volksrepublik China durch Mao Zedong am 1. Oktober 1949 erklärte die kommunistische Regierung Peking wieder zur Hauptstadt. Der Umbau der Hauptstadt und die Tilgung der Symbole früherer Regimes besaßen für die neuen Machthaber höchste Priorität. Um sich von der Vergangenheit zu befreien und eine moderne Hauptstadt des Volkes zu bauen, wurde ein Großteil der wertvollen alten Bausubstanz zerstört oder zweckentfremdet. So wurde zum Beispiel der Tempel der Gepflegten Weisheit zu einer Drahtfabrik umfunktioniert und im Tempel des Feuergottes wurden Glühbirnen hergestellt. In den 1940er Jahren besaß die Stadt noch 8000 Tempel und Denkmäler, in den 1960er Jahren war diese Zahl auf nunmehr 150 geschrumpft. Zum Schauplatz eines massiven Aufbegehrens durch das Volk wurde Peking 1989, als auf dem Tian’anmen-Platz im Zentrum der Stadt zwischen April und Juni des Jahres fast eine Million Demonstranten ihren Unmut über das schleppende Tempo von Reformen, den Mangel an Freiheit und die weit verbreitete Korruption kundtaten. Eine riesige Statue, die Göttin der Freiheit, die man in beiden Händen eine Fackel tragen ließ, wurde von Kunststudenten angefertigt und dem Porträt Mao Zedongs auf dem Tiananmen-Platz gegenübergestellt. Daraufhin verhängte die chinesische Regierung am 20. Mai des Jahres das Kriegsrecht. Am 4. Juni 1989 wurde die friedlich demonstrierende Demokratie-Bewegung durch die Armee blutig niedergeschlagen; tausende Zivilisten kamen ums Leben. Am 20. Oktober 1998 wurde in Peking die erste Menschenrechtskonferenz des Landes eröffnet. An der Konferenz nahmen mehr als 100 Vertreter aus 27 Staaten teil. – Im Juli 2001 erklärte das Internationale Olympische Komitee Peking zum Austragungsort der Olympischen Sommerspiele 2008. Die größten Probleme, denen sich die Stadt wegen einer verfehlten (modernen) Stadtplanungspolitik heute gegenübersieht, sind die wachsende Zuwanderung, die Luftverschmutzung, verursacht durch veraltete Fabrikanlagen und der ausufernde Verkehr, der die Stadt an den Rand eines Verkehrskollapses bringt und seinen Teil zur schlechten Luftqualität beiträgt. === Einwohnerentwicklung === Schon 1450 lebten in Peking 600.000 Menschen. Bis 1800 stieg die Bevölkerung der Stadt auf 1,1 Millionen. Nach einem vorübergehenden Rückgang bis 1900 auf 693.000 Personen wuchs die Einwohnerzahl bis 1930 auf 1,6 Millionen und bis 1953 auf 2,8 Millionen. 2007 lebten in der Kernstadt (hohe Bebauungsdichte und geschlossene Ortsform) mit 7,7 Millionen Menschen zweieinhalbmal so viel wie 1953. Die Bevölkerungsdichte beträgt 5639 Einwohner pro Quadratkilometer. In Berlin sind es zum Vergleich 3800. In der Metropolregion Peking, zu der auch der die eigentliche Stadt umgebende Vorortgürtel gehört, lebten 2007 11,8 Millionen Menschen. Die Bevölkerungsdichte betrug 2007 1337 Einwohner pro Quadratkilometer. Das gesamte Verwaltungsgebiet der regierungsunmittelbaren Stadt Peking, zu der auch ausgedehnte ländliche Gebiete gehören, hatte 2016 etwa 21,5 Millionen Einwohner. 2015 betrug die Einwohnerzahl 21,7 Millionen, davon waren 13,5 Millionen registrierte Bewohner mit ständigem Wohnsitz (戶口 / 户口, hùkǒu) und 8,2 Millionen temporäre Einwohner (流動人口 / 流动人口, liúdòng rénkǒu) mit befristeter Aufenthaltsgenehmigung (暫住證 / 暂住证, zànzhùzhèng).Wer sich länger als drei Tage in der Stadt aufhalten möchte, muss sich beim Amt für öffentliche Sicherheit melden und wird dort registriert. Der Antragsteller erhält dann eine zeitweilige Aufenthaltsgenehmigung für drei Monate, die nach Ablauf der Frist verlängert werden muss. Beim Amt muss eine Bescheinigung vom Heimatort vorgelegt werden, die bestätigt, dass die Person dort gemeldet ist. In der Stadt befinden sich des Weiteren etwa eine Million Gastarbeiter, meist ungelernte Wanderarbeiter und illegale Einwanderer, die von amtlichen Statistiken nicht erfasst werden. Da die Geburtenrate niedrig ist, ist das Bevölkerungswachstum vor allem auf Zuwanderung zurückzuführen. Das natürliche Wachstum der Bevölkerung mit dauerhaftem Wohnsitz in Peking beträgt gegenwärtig 0,9 pro 1000 Einwohner, Geburtenrate: 6,0 pro 1000 Einwohner, Sterberate: 5,1 pro 1000 Einwohner. Etwa 95,7 % der Bevölkerung sind Han. Größte ethnische Minderheit mit über 1,8 % der Bevölkerung sind die Mandschu; mit 1,74 % stehen die muslimischen Hui-Chinesen an zweiter Stelle. Daneben gibt es noch nennenswerte Gruppen von Mongolen (0,3 % der Pekinger Bevölkerung) und Koreanern (0,15 %). Alle ethnischen Gruppen Chinas sind in kleiner Zahl auch unter den Einwohnern Pekings vertreten; quantitativ an letzter Stelle stehen die De'ang, ein Mon-Khmer-Volk, mit vier Einwohnern. Das in Peking gesprochene Chinesisch entspricht größtenteils dem Hochchinesisch (Putonghua), der Amtssprache der Volksrepublik China, mit einigen umgangssprachlichen Verschleifungen. Die folgende Übersicht zeigt die Einwohnerzahlen der Kernstadt (ohne Vorortgürtel). Aufgeführt sind die registrierten Bewohner mit Hauptwohnsitz in Peking. === Entwicklung der Wohnsituation === Laut der Forbes-Liste der World's Most Expensive Cities To Live von 2009 gilt Peking als eine Stadt mit sehr hohen Lebenshaltungskosten und eine der teuersten Städte der Welt. In einer Rangliste der Städte nach ihrer Lebensqualität belegte Peking im Jahre 2018 den 119. Platz unter 231 untersuchten Städten weltweit. Viele Elemente der modernen Stadtplanungspolitik hatten verheerende Folgen für die Bevölkerung und schufen mehr Probleme, als sie lösten. Ein großer Teil der traditionellen Hofhäuser (Siheyuan) in den engen Gassen (Hutongs), die als Brutstätte von Individualisten galten, wurde seit 1949 abgerissen. Ihren Platz nahmen anonyme Neubauten aus Beton mit oftmals unzureichender sanitärer Ausstattung und kaum fließend Wasser ein. Als Ende der 1960er Jahre umfangreiche Renovierungsarbeiten an den Gebäuden dringend geboten schienen, wurde stattdessen ein unterirdisches Tunnelnetz angelegt, das im Falle eines Krieges Schutz bieten sollte. Millionen von Arbeitsstunden wurden in das Projekt investiert, das keinen Schutz gegen moderne Bomben bieten konnte und letztlich nur zur Absenkung des Grundwasserspiegels führte. Im Jahre 1950 veranlasste die Regierung die Tötung aller Hunde in der chinesischen Hauptstadt. Die Tötung zahlreicher Spatzen 1956 – die Maßnahme sollte ursprünglich die Getreidevorräte schützen – hatte allein zur Folge, dass sich die Insekten stärker vermehren konnten. Um dem entgegenzuwirken, ordnete die Stadtverwaltung die Entfernung sämtlicher Grünflächen in der Hauptstadt an, was wiederum Staubstürme in den windigen Wintermonaten verursachte. Anfang des neuen Jahrtausends waren große Stadtsanierungsprojekte im Gange, um Peking für die Olympischen Sommerspiele 2008 zu rüsten. Verschiedene Anstrengungen zur Eindämmung der Luftverschmutzung wurden bereits unternommen; Fabriken, die sich nicht weiter modernisieren ließen, mussten schließen. Freiflächen sind durch aufwändige Begrünung zu neuem Leben erweckt worden. Die verschmutzten Kanäle wurden ausgebaggert. Als Leitstern auf dem Weg Chinas in die Moderne nimmt Peking eine Vorreiterrolle bei der Umgestaltung des Landes ein. In schnellem Tempo werden Gebäude abgerissen und neue errichtet, wovon das weiße Schriftzeichen 拆 (chāi für Abriss) auf alten Häusern und die vielen Baukräne eindrucksvoll Zeugnis ablegen. Im Stadtzentrum werden überwiegend moderne Beton- und Glasbauten errichtet, an den breiten Magistralen entstehen zahlreiche Bürokomplexe. Für die ärmeren Bevölkerungsschichten sind die dortigen Wohnungen nicht bezahlbar. Sie werden in die Außenbezirke der Stadt verdrängt. Die meisten Einwohner Pekings wohnen in Hochhäusern. Zwei Wohngebiete sind dafür besonders wichtig: das Wangjing-Gebiet im Nordosten sowie das Huilongguan-Wohngebiet im Nordwesten. Um dem Problem der Überbevölkerung beizukommen, sind im Rahmen großangelegter Baumaßnahmen eine Reihe von Satellitenstädten für jeweils mehr als 500.000 Einwohner in Bau und Planung. == Politik == === Stadtregierung === Bürgermeister von Peking ist seit Mai 2017 Chen Jining (* 1964). Sein Vorgänger war von November 2007 bis zu seinem Rücktritt im Juli 2012 Guo Jinlong. Guo wurde im Juli 1947 in Nanjing geboren und war zuletzt Parteisekretär von Anhui und ist Mitglied des Zentralkomitees der KP Chinas. Sein Vorgänger war der im Juli 1948 in der Gemeinde Shanxitian in der Nähe der Stadt Qingdao geborene Wang Qishan. Dieser übernahm das Amt am 22. April 2003 von Meng Xuenong, der wegen Fehlverhaltens während des Ausbruchs der Lungenkrankheit SARS in der Hauptstadt von der Kommunistischen Partei Chinas seines Postens enthoben wurde. Meng Xuenong wurde die Verantwortung für eine Politik der Vertuschung und des Verschweigens angelastet, mit der er den Ausbruch von SARS für lange Zeit verheimlichen wollte. An SARS waren in Peking mehrere Tausend Menschen erkrankt, Hunderte starben. Meng Xuenong hatte das Amt als Bürgermeister am 19. Januar 2003 von Liu Qi übernommen. Weitere Mitglieder der Stadtregierung von Peking sind der Sekretär des Parteikomitees Liu Qi, der Vorsitzende des Ständigen Ausschusses des Volkskongresses Yu Junbo und die Vorsitzende der Politischen Konsultativkonferenz des Chinesischen Volkes (PKKCV) Cheng Shi'e. Die PKKCV setzt sich aus dem Nationalkomitee und den örtlichen Komitees verschiedener Ebenen zusammen. Der Stadtregierung unterstehen die Regierungen von 16 Stadtbezirken und zwei Kreisen. Die Stadtbezirke gliedern sich wiederum in Straßenviertel, zum Teil auch in Gemeinden, Großgemeinden und „Unterbezirke“ (auf Gemeindeebene). Die Kreise setzen sich hingegen aus Gemeinden und Großgemeinden zusammen, nur im Kreis Miyun, der ein kleines urbanes Zentrum ausgebildet hat, gibt es zwei Straßenviertel. Am unteren Ende der Verwaltungspyramide Pekings befinden sich in den urbanen Gebieten die sogenannten Einwohnergemeinschaften (社區 / 社区, shèqū), die von den Einwohnerkomitees (居民委員會 / 居民委员会, jūmín wěiyuánhùi) verwaltet werden und in den ländlichen Regionen die Dörfer (村, cūn), die von Dorfkomitees (村民委員會 / 村民委员会, cūnmín wěiyuánhùi) verwaltet werden. === Städtepartnerschaften === Peking unterhält mit folgenden Städten Partnerschaften: === Regionenpartnerschaften === Peking unterhält mit folgenden Regionen Partnerschaften: Japan seit 14. März 1979: Präfektur Tokio, Japan Frankreich seit 2. Juli 1987: Île-de-France, Frankreich Sudafrika seit 6. Dezember 1998: Provinz Gauteng, Südafrika Spanien seit 17. Januar 2005: Autonome Gemeinschaft Madrid, Spanien == Kultur und Sehenswürdigkeiten == === Musik und Theater === Es gibt zahlreiche Theater (zum Beispiel das Theater des Volkes), sowie die Pekinger Konzerthalle für Musikveranstaltungen. Nach Peking ist die berühmte Peking-Oper benannt, die eine besondere Vermischung verschiedener Kunstformen, wie Gesang, Tanz, Akrobatik und mimischem Spiel, darstellt. Die Handlung fußt meist auf historischen oder mythologischen Stoffen. Das zeitgenössische Theater ist demgegenüber in raschem Wandel begriffen und zeigt neuerdings chinesische Übersetzungen westlicher Stücke und experimentierfreudige Produktionen einheimischer Dramaturgen. Das Sprechtheater hielt erst im 20. Jahrhundert Einzug auf chinesischen Bühnen. Seine Heimat wurde das Volkskunst-Theater in Peking, wo vor der Kulturrevolution europäische Stücke mit einer klaren sozialen Botschaft gezeigt wurden. 1968 wurde diese Kunstform jedoch von Jiang Qing, Mao Zedongs dritter Frau, bis auf wenige Stücke – die für die Gesellschaft als erbaulich eingestuft wurden – verboten. Das Theater und die meisten Kinos wurden für rund zehn Jahre geschlossen. Der Rundfunksender China National Radio (CNR) hat eine eigene Konzerthalle mit hervorragender Akustik. Diese Konzerthalle ist auch gleichzeitig der Sendesaal, in dem viele Konzerte aufgezeichnet oder direkt ins ganze Land übertragen werden. In diesem Konzertsaal steht eine der größten Orgeln Chinas, sie stammt aus Deutschland und wurde 1999 vom Unternehmen Gebr. Oberlinger Orgelbau mit Sitz in Windesheim, Rheinland-Pfalz, erbaut. === Museen === In Pekings Museen befinden sich einige der wichtigsten Sammlungen chinesischer traditioneller Kunst und archäologischer Fundstücke, so unter anderem im nationalen Kunstmuseum oder dem Hauptstadtmuseum. Daneben verfügt Peking auch über ein Naturhistorisches Museum sowie über ein großes Museum für Technik und Wissenschaft. Das Ergebnis der Sammelleidenschaft eines Qing-Kaisers zeigt ein ungewöhnliches Uhrenmuseum im Kaiserpalast in der Verbotenen Stadt. Die meisten Exponate sind überbordende Beispiele barocker Ornamentik aus Großbritannien und Frankreich, am beeindruckendsten ist jedoch vielleicht die riesige chinesische Wasseruhr. Peking ist in den letzten Jahren zu einem Zentrum zeitgenössischer, vor allem chinesischer, Kunst geworden. Ein Großteil der anspruchsvolleren Ausstellungen findet in privaten Galerien statt. Zahlreiche konzentrieren sich in sogenannten Kunstvierteln, meist in ehemaligen Fabrikgebäuden, wie 798, Caochangdi oder Jiuchang. In der Innenstadt sind die Courtyard Gallery in der Donghuamen Dajie und die Red Gate Gallery die bekanntesten. 60 Kilometer nördlich der Stadt befindet sich das Luftfahrtmuseum. In einem riesigen Hangar und einer Ausstellungshalle werden mehr als 300 Fluggeräte gezeigt, angefangen von einem Nachbau des Flugzeugs der Brüder Wright, das Feng Ru (1883–1912), der erste chinesische Flugzeugingenieur und Pilot im Jahre 1909 steuerte, bis hin zu Kampfhubschraubern, die im Ersten Golfkrieg zum Einsatz kamen. Zur Sammlung gehören außerdem Kampfflugzeuge aus dem Koreakrieg, der Bomber der 1964 Chinas erste Atombombe abwarf, sowie Mao Zedongs persönliche Maschine und jenes Flugzeug, aus dem die Asche von Zhou Enlai verstreut wurde. In Peking befindet sich auch ein Museum über den Antijapanischen Krieg. === Bauwerke === ==== Altstadt und Kaiserpalast ==== Die ursprünglich von einer großen Mauer umgebene Altstadt von Peking wurde als Abbild des Kosmos – von griechisch kósmos = die Welt[-ordnung] – geplant und bestand aus drei rechteckigen Bezirken (Kaiser-, Innere und Äußere Stadt). Auf der Hauptachse der Altstadt, in Nord-Süd-Richtung, befanden sich Torbauten, Palast- und Zeremonialgebäude. Die Verbotene Stadt – sie war ursprünglich nicht für das einfache Volk zugänglich – beherbergt den mit einer Mauer umgebenen und 1987 von der UNESCO zum Weltkulturerbe erklärten ehemaligen Kaiserpalast. Der Ort diente 24 chinesischen Kaisern der Ming- und Qing-Dynastien und ihren Familien als Residenz. Heute beherbergt die Verbotene Stadt das Palastmuseum Peking. Die Altstadt bestand aus der Äußeren und der quadratischen im nördlichen Teil gelegenen Inneren Stadt, die von 1409 bis 1420 erbaut und von einer breiten, 15 Meter hohen Mauer mit neun Toren umgeben war. Die Grenzen der Inneren Stadt entsprachen weitgehend denen der Hauptstadt Dadu in der Yuan-Dynastie (1271–1368). In der Inneren Stadt lag die Kaiserstadt, in der sich Regierungsgebäude, Paläste, Tempel, Garten- und Parkanlagen sowie die Verbotene Stadt befanden. Außerhalb der Kaiserstadt lagen Viertel mit Märkten und Tempeln sowie Wohnviertel. Die Mauer war circa 25 Kilometer lang. Die im südlichen Teil gelegene Äußere Stadt wurde während der Ming-Dynastie zwischen 1521 und 1566 erbaut. Sie war rechteckig und besaß eine Mauer von 23,5 Kilometern Länge. Es befanden sich sowohl wichtige Tempelbezirke als auch Wohnbezirke für das einfache Volk in diesem Areal. Nach der Machtübernahme der Kommunisten in China am 1. Oktober 1949 wurden die alten Stadtmauern von Peking niedergerissen und durch Hauptverkehrsstraßen ersetzt; von den alten Stadttoren blieben jedoch mehrere erhalten. Das Palastmuseum (Gugong) in der Verbotenen Stadt ist die frühere Residenz der kaiserlichen Familie und des Hofes. Dieser Komplex – im 15. Jahrhundert errichtet – umfasst eine Reihe von riesigen Hallen und Palästen. Westlich dieses Komplexes befindet sich das Gebiet Zhongnanhai, ein großer Park mit Seen, der von einer Mauer umgeben ist. ==== Der Tian’anmen-Platz ==== Unmittelbar südlich der Verbotenen Stadt und des Palastmuseums liegt der Tian’anmen-Platz (Platz am Tor des Himmlischen Friedens), das Zentrum der Stadt. Auf dem Platz können sich bis zu einer Million Menschen versammeln. Mit seiner Fläche von 40 Hektar ist er der größte öffentliche Platz der Welt. Er wurde in seiner gegenwärtigen Größe im Anschluss an die Machtübernahme der Kommunisten angelegt. Jedes Jahr finden hier große Feierlichkeiten und Kundgebungen statt. An der Westseite des Platzes steht die Große Halle des Volkes (Sitz der chinesischen Nationalversammlung), an der Ostseite befindet sich ein Museum zur chinesischen Geschichte und Revolution. Ein Denkmal für die Helden des Volkes und das Grab des früheren Vorsitzenden Mao Zedong (1893–1976) beherrschen den Platz in seiner Mitte. In seiner neueren Geschichte diente der Platz zahlreichen historisch bedeutsamen Massenkundgebungen als Rahmen: am 4. Mai 1919 den ersten Forderungen nach Demokratie und Liberalismus durch Studenten, die gegen den Versailler Vertrag demonstrierten; am 9. Dezember 1935 den antijapanischen Protesten, mit denen zu einem Krieg des nationalen Widerstands aufgefordert wurde; 1966 den acht bühnenreif inszenierten Massenaufmärschen, die den Beginn der Kulturrevolution markierten und für die jedes Mal circa eine Million Rotgardisten nach Peking befördert wurden, um auf die revolutionären Ideale eingeschworen und dann in die Provinzen beordert zu werden. Im April 1976 wurden beim Tian’anmen-Zwischenfall, unmittelbar vor dem chinesischen Totengedenktag, zum Gedenken an den früheren Premierminister Zhou Enlai (1898–1976) hingestellte Kränze und Blumen aufgrund innerparteilicher Auseinandersetzungen von Sicherheitskräften entfernt. Heute ist der Platz jedoch vor allem wegen des Tian’anmen-Massakers von 1989 bekannt, als Studenten und Arbeiter für Demokratie demonstrierten und Tausende am 4. Juni dieses Jahres vom chinesischen Militär getötet wurden. ==== Tempelanlagen ==== Von den vielen Tempeln ist der Himmelstempel (Tiantan) im südlichen Teil der Äußeren Stadt besonders hervorzuheben (unter anderem mit der Halle der Jahresgebete). Dort betete der Kaiser jedes Jahr für eine reiche Ernte. Die Anlage liegt im Xuanwu-Bezirk im Süden der Stadt inmitten eines großen Parks. Das wichtigste Gebäude des Tempels ist die Halle der Ernteopfer, ein Gebäude mit kreisförmigem Grundriss auf einer dreistufigen Marmorterrasse. Sie wurde im Jahre 1420 erbaut, brannte 1889 ab und wurde 1890 neu errichtet. Weitere sehenswerte Tempel sind der Konfuziustempel, der Lamatempel und der Tempel der Weißen Pagode. ==== Weitere Bauwerke ==== In den nordwestlichen Vororten (Shisan ling) befinden sich die Ming-Gräber der Kaiser aus der Ming-Dynastie (1368–1644). Diese erreicht man über eine Allee, die von marmornen Löwen, Elefanten, Kamelen und Pferden gesäumt wird. Nordwestlich der Gräber (bei Badaling) steht ein Teil der Chinesischen Mauer. Interessant als Relikt vergangener Zeiten ist das Alte Observatorium. Die erste Sternwarte an dieser Stelle entstand auf Anordnung von Kublai Khan (1215–1294), um den damals fehlerhaften Kalender durch Astronomen korrigieren zu lassen. Später als die islamischen Wissenschaften ihre Blüte erlebten, gelangte es unter muslimische Kontrolle, um im 17. Jahrhundert schließlich in die Hände von christlichen Jesuiten-Missionaren überzugehen, die bis in die 1830er Jahre die Hausherren blieben. Im Komplex befindet sich ein idyllischer Garten und acht astronomische Instrumente aus der Ming-Zeit – wunderbar gearbeitete Armillarsphären, Theodolite und Ähnliches – auf dem Dach. Angegliedert ist ein kleines Museum mit einer Ausstellung von frühen, durch Astronomie inspirierten Töpferarbeiten und Navigationsinstrumenten. Weitere bedeutende Sehenswürdigkeiten sind der 1992 erbaute und 400 Meter hohe Fernsehturm, das spektakuläre Central Chinese Television Headquarters, der mit 330 Metern höchste Wolkenkratzer der Stadt innerhalb des China World Trade Center, die Chinesische Nationaloper und die zahlreichen christlichen Kirchen. Die größten und bekanntesten unter ihnen sind die Östliche Kirche (Wangfujing), die Westliche Kirche (Xizhimen), die Südliche Kirche (Xuanwumen) und die Nördliche Kirche (Xishiku). Des Weiteren sind der kaiserliche Sommerpalast (Yihe Yuan) sowie die Ruinen des Alten Sommerpalastes (Yuanming Yuan) zu nennen. ==== Chinesische Mauer ==== Über eine Länge von 8850 Kilometer zieht sich die Chinesische Mauer durch China, ein monumentales Bauwerk, dessen Errichtung im 5. Jahrhundert v. Chr. begonnen und bis ins 16. Jahrhundert fortgeführt wurde. Die heute noch bestehenden Teilstücke würden aneinandergesetzt von New York bis nach Los Angeles reichen, und würde man aus ihren Steinen eine einzige Mauer von fünf Meter Höhe und einem Meter Tiefe bauen, ergäbe sich eine Strecke, die länger als der Erdumfang wäre. Der bekannteste Mauerabschnitt erstreckt sich bei Badaling, 70 km nordwestlich von Peking. Es war das erste Teilstück, das 1957 restauriert wurde. Die Mauer ist dort sechs Meter breit und in regelmäßigen Abständen mit Wachtürmen aus der Ming-Zeit (1368–1644) bestückt. Ihr Verlauf folgt dem Grat einer Hügelkette und hätte verteidigungsstrategisch kaum besser angelegt sein können, weshalb dieser Abschnitt auch nie direkt angegriffen, wohl aber über die Seiten eingenommen wurde. Weniger bekannt ist die Chinesische Mauer bei Mutianyu, 90 km nordöstlich von Peking. Der dortige, 1368 erbaute und 1983 restaurierte Abschnitt mit seinen zahlreichen Wachtürmen ist zwei Kilometer lang und erstreckt sich entlang eines Hügelkamms in grüner, sanft gewellter Landschaft. Ein weiteres Teilstück der Chinesischen Mauer befindet sich in Simatai, 110 km nordöstlich von Peking. Der Großteil dieses aus der Ming-Dynastie stammenden Mauersegments ist in seinem ursprünglichen Zustand belassen und besitzt nur einige Neuerungen aus späterer Zeit wie beispielsweise Geschützstände für Kanonen und quer zur äußeren Mauer gezogene, innere Mauerabsperrungen, um bereits eingedrungene Feinde zu stoppen. === Parks und Grünanlagen === In der chinesischen Kultur ist die Verbindung von Wohnung und Natur beziehungsweise nachempfundener Natur traditionell eng. Allerdings wurde in den städtischen Siedlungen dieser Gedanke immer wieder zugunsten einer höchstmöglichen Ausnutzung des knappen Bodens verdrängt, vor allem in den letzten Jahren mit dem Aufkommen der Wohnhochhäuser in serieller Bauweise. Für hausnahe Grünanlagen blieben nur Restflächen. Die bauliche Verdichtung ist so groß, dass ein ausgleichender Bedarf an öffentlichen Parks, Sportstätten, Freizeit- und Spielflächen entstand. In letzter Zeit setzte sich der Gedanke durch, dass eine Stadt, über der die meiste Zeit eine Smogglocke hängt, kaum Zukunft hat. Es gibt zwei bemerkenswerte Gegenmaßnahmen: Emissionskontrolle und -senkung und Durchlüftung über Grünkorridore. So ist es inzwischen Standard, an Schnellverkehrstraßen Begleitgrünstreifen anzulegen, die mit 100 bis zu 400 Meter Breite sogar kleinere Waldstücke bilden. Besonders das Programm zum Ausbau der Flussbetten und Kanäle mit breiten Uferstreifen ist ein Fortschritt. In die Bankette der aufgestauten Flussläufe rings um Peking wurden beispielsweise kleinere Parks, Radwege und Freizeitanlagen eingestreut, sodass die Bewohner der neuen Stadtrandsiedlungen wohnungsnahe Erholungsmöglichkeiten haben. Selbst die zahlreichen neuen Golfplätze sind hier zu nennen, obwohl sie als nichtöffentliche Flächen weniger frequentiert werden. Der allgemein als Sommerpalast bezeichnete Yiheyuan gehört zu den reizvollsten Parkanlagen in Peking. Das riesige Areal, zwei Drittel davon ein See, diente den letzten Kaisern als Ort der Sommerfrische, an den sie sich samt Hofstaat während der heißesten Monate des Jahres zurückzogen. Und die von Hügeln umgebene, vom See gekühlte und durch eine Gartenanlage geschützte Lage ist ideal. Kaiserliche Pavillons gibt es dort schon seit dem 11. Jahrhundert, die heutige Anlage stammt jedoch größtenteils aus dem 18. Jahrhundert und entstand unter dem Mandschu-Kaiser Qianlong. Der Nordmeer-Park (北海公園 / 北海公园, Běihǎi Gōngyuán) nordwestlich des Kaiserpalastes ist einer der typischen chinesischen Gärten. Der Jin-Kaiser Shizong begann 1179 mit der Errichtung eines Sommerpalastes und der Anlage dieses Parks. Kaiser Kublai Khan machte ihn 1260 zu seiner Residenz, indem er die „Halle der Weiten Kühlung“ bezog. An ihrer Stelle wurde durch die Qing-Kaiser ab 1651 die lamaistische „Weiße Pagode“ erbaut, die noch heute den Park dominiert. Kaiser Qianlong ließ zwischen 1735 und 1796 umfangreiche Erweiterungsarbeiten durchführen. Nahezu alle heutigen Bauten in diesem Park stammen aus dieser Bauperiode. Weitere Parks sind der Jingshan- und der Ditan-Park. In den Bergen westlich der Stadt befinden sich mehrere Parks, wie beispielsweise Badachu und der Fragrant Hill Park. Außerdem befindet sich dort auch der neue und alte botanische Garten von Peking mit dem Tal der Kirschen. Sehenswert ist auch der Zoo von Peking, nicht nur wegen des großen Pandas, sondern auch wegen des Aquariums. Südwestlich liegt der etwa 40 Hektar große Beijing World Park. Hier sind verkleinerte Nachbildungen vieler weltbekannter alter und neuerer Bauwerke und baulicher Ensembles aller Kontinente beispielsweise von den ägyptischen Pyramiden über den Eiffelturm bis zum untergegangenen New Yorker World Trade Center in unterschiedlichen Maßstäben zu besichtigen. Eine alle bisherigen Projekte sprengende Park- und Freizeitlandschaft entsteht seit 2001 im Westen: beginnend südlich der Marco-Polo-Brücke wurde zunächst ein trockengelegtes Flussbett auf eine Länge von 20 km und einer Breite zwischen 0,8 und zwei Kilometern mit öffentlichen Grünflächen, kleineren Seen und mehreren Golfplätzen angelegt. Im Süden werden bereits weitere Flächen als Verlängerung dieser grünen Lunge vorbereitet. 14 km nach Nordwesten wird in gleicher Weise das hier schmaler werdende Flussbett in eine Parklandschaft mit besonders vielen Wasserflächen verwandelt. Ende 2010 waren bereits ca. 60 % der Arbeiten erledigt. Nach Fertigstellung aller Anlagen bis über die südwestliche Stadtgrenze hinaus (um 2020) werden einmal rund 80 Quadratkilometer eines stadtnahen rund 55 Kilometer langen Landschaftsparks zur Verfügung stehen. Die wohl weltweit einmalige Kunstlandschaft hat eine Entfernung von 18 bis 42 Kilometern vom Stadtzentrum Pekings. === Kulinarische Spezialitäten === Nirgendwo auf dem chinesischen Festland ist die kulinarische Vielfalt größer als in Peking. Neben allen chinesischen Küchen sind hier auch nahezu alle asiatischen und die meisten Weltküchen vertreten. Angesichts dieser Fülle wird oft nicht beachtet, dass Peking selbst eine eigene Kochtradition besitzt und mit Spezialitäten wie Pekingente (北京烤鴨 / 北京烤鸭, běijīng kǎoyā) und mongolischem Feuertopf (火鍋 / 火锅, huǒguō) einen schmackhaften Beitrag leistet. Peking-Ente wird in chinesischen Restaurants auf der ganzen Welt serviert und besteht aus kleinen Fleischstücken, die in süße Schwarzbohnensoße (甜麵醬 / 甜面酱, tián miànjiàng) getunkt und anschließend mit gehackten Frühlingszwiebeln in eine Art Mehlteigtasche gerollt werden. Beim mongolischen Feuertopf werden in einen Topf mit kochender, meist von unten auf Koch-Temperatur gehaltener, milder bis kräftiger Brühe in dünne Streifen geschnittenes Hammelfleisch, Garnelen, Chinakohl (und anderes Gemüse) und Nudeln gestippt. Der Rest wird am Ende mitunter als Suppe getrunken. === Sport === Peking war Austragungsort der Olympischen Sommerspiele 2008 und wurde auch als Gastgeber für die Olympischen Winterspiele 2022 ausgewählt. Für die Olympischen Sommerspiele 2008 wurde massiv in die sportliche Infrastruktur der Stadt investiert. Unter den zahlreichen Neubauten befindet sich das Olympiastadion, das sich durch seine Aufsehen erregende Architektur schon in der Bauphase zu einer neuen Sehenswürdigkeit Pekings entwickelte. Zu den zum zehnjährigen Jubiläum des Bestehens der Volksrepublik China 1959 errichteten Monumentalbauwerken gehört das Arbeiterstadion. In der Chinese Super League spielt der Fußballverein Peking Guoan. Wie im ganzen Land ist auch in Peking der chinesische Nationalsport Tischtennis beliebt, die letzte Weltmeisterschaft in Peking wurde 1961 ausgetragen. Das Nanshan Ski Village liegt ca. 65 km nordöstlich von Peking und ist ein beliebter Wintersportort. === Vergnügungspark === In Peking eröffnete im September 2021 der vier Quadratkilometer große Vergnügungspark Universal Beijing Resort des Unterhaltungsunternehmens aus Hollywood mit 24 Bühnenshows, zahlreichen Restaurants, Attraktionen und Hotels. Ab 2015 wurde hier zu 6,5 Mrd. Euro Kosten gebaut. Erwartet werden 10 Mio. Tagesbesucher pro Jahr. == Wirtschaft und Infrastruktur == === Wirtschaft === Laut einer Studie aus dem Jahr 2014 erwirtschafte Peking ein Bruttoinlandsprodukt von 506,1 Milliarden US-Dollar (KKB). In der Rangliste der wirtschaftsstärksten Metropolregionen weltweit belegte sie damit den 11. Platz. Das BIP pro Kopf betrug 23.390 US-Dollar, womit Peking zu den reichsten Städten in China gehört. Peking ist die Stadt mit der höchsten Anzahl an Fortune-Global-500-Unternehmen. Peking ist mittlerweile das zweitgrößte Industriezentrum des Landes. Wichtige Industriezweige wurden in den Satellitenstädten angesiedelt: die Herstellung von petrochemischen Produkten in Fangshan, Maschinenfabrikation in Fentai, Eisen- und Stahlfabrikation in Shijingshan sowie Motorfahrzeugherstellung in Tongxian. Über zwei Millionen Arbeiter der Provinz sind in der Industrie beschäftigt. Es werden Bekleidung, Konserven, Baumwoll- und Synthetikstoffe, Farben, Papier, Schmiermittel und elektronische Produkte hergestellt. Seit dem Beginn von Wirtschaftsreformen im Jahre 1978 gewinnt die Baubranche zunehmend an Bedeutung. In ihr sind rund 700.000 Bauarbeiter beschäftigt. In der Landwirtschaft der regierungsunmittelbaren Stadt arbeiten rund 900.000 Menschen. Zu den landwirtschaftlichen Erzeugnissen gehören Geflügel- und Schweinefleisch, Getreide, Gemüse (Kohl, Tomaten, Auberginen, Möhren und Zwiebeln), Milch und Eier. Zahlreiche Gewerbe- und Dienstleistungsbetriebe haben sich in den vergangenen Jahren in Peking angesiedelt (über eine Million Beschäftigte). Die Stadt ist ein Einkaufs- und Modezentrum. Es gibt mehrere moderne Einkaufsbezirke (zum Beispiel in der Wangfujing-Straße). Tradition haben unter anderem Goldemaillearbeiten (Cloisonné), Jadeschnitzerei und die Teppichweberei. Seit den Wirtschaftsreformen der 1980er und 1990er Jahre gibt es auch Betriebe, die von ausländischen Investoren getragen werden. Es entstanden viele Privatunternehmen. In Peking gibt es rund 100.000 privat angestellte Arbeitnehmer (Getihu) in Gewerbebetrieben. Das Dienstleistungsgewerbe zählt über 30.000 Betriebe mit rund 200.000 Beschäftigten. In einer Rangliste der wichtigsten Finanzzentren weltweit belegte Peking den 11. Platz (Stand: 2018). === Verkehr === ==== Eisenbahnverkehr ==== Als Verkehrsknotenpunkt verfügt Peking über Flughäfen und Bahnverbindungen in alle Teile des Landes sowie eine interkontinentale Strecke über die Transmongolische Eisenbahn (Ulan Bator) und die Transsibirische Eisenbahn nach Europa. Peking spielt eine zentrale Rolle bei den Aus- und Neubauplanungen des Hochgeschwindigkeitsverkehrs der Staatsbahn. Mit der Beijing City Rail besteht außerdem ein S-Bahn-ähnliches Vorortbahnnetz, welches derzeit aus vier Linien besteht. ==== Flugverkehr ==== Der Flughafen Peking-Hauptstadt liegt im Gebiet Shunyi circa 20 Kilometer nordöstlich vom Stadtzentrum. 2011 wurde bekannt, dass ein weiterer Flughafen, der Flughafen Peking-Daxing mit einer Kapazität von 120 Millionen Fluggästen und bis zu sieben Start- und Landebahnen in Planung sei, er wurde plangemäß am 25. September 2019 eröffnet. Peking-Daxing gehört zu den größten Flughafen weltweit.Im Süden der Stadt befand sich bis zur Eröffnung des neuen Großflughafens 2019 mit Beijing-Nanyuan ein weiterer, kleinerer Flughafen mit ca. einer Million Passagieren pro Jahr. ==== Kaiserkanal ==== Über den Kaiserkanal hat Peking Verbindung mit dem Gelben Fluss (黄河, Huáng Hé) und dem Jangtsekiang. ==== Straßenverkehr ==== Peking ist mit anderen Städten Chinas durch neun Autobahnen verbunden. Das Autobahnnetz Peking wird ständig erweitert. Für den innerstädtischen Verkehr stehen fünf Ringstraßen und einige Durchgangsstraßen zur Verfügung. Man klassifiziert das Stadtzentrum als den Teil von Peking, der innerhalb der 2. Ringstraße liegt und den Großraum der Stadt Peking als den Teil, der innerhalb der 5. Ringstraße liegt. Ähnlich wie Moskau entwickelt Peking sich in Form von Ringen. Das hat Probleme für den Straßenverkehr mit sich gebracht. Staus sind häufig, und der Neu- und Ausbau von Ringstraßen scheint das Verkehrsproblem nicht zu lösen. ==== Bus und Straßenbahnen ==== Innerstädtische öffentliche Verkehrsmittel gibt es in Form von fast eintausend Bus- und Trolleybuslinien. Der erste Oberleitungsbus fuhr am 26. Februar 1957 in der Stadt. Am 24. Juni 1899 fuhren die ersten elektrischen Straßenbahnen in Peking, der Betrieb wurde aber schon während des Boxeraufstands am 13. Juni 1900 wieder eingestellt. Am 17. Dezember 1924 wurde das System wiedereingeführt. Diesmal verkehrten die Straßenbahnen bis 6. Mai 1966. ==== U-Bahn ==== Der erste Streckenabschnitt der U-Bahn Peking wurde am 1. Oktober 1969 eröffnet. Danach wurde das System nur sehr langsam erweitert. Erst mit der Inbetriebnahme mehrerer U-Bahn-Linien im Jahr 2008 zu den Olympischen Spielen wuchs das Netz auf acht Linien. Dies stellte den Start einer rapiden Erweiterung dar, sodass 2010 bereits 14 Linien existierten. 2014 maß das Streckennetz 527 km. 2022 gab es 25 Linien auf 783 km Netz. Ein Einzelticket kostet umgerechnet etwa 90 Cent. (Stand Januar 2018) ==== Fahrradverkehr ==== Das Fahrrad hatte in Peking lange Zeit eine herausragende Bedeutung als innerstädtisches Verkehrsmittel, mit eigenen Radspuren für die etwa zehn Millionen privaten Fahrräder. In jüngerer Zeit wird es immer stärker von den privaten Pkw verdrängt. Um die Luftverschmutzung, den Verkehrsstau sowie den Fahrraddiebstahl zu verringern, setzt die Stadtverwaltung jetzt auf den Aufbau eines Netzes von Fahrradmietstationen, das bis zu den Olympischen Sommerspielen 2008 50.000 Räder zur Verfügung stellte. Dank der Entstehung einer Anzahl von docklosen App-basierten Fahrradverleihsystemen wie Mobike, Bluegogo und Ofo hat das Radfahren wieder stark an Popularität gewonnen. === Bildung === Von den vielen Hochschulen der Stadt sind die Peking-Universität (北京大學 / 北京大学, Běijīng Dàxué, gegründet 1898) und die Tsinghua-Universität (清華大學 / 清华大学, Qīnghuá dàxué, gegründet 1911) am bekanntesten. Landesweit bekannt sind auch die Chinesische Volksuniversität (人民大學 / 人民大学, Rénmín dàxué), die Universität für Außenwirtschaft und Handel (對外經濟貿易大學 / 对外经济贸易大学, Duìwaì Jīngjì Màoyì Dàxúe) und die Pädagogische Universität Peking (北京師範大學 / 北京师范大学, Běijīng Shīfàn Dàxué). An der BLCU (北京語言文化大學 / 北京语言文化大学, Běijīng yǔyán wénhuà dàxué, vormals Sprachinstitut; gegründet 1962), sind etwa drei Viertel der Studenten Ausländer, die Chinesisch studieren. Ebenso interessant ist die Sportuniversität Peking (北京體育大學 / 北京体育大学, Běijīng tǐyù dà xué), die wichtigste Sportuniversität Chinas, bei Ausländern besonders für ein Studium des Wushu, oft in Kombination mit einem Sprachstudium, beliebt. Daneben gibt es die Chinesische Akademie der Wissenschaften und eine Reihe ihr unterstehender Forschungsinstitute. Die Fremdsprachenuniversität Peking (北京外國語大學 / 北京外国语大学, Běijīng wàiguóyǔ dàxué) ist eine der besten Fremdsprachenuniversitäten des Landes. China Central Academy of Fine Arts heißt die Kunstakademie in Peking, sie ist die älteste Kunstakademie in China. Auch das Forschungsinstitut für Musik der Akademie der Künste Chinas ist in Peking angesiedelt. Über 250.000 Menschen sind im wissenschaftlichen und technischen Bereich angestellt. Rund 500.000 Personen sind im Bildungs- und Kommunikationswesen tätig. Die Peking-Bibliothek ist die bedeutendste in der Volksrepublik China (circa zehn Millionen Bände; mit Beständen aus den Bibliotheken der Sung-, Yuan-, Ming- und Qing-Dynastien). Die meisten Universitäten befinden sich im Haidian-Bezirk (海澱區 / 海淀区, Hǎidiàn qū) im Nordwesten der Stadt. Allein dort gibt es mehr als zwanzig Universitäten. === Gesundheitswesen === Das China Rehabilitation Research Center ist eine staatliche Rehabilitationsklinik in Peking und gleichzeitig Zentrum für Ausbildung und Forschung auf dem Gebiet der Rehabilitation in China. == Persönlichkeiten == Peking war Geburtsort zahlreicher prominenter Persönlichkeiten. Die bekanntesten sind unter anderem die Kaiser von China, Qianlong und Puyi, die Kaiserinwitwe Cixi, die Schachweltmeisterin Xie Jun, die Schauspieler Ivan Desny, Jet Li und Zhang Ziyi, die Schriftsteller Shan Sa und Lao She und die Sängerin und Schauspielerin Faye Wong. Bis heute wurden rund zwanzig Personen zu Ehrenbürgern der Stadt Peking ernannt. Dabei handelt es sich überwiegend um Menschen mit Wohnsitz in Hongkong, unter ihnen zahlreiche Besitzer großer Konzerne (Tycoone). Einige Ehrenbürger stammen aus dem Ausland, darunter auch zwei Deutsche, der Filmproduzent Manfred Durniok (1934–2003) und der Klavierdesigner Lothar Schell. == Siehe auch == Denkmäler der Volksrepublik China (Peking) Denkmäler der Regierungsunmittelbaren Stadt Peking == Literatur == Xiaoli Cui: Gegenwärtige soziale Versorgung in der VR China, am Beispiel der Stadt Beijing. Südwind-Buchwelt, Wien 1997, ISBN 3-900592-29-2. Jie Fan, Wolfgang Taubmann: Beijing – Chinas Regierungssitz auf dem Weg zur Weltstadt. Geographische Rundschau 56(4), S. 47–54 (2004), ISSN 0016-7460 Chen Gaohua: The Capital of the Yuan Dynasty. [Dadu bzw. Khanbaliq]. Silkroad Press, 2015, ISBN 978-981-4332-44-6 (Print); ISBN 978-981-4339-55-1 (eBook) Rainer Kloubert: Peking. Verlorene Stadt. Mit zahlreichen Abbildungen. Elfenbein Verlag, Berlin 2016, ISBN 978-3-941184-51-0. Alexander Nadler: Peking und Umgebung. Iwanowski, Dormagen 2005, ISBN 3-923975-48-1. Diana Preston: Rebellion in Peking. Die Geschichte des Boxeraufstands. Deutsche Verlags-Anstalt, München-Stuttgart 2001, ISBN 3-421-05407-X. Thomas Reichenbach: Die Demokratiebewegung in China 1989. Die Mobilisierung durch Studentenorganisationen in Beijing. Institut für Asienkunde, Hamburg 1994, ISBN 3-88910-128-3. Uwe Richter: Die Kulturrevolution an der Universität Beijing: Vorgeschichte, Ablauf und Bewältigung. Institut für Asienkunde, Hamburg 1988, ISBN 3-88910-053-8. Frédéric Schnee: Architekturführer Peking. Wohnquartiere, Tempel und Industriebauten: Chinas Hauptstadt im Wandel. Berlin, 2021, ISBN 978-3-86922-213-4. Eva Sternfeld: Beijing, Stadtentwicklung und Wasserwirtschaft. Sozioökonomische und ökologische Aspekte der Wasserkrise und Handlungsperspektiven. Technische Universität, Berlin 1997, ISBN 3-7983-1760-7. Kai Strittmatter: Atmen einstellen bitte! Pekinger Himmelsstürze. Picus, Wien 2001, ISBN 3-85452-742-X. == Weblinks == Offizielle Website der Stadt auf chinesisch und deutsch Bevölkerung in Peking – Statistische Daten zur Stadt und Bevölkerung Feinstaub – Statistische Daten zu durchschnittliche Feinstaubwerte der Stadt Stadtplan von Peking 1843 – Digital Silk Road Project – Digital Archive of Toyo Bunko Rare Books (englisch) Stadt im Umbruch, Pekings Architektur – Sören Urbansky, NZZ „Architectural Monuments in a Reshaped Beijing“ Interaktive Graphik mit Dias und Videos – New York Times, 12. Juli 2008 (englisch) Redefining the Axis of Beijing – Revolution and Nostalgia in the Planning of the PRC Capital, 2008 Oakland University, Michigan (englisch) Bilder von Peking mit GPS-Positionen – über 2200 Bilder, 1500 GPS Positionen Goethe-Institut Peking Linkkatalog zum Thema Peking bei curlie.org (ehemals DMOZ) == Einzelnachweise ==
https://de.wikipedia.org/wiki/Peking
Mars (Planet)
= Mars (Planet) = Der Mars ist, von der Sonne aus gezählt, der vierte Planet im Sonnensystem und der äußere Nachbar der Erde. Er zählt zu den erdähnlichen (terrestrischen) Planeten. Sein Durchmesser ist mit knapp 6800 Kilometern etwa halb so groß wie der der Erde, sein Volumen beträgt gut ein Siebtel des Erdvolumens. Damit ist der Mars nach dem Merkur der zweitkleinste Planet des Sonnensystems, hat jedoch eine vielfältige Geologie und die höchsten Vulkane des Sonnensystems. Mit einer durchschnittlichen Entfernung von 228 Millionen Kilometern ist er rund 1,5-mal so weit von der Sonne entfernt wie die Erde. Die Masse des Mars beträgt etwa ein Zehntel der Erdmasse. Die Fallbeschleunigung auf seiner Oberfläche beträgt 3,69 m/s², dies entspricht etwa 38 % der irdischen. Mit einer Dichte von 3,9 g/cm³ weist der Mars den geringsten Wert der terrestrischen Planeten auf. Deshalb ist die Schwerkraft auf ihm sogar geringfügig niedriger als auf dem kleineren, jedoch dichteren Merkur. Der Mars wird auch als der Rote Planet bezeichnet. Diese Färbung geht auf Eisenoxid-Staub (Rost) zurück, der sich auf der Oberfläche und in der dünnen CO2-Atmosphäre verteilt hat. Seine orange- bis blutrote Farbe und seine Helligkeitsschwankungen am irdischen Nachthimmel sind auch der Grund für seine Namensgebung nach dem römischen Kriegsgott Mars.In größeren Fernrohren deutlich sichtbar sind die zwei Polkappen und mehrere dunkle Ebenen, die sich im Frühjahr etwas verfärben. Fotos von Raumsonden zeigen eine teilweise mit Kratern bedeckte Oberfläche und starke Spuren früherer Tektonik (tiefe Canyons und einen über 20 km hohen Vulkan). Marsroboter haben schon mehrere Gebiete geologisch untersucht. Der Mars besitzt zwei kleine, unregelmäßig geformte Monde, die 1877 entdeckt wurden: Phobos und Deimos (griechisch für Furcht und Schrecken). Das astronomische Symbol des Mars ist ♂. == Umlauf und Rotation == === Umlaufbahn === Der Mars bewegt sich in einem Abstand von 206,62 bis 249,23 Millionen Kilometern (1,38 AE bis 1,67 AE) in knapp 687 Tagen (etwa 1,9 Jahre) auf einer elliptischen Umlaufbahn um die Sonne. Die Bahnebene ist 1,85° gegen die Erdbahnebene geneigt. Seine Bahngeschwindigkeit schwankt mit dem Sonnenabstand zwischen 26,50 km/s und 21,97 km/s und beträgt im Mittel 24,13 km/s. Die Bahnexzentrizität beträgt 0,0935. Nach der Umlaufbahn des Merkurs ist das die zweitgrößte Abweichung von der Kreisform unter allen Planetenbahnen des Sonnensystems. In der Vergangenheit hatte der Mars eine weniger exzentrische Umlaufbahn. Vor 1,35 Millionen Jahren betrug die Exzentrizität nur etwa 0,002, weniger als die der Erde heute. Die Periode der Exzentrizität des Mars beträgt etwa 96.000 Jahre, die der Erde etwa 100.000 Jahre. Mars hat jedoch noch einen längeren Zyklus der Exzentrizität mit einer Periode von 2,2 Millionen Jahren, der den mit der Periode von 96.000 Jahren überlagert. In den letzten 35.000 Jahren wurde die Umlaufbahn aufgrund der gravitativen Kräfte der anderen Planeten geringfügig exzentrischer. Der minimale Abstand zwischen Erde und Mars wird in den nächsten 25.000 Jahren noch ein wenig geringer werden.Es gibt fünf nummerierte Asteroiden, die sich mit dem Mars die gleiche Umlaufbahn teilen (Mars-Trojaner). Sie befinden sich auf den Lagrangepunkten L4 und L5, das heißt, sie eilen dem Planeten um 60° voraus oder folgen ihm um 60° nach. === Rotation === Der Mars rotiert in 24 Stunden und 37,4 Minuten um die eigene Achse (Siderischer Tag). In Bezug auf die Sonne ergibt sich daraus ein Marstag (auch Sol genannt) von 24 Stunden, 39 Minuten und 35 Sekunden. Die Äquatorebene des Planeten ist um 25,19° gegen seine Bahnebene geneigt (die der Erde 23,44°), somit gibt es Jahreszeiten ähnlich wie auf der Erde. Diese dauern jedoch fast doppelt so lang, da das siderische Marsjahr 687 Erdtage hat. Da die Bahn des Mars aber eine deutlich größere Exzentrizität als die der Erde aufweist und Mars-Nord tendenziell in Richtung der großen Bahn-Ellipsenachse weist, sind die Jahreszeiten unterschiedlich lang. In den letzten 300.000 Jahren variierte die Rotationsachse zwischen 22° und 26°. Zuvor lag sie mehrmals auch über 40°, wodurch starke Klimaänderungen auftraten, es Vereisungen auch in der Äquatorregion gab und so die starken Bodenerosionen zu erklären sind. Der Nordpol des Mars weist zum nördlichen Teil des Sternbilds Schwan, womit sich die Richtung um etwa 40° von jener der Erdachse unterscheidet. Der marsianische Polarstern ist Deneb (mit leichter Abweichung der Achse Richtung Alpha Cephei).Die Rotationsachse führt eine Präzessionsbewegung aus, deren Periode 170.000 Jahre beträgt (7× langsamer als die Erde). Aus diesem Wert, der mit Hilfe der Pathfinder-Mission festgestellt wurde, können die Wissenschaftler auf die Massenkonzentration im Inneren des Planeten schließen. == Atmosphäre und Klima == Der Mars besitzt eine sehr dünne Atmosphäre. Dadurch ist der Atmosphärendruck sehr niedrig und Wasser kann nicht in flüssiger Form auf der Marsoberfläche existieren, ausgenommen kurzzeitig in den tiefstgelegenen Gebieten. Da die dünne Marsatmosphäre nur wenig Sonnenwärme speichern kann, sind die Temperaturunterschiede auf der Oberfläche sehr groß. Die Temperaturen erreichen in Äquatornähe etwa 20 °C am Tag und sinken bis auf −85 °C in der Nacht. Die mittlere Temperatur des Planeten liegt bei etwa −63 °C. === Atmosphäre === Die Marsatmosphäre besteht zu 95,97 % aus Kohlenstoffdioxid. Dazu kommen noch 1,89 % Stickstoff, 1,93 % Argon, geringe Anteile an Sauerstoff (0,146 %) und Kohlenstoffmonoxid (0,0557 %) sowie Spuren von Wasserdampf, Methan, Schwefeldioxid, Ozon und anderen Verbindungen aus Kohlenstoff, Wasserstoff, Sauerstoff, Stickstoff, Chlor und Schwefel. Die Atmosphäre ist ziemlich staubig. Sie enthält Teilchen mit etwa 1,5 µm im Durchmesser, die den Himmel über dem Mars in einem blassen gelb- bis orange-braunen Farbton erscheinen lassen. Der atmosphärische Druck beträgt auf der Oberfläche des Mars im Schnitt nur 6,36 hPa (Hektopascal). Im Vergleich zu durchschnittlich 1013 hPa auf der Erde sind dies nur 0,63 %, was dem Luftdruck der Erdatmosphäre in 35 Kilometern Höhe entspricht. Die Atmosphäre wurde wahrscheinlich im Laufe der Zeit vom Sonnenwind abgetragen und in den Weltraum mitgerissen. Dies wurde durch die geringe Schwerkraft des Planeten und sein schwaches Magnetfeld begünstigt, das kaum Schutz vor den hochenergetischen Teilchen der Sonne bietet. Auf dem Mars werden hohe Schallfrequenzen bzw. Tonhöhen durch die Atmosphärendichte isoliert (gedämpft) und sind damit für das menschliche Ohr schlechter wahrnehmbar als auf der Erde. === Klima und Wetter === Abhängig von den Jahreszeiten und der Intensität der Sonneneinstrahlung finden in der Atmosphäre dynamische Vorgänge statt. Die vereisten Polkappen sublimieren im Sommer teilweise, und kondensierter Wasserdampf bildet ausgedehnte Zirruswolken. Die Polkappen selbst bestehen aus festem Kohlendioxid und Eis. 2008 entdeckte man mit Hilfe der Raumsonde Mars Express Wolken aus gefrorenem Kohlendioxid. Sie befinden sich in bis zu 80 Kilometern Höhe und haben eine horizontale Ausdehnung von bis zu 100 km. Sie absorbieren bis zu 40 % des einstrahlenden Sonnenlichts und können damit die Temperatur der Oberfläche um bis zu 10 °C verringern.Mit Hilfe des Lasers LIDAR der Raumsonde Phoenix wurde 2009 entdeckt, dass in der zweiten Nachthälfte fünfzig Tage nach der Sonnenwende winzige Eiskristalle aus dünnen Zirruswolken auf den Marsboden fielen. ==== Jahreszeiten ==== Hätte Mars eine erdähnliche Umlaufbahn, wären die Jahreszeiten wegen der Achsneigung ähnlich denen der Erde. Die vergleichsweise große Exzentrizität seiner Umlaufbahn wirkt sich beträchtlich auf die Jahreszeiten aus. Der Mars befindet sich während des Sommers in der Südhalbkugel und des Winters in der nördlichen Hemisphäre nahe dem Perihel seiner Bahn. Nahe dem Aphel ist in der südlichen Hemisphäre Winter und in der nördlichen Sommer. Die Jahreszeiten sind deshalb in der südlichen Hemisphäre viel deutlicher ausgeprägt als in der nördlichen, wo das Klima ausgeglichener ist, als es sonst der Fall wäre. Die Sommertemperaturen im Süden können bis zu 30 °C höher sein als die vergleichbaren Temperaturen im Sommer des Nordens. Die Jahreszeiten sind aufgrund der Exzentrizität der Umlaufbahn des Mars unterschiedlich lang. Auf der Nordhalbkugel dauert der Frühling 199,6, der Sommer 181,7, der Herbst 145,6 und der Winter 160,1 irdische Tage. ==== Winde und Stürme ==== Wegen der starken Tag-Nacht-Temperaturschwankungen der Oberfläche gibt es tägliche Morgen- und Abendwinde.Während des Marsfrühjahrs können in den ausgedehnten Ebenen heftige Staubstürme auftreten, die mitunter große Teile der Marsoberfläche verhüllen. Die Aufnahmen von Marssonden zeigen auch Windhosen, die über die Marsebenen ziehen und auf dem Boden dunkle Spuren hinterlassen. Stürme auf dem Mars haben wegen der sehr dünnen Atmosphäre eine wesentlich geringere Kraft als Stürme auf der Erde. Selbst bei hohen Windgeschwindigkeiten werden nur kleine Partikel (Staub) aufgeweht. Allerdings verbleibt aufgewehter Staub auf dem Mars wesentlich länger in der Atmosphäre als auf der Erde, da es keine Niederschläge gibt, die die Luft reinigen, und zudem die Gravitation geringer ist. Staubstürme treten gewöhnlich während des Perihels auf, da der Planet zu diesem Zeitpunkt 40 Prozent mehr Sonnenlicht empfängt als während des Aphels. Während des Aphels bilden sich in der Atmosphäre Wolken aus Wassereis, die ihrerseits mit den Staubpartikeln interagieren und so die Temperatur auf dem Planeten beeinflussen. Die Windgeschwindigkeiten in der oberen Atmosphäre können bis zu 650 km/h erreichen, auf dem Boden immerhin fast 400 km/h. ==== Gewitter ==== Bei heftigen Staubstürmen scheint es auch zu Gewittern zu kommen. Im Juni 2006 untersuchten Forscher mit einem Radioteleskop den Mars und stellten im Mikrowellenbereich Strahlungsausbrüche fest, wie sie bei Blitzen auftreten. In der Region, in der man die Strahlungsimpulse beobachtet hat, herrschte zu der Zeit ein heftiger Staubsturm mit hohen Staubwolken. Sowohl der beobachtete Staubsturm als auch das Spektrum der Strahlungsimpulse deuten auf ein Staubgewitter mit Blitzen bzw. großen Entladungen hin. == Oberfläche == Die Oberfläche des Mars beträgt etwa ein Viertel der Erdoberfläche. Sie entspricht mit 144 Mio. km² fast der Gesamtoberfläche aller Kontinente der Erde (149 Mio. km²) und ist geringer als die Gesamtfläche des Pazifischen Ozeans (166,24 Mio. km²). Die rote Färbung seiner Oberfläche verdankt der Planet dem Eisenoxid-Staub, der sich auf der Oberfläche und in der Atmosphäre verteilt hat. Somit ist der Rote Planet ein „rostiger Planet“. Seine beiden Hemisphären sind sehr verschieden. Die Südhalbkugel stellt ein riesiges Hochland dar, das durchschnittlich 2–3 km über dem globalen Nullniveau liegt und ausgedehnte Schildvulkane aufweist. Die vielen Einschlagkrater belegen sein hohes Alter von fast 4 Milliarden Jahren. Dem steht die geologisch junge, fast kraterlose nördliche Tiefebene gegenüber. Sie liegt 3–5 km unter dem Nullniveau und hat ihre ursprüngliche Struktur durch noch ungeklärte geologische Prozesse verloren. Auslöser war möglicherweise eine gewaltige Kollision in der Frühzeit des Planeten. === Gesteine === An den Landestellen der Marssonden sind Gesteinsbrocken, sandige Böden und Dünen sichtbar. Die Marsgesteine weisen an der Oberfläche eine blasenartige Struktur auf und ähneln in ihrer Zusammensetzung irdischen Basalten, was bereits vor Jahrzehnten aus den auf der Erde (Antarktis) gefundenen Marsmeteoriten erschlossen wurde. Die roten Böden sind offensichtlich durch die Verwitterung von eisenhaltigen, vulkanischen Basalten entstanden. Die Pathfinder-Sonde fand 1997 außer verschiedensten Basalten auch quarzreichere Tiefengesteine ähnlich dem südamerikanischen Andesit, ferner den aus der Tiefe stammenden Olivin und runde Kiesel aus Konglomeraten. Weitverbreitet sind metamorpher Regolith (ähnlich wie am Mond) und äolische Sedimente, vereinzelt auch verwehter Sand aus schwefelhaltigen Staubteilchen. === Areografie === Die kartografische Darstellung und Beschreibung der Marsoberfläche ist die Areografie, von Ares (Άρης, griechisch für Mars) und graphein (γράφειν, griechisch für beschreiben). Die „Geologie“ des Mars wird mitunter dementsprechend als Areologie bezeichnet. Zur Festlegung von Positionen auf der Marsoberfläche dienen areografische Koordinaten, die definiert sind als Geografische Länge und Breite wie auf der Erde. Die Benennung der vielfältigen Oberflächenstrukturen des Mars richtet sich nach der planetaren Nomenklatur der International Astronomical Union (IAU). === Topografische Hemisphären === Auffallend ist die Dichotomie, die „Zweiteilung“, des Mars. Die nördliche und die südliche Hemisphäre unterscheiden sich deutlich, wobei man von den Tiefebenen des Nordens und den Hochländern des Südens sprechen kann. Der mittlere Großkreis, der die topografischen Hemisphären voneinander trennt, ist rund 40° gegen den Äquator geneigt. Der Massenmittelpunkt des Mars ist gegenüber dem geometrischen Mittelpunkt um etwa drei Kilometer in Richtung der nördlichen Tiefebenen versetzt. Auf der nördlichen Halbkugel sind sand- und staubbedeckte Ebenen vorherrschend, die Namen wie Utopia Planitia oder Amazonis Planitia erhielten. Dunkle Oberflächenmerkmale, die in Teleskopen sichtbar sind, wurden einst für Meere gehalten und erhielten Namen wie Mare Erythraeum, Mare Sirenum oder Aurorae Sinus. Diese Namen werden heute nicht mehr verwendet. Die ausgedehnteste dunkle Struktur, die von der Erde aus gesehen werden kann, ist Syrtis Major, die „große Syrte“. Die südliche Halbkugel ist durchschnittlich sechs Kilometer höher als die nördliche und besteht aus geologisch älteren Formationen. Die Südhalbkugel ist zudem stärker verkratert, wie zum Beispiel in der Hochlandregion Arabia Terra. Unter den zahlreichen Einschlagkratern der Südhalbkugel befindet sich auch der größte Marskrater, Hellas Planitia, die Hellas-Tiefebene. Das Becken misst im Durchmesser bis zu 2100 km. In seinem Innern maß Mars Global Surveyor 8180 m unter Nullniveau – unter dem Durchschnittsniveau des Mars – den tiefsten Punkt auf dem Planeten. Der zweitgrößte Einschlagkrater des Mars, Chryse Planitia, liegt im Randbereich der nördlichen Tiefländer. Die deutlichen Unterschiede der Topografie können durch innere Prozesse oder aber ein Impaktereignis verursacht worden sein. In letzterem Fall könnte in der Frühzeit der Marsentstehung ein größerer Himmelskörper, etwa ein Asteroid, auf der Nordhalbkugel eingeschlagen sein und die silikatische Kruste durchschlagen haben. Aus dem Innern könnte Lava ausgetreten sein und das Einschlagbecken ausgefüllt haben. Wie sich gezeigt hat, hat die Marskruste unter den nördlichen Tiefebenen eine Dicke von etwa 40 km, die im Gegensatz zum stufenartigen Übergang an der Oberfläche nur langsam auf 70 km bis zum Südpol hin zunimmt. Dies könnte ein Indiz für innere Ursachen der Zweiteilung sein. === Oberflächenstrukturen === ==== Gräben ==== Südlich am Äquator und fast parallel zu ihm verlaufen die Valles Marineris (die Mariner-Täler), das größte bekannte Grabensystem des Sonnensystems. Es erstreckt sich über 4000 km und ist bis zu 700 km breit und bis zu 7 km tief. Es handelt sich um einen gewaltigen tektonischen Bruch. In seinem westlichen Teil, dem Noctis Labyrinthus, verästelt er sich zu einem chaotisch anmutenden Gewirr zahlreicher Schluchten und Täler, die bis zu 20 km breit und bis zu 5 km tief sind. Noctis Labyrinthus liegt auf der östlichen Flanke des Tharsis-Rückens, einer gewaltigen Wulst der Mars-Lithosphäre quer über dem Äquator mit einer Ausdehnung von etwa 4000 mal 3000 Kilometern und einer Höhe von bis zu rund 10 Kilometern über dem nördlichen Tiefland. Die Aufwölbung ist entlang einer offenbar zentralen Bruchlinie von drei sehr hohen, erloschenen Schildvulkanen besetzt: Ascraeus Mons, Pavonis Mons und Arsia Mons. Der Tharsis-Rücken und die Mariner-Täler dürften in ursächlichem Zusammenhang stehen. Wahrscheinlich drückten vulkanische Kräfte die Oberfläche des Planeten in dieser Region empor, wobei die Kruste im Bereich des Grabensystems aufgerissen wurde. Eine Vermutung besagt, dass diese vulkanische Tätigkeit durch ein Impaktereignis ausgelöst wurde, dessen Einschlagstelle das Hellas-Becken auf der gegenüberliegenden Seite des Mars sei. 2007 wurden im Nordosten von Arsia Mons sieben tiefere Schächte mit 100 bis 250 Metern Durchmesser entdeckt. ==== Vulkane ==== Dem Hellas-Becken exakt gegenüber befindet sich der Vulkanriese Alba Patera. Er ragt unmittelbar am Nordrand des Tharsis-Rückens rund 6 km über das umgebende Tiefland und ist mit einem Basisdurchmesser von über 1200 km der flächengrößte Vulkan im Sonnensystem. Patera ist die Bezeichnung für unregelmäßig begrenzte Vulkane mit flachem Relief. Alba Patera ist anscheinend einmal durch einen Kollaps in sich zusammengefallen. Unmittelbar westlich neben dem Tharsis-Rücken und südwestlich von Alba Patera ragt der höchste Vulkan, Olympus Mons, 26,4 km über die Umgebung des nördlichen Tieflands. Mit einer Gipfelhöhe von etwa 21,3 km über dem mittleren Null-Niveau ist er die höchste bekannte Erhebung im Sonnensystem. Ein weiteres, wenn auch weniger ausgedehntes vulkanisches Gebiet ist die Elysium-Region nördlich des Äquators mit den Schildvulkanen Elysium Mons, Hecates Tholus und Albor Tholus. Vulkanische Aktivität könnte sich vor 210.000 Jahren bis vor nur 53.000 Jahren ereignet haben. ==== Stromtäler ==== Auf der Marsoberfläche verlaufen Stromtäler, die mehrere hundert Kilometer lang und mehrere Kilometer breit sein können. Die heutigen Trockentäler beginnen ziemlich abrupt und haben keine Zuflüsse. Die meisten entspringen an den Enden der Mariner-Täler und laufen nördlich im Chryse-Becken zusammen. In den Tälern erheben sich mitunter stromlinienförmige Inseln. Sie weisen auf eine vergangene Flutperiode hin, bei der über einen geologisch relativ kurzen Zeitraum große Mengen Wasser geflossen sein müssen. Es könnte sich um Wassereis gehandelt haben, das sich unter der Marsoberfläche befand, danach durch vulkanische Prozesse geschmolzen wurde und dann abgeflossen ist. Darüber hinaus finden sich an Abhängen und Kraterrändern Spuren von Erosionen, die möglicherweise ebenfalls durch Fließwasser verursacht wurden. 2006 proklamierte die NASA einen einzigartigen Fund: Auf einigen NASA-Fotografien, die im Abstand von sieben Jahren vom Mars gemacht wurden, lassen sich Veränderungen auf der Marsoberfläche erkennen, die eine gewisse Ähnlichkeit mit Veränderungen durch fließendes Wasser haben. Innerhalb der NASA wird nun diskutiert, ob es neben Wassereis kurzzeitig auch flüssiges Wasser geben könnte. ==== Delta-Strukturen ==== In alten Marslandschaften, z. B. im Eberswalde-Krater auf der Südhalbkugel oder in der äquatornahen Hochebene Xanthe Terra, finden sich typische Ablagerungen einstiger Flussdeltas. Seit längerem vermutet man, dass die tief eingeschnittenen Täler in Xanthe Terra einst durch Flüsse geformt wurden. Wenn ein solcher Fluss in ein größeres Becken, beispielsweise einen Krater, mündete, lagerte er erodiertes Gesteinsmaterial als Sedimente ab. Die Art der Ablagerung hängt dabei von der Natur dieses Beckens ab: Ist es mit dem Wasser eines Sees gefüllt, so bildet sich ein Delta. Ist das Becken jedoch trocken, so verliert der Fluss an Geschwindigkeit und versickert langsam. Es bildet sich ein sogenannter Schwemmkegel, der sich deutlich vom Delta unterscheidet. Jüngste Analysen von Sedimentkörpern auf Basis von Orbiter-Fotos weisen an zahlreichen Stellen in Xanthe Terra auf Deltas hin – Flüsse und Seen waren in der Marsfrühzeit also recht verbreitet. ==== Dark Slope Streaks ==== Dunkle Streifen an Hängen sind auf dem Mars häufig zu sehen. Sie treten an steilen Hängen von Kratern, Mulden und Tälern auf und werden mit zunehmendem Alter heller. Manchmal beginnen sie in einem kleinen punktförmigen Bereich und werden dann zunehmend breiter. Man beobachtete, dass sie sich um Hindernisse, wie Mulden, weiterbewegen. Es wird angenommen, dass die Farbe von dunklen darunterliegenden Schichten stammt, die durch Lawinen von hellem Staub freigelegt werden. Es wurden jedoch auch andere Hypothesen aufgestellt, wie Wasser oder sogar der Wuchs von Organismen. Das Interessanteste an diesen dunklen Streifen (engl. dark slope streaks) ist, dass sie sich auch heute noch bilden. ==== Chaotische Gebiete ==== Auf dem Mars gibt es zahlreiche Regionen mit einer Häufung von unterschiedlich großen Gesteinsbrocken und tafelbergähnlichen Erhebungen. Sie werden auch „chaotische Gebiete“ genannt. Ariadnes Colles ist mit einer Fläche von etwa 29.000 km² so ein Gebiet. Es liegt im Terra Sirenum, einem südlichen Hochland des Mars. Dabei haben die Blöcke Ausmaße von einem bis zu zehn Kilometern Ausdehnung. Die größeren Blöcke ähneln Tafelbergen mit Erhebungen von bis zu 300 Metern. Es treten hierbei riefenartige Strukturen und „Runzelrücken“ (engl. wrinkle ridges) auf. Die Ursachen dafür sind vulkanisch-tektonische Bewegungen. === Gesteinsschichten und Ablagerungen === ==== Salzlager ==== Mit Hilfe der Sonde Mars Odyssey wies die NASA ein umfangreiches Salzlager in den Hochebenen der Südhalbkugel des Mars nach. Vermutlich entstanden diese Ablagerungen durch Oberflächenwasser vor etwa 3,5 bis 3,9 Milliarden Jahren. ==== Carbonatvorkommen ==== Mit Hilfe der Compact Reconnaissance Imaging Spectrometer for Mars (CRISM) an Bord der NASA-Sonde Mars Reconnaissance Orbiter (MRO) konnten Wissenschaftler Carbonat-Verbindungen in Gesteinsschichten rund um das knapp 1500 Kilometer große Isidis-Einschlagbecken nachweisen. Demnach wäre das vor mehr als 3,6 Milliarden Jahren existierende Wasser hier nicht sauer, sondern eher alkalisch oder neutral gewesen. Carbonatgestein entsteht, wenn Wasser und Kohlendioxid mit Kalzium, Eisen oder Magnesium in vulkanischem Gestein reagiert. Bei diesem Vorgang wird Kohlendioxid aus der Atmosphäre in dem Gestein eingelagert. Dies könnte bedeuten, dass der Mars früher eine dichte kohlendioxidreiche Atmosphäre hatte, wodurch ein wärmeres Klima möglich wurde, in dem es auch Wasser in flüssigem Aggregatzustand gab.Mit Hilfe von Daten des MRO wurden 2010 Gesteine entdeckt, die durch kosmische Einschläge aus der Tiefe an die Oberfläche befördert worden waren. Anhand ihrer spezifischen spektroskopischen Fingerabdrücke konnte festgestellt werden, dass sie hydrothermal (unter Einwirkung von Wasser) verändert wurden. Neben diesen Karbonat-Mineralen wurden auch Silikate nachgewiesen, die vermutlich auf die gleiche Weise entstanden sind. Dieser neue Fund beweise, dass es sich dabei nicht um örtlich begrenzte Vorkommen handele, sondern dass Karbonate in einer sehr großen Region des frühen Mars entstanden seien. ==== Hämatitkügelchen ==== Die Marssonde Opportunity fand im Gebiet des Meridiani Planum millimetergroße Kügelchen des Eisenminerals Hämatit. Diese könnten sich vor Milliarden Jahren unter Einwirkung von Wasser abgelagert haben. Darüber hinaus wurden Minerale gefunden, die aus Schwefel-, Eisen- oder Bromverbindungen aufgebaut sind, wie zum Beispiel Jarosit. Auf der entgegengesetzten Hemisphäre des Mars fand die Sonde Spirit in den „Columbia Hills“ das Mineral Goethit, das ausschließlich unter dem Einfluss von Wasser gebildet werden kann. ==== Kieselsäure ==== Forscher entdeckten 2010 mit Hilfe des MRO Ablagerungen auf einem Vulkankegel, die von Wasser verursacht wurden. Sie konnten das Mineral als Kieselsäurehydrat identifizieren, das nur in Verbindung mit Wasser entstanden sein kann. Die Wissenschaftler nehmen an, dass, falls es auf dem Mars Leben gegeben hat, es sich dort in der hydrothermalen Umgebung am längsten hätte halten können. === Polkappen === Der Mars besitzt zwei auffällige Polkappen, die zum größten Teil aus gefrorenem Kohlendioxid (Trockeneis) sowie einem geringen Anteil an Wassereis zusammengesetzt sind. Die nördliche Polkappe hat während des nördlichen Marssommers einen Durchmesser von rund 1000 Kilometern. Ihre Dicke wird auf 5 km geschätzt. Die südliche Polkappe ist mit 350 km Durchmesser und einer Dicke von 1½ km weniger ausgedehnt. Die Polarkappen zeigen spiralförmige Einschnitte, deren Entstehung bislang nicht geklärt ist. Wenn im Sommer die jeweiligen Polkappen teilweise abschmelzen, werden darunter geschichtete Ablagerungen sichtbar, die möglicherweise abwechselnd aus Staub und Eis zusammengesetzt sind. Im Marswinter nimmt der Durchmesser der dann jeweils der Sonne abgewandten Polkappe durch ausfrierendes Kohlendioxid wieder zu. Da ein größerer, stabilisierender Mond fehlt, taumelt der Mars mit einer Periode von etwa 5 Millionen Jahren. Die Polarregionen werden daher immer wieder so stark erwärmt, dass das Wassereis schmilzt. Durch das abfließende Wasser entstehen die Riemen und Streifen an den Polkappen. === Wasservorkommen === Der Mars erscheint heute als trockener Wüstenplanet. Die bislang vorliegenden Ergebnisse der Marsmissionen lassen jedoch den Schluss zu, dass die Marsatmosphäre in der Vergangenheit (vor Milliarden Jahren) wesentlich dichter war und auf der Oberfläche des Planeten reichlich flüssiges Wasser vorhanden war. ==== Eisvorkommen an den Polen ==== Durch Radarmessungen mit der Sonde Mars Express wurden in der Südpolarregion, dem Planum Australe, Ablagerungsschichten mit eingelagertem Wassereis entdeckt, die weit größer und tiefreichender sind als die hauptsächlich aus Kohlendioxideis bestehende Südpolkappe. Die Wassereisschichten bedecken eine Fläche, die fast der Größe Europas entspricht, und reichen in eine Tiefe von bis zu 3,7 Kilometern. Das in ihnen gespeicherte Wasservolumen wird auf bis zu 1,6 Millionen Kubikkilometer geschätzt – circa zwei Drittel des irdischen Grönlandeispanzers – was laut der Europäischen Weltraumorganisation (ESA) ausreichen würde, die Marsoberfläche mit einer etwa 11 Meter dicken Wasserschicht zu bedecken. ==== Weitere Eisvorkommen ==== Die schon lange gehegte Vermutung, dass sich unter der Oberfläche des Mars Wassereis befinden könnte, erwies sich 2005 durch Entdeckungen der ESA-Sonde Mars Express als richtig. Geologen gehen von wiederkehrenden Vereisungsperioden auf dem Mars aus, ähnlich irdischen Eiszeiten. Dabei sollen Gletscher bis in subtropische Breiten vorgestoßen sein. Die Forscher schließen dies aus Orbiter-Fotos, die Spuren einstiger Gletscher in diesen äquatornahen Gebieten zeigen. Zusätzlich stützen auch Radarmessungen aus der Umlaufbahn die Existenz beträchtlicher Mengen an Bodeneis in ebendiesen Gebieten. Diese Bodeneisvorkommen werden als Reste solcher „Mars-Eiszeiten“ gedeutet.Auf der Europäischen Planetologenkonferenz EPSC im September 2008 in Münster wurden hochauflösende Bilder des Mars Reconnaissance Orbiters der NASA vorgestellt, die jüngste Einschlagkrater zeigen. Wegen der sehr dünnen Atmosphäre stürzen die Meteoriten praktisch ohne Verglühen auf die Marsoberfläche. Die fünf neuen Krater, die nur drei bis sechs Meter Durchmesser und eine Tiefe von 30 bis 60 cm aufweisen, wurden in mittleren nördlichen Breiten gefunden. Sie zeigen an ihrem Boden ein gleißend weißes Material. Wenige Monate später waren die weißen Flecken durch Sublimation verschwunden. Damit erhärten sich die Hinweise, dass auch weit außerhalb der Polgebiete Wassereis dicht unter der Marsoberfläche begraben ist. Diese Beobachtungen wurden auch 2022 von der NASA erneut bestätigt. ==== Flüssiges Wasser ==== Unter der Kryosphäre des Mars werden große Mengen flüssigen Wassers vermutet. Nahe oder an der Oberfläche ist es für flüssiges Wasser zu kalt, und Eis würde langsam sublimieren, da der Partialdruck von Wasser in der Marsatmosphäre zu gering ist. Es gibt jedoch Hinweise, dass die Raumsonde Phoenix Wassertropfen auf der Oberfläche entdeckt habe. Dabei könnten Perchlorate als Frostschutz wirken. Diese Salze haben die Eigenschaft, Wasser anzuziehen. Dies kann auch Wasserdampf aus der Atmosphäre sein. Bei ausreichender Konzentration der Salze könnte Wasser sogar bis −70 °C flüssig bleiben. Durch eine Durchmischung mit Perchloraten könnte Wasser auch unter der Oberfläche in flüssigem Zustand vorhanden sein. 2010 fanden Forscher der Uni Münster Belege dafür, dass zumindest im Frühjahr und in Kratern wie dem Russell-Krater flüssiges Wasser auf der Marsoberfläche existiert. Auf Fotos, die vom Mars Reconnaissance Orbiter aufgenommen wurden, entdeckten sie an steilen Hängen Erosionsrinnen, die sich zwischen November 2006 und Mai 2009 verlängert hatten. Dass die Rinnen nach unten dünner werden, deuten die Forscher als Versickern, andere als Verdunsten.Eine alternative Erklärung für die Erosionsrinnen schlugen Wissenschaftler der NASA 2010 vor: Kohlendioxid, das sich im marsianischen Winter bei unter −100 °C aus der Atmosphäre an den Berghängen als Trockeneis ansammelt, bei Erwärmung des Planeten als sublimiertes Gas die Hänge hinab„fließt“ und dabei Staub erodiert.Mit dem abbildenden Spektrometer (CRISM) des Mars Reconnaissance Orbiters konnten Spektren von aktiven (jahreszeitlich dunkleren) Rinnen gewonnen werden, deren Auswertung, 2015 veröffentlicht, Magnesiumperchlorat, Magnesiumchlorat und Natriumperchlorat ergaben. Im Juli 2018 gaben Forscher vom Nationalinstitut für Astrophysik in Bologna bekannt, dass sie mittels Radartechnologie Hinweise auf einen ca. 20 km breiten und 1,5 km tiefen See unter dem Eis des Marssüdpols gefunden haben. Sie vermuten, dass das Wasser in diesem subglazialen See trotz einer Temperatur von ca. −75 °C aufgrund von gelösten Perchloraten flüssig bleibt. === Verschwinden des Wassers === Wissenschaftler berichteten im Jahr 2020, dass der aktuelle Verlust von atomarem Wasserstoff von Wasser auf dem Mars größtenteils durch saisonale Erwärmung und Staubstürme, die Wasser direkt in die obere Atmosphäre transportieren, angetrieben wird. Dies habe eine bedeutende Rolle im Klima und Wasserverlust des Planeten während der letzten 1 Milliarden Jahre gespielt. == Innerer Aufbau == Das Innere des Planeten wurde zuerst aus Satellitenmessungen (vor allem Mars Global Surveyor). Die Marssonde InSight nutzte im Jahr 2021 seismische Wellen von Marsbeben, um das Innere genau zu vermessen. Der Mars hat einen Schalenaufbau ähnlich dem der Erde. Er gliedert sich in eine Kruste, einen Gesteinsmantel und einen Kern. Die durchschnittliche Dicke der Planetenkruste beträgt etwa 50 km. Unter der InSight-Landestelle in Elysium Planitia ist die Kruste relativ dünn, nur etwa 40 bis 47 km. Aus gravimetrischen Daten weiß man aber, dass die Krustendicke über den Mars hinweg stark variiert und maximal unter der Tharsis-Vulkanprovinz ist (etwa 115 km), sowie mit nur 5 bis 10 km am dünnsten unter Hellas Planitia. Darunter folgt eine sehr mächtige, feste Lithosphäre von 400 bis 600 km Dicke, dann der konvektive Mantel und dann ein flüssiger Kern mit einem Radius von 1780 bis 1810. Der Kern besteht aus mindestens einem Fünftel Schwefel und Sauerstoff. Der Kern besteht überwiegend aus Eisen. Da er im Verhältnis zum Planeten genauso groß ist wie der Erdkern, obwohl die Erde als ganzes erheblich schwerer ist, muss seine Dichte auch recht niedrig sein, etwa 6 g/cm3. Daher beinhaltet er mutmaßlich erheblich mehr leichte Elemente als der Erdkern, darunter etwa 14 bis 17 Prozent Schwefel und zusätzlich Wasserstoff, Sauerstoff oder Kohlenstoff. Da diese leichten Elemente vom entstehenden Sonnenwind bereits früh aus dem inneren Sonnensystem geblasen wurden, legt dies nahe, dass der Mars früher als die Erde entstanden ist. == Magnetfeld == Anders als die Erde und der Merkur besitzt der Mars kein globales Magnetfeld mehr, seit er es ca. 500 Millionen Jahre nach seiner Entstehung verlor. Vermutlich erlosch es, als der Zerfall radioaktiver Elemente nicht mehr genügend Wärmeenergie produzierte, um im flüssigen Kern Konvektionsströmungen anzutreiben. Weil der Mars keinen festen inneren Kern besitzt, konnte er den Dynamo-Effekt nicht auf die gleiche Art aufbauen wie die Erde. Dennoch ergaben Messungen einzelne und sehr schwache lokale Magnetfelder. Die Messung des Magnetfeldes wird erschwert durch die Magnetisierung der Kruste mit Feldstärken von bis zu 220 Nanotesla und durch externe Magnetfelder mit Stärken zwischen wenigen Nanotesla und bis zu 100 Nanotesla, die durch die Wechselwirkung des Sonnenwindes mit der Marsatmosphäre entstehen und zeitlich sehr stark variieren. Nach den Analysen der Daten des Mars Global Surveyor konnte die Stärke des Magnetfeldes trotzdem sehr genau bestimmt werden – sie liegt bei weniger als 0,5 Nanotesla gegenüber 30 bis 60 Mikrotesla des Erdmagnetfeldes. Modellierungen des Magnetfeldes mittels Kugelflächenfunktionen ermöglichten Berechnungen des remanenten Krustenfeldes z. B. an der Oberfläche des Planeten. Hierbei zeigte sich, dass die Vektorkomponenten der Krustenmagnetisierung, vor allem in der südlichen Hemisphäre des Planeten, Werte von nahezu 12 Mikrotesla aufwiesen. Dies ist etwa das sechzigfache der maximalen Krustenmagnetisierung der Erde. Messungen von Magnetfeldlinien durch Mars Global Surveyor ergaben, dass Teile der planetaren Kruste durch das einstige Magnetfeld stark magnetisiert sind, aber mit unterschiedlicher Orientierung, wobei gleichgerichtete Bänder von etwa 1000 km Länge und 150 km Breite auftreten. Ihre Größe und Verteilung erinnert an die streifenförmigen Magnetanomalien auf den Ozeanböden der Erde. Durch sie wurde die Theorie der Plattentektonik gestützt, weshalb auch eine ähnliche Theorie für den Mars entwickelt wurde. Diese Theorie wird aber im Gegensatz zur Erde weder durch beobachtbare Bewegungen der Kruste, oder durch topographische Marker für Plattentektonik (Mittelozeanischer Rücken, Transformstörungen, o. ä.) gestützt. Eine weitere Besonderheit des Marsfeldes ist die Tatsache, dass es nahezu perfekt mit der Mars-Dichotomie korreliert. Die nördliche Hemisphäre ist in weiten Teilen unmagnetisiert, während starke Krustenmagnetisierungen auf der südlichen Hemisphäre zu finden sind. Möglicherweise werden bei der mit der Zeit zwangsläufigen Abkühlung des Marskerns durch die damit einsetzende Auskristallisation des Eisens und die freigesetzte Kristallisationsenthalpie wieder Konvektionen einsetzen, die ausreichen, dass der Planet in ein paar Milliarden Jahren wieder über ein globales Magnetfeld in alter Stärke verfügt. Es ist wahrscheinlich, dass das potentielle Feld in der Fernfeldnäherung einem Dipolfeld, ähnlich dem der Erde, entspricht. Es wird auch angenommen, dass das ursprüngliche Magnetfeld des Mars einem Dipolfeld entsprach. Auf Basis dieser Annahme wurden magnetische Polrekonstruktionen durchgeführt, welche zu dem Ergebnis kamen, dass der Mars in seiner Vergangenheit wenigstens eine Polumkehr durchlief. == Monde == Zwei kleine Monde, Phobos und Deimos (griech. Furcht und Schrecken), umkreisen den Mars. Sie wurden 1877 von dem US-amerikanischen Astronomen Asaph Hall entdeckt und nach den in der Ilias überlieferten beiden Begleitern, die den Wagen des Kriegsgottes Ares (lat. Mars) ziehen, benannt. Phobos und Deimos sind zwei unregelmäßig geformte Felsbrocken. Möglicherweise handelt es sich um Asteroiden, die vom Mars eingefangen wurden. Phobos’ große Halbachse beträgt 9376 km, diejenige von Deimos 23459 km. Phobos ist damit kaum mehr als 6000 km von der Oberfläche des Mars entfernt, der Abstand ist geringer als der Durchmesser des Planeten. Die periodischen Umlaufbewegungen der beiden Monde befinden sich mit der Größe von 0,31891 (Phobos) und 1,262 Tagen (Deimos) zueinander in einer 1:4-Bahnresonanz. Die Umlaufzeit von Phobos ist kürzer als die Rotationszeit des Mars. Der Mond kommt dem Planeten durch die Gezeitenwechselwirkung auf einer Spiralbahn langsam immer näher und wird schließlich auf diesen stürzen oder durch die Gezeitenkräfte auseinandergerissen werden, so dass er für kurze Zeit zu einem Marsring wird. Für ihn berechneten DLR-Forscher, basierend auf neueren Daten der europäischen Raumsonde Mars Express, dass dies in ca. 50 Millionen Jahren geschehen wird. Deimos wird dagegen in einer noch ferneren Zukunft dem Mars entfliehen. Er driftet durch die Gezeitenwechselwirkung langsam nach außen, wie alle Monde, die langsamer (und nicht retrograd) um einen Planeten kreisen, als dieser rotiert. Ihre Existenz war schon lange vorher mehrmals literarisch beschrieben worden, zuletzt von Voltaire, der in seiner 1750 erschienenen Geschichte Micromégas über zwei Marsmonde schreibt. Es ist wahrscheinlich, dass Voltaire diese Idee von Jonathan Swift übernahm, dessen Buch Gullivers Reisen 1726 erschienen war. Darin wird im dritten Teil beschrieben, die Astronomen des Landes Laputa hätten „ebenfalls zwei kleinere Sterne oder Satelliten entdeckt, die um den Mars kreisen, wovon der innere vom Zentrum des Hauptplaneten genau drei seiner Durchmesser entfernt ist und der äußere fünf.“ Es wird vermutet, dass Swift von einer Fehlinterpretation Johannes Keplers gehört hatte. Der hatte das Anagramm, das Galileo Galilei 1609 an ihn schickte, um ihm die Entdeckung der Phasen der Venus mitzuteilen, als die Entdeckung zweier Marsmonde aufgefasst. === Daten === == Entstehungsgeschichte == Anhand der astrogeologischen Formationenvielfalt und der Verteilung von Einschlagskratern kann ein Großteil der Geschichte des Planeten abgeleitet werden. Der Mars entstand, wie die übrigen Planeten des Sonnensystems, vor etwa 4,5 Milliarden Jahren durch Zusammenballung kleinerer Körper, sogenannter Planetesimale, innerhalb der protoplanetaren Scheibe zu einem Protoplaneten. Vor 4 Milliarden Jahren bildete der im Innern noch glutflüssige planetare Körper eine feste Gesteinskruste aus, die einem heftigen Bombardement von Asteroiden und Kometen ausgesetzt war. === Noachische Periode === Die ältesten der heute noch vorhandenen Formationen, wie das Hellas-Becken, und die verkraterten Hochländer, wie Noachis Terra, wurden vor 3,8 bis 3,5 Milliarden Jahren, in der sogenannten Noachischen Periode, gebildet. In dieser Periode setzte die Zweiteilung der Marsoberfläche ein, wobei die nördlichen Tiefländer gebildet wurden. Durch starke vulkanische Eruptionen wurden weite Teile des Planeten von Ablagerungen aus vulkanischer Lava und Asche bedeckt. Diese wurden an vielen Stellen durch Wind und Wasser wieder abgetragen und ließen ein Netzwerk von Tälern zurück. === Hesperianische Periode === Das geologische „Mittelalter“ des Mars wird als Hesperianische Periode bezeichnet. Sie umfasst den Zeitraum von vor 3,5 bis 1,8 Milliarden Jahren. In dieser Periode ergossen sich riesige Lavamengen aus ausgedehnten Spalten in der Marskruste und bildeten weite Ebenen, wie Hesperia Planum. Es entstanden auch die ältesten Vulkane der Tharsis- und der Elysium-Region, wobei die Gesteinskruste stark verformt wurde und sich das Grabensystem der Mariner-Täler öffnete. Es bildeten sich die gewaltigen Stromtäler, in denen große Wassermengen flossen und sich stellenweise aufstauten. Es entwickelte sich auf dem Mars ein Wasserkreislauf. Im Unterschied zur Erde gab es jedoch keinen Wetterzyklus mit Verdunstung, Wolkenbildung und anschließendem Niederschlag. Das Wasser versickerte im Untergrund und wurde später durch hydrothermale Prozesse wieder an die Oberfläche getrieben. Da jedoch der Planet immer weiter abkühlte, endete dieser Prozess vor etwa 1,5 Milliarden Jahren, und es hielten sich nur noch Gletscher an der Oberfläche. Zeichen dieser Aktivität sind vor kurzem entdeckte Moränen am Olympus Mons. === Amazonische Periode === Das jüngste geologische Zeitalter des Mars wird als Amazonische Periode bezeichnet und begann vor 1,8 Milliarden Jahren. In dieser Phase entstanden die jüngeren Vulkane der Tharsis- und der Elysium-Region, aus denen große Lavamassen flossen. So bildeten sich weite Ebenen aus wie zum Beispiel Amazonis Planitia. 2008 fanden Forscher Hinweise auf Geysire auf dem Mars, die vor einigen Millionen Jahren aktiv gewesen sein dürften. Dabei hätten sie Fontänen von kohlensäurehaltigem Wasser einige Kilometer weit in die Höhe geschossen. Darauf deuten auch die Formen von Ablagerungen hin, die britische Forscher in der Nähe zweier ausgedehnter Grabensysteme entdeckten. Wahrscheinlich wurden diese Eruptionen durch Blasen aus Kohlendioxid ausgelöst. Dadurch wurde das Wasser aus einer Tiefe von bis zu vier Kilometern durch Spalten im Marsboden an die Oberfläche gedrückt. Die Fontänen müssen dabei mit einem so großen Druck herausgepresst worden sein, dass das schlammige Wasser erst in einer Entfernung von mehreren Kilometern von der Austrittsstelle wieder auf den Boden regnete oder, bedingt durch die tiefen Temperaturen, als Hagel niederging.Gegenwärtig wird die Oberfläche des Mars hauptsächlich durch Winderosion und Hangrutschung geformt. == Erforschung == Aufgrund seiner hohen Helligkeit war der Mars schon im frühen Altertum als Planet bekannt. Wegen seiner langen Planetenschleifen (die alle 2 Jahre in der Opposition auftreten) galten seine Bewegungen den Ägyptern als unvorhersehbar. Den Babyloniern gelang es zwar, sie näherungsweise vorauszusagen, sie schrieben die Bahnanomalien aber den Launen und der Gewalttätigkeit des Gottes Nergal zu. === Vor dem Raumfahrtzeitalter === === Zeitleiste === Tycho Brahe (1546–1601) vermaß die Planetenpositionen des Mars mit bis dahin nicht gekannter Genauigkeit und ermöglichte es so Johannes Kepler (1571–1630), die elliptische Bahn des Planeten zu berechnen und die drei Keplerschen Gesetze abzuleiten. Christiaan Huygens entdeckte 1659 eine dunkle, dreieckige Zone (Syrtis Major) auf der Marsoberfläche. Aus deren Positionsveränderungen errechnete er die Eigenrotation des Mars zu 24,5 Stunden (heutiger Wert: 24,623 Stunden). Giovanni Domenico Cassini beschrieb 1666 die weißen Polkappen des Mars. Wilhelm Herschel bestimmte 1784 die Neigung der Rotationsachse gegenüber der Umlaufbahn mit 25° (heutiger Wert 25,19°). Wilhelm Beer fertigte 1830 die erste Marskarte an, Angelo Secchi 1863 schon in Farbe. Richard Proctor veröffentlichte 1869 eine detaillierte Marskarte, die er aus Zeichnungen von William Rutter Dawes erstellte. Giovanni Schiaparelli nahm 1877 auf der Marsoberfläche zarte Linienstrukturen wahr, die er „Canali“ (italienisch für „Rinnen“ oder „Gräben“) nannte und in eine detaillierte Karte eintrug. Er machte zunächst keine Angaben über den Ursprung der Canali (die er für breiter als 100 km schätzte), doch wurden sie in englischen Medien fälschlich als „Channel“ (Kanäle) übersetzt und bald als Werk intelligenter Marsbewohner interpretiert. Auf älteren Marskarten erhielten viele dieser Linien auch Namen. Während einige Astronomen Schiaparellis Beobachtungen bestätigten, wurde die Existenz der Canali von anderen angezweifelt und als Ergebnis optischer Täuschungen bezeichnet. Erst der Vorbeiflug der amerikanischen Mariner-Sonden beendete die Spekulationen, denn Fotos der Marsoberfläche zeigten keine so breiten Rinnen. Drei Canali entsprechen aber den riesigen Canyons Valles Marineris, andere zeichnen Geländestufen und Schattenlinien nach, einige auch längere Kraterketten. Asaph Hall entdeckte bei der günstigen Opposition 1877 die beiden Marsmonde Phobos und Deimos. Percival Lowell gründete 1894 das Lowell-Observatorium in Arizona, um die Marskanäle, ihre jahreszeitlichen Verfärbungen und allfällige Lebensspuren zu erforschen. Spektroskopisch fand man biologische Moleküle, die sich allerdings später als terrestrisch erweisen. In der Atmosphäre wurden Spektrallinien von Sauerstoff entdeckt, dessen Volumenanteil aber überschätzt wurde. Im Jahr 1905 wurden erste Photographien vom Mars bekannt. Eugène Antoniadi bestätigte zunächst die Marskanäle, kam aber 1909 am Riesenteleskop Meudon zum Schluss, sie würden nur in kleineren Fernrohren als solche erscheinen. In seinen detaillierten Marskarten – die bis zu den ersten Marssonden kaum mehr übertroffen wurden – zeichnete er sie als Folge diffuser Flecken ein. Gerard Kuiper wies in den 1950er-Jahren Kohlendioxid in der Marsatmosphäre nach und glaubte bis zu den ersten Marssonden an die mögliche Existenz von Moosen oder Flechten. === Im Raumfahrtzeitalter === Viele unbemannte Raumsonden wurden schon zum Mars entsandt, von denen einige erfolgreich waren. Etwa die Hälfte der Missionen endete in einem Misserfolg, die meisten davon waren sowjetische Sonden. Im Unterschied zur Erkundung des Erdmondes gibt es bis heute keine Gesteinsproben, die vom Mars geholt wurden, so dass Marsmeteoriten die einzige Möglichkeit sind, Material vom Mars in irdischen Laboratorien zu erforschen. Bislang hat es auch noch keine bemannte Marsmission gegeben. Das Projekt Mars One ist nach allen, teils widersprüchlichen, teils unzuverlässigen Angaben von einer Realisierung weit entfernt, die Aktien des Trägerunternehmens sind auf Null gefallen. Von medizinischer Seite werden erhebliche Zweifel an der Möglichkeit längerer bemannter Raumflüge geäußert. ==== 1960er-Jahre ==== Die beiden sowjetischen Sonden Marsnik 1 und 2 wurden im Oktober 1960 gestartet, um am Mars vorbeizufliegen, erreichten aber noch nicht einmal die Erdumlaufbahn. 1962 versagten drei weitere sowjetische Sonden (Sputnik 22, Mars 1 und Sputnik 24), zwei von ihnen blieben im Erdorbit, die dritte verlor auf dem Weg zum Mars den Kontakt mit der Erde. Auch ein weiterer Versuch im Jahre 1964 schlug fehl. Zwischen 1962 und 1973 wurden zehn Mariner-Raumsonden vom Jet Propulsion Laboratory der NASA entwickelt und gebaut, um das innere Sonnensystem zu erforschen. Es waren relativ kleine Sonden, die meistens nicht einmal eine halbe Tonne wogen. Mariner 3 und Mariner 4 waren identische Raumsonden, die am Mars vorbeifliegen sollten. Mariner 3 wurde am 5. November 1964 gestartet, aber die Transportverkleidung löste sich nicht richtig, und die Sonde erreichte den Mars nicht. Drei Wochen später, am 28. November 1964, wurde Mariner 4 erfolgreich auf eine achtmonatige Reise zum Roten Planeten geschickt. Am 15. Juli 1965 flog die Sonde am Mars vorbei und lieferte die ersten Nahaufnahmen – insgesamt 22 Fotos – des Planeten. Die Bilder zeigten mondähnliche Krater, von denen einige mit Reif bedeckt zu sein scheinen. 1969 folgten Mariner 6 und Mariner 7 und lieferten insgesamt 200 Fotos. ==== 1970er-Jahre ==== 1971 missglückte der Start von Mariner 8, dafür erhielt die NASA im selben Jahr von Mariner 9 mehrere tausend Bilder. Ebenfalls 1971 landete mit der sowjetischen Mars 3 die erste Sonde weich auf dem Mars, nachdem Mars 2 wenige Tage zuvor gescheitert war. Der Funkkontakt brach jedoch 20 Sekunden nach der Landung ab. Mögliche Ursache war ein gerade tobender globaler Staubsturm, der den Lander umgeworfen haben könnte. Die Sowjetunion versuchte 1973 noch zwei weitere Landungen auf dem Mars, scheiterte jedoch. In den 1970er-Jahren landeten die Viking-Sonden auf dem Mars und lieferten die ersten Farbbilder sowie Daten von Bodenproben: Viking 1 schaffte am 20. Juli 1976 als erste US-amerikanische Sonde eine weiche Landung. ==== 1980er-Jahre ==== Die einzigen Raumsonden, die in den 1980er-Jahren zum Mars flogen, waren die beiden sowjetischen Phobos-Sonden. Sie wurden 1988 von Baikonur aus gestartet und sollten den Mars und seinen Mond Phobos untersuchen. Dafür waren sie im Rahmen einer internationalen Kooperation neben sowjetischen auch mit zahlreichen westlichen Instrumenten bestückt. Der Kontakt zu Fobos 1 brach jedoch schon auf dem Weg zum Mars wegen eines falschen Steuerbefehls ab. Fobos 2 erreichte eine Marsumlaufbahn und einige Daten und Bilder vom Mars wurden zur Erde übertragen. Danach wurde die Sonde zu Phobos gelenkt. Jedoch brach kurz vor dem Rendezvous auch der Kontakt zu Fobos 2 ab. ==== 1990er-Jahre ==== 1992 wurde die US-Sonde Mars Observer gestartet. Sie ging 1993 kurz vor dem Einschwenken in die Umlaufbahn verloren. Am 16. November 1996 startete Mars 96, die erste russische Raumsonde seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion. Doch versagte die Proton-Trägerrakete, so dass Mars 96 wieder in die Erdatmosphäre eintrat und verglühte. Besonderes Aufsehen erregte 1997 der Mars Pathfinder, bei dem zum ersten Mal ein kleines Marsmobil, der Rover Sojourner, eingesetzt wurde. Er landete publikumswirksam am 4. Juli, dem amerikanischen Unabhängigkeitstag, und lieferte viele Aufnahmen von der Umgebung der Landestelle, die von der NASA zum ersten Mal sofort im Internet veröffentlicht wurden. Eine weitere erfolgreiche Mission war 1997 die des Mars Global Surveyor, bei der die Marsoberfläche in einer hohen Auflösung kartografiert wurde. Am 2. November 2006 – fünf Tage vor dem 10-jährigen Jubiläum seines Starts – brach der Kontakt mit dem Satelliten ab. Das Scheitern der Marssonden Mars Climate Orbiter, der wegen eines Programmierfehlers in der Navigation verlorenging, und Mars Polar Lander, der wahrscheinlich wegen eines fehlerhaften Sensors bei der Landung aus größerer Höhe abstürzte, stellte 1999 einen herben Rückschlag für die Marsforschung dar. Auch die 1998 gestartete japanische Raumsonde Nozomi konnte den Mars nicht erreichen. ==== 2000er-Jahre ==== Seit dem 24. Oktober 2001 umkreist außer dem Global Surveyor noch 2001 Mars Odyssey den roten Planeten, der spezielle Instrumente zur Fernerkundung von Wasservorkommen an Bord hat. Von den bis 2002 insgesamt 33 Missionen zum Mars waren nur acht erfolgreich, allesamt US-amerikanisch. Am 2. Juni 2003 startete im Rahmen der ersten europäischen Marsmission die ESA-Raumsonde Mars Express mit dem Landegerät Beagle 2 erfolgreich zum Mars. Zwar landete Beagle 2 am 25. Dezember 2003 auf der Marsoberfläche, allerdings konnte der Funkkontakt niemals aufgebaut werden. 2014 wurde er auf Bildern des MRO entdeckt. Der Orbiter Mars Express arbeitet jedoch erfolgreich in der Marsumlaufbahn und konnte unter anderem viele Aufnahmen von Formationen machen, von denen man annimmt, dass sie ausgetrocknete oder ausgefrorene Flusstäler seien. Er kartiert den Planeten u. a. mittels Radar und einer Stereokamera im sichtbaren Licht, sowie spektroskopisch auch in Infrarot. Am 30. November 2005 fand die Sonde unter der Ebene Chryse Planitia ein Eisfeld mit 250 km Durchmesser. Am 10. Juni 2003 wurde die US-amerikanische Marssonde Spirit (MER-A) zum Mars gestartet. An Bord befand sich ein Rover, der nach der Landung drei Monate lang Gesteinsproben entnehmen und nach Spuren von früher vorhandenem Wasser suchen sollte. Die Landung erfolgte am 4. Januar 2004 im Krater Gusev, in den das Ma'adim Vallis mündet. Im April 2009 fuhr sich der Rover in einer Sandanhäufung fest und konnte seit dem 22. März 2010 auch nicht mehr kontaktiert werden (Stand: März 2011). Am 8. Juli 2003 wurde die baugleiche Sonde Opportunity (MER-B) mit einer Delta-II-Rakete gestartet. Sie landete am 25. Januar 2004 in der Tiefebene Meridiani Planum nahe dem Marsäquator, fast genau gegenüber von Spirit. Die vom Rover gesammelten Beweise, dass der Mars einst warm und feucht war, wurden im Jahresrückblick der Fachzeitschrift Science mit der Wahl zum „Durchbruch des Jahres 2004“ gewürdigt. Opportunity war bis zum 10. Juni 2018 aktiv. Am 12. August 2005 wurde die US-Sonde Mars Reconnaissance Orbiter mit einer Atlas-V-Rakete auf die Reise geschickt und erreichte am 10. März 2006 den Mars. Sie soll ihn mit hochauflösenden Kameras kartografieren und auch nach geeigneten Landestellen für spätere Rover-Missionen suchen. Außerdem soll sie zur Hochgeschwindigkeits-Kommunikation zwischen zukünftigen Raumsonden auf der Marsoberfläche und der Erde dienen. 2007 fotografierte Mars Reconnaissance sieben fast kreisrunde schwarze und strukturlosen Flecken, die im Nordosten des Marsvulkans Arsia Mons liegen. Der größte, genannt Jeanne, hat einen Durchmesser von etwa 150 Meter. Eine Schrägaufnahme der sonnenbeschienenen Seitenwand im August 2007 zeigte, dass es sich um einen mindestens 78 Meter tiefen senkrechten Schacht handeln muss. Diese Strukturen sind sehr wahrscheinlich vulkanischer Natur und durch den Einbruch einer nicht mehr tragfähigen Deckschicht entstanden.Am 26. Dezember 2007 machte die High Resolution Stereo Camera des Mars Express Aufnahmen von Eumenides Dorsum, einem Bergrücken westlich der Tharsis-Region. Die Aufnahmen zeigen kilometerlange lineare Strukturen, die von Kanälen unterbrochen sind. Es handelt sich um durch Winderosion entstandene Yardangs (Windhöcker bzw. Sandwälle). Mit der Sonde Mars Odyssey wies die NASA im März 2008 eine umfangreiche Salzlagerstätte in den Hochebenen der Südhalbkugel nach. Die Wissenschaftler des JPL in Pasadena meinen, sie habe sich vor 3,5 bis 3,9 Milliarden Jahren gebildet. Vermutlich entstanden die Salze durch mineralienreiches Grundwasser, das an die Oberfläche gelangte und dort verdunstete. Die Bilder von „Mars Odyssey“ zeigen kanalähnliche Strukturen, die in den Salzbecken enden. Insgesamt wurden über 200 Gebiete mit Salzvorkommen ausgemacht, die zwischen 1 und 25 km² groß sind. Die Entdeckung deutet darauf hin, dass der Mars vor langer Zeit ein wärmeres und deutlich feuchteres Klima hatte. Solche Klimaschwankungen dürften durch aperiodische Änderungen der Rotationsachse entstehen, deren Neigung (derzeit 25°) zwischen 14 und 50° variiert.Am 26. Mai 2008 landete die Sonde Phoenix im nördlichen Polargebiet des Planeten. Sie suchte dort bis November 2008 im Boden nach Wassereis und „habitablen Zonen“, also für primitive Organismen bewohnbare Umgebungen. Ihr Roboterarm konnte Proben aus etwa 50 cm Tiefe holen, um sie dann in einem Minilabor zu analysieren. Phoenix entdeckte bei einer Grabung weiße Klümpchen, die nach einigen Tagen verschwanden. Man vermutete, dass es sich dabei um Wassereis handelt, was am 31. Juli bestätigt wurde – beim Erhitzen einer Gesteinsprobe trat Wasserdampf aus. Mit dem nasschemischen Labor MECA, das die wasserlöslichen Ionen im Marsboden bestimmte, konnten erhebliche Mengen an Perchloraten detektiert werden. Auf der Erde kommen Perchlorate in den ariden Wüstengebieten vor. Natriumperchlorat wird durch Oxidation von Natriumchlorid in der Atmosphäre erzeugt und dann mit dem Staub abgelagert. Im Jahr 2009 sollte der erste reine Kommunikationssatellit Mars Telecommunications Orbiter in den Marsorbit einschwenken und etwa zehn Jahre lang zur Übertragung von wissenschaftlichen Daten anderer Missionen zur Erde dienen, aber 2005 hat die NASA das Projekt aus Kostengründen gestrichen. ==== 2010er-Jahre ==== Am 26. November 2011 um 15:02 UTC startete die Rover-Mission Mars Science Laboratory (Curiosity) der NASA mit einer Atlas V (541) von Cape Canaveral und landete am 6. August 2012 auf dem Mars. Der Rover kann weite Strecken zurücklegen und umfassende Untersuchungen eines großen Umkreises durchführen. Wichtigstes Projektziel sind geologische Analysen des Marsbodens. Am 18. November 2013 startete eine weitere NASA-Sonde zum Mars. Die Mission mit dem Projektnamen „Mars Atmosphere and Volatile Evolution“ (MAVEN) soll das Rätsel der verlorenen Atmosphäre aufklären. Der Orbiter umkreist den Planeten seit dem 22. September 2014 und soll sich in fünf Tiefflügen annähern. Weiterhin wurde am 5. November 2013 eine indische Marsmission gestartet. Sie soll ebenfalls die Atmosphäre sowie verschiedene Oberflächenphänomene untersuchen.Am 5. Mai 2018 startete die NASA-Sonde InSight mit einer Atlas V (401) Rakete von der Vandenberg Air Force Base an der kalifornischen Küste. Es ist die erste Sonde, die nicht vom Kennedy Space Center startete. InSight landete am 26. November 2018 wie vorgesehen auf der ausgedehnten Ebene Elysium Planitia nördlich des Mars-Äquators, um den geologischen Aufbau des Planeten zu untersuchen. ==== 2020er-Jahre ==== Mit der Raumsonde Al-Amal, die von Japan am 19. Juli 2020 gestartet wurde, schickten die Vereinigten Arabischen Emirate als erster arabischer Staat eine Sonde zum Mars. Sie trat im Februar 2021 in eine Umlaufbahn um den Planeten ein. Aufgabe der Mission ist es, das erste vollständige Bild des Mars-Klimas über ein komplettes Mars-Jahr zu erfassen. Dazu hat die Raumsonde drei wissenschaftliche Instrumente an Bord.Mit der Mission Tianwen-1 entsandte die Volksrepublik China am 23. Juli 2020 eine Kombination aus Orbiter, Landegerät und Rover zum Mars. Einen Tag nach al-Amal erreichte auch diese Sonde eine Umlaufbahn um den Planeten. Am 14. Mai 2021 landete der Rover Zhurong in der Utopia Planitia, Die Hauptaufgabe der Mission besteht in der Untersuchung der Morphologie, Geologie, Mineralogie und Weltraumumgebung sowie der Wassereisverteilung auf dem Planeten. Von den insgesamt 13 wissenschaftlichen Instrumenten befinden sich sieben an Bord des Orbiters, sechs Instrumente sind Bestandteil des Rovers.Am 30. Juli 2020 startete die NASA den Rover-Mission Perseverance (Mars 2020). Am 18. Februar 2021 landete der Rover erfolgreich im 250 Meter tiefen Jezero-Marskrater. Ziel des Projekts ist unter anderem die Suche nach Hinweisen auf potenzielles mikrobielles Leben in der Vergangenheit des Planeten. Zur Ausstattung des Rovers gehört neben sieben wissenschaftlichen Instrumenten auch ein 1,8 Kilogramm schwerer autonomer Hubschrauber namens Ingenuity (übersetzt etwa: Einfallsreichtum). Der mit Lithium-Ionen-Akkus betriebene Mini-Hubschrauber absolvierte am 19. April 2021 erfolgreich einen Demonstrationsflug ohne wissenschaftliche Aufgabe. ==== Geplante Missionen ==== Weitere Pläne der NASA und ESA zur Marserforschung enthalten unter anderem das Aussetzen von kleineren Drohnen in der Atmosphäre und die Rückführung von Marsproben des Rovers Perseverance zur Erde (Mission Mars Sample Return). Dieser entnimmt mittels Kernlochbohrung Proben und legt sie auf seiner Strecke kontaminationssicher ab. Zu einem späteren Zeitpunkt sollen diese Proben eingesammelt und zu einem Rückkehrmodul gebracht werden. == Möglichkeit von Leben == Die Ökosphäre (oder habitable Zone) des Sonnensystems unterliegt den Ergebnissen verschiedener Modellrechnungen und vorausgesetzten Randbedingungen. Lange Zeit galt ein Abstand zur Sonne von 0,95 bis 1,37 AE als eine gute Abschätzung. Derzeit erlauben die Modelle jedoch habitable Zonen für erdähnliche Planeten von bis zu 0,94–1,72 AE, wobei die Außengrenze, durch einen extremen Treibhauseffekt verursacht, durch eine dichte CO2-Atmosphäre definiert ist. Andere Modelle kommen zu deutlich kleineren solaren habitablen Zonen für erdähnliche Planeten. Im Sonnensystem befindet sich in allen Modellen nur die Erde ständig innerhalb dieses Gürtels um die Sonne, der Mars liegt auf seiner Umlaufbahn mal innerhalb, mal außerhalb. Höheres oder gar intelligentes Leben gibt es auf dem Mars nicht, Wissenschaftler halten jedoch primitive Lebensformen (Mikroben) tiefer im Boden, um vor UV-Strahlen geschützt zu sein, für denkbar. Tatsächlich haben die in der Antarktis im Inneren von Gesteinen lebenden Pilzarten Cryomyces antarcticus und Cryomyces minteri simulierte Mars-Umweltbedingungen relativ gut überstanden: Nach 18 Monaten auf der Internationalen Raumstation enthielten knapp 10 % der Proben noch fortpflanzungsfähige Zellen. Auch die Flechte Xanthoria elegans hat die simulierten Marsbedingungen während des Experiments überlebt. === Vermutungen vor dem Raumfahrtzeitalter === Der Gedanke an die Möglichkeit von Leben auf dem Mars beflügelte oft die Fantasie der Menschen. Im 18. Jahrhundert beobachtete man, dass die dunklen Flecken auf der Marsoberfläche ihre Farbe änderten und wuchsen oder schrumpften. Man hielt sie für ausgedehnte Vegetationszonen, deren Ausdehnung sich mit den Jahreszeiten änderte. Durch Schiaparellis „Entdeckung“ der Marskanäle wurden die Spekulationen um intelligentes Leben auf dem Mars angefacht. So entstanden zahlreiche Legenden um vermeintliche Zivilisationen auf dem Mars. Die Diskussionen um die „Marsmenschen“ hielten etwa ein Jahrhundert an. Der US-Amerikaner Percival Lowell, einer der heftigsten Verfechter der Marskanäle-Theorie, gründete sogar eine eigene Sternwarte, um die Marsbewohner zu erforschen. Für ihn waren die Kanäle das Produkt außerirdischer Ingenieure, die geschaffen wurden, um die Marszivilisation vor einer großen Trockenheit zu retten. Lowell beschrieb seine Vorstellungen der Marswelt in zahlreichen Publikationen, die weite Verbreitung fanden. Obwohl nicht alle Astronomen die Kanäle sehen konnten und keine Fotos existierten, hielt sich die Theorie, begleitet von einer heftigen Debatte. Die Vorstellung von außerirdischem Leben übt bis heute eine Faszination auf die Menschen aus, die mit wissenschaftlichem Interesse alleine oft nicht erklärt werden kann. Erst die Ergebnisse der unbemannten Marsmissionen beendeten den Streit um die Kanäle. === Untersuchungen durch Viking === Als im Juli 1976 der Orbiter 1 der Viking-Mission Bilder der Cydonia-Region machte und diese zur Erde schickte, wurde der Mars in der Öffentlichkeit wieder zum Gesprächsthema. Eine der Aufnahmen zeigte eine Formation auf der Marsoberfläche, die einem menschlichen Gesicht ähnelte, das gen Himmel blickt. In der unmittelbaren Nähe wurden außerdem Strukturen entdeckt, die Pyramiden auf der Erde ähneln, sowie rechteckige Strukturen (von den Wissenschaftlern „Inka-Stadt“ getauft). Erst die Mission Mars Global Surveyor der NASA brachte im April 1998 für viele die Ernüchterung: Alle entdeckten Strukturen waren das Ergebnis natürlicher Erosion. Durch neue Bilder mit wesentlich höherer Auflösung wurde deutlich, dass auf dem Mars keine künstlichen Strukturen außerirdischer Intelligenz ersichtlich sind. Viking 1 und 2 hatten unter anderem die Aufgabe, der Frage nach dem Leben auf dem Mars nachzugehen. Dabei wurden ein chemisches und drei biologische Experimente durchgeführt. In dem chemischen Experiment wurde versucht, organische Substanzen im Marsboden nachzuweisen. Dazu wurde eine am MIT entwickelte GC/MS-Einheit (Kopplung eines Gaschromatographen mit einem Massenspektrometer) benutzt. Es konnten allerdings keine auf Kohlenstoff aufbauenden organischen Substanzen nachgewiesen werden. Das erste biologische Experiment beruhte auf Stoffwechselaktivitäten von Organismen. Eine Bodenprobe wurde mit einer Nährlösung benetzt und entstehende Gase registriert. Der Marsboden reagierte auf das Experiment mit Abgabe großer Mengen Sauerstoff. Im zweiten Experiment wurde eine Nährlösung mit radioaktiven Kohlenstoffatomen versehen und auf eine Probe gegeben. Als Ergebnis eines Stoffwechsels hätten sie unter den ausgeschiedenen Gasen nachgewiesen werden müssen. Tatsächlich wurden radioaktive Kohlenstoffatome nachgewiesen. Das dritte Experiment war ein Photosynthese-Experiment. Radioaktiv markiertes Kohlendioxid wurde dem Marsboden zugesetzt. Dieses Kohlendioxid hätte assimiliert werden und später nachgewiesen werden müssen. Auch dieses Ergebnis war positiv. Obwohl die Ergebnisse der biologischen Experimente positiv waren, gaben sie aufgrund des negativen Ergebnisses des GC/MS-Versuchs keinen schlüssigen Beweis für die Existenz oder Nichtexistenz von Leben auf dem Mars. === 1990er und 2000er Jahre === Im Jahr 1996 fanden David S. McKay und seine Mitarbeiter Strukturen im Marsmeteoriten ALH 84001, die sie als Spuren von fossilen Bakterien deuteten. Das in diesem Meteoriten gefundene, kettenartig angeordnete Magnetit ähnelt morphologisch dem bakteriellen Magnetit aus Magnetospirillum magnetotacticum. Allerdings wird die Beweiskraft der gefundenen Strukturen von vielen Wissenschaftlern angezweifelt, da diese auch auf rein chemischem Wege entstehen konnten. Am 23. Januar 2004 entdeckte die europäische Marssonde Mars Express am Südpol des Mars große Mengen gefrorenen Wassers, Ende Juli 2005 auch in einem nahe dem Nordpol gelegenen Krater. Ende März 2004 wurde bekannt, dass Forscher der NASA und der ESA unabhängig voneinander Methan in der Marsatmosphäre nachgewiesen haben. Ob das Methan geologischen Ursprungs ist oder etwa durch den Stoffwechsel von Mikroorganismen gebildet wurde, sollen weitere Untersuchungen zeigen. Ebenfalls Anfang 2004 entdeckte die Marssonde Opportunity Gesteine, die in offenstehendem Wasser abgelagert worden sein müssen und viele regelmäßig verteilte kugelige, bis 1 cm große Hämatit-Konkretionen enthalten. Solche Konkretionen kommen auch auf der Erde vor. Unter irdischen Bedingungen ist es wahrscheinlich, dass bei ihrer Entstehung Bakterien beteiligt sind. Ob dies auch für den Mars gilt, könnten nur Laboruntersuchungen auf der Erde zeigen. Weitere Mikrostrukturen, welche die Rover Spirit und Opportunity 2004 entdeckt hatten und in denen ein Teil der interessierten Öffentlichkeit Hinweise auf Leben hatte sehen wollen, erwiesen sich bei näherer Untersuchung als abiotisch oder künstlich, so zum Beispiel Schleifspuren auf durch die Instrumente bearbeiteten Gesteinsoberflächen oder Filamente, die sich als Textilfasern der Lande-Airbags herausstellten. Forschungsergebnisse auf der Erde bestätigen, dass es Leben auch in extremen Bedingungen geben kann. Bei Bohrungen im grönländischen Eis entdeckten Forscher der University of California, Berkeley im Jahre 2005 in drei Kilometern Tiefe eine auffallende Menge Methan. Dieses Gas produzierten methanogene Bakterien, die trotz unwirtlicher Lebensbedingungen wie Kälte, Dunkelheit und Nährstoffmangel im Eis überleben. Dabei erhalten sie sich nur mühsam am Leben – sie reparieren Erbgutschäden, vergrößern jedoch nicht nennenswert ihre Population. Methanogene Mikroben sind eine Untergruppe der Archaebakterien, die sich auf Extremstandorte spezialisiert haben. So fanden sich im Jahr 2002 Mikroben in einer 15.000 Jahre alten heißen Quelle in Idaho. Die Bakterien zählen, wie schon der Name besagt, zu den ältesten Mikroorganismen der Erde. Die Wissenschaftler schätzen das Alter der in Grönland entdeckten Bakterienkolonie auf 100.000 Jahre und vermuten, dass das in der Atmosphäre des Roten Planeten nachgewiesene Methan nicht nur von chemischen Prozessen, sondern auch von solchen Mikroben stammen könnte. === Aktuelle Forschung === Mit dem Mars Science Laboratory wird versucht, neue Aufschlüsse über mögliches Leben auf dem Mars zu liefern. Es ist fraglich, ob der Mars-Rover tief genug bohren kann, um Leben oder zumindest Lebensreste zu finden. Aber eine Isotopenanalyse des Methans kann bereits weitere Aufschlüsse geben. Leben, wie es auf der Erde bekannt ist, bevorzugt leichtere Wasserstoffisotope. == Beobachtung == === Stellung zur Erde und Bahneigenschaften === Aufgrund der Bahneigenschaften der Planeten „überholt“ die Erde den Mars durchschnittlich alle 779 Tage auf ihrer inneren Bahn. Diesen Zeitraum, der zwischen 764 und 811 Tagen schwankt, nennt man synodische Periode. Befinden sich Sonne, Erde und Mars in dieser Anordnung auf einer Linie, so steht der Mars von der Erde aus gesehen in Opposition zur Sonne. Zu diesem Zeitpunkt ist Mars besonders gut zu beobachten, er steht dann als rötlicher „Stern“ auffallend hell am Nachthimmel. Beobachtet man den Mars regelmäßig, kann man feststellen, dass er vor und nach einer Opposition am Himmel eine Schleifenbewegung vollführt. Diese Planetenschleife (Oppositionsschleife) ergibt sich aus den Sichtwinkeln, die Mars bietet, während er von der Erde überholt wird. Da die Planeten sich nicht auf idealen Kreisbahnen, sondern auf mehr oder weniger stark ausgeprägten elliptischen Bahnen bewegen, haben Erde und Mars zum Zeitpunkt der Oppositionen unterschiedliche Entfernungen zueinander. Diese können zwischen 55,6 und 101,3 Millionen Kilometern bzw. 0,37 und 0,68 AE betragen. Bei einer geringen Oppositionsentfernung spricht man von einer Perihelopposition, bei einer großen von einer Aphelopposition. Die alle 15 bis 17 Jahre stattfindenden Periheloppositionen bieten die besten Gelegenheiten, den Mars von der Erde aus mittels Teleskop zu beobachten. Der Planet hat dann einen scheinbaren Durchmesser von bis zu 25,8 Bogensekunden. Bei einer Aphelopposition ist er mit 14,1 Bogensekunden nur etwa halb so groß. Besonders erdnahe Oppositionen fanden im Abstand von jeweils 79 Jahren, zum Beispiel in den Jahren 1766, 1845, 1924 und 2003 statt. Am 28. August 2003 betrug der Abstand Erde–Mars 55,76 Millionen Kilometer. Dies war die geringste Distanz seit etwa 60.000 Jahren. Erst im Jahre 2287 wird der Mars der Erde noch näher kommen, der Abstand beträgt dann 55,69 Millionen Kilometer. Im Teleskop erscheint der Mars zunächst als rötliches Scheibchen. Bei stärkerer Vergrößerung können die Polkappen und dunkle Oberflächenmerkmale wie die Große Syrte ausgemacht werden. Treten auf dem Mars größere Staubstürme auf, verblassen die Merkmale, da die Oberfläche von einer rötlichen Dunstschicht eingehüllt wird, die sich mitunter über Wochen halten kann. Durch den Einsatz von CCD-Kameras sind mittlerweile auch Amateurastronomen in der Lage, detailreiche Aufnahmen der Marsoberfläche zu erzielen, wie sie vor etwa zehn Jahren nur von den leistungsfähigsten Großteleskopen erstellt werden konnten. === Sichtbarkeiten === Wegen der Exzentrizität der Marsbahn kann der erdnächste Punkt bis zu einer Woche vor oder nach der Opposition erreicht werden, und die scheinbare Helligkeit während der Opposition sowie der Erdabstand und der scheinbare Durchmesser während der Erdnähe können recht unterschiedlich ausfallen. Eine Opposition findet etwa alle zwei Jahre (779,94 Tage) statt. Dabei kann bei einer Perihelopposition die maximale scheinbare Helligkeit bis zu −2,91m erreichen. Zu diesem Zeitpunkt sind nur die Sonne, der Erdmond, die Venus und in seltenen Fällen Jupiter (bis zu −2,94m) noch heller. Bei Konjunktion hingegen erscheint Mars nur mehr mit einer Helligkeit von +1,8m. == Kulturgeschichte == === Beschäftigung mit dem Mars von der Antike bis in die Neuzeit === Der Mars bewegte die Menschheit von alters her besonders. Im alten Ägypten wurde Mars als „Horus der Rote“ bezeichnet. Da der Planet sich während seiner Oppositionsschleife (Planetenschleife) zeitweise rückläufig bewegt, sprachen die Ägypter davon, dass Mars rückwärts wandere. Der Name der ägyptischen Hauptstadt „Kairo“ leitet sich von „Al Qahira“ ab, dem altarabischen Namen für den Planeten Mars. Im indischen Sanskrit wird der Mars als „Mangal“ (verheißungsvoll), „Angaraka“ (Glühende Kohle) und „Kuja“ (der Blonde) bezeichnet. Er repräsentiert kraftvolle Aktion, Vertrauen und Zuversicht. Aufgrund seiner roten Färbung wurde der Mars in verschiedenen Kulturen mit den Gottheiten des Krieges in Verbindung gebracht. Die Babylonier sahen in ihm Nergal, den Gott der Unterwelt, des Todes und des Krieges. Für die Griechen und Römer der Antike repräsentierte er deren Kriegsgötter Ares beziehungsweise Mars. In der nordischen Mythologie steht er für Tyr, den Gott des Rechts und des Krieges. Die Azteken nannten ihn Huitzilopochtli, der Zerstörer von Menschen und Städten. Für die Chinesen war er Huoxing (chin. Huŏxīng, 火星), Stern des Feuers. In der Astrologie ist Mars unter anderem das Symbol der Triebkraft. Es wird dem Element Feuer, dem Planetenmetall Eisen, den Tierkreiszeichen Widder und Skorpion sowie dem 1. Haus zugeordnet. === Rezeption in Literatur, Film, Videospielen und Musik === Der Mars und seine fiktiven Bewohner sind auch Thema zahlreicher Romane und Verfilmungen. Ein Beispiel des 18. Jahrhunderts ist Carl Ignaz Geigers Roman Reise eines Erdbewohners in den Mars von 1790. 1880 veröffentlichte Percy Greg seinen Roman Across the Zodiac, in dem er eine Reise in einem Raumschiff namens Astronaut zum Mars beschrieb. Die klassische Figur des kleinen grünen Männchens mit Antennen auf dem Kopf erschien erstmals 1913 in einem Comic und ist seitdem Klischee. Als der Astronom Percival Lowell Ende des 19. Jahrhunderts die Vorstellung entwickelte, die mit dem Fernrohr wahrnehmbaren Marskanäle seien künstlich angelegte Wasserkanäle, wurde diese Idee in der Science-Fiction-Literatur aufgegriffen und weitergesponnen. Dort wurde der Mars häufig als eine sterbende Welt vorgestellt, in deren kalten Wüstenregionen alte und weit entwickelte Zivilisationen ums Überleben kämpften. Kurd Laßwitz brachte 1897 seinen sehr umfangreichen Roman Auf zwei Planeten über einen Besuch bei den Marsbewohnern heraus. In H. G. Wells’ bekanntem Roman Krieg der Welten, der 1898 erschien, verlassen die Marsianer ihre Heimatwelt, um die lebensfreundlichere Erde zu erobern. Die Menschheit, die den hochtechnisierten kriegerischen Marsianern hoffnungslos unterlegen ist, entgeht ihrer Auslöschung nur dadurch, dass die Invasoren von für Menschen harmlosen, irdischen Mikroben dahingerafft werden. Orson Welles verwendete den Stoff im Jahre 1938 in einem Hörspiel, wobei er die Marsianer in New Jersey landen ließ. Das Hörspiel wurde im Stil einer realistischen Reportage ausgestrahlt. Hörer, die sich später einschalteten, hielten die Invasion der Marsianer für Realität. Wells’ Romanvorlage wurde 1952 verfilmt, wobei die Handlung wiederum in die USA der Gegenwart verlegt wurde. Der Film erhielt für die damals bahnbrechenden Spezialeffekte einen Oscar. Der rote Stern von 1907 ist ein utopischer Roman des russischen Schriftstellers Alexander Bogdanow, der eine ideale Gesellschaftsordnung sozialistischer/kommunistischer Prägung auf dem Mars schildert. Im Jahr 1908 erschien die Kurzgeschichte Die Reise zum Mars des Schriftstellers Hans Dominik. 1923 brachte Alexei Tolstoi seinen Roman Aelita heraus, der von der Liebe eines sowjetischen Ingenieurs zur Marsprinzessin und dem Untergang der Zivilisation auf dem Planeten handelt. Dieses Werk wurde 1924 verfilmt. Im Jahr 1978 entstand der Film Unternehmen Capricorn. Er griff das Thema der Verschwörungstheorien zur Mondlandung auf, indem er es in sehr zugespitzter Form auf eine im Filmstudio vorgetäuschte Marsexpedition übertrug. Der 1996 entstandene Film Mars Attacks! setzt sich ironisch mit dem Thema Marsinvasion auseinander, wobei den Marsianern amerikanische Schnulzenmusik aus den 1950er Jahren zum Verhängnis wird. Unter der Regie von Brian De Palma wurden im Jahr 2000 mit dem Film Mission to Mars die Spekulationen um das Marsgesicht der Cydonia-Region als hinterlassenes Bauwerk dramatisch weitgehend thematisiert. Steven Spielbergs 2005 entstandenes Remake von Krieg der Welten nahm noch einmal das Thema auf und zeigte die Invasion von Außerirdischen auf der Erde aus der Sicht eines Familienvaters aus den USA. Weitere bekannte Science-Fiction-Filme, die auf dem Mars handeln, sind Red Planet (2000) und Die totale Erinnerung – Total Recall (1990). Edgar Rice Burroughs, der Autor von Tarzan, schrieb von 1917 bis 1943 die elfbändige Saga John Carter vom Mars, in der sich der irdische Held in marsianische Prinzessinnen verliebt und gegen Luftpiraten, grünhäutige Unholde, weiße Riesenaffen und andere Untiere kämpft. Die Mars-Chroniken (1950), eine stimmungsvolle Sammlung von Erzählungen des Schriftstellers Ray Bradbury, sind ebenfalls auf dem Mars angesiedelt. Große Beachtung erhielt die Marstrilogie, eine von Kim Stanley Robinson von 1993 bis 1996 verfasste Romanserie über die Besiedelung des Mars. Der besondere Ansatz dieser Geschichten liegt in der vorwiegend technischen Schilderung unter vollständigem Verzicht phantastischer Elemente. Der wohl prominenteste Auftritt des Mars in der Musik dürfte der erste Satz von Gustav Holsts Orchestersuite Die Planeten (1914–1916) sein, deren erster Satz Mars, the Bringer of War mit seinem drohend-martialischen Charakter die mythologische Gestalt Mars eindrucksvoll porträtiert. Bestsellerautor Andreas Eschbach verfasste von 2001 bis 2008 die Pentalogie Das Marsprojekt. 2011 veröffentlichte Andy Weir den Science-Fiction-Roman Der Marsianer, in dem ein Astronaut nach einem Unfall auf dem Mars zurückgelassen wird und fortan um sein Überleben kämpfen muss. Mit Der Marsianer – Rettet Mark Watney erschien 2015 eine Verfilmung dieses Bestsellers. Helga Abret und Lucian Boa geben in ihrem Buch Das Jahrhundert der Marsianer (1984) einen literarischen Überblick über Erzählungen und Romane über den Mars und seine fiktiven Bewohner. Von der Beschreibung einer „ekstatischen Reise“ zum Mars (Itinerarium exstaticum coeleste, 1656) des Jesuitenpaters Athanasius Kircher bis hin zu Science-Fiction-Erzählungen des 20. Jahrhunderts reicht die Bandbreite der kommentierten Werke, mit denen die Autoren aufzuzeigen versuchen, dass „sich aus dem Zusammenwirken von Naturwissenschaften, Astronomie und Literatur ein moderner Mythos“ entwickelte. == Siehe auch == == Literatur == (Chronologisch geordnet) Robert Henseling: Mars. Seine Rätsel und seine Geschichte. Kosmos Gesellschaft der Naturfreunde. Franckh’sche Verlagsbuchhandlung, Stuttgart 1925 (das Buch ist von historischem Interesse) Alexander Niklitschek: Ausflug ins Sonnensystem, Kapitel „Die Rätsel des Mars“ (S. 135–148). Gottlieb Gistel & Cie., Wien 1948 (behandelt u. a. die Canali und frühere Vorstellungen von Lebensformen) Roland Wielen: Planeten und ihre Monde. Spektrum Akademischer Verlag, Heidelberg-Berlin-Oxford 1988, ISBN 3-922508-46-4 David Morrison: Planetenwelten. Spektrum Akademischer Verlag, Heidelberg-Berlin-Oxford 1995, ISBN 3-86025-127-9 Rolf Sauermost, Arthur Baumann: Lexikon der Astronomie – die große Enzyklopädie der Weltraumforschung. 2 Bände. Spektrum Akademischer Verlag, Heidelberg-Berlin-Oxford 1995, ISBN 3-86150-145-7 William Sheehan: The Planet Mars – A History of Observation and Discovery. University of Arizona Press, Tucson 1996, 1997, ISBN 0-8165-1641-3. Holger Heuseler, Ralf Jaumann, Gerhard Neukum: Die Mars Mission. BLV Verlagsgesellschaft, München 1998, ISBN 3-405-15461-8. David McNab, James Younger: Die Planeten. C. Bertelsmann, München 1999, ISBN 3-570-00350-7. Paul Raeburn: Mars – Die Geheimnisse des roten Planeten. Steiger, Augsburg 2000, ISBN 3-89652-168-3. Ronald Greeley: Der NASA-Atlas des Sonnensystems. Knaur, München 2002, ISBN 3-426-66454-2. Hans-Ulrich Keller: Das Kosmos Himmelsjahr 2003. Franckh-Kosmos, Stuttgart 2002, ISBN 3-440-09094-9. Dirk Lorenzen: Mission: Mars. 1. Auflage, Franckh-Kosmos, Stuttgart 2004, ISBN 3-440-09840-0. Robert Markley: Dying Planet: Mars in Science and the Imagination. Duke University Press 2005, ISBN 0-8223-3638-3. Thorsten Dambeck: Wasserreiche Frühzeit des Mars. Spektrum der Wissenschaft, Mai 2006, S. 14–16, ISSN 0170-2971. Ernst Hauber: Wasser auf dem Mars. In: Physik in unserer Zeit. Band 38, Nr. 1, 2007, S. 12–20, ISSN 0031-9252. Jim Bell: The Martian surface – composition, mineralogy and physical properties. Cambridge University Press, Cambridge 2008, ISBN 978-0-521-86698-9. Nadine Barlow: Mars – an introduction to its interior, surface and atmosphere. Cambridge University Press, Cambridge 2008, ISBN 978-0-521-85226-5. Donald Rapp: Human missions to Mars – enabling technologies for exploring the red planet. Springer, Berlin 2008, ISBN 978-3-540-72938-9. 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Thorsten Dambeck, Rüdiger Vaas: Aufbruch zum Mars. Bild der Wissenschaft, Juli 2020, S. 12–33, ISSN 0006-2375. == Dokumentationen == Die Planeten: Mars. Originaltitel: The Planets – Mars. TV-Dokumentationsreihe in HD von Nic Stacey, BBC Studios 2019, Deutsche Bearbeitung ZDF; gesendet auch auf ZDFinfo im Mai 2022. Kolonien im All (3 / 3) – Neue Heimat Mars. Originaltitel: Space Colonies. TV-Dokumentation in HD, GB 2017; deutsche Synchronfassung 2018 (Auf: youtube.com). == Weblinks == Matthias Böhm: Die Geologie des Mars (Referat), www.uni-bonn.de, 30. Januar 2002 Solar System Exploration: Mars. In: NASA.gov. Abgerufen am 10. Mai 2020 (englisch). NASA Mars Exploration (englisch) Gottfried Gerstbach: Mars Channel Observations 1877–90, Compared with Modern Orbiter Data (PDF; 222 kB), TU Wien (englisch) Offizielle Webpräsenz der ESA-Mission (englisch) DLR Mars Express: neueste Bilder (u. a. perspektivische Ansichten) mit Erläuterungen FU Berlin: Projektseiten der HRSC-Kamera auf Mars Express (spektakuläre und hochaufgelöste Bilder der Marsoberfläche) Mars Society Deutschland e. V.: Offizieller Internetauftritt der Mars Society mit aktuellen Nachrichten über den Mars Scinexx.de: Mars: Rätsel des Inneren 4. Mai 2018Medien Warum fasziniert uns der Mars? aus der Fernseh-Sendereihe alpha-Centauri (ca. 15 Minuten). Erstmals ausgestrahlt am 11. Okt. 1998. Was ist dran am Marsgesicht? aus der Fernseh-Sendereihe alpha-Centauri (ca. 15 Minuten). Erstmals ausgestrahlt am 25. Okt. 1998. Was sollen wir auf dem Mars? aus der Fernseh-Sendereihe alpha-Centauri (ca. 15 Minuten). Erstmals ausgestrahlt am 18. Aug. 2002. Mars in 3-D Film der NASA aus dem Jahr 1979, englisch, 32 Min., 3D-Version (YouTube) Video: Landing sites on Mars. Deutsches Zentrum für Luft- und Raumfahrt 2013, zur Verfügung gestellt von der Technischen Informationsbibliothek (TIB), doi:10.5446/12727. Video: "Eine Marslandung ist ein kritisches Manöver". Deutsches Zentrum für Luft- und Raumfahrt 2008, zur Verfügung gestellt von der Technischen Informationsbibliothek (TIB), doi:10.5446/12855. DLR-Video: 10 Jahre Mars Express 29. Mai 2013 DLR-Video: Mars – Der rote Nachbar 18. Juni 2013 Video: Geschichte der Marsforschung. Deutsches Zentrum für Luft- und Raumfahrt 2013, zur Verfügung gestellt von der Technischen Informationsbibliothek (TIB), doi:10.5446/12730.Karten Interaktive Karte des Mars zusammengesetzt aus 110.000 Aufnahmen des Mars Reconnaissance Orbiters Mars-Online-Atlas (Karten als PDF-Dateien) (englisch) Mars Atlas Revisited: Mars Global Surveyor Mars Orbiter Camera (englisch) Thematische Karten (Wärme, Höhen, Geologie) (englisch) Google Mars (englisch) Mars-Globus mit World Wind (NASA-World-Wind-Software wird benötigt) Mars-Atlas aus Daten der indischen Mars Orbiter Mission == Einzelnachweise ==
https://de.wikipedia.org/wiki/Mars_(Planet)
Platon
= Platon = Platon (altgriechisch Πλάτων Plátōn, latinisiert Plato; * 428/427 v. Chr. in Athen oder Aigina; † 348/347 v. Chr. in Athen) war ein antiker griechischer Philosoph. Er war Schüler des Sokrates, dessen Denken und Methode er in vielen seiner Werke schilderte. Die Vielseitigkeit seiner Begabungen und die Originalität seiner wegweisenden Leistungen als Denker und Schriftsteller machten Platon zu einer der bekanntesten und einflussreichsten Persönlichkeiten der Geistesgeschichte. In der Metaphysik und Erkenntnistheorie, in der Ethik, Anthropologie, Staatstheorie, Kosmologie, Kunsttheorie und Sprachphilosophie setzte er Maßstäbe auch für diejenigen, die ihm – wie sein bedeutendster Schüler Aristoteles – in zentralen Fragen widersprachen. Im literarischen Dialog, der den Verlauf einer gemeinsamen Untersuchung nachvollziehen lässt, sah er die allein angemessene Form der schriftlichen Darbietung philosophischen Bemühens um Wahrheit. Aus dieser Überzeugung verhalf er der noch jungen Literaturgattung des Dialogs zum Durchbruch und schuf damit eine Alternative zur Lehrschrift und zur Rhetorik als bekannten Darstellungs- und Überzeugungsmitteln. Dabei bezog er dichterische und mythische Motive sowie handwerkliche Zusammenhänge ein, um seine Gedankengänge auf spielerische, anschauliche Weise zu vermitteln. Zugleich wich er mit dieser Art der Darbietung seiner Auffassungen dogmatischen Festlegungen aus und ließ viele Fragen, die sich daraus ergaben, offen bzw. überließ deren Klärung den Lesern, die er zu eigenen Anstrengungen anregen wollte. Ein Kernthema ist für Platon die Frage, wie unzweifelhaft gesichertes Wissen erlangt und von bloßen Meinungen unterschieden werden kann. In den frühen Dialogen geht es ihm vor allem darum, anhand der sokratischen Methode aufzuzeigen, warum herkömmliche und gängige Vorstellungen über das Erstrebenswerte und das richtige Handeln unzulänglich oder unbrauchbar seien, wobei dem Leser ermöglicht werden soll, den Schritt vom vermeintlichen Wissen zum eingestandenen Nichtwissen nachzuvollziehen. In den Schriften seiner mittleren Schaffensperiode versucht er, mit seiner Ideenlehre eine zuverlässige Basis für echtes Wissen zu schaffen. Solches Wissen kann sich nach seiner Überzeugung nicht auf die stets wandelbaren Objekte der Sinneserfahrung beziehen, sondern nur auf unkörperliche, unveränderliche und ewige Gegebenheiten einer rein geistigen, der Sinneswahrnehmung unzugänglichen Welt, die „Ideen“, in denen er die Ur- und Vorbilder der Sinnendinge sieht. Der Seele, deren Unsterblichkeit er plausibel machen will, schreibt er Teilhabe an der Ideenwelt und damit einen Zugang zur dort existierenden absoluten Wahrheit zu. Wer sich durch philosophische Bemühungen dieser Wahrheit zuwendet und ein darauf ausgerichtetes Bildungsprogramm absolviert, kann seine wahre Bestimmung erkennen und damit Orientierung in zentralen Lebensfragen finden. Die Aufgabe des Staates sieht Platon darin, den Bürgern dafür optimale Voraussetzungen zu schaffen und Gerechtigkeit umzusetzen. Daher setzt er sich intensiv mit der Frage auseinander, wie die Verfassung eines Idealstaates diesem Ziel am besten dienen kann. In späteren Werken tritt die Ideenlehre teils in den Hintergrund, teils werden Probleme, die sich aus ihr ergeben, kritisch beleuchtet; im Bereich der Naturphilosophie und Kosmologie jedoch, dem sich Platon im Alter zuwendet, weist er den Ideen bei seiner Erklärung des Kosmos eine maßgebliche Rolle zu. Platon gründete die Platonische Akademie, die älteste institutionelle Philosophenschule Griechenlands, von der aus sich der Platonismus über die antike Welt verbreitete. Das geistige Erbe Platons beeinflusste zahlreiche jüdische, christliche und islamische Philosophen auf vielfältige Weise. Die Lehre seines Schülers Aristoteles, der Aristotelismus, entstand aus der kritischen Auseinandersetzung mit dem Platonismus. In Spätantike, Mittelalter und Früher Neuzeit wurde der Aristotelismus zum Ausgangspunkt für Konzepte, die teils mit platonischen konkurrierten, teils mit ihnen verschmolzen wurden. In der Moderne verwerteten insbesondere Denker der „Marburger Schule“ des Neukantianismus (Hermann Cohen, Paul Natorp) platonisches Gedankengut. Karl Popper griff Platons politische Philosophie an; sein Vorwurf, es handle sich um eine Form von Totalitarismus, löste im 20. Jahrhundert eine lang anhaltende Kontroverse aus. == Leben == Da die Platoniker Platon überschwänglich verehrten, wurden über sein Leben zahlreiche teils phantastische Anekdoten und Legenden verbreitet, die oft seiner Verherrlichung dienten. Es wurde sogar behauptet, er sei ein Sohn des Gottes Apollon, sein leiblicher Vater sei nur sein Stiefvater gewesen. Daneben gab es aber auch Geschichten, die seine Verspottung und Diffamierung bezweckten. Daher ist die historische Wahrheit schwer zu ermitteln. Eine Hauptquelle ist Platons Siebter Brief, der heute überwiegend für echt gehalten wird und auch im Fall seiner Unechtheit als wertvolle zeitgenössische Quelle anzusehen wäre. === Herkunft === Platon stammte aus einer vornehmen, wohlhabenden Familie Athens. Sein Vater Ariston betrachtete sich als Nachkomme des Kodros, eines mythischen Königs von Athen; jedenfalls war ein Vorfahre Aristons, Aristokles, schon 605/604 v. Chr. Archon gewesen, hatte also das höchste Staatsamt bekleidet. Unter den Ahnen von Platons Mutter Periktione war ein Freund und Verwandter des legendären athenischen Gesetzgebers Solon. Der Philosoph hatte zwei ältere Brüder, Adeimantos und Glaukon, die in der Politeia als Dialogteilnehmer auftreten, und eine ältere Schwester, Potone, deren Sohn Speusippos später Platons Nachfolger als Leiter der Akademie (Scholarch) wurde. Ariston verstarb schon früh; Periktione heiratete um 423 v. Chr. ihren Onkel mütterlicherseits Pyrilampes, einen angesehenen Athener, der zu Perikles’ Zeit als Gesandter tätig gewesen war. Pyrilampes hatte aus einer früheren Ehe einen Sohn, Demos, der Platons Stiefbruder wurde. Aus der Ehe zwischen Periktione und Pyrilampes ging Antiphon, ein jüngerer Halbbruder Platons, hervor. Während Platons Stiefvater demokratisch gesinnt war, gehörten zur Familie seiner Mutter Periktione mehrere prominente Politiker mit oligarchischer Haltung: Ihr Onkel Kallaischros gehörte 411 v. Chr. dem durch Putsch kurzzeitig an die Macht gekommenen Rat der Vierhundert an, ihr Vetter Kritias war Mitglied des oligarchischen Rats der Dreißig („Dreißig Tyrannen“), der 404/403 v. Chr. Athen regierte. Unter dessen Herrschaft wurde auch ihr Bruder Charmides in ein oligarchisches Gremium berufen und fiel im Kampf gegen die Demokraten. === Kindheit und Jugend === Laut der Chronik des Apollodoros wurde Platon 428 oder 427 v. Chr. geboren, zur Zeit der Attischen Seuche, nach der antiken Tradition am 7. Tag des Monats Thargelion (Mai/Juni), dem mythischen Geburtstag des Gottes Apollon. An diesem Tag feierten später – noch im 3. Jahrhundert n. Chr. – die Platoniker sein Geburtstagsfest. Schon im 3. Jahrhundert v. Chr. war eine Legende verbreitet, wonach „Platon“ ursprünglich nur ein Beiname war, den er in Anlehnung an das griechische Wort πλατύς (platýs „breit“) erhielt, womit angeblich auf die Breite seiner Stirn oder seiner Brust angespielt wurde. Diese Behauptung wird von der Forschung als unglaubwürdig betrachtet. Auch eine Überlieferung, wonach Platon ursprünglich den Namen seines Großvaters Aristokles trug, ist eine im Rahmen dieser Legendenbildung entstandene Erfindung. Seine Kindheit und Jugend verbrachte Platon in der Zeit des Peloponnesischen Krieges (431–404 v. Chr.), der mit der Kapitulation seiner Heimatstadt endete. Als Sohn aus vornehmer Familie genoss er eine sorgfältige Erziehung. Es wird berichtet, dass er Unterricht in Sport, Grammatik, Malerei, Musik und Dichtung erhielt, seine poetischen Jugendwerke jedoch später verbrannte; diese Behauptungen wurden allerdings möglicherweise nachträglich aus seinen Dialogen abgeleitet. In seiner Jugend nahm Platon an den Isthmischen Spielen teil und war ein preisgekrönter Ringer.In die Philosophie führte ihn Kratylos ein, ein Anhänger Heraklits, nach dem Platon später seinen Dialog Kratylos benannte. Als Zwanzigjähriger begegnete er Sokrates, dem er sich als Schüler anschloss. Bis zu Sokrates’ Tod rund ein Jahrzehnt später blieb er bei ihm. Als Lehrer und als Vorbild prägte Sokrates die geistige Entwicklung Platons. === Abwendung von der Politik und erste Reisen === Als nach dem Kriegsende 404 in Athen die von den siegreichen Spartanern gestützte Terrorherrschaft der dreißig Oligarchen begann, zu denen Verwandte Platons gehörten, wurde er zur Beteiligung am politischen Leben eingeladen, lehnte jedoch ab, da er dieses Regime als verbrecherisch betrachtete. Die politischen Verhältnisse nach der Wiederherstellung der Attischen Demokratie im Jahre 403 missfielen ihm aber auch. Ein Wendepunkt in Platons Leben war die Hinrichtung des Sokrates im Jahre 399, die ihn tief erschütterte. Das staatliche Vorgehen gegen seinen Lehrer wertete er als einen Ausdruck moralischer Verkommenheit und als Beweis für einen prinzipiellen Mangel im politischen System. Er sah nun in Athen keinerlei Möglichkeit einer philosophisch verantwortbaren Teilnahme am politischen Leben mehr, entwickelte sich zu einem scharfen Zeitkritiker und forderte einen von Philosophen regierten Staat.Nach dem Tod des Sokrates begab sich Platon mit anderen Sokratikern für kurze Zeit nach Megara zu Euklid von Megara, der ebenfalls ein Schüler des Sokrates war. In seinen Dialogen Phaidon und Theaitetos ließ er später diesen Euklid als Sokrates’ Gesprächspartner auftreten. In der Folgezeit soll er eine große Bildungsreise unternommen haben, die ihn laut verschiedenen Quellen, deren Angaben zur Route allerdings widersprüchlich sind, nach Kyrene zu dem Mathematiker Theodoros von Kyrene, nach Ägypten und nach Süditalien führte. Die Einzelheiten und die Datierung sind in der Forschung umstritten; insbesondere wird bezweifelt, dass Platon jemals in Ägypten war. Einiges spricht dafür, dass der Aufenthalt in Ägypten erfunden wurde, um Platon mit ägyptischer Weisheitstradition in Verbindung zu bringen. Unklar ist, ob die Bildungsreise mit der ersten Sizilienreise verbunden war oder schon einige Jahre vorher stattfand. === Erste Sizilienreise === Um 388 unternahm Platon seine erste Sizilienreise. Zunächst fuhr er nach Unteritalien, wo im 5. Jahrhundert die Philosophengemeinschaft der Pythagoreer großen Einfluss erlangt hatte, dann aber in blutigen Unruhen stark geschwächt worden war. In Tarent traf Platon den damals prominentesten und politisch erfolgreichsten Pythagoreer, den Staatsmann und Mathematiker Archytas von Tarent, der sein Gastfreund wurde. Von Archytas erhoffte er sich vor allem mathematische Erkenntnisse. Zu den Philosophen, denen er in Unteritalien begegnete, soll auch Timaios von Lokroi gehört haben, den er später zum Hauptgesprächspartner seines Dialogs Timaios machte; die Historizität dieser Gestalt wird allerdings angezweifelt. Danach reiste Platon nach Syrakus, wo damals der Tyrann Dionysios I. herrschte. Die Berichte über diesen ersten Aufenthalt in Syrakus sind großenteils legendenhaft und umstritten. Da die Konfrontation eines aufrechten Philosophen mit einem tyrannischen Herrscher in der Antike ein beliebtes literarisches Motiv war, betrachtet die Forschung die überlieferten Einzelheiten von Platons Begegnung mit dem Tyrannen und seinem Bruch mit ihm skeptisch. Jedenfalls hatte Platon mit Dionysios Kontakt, und der Ausgang war für den Philosophen ungünstig; der Freimut Platons soll den Herrscher erzürnt haben. Enge Freundschaft schloss Platon jedoch mit Dionysios’ Schwager und Schwiegersohn Dion, der ein eifriger Platoniker wurde. Das Luxusleben in der Magna Graecia, den griechischen Städten auf italischem Boden, missfiel Platon.Laut Quellenberichten geriet Platon am Ende der Sizilienreise in Gefangenschaft und wurde als Sklave verkauft, kam aber bald wieder frei und konnte nach Athen zurückkehren. Ein Spartaner namens Pollis soll ihn im Auftrag des Dionysios auf dem Sklavenmarkt von Aigina verkauft haben, worauf der Käufer, ein gewisser Annikeris aus Kyrene, dem Philosophen aus Großmut und Wertschätzung die Freiheit schenkte. Sehr wahrscheinlich war aber Dionysios an der Episode nicht beteiligt; vielmehr wurde das Schiff, auf dem der Philosoph von Sizilien heimkehrte, von den Spartanern oder den Ägineten gekapert, die damals mit Athen im Krieg lagen. === Schulgründung und Lehrtätigkeit === Nach seiner Rückkehr kaufte Platon um 387 v. Chr. bei dem Akadḗmeia (Άκαδήμεια) genannten Hain des attischen Heros Akademos (Hekademos) im Nordwesten von Athen ein Grundstück, wo er philosophisch-wissenschaftlichen Unterricht zu erteilen begann und seine Schüler zu Forschungen anregte. Dabei wurde er von Gastphilosophen und Gastwissenschaftlern sowie fortgeschrittenen Schülern, die Lehraufgaben übernahmen, unterstützt. Da im Laufe der Zeit der Name von dem Hain auf die Schule übertragen wurde, begannen sich die Schulmitglieder Akademiker (Άκαδημαικοί Akademaikoí) zu nennen. So entstand die Akademie, die erste Philosophenschule Griechenlands. Einen Anstoß dazu gab wohl das Vorbild der Pythagoreergemeinschaft in Italien. Es bestand eine Rivalität mit Isokrates, einem Lehrer der Rhetorik, der kurz zuvor – um 390 – eine Schule der Beredsamkeit gegründet hatte; Platons Haltung zu den Bestrebungen des Isokrates war kritisch. Auf dem Grundstück der Akademie lebte und lehrte Platon in den folgenden zwei Jahrzehnten. === Zweite Sizilienreise === Trotz der schlechten Erfahrungen auf der ersten Sizilienreise ließ sich Platon nach dem Tod des 367 gestorbenen Tyrannen Dionysios I. zu einer weiteren Reise nach Syrakus bewegen. Nachdem er zunächst starke Bedenken gehegt hatte, machte er sich 366 v. Chr. auf den Weg. Er folgte einer Einladung, die der Sohn und Nachfolger des Tyrannen, Dionysios II., auf Veranlassung von Platons Freund Dion an ihn gerichtet hatte. Dion erstrebte für sich eine maßgebliche Stellung am Hof. Platon hoffte, im Zusammenwirken mit Dion seine politischen Vorstellungen durch Einflussnahme auf den jungen Herrscher zur Geltung bringen und erproben zu können, günstigstenfalls ein Staatswesen nach dem Ideal der Philosophenherrschaft einzurichten. Dion war optimistischer als der von Anfang an eher skeptische Platon.Es zeigte sich jedoch, dass Dionysios II. zu einer umfassenden Staatsreform nicht willens oder nicht in der Lage war; sein Hauptaugenmerk galt der Sicherung seiner stets bedrohten Herrschaft. Am Hof konnte sich nur durchsetzen, wer in den dortigen Intrigen und Machtkämpfen die Oberhand behielt. In den Auseinandersetzungen griff Dion zu konspirativen Mitteln, was (wohl im Spätsommer 366) zu seiner Verbannung führte; er begab sich nach Griechenland. Nach diesem Fehlschlag reiste auch Platon im Jahre 365 ab. Es wurde aber mit Dionysios vereinbart, dass beide nach einer Beruhigung der Lage zurückkehren sollten. Zwischen Dion und Dionysios bestand eine Rivalität um die Freundschaft Platons, und Dionysios war darüber enttäuscht, dass Platon Dion den Vorzug gab. === Dritte Sizilienreise === 361 v. Chr. reiste Platon zum dritten Mal – wiederum widerwillig und gedrängt – nach Sizilien. Archytas hatte ihn darum gebeten, in der Hoffnung, dass Platon einen günstigen Einfluss auf den Tyrannen ausüben werde, und Dionysios II., der die Anwesenheit des Philosophen wünschte, hatte Druck ausgeübt, indem er das Eintreffen Platons zur Bedingung für eine Begnadigung Dions machte. So entschloss sich Platon, zusammen mit seinen Schülern Speusippos und Xenokrates auf einem von Dionysios geschickten Schiff die Reise anzutreten.Das entscheidende Gespräch mit Dionysios verlief für Platon enttäuschend. Nach Platons Darstellung bildete sich Dionysios zu Unrecht ein, die philosophischen Lehren bereits zu verstehen, und zeigte keine Bereitschaft, sich der Disziplin echter Schülerschaft zu unterwerfen und ein philosophisches Leben zu führen. Außerdem hielt er die Zusage einer Rehabilitierung Dions nicht ein und beschlagnahmte sogar dessen großes Vermögen. In den Kreisen der Platoniker und der Anhänger Dions hatte sich die Überzeugung verbreitet, dass nur ein Sturz des Tyrannen eine Besserung der Lage bewirken könne. Speusippos nutzte seinen Aufenthalt in Syrakus zur Betätigung in diesem Sinne, was dem Tyrannen wohl nicht verborgen blieb. Durch die Parteinahme seiner Freunde und Anhänger für die Opposition geriet Platon in Verdacht und Bedrängnis, insbesondere als er sich für einen des Hochverrats verdächtigten Parteigänger Dions einsetzte. Söldner des Dionysios, die Interesse am Fortbestand der bestehenden Machtverhältnisse hatten, bedrohten ihn. Aus dieser lebensgefährlichen Lage rettete ihn Archytas, der von Tarent aus intervenierte und ihm im Sommer 360 die Heimkehr nach Athen ermöglichte. === Umsturz in Syrakus === Nach dem Scheitern von Platons Bemühungen beschloss Dion, mit seinen Anhängern zur Gewalt zu greifen. Dabei ermutigten und unterstützten ihn Mitglieder der Akademie, der er auch selbst angehörte. Platon hielt sich davon fern, da er weiterhin in einem Verhältnis der Gastfreundschaft zum Tyrannen stand, doch widersetzte er sich diesen Aktivitäten seiner Schüler nicht. 357 wagte Dion den Feldzug mit einer kleinen Streitmacht von Söldnern. Es gelang ihm bald nach seiner Landung auf Sizilien, Dionysios mit Hilfe von dessen zahlreichen Feinden in Syrakus zu stürzen und in der Stadt die Macht zu übernehmen. Ob bzw. inwieweit er tatsächlich eine platonische Staatsordnung einführen wollte, wovon Platon selbst bis zuletzt überzeugt war, ist umstritten. Jedenfalls versuchte er, die Verfassung umzugestalten, stieß dabei aber auf heftigen Widerstand und wurde verdächtigt, eine neue Tyrannenherrschaft errichten zu wollen. Dies führte nach mancherlei Wirren und Kämpfen 354 zu seiner Ermordung. Als Platon von Dions Tod erfuhr, dichtete er ein Epigramm, mit dem er dem geliebten Freund ein literarisches Denkmal setzte. An Dions Verwandte und Parteigänger in Sizilien richtete er den siebten Brief, in dem er sein Verhalten begründete und erläuterte. === Alter und Tod === Seine letzten Lebensjahre verbrachte Platon lehrend und forschend. In hohem Alter wandte er sich mit einem öffentlichen Vortrag Über das Gute an ein breites, nichtphilosophisches Publikum, bei dem er jedoch auf Verständnislosigkeit stieß. Er starb 348/347 v. Chr. und wurde auf dem Gelände der Akademie oder in dessen Nähe bestattet. Sein Testament ist erhalten. Da er unverheiratet und kinderlos war, fiel sein Erbe an einen Neffen oder Großneffen, den Knaben Adeimantos. Zu seinem Nachfolger als Leiter der Akademie (Scholarch) wurde sein Neffe Speusippos gewählt. == Werke == Die dreibändige Gesamtausgabe von Platons Werken, die der Drucker Henri Estienne (latinisiert Henricus Stephanus) im Jahr 1578 in Genf veröffentlichte, war bis ins frühe 19. Jahrhundert die maßgebliche Edition. Nach der Seitennummerierung dieser Ausgabe (Stephanus-Paginierung) werden Platons Werke noch heute zitiert. === Überlieferung und Echtheit === Alle Werke Platons, die in der Antike bekannt waren, sind erhalten geblieben, abgesehen vom Vortrag Über das Gute, von dem es eine Nachschrift des Aristoteles gab, die verloren ist. Hinzu kommen Werke, die unter Platons Namen verbreitet waren, aber möglicherweise oder sicher unecht sind; auch sie gehören größtenteils zum Corpus Platonicum (der Gesamtheit der traditionell Platon zugeschriebenen Werke), obwohl ihre Unechtheit teils schon in der Antike erkannt wurde. Insgesamt sind 47 Titel von Werken bekannt, die Platon verfasst hat oder für die er als Autor in Anspruch genommen worden ist. Das Corpus Platonicum besteht aus den Dialogen (darunter das unvollendete Spätwerk Kritias), der Apologie des Sokrates, einer Sammlung von 13 Briefen sowie einer Sammlung von Definitionen, den Horoi. Außerhalb des Corpus überliefert sind eine Sammlung von Dihairesen, zwei weitere Briefe, 32 Epigramme und ein Gedichtfragment (7 Hexameter); mit Ausnahme eines Teils der Gedichte stammen diese Werke sicher nicht von Platon.Seit dem 3. Jahrhundert v. Chr. beschäftigten sich Philologen der Alexandrinischen Schule mit den Werken Platons. Einer von ihnen, Aristophanes von Byzanz (3./2. Jahrhundert v. Chr.), ordnete die Schriften in Trilogien. Die verbreitetste antike Gruppierung ist jedoch diejenige in neun Tetralogien (Vierergruppen), also 36 Werke, nämlich 34 Dialoge, die Apologie und die Briefsammlung. Die Tetralogienordnung, deren Entstehungszeit umstritten ist, wurde nach inhaltlichen Gesichtspunkten durchgeführt; dabei ging es den antiken Platonikern hauptsächlich um die didaktisch-pädagogische Frage, in welcher Reihenfolge ein Schüler die Schriften lesen sollte. Der heutige, von der Mehrheit der Gelehrten akzeptierte Forschungsstand in der Echtheitsfrage der 36 Werke, aus denen die Tetralogien bestehen, ist folgender: Neben der Apologie sind 24 Dialoge sicher echt: Charmides, Euthydemos, Euthyphron, Gorgias, Ion, Kratylos, Kritias, Kriton, Laches, Lysis, Menexenos, Menon, Nomoi („Die Gesetze“), Parmenides, Phaidon, Phaidros, Philebos, Politeia („Der Staat“), Politikos („Der Staatsmann“), Protagoras, Sophistes („Der Sophist“), Symposion („Das Gastmahl“), Theaitetos, Timaios 5 sind umstritten (Dubia): Alkibiades I, Hippias maior („Großer Hippias“), Hippias minor („Kleiner Hippias“), Kleitophon, Theages 5 sind sicher unecht (Spuria): Alkibiades II, Epinomis, Anterastai (lateinisch Amatores), Hipparchos, MinosVon den Briefen sind alle außer dem Dritten, Sechsten, Siebten und Achten sicher unecht; der Siebte Brief wird überwiegend als echt akzeptiert, die drei übrigen sind umstritten.Neben den 34 Dialogen der Tetralogien enthält das traditionelle Corpus Platonicum noch weitere, die heute jedoch als „Anhang“ zum Corpus (Appendix Platonica) ausgesondert sind, da sie sicher unecht sind. Alle unechten Dialoge gehen anscheinend auf Mitglieder der Älteren und der Jüngeren Akademie zurück. Sie sind im Zeitraum zwischen dem 4. und dem 2. Jahrhundert v. Chr. entstanden. Manche wurden wohl schon früh in die Tetralogienordnung aufgenommen und verblieben trotz bereits bestehender Zweifel in ihr, wobei der Wunsch, am Schema von neun Tetralogien festzuhalten, eine Rolle gespielt haben dürfte. Heute betrachtet die Forschung die unechten Dialoge nicht allein unter dem Gesichtspunkt der Fälschung, sondern sieht in ihnen Beispiele für eine Platons Stil und Argumentationsweise nachahmende Auseinandersetzung mit von ihm aufgeworfenen Problemen. Außerdem wird in neueren Untersuchungen nicht mehr an einer strikten Trennung von echten und unechten Schriften festgehalten; vielmehr wird die Möglichkeit aufgezeigt, dass es sich bei manchen zweifelhaften und unechten Dialogen um Entwürfe Platons bzw. Ausarbeitungen solcher Entwürfe durch seine Schüler oder spätere Platoniker handelt. Auch bei den sicher authentischen Dialogen, besonders den späten, rechnet man mit Überarbeitung durch Mitglieder der Akademie. Es ist auch bezeugt, dass Platon selbst seine Werke beständig fortentwickelt hat. Die Textüberlieferung basiert in erster Linie auf den zahlreichen mittelalterlichen Handschriften, die sich letztlich auf zwei antike Abschriften zurückführen lassen. Der Vergleich der handschriftlichen Überlieferung mit den vielen teils umfangreichen Platonzitaten in antiker Literatur zeigt, dass der vorliegende Textbestand weitgehend einheitlich und zuverlässig ist. Die handschriftliche Überlieferung setzt im späten 9. Jahrhundert ein. Der Patriarch von Konstantinopel Photios I., ein führender Gelehrter des 9. Jahrhunderts, ließ eine Sammlung aller unter Platons Namen überlieferten Werke in zwei Codices anfertigen. Diese beiden Bände sind heute verloren, doch der Text des Patriarchen war die Basis späterer, teils prachtvoller Abschriften, die einen Großteil der heute vorliegenden Textüberlieferung ausmachen. Eine weitere Sammelhandschrift von Platons Schriften entstand im Auftrag von Arethas, einem Schüler des Photios. 1423 brachte der Humanist Giovanni Aurispa eine vollständige Sammlung von Platons Werken aus Konstantinopel nach Italien. Eine Ergänzung zu den mittelalterlichen Textzeugen bilden die vielen antiken Papyri, die allerdings nur Textfragmente enthalten. Der älteste Papyrus stammt aus dem späten 4. oder frühen 3. Jahrhundert v. Chr. === Chronologie === Eine absolute Datierung der einzelnen Werke ist sehr schwierig, da sie kaum Hinweise auf historische Ereignisse ihrer Abfassungszeit bieten und die Handlung der Dialoge in der Regel in die Lebenszeit des Sokrates gesetzt ist, also in die Zeit vor dem eigentlichen Beginn von Platons schriftstellerischer Tätigkeit. In manchen Fällen kann zumindest der Zeitraum der Entstehung eingegrenzt werden, etwa dank Anspielungen auf Datierbares oder auch durch das Einsetzen der Rezeption. Die relative Datierung der Schriften innerhalb des Gesamtwerks wird in der Forschung seit dem späten 18. Jahrhundert intensiv diskutiert, da die Ermittlung der chronologischen Reihenfolge ihrer Entstehung Voraussetzung für alle Hypothesen über die Entwicklung von Platons Denken ist. Eindeutige interne Kriterien sind Querverweise in den Dialogen, die aber nur vereinzelt vorkommen. Externe (historische) Kriterien sind Hinweise auf datierbare Ereignisse, die sich aber teilweise nicht eindeutig zuordnen lassen. Die Argumentation basiert daher hauptsächlich auf philologischen Beobachtungen und auf Überlegungen zu einer stimmigen philosophischen Entwicklung. Dabei geht es unter anderem um Hypothesen, wonach ein Dialog auf einem anderen aufbaut und die Kenntnis der dort entwickelten Gedankengänge voraussetzt. Die wichtigsten Kriterien sind aber nicht inhaltlicher, sondern sprachlicher Art. Hierbei relevante sprachliche Merkmale ergeben sich zum einen aus einer allgemeinen Stilanalyse, die allerdings wegen ihres subjektiven Charakters und wegen Platons großer Variationsbreite in der Stilkunst kaum zwingende Folgerungen gestattet; zum anderen geht es um die Detailergebnisse der Anwendung sprachstatistischer Methoden, die bereits 1867 begann. Grundlage der Sprachstatistik ist die Beobachtung, dass das Vorkommen und die Häufigkeit der Verwendung einzelner Wörter oder auch Partikelkombinationen für einzelne Schaffensphasen eines Autors charakteristisch sein können. Anhaltspunkte solcher Art ergeben sich außerdem aus der Satzrhythmik und aus Hiaten. Die Kombination dieser Ansätze hat eine grobe Dreiteilung in frühe, mittlere und späte Werke ermöglicht, die sich – mit einigen Schwankungen – als herrschende Lehrmeinung etabliert hat. Allerdings wird diesem Schema hinsichtlich einzelner Werke immer wieder widersprochen und die Solidität seiner Basis bestritten. Eine Reihe von Grenzfällen ist weiterhin ungeklärt. Hinzu kommt, dass für diejenigen Platonforscher, die den Aspekt der wiederholten Überarbeitung mancher Dialoge betonen, die Ergebnisse der sprachstatistischen Untersuchungen kaum Gewicht haben. Außerdem bleibt die Reihenfolge innerhalb der drei Gruppen zu einem erheblichen Teil unsicher oder gänzlich unklar. Nach der heute vorherrschenden Auffassung ist aufgrund der stilistischen Analyse folgende Gruppierung relativ plausibel (mit alphabetischer Reihenfolge innerhalb der Gruppen): Bei der Betrachtung nach inhaltlichen Gesichtspunkten ergibt sich ein ähnliches Bild, doch scheinen dann Kratylos, Phaidon und Symposion eher der Mittelgruppe als den Frühwerken anzugehören, während Parmenides und Theaitetos, die stilistisch noch zur Mittelgruppe gerechnet werden, inhaltlich gesehen bereits zum Spätwerk gehören. Darin liegt kein Widerspruch zu den Ergebnissen der Stilanalyse, da die Phasen einer philosophischen Entwicklung nicht genau denen der stilistischen entsprechen müssen. Terminologisch kann aber aus den unterschiedlichen Kriterien der Periodisierung Verwirrung resultieren. == Literarische Form == === Das Dialogprinzip === Alle Werke Platons mit Ausnahme der Briefe und der Apologie sind nicht – wie damals das meiste philosophische Schrifttum – als Lehrgedichte oder Traktate, sondern in Dialogform geschrieben; auch die Apologie enthält vereinzelt dialogische Passagen. Dabei lässt Platon eine Hauptfigur, meist Sokrates, mit unterschiedlichen Gesprächspartnern philosophische Debatten führen, die von Einschüben wie indirekten Berichten, Exkursen oder mythologischen Partien abgelöst und ergänzt sowie mit ihnen verwoben werden; lange monologische Reden kommen darin ebenfalls vor. Auch andere Sokrates-Schüler wie Xenophon, Aischines, Antisthenes, Euklid von Megara und Phaidon von Elis verfassten Werke in der Form des sokratischen Dialogs (Σωκρατικοὶ λόγοι Sokratikoì lógoi), doch Platon erlangte auf diesem Gebiet eine so überragende Bedeutung, dass die Antike ihn (wenn auch nicht einhellig) als Erfinder dieser damals noch jungen literarischen Gattung betrachtete. Er verhalf dem sokratischen Dialog zum Durchbruch und zugleich zur Vollendung.Die Dialogform unterscheidet sich von anderen Textformen deutlich: Sie spricht den Leser durch die künstlerische Ausführung an. Sie befreit von der Erwartung systematischer Vollständigkeit; Ungeklärtes darf offenbleiben. Sie bildet einen Prozess der Erkenntnisgewinnung ab, der auch zur Revision von Positionen führt, und regt damit stärker als eine Lehrschrift zum aktiven Mitdenken an. Der Autor nimmt nicht zu den vorgetragenen Thesen Stellung; er tritt hinter seine Figuren zurück und überlässt die Urteilsbildung dem Leser. Das Denken stellt sich der argumentativen Kontrolle durch die Gesprächspartner. Eine starre Terminologie, wie Platon sie generell scheut, kann vermieden werden.Ort und Zeit der Dialoge sind oft genau angegeben; so bilden etwa der Besuch beim inhaftierten Sokrates (Kriton), das Haus eines reichen Atheners (Politeia), ein Gastmahl (Symposion), ein Spaziergang außerhalb Athens (Phaidros) oder die Wanderung zu einem Heiligtum (Nomoi) das konkrete Umfeld. Die realitätsnahe Rahmengebung erweckt den Eindruck einer historischen Begebenheit und vermittelt Authentizität. Es handelt sich allerdings nicht um authentische Gesprächsprotokolle, sondern um literarische Fiktionen. Häufig werden auch Quellen der Überlieferungen, Berichte oder Mythen, welche in die Dialoge eingeflochten sind, präzise beschrieben und beglaubigt, beispielsweise beim Atlantis-Mythos im Timaios und im Kritias. Der aus Platons Perspektive gezeichnete Sokrates, in dessen Gestalt sich historische und idealisierte Züge mischen, steht im Zentrum der weitaus meisten Dialoge. Eine Abgrenzung zwischen Platons eigener Philosophie und der des historischen Sokrates, der sich nur mündlich geäußert hat, ist unter diesen Umständen schwierig; sie gehört seit langem zu den wichtigsten und umstrittensten Themen der Forschung. Oft werden die frühen aporetischen Dialoge als relativ wirklichkeitsgetreue Wiedergaben der Ansichten des historischen Sokrates angesehen und daher zur Gewinnung eines Bildes von der originären sokratischen Philosophie genutzt. Am besten eignet sich zu diesem Zweck wohl die Apologie. Spätestens in den mittleren Dialogen, in denen die Ideenlehre in den Vordergrund tritt, gewinnt Platons eigenes Denken an Gewicht. Manche Forscher setzten in der angenommenen Entwicklung vom sokratischen zum originär platonischen Philosophieren eine Übergangsphase an, der sie unter anderem Euthydemos, Hippias maior, Lysis, Menexenos und Menon zurechnen. Platon selbst bleibt in seinen Werken stets im Hintergrund; lediglich in der Apologie und im Phaidon fällt sein Name am Rande.Der platonische Sokrates dominiert den Dialog. Er bestimmt den Gesprächsverlauf, indem er ihm die entscheidenden Impulse gibt, und er verhilft seinen Partnern auf maieutische Weise zu Einsichten und Erkenntnissen. Er widerlegt die Meinungen anderer; damit kontrastiert der Umstand, dass seine eigenen Äußerungen sich stets als unangreifbar erweisen. Meist sind sich die Gesprächspartner zunächst ihrer Sache sicher, werden dann aber von Sokrates auf Mängel in ihren Gedankengängen oder in ihren ungeprüften Vorannahmen aufmerksam gemacht, bis sie die Fehlerhaftigkeit ihrer bisherigen Meinungen einsehen. Großenteils handelt es sich bei den Dialogpartnern um individuell gezeichnete Figuren, für die historische Vorlagen nachweisbar sind. In den frühen Dialogen sind es meist Personen, die eine direkte oder indirekte Verbindung zum jeweiligen Thema erkennen lassen, beispielsweise Priester, Dichter, Staatsmänner, militärische Kommandeure, Erzieher oder Redner, denen der Leser aufgrund ihres Berufes Kompetenz auf dem betreffenden Gebiet zutraut. Erst in den Spätwerken weisen die Dialogteilnehmer oftmals einen spezifisch philosophischen Hintergrund auf, wie ihre einschlägigen Vorkenntnisse zeigen. Die Dialogform ermöglicht es Platon, die sprachliche Gestaltung der freien Rede gelegentlich bestimmten bekannten Eigentümlichkeiten seiner Protagonisten anzugleichen. Die Zahl der Diskutierenden schwankt zwischen zwei und vier. Sokrates entwickelt seinen Gedankengang in der Auseinandersetzung mit seinen bewusst gewählten Gesprächspartnern, wobei er sich ihnen immer nur nacheinander zuwendet. Mit einem Wechsel des Gesprächspartners geht häufig eine abrupte Veränderung des Niveaus der Debatte einher. Solche Wechsel treten auch ein, wenn der dominierende Gesprächspartner auf nicht anwesende Personen ausweicht, indem er vom Verlauf eines früheren Dialogs mit anderen Personen berichtet, wie etwa im Fall der Rede der Diotima über den Eros im Symposion. Ziel des Dialogs ist die Übereinstimmung (ὁμολογία homología) der Gesprächspartner im Ergebnis der Erörterung. Je nach Art des Themas und Kompetenz der Teilnehmer führt der Dialog zu einer für alle zufriedenstellenden Lösung oder auch in eine ausweglose Argumentationssituation (Aporie, ἀπορία aporía „Ratlosigkeit“). Wenn etwas geklärt werden müsste, aber in der aktuellen Gesprächskonstellation eine Überforderung wäre, überträgt Platon diese Aufgabe bewusst der Auseinandersetzung mit einem anderen Gesprächspartner.Die Dialoge stellen äußerst unterschiedliche Anforderungen an die intellektuellen Fähigkeiten der Leser. Daher ist nicht klar, welches Zielpublikum Platon gewöhnlich im Auge hatte. Wahrscheinlich ist, dass sich seine Dialoge teils primär als werbende (protreptische) Schriften an eine breitere Leserschaft wandten, während anspruchsvolle Werke wie der Timaios in erster Linie für philosophisch Vorgebildete und Schüler der Akademie bestimmt waren. Jedenfalls wollte Platon auf die gebildete Öffentlichkeit einwirken, um Außenstehende für die Philosophie zu gewinnen und auch um seine politischen Überzeugungen zu verbreiten. Allerdings sah er auch die Gefahr von Missverständnissen, wenn seine Schriften in die Hände von Lesern gelangten, die unfähig waren, sie ohne weitere Hilfen zu erschließen.Es ist davon auszugehen, dass es sich beim zeitgenössischen Publikum sowohl um Leser als auch um Hörer handelte, und dass dem Vorlesen und Diskutieren ein hoher Stellenwert zukam. Die Dialoge, die auch Parallelen zum griechischen Drama zeigen und stellenweise Tragödienzitate aufweisen, wurden in der Antike bisweilen wie Dramen aufgeführt oder rezitiert. === Merkmale der Dialoggruppen === ==== Frühwerke ==== Platons frühe Werke stellen in plastischer Anschaulichkeit und dramatischer Lebendigkeit Personen und deren Meinungen dar. In einer Reihe von Dialogen dieser Phase geht es um die Suche nach Antworten auf die für Sokrates wichtigsten und drängendsten Fragen; gefragt wird etwa nach dem Wesen der Frömmigkeit (Euthyphron), der Tapferkeit (Laches), der Besonnenheit (Charmides), der Tugend (Hippias minor) sowie der Freundschaft und Liebe (Lysis). Vor allem von vermeintlichen Experten erwartet Sokrates diesbezüglich stichhaltige Antworten, doch zeigt sich bei eingehender Befragung, dass sie keine befriedigenden Auskünfte zu bieten haben. In einigen Dialogen bleibt die anfangs gestellte Aufgabe ungelöst; sie werden als aporetische Definitionsdialoge bezeichnet. Die Aporie bedeutet aber nicht, dass Platon von der Unlösbarkeit des Problems überzeugt war, sondern kann auch darauf zurückzuführen sein, dass der Dialogpartner für die Erarbeitung einer Lösung unzureichend qualifiziert war. Als Debattierer treten oft unerfahrene, aber wissbegierige Jünglinge auf. Eine Dialoggruppe dieser Phase hat die scharfe Auseinandersetzung mit bekannten Sophisten wie Gorgias von Leontinoi oder Protagoras zum Thema, deren Haltung zur Ethik und zur Pädagogik der platonische Sokrates energisch entgegentritt. Unter dem bei ihm abwertend gemeinten Begriff „Sophisten“ fasst Platon unterschiedliche Denker zusammen, die als Lehrer umherzogen und gegen Entgelt unterrichteten, ansonsten aber wenig gemeinsam hatten. Bei ihm erscheint der typische Sophist als Inbegriff eines Vermittlers von wertlosem Scheinwissen. Platons polemische Darstellung bietet kein zuverlässiges Bild der Persönlichkeiten und Lehren der historischen Sophisten. Eine andere Gruppe von Dialogen spielt szenisch und zeitlich im Umfeld der Verurteilung des Sokrates. Die Grundmethode, die Sokrates in diesen Dialogen anwendet, ist die Widerlegung (ἔλεγχος élenchos „Untersuchung“, „Prüfung“) der ursprünglichen Ansichten seiner Gesprächspartner, die sich als naiv und unreflektiert erweisen. Durch solche Befreiung von Scheinwissen tritt der Mangel an echtem Wissen zutage. Dabei legt Sokrates didaktisch Wert darauf, dass der Gesprächspartner durch eigene Anstrengungen im Verlauf der geistigen Auseinandersetzung Wissen erwirbt. Diese Kunst der Gesprächsführung vergleicht Sokrates selbst mit der „Hebammenkunst“ seiner Mutter (μαιευτική τέχνη maieutikḗ téchnē, daher Maieutik). Gemeinsam wird eine Definition der Begriffe gewonnen. Dem folgt die Suche nach Gründen für die Wahrheit bestimmter Überzeugungen. Sokrates prägt durch seine Persönlichkeit und seine Ironie die ganze Diskussion. Durch seine Fragestellungen lenkt er den Gesprächspartner in die gewünschte Richtung. Das Ziel der philosophischen Bemühungen ist es, sich der Wahrheit zu nähern und damit Orientierung für das Leben zu gewinnen, indem man erkennt, worin die rechte Lebensweise besteht und wie sie begründet ist. Bei dieser Wahrheitssuche grenzt sich Platon von „sophistischer“ und „rhetorischer“ Streitkunst ab, die er vehement ablehnt, da sie nicht auf Erkenntnis ausgerichtet sei, sondern sich damit begnüge, Kniffe zur Verfügung zu stellen, um einer Auffassung unabhängig von ihrem Wahrheitsgehalt zum Sieg zu verhelfen. ==== Mittlere und späte Werke ==== Die Dialoge, die nach inhaltlichen Kriterien zur Mittelgruppe zusammengefasst werden, unterscheiden sich deutlich von den Frühwerken. Sie gelten als Platons literarische Meisterwerke. Zwar stehen auch in dieser Phase oftmals Definitionsfragen im Zentrum der Erörterung, doch führt die Untersuchung nicht mehr in aporetische Situationen. Stattdessen wird die nun eingeführte Ideenlehre zumeist als bekannte, einsichtige und daher keiner ausführlichen Begründung mehr bedürftige Grundlage des Gespräches vorausgesetzt. Während in den Frühwerken vorwiegend ethische Fragen debattiert wurden, geht es im mittleren Werk um ein breiteres Spektrum philosophischer Probleme, darunter Themen wie Tod und Unsterblichkeit der Seele (Phaidon), der ideale Staat (Politeia), Liebe (Phaidros) und erotische Anziehung (Symposion), Sprachphilosophie (Kratylos) und das Schöne (Hippias maior). Auch in späten Werken wird die Ideenlehre erprobt, so etwa in der Auseinandersetzung mit den Fragen nach dem Sein (Parmenides und Sophistes) und dem Wissen (Theaitetos) und Problemen der Naturphilosophie (Timaios). Die Ideenlehre bildet aber nicht wie in den mittleren Dialogen die Grundlage der Argumentation. Ein anderer Themenschwerpunkt der Spätwerke ist die politische Philosophie (Politikos und Nomoi). Häufig greifen die Spätwerke auf bereits erarbeitete Einsichten zurück oder modifizieren die Thesen früherer Werke erheblich. Auch in der literarischen Gestaltung ist eine Entwicklung von der mittleren zur späten Periode hin feststellbar. Schon in einigen mittleren und dann besonders in den späten Dialogen tritt die Figur des bisher dominierenden Protagonisten Sokrates etwas zurück, und umfangreiche Monologe, die auch von anderen Personen gehalten werden (wie etwa im Timaios), nehmen zu. === Das mythische Element === In die Dialoge sind eine Reihe von Mythen eingebaut, darunter der Atlantis-Mythos im Timaios und Kritias, die Mythen von den Kugelmenschen und der Geburt des Eros im Symposion, die Mythen von Gyges, Er und den Autochthonen in der Politeia, die Mythen vom Seelengespann und von Theuth im Phaidros, der Mythos vom Goldenen Zeitalter im Politikos, der Welterschaffungsmythos im Timaios und mehrere Jenseitsmythen.Platon bietet seine Mythen in erzählerisch gestalteten Monologen dar, welche meist zu Beginn oder am Ende eines Gespräches eingeflochten sind. Typisch für diese Mythen ist, dass sie nicht nachprüfbare Behauptungen aufstellen. Manchmal kommen göttliche Figuren als Akteure ins Spiel, oder es ist von ferner Vergangenheit die Rede. In manchen Passagen verwendet Platon Metaphern und bildhafte Gleichnisse. Stets geht es darum, den Gehalt theoretischer Aussagen anschaulich zu machen, ihn allegorisch auf eine konkret wirkende Ebene zu übertragen und ihm zusätzliche Überzeugungskraft zu verschaffen. So sollen Platons Mythen etwa den Zustand der Welt (Politikos), ihre Entstehung (Timaios), menschliche Fähigkeiten (Theuth-Mythos), das Wesen der Seele (Phaidros) oder ihr Fortleben im Jenseits (Phaidon) illustrieren. Mit seinen mythologischen Exkursen greift Platon in vielen Fällen auf bestehende Traditionen sowie religiöse und philosophische Vorstellungen zurück, die in der Sophistik, der Orphik oder dem Pythagoreismus gängig waren und die er abwandelt, um sie in den Dienst seiner Absichten zu stellen und seinen Überzeugungen anzupassen.Generell lassen sich Mythen, die Platon Sokrates vortragen lässt, von solchen unterscheiden, die andere Dialogteilnehmer erzählen. Unter den Mythen, die nicht Sokrates in den Mund gelegt werden, finden sich neben Berichten, die bestimmten Quellen zugeschrieben werden, auch solche, die ohne Hinweis auf eine Quelle Glauben beanspruchen, und aitiologische Sagen, die erklären sollen, wie etwas zustande gekommen ist. So trägt der Sophist Protagoras im gleichnamigen Dialog den Mythos des Prometheus über die Entstehung der Kultur vor, um seine Behauptung zu untermauern, dass Tugend (aretḗ) nach der Art der Sophisten gelehrt werden könne. Ähnlich will der Komödiendichter Aristophanes im Symposion mit dem Mythos der Kugelmenschen veranschaulichen, dass Erotik als Streben nach Wiederherstellung einer ursprünglichen Einheit und Ganzheit zu deuten sei. Der bekannteste und umstrittenste platonische Mythos ist der von Atlantis, den Platon Kritias mit Berufung auf eine Tradition von Zeugen und angeblichen schriftlichen Belegen im nach ihm benannten Dialog und im Timaios erzählen lässt. In diesen Dialogen schildert Platon die mächtige Seemacht Atlantis, die einst im Krieg der mit idealen Zügen ausgestatteten Landmacht Ur-Athen unterlag und schließlich im Meer versank. Dieser Mythos wird meist als Illustration der behaupteten Überlegenheit des platonischen Idealstaates der Politeia aufgefasst. Religiös-erbaulichen Zwecken dienen Platons Jenseitsmythen, in denen er Sokrates das Schicksal der unsterblichen Seele nach dem Tod beschreiben lässt. Die Bedeutung des Wortes Mythos variiert bei Platon erheblich. Oft scheint es einen Gegensatz zum Begriff Logos auszudrücken, der in der Philosophie eine auf Begründungen gestützte Aussage bezeichnet. Mythos und Logos können aber auch miteinander verwoben sein, und häufig gibt Platon einen Mythos als Logos und damit als in der Realität fundiert aus; vielfach betont er den Wahrheitsgehalt des Erzählten. Es kommen Mythen vor, bei denen sich die Erzähler auf Quellen berufen, für die sie einen Glaubwürdigkeitsanspruch erheben, wie etwa der Mythos des Er in der Politeia. Anderenorts schreibt Platon von einer Mischung aus Wahrem und Falschem im Mythos und bezeichnet Mythen als Geschichten für Kinder. In den Dialogen grenzt er mancherorts den Mythos vom Logos scharf ab, doch an anderer Stelle überlässt sein Sokrates die Entscheidung, ob eine Erzählung als Mythos oder Logos einzuschätzen ist, dem Urteil der Gesprächspartner.In der Platonforschung sind daher unterschiedliche Interpretationen der Stellung des Mythos zum Logos vorgeschlagen worden. Manche Gelehrte sehen im Mythos eine dem Logos untergeordnete Form. Andere nehmen an, dass Mythos und Logos als gleichermaßen legitime Zugänge zur Wahrheit präsentiert werden. Demnach fasst Platon den Mythos nicht im Sinne eines Gegensatzes zum Logos auf; vielmehr handelt es sich um zwei komplementäre Annäherungen an die Wirklichkeit, zwei verschiedenartige Wege zum Verständnis der Welt, von denen der eine mit Vernunftgründen abgesichert ist, während der andere Aspekte vor Augen stellt, die auf rationalem Weg schwer begreiflich zu machen sind. Je nach dem Verständnis ihres Sinnes und Zwecks sind die Mythen seit der Antike hinsichtlich ihres literarischen und philosophischen Werts sehr unterschiedlich beurteilt worden. == Philosophie == === Ideenlehre === Die Einführung der Ideenlehre wird häufig als die Trennlinie zwischen sokratischer und platonischer Philosophie gesehen. In den frühen aporetischen Definitionsdialogen beschäftigt sich der Sokrates Platons primär mit ethischen Themen. Er fragt danach, welche Eigenschaften eine bestimmte Tugend wie Gerechtigkeit oder Tapferkeit ausmachen oder durch welche Merkmale das Gute gekennzeichnet ist. Jedoch bleiben die dort erwogenen Definitionen für ihn ungenügend, weil sie entweder zu eng oder zu allgemein gefasst sind und daher keine präzise Bestimmung des Inhalts des jeweils zu definierenden Begriffs ermöglichen. Dagegen befasst sich Platon in den mittleren Dialogen mit dem Wesen einer Tugend oder eines beliebigen Objekts, ohne sich auf die Suche nach Definitionsmerkmalen zu beschränken. Ein Mensch mag zwar als gerecht bezeichnet werden, jedoch ist er nicht an und für sich gerecht; ein Gegenstand kann schön genannt werden, aber er ist niemals der Inbegriff des rein Schönen. Alle Dinge, denen aufgrund von Urteilen, die in Sinneserfahrungen gründen, eine bestimmte Eigenschaft – etwa „schön“ – zugeschrieben wird, haben in höherem oder geringerem Maß Anteil an deren an sich gedachtem Prinzip, an einer Idee (ἰδέα idéa), etwa dem „Schönen an sich“. ==== Ideen als transzendente Objekte ==== Die platonische Idee ist – im Unterschied zum modernen Begriff „Idee“ – kein mentales Erzeugnis, kein Einfall oder Gedanke. Platon geht davon aus, dass die Welt, wie sie vom Menschen sinnlich wahrgenommen wird, einem der sinnlichen Wahrnehmung entzogenen, jedoch realen und eigenständig existierenden Reich der Ideen nachgeordnet ist, welches nur auf geistigem Weg erkannt werden kann. Die Idee ist für Platon das wahre Seiende, ihr Sein ist das Sein im eigentlichen Sinne. Den sinnlich wahrnehmbaren Gegenständen hingegen kommt nur ein bedingtes und damit unvollkommenes Sein zu. Zur Idee gelangt, wer von den unwesentlichen Besonderheiten des einzelnen Phänomens abstrahiert und seine Aufmerksamkeit auf das Allgemeine richtet, das den Einzeldingen zugrunde liegt und gemeinsam ist. So beschreibt er im Symposion, wie man von der sinnlichen Wahrnehmung eines schönen Körpers zur Schönheit der Seele, der Sitten und der intellektuellen Erkenntnisse und schließlich zu dem „seiner Natur nach Schönen“, also der Idee des Schönen gelangen kann. Hierbei handelt es sich um den Inbegriff dessen, was schön ist, denn nur die Idee des Schönen ist unbeeinträchtigt durch unschöne Anteile. Ebenso ist die Idee der Gerechtigkeit frei von den ungerechten Aspekten, die jeder ihrer Manifestationen in der physischen Welt anhaften. ==== Eigenschaften und Bedeutung der Ideen ==== Die Ideen als eigentliche Wirklichkeit sind absolute, zeitunabhängig bestehende Urbilder. Da sie nicht dem Entstehen, dem Wandel und dem Vergehen unterliegen, sind sie von göttlicher Qualität. Einem Einzelding kommt Schönheit immer nur in begrenztem Grade zu, so dass schöne Dinge hinsichtlich des Ausmaßes ihrer Schönheit vergleichbar sind. Die Idee des Schönen hingegen ist solchem Mehr oder Weniger entzogen, denn das Schöne als Idee ist absolut (ohne Abstufung oder Einschränkung) schön. Da Ideen in höherem Maße wirklich sind als die sinnlich wahrnehmbaren Einzelgegenstände, kommt ihnen ontologisch (in der Lehre von der Hierarchie der seienden Dinge) ein höherer Rang zu als den Sinnesobjekten. Die Ideen machen das eigentliche Wesen der Eigenschaften aus und verleihen den Dingen deren Form. Als nicht wandelbare Entität sind sie der Gegenstand, auf den sich Denken und Erkenntnis richten, denn allein von Unveränderlichem kann es Wissen geben, von stets mangelhaften und in Veränderung begriffenen Sinnesdingen nicht. Die Objekte, die der Mensch wahrnimmt, verdanken ihr Sein dem objektiven Sein der jeweiligen Idee und ihre jeweilige besondere Beschaffenheit den verschiedenen Ideen, an denen sie Anteil haben. Der seinsmäßigen (ontologischen) Höherrangigkeit der Ideen entspricht eine erkenntnismäßige (epistemische). Alles Wissen über sinnlich Erfahrbares setzt ein richtiges Verständnis der jeweils zugrunde liegenden Idee voraus. Diese platonische Vorstellung ist somit der Auffassung entgegengesetzt, dass die Einzeldinge die gesamte Wirklichkeit ausmachen und hinter den Allgemeinbegriffen nichts steht als ein menschliches Bedürfnis, zur Klassifizierung der Phänomene Ordnungskategorien zu konstruieren. Platon greift das ursprünglich von Parmenides entwickelte Konzept eines einzigen Seins hinter den Dingen auf und wendet diesen Gedanken auf zahlreiche philosophische Fragen an. So weist er in der Politeia darauf hin, dass die Mathematiker ihre axiomatischen Voraussetzungen nicht klären, sondern sie als evident betrachten. Ihr Interesse gelte nicht den geometrischen Figuren, die sie mehr oder weniger unvollkommen in der Natur finden oder selbst zeichnen. Es gehe ihnen in der Geometrie nicht um empirische, sondern um ideale Gegenstände. Dabei werde vorausgesetzt, dass ein nichtempirisches Objekt – etwa das Viereck und seine Diagonale – das Ziel der Bestrebungen ist und nicht dessen in der Natur vorgefundene Abbilder. Von dieser Auffassung des Verhältnisses zwischen Idee und Abbild ausgehend bestimmt Platon beispielsweise das Schöne an sich, das Gute an sich, das Gerechte an sich oder das Fromme an sich.Jedes Phänomen der physischen Welt hat demnach Anteil an der Idee, deren Abbild (εἰκών eikṓn, εἴδωλον eídōlon) es ist. Die Art dieser Teilhabe (μέθεξις méthexis) bestimmt im Einzelfall, in welchem Ausmaß dem Objekt die Eigenschaft zukommt, die es von der Idee empfängt. Die Idee ist die Ursache dafür, dass etwas so ist, wie es ist. So legt das Schöne, das Gerechte oder das Gleiche fest, dass die Einzeldinge, die als schön, gerecht oder gleich wahrgenommen werden, diese Eigenschaften in bestimmtem Ausmaß aufweisen. Ein Mensch kann daher nur als schön bezeichnet werden, weil und insofern er an der Idee des Schönen teilhat. Die Idee ist zugleich in dem jeweiligen Objekt anwesend (παρουσία parusía „Anwesenheit“). ==== Die Problematik des Begriffs „Ideenlehre“ und offene Fragen ==== Platon bereitet seine Äußerungen zu den Ideen nicht systematisch auf, er präsentiert nirgends ein kohärentes Lehrgebäude. Daher kann ein Verständnis des von ihm Gemeinten nur aus einzelnen Angaben in zahlreichen Schriften gewonnen werden, wobei nur ein skizzenhaftes Bild entsteht. Der gängige Begriff „Ideenlehre“, der nicht von Platon selbst stammt, entspricht daher dem, was überliefert ist, nicht genau. Auch verwendet Platon für den Begriff „Idee“ verschiedene weitgehend synonyme Ausdrücke und variiert unablässig in der Wortwahl. In den späten Dialogen kommt die Ideenlehre teilweise nicht vor, wird in Grundzügen abgewandelt oder im Timaios auf neue Bereiche wie die Kosmogonie übertragen. Aufgrund des unsystematischen, uneinheitlichen und unfertigen Charakters von Platons schriftlich überlieferten Gedanken zu diesem Thema, die sich zudem im Lauf seiner philosophischen Entwicklung änderten, bleiben zahlreiche fundamentale Fragen offen, die seit der Antike kontrovers diskutiert werden. Unklar ist etwa, welchen sinnlich wahrnehmbaren Phänomenen nach Platons Ansicht spezifische Ideen zugeordnet sind und welchen nicht. Im Politikos scheint die Bestimmung eines Begriffs und damit die Existenz der betreffenden Idee von einem rein formalen Kriterium abzuhängen und die Frage nach Wert oder Rang dabei belanglos zu sein. Im Parmenides hingegen ist davon die Rede, dass Sokrates an der Existenz von Ideen einzelner Phänomene wie Feuer oder Wasser zweifelte und die Vorstellung anstößig fand, dass geringfügigen oder verächtlichen Dingen wie Kot oder Schmutz eigene Ideen zugeordnet seien. Anderenorts geht Platon davon aus, dass es nicht nur von Naturdingen Ideen gibt, sondern auch von Dingen wie Tischen, die in der physischen Welt nur als Produkte menschlichen Erfindungsgeistes existieren. Offen bleiben die Fragen, ob von Mängeln, von Unvollkommenem und Schlechtem Ideen anzunehmen sind und wie genau die Beziehung zwischen den Sinnesobjekten und ihren Ideen zu verstehen ist. === Seelenlehre === ==== Eigenschaften und Teile der Seele ==== In Platons Philosophie ist die Seele (ψυχή psychḗ) als immaterielles Prinzip des Lebens individuell unsterblich. Ihr Dasein ist von dem des Körpers gänzlich unabhängig; sie existiert vor seiner Entstehung und besteht nach seiner Zerstörung unversehrt fort (Prä- und Postexistenz). Daraus ergibt sich die Rangordnung der beiden: Der Leib, der mancherlei Beeinträchtigungen und letztlich der Vernichtung unterliegt, ist der unsterblichen, unzerstörbaren Seele untergeordnet. Es steht ihr zu, über ihn zu herrschen. Der Körper ist das „Gefäß“, die „Wohnstatt“ der Seele, aber auch negativ ausgedrückt ihr „Grab“ oder „Gefängnis“ – eine berühmt gewordene Formulierung Platons.Im Tod löst sich die Seele vom Körper, das ewig Lebendige trennt und befreit sich von der nur durch seine Einwirkung belebten Materie. Vom Leib entbunden kann die Seele auf ungetrübte Weise erkennen, weshalb der wahre Philosoph den Tod als sinnvoll anstrebt. Solange sie sich jedoch im Körper befindet, nimmt die Seele eine vermittelnde Stellung zwischen der Ideenwelt und der Sinnenwelt ein. Zusammen mit den körperlichen Faktoren und durch sich selbst erzeugt sie Wahrnehmungen, Erkenntnisse, Meinungen, Affekte, Gefühlsregungen und Triebe und bewirkt physische Effekte wie Wachstum, äußere Eigenschaften und Auflösung der Körpermaterie. Bedeutsam ist ihre Verbindung mit einem Körper nur für die Dauer eines Lebens, in dessen Verlauf sie ihre Fähigkeiten wie Erkenntnis-, Denk- und Strebevermögen und Eigenschaften (Tugenden und Untugenden) zur Geltung bringt und Erfahrungen von Lust und Schmerz macht. Alle geistigen Funktionen eines Individuums sind die ihrigen, so dass sie mit der Person identisch ist. Ihre ethischen Entscheidungen bestimmen ihr Schicksal nach dem Tod. Deshalb zielen für Platon alle philosophischen Bestrebungen nur auf die Seele; daher mahnt sein Sokrates, „für Einsicht aber und Wahrheit und für deine Seele, dass sie sich aufs beste befinde“, zu sorgen.Die Seele zeigt sich aus Platons Sicht nicht als einheitliches, sondern als komplexes Phänomen. Sie setzt sich aus einem begehrenden (ἐπιθυμητικόν epithymētikón), einem muthaften (θυμοειδές thymoeidés) und einem vernünftigen (λογιστικόν logistikón) Teil zusammen. Die drei Teile treten miteinander in Konflikt. Erstrebt wird aus philosophischer Sicht ihre Harmonie unter der Vorherrschaft des Vernünftigen. In einem Mythos vergleicht Platon die Seelenteile mit einem Pferdewagen. Die Vernunft muss als Wagenlenker die beiden sehr verschiedenartigen Pferde Willen und Begierde lenken und die Begierde bändigen, um als herrschende Kraft die Seele zur Erkenntnis zu führen. Das Begehrende ist dabei auf Sinneswahrnehmung ausgerichtet, es befriedigt körperliche Lüste wie Essen, Trinken und Fortpflanzung oder erstrebt Mittel zur Befriedigung derartiger Lüste. Der Wille als der muthafte Seelenteil hingegen bringt Meinungen hervor, erkennt Schönes und Gutes (jedoch nicht das Schöne und Gute an sich) und fällt wertende Urteile über die eigene Person und andere. Beide sind dem Vernünftigen unterzuordnen – das Begehrende, um seine triebhafte Unersättlichkeit zu zähmen, das Muthafte, um seine positiven Qualitäten wie besonnener Eifer, Milde, Sanftmut, Respekt und Menschenliebe gegenüber den negativen wie falscher Eifer, Misstrauen und Neid zur Entfaltung zu bringen. Das Vernünftige zeigt sich in der Lust am Lernen und Erkennen des Wahren, im wissenschaftlichen Streben. Auf dem Gebiet der Ethik kennzeichnet den vernünftigen Seelenteil die Fähigkeit zu erkennen, was gut und zuträglich ist, und durch Zügelung der niederen Teile die Selbstbeherrschung des Menschen zu ermöglichen. Die Seelenteile bilden in Platons ursprünglicher Seelenlehre eine unsterbliche Einheit; im Spätwerk Timaios hingegen betrachtet er die niederen Seelenteile und die damit verbundenen Affekte, Triebe und negativen Gefühlsregungen als sterbliche Beimischungen zur unvergänglichen Vernunftseele. ==== Beseeltheit nichtmenschlicher Wesen und Dinge ==== Da für Platon eigenständige Bewegung ein Definitionsmerkmal der Seele ist, fasst er auch Tiere und Gestirne als beseelt auf, im Timaios auch Pflanzen. Der Kosmos selbst verfügt über Vernunft, die ihren Sitz in der Weltseele (ψυχή τοῦ παντός psychḗ tou pantós) hat. Ein Schöpfergott, der Demiurg, bildete die Weltseele, verlieh ihr Teilhabe an den Ideen und pflanzte sie in die Welt, um die Vernunft in das Weltganze zu bringen und es dadurch vollkommener zu machen. Die Weltseele ist die Kraft, die sich selbst und alles andere bewegt. Sie ist der Welt immanent, überall in ihr verbreitet und umgibt sie zugleich. Da sie durch ihre unterschiedlichen Bestandteile an allem Anteil hat, vermag sie alles wahrzunehmen und zu erkennen. Ihr Wesen ist demjenigen der menschlichen Vernunft gleich; daher besteht Übereinstimmung zwischen der Seele des Menschen und der des Kosmos. ==== Argumente für die Unsterblichkeit der Seele ==== Das Bemühen, die Unsterblichkeit der Seele zu beweisen, gehört zu den vorrangigen Anliegen Platons. Im Phaidon lässt er Sokrates argumentieren, dass Gegensätze wie Wachzustand und Schlaf zyklisch auseinander entstehen. Auch für den Schritt vom Leben zum Tod ist demnach eine gegenläufige Bewegung zurück zum Leben anzunehmen; anderenfalls würde alle Bewegung des Lebens auf den Tod zielen und mit ihm definitiv enden, so dass es kein Leben mehr gäbe.In einem weiteren Argument führt Platons Sokrates jeden Lernprozess darauf zurück, dass die Seele Kenntnisse wiedererlangt, die ihr nicht neu sein können; daher muss sie dieses potentielle Wissen aus ihrem Dasein vor der Entstehung des Körpers mitbringen. Weil sie vor ihrem Eintritt in einen Körper die Ideen an einem „überhimmlischen Ort“ (τόπος ὑπερουράνιος tópos hyperouránios) geschaut und daher Wissen in reinster Form besessen hat, kann sie innerhalb ihres menschlichen Daseins lernen, indem sie sich schrittweise und in zunächst verfälschter, unreiner Weise an das einst Wahrgenommene erinnert (Anamnesis-Lehre). Aus der Existenz der Ideen und dem Zugang des Menschen zum von ihnen ermöglichten Wissen folgert Platon, dass die Seele nicht zum Bereich des zeitlich Begrenzten gehört.Ein anderes Argument geht von der Überlegung aus, dass das Sichtbare zusammengesetzt und daher auflösbar ist, das unsichtbare Geistige hingegen einfach, unauflösbar und unvergänglich. Das spricht dafür, dass die Seele dem Bereich des Unvergänglichen angehört, dessen Beschaffenheit der ihrigen gleicht. Ein weiteres Argument im Phaidon lautet, dass Gegensätze nicht zugleich anwesend sein können; so ist Schnee mit Wärme unvereinbar. Daher kann die als belebendes Prinzip schlechthin verstandene Seele den Tod nicht in sich aufnehmen. Somit betrifft der Tod allein den belebten Leib, nicht das diesen belebende Prinzip.Zudem stellt Platon in der Politeia die These auf, dass jedem zerstörbaren Ding ein Übel zugeordnet ist, von dem es verdorben und zerstört wird. Die Übel, welche die Seele betreffen, nämlich Ungerechtigkeit und Laster, machen sie schlecht, doch lässt sich nicht beobachten, dass sie ihre Zerstörung bewirken. Eine andere Überlegung Platons besagt, dass die Seele die Quelle aller Bewegung ist. Als Träger der Fähigkeit, immer von sich aus bewegt zu sein und anderes zu bewegen, muss die Seele ungeworden und daher unsterblich sein. ==== Die Seele nach dem Tod ==== Zum Schicksal der Seele im Jenseits und zum „Wieder-Werden“ (πάλιν γίγνεσθαι pálin gígnesthai), der Seelenwanderung, äußert sich Platon meist in mythischer Form. Er verwendet zwar keine Ausdrücke, die den Begriffen „Seelenwanderung“ (im späteren Griechisch μετεμψύχωσις metempsýchōsis, παλιγγενεσία palingenesía) und „Jenseits“ entsprechen, meint aber, wie aus seinen Ausführungen ersichtlich ist, deren Inhalte. Dabei knüpft er an ältere Konzepte an, wonach die Daseinsbedingungen nach dem Tod vom Verhalten im irdischen Leben abhängen, wie schon Pythagoras, Empedokles und Pindar meinten. Im Phaidon beschreibt er die Erde und das in einen oberen und einen unteren Bereich gegliederte Jenseits. Im oberen Bereich ist die „gleichsam wahre Erde“ lokalisiert. Dort führen die vom Körper befreiten Seelen in reiner und wunderbarer Umgebung ein glückliches Leben in Gegenwart der Götter, bis sie sich erneut inkarnieren. Im unteren Bereich erfahren fünf Gruppen von Seelen Strafe und Reinigung, je nach der Schwere ihrer im Leben begangenen Verfehlungen. So versinken die „unheilbaren“ Seelen im Tartaros, während jene, die schon im Leben Reue empfanden und sich „heilbare“ Sünden zuschulden kommen ließen, jährlich in die Nähe des Acheronsees gespült werden, wo sie ihre einstigen Opfer um Verzeihung bitten. Einzig die durch die Philosophie wahrhaft gereinigten Seelen werden von der „wahren Erde“ in ein rein geistiges, nicht näher beschreibbares Jenseits aufgenommen.Im Dialog Gorgias führt Platon den Gedanken eines Totengerichtes ein, der hier erstmals in der griechischen Kulturgeschichte näher ausgeführt wird, in Anknüpfung an ältere Vorstellungen einer richtenden Funktion von Göttern. Platons Totengericht besteht aus Minos, Rhadamanthys und Aiakos. Die nackten Seelen werden dort anhand ihrer „Narben“ und „Schwielen“ geprüft, welche durch ein ungerechtes Leben entstanden sind, und in den Tartaros oder das Elysion verwiesen. Ähnlich beschreibt Platon in der Politeia (Mythos des Er), wie die Seelen nach ihrer jeweiligen Lebensweise in die Unterwelt verbannt und gereinigt oder an einen himmlischen Ort versetzt werden. Nach tausend Jahren werden sie zur „Spindel der Ananke“ (Notwendigkeit) geführt, welche die Gestirne in Bewegung hält. Von den Moiren beaufsichtigt, wählen sie dort aus verschiedenen Lebensmodellen dasjenige, das sie künftig verwirklichen wollen, und begeben sich erneut in die Inkarnation.Im Spätwerk Timaios behauptet Platon, dass die Seele im Körper einer Frau wiedergeboren wird, wenn sie entsprechend ungünstige Voraussetzungen mitbringt, und dass die Wiedergeburt bei besonderer Unverständigkeit in einem Tierkörper erfolgen kann, wobei wiederum die Tierart vom jeweiligen Ausmaß der Torheit der Seele im vorherigen Leben abhängt. Auf der untersten Stufe, noch unter den Kriechtieren, stehen für Platon die Wassertiere. === Erkenntnistheorie und Definitionslehre === ==== Definition und Merkmale von Erkenntnis und Wissen ==== Vor dem philosophiehistorischen Hintergrund der Auseinandersetzung mit den Sophisten, die sich gewerbsmäßig mit Wissensvermittlung befassten, wirft Sokrates – für Platon das Sinnbild des denkenden Menschen – im Theaitetos die Frage auf, was Erkenntnis und Wissen (ἐπιστήμη epistḗmē) seien. Zunächst widerlegt er die Behauptungen „Wissen ist Wahrnehmung“ und „Wissen ist richtige Meinung“. Er bringt vor, eine richtige Meinung könne nicht Wissen genannt werden, wenn sie zufällig wahr sei. Aber auch die traditionelle, in der Philosophiegeschichte klassische Bestimmung des Wissens als „wahre Meinung mit Begründung“ verwirft der platonische Sokrates im Theaitetos. Im früher entstandenen Menon hatte Platon diese Definition noch von Sokrates vortragen lassen; ihr zufolge entsteht dadurch, dass eine zutreffende Ansicht begründet werden kann, Erkenntnis und in weiterer Folge bleibendes Wissen. Im Theaitetos wendet er sich davon ab, wobei er argumentiert, die Begründung einer Meinung müsse wiederum begründet werden und ebenso die Begründung der Begründung, was zu einem infiniten Regress führen würde. Die Begründung einer Meinung besteht aus einer Verknüpfung von Elementen (Aussagen), die sich nur dem Verständnis erschließt, wenn ihre Bestandteile bereits bekannt sind, so wie man eine Silbe nicht erkennen kann, wenn man nicht zuvor ihre einzelnen Buchstaben erlernt hat. Daher muss sich die Begründung auf bereits vorhandenes Wissen stützen, um einer wahrheitsgemäßen Meinung den Charakter von Wissen zu verleihen. Die sich daraus ergebende Aussage „Wissen ist durch Wissen begründete wahre Meinung“ ist jedoch als Definition unbrauchbar, da der zu bestimmende Begriff in der Definition enthalten ist und dies zu einem Zirkelschluss führen würde. Der Dialog endet aporetisch.In seiner Erkenntnistheorie unterscheidet Platon streng zwischen Meinung (δόξα dóxa) oder Glauben ohne Wissen einerseits und wahrem Wissen andererseits. Sinneswahrnehmungen reichen nicht zum Erlangen der Wahrheit aus, sondern erzeugen lediglich Meinungen. Auch wenn eine Meinung zutrifft, ist sie von prinzipiell anderer Beschaffenheit und anderen Ursprungs als Einsicht. Ein Zugang zur Wahrheit und damit Wissen erschließt sich der Seele nur im Denken, das sich möglichst von der Sinneswahrnehmung emanzipiert hat.Dementsprechend trennt Platon zwei Seinsbereiche: die sinnlich wahrnehmbare Beschaffenheit und das nicht sinnlich wahrnehmbare Wesenhafte. Bei deren Erkundung vollzieht der Mensch mehrere Erkenntnisschritte, wie Platon im Siebten Brief am Beispiel des Kreises demonstriert: Auf der niedersten Stufe des Verständnisses geht es um die Bezeichnung eines Objekts, welche lediglich auf sprachlicher Konvention beruht, also die Verwendung des Wortes „Kreis“. Darauf folgt die Definition des mit dem Wort Bezeichneten, etwa „Ein Kreis ist das von seinem Mittelpunkt überall gleich weit Entfernte“. Der sprachlichen Bestimmung übergeordnet ist das sinnlich wahrnehmbare Objekt, in diesem Fall ein von einem Zeichner gefertigter Kreis, der jedoch stets unvollkommen ist. Die begriffliche Erkenntnis, also die kognitive Vorstellung eines Kreises, bildet den vorletzten Erkenntnisschritt. Auf der höchsten Stufe steht die reine Vernunfterkenntnis, welche die Idee des Kreises erfasst.Diese Unterscheidung findet sich auch im Liniengleichnis wieder. Dabei betrachtet Platon voneinander getrennte Seinsbereiche als Abschnitte auf einer Linie. Die Linie zerfällt zunächst in die Hauptabschnitte des Sichtbaren, also des sinnlich Wahrnehmbaren, und des Denkbaren, des sich der Vernunft Erschließenden. Damit sind zugleich die Bereiche von Meinung und Erkenntnis abgegrenzt. Der Abschnitt des sinnlich Wahrnehmbaren gliedert sich wiederum in den Unterabschnitt der Abbilder (wie Schatten und Spiegelbilder) und den der Körper (der Sinnesobjekte selbst), die sich hinsichtlich der Deutlichkeit unterscheiden. Der Bereich des Denkbaren ist geteilt in ideale geometrische Objekte und die Ideen. Diesen hierarchisch geordneten Bereichen entsprechen, in ihrer Wertigkeit aufsteigend, vier Erkenntnisstufen, nämlich bloße Vermutung, bloße Überzeugung, Verstandeserkenntnis (διάνοια diánoia) und Vernunfterkenntnis (νόησις nóēsis). Die Verstandeserkenntnis, realisiert in der Mathematik, ist dadurch charakterisiert, dass sie auf nicht hinterfragten Grundlagen basiert. Sie arbeitet mit wahren Meinungen, die ihrerseits durch evident wahre Meinungen begründet sind. Deren Voraussetzung liegt aber außerhalb des Bereichs dieser Meinungen und wird daher nicht in den Blick genommen. Zu ihr kann lediglich die qualitativ höherrangige Vernunfterkenntnis aufsteigen. Jede Erkenntnis, jedes Lernen vollzieht sich nach Platons Ansicht als Wiedererinnerung (Anamnesis, ἀνάμνησις) an Ideen, welche die Seele vor ihrem Eintritt in den Körper an einem „überhimmlischen“ Ort geschaut hat und an die sie sich daher im Prozess der Erkenntnis erinnert. Erkenntnis und Wissen verweisen daher auf das Reich der Ideen. Was der Mensch durch die Einkörperung vergessen hat, kann er mit Hilfe von Sinneswahrnehmungen und Gesprächen und durch die Anleitung eines Lehrers wiedererlangen. So führt Sokrates im Menon einen mathematisch nicht vorgebildeten Sklaven gezielt zur Lösung eines geometrischen Problems, um zu zeigen, dass die Einsicht auf vorgeburtliche Kenntnisse zurückgreift. Zu diesen richtigen Vorstellungen von dem, was er nicht weiß, findet der Nichtwissende Zugang, wenn er entsprechend angeregt wird, denn sie sind auf traumhafte Weise in ihm präsent. ==== Die Dialektik als Methode der Erkenntnisgewinnung ==== Der Begriff Dialektik ist adjektivisch und als Substantiv erstmals bei Platon nachweisbar, entgegen seiner sonstigen Zurückhaltung bei der Einführung und systematischen Verwendung von Fachbegriffen. Der griechische Ausdruck hē dialektikē [téchnē] (ἡ διαλεκτική [τέχνη]) leitet sich vom Verb „sprechen, sich unterhalten“ (διαλέγεσθαι dialégesthai) ab und bedeutet daher im engeren Sinne „(die Kunst der) Gesprächsführung“. Wahrscheinlich führte Platon diesen Ausdruck ein, um die dialogische Methode, die der platonische Sokrates vor allem in den frühen Dialogen anwendet, begrifflich abzugrenzen. Der durch die sokratische Dialektik erreichbare Erkenntnisgewinn besteht zunächst darin, dass untaugliche Definitionen als unzulänglich entlarvt werden. Der Dialektiker zeichnet sich durch die Fähigkeit aus, das Wesen der zu definierenden Gegenstände abgrenzend zu bestimmen und dabei Gegenargumente erfolgreich zu entkräften.Von dieser Entlarvung des Scheinwissens ausgehend gelangt Platon in den mittleren Dialogen zu einer Dialektik, die sich als diskursive Methode mit der Erkenntnis an sich befasst. Mit der Unzulänglichkeit sowohl der sinnlichen Wahrnehmung als auch einer wahren Meinung begründet er die Notwendigkeit einer Dialektik, die allein auf reinem Denken basiert. Diese stellt er der Mathematik entgegen, die auf Axiome angewiesen sei und als Geometrie gezeichneter Figuren bedürfe. Die Auffassung der Mathematiker von ihrem Gegenstand vergleicht Platon mit Träumen, weil sie gerade und ungerade Zahlen, Winkelarten und sinnlich wahrnehmbare Konstruktionen benützen, die sie jedoch als Hilfsannahmen für Axiome und Idealfiguren betrachten, welche sie nur im Denken finden. Über ihre Axiome meinen sie weder sich selbst noch anderen Rechenschaft zu schulden, als seien diese Annahmen für jeden evident. Mit Hilfe der Dialektik hingegen soll vorbedingungsfreies und somit echtes Wissen erlangt werden, das nicht auf derartigen ungeprüften Voraussetzungen fußt. Der Dialektiker muss daher alle unhinterfragten Vorannahmen vermeiden. Er befasst sich mit Hypothesen, die er offen als solche bezeichnet und überprüft. Damit gelangt er zu begründeten Annahmen, die Platon als „Stufen und Ansätze“ auffasst, die zum „Voraussetzungslosen, zum Anfang von Allem“ (ἀρχή ἀνυπόθετος archḗ anhypóthetos), nämlich der „Idee des Guten“ führen. Von dort schreitet der dialektisch denkende Philosoph darauf wieder zu den von dieser Idee abhängigen niederen Ideen. So durchmisst er, ohne sich der Sinneswahrnehmung zu bedienen, seinen Erkenntnisweg und gelangt dabei bis zum wahren Anfang und obersten Prinzip, das nicht auf eine übergeordnete Ursache zurückführbar ist.Der Dialektik weist Platon in der Politeia, dem Dialog über den idealen Staat, eine zentrale Rolle für die Ausbildung der philosophischen Herrscher zu. Nach verschiedenen Disziplinen wie Arithmetik, Geometrie, Astronomie und Harmonik bildet sie den Abschluss ihres Bildungsganges, dessen Ziel der Aufstieg zur Idee des Guten als dem größten Lehrgegenstand ist. ==== Definitionsfindung ==== Man kann innerhalb der platonischen Dialektik drei wesentliche Methoden unterscheiden, die zu Erkenntnis führen: erstens die nach Sokrates benannte Methode der sokratischen Widerlegung in den frühen Dialogen, die zur Einsicht in das eigene Nichtwissen führt, zweitens die Methode der hypothesis in den mittleren Dialogen, die aufgestellte Hypothesen prüft, und drittens die Methode der Dihairesis in den späten Dialogen. In den frühen Dialogen, in denen Sokrates der Hauptakteur ist, wird meistens die Definition eines Begriffs gesucht, mit der das Wesen des Bezeichneten eindeutig und vollständig erfasst werden soll (beispielsweise Was ist das Fromme?). Die Methode der Dihairesis ist in den späten Dialogen ein Mittel, ähnliche Definitionsfragen zu beantworten. Mit ihr gelangt man von der Frage Was ist die Angelfischerei? zur Definition Die Angelfischerei ist die Kunst einer verwundenden Jagd auf Fische mit einem Haken bei Tage zum Zweck des Erwerbs. ==== Eros und Ästhetik auf dem Erkenntnisweg ==== In Platons Symposion („Gastmahl“) beschreiben und preisen mehrere Redner Eros, den Daimon (Geist) der auf „das Schöne“ gerichteten Liebe. So betont Phaidros die ethische Dimension des Schönen. Er weist darauf hin, dass die Liebe beim Verliebten das Streben nach einem tugendhaften Leben fördert, da niemand in den Augen seines Geliebten ethisch hässlich erscheinen will, sondern die Liebenden um ihrer Geliebten willen schöne Taten vollbringen. Platon verwendet den Begriff des Schönen nicht nur im engeren Sinne für ästhetisch ansprechende Formen, Farben oder Melodien. Vielmehr bezeichnet er als „schön“ auch Erfreuliches, Bewundernswertes und Entzückendes im menschlichen Charakter und Verhalten, in Staat und Gesellschaft und darüber hinaus rein geistige Objekte philosophischen Bemühens. All dies ist für ihn eigentlich gleichartig, insoweit es Empfindungen derselben Art auslöst, und fällt daher in dieser Hinsicht unter den gemeinsamen Begriff des Schönen. Allerdings ist nicht alles, was gefällt, schön; es gibt auch eine scheinbare Schönheit, die nur flüchtige Annehmlichkeit erzeugt. Teils widerlegt der platonische Sokrates im Symposion seine Vorredner, teils überhöht er ihre Aussagen. Das Wirken des Eros lässt er weit über den Bereich zwischenmenschlicher Leidenschaft hinausreichen, denn Liebe ist für Platon die Triebfeder des menschlichen Strebens nach dem Schönen und Guten. Diese beiden Bereiche sind eng miteinander verknüpfte Aspekte derselben Wirklichkeit, deren höchste Ausformung geistige, ethische und körperliche Vollkommenheit ist (Kalokagathia). Als höchstes Ziel menschlichen Strebens fällt das Schöne mit dem Guten zusammen, es ist das Gute unter dem Aspekt von dessen ästhetischer Anziehungskraft. Als Sohn der Penia, der Personifikation der Armut, und des Poros (Fülle) treibt Eros den Menschen an, sich in der Erkenntnis des Guten zu vollenden und dadurch glückselig zu werden. Ziel der Liebe ist „Erzeugung und Geburt im Schönen“.Eine äußere Bedingung für die Betätigung des Eros ist die Gegenwart des Schönen (τὸ καλόν to kalón). Außerdem muss die Seele, um für Schönheit empfänglich zu sein, bestimmte Voraussetzungen mitbringen. Begegnet ein Mensch dem Schönen in einer Form, in der es in der Sinneswelt vorkommt, so erinnert sich die Seele an das wahre Schöne, das sie vor der Geburt geschaut hat und von dem sie seit dem Beginn ihres irdischen Daseins getrennt ist. Wenn dies geschieht, beflügelt die Wirkung des Schönen die Seele und erlaubt ihr, sich stufenweise zum übersinnlich Schönen, der Idee des Schönen, zu erheben. Zugleich nimmt sie den „Ausfluss der Schönheit“ in sich auf und erschaudert angesichts dessen.So richtet sich Eros aufsteigend zunächst auf die anwesende schöne Gestalt, dann allgemein auf alle schönen Körper, dann auf die schöne Seele, das Schöne in der Gemeinschaft und der Wissenschaft, schließlich auf die Idee des Schönen. Auf diesem Weg stellt das Fortpflanzungsstreben, das von der Schönheit eines Körpers angeregt wird, die niedrigste Stufe dar. Ihm übergeordnet ist der aus dem Eros entspringende Wunsch, moralische und politische Tugenden zu erwerben, die zur Schönheit der Seele beitragen. Zu ihrer Vollendung gelangt die Erkenntnis des Schönen erst in der Schau der Idee des Schönen, nachdem der Betrachtende sich von aller Bindung an sinnliche Wahrnehmung befreit hat.Zugleich fasst Platon Eros als maßgebliche Triebkraft des philosophischen Erkenntnisstrebens auf, denn die Liebe des Philosophierenden gilt der Weisheit, die zum Schönsten gehört. Der Eros begeistert den Philosophierenden für die Erkenntnis des wahrhaft Erstrebenswerten und veranlasst ihn damit zu der geistigen Betätigung, die sich in der Schau der Ideen vollendet. Der Weisheitsliebende (φιλόσοφος philósophos) strebt nach Erkenntnis, weil er das, wonach er liebend sucht, noch nicht besitzt, das heißt noch nicht weise ist. Wer hingegen entweder bereits wie die Götter weise ist oder den Wert der Weisheit nicht erkannt hat, philosophiert nicht. === Ethik === ==== Gerechtigkeit als Grundtugend ==== In mehreren Dialogen ist die Frage nach dem Wesen der Gerechtigkeit (δικαιοσύνη dikaiosýnē) ein zentrales Thema. In der Politeia definiert Platon Gerechtigkeit als die Bereitschaft eines Staatsbürgers, sich nur den Aufgaben zu widmen, für die er von Natur aus geeignet ist und die daher seinen Beruf ausmachen und seinem festgelegten Stand entsprechen, und sich nicht in andere Belange einzumischen. Ungerechtigkeit entsteht somit dann, wenn die Grenzen der staatlich vorgegebenen Zuständigkeitsbereiche missachtet werden. Analog dazu herrscht Gerechtigkeit innerhalb eines Individuums dann, wenn seine Seelenteile (das Begehrende, das Muthafte und das Vernünftige) im richtigen Verhältnis zueinander stehen. Der platonische Sokrates verwirft in der Politeia mehrere andere Bestimmungen des Gerechten, darunter die traditionellen, von den Sophisten aufgegriffenen Gerechtigkeitstheorien, wonach es gerecht ist, „Freunden Gutes zu tun und Feinden Böses“ oder „jedem das ihm Gebührende zukommen zu lassen“. Gegen die erstgenannte Ansicht wendet Sokrates ein, dass es keinesfalls gerecht sein könne, jemandem zu schaden, vielmehr sei solches Verhalten stets ungerecht. Den sophistischen Gesprächspartner Thrasymachos lässt Platon Gerechtigkeit als ein Mittel der Machthaber und allgemein als das den Überlegenen Zuträgliche charakterisieren. Durch die Gesetzgebung der Starken werde in jedem Staat festgelegt, was gerecht ist. Ein anderer im Dialog auftretender Sophist fasst Gerechtigkeit als gesellschaftliche Konvention auf, durch welche die Bürger auf die Chance, Unrecht zu tun, notgedrungen verzichten, um sich gegen die Gefahr abzusichern, selbst zum Opfer von Unrecht zu werden.Diese sophistischen Definitionen sind aus Platons Sicht untauglich, da sie Gerechtigkeit als Verpflichtung und Verhalten gegenüber anderen, nicht als Qualität der Seele erklären. Im Gegensatz zu Aristoteles, der betont, dass die Tugend der Gerechtigkeit nur auf andere bezogen verwirklicht werden könne, hält Platon Gerechtigkeit für einen inneren Zustand des Individuums, nicht für eine Absichtshaltung oder ein Verhalten gegenüber anderen. Gerechtigkeit ist damit eine Funktion der Seele. So wie ein Mensch groß oder klein ist, weil er an der Idee der Größe bzw. der Kleinheit in einem bestimmten Maß Anteil hat, ist in der platonischen Vorstellung ein Mensch gerecht aufgrund seiner Teilhabe an der Idee der Gerechtigkeit. Die Menschen meinen, dass jeder an dieser Idee teilhat, um einer Gemeinschaft angehören zu können, denn in der Gemeinschaft muss jeder zumindest behaupten, gerecht zu sein. Gerechtigkeit führt für Platon zur Eudaimonie („Glückseligkeit“); das Leben eines Übeltäters hingegen ist notwendigerweise elend. Somit gehört Gerechtigkeit „zu dem Schönsten, nämlich zu dem, was sowohl um seiner selbst willen wie wegen der daraus entspringenden Folgen von jedem geliebt werden muss, der glücklich werden will“. Zugleich ist Gerechtigkeit eine „Bestform“ der Seele, die höchste Tugend (ἀρετή aretḗ), welche die drei anderen, den drei Seelenteilen zugeordneten Grundtugenden Besonnenheit, Tapferkeit und Weisheit in sich vereint und ordnet. Im Dialog Kriton überliefert Platon, Sokrates habe im Gefängnis nach seiner Verurteilung zum Tode eine mögliche Flucht abgelehnt mit der Begründung, dass ein Gesetzesbruch ungerecht wäre. ==== Das Gute ==== Über die Frage nach dem Wesen einzelner Tugenden und dem Tugendhaften an sich weist Platon hinaus, indem er die Idee des Guten einführt, die alle Tugenden umfasst und ihnen somit übergeordnet ist. Zwar berührt Platon das Thema des Guten in zahlreichen seiner Dialoge, doch entfaltet er seine Gedanken über die Idee des Guten, also das Gute an und für sich, lediglich an einer Stelle der Politeia. Dort stellt er das Gute als eine Idee dar, welche die anderen Ideen an Würde und an Kraft überragt und nicht wie diese zum wahrhaft Seienden gehört, sondern sich jenseits des Seins befindet. Die Ideen sind untereinander durch Teilhabe verbunden, weil sie auf die Idee des Guten als oberstes Prinzip zurückgeführt werden können. Das nur knapp dargestellte Konzept der Idee des Guten ist Gegenstand zahlreicher Interpretationen. Die meisten Gelehrten meinen, dass die Idee des Guten für Platon den Bereich des Seins transzendiert. Diese Auffassung ist allerdings nicht unumstritten.Einer Bestimmung der Idee des Guten nähert sich Platons Sokrates in der Politeia in drei Gleichnissen an (Sonnen-, Linien- und Höhlengleichnis). Im Sonnengleichnis vergleicht er das Gute mit der Sonne als seinem „Sprössling“. So wie das Sonnenlicht es ermöglicht, dass Dinge wahrgenommen werden, wogegen im Dunkeln die Sehkraft eingeschränkt ist, so lassen sich erst im Lichte der Idee des Guten andere Ideen erkennen. Die Idee des Guten verleiht den Dingen ihre Erkennbarkeit, dem Erkennenden seine Erkenntnisfähigkeit, allem Seienden sein Sein und allem – auch der Gerechtigkeit – seinen Nutzen, da sie selbst Ziel und Sinn von allem ist. Daher ist ihre Erkenntnis das höchste Ziel des Philosophen und in der Politeia Voraussetzung dafür, Philosophenherrscher zu werden. Wer einmal die Einsicht in das Gute gewonnen hat, kann nicht mehr wider dieses bessere Wissen handeln; das Problem der Akrasia (Willensschwäche, mangelnde Selbstbeherrschung) besteht für ihn nicht. Das Gute wird damit zu einem absoluten Orientierungspunkt für das praktische Handeln. ==== Eudaimonie und Lust ==== Platon unterscheidet scharf zwischen der Eudaimonie – dem einer gelungenen Lebensführung entsprechenden erfreulichen, ausgeglichenen Gemütszustand – und der körperlichen und seelischen Lust (hēdonḗ). Der Ausdruck Eudaimonie wird im Deutschen gewöhnlich ungenau mit „Glück“ oder „Glückseligkeit“ übersetzt. Platon hält die Eudaimonie für unbedingt erstrebenswert; die Lust lehnt er zwar nicht ab, doch stuft er legitime seelische Lust als niedriges Gut ein, und den Lustempfindungen, die aus der Befriedigung leiblicher Bedürfnisse resultieren, billigt er keinen Wert zu. Wenn die Vernunft innerhalb der Seele die Leitung innehat, was bei einer philosophischen Lebensführung der Fall ist, kann Lust auf unbedenkliche Weise erlebt werden. ==== Angleichung an die Gottheit ==== Das Wesen der philosophischen Lebensweise bestimmt Platon als Angleichung oder „Anähnlichung“ an die Gottheit, „soweit dies möglich ist“ (homoíōsis theṓ katá to dynatón). Die Voraussetzung dafür ist die von Natur aus bestehende Verwandtschaft der unsterblichen Seele mit dem Göttlichen. Die Gottheit, in der alles Erstrebenswerte auf optimale Weise vereint ist, bietet das Vorbild, das der philosophisch Lebende nachahmt, indem er nach einem möglichst vollkommenen Besitz der göttlichen Merkmale Tugend und Wissen trachtet. Jeder Mensch ahmt das nach, womit er sich gern und beständig beschäftigt, und nimmt dadurch dessen gute oder schlechte Beschaffenheit an. Da das unveränderliche Sein des Ideenkosmos von göttlicher Qualität ist, wird der Betrachter, der sich ihm nachahmend zuwendet, selbst vergöttlicht. Das geistige Erfassen der Ideen und das von solcher Erkenntnis gelenkte Handeln führen den Menschen zur Gottähnlichkeit, soweit die Bedingungen des Lebens in der Sinnenwelt dies zulassen. Diesem Ziel nähert sich der Philosoph vor allem durch seine zunehmende Vertrautheit mit den Ideen der Gerechtigkeit und der Maßhaftigkeit, in denen das Göttliche in erster Linie hervortritt. Ein stets wachsendes Verständnis der kosmischen Ordnung, die auf diesen Ideen beruht, ist der Weg der Angleichung, auf dem der Wahrnehmende und Erkennende eine analoge Ordnung in seine eigene Seele bringt. Überdies bewegt ihn die Angleichung an die Gottheit dazu, für den guten Zustand der Sinnenwelt Verantwortung zu übernehmen. === Staatsphilosophie === ==== Politeia, der Idealstaat der Philosophenherrscher ==== Die Frage nach der Gerechtigkeit ist der Ausgangspunkt der Politeia (Der Staat), welche in der Tetralogienordnung daher den Untertitel Über das Gerechte (περὶ δικαίου perì dikaíou) erhielt. Der platonische Sokrates setzt darin der attischen Demokratie einen utopischen, vom Gerechtigkeitsprinzip geleiteten Idealstaat entgegen. Mit dieser Übertragung auf die Ebene des Staates soll die ursprünglich auf das Individuum bezogene Frage nach dem Wesen der Gerechtigkeit eine umfassendere Antwort finden. Der ideale Staat hat den Zweck, die Idee des Guten auf der physischen Ebene zu verwirklichen; mit der Umsetzung der Gerechtigkeit soll eine Voraussetzung für das gute Leben jedes Bürgers geschaffen werden. So wie im Kosmos und in der Seele soll auch im Idealstaat eine harmonische Ganzheit verwirklicht werden. Zwischen dem Individuum und dem Staat besteht für Platon eine Analogie, denn so wie sich Gerechtigkeit im Einzelnen als bestimmter innerer Ordnungszustand entfaltet, so macht eine bestimmte Ordnung der Polis diese zu einem gerechten Gemeinwesen. Daher hat jeder Stand und jeder Bürger die Aufgabe, zum gemeinsamen Wohl beizutragen, indem er sich auf angemessene Weise harmonisch in das Ganze einfügt und ihm dient. Platon zeichnet in der Politeia den Werdegang eines Staates hin zu seinem Idealmodell. Ein auf die menschlichen Grundbedürfnisse ausgerichteter erster, primitiver Staat, als „Schweinepolis“ bezeichnet (ὑῶν πόλις hyṓn pólis), bildet sich, da niemand für sich autark sein kann. Bei fortschreitender Entwicklung gilt der Grundsatz der Arbeitsteilung aufgrund unterschiedlicher Voraussetzungen und Begabungen der Bürger. Der Staat besteht jedoch um eines höheren Ziels willen, nämlich der Gerechtigkeit, die sich in der gerechten Verteilung der Aufgaben auf die Stände zeigt. Jeder soll im Staatsgefüge eine seinen Fähigkeiten entsprechende Tätigkeit ausüben. Daher kann bereits ein einfacher Staat der Forderung nach einer gerechten Struktur nachkommen, indem er durch das Prinzip gegenseitiger Hilfe die Erfüllung grundlegender Bedürfnisse ermöglicht. Aus dem primitiven Staat entwickelt sich stufenweise ein „üppiger“ und „angeschwollener“ Staat (τρυφῶσα/φλεγμαίνουσα πόλις tryphṓsa/phlegmaínusa pólis), in dem sich ein kulturelles Leben herausbildet und Luxusgüter zur Verfügung stehen. Ein derart „angeschwollener“ Stadtstaat ist jedoch von verhängnisvollen Entwicklungen wie Machtkämpfen, Kriegen und aufkommenden Zivilisationsschäden bedroht. Als Alternative dazu entwirft Platon die Utopie eines „gesäuberten“ Idealstaates. Dessen Bürgerschaft gliedert er in den Handwerker- und Bauernstand (δημιουργοί dēmiurgoí), den Stand der Wächter (φύλακες phýlakes) und den der Philosophenherrscher (ἄρχοντες árchontes). Zur Erfüllung seiner standesspezifischen Aufgaben benötigt jeder Bürger eine der Kardinaltugenden Besonnenheit (σωφροσύνη sōphrosýnē), Tapferkeit (ἀνδρεία andreía) und Weisheit (σοφία sophía). Damit sind die drei Tugenden ebenso wie den drei Seelenteilen (dem Begehrenden, dem Muthaften und dem Vernünftigen) auch den drei Teilen der Bürgerschaft zugeordnet. Gerechtigkeit ergibt sich daraus, dass jeder im Auftrag der Gemeinschaft das tut, was seinem Wesen und seinen Begabungen entspricht (τὰ ἑαυτοῦ πράττειν tà heautû práttein; Idiopragie-Forderung). Mit der Begründung, das Schicksal habe den Menschen vor ihrer Geburt unterschiedliche Fähigkeiten zugeteilt, sieht Platon für die Einordnung der Bürger in die drei Stände ein Aussiebungsverfahren vor. Die Standeszugehörigkeit ist im platonischen Staat nicht erblich, sondern wird gemäß der persönlichen Leistung im Bildungsprozess zugewiesen. Zu diesem Zweck wird das neugeborene Kind den Eltern entzogen und Erziehern anvertraut, wobei zwischen Jungen und Mädchen kein Unterschied gemacht werden soll. Dadurch soll eine große Gemeinschaft entstehen, in der die Kinder keine Bindungen zu ihren leiblichen Verwandten entwickeln. Der Staat plant und lenkt die Fortpflanzung, schreibt sie vor oder untersagt sie, sowohl zum Zweck der Eugenik als auch um die Bevölkerungszahl konstant zu halten. Die Erziehung der Nachkommenschaft obliegt ausschließlich staatlichen Behörden; behinderte und aus unerwünschten Verbindungen hervorgehende Neugeborene sollen wie in Sparta nicht aufgezogen, sondern „verborgen“, das heißt ausgesetzt werden. Bei der Aussetzung oder Tötung von Säuglingen mit angeborenen Defekten handelt es sich um eine in der Antike verbreitete Sitte. Besonderen Wert legt Platon auf körperliche Ertüchtigung und musische Ausbildung. Wer wegen unzureichender Leistungsfähigkeit frühzeitig aus dem Bildungssystem ausscheidet, wird Bauer oder Handwerker. Für diesen Stand bleiben Privateigentum und Familie bestehen. Eine strenge Zensur verbietet unter anderem die als verderblich betrachtete Lektüre von Homer sowie manche traditionelle Mythen. Insbesondere jene Stellen in Epen, Tragödien sowie Komödien sind zu tilgen, welche Furcht vor dem Tod einflößen, zu Übermut anregen oder gegen sittliche Vorstellungen verstoßen. Durch Begabung wird der Aufstieg in die beiden oberen Stände möglich. In diesen ist eine Güter- und Familiengemeinschaft vorgeschrieben; daher wird in der Moderne vom „platonischen Kommunismus“ gesprochen. Die Ausbildung der Wächter zielt auf ihre besonderen Aufgaben: als Krieger sind sie für die Landesverteidigung zuständig, außerdem fungieren sie im Inneren als Exekutivorgan. Nur die Tüchtigsten werden in den Stand der Herrscher eingereiht. Zur Regierung des Staates gelangen sie, nachdem sie in Musik und Gymnastik, dann in der Mathematik und anderen Wissenschaften, schließlich in der Dialektik Unterweisung erhalten haben sowie zur „Schau der Ideen“ und des Guten selbst gelangt sind und verschiedene Ämter bekleidet haben. Von den Herrschenden fordert Platon Liebe zur Weisheit. Sie sollen die Philosophenherrschaft umsetzen, die im platonischen Staat die Voraussetzung für ein vollendetes Gemeinwesen darstellt: „Solange in den Staaten nicht entweder die Philosophen Könige werden oder die, welche jetzt Könige und Herrscher heißen, echte und gründliche Philosophen werden, solange nicht die Macht im Staate und die Philosophie verschmolzen sind, solange nicht den derzeitigen Charakteren, die sich meist einem von beiden ausschließlich zuwenden, der Zugang mit Gewalt verschlossen wird, solange gibt es, mein lieber Glaukon, keine Erlösung vom Übel für die Staaten, ich glaube aber auch nicht für die Menschheit, noch auch wird diese Verfassung, wie wir sie eben dargestellt haben, vorher zur Möglichkeit werden und das Sonnenlicht erblicken.“Für die griechische Gesellschaft seiner Zeit ungewöhnlich war Platons Meinung, dass die Rolle der Frauen nicht auf geschlechtsspezifische Tätigkeiten zu beschränken war, sondern Frauen soweit irgend möglich dieselben Aufgaben übernehmen sollten wie Männer. Sie sollten sogar, soweit es ihre naturgegebenen Fähigkeiten erlaubten, als Wächterinnen ausgebildet werden und als solche mit den Männern in den Krieg ziehen. ==== Nomoi, der zweitbeste Staat ==== In seinem Alterswerk Nomoi (Die Gesetze) wandelt Platon sein erstes Staatskonzept, das er nun als allzu utopisch betrachtet, stark ab und entwirft ein realistischeres Modell. Dabei gibt er insbesondere die Gütergemeinschaft auf, obwohl er den auf Kollektiveigentum der Führungsschicht ausgerichteten Staat weiterhin für den bestmöglichen hält. An den Zielen der Politeia soll sich der „zweitbeste“ Staat orientieren, dabei aber die im älteren Konzept sehr hohen Anforderungen an die Bürger reduzieren. In den Nomoi gibt es keine Philosophenherrschaft, vielmehr räumt Platon allen Staatsbürgern die Möglichkeit zur Mitbestimmung ein, da unbeschränkte Macht jeden korrumpiere. Damit diese Versuchung nicht überhandnimmt, müssen die Gesetze im Staat herrschen und ihn stützen. Neben sehr detaillierten Ausführungen zu Erziehung, Gymnastik und der richtigen Lebensform finden sich in den Nomoi daher auch konkrete Erläuterungen der nötigen Gesetzgebung. === Kunstverständnis === Als Verfasser von Prosa und gelegentlich auch Dichtung war Platon ein hochbegabter Künstler, als gebildeter Ästhet dem Schönen zugewandt. Unter philosophischem Gesichtspunkt war jedoch sein Verhältnis zur Kunst – sowohl zur bildenden als auch zur darstellenden Kunst, zur Musik und Literatur – zwiespältig, großenteils sogar ablehnend. Seine Kritik an der Kunst, die er im Zusammenhang mit seiner Staatsphilosophie entwickelte, erregte seit der Antike Aufsehen. Wegen der außerordentlich starken Wirkung der Kunst auf empfindsame Gemüter vertrat er in der Politeia die Überzeugung, der Staat müsse die Kunst reglementieren, um verhängnisvollen Auswirkungen schädlicher Kunstformen auf die Gemeinschaft vorzubeugen. Daher ließ er in seinem Idealstaat nur bestimmte Tonarten und Musikinstrumente zu. Dichter, die unerwünschte Werke schufen, wollte er dort nicht dulden. Nur Traditionelles, Bewährtes und Einfaches fand seine Zustimmung; von Neuerungen wollte er nichts wissen, da sie den einmal erreichten harmonischen, stabilen Idealzustand der Gesellschaft beeinträchtigen könnten.Die Schönheit geometrischer Formen zog Platon derjenigen von Lebewesen oder Kunstwerken vor, da diese nur relativ schön seien, während bestimmten regelmäßigen geometrischen Figuren eine absolute Schönheit zukomme. Ordnung, Maß (Angemessenheit) und harmonische Proportionen (συμμετρία symmetría) waren für ihn entscheidende Kriterien für Schönheit, da sie den Dingen Einheit verliehen; aus willkürlicher Abweichung von dieser Norm und Maßlosigkeit musste Hässlichkeit resultieren.Platons Missbilligung der bildenden Künste beruhte auf seiner Überzeugung, dass in der hierarchischen Seinsordnung stets das relativ Niedere lediglich ein Abbild des relativ Höheren und als solches im Vergleich mit diesem in bestimmtem Maß unvollkommener sei. Somit konnte wahres menschliches Verbesserungsstreben nur eine Abwendung von Abbildern und Hinwendung zu Urbildern bedeuten. Da jedoch sowohl Malerei als auch Plastik für Platon nichts als Nachahmungen der Natur waren (Mimesis-Konzept) und die Natur ihrerseits ein Abbild der Ideenwelt war, sah er in der Beschäftigung mit solchen Künsten nur einen Weg vom Urbild zum Abbild und damit einen Abstieg und eine Verirrung. Solche Kunstwerke waren aus seiner Sicht bestenfalls getreue Kopien und damit unnötige Verdoppelungen von Originalen, welche sie niemals übertreffen konnten. Außerdem sah Platon in solchem Kunstschaffen eine Spielerei und einen Zeitvertreib, eine Ablenkung von wichtigen Aufgaben. Besonders scharf verurteilte er Werke der bildenden Kunst, mit denen der Künstler nicht einmal möglichst getreue Nachahmung von Naturdingen anstrebt, sondern Illusionen erzeugen oder Subjektives ausdrücken will. Dies verurteilte er als schuldhafte Irreführung. Unter Ästhetik verstand er eine objektive Gegebenheit, in der es kein subjektives Element geben dürfe. Sein abwertendes Urteil betraf nicht die Architektur, die er nicht zu den nachahmenden (mimetischen), sondern zu den „erschaffenden“ (poietischen) Künsten zählte, welche wirkliche Dinge hervorbringen, statt sie nur abzubilden.Seine Kritik an bestimmten Musikformen und an der Dichtung setzte hauptsächlich an einem anderen Punkt an, nämlich an der demoralisierenden Wirkung, die er ihnen zuschrieb. Mit diesem Argument wandte er sich gegen die lydische Tonart, gegen Flötenmusik und gegen Dichtungen wie diejenigen Homers und Hesiods. Er ging davon aus, dass schlechte Musik niedere Affekte verstärke, die Herrschaft der Vernunft über das Gefühlsleben bedrohe und so den Charakter verderbe, während schlechte Dichtung Lügen verbreite. Andere Tonarten, religiöse Hymnendichtung und Lobgedichte auf gute Menschen hingegen bewertete er positiv und schrieb ihnen einen günstigen Einfluss auf die Charakterbildung zu. Was er in der Dichtung für gut befand, das hielt er nicht für eigene Leistungen der Dichter, sondern er führte es auf göttliche Inspiration zurück. Zur Beschreibung der bei solchem Schaffen entstehenden Begeisterung verwendete er den ambivalenten, hier positiv gemeinten Begriff Raserei (μανία manía); im inspirierten Dichter sah er einen Mittler zwischen Göttern und Menschen. Bei den dichterischen Formen unterschied er nach dem Ausmaß des mimetischen Anteils in ihnen. Das Drama als szenisch darstellende und daher rein mimetische Form und unmittelbare Wiedergabe verwarf er gänzlich, zumal darin auch charakterlich fragwürdige oder schlechte Personen auftreten, deren Nachahmung durch Schauspieler er für charakterschädigend hielt. Die erzählenden und nur mittelbar wiedergebenden Dichtungsformen mit geringem Mimesis-Anteil (Dithyrambos, Epos) hielt er für akzeptabel, sofern die Inhalte moralisch nicht zu beanstanden waren. === Naturphilosophie === Im Phaidon berichtet der platonische Sokrates anschaulich, wie er in seiner Jugend gehofft habe, in der Naturkunde die Ursache aller Dinge zu finden, und wie er dabei enttäuscht worden sei. Selbst der Naturphilosoph Anaxagoras habe sich nur mit dem sinnlich Wahrnehmbaren beschäftigt und sei die Antwort auf das eigentliche „Warum“ schuldig geblieben. Hier wird Platons Distanz zur Naturwissenschaft deutlich; sein wahres Interesse gilt dem Geistigen und – zwecks Hinführung zu diesem – der Mathematik. Der Gegenstand der Naturwissenschaft hingegen ist die empirische Welt der Erscheinungen (φύσις phýsis „Natur“), also aus Platons Sicht ein bloßes Abbild der reinen Ideen, dem er nur ein defizitäres Sein zubilligt.Dem Timaios zufolge hat der mythische Demiurg (Schöpfer, wörtlich „Handwerksmeister“, „Fachmann“) die dingliche Welt aus der Ur-Materie gestaltet. Diese Aussage ist nach der Überzeugung antiker Platoniker und auch nach dem heute in der Forschung vorherrschenden Verständnis nicht wörtlich im Sinne einer Weltentstehung in der Zeit, sondern metaphorisch zu verstehen; die Schöpfung ist kein einmaliges Ereignis, sondern ein beständiger Prozess. Der Zustand der Welt ergibt sich aus dem Zusammentreffen zweier gegensätzlicher Faktoren, nämlich der vernünftigen Einwirkung des Demiurgen, der sich an der Ideenwelt orientiert und das Bestmögliche erreichen will, und dem chaotischen, regellosen Charakter der Ur-Materie, welcher der erschaffenden und ordnenden Tätigkeit des Demiurgen Widerstand entgegensetzt. Die Materie ist nicht vom Demiurgen geschaffen, sondern bildet eine eigenständige Grundlage für sein Wirken. Er ist kein allmächtiger Schöpfergott, sondern gleichsam ein göttlicher Baumeister, der auf vorhandenes mangelhaftes Material angewiesen ist, aus dem er im Rahmen des Möglichen etwas herstellt. Daher vergleicht Platon die Ur-Materie (χώρα chóra) mit Rohmaterial, wie es Handwerkern zur Verfügung steht (ὕλη hylē). Sie ist ihrer eigenen ursprünglichen Natur nach amorph, aber form- und gestaltbar. Die Ur-Materie weist eine räumliche Qualität auf, was aber nicht im Sinne eines leeren Raums zu verstehen ist; eher kann man sie als ein Feld betrachten, das nach Platons Angaben bereits Spuren der (empedokleischen) Elemente aufweist. Sie ist der gebärfreudige „Schoß des Werdens“, aus dem die Körper entstehen, das rein Empfangende, das – selbst formlos – alle Formen aufnimmt. Feuer, Luft, Wasser und Erde sind die vier Grundformen der vom Demiurgen gestalteten Materie, die sich mit Ausnahme der Erde ineinander umwandeln können. Diese vier Elemente bestehen aus vier Arten von regelmäßigen Polyedern, die sich ihrerseits aus zwei Arten von kleinen rechtwinklig-gleichschenkligen Dreiecken – einer Art geometrischer Atome – zusammensetzen. Die Elementardreiecke sind als einfachste geometrische Figuren die Grundbausteine, aus deren unterschiedlichen Kombinationen sich die Vielfalt der materiellen Objekte ergibt, etwa die Aggregatzustände des Wassers oder die Abstufungen des Festen von Erde zu Stein. Mit dieser Kosmologie gehört Platon zusammen mit Demokrit zu den Schöpfern der Vorstellung einer atomaren Struktur der Materie und der Elemente und ist der Begründer eines mathematischen Atomismus. Ein Hauptmerkmal des platonischen Kosmos besteht darin, dass er nicht tot ist, sondern beseelt, lebendig und mit Vernunft ausgestattet, ein ewiges, vollkommenes Wesen. Dies verdankt er der Weltseele, die ihn durchdringt und umhüllt. Die Weltseele ist das Prinzip der Weltbewegung und des Lebens. Nur gelegentlich äußert sich Platon unter pythagoreischem Einfluss konkret zu naturwissenschaftlichen Fragen, wobei er gern die mythische Form der Darbietung wählt. So findet sich im Schlussmythos der Politeia ein Modell für die Planetenbewegungen. In den Bereich der Naturlehre begibt sich Platon auch mit seinem im Timaios unternommenen Versuch, die Seelenteile anatomisch zu verorten. Er lokalisiert den erkennenden Seelenteil an einer Stelle im Kopf, den mutigen Seelenteil an einer Stelle zwischen Hals und Zwerchfell in der Nähe des Herzens und den begehrenden Seelenteil unter der Herrschaft der Leber zwischen Zwerchfell und Nabel. === Ungeschriebene Lehre === Die Dialoge stellen nicht die gesamte Philosophie Platons dar, sondern nur deren zur schriftlichen Verbreitung bestimmten Teil. Dies zeigt insbesondere die gut bezeugte Existenz seines öffentlichen Vortrags Über das Gute, der ein zentrales Thema behandelte, aber niemals schriftlich an die Öffentlichkeit gebracht wurde. Von „ungeschriebenen Lehren“ Platons (ἄγραφα δόγματα ágrapha dógmata) berichtet bereits sein Schüler Aristoteles. Es handelte sich um Lehrstoff, der nur mündlich in der Akademie fortgeschrittenen Schülern vermittelt wurde. Platon hegte eine generelle Skepsis gegenüber der Zweckmäßigkeit eines schriftlichen Diskurses und war der Überzeugung, bestimmte Erkenntnisse über sehr anspruchsvolle Themen seien grundsätzlich nicht zur schriftlichen Darstellung und Verbreitung geeignet, da ein Verständnis dieser Themen eine besondere Qualifikation des Lernenden voraussetze und nur in einer Gesprächssituation erlangt werden könne. Das ist aber nicht im Sinne einer Geheimhaltungsvorschrift oder eines Verbots schriftlicher Aufzeichnung zu verstehen; vielmehr fertigten Schüler in der Akademie Aufzeichnungen an, deren Existenz aus einer Reihe von Angaben antiker Quellen hervorgeht. ==== Forschungsdiskussionen ==== Ein beträchtlicher Teil der heutigen Forschung ist der Auffassung, dass der Gehalt der Lehren, die mündlicher Mitteilung vorbehalten blieben, wesentlich über das in den Dialogen Dargelegte hinausging. Strittig ist, ob Platon den Anspruch erhoben hat, mit seiner ungeschriebenen Lehre im Besitz gesicherter Wahrheit zu sein, ob er also „Dogmatiker“ und erkenntnistheoretischer Optimist war oder nur seinen Schülern Hypothesen zur Diskussion stellte. Jedenfalls ist die ungeschriebene Lehre nicht als starres, doktrinär fixiertes und autoritär verkündetes System zu verstehen. Vielmehr stand sie einer kritischen Prüfung offen. Sehr unterschiedlicher Meinung sind die Philosophiehistoriker über die Frage, ob es sich überhaupt um ein ausgearbeitetes System oder nur um einen Denkansatz handelte. Kontrovers diskutiert wird auch, ob die ungeschriebene Lehre mit Platons sonstiger Philosophie vereinbar ist und ob sie mit ihr zu einem konsistenten Welterklärungsmodell zusammengefügt wurde. Eine andauernde lebhafte Debatte in der Forschung dreht sich um die Frage, ob bzw. inwieweit die ungeschriebene Lehre rekonstruierbar ist und den Kern der platonischen Philosophie bildet. Die Gelehrten der sogenannten „Tübinger Schule“, zu der Hans Joachim Krämer, Konrad Gaiser und Thomas A. Szlezák zählen, bejahen diese Annahmen mit großer Zuversicht, und auch andere Forscher wie Jens Halfwassen haben eingehend dargelegt, warum sie die ungeschriebene Lehre für den wichtigsten Bestandteil von Platons Unterricht halten und sein Gesamtwerk im Licht dieser Einschätzung deuten. Zu den zahlreichen Gelehrten, bei denen das Tübinger Platonbild Zustimmung gefunden hat – wenn auch teilweise mit Abstrichen und Vorbehalten –, zählen Michael Erler, Vittorio Hösle, Detlef Thiel, Rafael Ferber, Herwig Görgemanns, Karl Albert, Heinz Happ, Klaus Oehler, John Niemeyer Findlay, Willy Theiler, Hans-Georg Gadamer und Christina Schefer. Da sich auch der Mailänder Philosophiehistoriker Giovanni Reale nachdrücklich für diese Auffassung ausgesprochen hat und Forscher aus seinem Umfeld dem zustimmten, spricht man heute auch von einer „Tübinger und Mailänder Schule“.Die Gegenposition der Skeptiker, welche die Existenz oder zumindest die philosophische Relevanz und die Rekonstruierbarkeit einer ungeschriebenen Lehre Platons bezweifeln, hat besonders im englischsprachigen Raum Anhänger gefunden. In den USA haben sich Harold Cherniss und Gregory Vlastos als besonders entschiedene Vertreter dieser Richtung profiliert. In der deutschsprachigen Platon-Forschung lehnen unter anderen Theodor Ebert, Dorothea Frede, Andreas Graeser, Ernst Heitsch, Franz von Kutschera, Günther Patzig und Wolfgang Wieland die Positionen der „Tübinger Schule“ ab. ==== Die Urprinzipien ==== In der rekonstruierten ungeschriebenen Lehre geht es um die Rolle des höchsten Prinzips, des absolut transzendenten Einen, das mit der Idee des Guten gleichgesetzt wird, und um die Frage nach seiner Erkennbarkeit und Mitteilbarkeit. Durch die Identifikation des Einen mit dem Guten kommt es zu einer Verbindung von Ontologie und Ethik. Letztlich zielt das Konzept auf eine vereinheitlichte Theorie von allem. Das Eine gilt als die Ursache der gesamten Hierarchie des Seienden, der es selbst nicht angehört, der es vielmehr übergeordnet ist. Da das Eine als oberstes Prinzip von nichts anderem hergeleitet werden kann, ist sein Wesen nur negativ bestimmbar. So wie die Ideenlehre den Bereich des sinnlich Wahrnehmbaren auf die Ideenwelt zurückführt, führt die ungeschriebene Lehre die Vielfalt der Ideen auf zwei einfache Urprinzipien zurück, welche die Existenz der Ideen und damit auch diejenige der Sinnesobjekte erklären sollen. In diesem Modell beruht die ganze Mannigfaltigkeit der erkennbaren Phänomene auf dem Gegensatzverhältnis der beiden Urprinzipien. Daher wird die ungeschriebene Lehre auch Prinzipienlehre oder „Protologie“ (Lehre vom Ersten) genannt. Das erste Prinzip ist das Eine, die Grundvoraussetzung jeder Einheitlichkeit. Es hat seine Entsprechung ontologisch im Sein, formal-logisch in der Identität, Absolutheit und Unteilbarkeit, werthaft in der Tugend und Ordnung, kosmologisch in der Ruhe, Beständigkeit und Unvergänglichkeit, seelisch in der Hinwendung zu den Ideen. Das zweite Prinzip wird als unbestimmte Zweiheit bezeichnet. Es hat seine Entsprechung ontologisch im Nichtsein, formal-logisch in der Verschiedenheit, Relativität und Teilbarkeit, werthaft in der Schlechtigkeit und Unordnung, kosmologisch in der Bewegung, Veränderung und Vergänglichkeit, seelisch in den triebhaften, körpergebundenen Affekten. Das erste Prinzip ermöglicht Begrenzung und damit Bestimmtheit und Geformtheit, das zweite steht für grenzenlose Ausdehnung, Unbestimmtheit und Ungeformtheit. Das Zusammenwirken der beiden Prinzipien ermöglicht die Existenz aller seienden Dinge. Je niedriger etwas ontologisch steht, desto stärker tritt darin die Präsenz des zweiten Prinzips hervor. Wie man sich das Verhältnis der beiden Urprinzipien vorzustellen hat, geht aus den Quellen nicht klar hervor. Sicher ist immerhin, dass dem Einen ein höherer Rang zugewiesen wird als der unbestimmten Zweiheit. Wegen der einzigartigen Rolle des Einen, das als einziges Prinzip absolut transzendent ist, kann die Prinzipienlehre als letztlich monistisches Modell bezeichnet werden. Allerdings hat sie auch einen dualistischen Aspekt, denn auch die unbestimmte Zweiheit wird als unentbehrliches Urprinzip aufgefasst. Aus der fundamentalen Bedeutung beider Urprinzipien ergibt sich eine „bipolare Struktur des Wirklichen“, wobei aber stets zu beachten ist, dass die beiden Pole nicht gleichgewichtig sind. ==== Der erkenntnistheoretische Aspekt ==== Ob Platon einen intuitiven, unmittelbaren Zugang zum höchsten Prinzip für möglich gehalten und für sich selbst in Anspruch genommen hat, ist umstritten, ebenso wie die Frage, ob er überhaupt eine gegenüber der dialektischen Kunst eigenständige Intuition angenommen hat und in welchem Verhältnis die intuitive Erkenntnis gegebenenfalls zum diskursiven Prozess steht. Gegen die Annahme intuitiver Erfassung der Idee des Guten plädieren Forscher wie Peter Stemmer, der eine Beschränkung auf die Dialektik als einzigen Erkenntnisweg annimmt und daher Platon eine tiefe Skepsis hinsichtlich der Möglichkeit, die Idee des Guten mit Wissen zu bestimmen, unterstellt. Ein konsequenter Vertreter der Gegenposition ist Jens Halfwassen. Er führt die neuplatonische Lehre von der intuitiven Betrachtung des Einen und Guten, die eine Selbstaufhebung des dialektischen Denkens voraussetzt, auf Platon selbst zurück und rehabilitiert damit das neuplatonische Platonverständnis. Noch weiter in diese Richtung geht Christina Schefer. Sie trägt Indizien für ihre Ansicht vor, wonach im Zentrum von Platons Denken weder die geschriebene Ideenlehre noch die ungeschriebene Lehre stand, sondern eine „unsagbare“ religiöse Erfahrung, die Theophanie des Gottes Apollon. In dieser Platon-Deutung erhält somit auch die ungeschriebene Lehre den Charakter von etwas Vorläufigem. == Rezeption == Platon beeinflusste mit seinem vielseitigen Werk die gesamte Geschichte der Philosophie bis heute auf mannigfaltige Weise. Vor allem prägte er mit seiner Annahme einer eigenständig existierenden geistigen Wirklichkeit die Entwicklung der Disziplin, die später Metaphysik genannt wurde. Seine tiefe Wirkung auf die Nachwelt war und ist zu einem erheblichen Teil auch seinen stilistischen Fähigkeiten zu verdanken. Der „sokratische Dialog“ als literarische Form ist seine Schöpfung. === Antike === In der Antike galt Platon als Meister des Dialogs. Seine Dialoge wurden mehr geschätzt als die Werke anderer Sokratiker und die für eine breitere Leserschaft bestimmten Schriften seines bekanntesten Schülers Aristoteles, die im Unterschied zu dessen fachwissenschaftlichen Lehrschriften nicht erhalten geblieben sind. ==== Aristoteles ==== Aristoteles hielt auch nach seinem Ausscheiden aus Platons Schule an wesentlichen Teilen des platonischen Gedankenguts fest. Er verwarf aber einige Kernbestandteile des Platonismus, darunter die Annahme eigenständig existierender Ideen, welche zu einer unnötigen Verdopplung der Dinge führe, die Unsterblichkeit der individuellen Seele und den Grundsatz, dass der Mensch nur aus Unwissenheit gegen das Gute handelt (Problem der Akrasia). Nachdrücklich wandte er sich gegen Platons Staatslehre, besonders gegen die in der Politeia vorgetragene Forderung der Gütergemeinschaft. Seine eigene Philosophie entwickelte er in kritischer Auseinandersetzung mit dem Platonismus. Die zum Teil schroffe Kritik des Aristoteles an Auffassungen Platons, seine betonte Distanzierung von manchen Überzeugungen seines Lehrers akzentuiert die Unterschiede zwischen ihnen und lässt die ebenfalls vorhandenen gewichtigen Übereinstimmungen in den Hintergrund treten. Der Gegensatz zwischen Platonismus und Aristotelismus zieht sich durch die Philosophiegeschichte, wobei teils Vermittlungsversuche unternommen wurden, teils Platoniker und Aristoteliker auf klare, mitunter scharfe und polemische Abgrenzung ihrer Positionen Wert legten. ==== Akademie ==== Der institutionelle Träger der Philosophie Platons war zunächst die Platonische Akademie, die mit ihren Nachfolgegründungen in Athen fast ein Jahrtausend lang bestand, allerdings mit langen Unterbrechungen. In der römischen Kaiserzeit waren Alexandria und Rom neben Athen die wichtigsten Zentren des Platonismus; die Schulen außerhalb Athens trugen aber nie die Bezeichnung „Akademie“. Ob die Ausarbeitung der Gedanken Platons zu einem abgeschlossenen System der philosophischen Welterklärung bereits von ihm selbst in der sogenannten ungeschriebenen Lehre vorangetrieben wurde oder erst nach seinem Tod einsetzte, wird kontrovers diskutiert. Die Tübinger Schule und die an sie anknüpfende Forschung geht davon aus, dass die Systembildung bereits von Platon selbst vorgegeben war. Die Gegenposition vertraten besonders Gregory Vlastos sowie im deutschsprachigen Raum Kurt von Fritz, Peter Stemmer und Jürgen Mittelstraß. Ihrer Ansicht zufolge entwickelten erst Platons Nachfolger in der „Alten Akademie“, die bis 268/264 v. Chr. bestand, eine systematische Lehre. In der anschließend von Arkesilaos von Pitane begründeten „Jüngeren Akademie“ (auch „Mittlere Akademie“ genannt) kam es zu einem Kurswechsel. Unter Berufung auf die Sokratische Aporetik folgte man einer skeptischen Grundrichtung in der Erkenntnistheorie und bestritt die Erreichbarkeit sicheren Wissens. Die Wirren des Ersten Mithridatischen Krieges, in dem die Römer 86 v. Chr. Athen eroberten, setzten dem Unterricht in der Akademie ein Ende. ==== Mittelplatonismus ==== Antiochos von Askalon unternahm einen Neuanfang mit betonter Abkehr von der skeptischen Haltung, die er für unplatonisch hielt. Er gründete eine neue Schule, die er im Sinne einer Rückkehr zum ursprünglichen Konzept Platons „Alte Akademie“ nannte. Zu seinen Schülern gehörte Cicero, der sich 79 v. Chr. in Athen aufhielt. Damit begann die Zeit des Mittelplatonismus, dessen Vertreter sich insbesondere mit theologischen und kosmologischen Fragen auseinandersetzten. Die Mittelplatoniker griffen zum Teil stoische und aristotelische Ideen auf, die nach ihrer Ansicht mit der Lehre Platons übereinstimmten. Daneben gab es aber auch eine von Numenios vertretene Richtung, die zur ursprünglichen Lehre Platons zurückkehren und den Platonismus von stoischen und aristotelischen „Irrlehren“ reinigen wollte. ==== Neuplatonismus ==== Um die Mitte des 3. Jahrhunderts entstand der Neuplatonismus. Dieser moderne, erst im 19. Jahrhundert geprägte Begriff bezeichnet eine Richtung, die besonders die metaphysischen und religiösen Aspekte der platonischen Tradition betonte und detaillierte Modelle einer hierarchisch gestuften Weltordnung entwarf. Diese Strömung spielte in der Philosophie der Spätantike eine dominierende Rolle. Als Begründer des Neuplatonismus gilt – zusammen mit seinem Lehrer Ammonios Sakkas – Plotin, der in Rom eine Schule gründete. Plotin betrachtete sich aber nicht als Neuerer, sondern wollte nur ein getreuer Ausleger der Lehre Platons sein. Sein prominentester Schüler war Porphyrios, der in einer Kampfschrift den religiösen Platonismus gegen das erstarkende Christentum verteidigte. Ein Schüler des Porphyrios, Iamblichos von Chalkis, verfeinerte das System, wobei er manche Ansichten Plotins und Porphyrios' verwarf. Er übte einen bestimmenden Einfluss auf die um 410 gegründete neuplatonische Schule von Athen aus, die nach langer Unterbrechung die dortige Tradition der Akademie erneuerte. Daneben war auch Alexandria, wo Plotin studiert hatte, ein bedeutendes Zentrum des spätantiken Neuplatonismus. Diese letzte Blüte des Neuplatonismus dauerte bis ins frühe 6. Jahrhundert. Unter den späten Neuplatonikern hatte Proklos die stärkste Nachwirkung; prominente Philosophen aus der Schule von Athen waren ferner Damaskios und Simplikios. Die Platoniker in den Philosophenschulen von Rom, Athen und Alexandria waren fast alle scharfe Gegner des Christentums, das sie für unvereinbar mit der Lehre Platons hielten. In der letzten Phase ihrer Existenz war die neuplatonische Schule von Athen der wichtigste Hort des geistigen Widerstands gegen das Christentum; daher ordnete Kaiser Justinian I. im Jahre 529 ihre Schließung an. ==== Kirchenväter ==== Konzepte Platons und seiner Schule flossen in der Epoche der spätantiken Patristik über die Kirchenväter in die christliche Philosophie ein, meistens ohne Hinweis auf ihre Herkunft. Prominente griechischsprachige Kirchenschriftsteller wie Clemens von Alexandria, Origenes, Basilius der Große und Gregor von Nyssa griffen in ihren theologischen Werken auf die platonische Gedankenwelt und Terminologie zurück. Bei den lateinischsprachigen Kirchenvätern, die meist über keine unmittelbare Kenntnis der Dialoge verfügten, dominierte eine negative Grundhaltung, die von einer tiefen Verachtung aller nichtchristlichen Philosophie gespeist war. Im Osten wie im Westen des Reichs war die Meinung verbreitet, dass Platon zwar der beste unter den vorchristlichen Philosophen sei, aber alle heidnischen Bemühungen um Wissen und Weisheit irregeleitet und verderblich seien oder bestenfalls eine mangelhafte, überholte Vorstufe wahrer christlicher Erkenntnis darstellten. Eine Sonderstellung nahm allerdings Augustinus von Hippo, der langfristig einflussreichste Kirchenvater des Westens, hinsichtlich der Platon-Rezeption ein. Er setzte sich intensiv mit Platon und neuplatonischer Philosophie auseinander, erhielt dabei wesentliche Anregungen und drückte seine Wertschätzung für einzelne platonische Lehren aus. Eingehend beschrieb er aber auch die gewichtigen Unterschiede zwischen seiner christlichen Position und derjenigen Platons. === Mittelalter === Im Frühmittelalter und bis um die Mitte des 12. Jahrhunderts war in der lateinischsprachigen Gelehrtenwelt West- und Mitteleuropas von den Werken Platons ausschließlich der Timaios in den unvollständigen lateinischen Übersetzungen von Calcidius und Marcus Tullius Cicero bekannt; er war nur in wenigen Handschriften verbreitet. Dennoch wirkten platonische Einflüsse auf indirektem Weg stark auf das Geistesleben ein, da neben Augustinus auch weitere damals populäre antike Schriftsteller wie Macrobius Ambrosius Theodosius, Martianus Capella und vor allem Boethius platonisches Gedankengut vermittelten. Als angeblicher Schüler des Apostels Paulus stand Pseudo-Dionysius Areopagita, ein sehr stark neuplatonisch beeinflusster Kirchenschriftsteller des frühen 6. Jahrhunderts, in hohem Ansehen. Er trug maßgeblich zur platonischen Prägung der mittelalterlichen Theologie bei. Besonders tief von den Werken des Pseudo-Dionysios geprägt war die Philosophie des irischen Denkers Johannes Scottus Eriugena, der im 9. Jahrhundert lebte und einen so konsequenten Neuplatonismus vertrat, dass sein Werk deswegen kirchlich verurteilt wurde. Einen markanten Aufschwung erlebte der vom Timaios ausgehende mittelalterliche Platonismus im 12. Jahrhundert durch die „Schule von Chartres“. Dabei handelte es sich um einen Kreis von mehr oder weniger stark platonischem Denken verpflichteten Philosophen und Theologen in Chartres, den der dort lehrende berühmte Philosoph Bernhard von Chartres († nach 1124) ins Leben gerufen hatte. Bernhard galt als der bedeutendste Platoniker seiner Epoche. Zu seinen Schülern gehörten Wilhelm von Conches und Gilbert von Poitiers. Weitere prominente Vertreter dieser Richtung waren Thierry von Chartres und Bernardus Silvestris. Die Platoniker in Chartres setzten sich eingehend mit den Übereinstimmungen und Unterschieden zwischen der Kosmologie des Timaios und der christlichen Schöpfungslehre auseinander und bemühten sich um eine Harmonisierung. Ein anderes Schwerpunktthema war der platonische Schönheitsbegriff. Als mit der Übersetzungsbewegung des 12. und 13. Jahrhunderts die Werke des Aristoteles zunehmend in lateinischer Übersetzung Verbreitung fanden und zur Grundlage der scholastischen Wissenschaft wurden, führte dies zu einem Siegeszug des Aristotelismus und zur Zurückdrängung des Platonismus, der jedoch weiterhin – vor allem in neuplatonischer Gestalt – präsent blieb. Schon im Hochmittelalter und vor allem im Spätmittelalter lebte der antike Gegensatz zwischen Platonismus und Aristotelismus erneut auf. Er lag der Problemstellung des mittelalterlichen Universalienstreits zugrunde. Verwirrung schuf dabei der Umstand, dass die sehr einflussreiche neuplatonische Schrift Liber de causis („Buch der Ursachen“) irrtümlich als Werk des Aristoteles galt. Im späten 13. und im 14. Jahrhundert dominierte an den Universitäten weiterhin der Aristotelismus, doch traten außerhalb des Universitätsbetriebs unter den Ordensgelehrten auch neuplatonisch gesinnte Denker wie Dietrich von Freiberg, Meister Eckhart und Berthold von Moosburg hervor. Zu dieser neuplatonischen Strömung gehörte im 15. Jahrhundert auch Nikolaus von Kues. Im Byzantinischen Reich hielt der Gelehrte Stephanos von Alexandria im 7. Jahrhundert in Konstantinopel Vorlesungen über Themen der platonischen Philosophie; ansonsten fand aber zwischen der Schließung der Akademie im 6. Jahrhundert und der Mitte des 11. Jahrhunderts keine vertiefte Auseinandersetzung mit Platon statt. Allerdings machte sich neuplatonischer Einfluss über die Lehren des Pseudo-Dionysius Areopagita geltend, beispielsweise im Bilderstreit, in dem sich die letztlich siegreichen Anhänger der Bilderverehrung eine neuplatonische Argumentationsweise zunutze machten. Eine Wiederbelebung der Platonstudien verdankte Byzanz dem bedeutenden Gelehrten und Staatsmann Michael Psellos († nach 1077), der wegen seiner Vorliebe für den Platonismus sogar in den Verdacht mangelnder Rechtgläubigkeit geriet.Auch in der arabischsprachigen Welt des Mittelalters wurde Platon rezipiert. Im 9. Jahrhundert wurden in der Übersetzerschule des Nestorianers Hunain ibn Ishāq in Bagdad mehrere Dialoge ins Arabische übersetzt (Politeia, Nomoi, Timaios, Sophistes). Muslimische Philosophen wie al-Fārābī im 10. Jahrhundert und Avicenna im 11. Jahrhundert setzten sich mit dem Neuplatonismus auseinander. Die Werke des Universalgelehrten Avicenna wirkten in lateinischer Übersetzung auf die abendländische Philosophie ein, die damit indirekt einem zusätzlichen platonischen Einfluss ausgesetzt war. === Frühe Neuzeit === Die „Wiedergeburt“ der antiken Bildung und die „Rückkehr zu den Quellen“ im Renaissance-Humanismus wirkte sich auch auf die Platon-Rezeption aus. Im 15. Jahrhundert wurden die bisher größtenteils im Westen unbekannten Dialoge Platons und Werke von Neuplatonikern in griechischen Handschriften entdeckt, ins Lateinische übersetzt und kommentiert. Aus dem untergehenden Byzantinischen Reich gelangten zahlreiche kostbare Klassiker-Handschriften nach Italien. Die Kenntnis der Originalwerke Platons führte aber nicht zu einer Distanzierung vom Neuplatonismus, vielmehr orientierte sich die Platon-Interpretation der Humanisten an der immer noch lebendigen neuplatonischen christlichen Tradition, zumal deren Vertreter sich auf die Autorität der neuplatonisch geprägten Kirchenväter berufen konnten. Der Gegensatz zwischen Platon und Aristoteles bildete weiterhin ein Problem, das in der Streitfrage nach dem Vorrang des einen oder des anderen artikuliert wurde. Teils ergriffen die Humanisten für Platon oder für Aristoteles Partei, teils nahmen sie vermittelnde Positionen ein. Platons Werke waren weit besser als diejenigen des Aristoteles geeignet, den ausgeprägten Sinn der Humanisten für literarische Ästhetik anzusprechen; zudem war die von den Humanisten verachtete scholastische Wissenschaft aristotelisch. Der wohl konsequenteste Platoniker unter den Humanisten war der byzantinische Gelehrte Georgios Gemistos Plethon, der sich zeitweilig in Italien aufhielt und die dortigen Humanisten beeindruckte. Er folgte der platonischen Lehre so radikal, dass er sogar in religiöser Hinsicht die Konsequenz zog, sich vom Christentum loszusagen und zur Religion der antiken Platoniker zu bekennen. In der 1439 in Florenz verfassten Abhandlung Über die Unterschiede zwischen Aristoteles und Platon, einer Kampfschrift, verteidigte er die Lehren Platons gegen die Kritik des Aristoteles.Der berühmte Florentiner Humanist und Platon-Übersetzer Marsilio Ficino bemühte sich um eine Erneuerung des Platonismus auf neuplatonischer Grundlage, wobei er besonders von Plotin ausging. Allerdings gab es, wie neuere Forschung gezeigt hat, in Florenz keine „Platonische Akademie“ als feste Einrichtung, sondern nur einen lockeren Kreis von mehr oder weniger platonisch gesinnten Humanisten ohne institutionellen Rahmen. Im 17. Jahrhundert bildete sich in Cambridge der Kreis der „Cambridger Platoniker“, zu dem Ralph Cudworth und Henry More gehörten. Diese Philosophen erstrebten eine Harmonisierung von Religion und Naturwissenschaft, wofür ihnen der Neuplatonismus eine geeignete Grundlage zu bieten schien. Im Zeitalter der Aufklärung dominierte die Auffassung, Platons Philosophie sei überholt, ein Irrweg und nur noch von historischem Interesse. Vor allem seiner Metaphysik wurde in weiten Kreisen ein Realitätsbezug abgesprochen. Besonders entschieden wandte sich Voltaire gegen die platonische Ontologie, gegen die Ideenlehre und gegen die im Timaios dargelegte kosmologische Denkweise. In der kurzen satirischen Erzählung Songe de Platon verspottete er Platons Vorstellung von der Weltschöpfung und charakterisierte ihn als Träumer. Anklang fanden im 18. Jahrhundert allerdings Platons Ästhetik und sein Liebesbegriff (beispielsweise bei Frans Hemsterhuis und Johann Joachim Winckelmann), was sich in einer Bevorzugung der einschlägigen Dialoge (Symposion, Phaidros) zeigte. === Moderne === Die Aspekte, die in der Moderne in den Vordergrund traten, waren zum einen die Suche nach dem historischen Platon in der klassischen Altertumswissenschaft, zum anderen die Frage nach der Möglichkeit einer fortdauernden Aktualität seines Denkens unter den Bedingungen modernen Philosophierens. ==== Altertumswissenschaftliche Forschung ==== Im englischen Sprachraum trug der einflussreiche Gelehrte Thomas Taylor (1758–1835) durch seine Platon-Übersetzungen, die lange nachwirkten, maßgeblich zur Verbreitung eines stark von der traditionellen neuplatonischen Perspektive geprägten Platon-Bildes bei. Er knüpfte auch persönlich an die religiösen Auffassungen der antiken Neuplatoniker an. Zur selben Zeit setzte in der deutschen Altertumsforschung eine entgegengesetzte Entwicklung ein; man bemühte sich um die Herausarbeitung der historischen Gestalt Platons und um eine genaue Abgrenzung seines authentischen Denkens von allen späteren Deutungen und Systematisierungsbestrebungen der Platonischen Akademie und der Neuplatoniker. Friedrich August Wolf (1759–1824) edierte einzelne Dialoge, sein Schüler Immanuel Bekker (1785–1871) veröffentlichte 1816–1823 eine kritische Gesamtausgabe der Werke – die erste seit 1602. Eine außerordentlich große und nachhaltige Wirkung erzielten die deutschen Übersetzungen der meisten Werke Platons, die der Theologe und Philosoph Friedrich Schleiermacher ab 1804 publizierte. Schleiermacher war der Überzeugung, Platon habe seine Schriften nach einem vorgefassten Plan in einer festgelegten Reihenfolge ausgearbeitet, jeder Dialog baue auf dem vorhergehenden auf und sie stellten ein zusammenhängendes Ganzes dar. Es gebe keine ungeschriebene Lehre, die über die schriftlich fixierte Philosophie Platons hinausreiche. Schleiermacher gehörte mit seinem Freund, dem Frühromantiker Friedrich Schlegel, zu den führenden Vertretern der damals starken Strömung, welche die Bestrebungen, ein hinter den Dialogen stehendes philosophisches System Platons zu erschließen, kritisierte und die Auslegung dem Leser überließ. Statt der Frage nach einem Lehrgebäude nachzugehen, betonte man den dialogischen Charakter des platonischen Philosophierens. Für Schleiermacher sind Dialogform und Inhalt unzertrennlich, die Form ergibt sich aus Platons Überzeugung, dass das Erfassen eines fremden Gedankens eine Eigenleistung der Seele sei; daher müsse man die Dialoge als dazu konzipiert verstehen, den Leser zu dieser Tätigkeit zu bewegen. In seiner Dialogtheorie ging Schleiermacher von einer didaktischen Absicht Platons aus, die der Anordnung des Dialogwerks zugrunde liege. Ihm ging es nicht um eine Spiegelung von Platons eigener Entwicklung in der chronologischen Aufeinanderfolge seiner Werke. Erst Karl Friedrich Hermann trug 1839 in Auseinandersetzung mit Schleiermacher den Entwicklungsgedanken vor. Er gliederte die philosophische Entwicklung Platons in Phasen, denen er die Dialoge zuordnete. 1919 veröffentlichte der klassische Philologe Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff seine umfangreiche Platon-Biographie, in der er den Lebensgang herausarbeitete und die Werke aus philologischer Sicht würdigte. Dort befasste er sich auch mit der Frage nach der von manchen Gelehrten bezweifelten Echtheit eines Teils der Platon zugeschriebenen Schriften, die bereits im 19. Jahrhundert lebhaft diskutiert worden war. Im 20. Jahrhundert gelang es den Forschern, hinsichtlich der meisten Werke Konsens zu erzielen und die ausufernde Authentizitätsdebatte auf einige wenige Dialoge und Briefe zu begrenzen. In der zweiten Jahrhunderthälfte gewann die Beschäftigung mit der ungeschriebenen Prinzipienlehre, der man zuvor meist mit großer Skepsis begegnet war, stark an Bedeutung. Fragen nach ihrer Relevanz und Rekonstruierbarkeit gehörten zu den intensiv und kontrovers diskutierten Themen der Platonforschung, ein Konsens ist nicht erreicht worden. ==== Rezeption Platons als Philosoph und Schriftsteller ==== Für Georg Wilhelm Friedrich Hegel standen die späten Dialoge (Parmenides, Sophistes, Philebos) im Vordergrund. Sie interessierten ihn unter dem Gesichtspunkt der Dialektik, denn er betrachtete die Dialektik Platons als Vorläufer seines eigenen Systems. Stärker von Platon und vom Neuplatonismus beeinflusst war Schelling. Er griff auf Begriffe wie den der Weltseele zurück, wobei er deren Bedeutung abwandelte. Die im 19. und frühen 20. Jahrhundert weit verbreitete Verehrung Platons bezog sich auch auf seinen Stil. Man las die Dialoge als literarische Kunstwerke und pries die Übereinstimmung von literarischer Form und philosophischem Inhalt. Neben der Schönheits- fand die Liebesthematik, die schon in der Platon-Rezeption Friedrich Hölderlins eine wichtige Rolle spielte, besondere Beachtung. Zu den Platonikern zählte auch der Dichter Percy Bysshe Shelley. Doch nicht nur Dichter und Romantiker, sondern auch Philologen begeisterten sich für den Schriftsteller Platon. So meinte Wilamowitz-Moellendorff, dass Platons gelungenste Dialoge „[…] an echtem Kunstwerte die vollkommenste Prosadichtung heute noch sind, also wohl bis zum jüngsten Tage bleiben werden. Ihr Stil war gewissermaßen gar kein Stil, denn er war immer wieder anders. Es ließ sich alles in ihm sagen, was ein Hirn denken und ein Herz fühlen kann, und es ließ sich in jeder Tonart sagen, tragisch und komisch, pathetisch und ironisch.“Wilamowitz bewunderte sowohl die schriftstellerische als auch die philosophische Leistung Platons. Sein Zeitgenosse und Gegner Friedrich Nietzsche hingegen übte vernichtende Kritik an beidem: „Plato wirft, wie mir scheint, alle Formen des Stils durcheinander, er ist damit ein erster décadent des Stils: er hat etwas Ähnliches auf dem Gewissen, wie die Cyniker, die die satura Menippea erfanden. Dass der Platonische Dialog, diese entsetzlich selbstgefällige und kindliche Art Dialektik, als Reiz wirken könne, dazu muss man nie gute Franzosen gelesen haben, – Fontenelle zum Beispiel. Plato ist langweilig. – Zuletzt geht mein Misstrauen bei Plato in die Tiefe: ich finde ihn so abgeirrt von allen Grundinstinkten der Hellenen, so vermoralisirt, so präexistent-christlich – er hat bereits den Begriff „gut“ als obersten Begriff –, dass ich von dem ganzen Phänomen Plato eher das harte Wort „höherer Schwindel“ oder, wenn man's lieber hört, Idealismus – als irgend ein andres gebrauchen möchte.“Der platonische Sokrates ist für Nietzsche ein Vertreter der „Sklaven- und Herdenmoral“ und als solcher ein Verneiner des „Lebensprinzips“, der sich dem Willen zur Macht widersetzt. Während Platon das überlegene Individuum in den Dienst des Staates stellt, tritt Nietzsche für eine umgekehrte Rangordnung ein. Nietzsche verurteilt Platons Abwendung von der Welt der Sinne, die er als Flucht in das Reich der Ideen deutet. Aus seiner Sicht entspringen die Erkenntnisfähigkeiten des Menschen keiner höheren geistigen Sphäre, sondern sind lediglich Werkzeuge des blinden Willens, der sie verwendet, um sich die Welt anzueignen. Daher benutzt er Platons Terminologie ironisch, um die hierarchische Wertordnung des Platonismus umzukehren: „Meine Philosophie umgedrehter Platonismus: je weiter ab vom wahrhaft Seienden, um so reiner schöner besser ist es. Das Leben im Schein als Ziel.“Während bei Platon die Philosophie über der Kunst steht, weil sie sich unmittelbar mit den Ideen beschäftige, steht für Nietzsche die Kunst über der Philosophie, weil sich nur im künstlerischen Zugang zur Welt der alles antreibende Wille erschließe. Nur im „künstlerischen Schein“ lasse sich der Wille einfangen. Wollte Nietzsche sich durch diese radikale Umwertung vom Platonismus befreien, so bleibt er für Martin Heidegger dennoch im Denkhorizont einer platonischen, die Welt in Sinnliches und Geistiges spaltenden Tradition, die zu überwinden sei. In Platons metaphysischer Annahme, dass Sinnliches und Geistiges getrennten Seinsbereichen angehören und zwischen ihnen eine hierarchische Ordnung besteht, sieht Heidegger den Anfang eines Verfallsprozesses der abendländischen Philosophiegeschichte, der mit Nietzsche einen letzten Höhepunkt erreicht habe. Wie Platon versuche auch Nietzsche alles Seiende auf ein einziges wahrhaft Seiendes zurückzuführen, nämlich den blinden Willen zur Macht. Heidegger resümiert: „[…] demzufolge bezeichnet Nietzsche seine eigene Philosophie als umgekehrten Platonismus. Weil Platonismus, ist auch Nietzsches Philosophie Metaphysik.“In der „Marburger Schule“ des Neukantianismus wurde eine Neuinterpretation der Ideenlehre unternommen, deren Hauptvertreter Paul Natorp war. Natorp versuchte die platonische Philosophie mit der kantischen in Einklang zu bringen. Nach seiner Deutung sind die platonischen Ideen als Regeln, Gesetze, Hypothesen oder Methoden des Denkens zu verstehen.Eine radikale Gegenposition zur betonten Abwendung vieler moderner Denker vom Platonismus vertrat der russische Religionsphilosoph Wladimir Sergejewitsch Solowjow († 1900), der Platon studierte und ins Russische übersetzte. Er war stark von platonischer Metaphysik beeinflusst. Besonders beeindruckte ihn Platons Idee eines sich der Gottheit nähernden, vergöttlichten Menschen. Auch sonst fand Platons Gedankengut bei einzelnen osteuropäischen Philosophen Anklang. Zu ihnen gehörte vor allem Tomáš Garrigue Masaryk (1850–1937), der Gründer der Tschechoslowakei. Da praktisch alle Themen, die in der Philosophiegeschichte eine Rolle spielen, bereits bei Platon zu finden sind, bemerkte der britische Philosoph und Mathematiker Alfred North Whitehead 1929 pointiert, die europäische philosophische Tradition bestehe aus einer Reihe von Fußnoten zu Platon.Während des Zweiten Weltkriegs verfasste Karl Popper, der Begründer des Kritischen Rationalismus, unter dem Eindruck der damaligen politischen Verhältnisse eine fundamentale Kritik an Platons Staatstheorie. Er sah den platonischen Idealstaat als Gegenmodell zu einer demokratischen, offenen Gesellschaft, deren Vorkämpfer Perikles gewesen sei, und behauptete, Platon habe die Lehren des Sokrates pervertiert und ins Gegenteil verkehrt. Platon habe die Suche nach einer überlegenen Staatsordnung auf die Machtfrage reduziert, statt nach Institutionen zu fragen, die Herrschaft begrenzen und dem Machtmissbrauch vorbeugen können. Mit seinem Konzept eines kleinen, statischen, abgeschlossenen Ständestaats sei er ein Vorläufer des modernen Totalitarismus und Feind des Individualismus und der Humanität. Außerdem wandte sich Popper gegen den unwandelbaren Charakter der platonischen Idee des Guten. Seine Streitschrift löste eine lebhafte Debatte aus.In vielen modernen Kontexten wird der Begriff „Platonismus“ für einen wie auch immer gearteten metaphysischen Realismus von Begriffen bzw. Universalien verwendet, da diese „realistischen“ Positionen („Universalienrealismus“) eine mehr oder weniger entfernte Ähnlichkeit mit Platons Ideenlehre aufweisen, die als ein Hauptbestandteil seiner Philosophie bekannt ist. == Gesamtausgaben und Übersetzungen == Die Werke Platons werden noch heute nach den Seiten- und Abschnittzahlen der dreibändigen Ausgabe von Henricus Stephanus (Genf 1578), der sogenannten Stephanus-Paginierung, zitiert (für einen eindeutigen Nachweis ist der Werktitel erforderlich, da die Bände der Stephanus-Ausgabe eine je eigene, also keine durchlaufende Seitenzählung aufweisen). Gesamtausgaben ohne Übersetzung John Burnet (Hrsg.): Platonis opera. 5 Bände, Oxford University Press, Oxford 1900–1907 (kritische Ausgabe; mehrfach nachgedruckt). Platonis opera. Oxford University Press, Oxford 1995 ff. (maßgebliche kritische Edition; ersetzt die Ausgabe von Burnet, aber bisher nur Band 1 erschienen) Band 1, hrsg. von Elizabeth A. Duke u. a., 1995, ISBN 0-19-814569-1.Übersetzungen (deutsch) Friedrich Schleiermachers Übersetzung, die zwischen 1804 und 1828 (3. Auflage 1855) in Berlin erschien, ist auch heute noch im deutschsprachigen Raum verbreitet und wird – teilweise in etwas umgestalteter Form – nachgedruckt. Otto Apelt (Hrsg.): Platon: Sämtliche Dialoge. 7 Bände, Meiner, Hamburg 2004, ISBN 3-7873-1156-4 (ohne griechische Texte; Nachdruck der Ausgabe Leipzig 1922–1923). Gunther Eigler (Hrsg.): Platon: Werke in acht Bänden. 6., unveränderte Auflage. Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 2010 (1. Auflage 1970–1983), ISBN 978-3-534-24059-3 (kritische Ausgabe der griechischen Texte; leicht bearbeitete Übersetzungen von Schleiermacher). Platon: Jubiläumsausgabe sämtlicher Werke, eingeleitet von Olof Gigon, übertragen von Rudolf Rufener, 8 Bände, Artemis, Zürich/München 1974, ISBN 3-7608-3640-2 (ohne griechische Texte). Ernst Heitsch, Carl Werner Müller, Kurt Sier (Hrsg.): Platon: Werke. Übersetzung und Kommentar. Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen ab 1993 (ohne griechische Texte; verschiedene Übersetzer). Helmut von den Steinen: Platonica I. Kleitophon, Theages. Eine Einführung bei Sokrates. Herausgegeben von Torsten Israel. Queich-Verlag, Germersheim 2012, ISBN 978-3-939207-12-2.Übersetzungen (lateinisch, mittelalterlich) Plato Latinus, hrsg. Raymond Klibansky, 4 Bände, London 1940–1962 (Band 1: Meno, interprete Henrico Aristippo; Band 2: Phaedo, interprete Henrico Aristippo; Band 3: Parmenides … nec non Procli commentarium in Parmenidem, interprete Guillelmo de Moerbeka; Band 4: Timaeus a Calcidio translatus commentarioque instructus). == Literatur == Handbücher Luc Brisson u. a.: Platon. In: Richard Goulet (Hrsg.): Dictionnaire des philosophes antiques. Band 5, Teil 1, CNRS Éditions, Paris 2012, ISBN 978-2-271-07335-8, S. 630–863 (Forschungsübersicht). Michael Erler: Platon (= Grundriss der Geschichte der Philosophie. Die Philosophie der Antike, hrsg. von Hellmut Flashar, Band 2/2). Schwabe, Basel 2007, ISBN 978-3-7965-2237-6 (umfassende Darstellung mit umfangreicher Bibliographie). Michael Erler: Platon. In: Bernhard Zimmermann, Antonios Rengakos: Die Literatur der klassischen und hellenistischen Zeit (= Handbuch der griechischen Literatur der Antike, Band 2 = Handbuch der Altertumswissenschaft, Abteilung 7, Band 2). Beck, München 2014, ISBN 978-3-406-61818-5, S. 311–347. Christoph Horn, Jörn Müller, Joachim Söder (Hrsg.): Platon-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung. Metzler, Stuttgart 2009, ISBN 978-3-476-02193-9.Biographisches und Historisches Debra Nails: The people of Plato. A prosopography of Plato and other Socratics. Hackett, Indianapolis 2002, ISBN 0-87220-564-9. Alice Swift Riginos: Platonica. The Anecdotes concerning the Life and Writings of Plato. Brill, Leiden 1976, ISBN 90-04-04565-1. Kai Trampedach: Platon, die Akademie und die zeitgenössische Politik (= Hermes Einzelschriften. Heft 66). Franz Steiner, Stuttgart 1994, ISBN 3-515-06453-2.Einführungen und Allgemeines Gernot Böhme: Platons theoretische Philosophie. Metzler, Stuttgart 2000, ISBN 3-476-01765-6 (systematische Darstellung der Philosophie mit besonderer Berücksichtigung wissenschaftsgeschichtlicher Aspekte; Grundkenntnisse werden vorausgesetzt). Michael Bordt: Platon. Herder, Freiburg im Breisgau 1999, ISBN 3-451-04761-6 (Einführung, auch für Leser ohne Vorkenntnisse geeignet). Karl Bormann: Platon. 4. Auflage. Alber, Freiburg im Breisgau 2003, ISBN 3-495-48094-3 (Einführung in die Ideenlehre, Seelenlehre und Staatslehre). Michael Erler: Platon. Beck, München 2006, ISBN 3-406-54110-0 (auch für fachfremde Leser geeignete Einführung). Herwig Görgemanns: Platon. Winter, Heidelberg 1994, ISBN 3-8253-0203-2 (Einleitung mit besonderer Berücksichtigung philologischer Aspekte). Franz von Kutschera: Platons Philosophie. 3 Bände, Mentis, Paderborn 2002, ISBN 3-89785-277-2 (Gesamtdarstellung aus philosophischer Perspektive; Kenntnis von Platons Werken wird vorausgesetzt). Uwe Neumann: Platon. Rowohlt, Reinbek 2001, ISBN 3-499-50533-9 (Einführung für Leser ohne Vorkenntnisse). Georg Römpp: Platon. Böhlau, Köln u. a. 2008, ISBN 978-3-8252-3007-4 (Überblick über einige zentrale Themen). Thomas Alexander Szlezák: Platon lesen. Frommann-Holzboog, Stuttgart-Bad Cannstatt 1993, ISBN 3-7728-1577-4 (Anleitung zum Umgang mit Werken Platons; keine systematische Darstellung der Philosophie). Thomas Alexander Szlezák: Platon: Meisterdenker der Antike. C.H. Beck, München 2021, ISBN 978-3-406-76526-1. Barbara Zehnpfennig: Platon zur Einführung. 4., ergänzte Auflage. Junius, Hamburg 2011, ISBN 978-3-88506-348-3 (Überblick über das Gesamtwerk für Leser ohne Vorkenntnisse).Schriftlichkeit, ungeschriebene Lehre Konrad Gaiser: Platons ungeschriebene Lehre. 3. Auflage. 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Philologische Untersuchungen über thymetisches Denken und Handeln in den platonischen Dialogen (= Europäische Hochschulschriften. Band 95). Lang, Frankfurt am Main 2008, ISBN 978-3-631-53520-2 (überarbeitete Fassung einer Dissertation von 2003). Clemens Kauffmann: Ontologie und Handlung. Untersuchungen zu Platons Handlungstheorie. Alber, Freiburg im Breisgau 1993, ISBN 3-495-47758-6.Erkenntnistheorie und Kosmologie Theodor Ebert: Meinung und Wissen in der Philosophie Platons. De Gruyter, Berlin 1974, ISBN 3-11-004787-X. Andrew Gregory: Plato’s Philosophy of Science. Duckworth, London 2000, ISBN 0-7156-2987-5. Filip Karfik: Die Beseelung des Kosmos. Untersuchungen zur Kosmologie, Seelenlehre und Theologie in Platons Phaidon und Timaios. Saur, München 2004, ISBN 3-598-77811-2. Richard D. Mohr: The Platonic Cosmology. Brill, Leiden 1985, ISBN 90-04-07232-2.Das Gute Marcel van Ackeren: Das Wissen vom Guten. Bedeutung und Kontinuität des Tugendwissens in den Dialogen Platons. 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(Übersetzungen von Schleiermacher, Franz Susemihl und anderen) Platon im Internet Archive Übersetzungen aller Dialoge von Schleiermacher, Franz Susemihl und anderen, stellenweise bearbeitet Werke von Platon im Gesamtkatalog der WiegendruckeLiteratur Literatur von und über Platon im Katalog der Deutschen Nationalbibliothek Stanford Encyclopedia of Philosophy: Richard Kraut: Plato. 2017 (stanford.edu). Dorothea Frede: Plato’s Ethics: An Overview. 2017 (stanford.edu). Allan Silverman: Plato’s Middle Period Metaphysics and Epistemology. 2014 (stanford.edu). Charles Griswold: Plato on Rhetoric and Poetry. 2020 (stanford.edu). Nickolas Pappas: Plato’s Aesthetics. 2020 (stanford.edu). C. D. C. Reeve: Plato on Friendship and Eros. 2016 (stanford.edu). Chris Bobonich: Plato on utopia. 2020 (stanford.edu). Internet Encyclopedia of Philosophy: W. J. Korab-Karpowicz: Plato: Political Philosophy. (utm.edu). Richard McDonough: Plato: Organicism. (utm.edu). Bibliographien Luc Brisson, Frédéric Plin: Bibliographien zur Forschungsliteratur aus den Jahren seit 2000Gelehrtengesellschaft International Plato Society (gegründet 1989; veranstaltet alle drei Jahre ein internationales Symposium Platonicum) == Anmerkungen ==
https://de.wikipedia.org/wiki/Platon
Hongkong
= Hongkong = Hongkong, Abkürzung: HK (chinesisch 香港, Pinyin Xiānggǎng, Jyutping Hoeng1gong2, Yale Hēunggóng, englisch Hong Kong – „Duftender Hafen“, Abk.: 港), ist eine Metropole und Sonderverwaltungszone (englisch Special Administrative Region, kurz: SAR) an der Südküste der Volksrepublik China im Mündungsgebiet des Perlflusses. Mit über sieben Millionen Einwohnern auf 1106 Quadratkilometern und einem bedeutenden Wirtschafts- und Finanzsektor zählt Hongkong zu den Weltstädten. 95 Prozent der Einwohner Hongkongs sind chinesischer Abstammung mit überwiegend kantonesischer Muttersprache. Hongkong wurde während des Ersten Opiumkriegs 1841 vom Vereinigten Königreich besetzt und durch den Vertrag von Nanking 1843 zur britischen Kronkolonie erklärt. Für viele Chinesen war die britische Kolonie Zufluchtsort vor dem Chinesischen Bürgerkrieg 1927 bis 1949. Im Jahr 1997 erfolgte die Übergabe der Staatshoheit an die Volksrepublik China. Seitdem ist Hongkong eine chinesische Sonderverwaltungszone unter Beibehaltung einer freien Marktwirtschaft und zugesagter innerer Autonomie. Dieses Prinzip Ein Land, zwei Systeme wurde in der gemeinsamen Erklärung zu Hongkong vertraglich vereinbart. Noch 2013 galt Hongkong dadurch im Gegensetz zum Rest Chinas als regionaler Hort der Meinungsfreiheit. Spätestens seit 2014 allerdings bricht China seine Autonomie-Zusage zunehmend und schränkt die Freiheit der Hongkonger Bevölkerung ein. Dies führte wiederholt zu Großdemonstrationen der Bevölkerung, so etwa in den Jahren 2014 und 2019/2020. Das Bevölkerungswachstum und die geringe bebaubare Fläche Hongkongs führten zu großflächiger Landgewinnung durch Aufschüttung im Meer und zur Entstehung einer Skyline aus Wolkenkratzern. Nach der Errichtung mehrerer Planstädte in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts lebt die Hälfte der Einwohner Hongkongs in den New Territories. Die am dichtesten besiedelten Gebiete sind die Halbinsel Kowloon und der Norden von Hong Kong Island, die durch die schmale Meerenge Victoria Harbour getrennt sind. Zu den New Territories gehören das ursprüngliche Hinterland nördlich von Kowloon, das die größte Fläche Hongkongs ausmacht, und die meisten der 263 Inseln Hongkongs. Die größte Insel Hongkongs ist Lantau Island, in deren Nähe sich auch der Hong Kong International Airport, auf der Insel Chek Lap Kok, befindet. Hongkong gilt als eine der Städte mit den weltweit höchsten Lebenshaltungskosten. Nach Angaben eines Kopenhagener Beratungsdienstes (The Economist Intelligence Unit) liegt Hongkong gemeinsam mit Melbourne auf Platz acht der sichersten Städte der Welt (Stand 2021). == Bezeichnung == Der Name Hongkong leitet sich von der kantonesischen Aussprache [hœ́ːŋɡ̊ɔ̌ːŋ] ab. Die offizielle Bezeichnung lautet Sonderverwaltungszone Hongkong der Volksrepublik China (中華人民共和國香港特別行政區, Jyutping Zung1waa4 Jan4man4 Gung6wo4gwok3 Hoeng1gong2 Dak6bit6 Hang4zing3keoi1, englisch Hong Kong Special Administrative Region of the People’s Republic of China). == Geographie == === Geographische Lage === Hongkong liegt an der Mündung des Perlflusses in das südchinesische Meer. Das Gebiet Hongkongs erstreckt sich über eine sehr unregelmäßig geformte Halbinsel sowie 263 Inseln, von denen die wichtigsten Lantau Island (147,2 km²), Hong Kong Island (78,6 km²), Chek Lap Kok (14,6 km²), Lamma Island (13,9 km²), Tsing Yi (10,7 km²), Cheung Chau (2,4 km²) und Peng Chau (1,2 km²) sind. Das Territorium wird in Hong Kong Island, Kowloon, die New Territories und die Outlying Islands (dt.: vorgelagerte Inseln) unterteilt. Von den 1113 km² Landfläche sind etwa 25 % bebaut. Ein wesentlicher Teil der bebauten Fläche entstand durch Landgewinnung im Victoria Harbour und in den New Territories. Seit 1887 sind dadurch 68 km² Landfläche hinzugekommen. Dies liegt vor allem an dem sehr bergigen Relief mit vielen steilen Hängen; nur im Norden der New Territories gibt es größere Ebenen. Die höchste Erhebung ist der Tai Mo Shan in den New Territories mit 958 m. Bekannter ist der Victoria Peak, mit 552 m der höchste Berg auf Hong Kong Island und beliebtes Ausflugsziel. Der 495 m hohe Lion Rock an der Grenze zwischen Kowloon und New Territories gilt als eines der markantesten Naturmonumente und Hausberg Hongkongs. === Klima === Das Klima Hongkongs ist subtropisch feucht mit einer jährlichen Durchschnittstemperatur von 22,5 °C, einer Niederschlagsmenge von 2.382,7 mm und 10 humiden Monaten. Der Winter von Januar bis März ist mild bis warm und trocken, der Sommer von April bis September ist heiß und regnerisch, während der Herbst (Oktober bis Dezember) warm und trocken ist. Im Sommer besteht regelmäßig Taifun-Gefahr; ein Taifun am 18. September 1906 mit gleichzeitiger Flutwelle kostete etwa 10.000 Menschen das Leben. == Bevölkerung == === Einwohnerstruktur und -zahlen === Das besiedelbare Territorium Hongkongs gehört, nach Monaco mit rund 16.000 Einwohnern pro km², zu den am dichtesten besiedelten Gebieten der Welt, wobei die Bevölkerungsdichte des gesamten Territoriums bei rund 6.900 Einwohnern pro km² liegt. Die Bevölkerung hat sich in den letzten sieben Jahrzehnten etwa vervierfacht (von 1,7 Millionen im Jahr 1945 auf über 7,442 Millionen 2016) und in 160 Jahren vertausendfacht (von 7.500 im Jahre 1841). Die Kinderzahl pro Frau liegt bei 1,19, dem zweitniedrigsten Wert weltweit vor Macau. Das Bevölkerungswachstum ist seit 20 Jahren stark rückläufig: 1996 lag es bei 4,54 Prozent und fiel bis 2016 auf 0,56 Prozent.Die durchschnittliche Lebenserwartung lag im Zeitraum von 2010 bis 2015 bei 83,4 Jahren (Männer: 80,3, Frauen: 86,3) und gehört damit zu den höchsten der Welt.Die Einwanderungsquote ist rückläufig: pro 1.000 Einwohner wanderten 2002 Schätzungen zufolge 7,76 Einwanderer ein, 2016 waren es 2,14. Rund 95 Prozent der Bevölkerung sind Han-Chinesen. In Hongkong leben über 500.000 Ausländer. Die meisten stammen aus den Philippinen, Indonesien, Thailand, Indien und Pakistan. Bei den Ausländern aus den Philippinen und Indonesien handelt es sich ganz überwiegend um Frauen, die meist als Haushaltshilfen beschäftigt sind.Trotz der hohen Bevölkerungsdichte ist Hongkong eine der grünsten Metropolregionen Asiens, was wiederum an der bergigen Topographie des Gebietes liegt. Ein Großteil der Flächen ist so bergig und steil, dass er nicht bebaut werden kann und deshalb mit Bäumen und Sträuchern bewachsen ist. Der größte Anteil der Einwohner lebt in meist sehr kleinen Wohnungen in Hochhäusern und Wolkenkratzern; Einfamilienhäuser sind teuer und werden wegen der bergigen Verhältnisse und auch aus Naturschutzgründen sehr selten gebaut, da etwa 40 % der Landflächen Hongkongs als Naturparks (郊野公園, jiāoyě gōngyuán, Jyutping gaau1je5 gung1jyun2, englisch country park) und Naturschutzgebiete (生態保育區, shēngtài bǎoyùqū, Jyutping sang1taai3 bou2juk6keoi1) ausgewiesen sind. Entwicklung der EinwohnerzahlenDie folgende Übersicht zeigt die Einwohnerzahlen nach dem jeweiligen Gebietsstand. Bis 1891 handelt es sich um Schätzungen, danach meist um Volkszählungsergebnisse. Neben einer vollständigen Erhebung wird seit 1976 auch regelmäßig eine stichprobenbasierte Teilerhebung durchgeführt. Alle Angaben vor 1898 beinhalten nicht die Gebiete bzw. Bevölkerung von New Kowloon und der New Territories, die erst nach der Unterzeichnung der Pekinger Konvention zum Verwaltungsgebiet Hongkongs gehörten (¹ Volkszählungsergebnis, ² Teilerhebung): === Sprachen === Die zwei Amtssprachen Hongkongs sind Englisch und Chinesisch, wobei Chinesisch in dem betreffenden Artikel 9 von Kapitel I des Basic Law nicht näher definiert ist. Die in Hongkong vorherrschende Kantonesische Sprache und Hochchinesisch, auch Standardchinesisch genannt, werden damit offiziell als eine Sprache in zwei Varianten betrachtet, die beide als eine Amtssprache Hongkongs anzusehen sind. Beide Varianten des Chinesischen werden in der chinesischen Schrift geschrieben. In Hongkong werden jedoch, wie in Macau und im Unterschied zu anderen Teilen der Volksrepublik, traditionelle Langzeichen verwendet. Zudem gibt es Schriftzeichen, die ausschließlich in Hongkong verwendet werden, welche die Hongkonger Regierung im sog. Hong Kong Supplementary Character Set, Abk. HKSCS, zusammengefasst hat und regelmäßig aktualisiert. Das Kantonesische Hongkongs unterscheidet sich vom Guangdonger Kantonesisch unter anderem dadurch, dass es, neben einer hohen Anzahl von Anglizismen, umgangssprachlich häufig einen Sprachwechsel zwischen der Englischen und Chinesischen Sprache gibt. Englisch wird weithin verstanden. Unter der älteren Bevölkerung ist Englisch historisch bedingt wenig verbreitet. Hochchinesisch findet mehr und mehr Verbreitung durch die verstärkte Integration mit dem Festland. Neben Englisch ist Japanisch die zweitbeliebteste Fremdsprache in Hongkong. Hingegen haben Französisch, Spanisch, Deutsch oder andere europäische Sprachen nur eine sehr geringe Popularität in der allgemeinen Bevölkerung. === Religion === In Hongkong wird fast jede Religion praktiziert. Aufgrund seiner britischen Kolonialgeschichte als Drehkreuz in Südostasien und Tor zu China haben Menschen aus verschiedenen Teilen der Erde und unterschiedlicher Glaubensrichtungen, die sich in Hongkong niederließen, hier ihre Tempel und Gotteshäuser gebaut. In der chinesischen Bevölkerung dominieren die konfuzianistische, die taoistische und die buddhistische Weltanschauung; mehr als 10 % der Einwohner (meistens ethnische Chinesen) sind Christen, darunter etwa 540.000 Katholiken, wovon 360.000 katholische Chinesen sind. Dementsprechend gibt es auch eine große Anzahl an religiösen Stätten verschiedener Weltanschauungen. Der bedeutendste buddhistische Tempel Hongkongs ist der Tempel der Zehntausend Buddhas (萬佛寺, Wànfó Sì, Jyutping Maan6fat6 Zi6*2) in Sha Tin, der auf einem Hügel liegt. Die Wände dieses Tempels sind mit etwa 12.800 Buddhas geschmückt, die von Gläubigen der Stadt und dem Ausland gespendet wurden und an denen zwölf Handwerker zehn Jahre lang gearbeitet haben. Auf der Insel Lantau Island befindet sich das buddhistische Po Lin Kloster mit dem Tian Tan Buddha, einer der weltweit größten sitzenden Buddhastatuen auf dem ganzen Globus. Das Ling-To-Kloster zählt zu den drei wichtigsten buddhistischen Klöstern Hongkongs. Interessant sind auch die zahlreichen kleinen Tempel, die in Central und Kowloon zwischen die Wolkenkratzer eingezwängt liegen, wie etwa der größte Man-Mo-Tempel – hochchinesisch Wenwu-Tempel – (文武廟, Wén Wǔ Miào, Jyutping Man4Mou5 Miu6*2) Hongkongs, der den taoistischen Göttern der Literatur und der Kampfkunst gewidmet ist und in einem der traditionellsten Viertel Sheung Wans, auf der Hollywood Road 124–126, der Insel liegt. Dieser Tempel ist unter der lokalen Bevölkerung Hongkongs ugsl. auch als „Man-Mo-Tempel der Tung Wah Hospital Groups“ – 東華三院文武廟 – bekannt, da die Tempelverwaltung von dieser karitative Organisation geführt wird. Gewöhnlich sind die meisten Tempelanlagen Hongkongs in der Dachorganisation des „Chinesischen Tempelkomitees“ (華人廟宇委員會, englisch Chinese Temples Committee) organisiert.Einer der über 102, meist kleinen Tin-Hau-Tempel (天后廟, Tiānhòu Miào, Jyutping Tin1hau6 Miu6*2), die verteilt über verschiedene Orten von Hongkong zu finden sind, liegt nahe der Market Street im Stadtteil Yaumatei im Nordwesten Kowloons und ist der taoistische Schutzgöttin Tinhau, nach hochchinesischer Aussprache Tianhou, geweiht, die als Schutzpatronin besonders bei Seefahrern und Fischern beliebt ist, wohingegen der riesige Wong-Tai-Sin-Tempel, etwas nördlich von Mongkok gelegen, wegen seiner wundersamen Heilerkräfte und Wahrsagungen der meistbesuchte Tempel Hongkongs ist. Zu den vier bekanntesten taoistischen Tempeln Hongkongs zählen neben dem Man-Mo-Tempel in Sheung Wan (Hollywood Road, Central, Hong Kong Island), der Wong-Tai-Sin-Tempel in Kowloon, der älteste Tin-Tau-Tempel Hongkongs in Sai Kung (佛堂門天后古廟, englisch Joss House Bay Tin Hau Temple) und der Che-Kung-Tempel in Sha Tin (車公廟, Chēgōng Miào, Jyutping Ce2gung2 Miu6*2, englisch Che Kung Temple).Die bedeutendste Moschee Hongkongs, das Kowloon Mosque and Islamic Centre, liegt auf der Nathan Road in Kowloon, direkt am Südende des Kowloon Park, wohingegen mit der St John’s Cathedral, die größte anglikanische Kirche Hongkongs, sich im Central District befindet; sie wurde 1849 erbaut und befindet sich heute inmitten von Bäumen im Schatten des Bank of China Tower. Im Gegensatz zum Festland sind christliche Religionsgemeinschaften nicht in einer Chinesisch Katholisch-Patriotischen Vereinigung organisiert. === Bildung === Es gibt eine Schulpflicht für Kinder von 6 bis 15 Jahren. Die meisten Kinder werden ab 3 Jahren in Vorschulen geschickt. Hongkongs Schulsystem und dessen Gliederung hat das britische System zum Vorbild. Die Grundschulbildung beginnt mit 5 bis 6 Jahren und dauert 6 Jahre. Die Bildung in der Sekundarstufe (englisch secondary education) ist in junior form (3 Jahre) und senior form (2 Jahre) geteilt. Etwa 90 % der Kinder durchlaufen die Schule bis zur gesamten Bildung der Sekundarstufe, um an einer staatlichen Prüfung (HKCEE) teilzunehmen. Nach deren Bestehen wird ein Certificate of Education ausgehändigt. Für eine Hochschulausbildung sind danach noch zwei Jahre Gymnasialbildung zu absolvieren und eine Numerus clausus Prüfung zur Aufnahme in die Universität abzulegen. Seit den 1970er Jahren ist die Pflichtschulbildung in Hongkong gratis. Für weitergehende Ausbildungen fallen Gebühren an. Auch für die Pflichtschulbildung versprechen viele private Institutionen eine höhere Bildungsqualität zu höheren Preisen. Unterrichtssprache ist Chinesisch (Kantonesisch), als fakultative Zweitsprache wird meist Englisch gewählt. Neben öffentlichen Schulen gibt es in Hongkong private und internationale Schulen. Zu den bekannteren gehören unter anderem: Deutsch-Schweizerische Internationale Schule Diocesan Boys’ School King’s College Li Po Chun College Maryknoll Convent School Queen’s College St. Mary’s Canossian CollegeHongkong verfügt über elf Universitäten und zwei Academy-Institute, die auch Bachelor-Degree-Studiengänge anbieten. Wegen der hohen Nachfrage nach Hochschulbildung gibt es eine große Anzahl anderer Institutionen, die Hochschulkurse anbieten. Die älteste Hochschule ist die 1910 gegründete Universität Hongkong. Hinzu kommen beispielsweise die Chinese University of Hong Kong, Hong Kong University of Science and Technology, Hong Kong Polytechnic University, die City University in Hongkong oder die Lingnan University. Des Weiteren gibt es in Hongkong über 67 öffentliche Bibliotheken, von denen die im Jahr 2001 eröffnete Hongkong Zentralbibliothek mit ihren 12 Stockwerken und 33.800 Quadratmetern Fläche die größte ist. Ihr Bau hat 690 Millionen HK$ gekostet. === Wohnsituation === Laut dem internationalen Beratungsunternehmen Mercer gilt Hongkong als eine der Städte mit den höchsten Lebenshaltungskosten der Welt. Nirgendwo auf der Welt sind die durchschnittlichen Kosten für Wohnraum so hoch wie in Hongkong. Die bebaubare Fläche ist begrenzt, aber es finden sich genügend Käufer für teure Luxus-Appartements, womit Immobilienfirmen am meisten verdienen. Selbst für die Mittelklasse sind Eigentumswohnungen oft unerschwinglich.In Mercers Rangliste der Städte nach ihrer Lebensqualität belegt Hongkong im Jahre 2019 den 71. Platz unter 231 untersuchten Städten weltweit. Hongkong lag damit hinter vergleichbaren asiatischen Großstädten wie Singapur (Platz 25) oder Tokio (Platz 49), jedoch vor allen untersuchten Städten auf dem chinesischen Festland. ==== Public Housing ==== Als im Jahr 1949 der chinesische Bürgerkrieg mit der Ausrufung der Volksrepublik China endete, begann eine große Migrationswelle aus China in die damalige britische Kronkolonie Hongkong. Die zumeist mittellosen Migranten siedelten sich in großen Gebieten mit Hütten aus Holz und Blech an, die im ganzen Territorium verstreut entstanden. Die Sicherheits- und Hygienebedingungen waren katastrophal, und es kam immer wieder zu Bränden. Nachdem ein Brand, der zu Weihnachten 1953 in Kowloon Nord im Ortsteil Shek Kip Mei (石硤尾) ausbrach, mehrere Tage wütete und mehr als 50.000 Menschen obdachlos machte, entschied die Kolonialverwaltung, die Hüttenbewohner vorübergehend in mehrstöckige Betonhäuser umzusiedeln, um sowohl den Brandschutz als auch die hygienischen Bedingungen zu verbessern. Dies war praktisch der Beginn des public-housing-Programms in Hongkong. Die ersten acht Mark-I-Häuser waren bereits Ende 1954, in Shek Kip Mei, fertiggestellt, um den durch das Feuer obdachlos gewordenen ein Heim zu bieten.Die Wohnraumfläche pro Familie lag bei 20 Quadratmetern, Sanitäreinrichtungen mussten mit anderen Familien geteilt werden und Kochgelegenheiten befanden sich außerhalb der Wohnungen. Bis Ende der 1960er Jahre wurden zahlreiche derartige Häuser errichtet, wobei die verbesserten Versionen Mark II und Mark III nur wenig mehr Komfort boten. Praktisch spielte sich alles Leben auf den Straßen ab, wobei diese für die zahlreichen Verkaufsbuden benutzt wurden. 1965 wurden Wohnhochhäuser, beginnend mit der Mark-IV-Serie (z. B. Lower Ngau Tau Kok (II) Estate), errichtet. Diese boten jeder Wohnung eine eigene Sanitäreinrichtung und einen Balkon an. Zu diesem Zeitpunkt lebte eine Million Menschen in den Wohnungen des public-housing-Programms.1971 wurde das Wah Fu Estate, der erste public-housing Wohnblock, welcher als eine in sich geschlossene Gemeinschaft konzipiert wurde, fertiggestellt. Dieser bot den Bewohnern Einkaufszentren, einen Busbahnhof sowie weitere Gemeinschaftseinrichtungen. 1972 rief die Kolonialverwaltung ein Programm ins Leben, das über die nächsten zehn Jahre Wohnraum für etwa 1,8 Millionen Menschen schaffen sollte. Später wurde dieses Programm bis 1987 verlängert.Zunächst erfolgte die Renovierung vieler der Häuser vom Typ Mark I–II. Die Maßnahmen erwiesen sich jedoch als nicht ausreichend, sodass der Bau großer Hochhäuser erfolgte, die in den Erdgeschossen Platz für Geschäfte und Einkaufszentren boten. Hier waren in jeder Wohnung Sanitäreinrichtungen und Küche integriert. Nach diesem Schema werden bis heute Wohnblöcke errichtet, wobei sich die Standards in puncto Wohnfläche, Infrastruktur und Ausstattung der Wohnungen ständig erhöht haben. 1981 erreichte die Zahl der Personen, welche in Wohnungen des public-housing-Programms lebten, die zwei Millionen. 1985 wurde beschlossen, die in den 1960ern errichteten Wohnblöcke, welche nicht mehr dem Standard genügten, abzureißen. Die Sanierungsarbeiten an den alten Mark-I–II-Gebäuden wurden 1991 abgeschlossen. Ein Jahr später wurden die ersten Harmony Blocks, die neue Generation von public-housing-Wohngebäuden, fertiggestellt.Trotz der hohen Bautätigkeit für die Wohnraumschaffung gelang es erst in den frühen 1980er Jahren, die letzten Hüttenviertel aufzulösen. 2001 wurden die letzten Betonhäuser in Shek Kip Mei, welche den Opfern des Brandes von 1953 vorübergehend Wohnraum boten, abgerissen. Die Mark-I–III-Häuser sind mittlerweile fast gänzlich abgerissen und durch Hochhäuser ersetzt worden; die wenigen verbliebenen Exemplare werden wiederum von fast mittellosen Einwanderern aus der Volksrepublik bewohnt. Das public-housing-Programm ist bis heute der wichtigste Erzeuger von Wohnraum; in einigen Gebieten von Hongkong liegt der Anteil der Wohnungen, die durch die Public Housing Authority geschaffen wurden, bei weit über 70 %. Laut Regierungsangaben befanden sich 2014 mehr als 220.000 Personen auf der Warteliste des public-housing-Programms, bei einer durchschnittlichen Wartezeit von bis zu drei Jahren.Nachdem in den letzten Jahrzehnten das Einkommensniveau großer Teile der Bevölkerung stark angestiegen ist, geht die Public Housing Authority in zunehmendem Maße dazu über, die Mieter der Wohnungen zu Eigentümern zu machen. Man hofft, durch Eigentum an ihrem Wohnraum den immer älter werdenden Hongkongern mehr Sicherheit zu geben. ==== Cage People ==== In der Metropole Hongkong sind über 1,3 Millionen Menschen ökonomisch und sozial an den Rand gedrängt. Davon lebten 2017, laut Angaben des Hilfswerks Misereor, Hunderttausende Menschen als sogenannte Cage People (deutsch etwa: Käfigmenschen). Das ist die Bezeichnung für Bewohner Hongkongs, die mit mehreren Personen in einem Raum wohnen, welcher durch abschließbare Käfige oder Holzboxen geteilt ist. Die Käfige dienen als einzelne Wohneinheiten, sind etwa zwei Kubikmeter groß und teilweise doppel- oder dreistöckig gestapelt. Ganze Familien leben in den Käfigen, teilen sich mit sechs anderen Familien eine Toilette, waschen dort ihre Wäsche mit der Hand und schlafen übereinander. Es gibt keine Privatsphäre oder Rückzugsräume. Extrembedingungen herrschen im Sommer, wenn in Hongkong Temperaturen um die 40 Grad liegen.Die Geschichte der Käfigwohnungen („caged homes“) begann durch einen rasanten Bevölkerungszuwachs in den 1950er und 1960er Jahren. Viele Wohnungen wurden von den Eigentümern unterteilt in Mini-Behausungen, auch Schuhkartons genannt. 2013 schätzte die Hongkonger Regierung, dass etwa 177.000 Menschen unter unzureichenden Bedingungen lebten. Eine Trendwende ist nicht in Sicht, da viele der Käfigwohnungen illegal betrieben werden. ==== New Towns ==== Ab den 1970er Jahren betrieb die Hongkonger Regierung systematisch den Aufbau von Planstädten, den sogenannten New Towns, in den New Territories. Das Hauptziel dabei war die Entlastung der extrem angespannten Wohnungssituation in Hong Kong Island und Kowloon. Die Infrastruktur der New Towns wurde staatlicherseits bereitgestellt und auch die dortigen Wohnungen wurden zu einem signifikanten Anteil in staatlicher Regie erbaut. Im Jahr 2016 lebten fast die Hälfte der Hongkonger Bevölkerung in den neun existierenden New Towns. === Verhältnis zu den Festlandchinesen nach der Rückgabe === Das Verhältnis zu den Festlandchinesen ist nicht spannungsfrei, aber die kulturelle und nationale Zugehörigkeit Hongkongs zu China steht für die große Mehrheit der Bewohner Hongkongs außer Frage. Hongkong wurde als liberalste Marktwirtschaft der Welt beschrieben. Der Anteil an Millionären und Milliardären ist in Hongkong so hoch wie nirgendwo sonst, aber die Einkommen sind eklatant ungleich verteilt. Nirgendwo in China ist die Armutsquote so hoch wie in Hongkong. Rund 20 Prozent der Hongkonger Bevölkerung leben unterhalb der Armutsgrenze. Im gesamten China lag die Armutsquote 2016 nur bei 3,14 Prozent. Allerdings ist die gesetzliche Armutsdefinition in Hongkong und der übrigen Volksrepublik u. a. aufgrund verschiedener Lebenshaltungskosten kaum direkt vergleichbar. Arm in Hongkong im Sinne der amtlichen Statistik war, wer weniger als die Hälfte des Durchschnittseinkommens verdiente. Für eine Einzelperson in Hongkong lag die Armutsgrenze 2016 bei 4.000 HK$ (umgerechnet rund 512 US$) pro Monat. Die Armutsgrenze in der Volksrepublik China lag 2016 bei 2300 Yuan (nach offiziellem Umrechnungskurs ungefähr 350 US$) pro Jahr.Im Jahr 2016 stieg die Zahl in Hongkong auf 1,35 Millionen Armutsbetroffene. Rund 30 Prozent der Hongkonger lebten 2017 in einer Sozial- oder sozialgeförderte Wohnung. 40 Prozent der Hongkonger beziehen Sozialhilfe. Diese gibt es erst seit Anfang der 2000er Jahre. Der Höchstsatz für Sozialhilfeempfänger betrug 2017 umgerechnet rund 500 Euro. Fast die Hälfte der Sozialhilfeleistungen entfällt für ein Bett im Käfig. Diese Menschen leben in großer Armut.Hongkong hat mit 51,5 Stunden im Schnitt die längsten Arbeitszeiten der Welt. Nirgendwo wird in China mehr gestreikt als in Hongkong. Nach der offiziellen Statistik betrug der Median des Monatseinkommens im Mai/Juni 2017 16.800 HK$ (≈1920 Euro). Das Einkommen ist aber äußerst ungleich verteilt. Der Arbeitsmarkt ist stark auf Arbeit im Dienstleistungssektor und Bürojobs ausgerichtet, wobei Anforderung und Entlohnung eine weite Spreizung aufweisen. So wurden 2016 für einfache Büroarbeiten maximal umgerechnet 600 Euro gezahlt, die kaum die Wohnungsmiete finanzieren. Auf der anderen Seite erhielten Manager von Banken und multinationalen Konzernen zum monatlich durchschnittlichen Festgehalt in Höhe von rund 20.000 Euro Krankenversicherungsschutz, Rentenvorsorge, Zuschüsse für sowohl Mieten und Schulgelder für deren Kinder o. Ä. als auch Mitgliedschaften in exklusiven Clubs.Die Mehrzahl der Büroangestellten in der öffentlichen Verwaltung, bei Banken und Versicherungen verdienen monatlich rund 3.000 Euro. Von größerem Interesse sind nichtmonetäre Vergünstigungen. So gewähren internationale Unternehmen ihren Angestellten tendenziell mehr Urlaub, haben eine Fünftageswoche, verlangen weniger Überstunden, zahlen oftmals auch im Krankheitsfall und bieten darüber hinaus eine größere Arbeitsplatzsicherheit. Wer mit 22 oder 23 Jahren von der Universität kommt, konnte 2016 in Hongkong mit einem Anfangsgehalt von umgerechnet rund 1.500 bis 1.700 Euro kalkulieren. Das ist niedriger als in Festlandchina, weshalb junge Menschen Hongkong zunehmend insbesondere in Richtung Shenzhen verlassen. Auch die Mehrzahl der Manager verdient brutto zwischenzeitlich in etwa gleich viel wie auf dem chinesischen Festland.Mit finanzieller Unterstützung der Nationalregierung in Peking für Sozialleistungen ist die Hongkonger Lokalregierung bemüht, die große Ungleichheit abzubauen. Insbesondere Parteien, die der Kommunistischen Partei Chinas (KPCh) nahestehen, konnten im Hongkonger Legislativrat 2011 die Einführung eines Mindestlohns durchsetzen, der seit 2019 bei einem Stundenlohn von 37,5 HK$ (umgerechnt 4,26 Euro) liegt. Lange über die Zeit der britischen Kolonialregierung hinaus, besaßen Arbeitnehmer in Hongkong keinerlei Rechte. Die Hong Kong Employment Ordinance regeln erst seit 2014 arbeitsrechtliche Minimalbestimmungen, entsprechen jedoch noch nicht den auf dem Festland geltenden Arbeitsvertrags- und Arbeitssicherheitsgesetzen.Anders als im restlichen China bestand in Hongkong bis heute keine gesetzliche Krankenversicherungspflicht. Jedoch werden inzwischen von den meisten Arbeitgebern in Hongkong zusätzliche Prämien für private Krankenversicherungen gezahlt. (Stand 2017) Eine gesetzliche Altersvorsorge wurde erst im Jahr 2000 in Hongkong eingeführt. Seitdem sind Unternehmen in Hongkong wie überall in der Volksrepublik China verpflichtet, Beiträge in einen staatlichen Pensionsfonds abzuführen.Die KPCh selbst ist auf Grundlage der bis 2047 geltenden chinesisch-britischen gemeinsamen Erklärung zu Hongkong in Hongkong verboten. Jedoch stellen inzwischen sogenannte „Pro-Peking-Parteien“ mehr als die Hälfte der Parlamentarier des Legislativrats, der gesetzgebenden Versammlung Hongkongs. Tatsächlich erhalten pro-chinesische Parteien in Hongkong die Mehrheit der Wählerstimmen, sowohl von der Bevölkerung wie von chinesisch-stämmigen Unternehmern.Ideologische Themen, wenig Bereitschaft für die Verabschiedung von Sozialgesetzen und ständig neue Parteigründungen führten dazu, dass „Anti-Peking-Parteien“, die sich als „Demokratisches Lager“ bezeichnen und maßgeblich von internationalen Konzernen in Hongkong finanziert werden, stetig an Stimmen und Rückhalt in der Bevölkerung verloren. Hingegen werden die „Pro-Peking-Parteien“ zunehmend finanziell von der chinesischen Geschäftswelt in Hongkong unterstützt. Vor diesem Hintergrund richten sich viele Proteste und Forderungen nach mehr demokratischer Mitbestimmung in Hongkong primär nicht gegen Peking, sondern gegen die soziale Ungerechtigkeit und vor allem gegen das in Hongkong bestehende Wahlsystem, bei welchem Konzerne einen direkten Einfluss auf Abgeordnete besitzen.Anfang 2019 brachte die Regierung ein Gesetz ein, das Auslieferungen von Verdächtigen von Hongkong nach Festland-China ermöglicht hätte. Dagegen finden seit Juni 2019 Proteste in Hongkong statt. Am 16. Juni demonstrierten 2 Millionen Menschen gegen das geplante Auslieferungsgesetz. == Geschichte == === Prähistorische Zeit === Nach archäologischen Forschungen leben seit ungefähr 5.000 Jahren Menschen in dieser Region. Neolithische Artefakte weisen auf den Einfluss nordchinesischer Steinzeit-Kulturen wie der Longshan-Kultur hin. Bestimmte Steingravuren werden auf die Bronzezeit (Shang-Dynastie) datiert. Artefakte aus dem 6. bis 3. Jahrhundert v. Chr. (Zeit der Streitenden Reiche) zeigen kulturelle Verwandtschaft mit dem benachbarten Guangdong. === Chinesisches Kaiserreich === Während der Han-Dynastie wurde das Gebiet des heutigen Hongkong von Han-Chinesen besiedelt. Während der Tang-Dynastie war die Region um Guangzhou ein bedeutendes Handelszentrum und die Region von Hongkong und dem heutigen Shenzhen diente als Hafen. Die erste starke Migration aus dem nördlichen China setzte während der Song-Dynastie ein. Nachdem die Yuan-Dynastie infolge der Mongolenkriege auch über Hongkong die Macht übernommen hatte, verstärkte sich die Einwanderung aus Richtung Norden, nach wie vor blieb die Region jedoch relativ abgeschottet und lebte vom Fischfang und der Perlenzucht. Im Jahre 1517 landete der portugiesische Händler Fernão Pires de Andrade an der südchinesischen Küste, vermutlich in Hongkong, wo für jene Zeit einige größere Siedlungen belegt sind. Nach dem Fall der Ming-Dynastie fiel die Region des heutigen Hongkong an den Bezirk Xin'an (新安縣, Xīn’ān Xiàn, Jyutping San1on1 Jyun6). === Britische Kronkolonie === 1699 gelangte die britische Ostindien-Kompanie zum ersten Mal nach China. Im Jahr 1711 wurde ein fester Handelsstützpunkt in Guangzhou gegründet. Die britische Einführung von Opium nach China führte zum Ersten Opiumkrieg und 1841 zur Besetzung Hongkongs. Ein Jahr später musste China das Gebiet mit dem Vertrag von Nanjing offiziell an das Vereinigte Königreich abtreten. 1843 erklärte Großbritannien Hongkong zu einer britischen Kronkolonie, welche fortan von einem Gouverneur verwaltet wurde. Über den exterritorialen Status als Vertragshafen hinaus, erwarb Großbritannien durch die sogenannten „Ungleichen Verträge“ weitere Gebiete in China. Die chinesische Regierung wurde gezwungen, Hafenstädte zwischen 25 und 99 Jahre an Großbritannien, Frankreich, Russland, Deutschland und Japan zu verpachten. Großbritannien gewann auf diesem Wege Kowloon (Pekinger Konvention 1860), die New Territories (1898 Konvention über die Erweiterung des Hongkonger Territoriums), Weihaiwei (1898) sowie weitere 235 Inseln für 99 Jahre.Für das britische Empire entwickelte sich Hongkong zu einem wichtigen Militärstützpunkt und Warenumtauschplatz in Ostasien. Zum Auf- und Ausbau der Industrie wurden Hunderttausende billige chinesische Arbeitskräfte gewaltsam nach Hongkong verbracht. Die Stadt entwickelte sich ab Mitte des 19. Jahrhunderts bis Anfang des 20. Jahrhunderts hinter Macau zum zweitwichtigsten Umschlagplatz im völkerrechtswidrigen Kulihandel, wodurch die Bevölkerungszahl zwischen 1851 und 1931 von 33.000 auf 879.000 Einwohner stieg, davon 95 Prozent Chinesen. Die Kolonie blieb lange Zeit im Schatten des größeren Shanghai, wo Großbritannien ebenfalls exterritoriale Territorien bis 1949 besetzt hielt. Eine enorm profitable Wertschöpfung erreichten die Kolonialmächte durch die rigorose Ausnutzung aller natürlichen und menschlichen Ressourcen. Insbesondere die britischen Kolonialisten reduzierten die Lohnkosten in ganz China, wie in Indien, Singapur und anderen Teilen des ehemaligen britischen Weltreichs, durch Kinderarbeit.Bereits 1899, ein Jahr vor dem Boxeraufstand, lehnten sich die Chinesen in nationalem Widerstand gegen die Besatzungsmacht in Hongkong auf. Grund dafür war der Bau der Eisenbahn von Kowloon nach Kanton (Guangzhou), durch welchen Großbritannien versuchte, seinen Einfluss auf weitere chinesische Gebiete auszudehnen. Alle Aufstände wurden blutig niedergeschlagen. Die größten Unruhen seit der Bewegung des vierten Mai (1919 bis 1924) brachen 1925 nach dem Massaker vom 30. Mai aus, als britische Polizeikräfte bei einer antikolonialen Demonstration in Schanghai Schusswaffen einsetzten und mehrere chinesische Studenten töteten. Das Massaker war der Auftakt zu einer der größten Massenbewegungen in China. Einem Flächenbrand gleich breiteten sich Proteste über das gesamte Land aus und gipfelten im 16 Monate währenden Kanton-Hongkong-Streik.Bei diesem Streik vereinten sich die Nationale Volkspartei Chinas (Kuomintang) und die Kommunistische Partei Chinas (KPCh) erstmals zu einer Einheitsfront. Dabei wurden alle Chinesen in Hongkong zur Arbeitsniederlegung, zum Boykott englischer Waren und zum Verlassen der Stadt aufgefordert. Schon in der ersten Woche der wirtschaftlichen Blockade verließen 50.000 Chinesen Hongkong, Ende Juli folgten weitere 250.000. Zeitzeugen zufolge ähnelte Hongkong zwischen August und Dezember 1925 einer Geisterstadt. Der Kanton-Hongkong-Streik schwächte den wirtschaftlichen und politischen Einfluss Großbritanniens in China nachhaltig. ==== Zweiter Weltkrieg und Nachkriegszeit ==== Unmittelbar nach dem Ausbruch des Zweiten Weltkrieges in Ostasien wurde Hongkong von der japanischen Armee unter Führung von Sakai Takashi angegriffen. Die Schlacht um Hongkong dauerte zweieinhalb Wochen, in deren Verlauf die Briten den Japanern die Stadt übergeben mussten. Mit der Kapitulation Japans am 16. August 1945 endete die japanische Besetzung Hongkongs. Zwar hatte Großbritannien 1943 der Republik China zugesagt, alle ungleichen Verträge und Privilegien in den Häfen an der chinesischen Küste aufzugeben, doch die Briten brachen ihr Versprechen, den erzwungenen Pachtvertrag nach Kriegsende für ungültig zu erklären. Nun setzte ein Rennen um die Kontrolle von Hongkong ein: Chiang Kai-shek ließ Untergrundkämpfer nach Hongkong einschleusen, die die Stadt nach dem Abzug der Japaner übernehmen sollten. Winston Churchill hatte jedoch bereits ein Flottengeschwader nach China geschickt, das am 30. August 1945 im Hafen von Victoria einlief. Großbritannien stellte damit seine Kontrolle über Hongkong wieder her.Chiang Kai-shek äußerte daraufhin den damals viel beachteten Satz: „Das chinesische Volk und seine Regierung, egal ob Nationalisten oder Kommunisten, können niemals eine erzwungene Abmachung, welche die chinesische territoriale und administrative Integrität verletzt, akzeptieren.“Am Ende des Zweiten Weltkrieges war Hongkong großteils zerstört. Nach Ausrufung der Volksrepublik China 1949 flohen Hunderttausende Kuomintang-Anhänger auch nach Hongkong, viele ausländische Unternehmen verlegten ihre Vertretungen von Shanghai nach Hongkong. ==== Schwierige Beziehungen ==== Das zu Beginn der 1950er Jahre von den USA und seinen Verbündeten gegen die Volksrepublik China verhängte Wirtschaftsembargo hatte auch negative Auswirkungen auf den Handel und Wiederaufbau in Hongkong. Erst nach Aufhebung der Sanktionen erlebte Hongkong einen beispiellosen Boom und entwickelte sich zu einer der stärksten Wirtschaften der Welt. Anfang der 1960er Jahre wuchs infolge großer sozialer Ungleichheiten erneut Widerstand gegen die britische Kolonialherrschaft. Die Spannungen erreichten ihren Höhepunkt während der Unruhen in Hongkong 1967 mit vielen Toten und Verletzten. Nach dem Tod Mao Zedongs begann dessen Nachfolger Deng Xiaoping die wirtschaftliche Öffnung Chinas gegenüber dem Ausland durch Sonderwirtschaftszonen wie im nördlich an Hongkong anschließenden Shenzhen. Seit den 1980er Jahren wanderten fast alle Produktionsbetriebe aus Hongkong nach China ab. Die Stadt entwickelte sich zu einem reinen Handels- und Dienstleistungszentrum. ==== Verhandlungen zur Wiedereingliederung ==== Im Jahre 1982 begannen Gespräche zwischen den Premierministern des Vereinigten Königreichs und der Volksrepublik China über die Zukunft des Territoriums. Die britische Seite unter Margaret Thatcher hatte ursprünglich gehofft, dass die Politik der Öffnung in China dazu führen könnte, dass China die britische Herrschaft über das Gebiet akzeptiert. Das Gegenteil war der Fall: Die Volksrepublik China bestand nicht nur auf der Rückgabe des für 99 Jahre gepachteten Gebietes, sondern zugleich auf die vollständige Rückgabe der im Vertrag von Nanking unter Zwang abgetretenen Territorien. Diesen Standpunkt teilte auch die Republik China (Taiwan). Unabhängig davon war die Rückgabe Hongkongs schon zehn Jahre zuvor durch eine Resolution der Generalversammlung der Vereinten Nationen bestätigt worden. Deng Xiaoping entwickelte die Doktrin, die als Ein Land, zwei Systeme bekannt ist. Diese Doktrin öffnete den Weg zur chinesisch-britischen gemeinsamen Erklärung zu Hongkong, die am 19. Dezember 1984 zwischen der Volksrepublik China und dem Vereinigten Königreich unterzeichnet wurde. Sie sah vor, dass Hongkong am 1. Juli 1997 zu einer Sonderverwaltungszone Chinas (Special Administrative Region, SAR) werden sollte. Im Juli 1989 wurde den Hongkonger Bürgern von der britischen Regierung offiziell mitgeteilt, dass sie trotz britischen Passes keinen Anspruch auf ein ständiges Wohnrecht in Großbritannien besäßen. Ende 1993 brachen die sino-britischen Gespräche über Hongkong nach 17 Verhandlungsrunden für kurze Zeit ab, da Uneinigkeit über die Einführung des künftigen Wahlrechts für den neu zu gründenden Hongkonger Legislativrat bestand. Im Juni 1994 erließ der noch amtierende Gouverneur, Lord Chris Patten, per Dekret das künftige Wahlsystem. ==== Chinesische Sonderverwaltungszone ==== Am 1. Juli 1997, nach 156 Jahren britischer Kolonialherrschaft, übernahm die Volksrepublik China die Souveränität und Kontrolle über Hongkong. Hongkong wurde eine Sonderverwaltungszone mit einem hohen, zuletzt jedoch abnehmenden Maß an Autonomie in allen politischen Bereichen, ausgenommen Außen- und Verteidigungspolitik, nach, dem Prinzip Ein Land, zwei Systeme. Der erste Chief Executive der Sonderverwaltungszone Hongkong wurde Tung Chee-hwa. Durch verschiedene Maßnahmen der chinesischen Zentralregierung, diese Autonomie schrittweise zu untergraben, kam es 2014 zu der Regenschirmbewegung und ab 2019 zu anhaltenden Massenprotesten. Die VR China nimmt mit dem am 30. Juni 2020 in Kraft getretenen Hongkonger Sicherheitsgesetz („Gesetz zur nationalen Sicherheit“) direkten Einfluss auf Hongkong. Chinesischen Sicherheitskräften werden damit Befugnisse in Hongkong erteilt. Großbritannien kündigte daraufhin im Jahr 2020 an, dass bis zu 5,4 Mio. Menschen aus Hongkong eine Aufenthaltsgenehmigung über fünf Jahre in GB bekommen könnten, was dann eine Einbürgerung ermöglichen würde. Ab Februar 2021 wurden Anträge für einen Aufenthalt in GB entgegengenommen. Wenige Stunden danach erklärte China, den „British National (Overseas) passport“ (BNO-Pass) als Reisedokument und Identitätsnachweis in China nicht mehr anzuerkennen. Im Januar 2021 besaßen 350.000 Hongkonger einen BNO-Reisepass. Bis September desselben Jahres hatten 88.000 Hongkonger eine Einbürgerung nach Großbritannien beantragt. == Politik == === Autonomiestatus === Gemäß der chinesisch-britischen gemeinsamen Erklärung zu Hongkong und im Rahmen des von Deng Xiaoping entwickelten Prinzips Ein Land, zwei Systeme, sollte das demokratisch-marktwirtschaftliche System Hongkongs mindestens 50 Jahre neben dem autoritären sozialistischen System der Volksrepublik China bestehen, so dass Hongkongs Rolle als eines der Finanzzentren Asiens gesichert bliebe. Diese Autonomie erlaubt es Hongkong, seine eigenen Gesetze, Zölle sowie seine eigene Währung zu besitzen. Die Sonderverwaltungszone ist weiterhin als ein eigenständiges Mitglied bei GATT, WTO, APEC, der Asiatischen Entwicklungsbank (ADB) und dem Financial Stability Board (FSB) sowie bei ESCAP assoziiert. === Parlament und Wahlrecht === Bis zur Rückgabe an China 1997 wurde der Gouverneur von Hongkong als Regierungschef auf Ratschlag des Foreign and Commonwealth Office vom britischen Monarchen eingesetzt. Bestrebungen zur Einführung freier Wahlen Ende der 1950er/Anfang der 1960er wurden nicht weiter verfolgt. Die ersten Wahlen fanden 1997 statt. Seitdem erfolgt die Gesetzgebung durch den Hongkonger Legislativrat (LegCo) auf Basis des Hongkonger Grundgesetzes (Hong Kong Basic Law). Allerdings besitzt nicht jeder Bürger das gleiche Stimmrecht. Nur die Hälfte der 70 Volksvertreter wird in Wahlbezirken gewählt. Die übrigen Mitglieder der gesetzgebenden Gewalt werden von 28 Berufsgruppen bestimmt. Dabei können die Stimmen von Individuen, zum Beispiel allen Lehrern Hongkongs, aber vor allem von großen Unternehmen vergeben werden.Das Wahlsystem steht bei der Nationalregierung in Peking wie bei der Mehrheit der Hongkonger Bürger gleichermaßen in der Kritik. Es stammt noch von der britischen Besatzungsmacht, die sich auf diesem Wege einen gewissen politischen Einfluss in Hongkong gesichert hat. Nicht nur besitzen Konzerne einen direkten Einfluss auf die Abgeordneten, ihre Stimme ist auch gewichtiger, da in den Berufsgruppen insgesamt weniger Wähler als in den Wahlbezirken registriert sind. So besitzt beispielsweise der Finanzsektor 130 Stimmen, die durch 125 Wähler von Hongkonger Niederlassungen der in Paris ansässigen Axa sowie der Prudential und HSBC in London kontrolliert werden. Gleiches gilt für andere stimmberechtigte Branchen, wie Gastronomie, Airlines, Flughafenbetreiber etc. Eine Änderung des Wahlrechts war für 2017 vorgesehen, wurde jedoch verhindert – nicht durch Peking, sondern vom Hongkonger Parlament: Am 18. Juni 2015 lehnten die stimmberechtigten Mitglieder des Legislativrats den Wahlreformvorschlag mit 28 zu 8 Stimmen ab.Ende August 2014 wurden Pläne des Nationalen Volkskongresses in Peking bekannt, wonach ein 1.200-köpfiges vom chinesischen Staat gebildetes Komitee die Kandidaten zur Wahl des Hongkonger Legislativrates festlegen sollte. Dagegen formierten sich im September 2014 Proteste in Hongkong, die von Studenten ausgelöst waren und denen sich die Bewegung Occupy Central with Love and Peace anschloss. Die Demonstrationen richteten sich sowohl gegen die Pläne Pekings, als auch gegen das bestehende Wahlsystem. Die Demonstrationen dauerten bis Mitte Dezember 2014 an. Bei der Wahl zum Legislativrat am 4. September 2016 zogen mehrere Vertreter der kurz zuvor gegründeten Partei Demosistō, deren Anführer Nathan Law einer der Hauptexponenten der Proteste war, in das Parlament ein.Insgesamt sitzen derzeit (2016–2020) 18 Parteien und neun Parteilose im Legislativrat von Hongkong. Die Parteien unterteilen sich in zwei Lager, „pan-demokratisch“ und „pro-Peking“. Das bedeutet allerdings nicht, dass innerhalb der Lager Einigkeit herrscht. Mit derzeit 13 Sitzen ist die 1992 gegründete DAB (Democratic Alliance for the Betterment and Progress of Hong Kong) stärkste Kraft. Sie tritt für enge wirtschaftliche Zusammenarbeit mit dem Festland ein, wobei keine der im Legislativrat vertretenen Parteien Hongkongs die kulturelle und nationale Zugehörigkeit zur Volksrepublik China zur Disposition stellt.Im Demokratieindex 2020 der britischen Zeitschrift The Economist belegt Hongkong Platz 87 von 167 Ländern und gilt als ein „Hybridregime“. Am 14. Oktober 2020 veröffentlichte das US-Außenministerium einen Bericht über 10 Personen, die nach seiner Einschätzung wesentlich dazu beitragen, dass China seinen Verpflichtungen aus der chinesisch-britischen gemeinsamen Erklärung zu Hongkong und dem Grundgesetz von Hongkong nicht nachkommt. Xia Baolong, Zhang Xiaoming, Luo Huining, Carrie Lam, Teresa Cheng, Erick Tsang, Zheng Yanxiong, Eric Chan, John Lee, Chris Tang waren auf der Liste der Specially Designated Nationals and Blocked Persons.Im März 2021 haben die Abgeordneten des chinesischen Volkskongresses (auf ihrer Jahrestagung in Peking) für die umstrittene Wahlrechtsreform in Hongkong gestimmt (2895 Ja-Stimmen, keine Nein-Stimmen und eine Enthaltung). Danach wurden bei der Parlamentswahl am 19. Dezember 2021 nur noch 20 Abgeordnete direkt vom Volk gewählt; um zugelassen zu werden, mussten sie vor der Wahlkommission ihre Loyalität gegenüber Festlandchina schwören. 40 weitere wurden von einem pekingtreuen Wahlkomitee ausgewählt, weitere 30 wurden von Berufsständen ernannt, die meist „pro-Establishment“, also pro-KPCh gestimmt sind. „Bei dem umstrittenen Votum fiel die Wahlbeteiligung auf nur noch 30,2 Prozent (inklusive ungültige Stimmen) – nachdem vor fünf Jahren noch 58,3 Prozent abgestimmt hatten.“ === Regierungschefs === Die Sonderverwaltungszone Hongkong hat einen sogenannten Chief Executive als Regierungschef. Formelles Staatsoberhaupt Hongkongs ist der Staatspräsident der Volksrepublik China; derzeit Xi Jinping. 1997, bei der ersten Wahl, waren die Befugnisse der Gewählten unbekannt und wurden erst nachträglich festgesetzt. Erster amtierender Regierungschef nach der Rückgabe Hongkongs an China war Tung Chee-hwa. Diese Wahl erfolgte durch ein Komitee, dessen 400 Mitglieder der Nationale Volkskongresses in Peking bestimmt hatte. Tungs Wiederwahl zu einer zweiten Amtsperiode erfolgte im Juli 2002 durch ein repräsentatives Wahlkomitee. Am 12. März 2005 trat Tung nach eigenen Angaben aus gesundheitlichen Gründen zurück. Sein Nachfolger war zuerst Donald Tsang, bis er am 25. Mai 2005 zurücktrat, um sich auf die Wahlen am 10. Juli 2005 vorzubereiten. Von 80 Mitgliedern des Wahlkomitees wurde er schließlich wiedergewählt, dennoch beschränkte sich seine Amtszeit vorerst auf die zwei verbliebenen Jahre der Amtsperiode von Tung. Bei der Wahl am 25. März 2007 gewann erneut Donald Tsang, sein Gegenkandidat war der Anwalt Alan Leong. Die Wahl wurde in den Medien als Farce kritisiert, da durch die undemokratische Zusammensetzung des 800-köpfigen Wahlgremiums eine Niederlage Tsangs nahezu ausgeschlossen war. Die Kandidatur Leongs war allerdings eine Überraschung, da er für die Zulassung einer Bewerbung die erforderlichen 100 Stimmen aus dem Gremium auf Anhieb bekam. Nachdem Tsang 2012 gesetzesgemäß nicht mehr wiedergewählt werden konnte, wurde Leung Chun-ying am 25. März 2012 mit 689 Stimmen zum neuen Chief Executive gewählt. Seit dem 1. Juli 2017 war Carrie Lam Regierungschefin von Hongkong. Sie wurde am 26. März 2017 mit 777 Stimmen gewählt und ist die erste Frau, die dieses Amt bekleidet. Der Präsident des Legislativrates von Hongkong – gesetzgebende Versammlung – war seit 2016 Andrew Leung. Im Juli 2020 wurde das Komitee zur Wahrung der nationalen Sicherheit der Sonderverwaltungsregion Hongkong offiziell mit Carrie Lam als Vorsitzender und Eric Chan als Generalsekretär des Komitees eingerichtet. Die anderen Mitglieder sind Matthew Cheung Kin-chung (Verwaltungssekretär), Paul Chan Mo-po (Finanzsekretär), Teresa Cheng (Justizministerin), John Lee Ka-chiu (Sicherheitsminister) und Chris Tang (Kommissar von Hong Kong Police Force), Edwina Lau Chi Wai (stellvertretende Kommissarin der Hong Kong Police Force und Leiterin der Abteilung für die Wahrung der nationalen Sicherheit der Hong Kong Police Force), Au Ka-wang (Einwanderungsdirektor), Hermes Tang Yi- hoi (Kommissar für Zoll und Verbrauchsteuer von Hongkong).Am 1. Juli 2022 folgte John Lee Ka-chiu Carrie Lam als Chief Executive of Hong Kong auf den Posten des Regierungschefs der Sonderverwaltungszone nach. === Verwaltung === Die Sonderverwaltungszone Hongkong besitzt eine Einheitsverwaltung nach Vorbild eines Einheits- bzw. Zentralstaats und unterteilt sich in die drei Regionen Hong Kong Island, Kowloon und New Territories.Die Regionen gliedern sich in 18 Distrikte (十八區, englisch 18 Districts) mit jeweils eigenen lokalen „Distrikträten“ (區議會, englisch District Council). Der „Distriktrat“ (englisch District Council) hat sowohl verwaltungstechnische als auch beratende Funktionen gegenüber der Bevölkerung und der Hongkonger Regierung. Er dient als Vermittler zwischen Bürgern und Politikern bzw. Regierungsvertretern im Hongkonger Parlament. 4 der 18 Distrikte liegen im Gebiet von Hong Kong Island, 5 davon in Kowloon und die restlichen 9 in den New Territories. Städte (Cities, Towns) und Gemeinden (Communities) innerhalb Hongkongs sind nicht als eigene Rechtssubjekte vorgesehen. Die Grenzen von Victoria City und Kowloon wurden durch Gesetze festgelegt, aber auch diese beiden Gebiete besitzen keinen Rechtsstatus. Die Einteilung der Distrikte folgt Gebirgszügen, der Küste oder Straßen und berücksichtigt nicht die Grenzen der Städte und Ortschaften. Das Hongkonger Home Affairs Department ist die oberste Regierungsbehörde der Distriktverwaltung und verantwortlich für die Administration und Koordinierung der Distrikte. PostleitzahlDas Postsystem der Sonderverwaltungszone Hongkongs (香港郵政, englisch Hongkong Post) ist eigenständig und unabhängig vom chinesischen Postsystem in Festlandchina. Die Hongkonger Post nutzt faktisch kein PLZ-System zur Postzustellung. In einer Hongkonger Postadresse taucht üblicherweise keine Postleitzahl (PLZ) auf. Jedoch existiert unabhängig davon bei der chinesischen Behörde bzw. der China Post (中國郵政) in Festlandchina amtlich die Postleitzahl 999077 für Hongkong zum verwaltungstechnischen Gebrauch bei der innerchinesischen Administration. Bei Postsendungen innerhalb Chinas kann diese Postleitzahl genutzt werden, in Hongkong selbst und international hat sie jedoch keinerlei Bedeutung. == Verkehr == Hongkong ist ein Verkehrsknotenpunkt für den Süden Chinas und ist eines der wichtigsten internationalen Verkehrsdrehkreuze in Asien für Fracht und Passagiere im See- und insbesondere im Luftverkehr, aufgrund seiner vielen Flugverbindungen weltweit. === Straßenverkehr === Des Weiteren ist Hongkong durch ein dichtes Netz von zehn Autobahnen erschlossen. Als historisches Überbleibsel aus der britischen Kolonialzeit herrscht im Gegensatz zu Festlandchina Linksverkehr. Für Fußgänger existiert ein Netz von über 800 Fußgängerbrücken, die angelegt wurden, um Autoverkehr und Fußgänger räumlich zu trennen und den Verkehrsfluss zu verbessern. Zwischen 2009 und 2018 wurde für umgerechnet 15 Milliarden Euro (120 Milliarden Yuan) eine etwa 55 Kilometer lange Straßenverbindung nach Macau und Zhuhai gebaut – die Hongkong-Zhuhai-Macau-Brücke (HZMB). Bei der am 23. Oktober 2018 eröffneten HZMB handelt es sich um die weltweit längste Überwasser-Brücke, die im Rahmen zur Entwicklung der künftigen Metropolregion am Perlflussdelta (PRD) ein verkehrstechnisch wichtiges Element und Bindeglied im System der Perlflussdelta-Ringautobahn darstellt. (Stand 2019) === Schiffsverkehr === Per Fähre ist Hongkong mit einer großen Zahl von Küstenstädten Südchinas sowie mit Städten am Perlfluss verbunden. Diese Metropolregion am Delta des Perlfluss wird offiziell auch als „Greater Bay Area“ (GBA, 大灣區) bezeichnet. Eine häufig genutzte Verbindung ist jene nach Macau, die von mehreren Unternehmen angeboten wird. Die Überfahrt nach Macau dauert je nach Art der Fährverbindung (Bootstyp) bzw. Start- und Zielpunkt zwischen 35 und 70 Minuten. Viele Fähren von den zahlreichen Fähranlegestellen (Piers) bedienen die vorgelagerten Inseln, daneben gibt es noch die alten Schiffe der traditionsreichen Star-Ferry-Gesellschaft, die einen Personentransport zwischen Kowloon und der Hong Kong Island aufrechterhalten. Da das 1 bis 1½ Kilometer breite Gewässer, das zwischen Kowloon und Hongkong liegt, mittlerweile von jeweils drei Straßen- und U-Bahn-Tunneln, wie der Cross-Harbour Tunnel (CHT) unterquert wird, haben die Fähren ihre frühere Alleinstellung verloren. Eine einfache Fahrt mit der Fähre kostet je nach Tarif in den Werkstagen etwa 3 HK$ (Feiertagen und Wochenenden etwa 4 HK$, Stand 2019) und wird neben Einheimischen auch gern von Touristen in Anspruch genommen, die das Fahrerlebnis schätzen oder von der Skyline Hongkongs Fotos machen wollen. === Schienenverkehr === Das Schienennetz von Hongkong ist an das Eisenbahnnetz der Volksrepublik China angebunden; es gibt unter anderem Züge nach Peking, Schanghai, Guangzhou, Dongguan, Wuhan, Handan und Zhengzhou. Große Bahnhöfe sind der Bahnhof Hung Hom (englisch Hung Hom Station) und der West Kowloon Bahnhof (englisch West Kowloon Station). Der im September 2018 fertiggestellte West Kowloon Bahnhof ist der größte unterirdische Bahnhof der Welt und Knotenpunkt der Schnellfahrstrecke Guangzhou–Shenzhen–Hongkong bzw. Endpunkt der am 23. September 2018 eröffneten letzten Streckenabschnitt der Schnellfahrstrecke Peking–Hongkong.(Stand 2019) === Öffentlicher Verkehr === Der öffentliche Nahverkehr ist in Hongkong stark ausgebaut. Die U-Bahn und der Omnibus gehören zu den wichtigsten Transportmitteln. Tausende Doppeldeckbusse befahren zahlreiche Linien, die beinahe alle Ortschaften des Territoriums anbinden. Die Verbindungen sind meist effizient und günstig, wenn auch für Besucher unübersichtlich aufgrund der hohen Anzahl von Linien unterschiedlicher Betreiber. Neben den Doppeldeckern gibt es 19-sitzige Flüssig- bzw. Autogas-betriebene Public Light Busse, lokal meist „Minibusse“ (kantonesisch 小巴, deutsch „Sammeltaxis“) genannt, mit Linien auf Parallelstrecken und Kurzstrecken als Ergänzung zu den verschiedenen Omnibusbetreiber der Stadt. Dabei ist zwischen denen mit einem grünen und rotem Dach zu unterscheiden. Die mit dem roten Dach haben außer ihrer festen Endstationen keine festgelegten Zwischenhaltestellen, sondern fahren dynamische Routen, je nach den Zielorten der Fahrgäste. Die mit dem grünen Dach haben festgelegte Haltestationen, man kann aber bei beiden überall auf Handzeichen oder Wunsch der Fahrgäste hin ein- und aussteigen. Fünfsitzige Taxis (kantonesisch 的士) gibt es ebenfalls in einer großen Anzahl. Sie sind aufgrund verschiedener Lizenzen nach Bedienregionen farblich aufgeteilt. Die roten Stadttaxis bedienen die City- bzw. Innenstadtregion, also Hong Kong Island und Kowloon und umfassen mit ca. 15.000 Fahrzeugen die größte Gruppe. Es folgen ca. 2.800 grüne Taxis für die New Territories und 75 blaue Taxis für die Outlying Islands, die faktisch nur auf Lantau Island operieren.Die am 1. Oktober 1979 eröffnete Hongkonger U-Bahn heißt Mass Transit Railway (MTR). Sie verkehrt auf einem über 200 Kilometer langen Netz mit elf Linien und verbindet die dicht besiedelten Gebiete miteinander. Von allen Verkehrsmitteln befördert die U-Bahn mit Abstand die meisten Fahrgäste. Sie ist wegen ihrer guten Klimatisierung, Sauberkeit, relativ günstigen Fahrpreisen (in Hongkong ist das Einkommensgefälle der Bevölkerung sehr stark) und vor allem wegen ihrer hohen Geschwindigkeit sehr beliebt; je nach Tageszeit verkehren die Züge alle 2 bis 4 Minuten. Die Island Line durchquert die Insel Hongkong von West nach Ost, die Tsuen Wan Line führt von der Insel Hongkong zu den Wohnvierteln im Hinterland von Kowloon und die Kwun Tong Line verbindet den südlichsten Teil von Kowloon Yau Ma Tei mit dem Osten von Kowloon und endet im Anschluss an die Tseung Kwan O Line. Der Airport Express verläuft parallel zur Tung Chung Line und verbindet Hongkong und Kowloon mit dem Hong Kong International Airport. Über diese beiden Linien kann man in die Disneyland Resort Line umsteigen, die zum Hong Kong Disneyland führt. Eine weitere Linie ist die East Rail Line, die vom Stadtteil Hung Hom in Kowloon in Richtung Norden führt und deren letzte Station die Grenze zu Shenzhen darstellt. Die West Rail Line verbindet Hung Hom in Kowloon, über Yuen Long mit dem westlichen Distrikt Tuen Mun in den New Territories seit 2003. Eine Zweigbahn bindet seit Ende Dezember 2004 Ma On Shan und weitere Gebiete von Sha Tin an. Die South Island Line verbindet seit Ende 2016 Admiralty im geschäftigen Norden Hong Kong Islands mit South Horizons, eine private Hochhauswohnsiedlung im Southern District an der Südküste auf dem vorgelagerten Insel Ap Lei Chau. Mit der Eröffnung der South Island Line-Verbindung am 28. Dezember 2016 wurden erstmals alle 18 Distrikte Hongkongs ans MTR-Netz angeschlossen. Die Hong Kong Tramways (HKT), von der Lokalbevölkerung auch liebevoll Ding Ding (叮叮) genannt, ist eine Straßenbahn, die seit dem 30. Juli 1904 über die Gleise im nördlichen Teil von Hong Kong Island fährt. Die auf einem 13 Kilometer langen Netz relativ langsam fahrenden zweistöckigen und altmodischen Tramwagen sind nicht nur bei Touristen beliebt, denn die Fahrpreise sind sehr niedrig. Die Einführung von modernen, klimatisierten Gelenkwagen wurde nach jahrelangen Planung und Testbetriebe aus verschiedensten Gründen wie Originalität, Nostalgie, höhere Ticketpreise seitens der Fahrgastseite und hohe Investition zur Modernisierung des Fuhrparks und des Oberleitungsnetzes (Netzlast) etc. seitens der Betreiberfirma vorerst aufgegeben. Vorwiegend touristischen Zwecken hingegen dient die Peak Tram, eine Standseilbahn, die seit 1888 zwischen Central und dem Victoria Peak verkehrt. Eine moderne mit Klimaanlage ausgestattete Stadtbahn verkehrt seit dem 17. September 1988 zwischen den Städten Tuen Mun und Yuen Long im Westen der New Territories. Die als Light Rail Transit (LRT) bezeichnete Bahn fährt auf einem 31,7 Kilometer langen Netz, ist jedoch auf Teilabschnitten relativ langsam. Seit der Fusion des U-Bahnunternehmens MTR Corporation (MTRC) mit dem Hongkonger Eisenbahnunternehmen Kowloon Canton Railway Corporation (KCRC) in Dezember 2007 werden die Liniennetze des U-Bahn-Systems (MTR), der Stadtbahn (LTR) und der Eisenbahn (KCR) vom Dachunternehmen MTRC geführt. Der Central Mid-Levels Escalator verbindet die Stadtteile Central und Mid-Levels, auf Hong Kong Island, miteinander und ist das längste überdachte und außenstehende Rolltreppensystem der Welt. Zahlungsmittel für die meisten Transportmittel (außer Taxi) ist die berührungslos abbuchende Octopus-Karte. === Flugverkehr === Der Hong Kong International Airport ist einer der wichtigsten Flughäfen Asiens. Er wird von vielen Flughäfen Europas aus direkt angeflogen. Er ist Heimatflughafen mehrerer Fluglinien, darunter Cathay Pacific, Cathay Dragon sowie den Billigfluggesellschaften Hong Kong Airlines und HK Express. Der Flughafen wurde im Jahr 1998 eröffnet, um den früheren, sehr schwierig anzufliegenden und flächenmäßig begrenzten Flughafen Kai Tak an der Kowloon-Bucht in der Innenstadt abzulösen. Die Errichtung kostete etwa 15 Milliarden Euro, womit auch die Kosten zur Anbindung des Flughafens an das Stadtzentrum durch den Airport Express und die Autobahn Route 8 abgedeckt wurden. Somit ist die Reisezeit nicht viel länger als nach Kai Tak, obwohl sich Kai Tak in Kowloon, mitten im Victoria Harbour befand, während der neue Flughafen mit über 30 km Entfernung weit außerhalb der Stadt liegt. Der neue Standort ist die ursprünglich 100 m hohe Insel Chek Lap Kok nördlich von Lantau Island, die auf 7 m Meereshöhe abgetragen wurde, wobei das abgetragene Material zur Gewinnung der nun 13,8 km² großen Landfläche diente. == Wirtschaft == === Überblick === Hongkongs Charakterisierung der Wirtschaft gilt nur auf den ersten Blick als freie Marktwirtschaft: Sowohl während der britischen Herrschaft als auch nach der Übergabe beeinflusst die Regierung die Wirtschaft zum Beispiel durch die Landvergabe oder auch durch das Bekenntnis zum festen Wechselkursregime mit Currency Board zwischen dem Hongkong-Dollar und dem US-Dollar. Zudem soll eine Steuerreform eine Goods and Services Tax (GST), mit der deutschen Umsatzsteuer vergleichbar, das Steueraufkommen Hongkongs erhöhen. Es wird jedoch vielfach befürchtet, dass diese Steuer den Shopping-Tourismus, von dem viele Geschäfte leben, und den lokalen Konsum schwer treffen wird.Das Bruttonationaleinkommen pro Kopf der Bevölkerung betrug 2016 43.528 US-Dollar, was in etwa mit westeuropäischen Ökonomien vergleichbar ist. Trotz seiner kleinen Bevölkerung war Hong Kong 2016 der weltweit achtgrößte Exporteur von Gütern und Dienstleistungen. Die Wirtschaftsentwicklung ist stark vom Export und damit von der Weltkonjunktur abhängig. Bis 2002 steckte die Wirtschaft des Territoriums deshalb in einer mehrere Jahre dauernden Rezession, teilweise wegen der Nachwirkungen der Asienkrise, teilweise wegen der SARS-Pandemie 2002/2003. Während dieser Rezession sanken sowohl die Einkommen der Einwohner als auch die Konsumentenpreise. Um ein stärkeres Wirtschaftswachstum zu erreichen, setzt die Regierung Hongkongs auf eine starke wirtschaftliche Zusammenarbeit mit dem chinesischen Festland. So wurde Mitte 2003 das Closer Economic Partnership Arrangement unterzeichnet, das Unternehmern aus Hongkong einen bevorzugten Zutritt zu den chinesischen Märkten einräumt. Nach der Rezession, die ganz Südost- und Ostasien nach der asiatischen Finanzkrise traf, wuchs die Hongkonger Wirtschaft wieder, bis zu Beginn der SARS-Pandemie 2002/2003, welche die Wirtschaft wiederum in eine Krise stürzte, von der sich die Stadt jedoch inzwischen wieder erholt hat. In den darauf folgenden Jahren wuchs die Wirtschaft von Hongkong wieder sehr stark, vor allem aufgrund der stark expandierenden Wirtschaft Chinas bei gleichzeitiger Kapitalflucht nach Hongkong. 2017 betrug das Wirtschaftswachstum etwa 3,8 %. Die Arbeitslosenquote wurde im selben Jahr mit 3,1 % angegeben.Hongkong ist einer der wichtigsten Finanzplätze Asiens, der Index der Hong Kong Stock Exchange ist der Hang Seng Index. 2017 gab es laut Forbes in Hongkong 67 Milliardäre. Am 28. Januar 2016, legte die EU-Kommission ein Maßnahmenpaket zur Bekämpfung von Steuerflucht vor, bei dem unter anderem Hongkong auf der schwarzen Liste der Steueroasen auftaucht.Im Global Competitiveness Index, der die Wettbewerbsfähigkeit eines Landes misst, belegte Hongkong Platz 6 von 137 Ländern (Stand 2017–18). Im Index für wirtschaftliche Freiheit belegte Hongkong 2017 Platz 1 von 180 Ländern. === Handel und Industrie === Bis in die 1980er Jahre spielte die Industrieproduktion eine bedeutende Rolle im Wirtschaftswachstum der damaligen Kronkolonie. Dominierender Sektor war die Leichtindustrie, man exportierte Haushaltsgeräte, Spielzeug, Elektronikartikel und Textilien. In den letzten Jahren ist der Großteil der Industriebetriebe jedoch auf das Festland abgewandert und die Hongkonger Wirtschaft hat sich auf eine Dienstleistungsökonomie umgestellt. Der Anteil der Industrie am BIP beträgt heute nur mehr knapp 15 %, woran High-Tech-Unternehmen den größten Anteil haben. Die Industrieproduktion sinkt jährlich um etwa 9 %. Autobahnen, große, schiffbare Flüsse und fünf Großflughäfen lassen die Millionenstädte im Delta zu einer Mega-Stadt zusammenwachsen, die mehr als 40 Millionen Menschen zählt. Hongkong besitzt wenige natürliche Ressourcen und ist stark vom internationalen Handel abhängig. Der Hafen Hongkongs, der ursprünglich das große Interesse der Briten erweckt hatte, war lange Zeit der wichtigste Umschlagplatz für Industrieprodukte aus ganz China. In den letzten Jahren bekommt der Hongkonger Hafen zunehmend Konkurrenz von umliegenden Häfen. Während der Warenumschlag im Hongkonger Hafen stagniert, ist er in Shenzhen, Guangzhou, oder auch Xiamen deutlich gestiegen. Im Jahr 2013 wurden auf den Containerterminals des benachbarten Shenzhen erstmals mehr Container umgeschlagen als im Hafen von Hongkong, der sich mit 22,35 Millionen TEU (Standardcontainer) im Jahr 2013 weltweit auf Platz 4 befindet.Hongkong ist eines der bedeutendsten Finanzzentren Asiens, es verfügt über eine der fortgeschrittensten Informations- und Telekommunikationsinfrastrukturen der Welt und hat sich auch die Reputation erworben, ein solides, gut überwachtes Bankensystem zu haben. Hierzu hat vor allem die Asienkrise 1997 beigetragen, während der die Währungen der Nachbarländer stark abgewertet werden mussten, während die von Hongkong relativ unversehrt blieb, was vor allem auf die Qualität des Bankensystems zurückgeführt wird. Der Tourismus ist eine wichtige Einnahmequelle mit wachsender Bedeutung. Viele Touristen, vor allem vom chinesischen Festland, kommen zum Einkaufen nach Hongkong, sodass der Einzelhandel besonders davon profitiert. Der Hong Kong International Airport ist als Knotenpunkt des Flugverkehrs ein wichtiger Wirtschaftsfaktor. === Landwirtschaft === Hongkong hat fast kein landwirtschaftlich genutztes Land, ebenso fehlt es an Süßwasser. Lediglich in den New Territories wird in begrenztem Umfang Landwirtschaft betrieben; der Anteil am BIP macht jedoch nicht einmal 0,1 % aus. Der Hersteller Kowloon Dairy gehört neben seinen Konkurrenten Tappist Dairy und Nestlé Dairy Farm zu den wenigen Milchbetrieben in Hongkong. Einen schweren Schlag erlitt die Landwirtschaft Hongkongs zudem durch den Ausbruch der Vogelgrippe H5N1 in den 1990er Jahren. Der größte Anteil der Nahrungsmittel wird aus der Volksrepublik China importiert; Hongkong produziert lediglich etwas Gemüse, Geflügel- und Schweinefleisch selbst. Eine etwas höhere Bedeutung kommt der Fischerei zu, jedoch ist auch ihr Anteil am BIP verschwindend gering. === Wirtschaftskennzahlen === === Staatshaushalt === Obwohl Hongkong kein unabhängiger Staat ist, führt es seinen eigenen Haushalt. Der Staatshaushalt umfasste 2016 Ausgaben von umgerechnet 59,07 Mrd. US-Dollar, dem standen Einnahmen von umgerechnet 59,09 Mrd. US-Dollar gegenüber. Daraus ergibt sich ein Haushaltsüberschuss in Höhe von ca. 0,1 % des BIP.Hongkongs öffentliche Verschuldung belief sich 2016 auf 38,4 % des BIP. Hongkong hielt laut offiziellen Angaben des Währungsamts (HKMA) Devisenreserven in Höhe von über 400 Milliarden US-Dollar. (Stand Juni 2019)2015 betrug der Anteil der Staatsausgaben (in % des BIP) folgender Bereiche: Gesundheit: 5,8 % Bildung: 3,3 % Militär: 0,0 % (Keine Militärausgaben) === Einkaufen === Hongkong ist aufgrund seiner niedrigen Steuern sowie der zahlreichen glitzernden Einkaufszentren ein Einkaufsparadies vor allem für Touristen aus Japan. Lange Zeit galt die Stadt auch als idealer Ort für den günstigen Erwerb von Elektronikartikeln, was sich jedoch längst relativiert hat. Interessant sind die zahlreichen traditionellen Märkte, auf denen frische Lebensmittel gehandelt und gekauft werden (z. B. tagsüber in Wan Chai, Nachts auf dem Obstgroßhandelmarkt Yau Ma Tei Fruit Market in Kowloon) oder billige Kleidung an den Kunden gebracht wird. Beispiele für Nachtmärkte sind der Ladies’ Market in Mongkok oder der Temple Street Night Market in Kowloon mit seinem Ursprung auf der Market Street. Für Besucher interessant ist der Jademarkt. Feilschen ist in jedem Fall angebracht; gefälschte oder schwarz kopierte Produkte sind nach wie vor häufig anzutreffen. == Kultur == === Küche === Die lokale Küche Hongkongs ist Teil der kantonesischen Küche und ist ihr daher im Vergleich sehr ähnlich. Gewürzt wird vor allem mit Kräutern, sehr scharfe Gerichte sind weniger verbreitet. Ein Unikum innerhalb der chinesischen Küche ist die Verbreitung des (süßen) Nachtisches; dies ist eine im sonstigen China eher unbekannte Sitte. Sehr populär ist das zum Frühstück bzw. Mittagessen oder chinesischen Nachmittagstee servierte Dim Sum. Der Einkauf von Lebensmitteln für den täglichen Bedarf wird traditionell gewöhnlich in sogenannten Wet Markets (街市) erledigt, die in der chinesischen Kultur heute selbstverständlich neben den modernen Supermärkten nach westlichem Vorbild in den verschiedenen Ortschaften und Distrikten Hongkongs existieren. Die Restaurantlandschaft ist sehr international, neben Spezialitäten aus allen Regionen Chinas gibt es zahlreiche japanische, koreanische, indische, südostasiatische und europäische Restaurants, bis hin zu östlich-westlicher Fusionsküche. Hongkong gilt gerade deshalb unter Kennern auch als kulinarisches Paradies, da eine Vielzahl internationaler Spitzenküchen auf engsten Raum zu finden ist. Unübersehbar ist auch der große Einfluss westlicher Fast-Food- und Kaffeehaus-Ketten auf die lokale Esskultur. === Architektur === Hongkong bestand bei der Gründung der Kronkolonie nur aus ein paar Fischerdörfern ohne nennenswerte architektonische Errungenschaften. Das Gebiet hatte innerhalb des chinesischen Imperiums keinerlei Bedeutung. Die herrschenden Briten errichteten dann auch eine Stadt in kolonial geprägter Architektur, die chinesischen Einflüsse beschränkten sich auf die Wohnviertel der chinesischen Einwohner. Das rasche Bevölkerungswachstum seit Beginn des 20. Jahrhunderts hat dazu geführt, dass für die Neuzuwanderer in aller Eile Wohnraum geschaffen werden musste. Seit den 1950er Jahren wurde dies durch die Kolonialverwaltung organisiert. Ergebnis dieser hastigen Baumaßnahmen waren unansehnliche Bauten mit schlechter Ausstattung, von denen heute noch einige bestehen. Auf der anderen Seite haben der Wirtschaftsboom und die stark steigenden Grundstückspreise zum Abriss vieler Kolonialbauten geführt, die dann durch Hochhäuser ersetzt wurden. So ist von der opulenten Architektur der Jahrhundertwende nicht viel übrig geblieben. Verglichen mit Xiamen, Qingdao, Macau oder vor allem Schanghai ist von Hongkongs europäischer Vorkriegsbausubstanz fast nichts erhalten. Nicht dem Abriss preisgegeben wurden etwa die anglikanische St.-John's-Kathedrale, der 1912 erbaute ehemalige Supreme Court, der heute Sitz des Court of Final Appeal ist (von 1985 bis 2011 Legislative Council of Hong Kong), oder die ehemalige französische Residenz. In der modernen Architektur der Stadt sind traditionelle chinesische Einflüsse nur selten offensichtlich. Bei der Konzeption und dem Bau von Gebäuden, auch bei modernen Bürobauten, werden die Regeln des Feng Shui meistens beachtet, denn diese Regeln werden von vielen in solchen Gebäuden lebenden und arbeitenden Menschen und ihren Kunden sehr ernst genommen. Ein Beispiel dafür ist die Hong Kong and Shanghai Bank. Die Gründe für die Berücksichtigung von Feng Shui sind mindestens pragmatisch: Unabhängig von der Einstellung der Bauherren zu Feng Shui würden Verstöße gegen diese Regeln bei Verkaufsabsichten die Zahl der möglichen Käufer für das Gebäude reduzieren. === Museen === Im Kowlooner Stadtteil Tsim Sha Tsui, gleich neben dem Terminal der Star Ferry, befindet sich das Hong Kong Cultural Centre mit Konzerthaus, Galerien und dem Kunstmuseum Hong Kong Museum of Art, das seinen Schwerpunkt auf chinesische Werke legt. Gleich daneben liegt das Hong Kong Space Museum mit einem virtuellen Planetarium. Ein paar Blöcke nördlich liegen das Hong Kong Museum of History und das Hong Kong Science Museum, die beide sehr modern präsentiert sind. Das Lei Cheng Uk Han Tomb Museum in Sham Shui Po wurde gebaut, nachdem im Jahre 1955 bei Bauarbeiten eine Grabstätte aus der Zeit der Han-Dynastie entdeckt wurde. Dies ist die bedeutendste Ausgrabung in Hongkong und Beweis dafür, dass die Halbinsel bereits seit mindestens 2.000 Jahren besiedelt ist. Das Sam Tung Uk Museum in Tsuen Wan ist ein Nachbau einer Hakka-Siedlung, die von einer runden Mauer umgeben ist, wie jene Siedlungen, die es bis in die 1970er Jahre in den New Territories gegeben hat. Auf Hong Kong Island im Hong Kong Park befindet sich das Museum of Tea Ware, das im Flagstaff House, dem ältesten noch erhaltenen Kolonialgebäude, untergebracht ist und etwa 3.000 Gegenstände, die die Geschichte des Tees in China dokumentieren, ausstellt. Im Hong Kong Heritage Museum in Sha Tin sind in mehreren Dauer- und Wanderausstellungen Themen über die Geschichte Hongkongs und dessen Kultur präsentiert. Reine Kunstsammlungen sind das Art Museum der Chinese University und das University Museum and Art Gallery der Universität Hongkong. Das Tsui Museum of Art stellte eine private Sammlung aus, ist jedoch mittlerweile geschlossen. Teile der Sammlung sind zur Ausstellung an andere Museen verliehen. Die Stadtregierung und das chinesische Ministerium für Kultur und Tourismus (englisch Ministry of Culture and Tourism) eröffnete Anfang Juli 2022 am West Kowloon Cultural District an der Westküste von Kowloon in der Sonderverwaltungszone das Hong Kong Palace Museum (HKPM). Es ist neben das ursprüngliche Palastmuseum in Peking und durch den Bürgerkrieg entstandene Schwestermuseum (Nationales Palastmuseum) in Taipeh, das dritte Palastmuseum dieser Art. === Freizeit und Erholung === Hongkong besitzt zwischen seinen Wolkenkratzern eine Reihe von Parks, die sehr gepflegt und sauber sind. Die größten und bekanntesten sind der Hong Kong Park und der Zoologisch-Botanische Garten in Central, direkt neben Hongkongs Finanzzentrum. Im Hong Kong Park liegt mit dem Flagstaff House das älteste Kolonialgebäude des Territoriums. In Causeway Bay liegt der 19 Hektar große Victoria Park, für dessen Bau Land im Victoria Harbour aufgeschüttet wurde. Im Süden Kowloons liegt der Kowloon Park, im Norden der Kowloon Walled City Park mit Überresten der alten Walled City. Große Tempelanlagen wie der Wong-Tai-Sin-Tempel, das Chi-Lin-Nonnenkloster in Kowloon oder das 10.000-Buddha-Kloster und anderer Tempel im Hinterland bieten neben ihren religiösen Tempelhallen auch Orte mit gepflegten Grünanlagen bzw. chinesische Steingärten mit Statuen. Allen öffentlichen Parks ist gemeinsam, dass sie am frühen Morgen von Einheimischen frequentiert werden, die dort Taijiquan bzw. Frühsport praktizieren. In den New Territories, im Nordwesten der Sonderverwaltungszone, liegt das seit 2006 für Besucher geöffnete Naturschutzgebiet Hong Kong Wetland Park, das jährlich von etwa 440.000 Personen bzw. Gästen aus nah und fern besucht wird. Neben den zahlreichen öffentlichen Natur- und Erholungsparks, wie z. B. dem zum Global Geoparks Network der UNESCO gehörende Hong Kong UNESCO Global Geopark (香港世界地質公園) bei Sai Kung, gibt es zwei kommerzielle Vergnügungsparks in Hongkong. Einer ist der Ocean Park Hong Kong im Süden von Hong Kong Island, der mit einem begehbaren, vierstöckigen Meeresaquarium, ein Delfinarium mit Delfin- und Orcashow, Pinguinen, Seerobben, Pandabären, Vogelhäusern, mehreren Achterbahnen und anderen Attraktionen jährlich mehrere Millionen Besucher aufweist. Der andere ist das Hong Kong Disneyland in der Penny Bay, an der nordöstlichen Spitze von Lantau Island, der am 12. September 2005 eröffnet wurde. Es handelt sich um einen Disney-Themenpark mit über 30 Attraktionen, mehreren Hotels, diversen Restaurants und Einkaufsläden. Neben den Geschäftszentren, die vor allem von erholungssuchenden konsumorientierten Einheimischen bzw. Shopping-Touristen leben oder Wohngebiete für die Reichen darstellen, findet man in Hongkong auch beschauliche Gegenden mit geringer Dichte, die einheimischen Bewohnern und touristischen Gästen zur Erholung und Freizeitsgestaltung dienen. So bietet Hongkong mit seiner 800 Kilometer langen Küstenlinie und über 235 Inseln und Inselchen viele Wander- und Fitnesswege, Tausende von Grillplätzen und zahlreiche Campingplätze, die jährlich über 15 Millionen Besucher anziehen. Radfahren und Rollerskating in den städtischen Parks sowie Mountainbiking, Drachensteigen oder Paragliding in den 24 Naturparks (郊野公園, englisch Country park) ist meistens verboten, aufgrund der vielen Menschen, die zur Erholung in diesen Anlagen unterwegs sind. Die zahlreichen Wanderrouten mit unterschiedlichem Schwierigkeitsgrad sind im gesamten Gebiet von Hongkong verteilt. Zu den beliebtesten Wanderstrecken gehören beispielsweise der Wilson-Trail mit 50 km, der MacLehose-Trail mit 100 km, der Lantau-Trail mit 70 km und der Hongkong Trail mit 50 km. Die Flora und Fauna besteht unter anderem aus 400 Baumarten, 250 Schmetterlingsarten, mehr als 30 Korallenarten und über 100 Süßwasserfischarten. === Feste und Veranstaltungen === Für die Einwohner Hongkongs haben sowohl westliche als auch chinesische Feste eine hohe Bedeutung. Daten der chinesischen Feste werden nach dem chinesischen Mondkalender berechnet und wandern deshalb im gregorianischen Kalender. Zu den wichtigsten Festen gehört das chinesische Neujahrsfest, das in den Januar oder Februar fällt. Zwei Wochen darauf gibt es das Laternenfest (auch chinesischer Valentinstag genannt). Weiterhin sind das Qingming-Fest, das Drachenbootfest, das Mondfest, das daoistische Geisterfest, bei Buddhisten als Ullambana-Fest bekannt, und das Chongyangfest von Bedeutung. Nur auf der Insel Cheung Chau wird jährlich das daotistisches Cheung Chau Da Jiu Festival, umgangssprachlich meist als das „Cheung Chau Bun Festival“ („deutsch Knödelfest von Cheung Chau“) bekannt, gefeiert, bei dem in großem Volksfestrahmen Tausende von chinesischen gefüllten Knödeln gedämpft und als Pyramide aufgehäuft werden. Die Hongkonger Regierung versucht, mit diversen Veranstaltungen das Kulturinteresse bei seinen Einwohnern zu wecken und Touristen in die Stadt zu locken. Dazu gehören das jährlich von Februar bis März stattfindende Hong Kong Arts Festival, zu dem hochkarätige Künstler und Orchester eingeladen werden, und das auch lokalen Künstlern eine Bühne bieten soll. Das jährlich von Februar bis März stattfindende Hong Kong Food Festival zielt speziell auf asiatische Touristen, für die das Verkosten lokaler Spezialitäten unumstößlich zu jeder Reise gehört. Das Asian Arts Festival schlägt weitgehend in die gleiche Kerbe wie das Hong Kong Arts Festival, findet aber nur jedes zweite Jahr im Oktober statt. Weiterhin wird jährlich von März bis April das Hong Kong International Film Festival veranstaltet. Regelmäßige Kulturveranstaltungen auch außerhalb der Festivals finden im Academy for Performing Arts und Arts Centre, in der Hong Kong City Hall sowie dem Hong Kong Cultural Centre statt. Dies sind vor allem Konzerte, Theatervorführungen bzw. traditionelle kantonesische Opern. === Nachtleben === Hongkong bietet eine üppige Auswahl an Kneipen, Discos, Clubs und Restaurants. Westlich orientierte Lokalitäten befinden sich vorwiegend in Lan Kwai Fong und SoHo in Central sowie an der Lockhart Road in Wan Chai. Typisch asiatische Lokalitäten, die meist von Einheimischen und weniger von Touristen frequentiert werden, also beispielsweise Clubs, Karaoke-Bars oder Mahjong-Schulen finden sich dagegen eher in Stadtteilen der Kowloon-Halbinsel wie Mongkok, Yaumatei und Sham Shui Po, vereinzelt auf der Touristen- und Shoppingmeile von Tsim Sha Tsui. Jeden Abend findet am Victoria Harbour die Lichtshow Symphony of Lights statt, die man mitunter von der Avenue of Stars betrachten kann. === Filme === Hongkong gilt als Filmmetropole. Mehr als 4.000 Filme wurden bereits in Hongkong produziert. Der erste Hongkong-Film war Zhuangzi prüft seine Frau (Zhuangzi shi qi) aus dem Jahre 1913. In den Wirren des chinesischen Bürgerkriegs flüchteten viele Regisseure, vor allem linke oder sozial engagierte, vor den Kuomintang unter Chiang Kai-shek nach Hongkong, was wesentlich zu Hongkongs späterer Bedeutung als Filmmetropole beitrug. Vorher war das Schanghai gewesen. Eine große Entwicklung machte die Filmindustrie jedoch erst nach dem Zweiten Weltkrieg. Bekannte Regisseure sind Wong Kar-Wai (2046, In the Mood for Love), King Hu (Ein Hauch von Zen) oder John Woo (A Better Tomorrow), bekannte Schauspieler Leslie Cheung (Days Of Being Wild, Farewell To My Concubine, Happy Together, A Better Tomorrow), Maggie Cheung (In the Mood for Love, Hero), Tony Leung Chiu Wai (2046, In The Mood For Love, Happy Together), Andy Lau (Infernal Affairs), Chow Yun-Fat (A Better Tomorrow, Crouching Tiger, Hidden Dragon) und Jackie Chan. Die Hongkong-Filme prägten maßgeblich das Genre des Martial-Arts-Films. Während der 1990er Jahre führte die Asienkrise auch in der Filmindustrie Hongkongs zu einem Rückgang. Während dieser Zeit begannen viele Beteiligte verstärkt in Hollywood Filme zu machen, so Jackie Chan, John Woo oder Chow Yun-Fat. Als 2003 gerade zwei der größten Filmstars starben, nämlich Leslie Cheung (am 1. April, Selbstmord) und Anita Mui (im Dezember, an den Folgen von Krebs) sprachen einige Pessimisten schon vom Untergang der Filmmetropole Hongkong. Um der Krise in der Filmindustrie zu begegnen, startete die Regierung Hongkongs im April 2003 den Film Guarantee Fund (電影貸款保證基金). Auf der Uferpromenade in Tsim Sha Tsui zeigt die Avenue of Stars die Namen beliebter Filmstars auf einem Sternenweg. Ein Filmmuseum sammelt die Werke und macht auch Veranstaltungen zu alten amerikanischen und europäischen Filmen. === Cantopop === Cantopop ist die Abkürzung für Cantonese pop music, eine aus Hongkong stammende Musikform, die über Hongkong hinaus in großen Teilen Asiens erfolgreich ist. Cantopop (oder Hongkong-Pop) entstand aus der Vermischung von traditioneller chinesischer Musik mit verschiedenen westlichen Musikstilen (Jazz, Rock ’n’ Roll, Rhythm and Blues, Elektronische Musik, Western pop music). Sehr wichtig sind die Texte. Die ersten großen Stars in den 1970ern waren Sam Hui und Roman Tam, auch oft Godfather of Cantopop genannt. Wie schon der Name besagt, ist die Sprache des Cantopop eigentlich kantonesisch. Zum Teil wird aber auch englisch, mandarin, japanisch usw. gesungen. Die große Zeit des Cantopop war in den 1980er Jahren, mit Stars wie Alan Tam, Priscilla Chan, Anita Mui, Danny Chan und Leslie Cheung. In den letzten Jahren wird aber der sogenannte Mandarin Pop immer wichtiger (durch die Öffnung der Volksrepublik) und Mandopop-Sänger wie Jay Chou aus Taiwan werden im chinesischen Sprachraum hinaus erfolgreich. Eng verwoben ist in Hongkong die Cantopop- und die Filmindustrie. Viele Cantopop-Sänger sind (oder waren) auch erfolgreiche Schauspieler (z. B. Leslie Cheung, Anita Mui, Faye Wong, Vivian Chow, Leon Lai, Deric Wan, Danny Chan, Andy Lau) und viele Cantopopsongs waren für TV-Serien oder Filme aus Hongkong komponiert. === Medien === GrundsätzlichesBei der Rangliste der Pressefreiheit 2021, welche von Reporter ohne Grenzen herausgegeben wird, belegte Hongkong Platz 80 von 180 Ländern und Territorien. PrintmedienZeitungen und Zeitschriften gibt es sowohl auf Englisch als auch auf Chinesisch, wobei die Letzteren die Mehrheit stellen, auch einige zweisprachige Druckwerke existieren. Insgesamt existieren etwa 50 täglich erscheinende Publikationen. Alle Verlage sind privat, ein System der Presseförderung gibt es nicht. Als seriös gelten die South China Morning Post und The Standard (beide englisch), Ming Pao und Hong Kong Economic Journal (beide chinesisch). Die höchste Auflage erfahren bzw. erfuhren jedoch Apple Daily (das nach dem Erlass des Chinesischen Sicherheitsgesetzes für Hongkong im Jahr 2021 nicht mehr weiter betrieben werden konnte, da die Vermögenswerte von Jimmy Lai eingefroren wurden) und Oriental Daily News (beide chinesisch). Daneben gibt es noch die beiden Stadtmagazine HK Magazine und Time Out Hong Kong, welche sich lokalen Themen und dem Lifestyle der Stadt widmen und über kommende Veranstaltungen, Filme und ähnliches informieren. Ausländische Zeitungen sind an vielen Orten von Hongkong zu bekommen. RadioHongkong verfügt über eine relativ hohe Zahl an Radiostationen, worunter sich ein öffentlich-rechtlicher Sender befindet. Dieser Sender, der Radio Television Hong Kong (RTHK), gehört allerdings nicht der Regierung und wird von dieser auch nicht kontrolliert; ihm wurde auch schon öfter vorgehalten, zu regierungskritisch zu sein. Die meisten Stationen senden auf Chinesisch (meist: Kantonesisch, auch: Hochchinesisch), einige auch auf Englisch, vereinzelt auf Nepali und Urdu. FernsehenAlle Hongkonger Fernsehstationen sind privat, außer der einzigen öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalt Hongkongs, die RTHK. Es existieren sowohl kostenloses Privatfernsehen als auch kostenpflichtiges Bezahlfernsehen. Die Sender sind auch in anderen asiatischen Ländern beliebt. Die für das Hongkonger Fernsehen produzierten Soaps und Dramen werden im gesamten chinesischsprachigen Raum terrestrisch bzw. über Satelliten ausgestrahlt. Über das Web als Internetfernsehen gibt es sowohl reine Web-TV-Sender als auch Angebote der klassischen Medien gestreamt. Über Satellit können alle Sender der Welt empfangen werden. === Sport === Als frühere britische Kronkolonie haben die westlichen Sportarten in Hongkong, früher als in anderen Städten Chinas, Einzug gehalten. So hat Cricket eine mehr als 170 Jahre lange Tradition in Hongkong. Das erste schriftlich festgehaltene Cricketspiel war im Jahr 1841, gefolgt von der Gründung eines der ersten Cricketvereine außerhalb Englands im Jahre 1851. Der erste Sportverein überhaupt in Hongkong wurde 1849 gegründet und war der Wassersportverein „Victoria Recreation Club“. Der erste Fußballverein, der Hong Kong Football Club, wurde 1886 und die Hong Kong Football Association 1914 gegründet. Die 1908 eingeführte Hong Kong First Division League blieb bis 2014, zur Einführung der Hong Kong Premier League, die höchste Fußball-Liga der Stadt. Hongkong hat ein eigenständiges Nationales Olympisches Komitee, die Sports Federation and Olympic Committee of Hong Kong, China und nimmt seit 1952 mit einer eigenen Mannschaft an den Olympischen Sommerspielen und seit 2002 auch an den Olympischen Winterspielen teil. Bislang konnten Athleten aus Hongkong je eine Gold-, Silber- und Bronzemedaille gewinnen. Weiters nimmt Hongkong an den Sommer-Paralympics seit 1972 teil, aber die Mannschaft hat noch nicht die Winter-Paralympics bestritten. Special Olympics Hong Kong wurde 1976 gegründet und nahm mehrmals an Special Olympics Weltspielen teil. Der Verband hat seine Teilnahme an den Special Olympics World Summer Games 2023 in Berlin angekündigt. Die Delegation wird vor den Spielen im Rahmen des Host Town Programs von Winterberg betreut.Hongkongs Fußballnationalmannschaft existierte bereits unter britischer Kolonialherrschaft und belegt derzeit den 169. Platz der FIFA-Weltrangliste. Pferderennen gibt es in Hongkong seit 1846. Der 1884 gegründete Hong Kong Jockey Club organisiert jährlich bis zu 700 Pferderennen auf den vom Club betriebenen Pferderennbahnen Happy Valley Racecourse und Sha Tin Racecourse. Die Hong Kong Cycling Association wurde 1960 gegründet, um den Radrennsport in Hongkong zu fördern. Rugby Union gilt als die zweitbeliebteste Sportart Hongkongs nach dem Fußball und ist vor allem bekannt für das jährliche Turnier im Siebener-Rugby, den Hong Kong Sevens. Hongkongs Rugby-Union-Nationalmannschaft ist Asiens zweitbeste Mannschaft nach Japan und nimmt an der Rugby-Union-Asienmeisterschaft teil, wo man gegen andere aufstrebende Nationalmannschaften antritt. Cricket ist auf dem Weg zu einer der beliebtesten Sportarten Hongkongs und seit 1992 werden die Hong Kong Cricket Sixes im 6-Mann-Cricket ausgetragen. Hongkongs Cricket-Nationalmannschaft ist eine der besten Mannschaften Asiens außerhalb der ICC-Mitglieder mit ODI-Status und im November 2013 wurde Hongkong zusammen mit den Niederlanden T20I-Status zuerkannt.Hongkong verfügt über zwei Radrennbahnen, eine offene Betonbahn in Sha Tin sowie das 2013 eröffnete Hong Kong Velodrome, das den Standards des Weltradsportverbandes UCI entspricht, so dass dort offizielle internationale Wettbewerbe stattfinden können. Hongkong war Austragungsort mehrerer sportlicher Großereignisse. Darunter der Fußball-Asienmeisterschaft 1956, Hong Kong Open 1989, Volleyball World Grand Prix (1993, 1998, 2002, 2015), Fußball-Ostasienmeisterschaft (1995), olympischen Sommerspiele 2008 im Reiten, Ostasienspiele 2009 und Prudential Hong Kong Tennis Open 2014. In Hongkong finden jährlich mehrere lokale und internationale Sportwettbewerbe statt: Hong Kong Sevens, das bekannteste Turnier im Rahmen der World Rugby Sevens Series, einer Reihe von Wettbewerben im Siebener-Rugby Hong Kong Squash Open, als Teil der PSA World Tour Finals der Herren und der WSA World Series der Damen Hong Kong Open (Badminton), die internationale Meisterschaft von Hongkong im Badminton Hong Kong Open (Golf), ein Golfturnier, welches auf der Asian Tour veranstaltet wird Hong Kong Cricket Sixes, ein internationales Cricket-Turnier, bei welchem zwölf Ländermannschaften gegeneinander antreten Lunar New Year Cup, ein Fußballturnier, bei welchem ein aus Hongkonger Spielern aufgestelltes Team gegen drei internationale Vereinsmannschaften antritt. Hong Kong Masters, ein seit 2008 stattfindendes Turnier im Springreiten Das seit 2011 wieder aufgenommene historische Wettschwimmen durch den Victoria Harbour, welches bereits von 1906 bis 1979 stattfand Hong Kong Marathon über eine Strecke von 42 km, mit 72.000 Teilnehmern 2013 The Hong Kong Dragon Boat Carnival, ein Drachenbootfest über den Victoria Harbour Hongkong E-Prix, ein Automobilrennen der FIA-Formel-E-Meisterschaft seit 2016. == Persönlichkeiten (Auswahl) == === Söhne und Töchter Hongkongs === Clara Blandick (1876–1962), US-amerikanische Bühnen- und Kinoschauspielerin Wilhelm Ehmer (1896–1976), deutscher Schriftsteller, Journalist und Zeitungsverleger Harald Fuchs (1900–1985), deutscher Altphilologe und Hochschullehrer Freddie Wolff (1910–1988), britischer Sprinter und Olympiasieger, Unternehmer René de Obaldia (1918–2022), französischer Schriftsteller und Dramatiker Stanley Ho (1921–2020), Unternehmer und Milliardär Kōji Nakanishi (1925–2019), japanischer Chemiker und Professor an der Columbia University in New York William Anders (* 1933), US-amerikanischer Luftwaffenoffizier und Astronaut Tung Chee-hwa (* 1937), Erster Verwaltungschef der chinesischen Sonderverwaltungszone Hongkong J. Fenwick Lansdowne (1937–2008), Vogelmaler David Prophet (1937–1981), britischer Autorennfahrer Martin Lee (* 1938), demokratischer Politiker, Anwalt und ehemaliger Oppositionsführer Amanda Lear (* 1939), britisch-asiatische Sängerin, Entertainerin und Tänzerin Luis F. Baptista (1941–2000), US-amerikanischer Ornithologe Donald Tsang (* 1944), ehemaliger Verwaltungschef der chinesischen Sonderverwaltungszone Hongkong Timothy Fok (* 1946), Unternehmer und Sportfunktionär Elaine Ling (1946–2016), kanadische Ärztin und Fotografin James P. Tam (* 1947), Chemiker Dennis Chan (* 1949), Schauspieler, Drehbuchautor, Regisseur und Filmproduzent Wayne Wang (* 1949), US-amerikanischer Regisseur chinesischer Herkunft Ma Ying-jeou (* 1950), Präsident der Republik China (Taiwan) von 2008 bis 2016 Joseph Lau (* 1951), Unternehmer, Milliardär und verurteilter Straftäter Sammo Hung (* 1952), Martial-Arts-Künstler und Regisseur Emily Lau (* 1952), Journalistin und Politikerin in Hongkong; erste Frau, die direkt in den Legislativrat gewählt wurde (1991) Lai-Sang Young (* 1952), US-amerikanische Mathematikerin chinesischer Herkunft Jackie Chan (* 1954), Schauspieler, Martial-Arts-Künstler, Sänger und Produzent Chan Wing-wah (* 1954), Komponist und Dirigent Jacky Wong (1954–2022), deutsch-chinesischer Bodybuilder, Schauspieler und Unternehmer Ringo Lam (1955–2018), Filmregisseur Chow Yun-Fat (* 1955), Schauspieler Johnnie To (* 1955), Filmregisseur Leslie Cheung (1956–2003), Schauspieler und Sänger Beate Terfloth (* 1958), deutsche Künstlerin und Professorin Stephen Chow Sau-yan (* 1959), römisch-katholischer Ordensgeistlicher, Bischof von Hongkong Joseph Ha Chi-shing (* 1959), Weihbischof in Hongkong Lydia Wong (* 1960), kanadische Pianistin und Musikpädagogin Benny Chan (1961–2020), Drehbuchautor, Filmregisseur und Filmproduzent Andy Lau (* 1961), Schauspieler und Sänger Stephen Chow (* 1962), Regisseur und Schauspieler Tony Leung Chiu Wai (* 1962), Schauspieler Raymond W. Yeung (* 1962), Informationstheoretiker Hui Cheung-wai (* 1963), Komponist Philip Ma (* 1963), hongkong-chinesischer Autorennfahrer Anita Mui (1963–2003), Musikerin und Schauspielerin Maggie Cheung (* 1964), Filmschauspielerin Anthony Mosse (* 1964), neuseeländischer Schwimmer Mak Ka Lok (* 1965), macauischer Autorennfahrer Nicole Razavi (* 1965), deutsche Politikerin (CDU) Gary Kwok (* 1966), kanadischer Autorennfahrer Byron Mann (* 1967), amerikanischer Schauspieler Delia Mayer (* 1967), Schweizer Schauspielerin und Sängerin Stephen Yip (* 1971), chinesisch-US-amerikanischer Komponist und Organist Kelly Chen (* 1972), Sängerin (Cantopop) und Schauspielerin Tom Wu (* 1972), Schauspieler Trey Lee (* 1973), kanadischer Cellist Benjamin Mercer (* 1973), britisch-finnischer Filmeditor Wong Kam Po (* 1973), Radsportler Wallace Chung (* 1974), Sänger und Schauspieler Joseph Merszei (* 1974), macauischer Autorennfahrer Royden Lam (* 1975), Dartspieler Marchy Lee (* 1976), hongkong-chinesischer Rennfahrer Herman Li (* 1976), Gitarrist der britischen Power-Metal-Band DragonForce Lo Ka Chun (* 1977), Hongkonger Autorennfahrer Marco Fu (* 1978), Snookerspieler Michael Ho alias DJ Beware (* 1978), international erfolgreicher DJ Angel Lam (* 1978), Komponistin Andreas Nägelein (* 1981), chinesisch-deutscher Fußballspieler Anson Tsang (* 1982 oder 1983), Pokerspieler Katrina Kaif (* 1983), britisch-indisches Model und Schauspielerin Chelsea Winter (* 1983), neuseeländische Köchin und Fachautorin Charles Ng (* 1984), hongkong-chinesischer Autorennfahrer Julia Hargreaves (* 1986), australische Springreiterin Jamie Wong (* 1986), Radsportlerin Lee Wai-sze (* 1987), Radsportlerin Lily Ho (* 1988), Schauspielerin Michael Freiberg (* 1990), australischer Radsportler Jessica Lee Hoi-yan (* 1990), Bahnradsportlerin Fong Yee Pui (* 1991), Sprinterin Grace Lau (* 1991), Karateka Ng Ka Fung (* 1992), Sprinter Lam On Ki (* 1992), Sprinterin Daniel Tang (* 1992), Pokerspieler Kenneth To (1992–2019), chinesisch-australischer Schwimmer Imogen Simmonds (* 1993), britisch-schweizerische Triathletin Mark Chapman (* 1994), hongkong-neuseeländischer Cricketspieler Vivian Kong (* 1994), Fechterin Chan Ming Tai (* 1995), Weitspringer Joshua Wong (* 1996), Studentenaktivist Agnes Chow (* 1996), Demokratieaktivistin Lee Cheuk Yiu (* 1996), Badmintonspieler Cheung Ka Long (* 1997), Fechter Ebbie Tam (* 1997), chinesisch-niederländische Kinderdarstellerin Ng Tsz Yau (* 1998), Badmintonspielerin Adithya Karunaratne (* 2001), Tennisspielerin Finn Elliot (* 2002), Schauspieler Chan Sin-Yuk (* 2002), Squashspielerin Muna Tseng, US-amerikanische Tänzerin, Tanzpädagogin und Choreographin Coleman Wong (* 2004), Tennisspieler === Persönlichkeiten, die in Hongkong gewirkt haben === Li Ka-shing (* 1928 in Chaozhou), Unternehmer und Investor in Hongkong; einer der reichsten Persönlichkeiten Chinas Henry Steiner (* 1934 in Wien), österreichischer Designer Tao Ho (1936–2019 * in Shanghai), Architekt und Designer; entwarf beispielsweise Flagge und Emblem der Sonderverwaltungszone Hongkong Bruce Lee (* 1940 in San Francisco, † 1973 in Hongkong), sino-amerikanischer Kampfkünstler, Kampfkunst-Ausbilder und Schauspieler Allan Zeman (* 1949 in Regensburg), Unternehmer in Hongkong Vivienne Tam (* 1957 in Guangzhou), Modeschöpferin Wong Kar-Wai (* 1958 in Schanghai), Drehbuchautor, Filmproduzent und Filmregisseur aus Hongkong == Literatur == Linda Butenhoff: Social movements and political reform in Hong Kong, Westport, Conn. [u. a.]: Praeger 1999, ISBN 0-275-96293-8. Frank Ching: The Li dynasty, Hong Kong aristocrats. Hong Kong, Oxford Univ. Press 1999, ISBN 0-19-590904-6. G.B. Endacott: A History of Hong Kong. Oxford University Press, London 1964, 1988, ISBN 0-19-638264-5 (Das Standardwerk zur Geschichte Hongkongs). Louisa Lim: Indelible City: Dispossession and Defiance in Hong Kong. Riverhead, New York 2022, ISBN 978-0-593-19183-5. Werner Lips: Hongkong, Macau und Kanton. Reise-Know-How, Bielefeld 2002, ISBN 3-8317-1029-5. Suzanne Pepper: Keeping Democracy at Bay – Hong Kong and the Challenge of Chinese Political Reform Rowman & Littlefield, Lanham 2008. Kit Poon: The Political Future of Hong Kong: Democracy within Communist China Routledge, New York 2008. Evelyn Lu Yen Roloff: Die Sars-Krise in Hong Kong. Zur Regierung von Sicherheit in der Global City. Transcript Verlag, Bielefeld 2007, ISBN 3-89942-612-6. Hans-Wilm Schütte: Hongkong, Macau. Mairs Geographischer, Ostfildern 2004, ISBN 3-8297-0134-9. Jane Setter, Cathy S. P. Wong and Brian H. S. Chan: Hong Kong English, Edinburgh University Press, Edinburgh 2010, ISBN 978-0-7486-3596-2. Han Suyin: Alle Herrlichkeit auf Erden. (Originaltitel: A Many Splendoured Thing). Autobiographischer Roman über Hongkong in den Jahren 1949–1951. Niemeyer, Hameln 1995, ISBN 3-87585-940-5. Jung-Fang Tsai: Hong Kong in Chinese History Columbia University Press, 1995. ISBN 0-231-07933-8. Steve Tsang: A Modern History of Hong Kong I.B. Tauris, London 2004. ISBN 1-86064-184-9. Stefan Zimmermann: E-Government in Hongkong – Digitalisierung der Verwaltung in einer chinesischen Metropole. Ibidem, Stuttgart 2004, ISBN 3-89821-338-2. Hongkong. Geo Special. Gruner u. Jahr, Hamburg 1995, ISSN 0342-8311. Der National Geographic Walker Hongkong. Mairs Geographischer Verlag, Ostfildern 2003. Im Maul des roten Drachen: Hongkong. Geo 12/1976 Seite 100–124. Gruner + Jahr, Hamburg. == Weblinks == Literatur von und über Hongkong im Katalog der Deutschen NationalbibliothekWebsites in Hongkong: Offizielle Website der Regierung – The Hong Kong Government (chinesisch, englisch) Offizielle Website des Amts für Statistik – Census and Statistics Department (chinesisch, englisch) Offizielle Website zur Gesetzgebung der Regierung Hong Kong e-Legislation (chinesisch, englisch)Allgemeine Info: Offizielle Website der Regierung – Hong Kong – The Facts (chinesisch, englisch) Offizielle Website der Regierung – Hong Kong – Fact Sheets (chinesisch, englisch) Offizielle Website der Regierung – Facts and Figures (chinesisch, deutsch, englisch) Hong Kong Government Reports Online 1853–1941 (englisch) Hong Kong Public Library's Multimedia Information System (MIS) – Online Old HK Newspaper Collection (englisch)Websites in Deutschland: Dossiers zum Thema Hongkong in der Pressemappe 20. Jahrhundert der ZBW – Leibniz-Informationszentrum Wirtschaft. Hong Kong: Länderinformationen des Auswärtigen Amtes Hauptseite das Deutsche Generalkonsulat in HongkongAndere Websites: Hong Kong Facts In: Facts.net (englisch) Hong Kong beim CIA World Fact Book (englisch) == Einzelnachweise ==
https://de.wikipedia.org/wiki/Hongkong
Abraham Lincoln
= Abraham Lincoln = Abraham Lincoln [ˈeɪbɹəhæm ˈliŋkən] (* 12. Februar 1809 bei Hodgenville, Hardin County, heute: LaRue County, Kentucky; † 15. April 1865 in Washington, D.C.) amtierte von 1861 bis 1865 als 16. Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika. Im Jahr 1860 erstmals gewählt, gelang ihm 1864 die Wiederwahl für eine zweite Amtszeit. Er war der erste Präsident aus den Reihen der Republikanischen Partei und der erste, der einem Attentat zum Opfer fiel. Lincolns Präsidentschaft gilt als eine der bedeutendsten in der Geschichte der Vereinigten Staaten: Die Wahl des Sklavereigegners veranlasste zunächst sieben, später weitere vier der sklavenhaltenden Südstaaten, aus der Union auszutreten und einen eigenen Staatenbund, die Konföderierten Staaten von Amerika, zu bilden. Lincoln führte die verbliebenen Nordstaaten durch den daraus entstandenen Sezessionskrieg. Er setzte die Wiederherstellung der Union durch und betrieb erfolgreich die Abschaffung der Sklaverei in den USA. Unter seiner Regierung schlug das Land endgültig den Weg zum zentral regierten, modernen Industriestaat ein und schuf so die Basis für seinen Aufstieg zur Weltmacht im 20. Jahrhundert. == Leben == === Kindheit und Jugend === Abraham Lincoln wurde in einer Blockhütte auf der Sinking Spring Farm nahe dem Dorf Hodgenville in Kentucky geboren. Seine Eltern waren der Farmer Thomas Lincoln und dessen Frau Nancy, die beide aus Virginia stammten. Thomas Lincolns Vorfahren waren einige Generationen zuvor aus der ostenglischen Grafschaft Norfolk nach Amerika ausgewandert. Zu seiner Familie gehörten noch Abrahams ältere Schwester Sarah sowie ein jüngerer Bruder Thomas jr., der aber schon kurz nach der Geburt starb. Als frommer Baptist lehnte Lincolns Vater die in Kentucky erlaubte Sklaverei ab, obwohl einige seiner Verwandten Sklavenhalter waren. Ende 1816 zog er mit seiner Familie nach Little Pigeon Creek im Südwesten des sklavenfreien Staats Indiana. Zwei Jahre später starb seine Frau Nancy an der so genannten Milchkrankheit. 1819 heiratete Thomas Lincoln die Witwe Sarah Bush Johnston, die drei eigene Kinder in die Ehe mitbrachte. Abraham Lincoln pflegte als Halbwaise zu seiner Stiefmutter zeitlebens eine warmherzige Beziehung – auch, weil sie, anders als sein Vater, sein Streben nach Bildung unterstützte. Die Bildungsmöglichkeiten an der Frontier, der Siedlungsgrenze zur Wildnis, waren äußerst begrenzt. Auch in der Region von Indiana, in der die Lincolns damals lebten, gab es nur sporadisch betriebene Einraum-Schulen in Blockhütten, in denen die Kinder aller Jahrgänge gemeinsam unterrichtet wurden. Viel mehr als Grundkenntnisse im Lesen, Schreiben und Rechnen wurde dort nicht vermittelt. Die Schüler lernten meist durch gemeinsames Rezitieren. Selbst diese Art des Unterrichts hat Lincoln nur sehr unregelmäßig genossen. Von 1816 bis 1827 hat er zwar verschiedene Schulen in und um das heutige Cannelton besucht, zwischen seinem 11. und seinem 15. Lebensjahr aber nicht länger als insgesamt ein Jahr. Seine umfassende Bildung hat er sich vor allem als Autodidakt angeeignet. Der junge Lincoln war lesehungrig und verschlang jedes Buch, dessen er habhaft werden konnte. Neben der King-James-Bibel beeinflussten ihn vor allem die Dramen William Shakespeares sowie Werke von Homer, Vergil, John Dryden, John Milton und Daniel Defoe. Seine Belesenheit und Gewandtheit im Ausdruck wurden bald im näheren Umkreis bekannt, so dass Nachbarn ihn schon als Jugendlichen baten, Briefe für sie aufzusetzen.Im Wesentlichen aber bestand Lincolns Leben damals aus der harten und ungeliebten Farmarbeit mit seinem Vater. Thomas Lincoln lieh seinen Sohn gegen Bezahlung auch an Nachbarn aus, wenn diese Unterstützung benötigten. Bis zu seinem 19. Lebensjahr teilte Abraham Lincoln das Pionierdasein seiner Familie in Indiana. 1830 zogen die Lincolns erneut weiter nach Westen, ins Macon County in Illinois. Kurz darauf verließ Abraham das Elternhaus und ließ sich im Präriestädtchen New Salem, im benachbarten Sangamon County nieder, wo er eine Stelle als Kaufmannsgehilfe annahm. In den nächsten Jahren war er dort auch als Landvermesser und Posthalter tätig. In seiner Freizeit betätigte er sich damals als Ringer. Er war 1830 Meister in seinem County und musste in den folgenden zehn Jahren nur eine Niederlage hinnehmen. Das städtische Amerika lernte er erstmals im Jahr 1831 kennen, in dem er als Flößer auf dem Ohio und dem Mississippi flussabwärts bis nach New Orleans fuhr. === Lincolns Aufstieg === Im Jahr 1832 nahm Lincoln als Freiwilliger am Kriegszug gegen die Sauk-Indianer unter Häuptling Black Hawk teil, ohne aber in Kämpfe verwickelt zu werden. Seine Kameraden wählten ihn bei dieser Gelegenheit zum Captain. Dies und die Tatsache, dass er sich in einem Debattierclub in New Salem als guter Redner erwiesen hatte, ermutigten ihn, noch im selben Jahr für das Repräsentantenhaus von Illinois zu kandidieren. Als Parteigänger der Whigs trat er im Wahlkampf für den Ausbau der Verkehrswege und eine Verbesserung des Schulwesens ein. Im ersten Anlauf scheiterte Lincoln, aber 1834 errang er das Mandat, das er über vier Legislaturperioden bis 1842 behalten sollte. ==== Parlamentarier und Anwalt in Illinois ==== Das Staatsparlament von Illinois hatte bis 1839 seinen Sitz in der ersten Landeshauptstadt Vandalia. Als Honest Abe – ehrlicher Abe –, ein Spitzname, der ihm bleiben sollte, erwarb sich Abraham Lincoln dort rasch so viel Vertrauen, dass er zum Sprecher des Finanzausschusses und bereits mit 27 Jahren zum Parteiführer der oppositionellen Whigs gewählt wurde. Aus dem Jahr 1837 datiert seine erste öffentliche Stellungnahme gegen die Sklaverei. In einer Parlamentsdebatte stellte er fest, „dass die Institution der Sklaverei auf Ungerechtigkeit und schlechte Politik zurückzuführen ist“. In den ersten Jahren seiner politischen Tätigkeit absolvierte Lincoln ein diszipliniertes Selbststudium der Rechtswissenschaften; 1836 wurde er zur Anwaltskammer von Illinois zugelassen. Im folgenden Jahr gründete er mit dem Rechtsanwalt John T. Stuart eine gemeinsame Kanzlei in der neuen Hauptstadt von Illinois, Springfield. Doch auch als Anwalt lebte Lincoln noch lange in äußerst bescheidenen Verhältnissen. Während seiner Zeit in Springfield näherte sich Lincoln den Freimaurern an, die damals hohes Ansehen genossen. Obwohl er der Vereinigung wohlwollend gegenüberstand, wurde er jedoch nie – wie später irrtümlich behauptet – ihr Mitglied. Kurz vor seiner Wahl zum Präsidenten zog er ein Gesuch um Aufnahme in die Tyrian Lodge No. 333 in Springfield zurück, weil er diesen Schritt nicht als Wahlkampftaktik missverstanden sehen wollte. ==== Familiengründung ==== Im Jahr 1842 heiratete Abraham Lincoln Mary Todd, die einer reichen Familie von Pflanzern und Sklavenhaltern aus Kentucky entstammte. Bei den Todds stieß diese Verbindung auf erheblichen Widerstand, da Lincoln nur wenig Vermögen besaß und seine politischen Ansichten den ihren weitgehend widersprachen. Ein Verwandter Mary Lincolns, ihr Schwager Benjamin Hardin Helm, stieg im Sezessionskrieg sogar zum General der konföderierten Armee auf. Er fiel später in der Schlacht am Chickamauga. Abraham und Mary Lincoln wurden vier Söhne geboren: Robert Todd Lincoln (* 1. August 1843 in Springfield, Illinois; † 26. Juli 1926 in Manchester, Vermont) Edward „Eddie“ Baker Lincoln (* 10. März 1846 in Springfield, Illinois; † 1. Februar 1850 ebenda) William „Willie“ Wallace Lincoln (* 21. Dezember 1850 in Springfield, Illinois; † 20. Februar 1862 in Washington, D.C.) Thomas „Tad“ Lincoln (* 4. April 1853 in Springfield, Illinois; † 16. Juli 1871 in Chicago, Illinois).Zwei Kinder starben also bereits zu Lincolns Lebzeiten, und nur Robert erreichte das Erwachsenenalter. Wie sein Vater schlug er eine Karriere als Anwalt und Politiker ein und war von 1881 bis 1885 US-Kriegsminister. Der letzte direkte Nachfahre Abraham Lincolns, Robert Todd Lincoln Beckwith, ein Urenkel, starb 1985 im Alter von 81 Jahren. ==== Abgeordneter im Repräsentantenhaus ==== Im Jahr seiner Heirat schied Lincoln aus dem Staatsparlament von Illinois aus, um sich verstärkt seiner Anwaltstätigkeit zu widmen. Er erwarb sich einen Ruf als Spezialist für Eisenbahnrecht und kam allmählich zu bescheidenem Wohlstand. 1842 bemüht sich Lincoln vergebens darum, bei den Wahlen zum Repräsentantenhaus als Kandidat der Whigs aufgestellt zu werden. Er führte sein Scheitern darauf zurück, dass er keiner Kirche angehörte und sich am 22. September mit dem demokratischen Politiker James Shields ein Duell mit Korbschwertern geliefert zu haben, auch wenn dabei aufgrund des Einschreitens der Sekundanten niemand verletzt worden war.Als einer der führenden Köpfe der Whigs in dem jungen Bundesstaat wurde Lincoln dann 1846 ins Repräsentantenhaus gewählt. In Washington trat er als Gegner von Präsident James K. Polk und seiner Kriegspolitik gegen Mexiko auf. So forderte er Polk, der den Krieg als Akt der Selbstverteidigung darstellte, in mehreren Resolutionen dazu auf, den genauen Punkt (englisch: spot) zu benennen, an dem die mexikanische Armee in US-Territorium eingedrungen sei. Diese von Polk ignorierten Anträge wurden als Spot Resolutions bekannt, während Lincoln selbst wegen seiner Kriegsgegnerschaft von der Mehrheit der Presse angegriffen und als spotty Lincoln verhöhnt wurde. Er ging jedoch nicht so weit, der Streichung der Geldmittel für die Armee zuzustimmen. Im Januar 1849 brachte er eine Resolution zur Beschränkung der Sklaverei im District of Columbia ein. Ansonsten machte er bei seinem ersten Auftreten in der Bundespolitik kaum von sich reden. Für Lincoln war es wichtig, im engen Kontakt zu seinen Wählern zu bleiben, den er durch seine Tätigkeit als Anwalt aufgebaut hatte. Ein Angebot, als Partner in eine Kanzlei in Chicago einzusteigen, schlug er daher aus. Da er in Washington ohne seine Familie lebte, reizte ihn auch eine Karriere in der Bundeshauptstadt wenig. Der 1849 ins Amt gelangte Präsident Zachary Taylor bot ihm an, Gouverneur des neuen Territoriums Oregon zu werden, das die heutigen Staaten Oregon, Washington und Idaho sowie Teile Montanas und Wyomings einschloss. Aber auch dies schlug er aus und kehrte 1849 nach Springfield zurück. Für die nächsten fünf Jahre verabschiedete sich Abraham Lincoln aus der Politik. Erst die Verschärfung des Konflikts zwischen Befürwortern und Gegnern der Sklaverei brachte ihn auf die politische Bühne zurück. === Weg zur Präsidentschaft === Um zu verstehen, wie Abraham Lincoln von einer kaum über Illinois hinaus bekannten Parteigröße zu einem in ganz Amerika beachteten Politiker und schließlich zum Präsidentschaftskandidaten der neuen Republikanischen Partei werden konnte, muss man die Entwicklung der Sklavenfrage und Lincolns Haltung dazu betrachten. ==== Gegensätze zwischen Nord und Süd ==== Gesellschaftlich, kulturell und wirtschaftlich unterschieden sich der Norden und der Süden der USA in wesentlichen Punkten. Sie bildeten völlig gegensätzliche Wirtschaftssysteme aus, deren Interessen sich im Laufe des 19. Jahrhunderts immer schwerer miteinander vereinbaren ließen. Der Süden, als Agrarland auf die Ausfuhr von Baumwolle, Tabak und anderen Plantagenprodukten angewiesen, verfocht eine Freihandelspolitik, worin er von Großbritannien unterstützt wurde. Der Norden, der seine noch junge Industrie vor der Einfuhr von Massenprodukten aus England schützen wollte, trat für möglichst hohe Schutzzölle ein. Die Partei der Whigs – insbesondere deren Gründer Henry Clay, den Lincoln als sein Vorbild ansah – forderten wie später auch die Republikaner eine starke Zentralmacht, eine Nationalbank sowie Bundesausgaben zur Verbesserung der zwischenstaatlichen Infrastruktur, etwa durch den Bau von Fernstraßen und Kanälen. Nicht zuletzt befürworteten sie das Prinzip der freien Arbeit in den neu zu besiedelnden Gebieten des Westens. Die im Süden traditionell starke Demokratische Partei dagegen lehnte all das ab und war für eine weitgehende Autonomie der Einzelstaaten. Dies schloss auch das Recht neuer Staaten ein, auf ihrem Gebiet die Sklaverei zu gestatten. Trotz seiner geringeren Bevölkerungszahl nahm der Süden mit seiner reichen Pflanzeraristokratie bis zum Bürgerkrieg die politisch und gesellschaftlich führende Rolle innerhalb der USA ein. So kamen zum Beispiel die meisten Präsidenten aus den Sklavenstaaten. Zudem wog die Stimme eines weißen Südstaatlers bei Wahlen ungleich schwerer als die eines Nordstaatlers. Denn die Anzahl der Abgeordneten, die ein Staat ins Repräsentantenhaus entsenden durfte, hing von seiner Einwohnerstärke ab. Jedem der Südstaaten aber wurde die Zahl der dort lebenden afroamerikanischen Sklaven zu drei Fünfteln angerechnet, obwohl diesen selbst das Wahlrecht verwehrt war. Seit Beginn des 19. Jahrhunderts schritten Industrialisierung und Bevölkerungswachstum im Norden zwar rasch voran, so dass sich das wirtschaftliche Gewicht immer mehr zu seinen Gunsten verschob. Gleichzeitig aber gewannen die Stimmen der Südstaatler im Kongress an Gewicht, da die Anzahl ihrer Sklaven zwischen 1780 und 1860 von 500.000 auf 4 Millionen anstieg. Der wesentliche Grund dafür, dass sich die Sklaverei trotz des seit 1808 geltenden, offiziellen Verbots des Sklavenhandels auf dem Vormarsch befand, war der anhaltende Boom der amerikanischen Baumwollwirtschaft. In den frühen Jahren der Republik hatten sogar viele Politiker aus den Südstaaten, die – wie George Washington oder Thomas Jefferson – selbst Sklavenhalter waren, an eine allmähliche Abschaffung oder ein Absterben der Sklaverei gedacht. Im Jahr 1793 jedoch erfand Eli Whitney die Cotton Gin, eine Maschine, die die Fasern der Baumwolle von ihren Samenkapseln trennt. Sie steigerte die Effizienz der Entkörnung um das 50fache und machte den Baumwollanbau im großen Stil – und damit auch den Einsatz von Sklaven – profitabler denn je. Zwischen 1790 und 1820 stieg der Baumwollexport allein nach England um mehr als das Hundertfache an, von 700.000 auf 76 Millionen Kilogramm. Da Baumwolle den Boden stark auslaugt, werden nach einigen Jahren neue Anbauflächen benötigt. Anders als alle übrigen Baumwollproduzenten weltweit verfügten die Südstaatler aber nahezu unbegrenzt über Land, Arbeitskräfte und Kapital – wegen der von Weißen noch unbesiedelten Gebiete im Westen, der Sklaverei und finanzstarken Kreditgebern im Norden. So beherrschten die USA 1860 dank King Cotton (König Baumwolle) den weltweiten Baumwollmarkt.In den ersten 50 Jahren nach der Gründung der USA hatte die Sklavenfrage in der Innenpolitik nur eine untergeordnete Rolle gespielt. Mit der Ausweitung der Sklaverei wuchs aber auch der Widerstand dagegen. Viele Nordstaatler lehnten sie aus wirtschaftlichen Gründen ab, so etwa die bäuerlichen Anhänger der Free Soil Party, die sich von Seiten der südstaatlichen Pflanzer einem unfairen Wettbewerb um Land und billige Arbeitskraft ausgesetzt sahen. Ähnlich argumentierte der südstaatliche Autor Hinton Rowan Helper in seinem Bestseller The Impending Crisis of the South (Die drohende Krise des Südens), in dem er die Sklaverei als Hemmnis für die ökonomische Entwicklung darstellte.Zudem entstanden seit den 1830er Jahren im Norden publizistisch einflussreiche Vereinigungen von Abolitionisten, die die Sklaverei grundsätzlich ablehnten. Die einen – wie etwa der Journalist William Lloyd Garrison – forderten aus religiös-moralischen, die anderen – wie der entflohene Sklave Frederick Douglass – aus prinzipiellen Erwägungen heraus die Abschaffung der peculiar institution (der „besonderen Einrichtung“), wie die Sklaverei in der US-Verfassung verbrämend genannt wurde. Sie unterstützten die Bildung von Anti-Sklaverei-Wahlblöcken, die seit den 1840er Jahren immer mehr abolitionistisch gesinnte Politiker nach Washington brachten. Abgeordnete wie John Quincy Adams, Thaddeus Stevens oder Charles Sumner widersetzten sich Regelungen, die bis dahin verhindert hatten, dass das Sklaverei-Thema im Kongress auch nur erörtert wurde und setzten dieses endgültig auf die politische Agenda. Ihnen traten Südstaaten-Politiker wie der ehemalige Vize-Präsident und Senator von South Carolina, John C. Calhoun, entgegen. Er sah in der Sklaverei ein „positives Gut“, da die „Negerrasse“ von Natur aus zum Dienen bestimmt sei und es den Afroamerikanern in Gefangenschaft besser gehe als in Freiheit. Den gewaltlosen Aktionen der Abolitionisten schlug im Süden – und nicht nur dort – verstärkt Hass und Gewalt entgegen. In Lincolns Heimatstaat Illinois ermordeten 1837 fanatische Sklavereibefürworter den abolitionistischen Prediger Elijah P. Lovejoy. Er war der erste weiße Amerikaner, der wegen des Streits um die Sklavenfrage getötet wurde. ==== Zuspitzung der Sklavenfrage ==== Freie und Sklavenstaaten waren zunehmend darauf bedacht, gegenüber der jeweils anderen Seite im Senat nicht in die Minderheit zu geraten. Dieses Problem stellte sich jedes Mal neu, wenn ein weiterer Staat in die Union aufgenommen werden sollte. Eine erste Zuspitzung des Konflikts konnte 1820 durch den Missouri-Kompromiss entschärft werden. Er sah vor, dass die Sklaverei nördlich der Mason-Dixon-Linie, die auf etwa 36° 30′ nördlicher Breite verlief, in allen neuen Staaten mit Ausnahme Missouris verboten sein solle. Dennoch wurde die Präsidentschaftswahl von 1844 von der Frage beherrscht, ob die wenige Jahre zuvor von Mexiko unabhängig gewordene Republik Texas als Sklavenstaat annektiert werden solle oder nicht. Die Annexion führte zum Mexikanisch-Amerikanischen Krieg, der 1848 mit weiteren, großen Landgewinnen der USA südlich der Mason-Dixon-Linie endete. Dadurch drohte sich das politische Gleichgewicht erneut zugunsten des Südens zu verschieben. Das sogenannte Wilmot Proviso, nach dem die Sklaverei in den eroberten Gebieten verboten werden sollte, erlangte nie Gesetzeskraft. Mit dem Kompromiss von 1850 aber gelang es dem Kongress ein letztes Mal, die Gegensätze zwischen den Staaten auszugleichen: Einerseits bestimmte er, dass Kalifornien der Union als sklavenfreier Staat beitreten sollte, andererseits verabschiedete er den Fugitive Slave Act. Wegen dieses Gesetzes, das sklavenfreie Staaten verpflichtete, entflohene Sklaven auszuliefern, spaltete sich jedoch die Partei der Whigs, der Lincoln angehörte. Am 30. Mai 1854 jedoch verabschiedete der Kongress auf Antrag des demokratischen Senators Stephen A. Douglas, eines späteren politischen Gegners Lincolns, den Kansas-Nebraska Act. Dieses Gesetz stellte es den beiden Territorien – obwohl nördlich der Mason-Dixon-Linie gelegen – frei, in ihren künftigen Staatsverfassungen selbst festzulegen, ob sie die Sklaverei gestatten oder nicht. Daraufhin brach in Bleeding Kansas, dem blutenden Kansas, ein „Bürgerkrieg vor dem Bürgerkrieg“ aus. In ihm bekämpften sich Sklavereibefürworter und Anhänger der Free-Soil-Bewegung, die für das Prinzip der freien Arbeit auf freiem Land eintraten. Das innenpolitische Klima in den USA verschärfte sich nach der Verabschiedung des Gesetzes in einem Maße, das ausgleichende Debatten und Kompromisse kaum noch zuließ. Auf beiden Seiten nahmen irrationale Ängste zu, und Verschwörungstheorien stießen zunehmend auf Akzeptanz. Der einflussreiche Senator John C. Calhoun hatte bereits vor 1850 die Ansicht verbreitet, die Befreiung der Sklaven werde zum Rassenkrieg und zur Vernichtung der Union führen. Er und andere Apologeten der Sklaverei sahen in ihr nicht länger ein unvermeidliches Übel, sondern eine für Herren wie Sklaven positive Einrichtung, die es unbedingt zu schützen gelte. George Fitzhugh, ein in den 1850er Jahren vielbeachteter und auch von Lincoln gelesener Autor, ging sogar noch weiter. Er forderte, dass außer den schwarzen auch die weißen Arbeiter versklavt werden sollten. Viele Demokraten argumentierten in Wahlkämpfen unverhohlen rassistisch, versuchten ihre Gegner als „schwarze Republikaner“ zu verunglimpfen und setzten die Befreiung der Afroamerikaner mit „Rassenmischung“ und „freier Liebe“ gleich. Diesem Argument begegnete Lincoln mit der Aussage: „Ich kann nicht nachvollziehen, warum ich, weil ich keine Negerin als Sklavin haben will, sie unbedingt als Ehefrau wollen sollte.“ Weiter vertieft wurden die Gegensätze zwischen Nord und Süd 1857 durch das Urteil des Obersten Gerichtshofs im Fall Dred Scott versus Sandford. In der Urteilsbegründung stellte Chief Justice Roger B. Taney fest, dass Afroamerikanern grundsätzlich keine Bürgerrechte in den USA zustünden. Auch Sklaven, die in den freien Staaten und Territorien des Nordens lebten, würden dadurch nicht frei. Das Gericht stärkte damit die Rechte der Sklavenhalter auf ihr „Eigentum“, indem es das Recht des Kongresses bestritt, die Sklaverei in irgendeinem Staat oder Territorium zu verbieten. Sowohl mit dem Kansas-Nebraska-Gesetz als auch mit dem Urteil zu Ungunsten des Sklaven Dred Scott wurde der Missouri-Kompromiss faktisch aufgehoben. Dies löste im Norden eine Welle der Empörung aus. Eine letzte, entscheidende Verschärfung erfuhr der Konflikt am 16. Oktober 1859, als eine Gruppe radikaler Abolitionisten unter Führung von John Brown das Waffendepot der US-Armee in Harpers Ferry in Virginia überfiel. Ihr Ziel war es, Sklaven mit den erbeuteten Waffen auszurüsten und einen Befreiungskrieg im Süden zu führen. Der schlecht geplante Aufstand scheiterte von Beginn an. Browns Truppe wurde von virginischen Milizsoldaten, die der spätere Konföderiertengeneral Robert E. Lee anführte, aufgerieben und er selbst noch im Dezember desselben Jahres hingerichtet. Im Süden als Terrorist, im Norden von vielen als Freiheitsheld betrachtet, galt Brown nach einem Wort von Herman Melville als „Meteor des Krieges“, der nur 18 Monate nach der Aktion von Harpers Ferry ausbrach. Eine ihrer Folgen war, dass Virginia seine Miliztruppe zu einer professionellen Armee ausbaute und dass die Präsidentschaftswahl von 1860 ganz im Zeichen der Sklavenfrage stand. Ein Kompromiss zwischen Gegnern und Befürwortern der Sklaverei schien kaum noch möglich. Gemäßigte und radikale Sklavereigegner schlossen sich enger zusammen, während die Demokratische Partei zerbrach, wie zuvor schon die der Whigs. ==== Lincoln als gemäßigter Gegner der Sklaverei ==== Lincolns Partei hatte bereits nach dem Kompromiss von 1850 erste Zerfallserscheinungen gezeigt. Vollends brach sie wegen des Streits um den Kansas-Nebraska-Act von 1854 auseinander. In diesem Jahr schlossen sich die meisten Whigs mit gemäßigten Sklavereigegnern aus den Reihen der Demokraten zur Republikanischen Partei zusammen. Verstärkt wurden sie durch Abolitionisten und Free Soiler. Sie alle sahen in den sklavereifreundlichen Regierungen der 1850er Jahre bereits die Verwirklichung der so genannten slave power, einer von ihnen befürchteten Tyrannei der Sklavenhalter-Aristokratie, über die gesamten Vereinigten Staaten. Mit der Verabschiedung des Kansas-Nebraska Acts schienen slave power bzw. slavocracy endgültig in die Offensive zu gehen. Dies bewog Abraham Lincoln, in die Politik zurückzukehren. Am 22. Februar 1856 gründeten er und 24 weitere Gegner des Kansas-Nebraska-Gesetzes auch in Illinois einen Ableger der Republikanischen Partei. Zu dieser Zeit war er kein bedingungsloser Gegner der Sklaverei. Er verabscheute sie zwar moralisch, vertrat gegenüber den Südstaaten damals aber einen streng am geltenden Recht und Gesetz orientierten Standpunkt. So war er der Ansicht, dass die Gründerväter der Vereinigten Staaten die Sklaverei grundsätzlich als Übel angesehen, sie aber aus pragmatischen Gründen weiterhin in jenen Staaten geduldet hätten, in denen sie zur Zeit der Unabhängigkeitserklärung von 1776 und zum Zeitpunkt der Verabschiedung der US-Verfassung von 1787 bereits bestand. Eine Ausdehnung der Sklaverei auf weitere Staaten und Territorien widerspreche aber dem Geist der Verfassung und den freiheitlichen Prinzipien der Amerikanischen Revolution. Bei einer Rede in Springfield sprach er sich im Oktober 1854 dafür aus, mit den Abolitionisten zusammenzuarbeiten, wenn es um die Wiederherstellung des Missouri-Kompromisses ging, aber sich gegen sie zu stellen, wenn sie den Fugitive Slave Act abschaffen wollten. Er nahm damit eine Haltung zwischen radikalen Abolitionisten und Free Soilern ein, was ihn für breite Wählergruppen interessant machte. Im Jahr 1855 scheiterte sein erster Versuch, einen Sitz im Senat zu erlangen. Drei Jahre später unternahm er einen zweiten Anlauf. Sein Gegenkandidat war Senator Stephen A. Douglas, der Führer der Demokraten auf Unionsebene. Zum Auftakt des Wahlkampfs brachte Lincoln in einer berühmt gewordenen House-Divided-Rede, die er am 16. Juni 1858 im Staatsparlament von Illinois hielt, die Sklavenfrage und ihre Auswirkungen auf die amerikanische Politik auf den Punkt: In derselben Rede verdächtigte Lincoln seinen Gegner Douglas, den obersten Bundesrichter Taney, Präsident James Buchanan und dessen Vorgänger Franklin Pierce Teil einer Verschwörung zu sein, deren Ziel es sei, die Sklaverei auch in den bislang freien Bundesstaaten einzuführen. Einen Beleg für diesen Verdacht, den viele Nordstaatler teilten, gab es nicht. Aber indem Lincoln ihn in der Rede öffentlich geäußert und dabei festgestellt hatte, dass es keinen Kompromiss zwischen Sklaverei und Freiheit geben könne, erregte er landesweites Aufsehen als einer der entschiedensten Gegner der Sklaverei in den Reihen der Republikaner.Douglas, der als großer Redner bekannt war, erklärte sich mit einer Serie von sieben öffentlichen Rededuellen einverstanden, die er und Lincoln zwischen Juli und Oktober 1858 in verschiedenen Städten von Illinois austrugen. Die Lincoln-Douglas-Debatten sollten Geschichte machten, denn wegen ihrer grundsätzlichen Bedeutung und der rhetorischen Fähigkeiten der Kontrahenten wurden Mitschriften davon überall in den USA abgedruckt. Bei der Debatte, die am 27. August 1858 in Freeport im Norden von Illinois stattfand, gelang es Lincoln, seinen Gegner in eine Zwickmühle zu bringen. Douglas war der Initiator des Kansas-Nebraska-Acts gewesen, der dem Kongress in letzter Konsequenz das Recht absprach, die Sklaverei in einem US-Territorium zu verbieten. Lincoln fragte ihn daher, ob es zumindest der Bevölkerung eines Territoriums selbst auf gesetzlichem Wege möglich sei, die Sklaverei von dessen Gebiet auszuschließen, bevor es sich als Bundesstaat konstituiert habe. Antwortete Douglas darauf mit Nein, verärgerte er die in Illinois wichtige Wählergruppe der Free Soiler. Antwortete er mit Ja, wurde er für die Südstaatler unwählbar. Douglas entschied sich für ein Ja, um die unmittelbar anstehende Wahl zu gewinnen, legte damit aber zugleich den entscheidenden Stolperstein, an dem seine Präsidentschaftskandidatur zwei Jahre später scheitern sollte.Im weiteren Verlauf des Senatswahlkampfs von 1858 passte auch Lincoln sein Auftreten den Ansichten des jeweiligen Publikums an. So betonte er im Norden von Illinois, in Chicago, dass alle Menschen gleich erschaffen seien, und wandte sich gegen Vorstellungen von ungleichen Rassen. Im Süden des Staates, in Charleston, erklärte er hingegen, dass er noch nie befürwortet habe, den Schwarzen die gleichen sozialen und politischen Rechte wie den Weißen zuzugestehen. Den reinen Abolitionismus befürwortete er nicht, zumal er die Abolitionisten für zu wenig kompromissbereit hielt. Zudem hätte eine solche Haltung damals politischen Selbstmord bedeutet.Am Ende erhielt Lincoln zwar 4.000 Stimmen mehr als Douglas, verlor die Senatswahl aber erneut. Nicht zuletzt durch die Rededuelle hatte er sich aber nun als gemäßigter Gegner der Sklaverei im ganzen Land einen Namen gemacht und galt als möglicher Kandidat der Republikaner für die nächsten Präsidentschaftswahlen. ==== Präsidentschaftswahl von 1860 ==== Lincoln hatte bis zu diesem Zeitpunkt nie ein hohes Staatsamt bekleidet, und seine Erfahrungen in Washington beschränkten sich auf die wenigen Jahre als Kongressabgeordneter. Zwar unternahm er 1859 Vortragsreisen durch die Nordstaaten, um sich der Bevölkerung und seinen Parteifreunden vorzustellen und weiter für seinen gemäßigten Standpunkt zu werben. Aber trotz seiner wachsenden Bekanntheit, zu der insbesondere seine Rede vor der Cooper Union am 27. Februar 1860 und die dort von ihm erstellte Fotografie beitrug, galt er noch zu Beginn des Nominierungsparteitags der Republikaner, der im Mai 1860 in Chicago stattfand, als Außenseiter im Rennen um die Präsidentschaftskandidatur. Hoher Favorit war der Senator und frühere Gouverneur von New York, William H. Seward. Auch den Kandidaten Salmon P. Chase aus Ohio und Edward Bates aus Missouri wurden allgemein größere Chancen eingeräumt als Lincoln. Auf der Convention in Chicago konnte er sich uneingeschränkt nur auf die Delegation seines Heimatstaats Illinois verlassen. Deren Mitglieder aber überzeugten zahlreiche Delegierte anderer Staaten davon, für Lincoln als Kompromisskandidaten zu stimmen, falls sich ihr erster Favorit nicht durchsetzen ließe. Da sich die Vertreter der als radikal geltenden Sklavereigegner Seward und Chase und die eher konservativen Gruppierungen um Bates bei den Abstimmungen gegenseitig blockierten, bestimmten die Republikaner am 18. Mai 1860 schließlich Abraham Lincoln zu ihrem Spitzenkandidaten für den Kampf ums Weiße Haus. Seine Gegner nahm er später alle in sein Kabinett auf. Damit zwang er die Führer der verschiedenen innerparteilichen Gruppierungen, zusammen statt gegeneinander zu arbeiten. Während des Wahlkampfs kam Lincoln seine hohe rhetorische Begabung zustatten. Er galt als einer der größten Redner seiner Zeit und viele der von ihm geprägten Aussprüche und Aphorismen gehören in den USA bis heute zum allgemeinen Bildungsgut. Vor allem verstand er es, komplizierte Fragen mit einfachen Worten auf den Punkt zu bringen. Sätze wie „Nichts ist geregelt, was nicht gerecht geregelt ist“, „Die Wahlversprechen von heute sind die Steuern von morgen“ oder „Wer anderen die Freiheit verweigert, verdient sie nicht für sich selbst“ überzeugten viele Wähler. Das Wahlkampflied, das sein Programm prägnant zusammenfasste, war der noch heute populäre Song Lincoln and Liberty. Die Präsidentschaftswahl fand im Herbst statt. Eine Grundlage für seinen Sieg hatte Lincoln schon zwei Jahre zuvor in den Debatten mit Stephen A. Douglas gelegt. Er hatte damals seinen Gegner, der die Präsidentschaftskandidatur der Demokraten anstrebte, zu Äußerungen über die Sklaverei gedrängt, die ihn für die Demokraten des Südens unwählbar machten. Wie die Whigs sechs Jahre zuvor, so hatte sich nun auch die Demokratische Partei gespalten. Die Nord-Demokraten nominierten Douglas, die Süd-Demokraten den eindeutigen Sklavereibefürworter John C. Breckinridge aus Kentucky, zu diesem Zeitpunkt noch amtierender Vizepräsident. Beide zusammen gewannen 2,2 Millionen Wähler, John Bell aus Tennessee, der für die von den Whigs abgespaltene Constitutional Union Party antrat, weitere 0,6 Millionen; Lincoln aber wurde mit fast 1,9 Millionen Stimmen der stärkste Einzelkandidat. Er siegte in keinem einzigen der Wahlbezirke des Südens – in den meisten stand er nicht einmal auf dem Stimmzettel –, erhielt aber fast alle Wahlmännerstimmen des Nordens (180) und damit eine klare Mehrheit: Mit 40 % der Wählerstimmen gewannen er und sein Vizepräsidentschaftskandidat Hannibal Hamlin 59 % aller Wahlmänner. Am 6. November 1860 wurde Abraham Lincoln gewählt; am 4. März 1861 sollte er den Amtseid ablegen. In diesen vier Monaten aber wurden Tatsachen geschaffen, die Lincolns gesamte Regierungszeit bestimmen sollten. === Lincoln als Präsident === Während seiner gesamten Amtszeit als US-Präsident sah sich Abraham Lincoln gezwungen, einen Bürgerkrieg zur Wiederherstellung der Union zu führen. Dabei stand er im Wesentlichen vor vier großen Aufgaben: Er musste den Krieg militärisch gewinnen, bei der Bevölkerung des Nordens die Kampfbereitschaft aufrechterhalten, die Einmischung europäischer Mächte zugunsten der Konföderierten verhindern und schließlich die Abschaffung der Sklaverei betreiben, um die Ursache des Konflikts ein für alle Mal zu beseitigen. ==== Amtsantritt und Kriegsbeginn ==== Die Wahl Abraham Lincolns war nicht die Ursache, aber der Anlass der Sezession. Der Gedanke, sich von der Union zu lösen, war erstmals während der so genannten Nullifikationskrise von 1832/33 in South Carolina aufgetaucht. Befürworter dieser Idee, wie John C. Calhoun fanden aber bis in die 1850er Jahre nur vereinzelt Zustimmung. In den 1850er Jahren mehrten sich dann die Stimmen derer, die für die Sezession eintraten. Die im Norden geübte Kritik an der Sklaverei wurde von vielen tonangebenden Südstaatlern als Bedrohung der eigenen Lebensart und Kultur betrachtet und jeder Versuch, sie zu beschränken, als Eingriff in die Rechte der Einzelstaaten und in das Eigentumsrecht ihrer Bürger. Aufgrund dieser Sichtweise machten die Verfechter der Sezession keinen Unterschied zwischen der kompromissbereiten Haltung Lincolns und den Zielen der Abolitionisten. Die Aussicht, Lincoln ins Weiße Haus einziehen zu sehen, gab den Extremisten im Süden den letzten entscheidenden Auftrieb. Noch bevor der neue Präsident sein Amt antreten konnte, gab South Carolina am 20. Dezember 1860 als erster Staat seinen Austritt aus der Union bekannt. Innerhalb weniger Wochen folgten alle Staaten des tiefen Südens: Mississippi, Florida, Alabama, Georgia, Louisiana und am 2. März 1861 Texas. In Montgomery, der Hauptstadt Alabamas, hatte sich am 4. Februar 1861 ein Provisorischer Kongress aus Vertretern der bis dahin ausgetretenen Staaten konstituiert. Dieser wählte am 9. Februar den Senator von Mississippi und früheren Kriegsminister Jefferson Davis, der wie Lincoln aus Kentucky stammte, zum provisorischen Präsidenten der Konföderierten Staaten von Amerika. Der scheidende US-Präsident James Buchanan bestritt den Einzelstaaten zwar das Recht, die Union zu verlassen, tat in seinen letzten Wochen im Amt aber nichts, um die Sezession zu verhindern. In der Rede zu seiner Amtseinführung am 4. März 1861 schlug Lincoln gegenüber dem Süden versöhnliche Töne an. Er versprach, nicht als erster zu Gewaltmaßnahmen zu greifen, machte aber zugleich deutlich, dass sein Amtseid ihn verpflichte, einer Spaltung der Union auf jeden Fall entgegenzutreten: Alle Hoffnungen auf eine Verhandlungslösung zerschlugen sich jedoch am 12. April 1861. An diesem Tag begannen konföderierte Truppen mit der Beschießung des von unionstreuen Einheiten gehaltenen Forts Sumter, das in der Hafeneinfahrt von Charleston lag, der alten Hauptstadt von South Carolina. Der Süden, der die Garnison von Fort Sumter als Besatzungstruppe betrachtete, hatte also trotz des angebotenen Gewaltverzichts zu den Waffen gegriffen – und trotz der Tatsache, dass Lincolns Regierung bis dahin keine Verfassung irgendeines Einzelstaats verletzt hatte und dies erklärtermaßen auch nicht plante. Dieser Umstand und der erzwungene Abzug der Garnison von Fort Sumter am 14. April erzeugten nun auch im Norden eine Kriegsstimmung. Die Öffentlichkeit verlangte energische Schritte gegen die Rebellen. Wie es so weit kommen konnte, erklärte Lincoln vier Jahre später in der Rede zu seiner zweiten Amtseinführung so: Der Beginn der Kampfhandlungen bewog Virginia und drei weitere Staaten des oberen Südens – North Carolina, Tennessee und Arkansas – die Union nun ebenfalls zu verlassen. Die Konföderierten verlegten daraufhin ihre Hauptstadt nach Richmond, Virginia. Von diesem Staat wiederum trennten sich die westlichen Landesteile ab, die in der Union bleiben wollten. Sie bildeten später den neuen Bundesstaat West Virginia. Um die Hauptstadt Washington halten zu können, war es für den Norden von entscheidender Bedeutung, die sklavenhaltenden Grenzstaaten Delaware, Maryland, Kentucky und Missouri zum Verbleib in der Union zu bewegen. Zu diesem Problem ist der Ausspruch Lincolns überliefert: „In diesem Krieg hoffe ich Gott auf meiner Seite zu haben. Kentucky aber muss ich auf meiner Seite haben.“ Alle vier Staaten blieben schließlich loyal – teils freiwillig, teils unter militärischem Druck. ==== Lincolns Politik im Krieg ==== Die US-Armee zählte zu Kriegsbeginn nur etwas mehr als 16.000 Soldaten, die zudem überwiegend in den Indianergebieten des Westens stationiert waren. Am 15. April, einen Tag nach dem Fall von Fort Sumter, berief Lincoln daher 75.000 auf 90 Tage verpflichtete Milizsoldaten ein, um der Rebellion, wie die Abspaltung der Südstaaten im Norden genannt wurde, nunmehr militärisch ein Ende zu bereiten. Als weitere Sofortmaßnahme verfügte er eine Seeblockade aller konföderierten Häfen und vergrößerte die US-Streitkräfte bis zum Frühsommer durch weitere Anwerbungen auf rund 174.000 Soldaten und Matrosen. Da der Kongress erst im Juli wieder tagen sollte, geschahen diese Truppenaushebungen ohne dessen Ermächtigung. Dasselbe traf auf die Einschränkung einiger Grundrechte, etwa der Pressefreiheit oder des Habeas-Corpus-Gesetzes, zu. So ließ Lincoln Personen, die der Spionage für die Südstaaten verdächtigt wurden, ohne gesetzliche Grundlage verhaften. All dies brachte ihm bei Sympathisanten des Südens – zum Teil bis heute – den Ruf eines Diktators ein. Als aber im Juli die Vertreter der in der Union verbliebenen Staaten zum Kongress zusammentraten, stimmten sie allen Notstandsmaßnahmen des Präsidenten nachträglich zu. Aus ihrer Sicht verfuhr Lincoln mit den Unterstützern der Konföderierten nicht anders, als es mit Angehörigen einer fremden, mit den USA im Krieg befindlichen Macht üblich war – und genau dies beanspruchte die Konföderation ja zu sein. Doch selbst die angegebenen energischen Maßnahmen Lincolns reichten nicht aus. Die erste Niederlage der Unionstruppen in der Schlacht am Bull Run am 21. Juli 1861 machte deutlich, dass der Konflikt militärisch nicht schnell zu lösen war. Die Union musste sich auf einen langwierigen Eroberungskrieg einstellen. Dies war mit einer kleinen Berufsarmee und einer dreimonatigen Dienstpflicht nicht zu erreichen. Auch die Verlängerung auf neun Monate reichte nicht aus. Schließlich führte Lincolns Regierung erstmals in der Geschichte der USA die allgemeine Wehrpflicht ein, eine Maßnahme, die Anfang Juli 1863 zu bürgerkriegsähnlichen Unruhen in New York führte, den sogenannten Einberufungskrawallen. In der Stadt gab es zeitweilig sogar Bestrebungen, sich ebenfalls von der Union loszusagen und einen souveränen Staat zu bilden. Ein weiteres Problem stellten betrügerische Heereslieferanten dar, die die Unionsarmeen oft mit mangelhaftem oder völlig untauglichem Material belieferten. Daher verabschiedete der Kongress auf Lincolns Initiative am 2. März 1863 den False Claims Act, der bis heute als Lincoln Law bekannt ist. Das Gesetz ermutigte Whistleblower und erwies sich als wirksames Instrument, um Betrug zu Lasten der Allgemeinheit zu unterbinden.Der Bürgerkrieg zog sich auch deshalb in die Länge, weil Lincoln lange Zeit keinen geeigneten Oberbefehlshaber für die Potomac-Armee fand, die die Hauptlast der Kämpfe im Grenzgebiet von Virginia, zwischen Washington, D.C. und Richmond, zu tragen hatte. General George B. McClellan erwies sich zwar als hervorragender Organisator, aber als zögerlicher Heerführer. Er vergab – etwa im Halbinsel-Feldzug vom Frühjahr 1862 – gleich mehrere Chancen, dem Krieg durch schon greifbare Siege ein frühes Ende zu bereiten. Andere Befehlshaber wie Ambrose E. Burnside und Joseph Hooker erlitten katastrophale Niederlagen gegen die zahlenmäßig unterlegene Nord-Virginia-Armee des konföderierten Generals Robert E. Lee. Abraham Lincoln, der zwischen seiner Funktion als Kompaniechef im Indianerkrieg und der als Oberbefehlshaber der US-Streitkräfte nie mehr einen soldatischen Rang bekleidet hatte, unterzog sich nun auch einem Selbststudium in Militärfragen und wurde bald zum Experten. Mit den auf dem westlichen Kriegsschauplatz siegreichen Generalen Ulysses S. Grant und William T. Sherman fand er schließlich zwei Kommandeure, die mit ihren Truppen – der eine von Norden, der andere von Westen – die Konföderierten in langen, blutigen Kämpfen niederrangen. ==== Kriegsziele und Kriegsgründe ==== Am 22. August 1862 schrieb Lincoln in einem offenen Brief an den bekannten Abolitionisten Horace Greeley, den Herausgeber der New York Tribune: In der Tat ging es im Bürgerkrieg vordergründig um den nationalen Zusammenhalt der Vereinigten Staaten. Die Frage, an der sich der Kampf entzündet hatte, lautete: Hat ein einzelner Bundesstaat der USA das Recht, jederzeit aus der gemeinsamen Union auszutreten? Die Konföderierten bejahten dies, mit dem Argument, man sei dem Bund schließlich freiwillig beigetreten. Die Abspaltung, die sie vielfach als „Zweite Amerikanische Revolution“ bezeichneten, stand in ihren Augen in der Tradition von 1776. Sie kämpften also nach eigenem Selbstverständnis für die Rechte der Einzelstaaten. Der Norden wies dagegen darauf hin, dass keines der Einzelstaatenrechte bis dahin verletzt worden und dass nach der Unabhängigkeitserklärung von 1776 eine Revolution nur nach fortgesetzten schweren Rechtsverletzungen gerechtfertigt sei. Den tieferen Grund des Konflikts aber berührte Abraham Lincoln in der Gettysburg Address von 1863. In dieser Rede, seiner berühmtesten, sagte er, der Krieg werde um die Frage geführt, ob ein Staat, der sich auf Demokratie und individuelle Freiheit gründe, überhaupt auf Dauer bestehen könne. Diese Frage stellte sich mit umso größerer Berechtigung in einer Zeit, als eine „Regierung des Volkes, durch das Volk und für das Volk“ – wie Lincoln es in der Rede formulierte – international noch die große Ausnahme darstellte. Lincoln gab damit seiner Überzeugung Ausdruck, dass eine Demokratie zerbrechen müsse, wenn eine Minderheit (wie die Südstaatler) eine demokratische Entscheidung der Mehrheit (wie Lincolns Wahl zum Präsidenten) jederzeit verwerfen oder sogar mit Gewalt beantworten dürfe. Hinter der Frage der Einzelstaatenrechte stand aber immer unübersehbar die Sklavenfrage. An ihr – und nur an ihr – hatte sich der Streit um diese Rechte überhaupt erst entzündet. Ohne sie hätte sich das Problem der Einzelstaatenrechte nie in dieser Schärfe gestellt. So erwähnt beispielsweise die Erklärung zum Sezessionsbeschluss des Staates Texas vom 2. Februar 1861 den Dissens in der Frage der Sklaverei 21-mal, die Frage der Einzelstaatenrechte aber nur sechsmal. Alexander Hamilton Stephens, der Vizepräsident der Konföderation, erklärte in einer viel beachteten Rede vom 21. März 1861, der Bund der Südstaaten beruhe „… auf der großen Wahrheit, dass der Neger dem weißen Mann nicht gleichgestellt ist; dass sein untergeordnetes Verhältnis als Sklave gegenüber der überlegenen Rasse seine natürliche und normale Stellung ist.“ Lincoln verneinte aus wahltaktischen Gründen lange, dass die Abschaffung der Sklaverei zu seinen Kriegszielen gehörte. Denn zu Beginn des Konfliktes bildeten die Abolitionisten auch im Norden noch immer eine Minderheit, und kaum jemand wäre bereit gewesen, für die Befreiung der Sklaven in den Kampf zu ziehen. Doch ebendiese hatte Lincoln bereits in die Wege geleitet, als er den zitierten Brief an Greeley schrieb. ==== Sklavenbefreiung ==== Über Lincolns Haltung zur Sklavenbefreiung bemerkte der afroamerikanische Schriftsteller und Abolitionist Frederick Douglass 1876: In der Tat war Lincoln nie radikaler Abolitionist und wurde es auch im Krieg nicht. In dem berühmten Brief an Greeley unterschied er zwischen seinem persönlichen Wunsch, nach dem alle Menschen frei sein sollten, und seiner Pflicht als Amtsträger, nach Recht und Gesetz zu handeln. Laut Gesetz aber war die Sklaverei im Süden erlaubt. Nach Lincolns Vorstellung sollte sie in einem allmählichen Prozess abgeschafft und die Sklavenhalter für den Verlust ihres „Besitzes“ entschädigt werden. Diesen Standpunkt vertrat er noch bis in die Anfangsphase des Bürgerkriegs hinein. So widerrief er beispielsweise die Anordnungen des Generalmajors John Charles Frémont, der die Sklaven von Plantagenbesitzern, die gegen die Union kämpften, für frei erklärt hatte. Auf gar keinen Fall war Lincoln vor 1861 bereit, die Sklavenfrage durch einen Krieg zu entscheiden. Indem sie aber von sich aus zur Gewalt gegriffen hatten, waren die Südstaaten nach Lincolns Auffassung selbst vom Weg des Rechtes und der Verfassung abgekommen. Je länger der Krieg dauerte, je mehr Opfer er forderte und je mehr Widerhall die Proteste der Abolitionisten fanden, desto stärker wurde Lincolns Überzeugung, dass die Sklaverei als Quelle allen Übels endgültig abgeschafft werden müsse. Dazu kam, dass er die Sklavenbefreiung mehr und mehr als Mittel begriff, den Süden wirtschaftlich und militärisch zu treffen. Kongress und Senat hatten bereits 1861 und 1862 sogenannte Confiscation Acts verabschiedet, durch die unter anderem die Sklaven konföderierter Soldaten für frei erklärt wurden. Dies sollte das Militär der Südstaaten schwächen. Am 22. Juli 1862 informierte Lincoln sein Kabinett über die geplante Proklamation zur Sklavenbefreiung. Da auch sie als Kriegsmaßnahme gedacht war, gab Außenminister Seward zu bedenken, dass die Erklärung nach der Reihe schwerer Niederlagen, die die Union bis dahin erlitten hatte, als Zeichen der Schwäche missdeutet werden könne. Daher gab Lincoln die Proklamation erst im September bekannt, nach dem Unionssieg in der Schlacht am Antietam. Am 1. Januar 1863 trat die Emanzipations-Proklamation schließlich in Kraft. Ihr entscheidender Passus besagte: Die Proklamation galt also vorerst nur für die Gebiete der Konföderierten, um die loyal gebliebenen Sklavenstaaten nicht zu verprellen. Aber die Befreiung der Sklaven war nun ein offizielles Kriegsziel der Union. Dessen moralisches Gewicht machte es England und Frankreich, die aus wirtschaftlichen und machtpolitischen Gründen die Sache der Konföderation unterstützten, unmöglich, aktiv auf deren Seite in den Krieg einzugreifen. Vollständig abgeschafft wurde die Sklaverei 1865. ==== Indianerpolitik ==== Als Befürworter der Free-Soil-Bewegung unterzeichnete Lincoln 1862 den Homestead Act, der 1863 in Kraft trat. Dieses Gesetz erlaubte es jedem Erwachsenen, sich auf unbesiedeltem Land niederzulassen und sich ein 160 Acre (etwa 64 ha) großes Areal anzueignen. Nach fünfjähriger Bewirtschaftung – oder bei Zahlung von 200 Dollar bereits nach einem halben Jahr – wurde er automatisch zum Eigentümer. Einerseits schuf dieses Gesetz, das bereits bestehende einzelstaatliche Regelungen ergänzte und vereinheitlichte, Rechtssicherheit für die Siedler. Andererseits ermöglichte es die Enteignung der Indianergebiete, indem es unterstellte, diese würden nicht bewirtschaftet. Vor allem nomadisch lebende Gruppen wurden nun verstärkt in Reservate abgedrängt. Das Heimstätten-Gesetz leistete dem Betrug Vorschub und führte zu zahllosen Konflikten zwischen Indianern und Siedlern, in denen die Gerichte meist zugunsten der letzteren entschieden.Im Sommer 1862, noch vor Inkrafttreten des Homestead Act und dreißig Jahre nach seiner Teilnahme am Krieg gegen die Sauk, sah sich Lincoln erneut einem Konflikt mit Indianern gegenüber. Nachdem vertraglich zugesicherte, staatliche Geldzahlungen an die Santee-Sioux in Minnesota ausgeblieben waren, gingen hungernde Mitglieder des Stammes gewaltsam gegen die örtliche Indianerbehörde und weiße Siedler vor. Kriegsminister Stanton beauftragte im September Generalmajor John Pope mit der Niederschlagung des Sioux-Aufstands. Pope, der für die kurz zuvor erlittene Niederlage der Unionstruppen in der 2. Schlacht am Bull Run verantwortlich gemacht wurde, hatte sich für den Einsatz freiwillig gemeldet, um seiner Absetzung als Befehlshaber der Virginia-Armee zuvorzukommen. In einem Befehl an den Kommandeur der Expedition, Oberst H. H. Sibley, schrieb er: „Es ist meine Absicht, die Sioux vollständig auszurotten. […] Sie müssen behandelt werden wie Wahnsinnige oder wilde Tiere und auf keinen Fall wie Menschen, mit denen man Verträge oder Kompromisse schließen kann.“ Nach der Niederschlagung des Aufstands wurden mehrere Hundert Sioux vor Militärgerichte gestellt und in Verfahren, die im Schnitt 10 bis 15 Minuten dauerten, zum Tode verurteilt. Pope wollte schließlich 303 Verurteilte hinrichten lassen, doch Lincolns Regierung fürchtete den ungünstigen Eindruck einer solchen Massenexekution auf die europäischen Regierungen, deren Einmischung in den Sezessionskrieg sie fürchtete. Andererseits forderten zahlreiche Siedler in Minnesota die Hinrichtung. 200 von ihnen griffen sogar das Gefangenenlager in Mankato an. Dennoch reduzierten Anwälte im Auftrag Lincolns die Zahl der Todesurteile drastisch. So wurden schließlich „nur“ 38 Männer gehängt, einer davon, Chaska, trotz seiner Begnadigung. Dies war die größte Massenhinrichtung in der amerikanischen Geschichte. Im Gegenzug sagte Lincoln, der sich massiven politischen Drucks zu erwehren hatte, die spätere Vertreibung der Indianer aus dem Bundesstaat zu sowie zwei Millionen Dollar Schadensersatz. Lincoln begründete die Hinrichtung damit, dass er nicht durch zu große Gnade einen weiteren Aufstand provozieren, aber auch nicht grausam sein wollte. In Minnesota wurde die hohe Anzahl der Begnadigungen eher schlecht aufgenommen: Bei der Präsidentschaftswahl 1864 gewann Lincoln zwar eine Mehrheit im Staat, doch fiel diese deutlich geringer aus als 1860. Darauf angesprochen, dass eine härtere Gangart dies hätte verhindern können, sagte Lincoln: „Ich konnte es mir nicht erlauben, Männer für Stimmen aufzuhängen.“In Lincolns Amtszeit fiel auch das Sand-Creek-Massaker im Osten des damaligen Territoriums Colorado. Dabei töteten Soldaten unter dem Kommando von Oberst John Chivington am 29. November 1864 273 friedliche Cheyenne und Arapaho. Wesentlich beigetragen zur indianerfeindlichen Stimmung in dem Territorium hatte dessen Gouverneur John Evans, ein Mitbegründer der Republikanischen Partei und persönlicher Freund Lincolns. Evans, der Chivington für seine Tat ausgezeichnet und die wahren Umstände des Massakers verschleiert hatte, sah sich bald massiver Kritik ausgesetzt. Lincoln, der Evans eingesetzt hatte, stärkte ihm noch bis Anfang 1865 den Rücken, erst sein Nachfolger als Präsident, Andrew Johnson, enthob den Gouverneur im Sommer 1865 seines Amtes. ==== Wiederwahl 1864 ==== Die Konföderierten hatten im Sommer und Herbst 1863 bei Gettysburg, Vicksburg und Chattanooga schwere Niederlagen erlitten. Nach diesen Erfolgen der Union war endgültig klar, dass die Konföderierten den Krieg nicht aus eigener Kraft würden gewinnen können. Ihre einzige Chance bestand darin, den Krieg so lange und für den Norden so verlustreich weiterzuführen, dass Abraham Lincoln die Präsidentschaftswahlen von 1864 verlieren und durch einen neuen, verhandlungsbereiten Präsidenten ersetzt würde. Diese Chance war durchaus real. Der unerwartet lange und blutige Stellungskrieg, den General Grant seit dem Frühjahr 1864 im Norden Virginias führte, kostete die Regierung Lincoln weitgehend das Vertrauen der Bevölkerung. Der Präsident war im Sommer des Wahljahrs so unpopulär, dass er selbst mit einer Niederlage rechnete. In einem Memorandum vom 23. August 1864 schrieb er: „Die Wiederwahl dieser Regierung erscheint heute, wie seit einigen Tagen, als überaus unwahrscheinlich.“ Sein Gegenkandidat von den Demokraten war sein früherer Oberbefehlshaber McClellan, der grundsätzlich zu einem Verhandlungsfrieden mit dem Süden und zur Anerkennung seiner Unabhängigkeit bereit war. Erst in den letzten Wochen vor der Wahl wendete sich das Blatt, als die Ergebnisse des für den Norden äußerst erfolgreichen Atlanta-Feldzuges bekannt wurden: Die Truppen General Shermans hatten am 2. September 1864 Atlanta erobert, einen der wichtigsten Industriestandorte und Verkehrsknotenpunkte Georgias und des ganzen von der Konföderation noch gehaltenen Territoriums. Zudem besiegte Generalmajor Philip Sheridan am 19. Oktober im Shenandoah-Tal ein konföderiertes Korps, das zeitweilig sogar Washington bedroht hatte. Das Kriegsende schien jetzt nur noch eine Frage der Zeit zu sein. Die Republikaner setzten im Wahlkampf auf den von Lincoln geprägten Slogan „Mitten im Fluss soll man nicht die Pferde wechseln“ und bezeichneten die Positionen der Demokraten als landesverräterisch. Als Kandidat für die Vizepräsidentschaft ersetzte Lincoln den bisherigen Amtsinhaber, den weitgehend einflusslosen Nordstaatler Hannibal Hamlin, durch Andrew Johnson. Dieser gehörte der Demokratischen Partei an, stammte aus dem Konföderiertenstaat North Carolina und war 1857 von Tennessee in den Senat entsandt worden, hatte sich aber für die Union ausgesprochen. Seine Kandidatur sollte den Südstaatlern die Bereitschaft des Nordens signalisieren, sie nach dem Krieg gleichberechtigt in die wiederhergestellte Union zu integrieren. Gemeinsam mit Johnson kandidierte Lincoln im Rahmen der National Union Party, einer Wahlplattform aus Republikanern und einem Teil der Demokraten. Am 8. November hielten die USA als erstes demokratisches Land mitten in einem Krieg eine Wahl ab. Lincoln erzielte gegen den früheren Oberbefehlshaber des Unionsheeres George B. McClellan einen Erdrutschsieg: 55 Prozent der Wähler stimmten für ihn, und er erhielt sogar 212 von 233 Wahlmännerstimmen. Als erster Präsident seit Andrew Jackson vor 32 Jahren war er für eine zweite Amtszeit bestätigt worden. Seine Wähler entstammten vor allem der Bauern- und Arbeiterschaft sowie den städtischen Mittelschichten. Ihre geografischen Hochburgen waren Neuengland und die Staaten mit einem starken Anteil deutscher Einwanderer wie Wisconsin oder Illinois. Für den Präsidenten war es besonders bedeutsam, dass auch die Soldaten der Unionsarmee zu mehr als zwei Dritteln für ihn gestimmt hatten, obwohl sie sich von einem Sieg McClellans ein rascheres Ende der Kampfhandlungen erhoffen konnten. Vor der Wahl hatte Lincoln geäußert, es sei ihm lieber, mit der Mehrheit der Soldatenstimmen besiegt als ohne diese Mehrheit Präsident zu werden. In der Zeit bis zu seinem zweiten Amtsantritt setzte sich Lincoln energisch für die Verabschiedung des 13. Zusatzartikels zur US-Verfassung ein, der die Sklaverei auf dem Territorium der USA ein für alle Mal verbieten sollte. Nach dem Senat konnte er – nach einem vergeblichen Anlauf – am 31. Januar 1865 auch die nötige Zweidrittelmehrheit des Repräsentantenhauses zur Zustimmung bewegen. Um dem Sklavereiverbot endgültig Verfassungsrang zu verleihen, musste es jetzt nur noch von den Einzelstaaten ratifiziert werden. Ein weiteres, drängendes Problem war die Wiedereingliederung der Südstaaten in die Union. Am 4. März 1865 – anlässlich seiner zweiten Vereidigung als Präsident – versprach Lincoln, „Groll gegen niemanden“ und „Nächstenliebe gegen alle“ walten zu lassen. Er fasste bereits den Wiederaufbau des Südens und die Nachkriegsordnung ins Auge und hatte vor, den Südstaatlern milde Friedensbedingungen zu stellen. Die Rückkehr in die Union sollte ihnen so leicht wie möglich fallen. Gegen Widerstände aus der eigenen Partei setzte Lincoln den Grundsatz durch, dass ein abtrünniger Staat wieder gleichberechtigt in die Union aufgenommen werden sollte, sobald ein Zehntel seiner Bürger ihr den Treueid geleistet hätten. ==== Sieg und Tod ==== Der Krieg ging nun einem raschen Ende entgegen. Am 3. April eroberten Grants Truppen die Konföderiertenhauptstadt Richmond, und Lincoln besichtigte zwei Tage später das Amtszimmer seines Kontrahenten Jefferson Davis. Am 9. April 1865 kapitulierten die Reste von Lees Armee vor General Grant bei Appomattox Court House, Virginia. Die konföderierten Truppen unter General Joseph E. Johnston ergaben sich am 26. April General Sherman bei Durham, North Carolina. Den endgültigen Sieg hat Abraham Lincoln jedoch nicht mehr erlebt: Am Abend des 14. April, des Karfreitags 1865, besuchte er mit seiner Frau Mary und einem befreundeten Ehepaar eine Komödie im Ford’s Theatre in Washington, D.C. Während der Vorstellung verschaffte sich der Schauspieler John Wilkes Booth, ein fanatischer Sympathisant der Südstaaten, Zutritt zur Loge des Präsidenten und schoss ihm aus nächster Distanz mit einer Deringer-Vorderladerpistole von hinten in den Kopf. Ärzte aus dem Publikum waren sofort zur Stelle, aber die Kugel ließ sich nicht entfernen. Da der Präsident nicht transportfähig war, wurde er in das Petersen House gebracht, ein Privathaus direkt gegenüber dem Theater. Dort starb Lincoln am folgenden Tag, dem 15. April, um 7:22 Uhr morgens, ohne das Bewusstsein noch einmal wiedererlangt zu haben. Andrew Johnson, seit März Lincolns Vizepräsident, legte noch am selben Tag den Amtseid als sein Nachfolger ab. Das Attentat war Teil einer größeren Verschwörung: Eine Gruppe von Südstaaten-Anhängern um Booth hatte geplant, neben Lincoln weitere Regierungsmitglieder zu ermorden. So verletzte Lewis Powell bei einem Mordanschlag Außenminister Seward schwer, ebenso dessen Sohn und weitere Mitglieder seines Haushalts. Der deutschstämmige George Atzerodt, der auf Vizepräsident Andrew Johnson angesetzt war, schreckte im letzten Moment vor dem Mord zurück. Booth, der sich nach dem Mord beim Sprung aus der Präsidentenloge das Bein verletzt hatte, gelang mit Hilfe eines weiteren Komplizen, David Herold, die Flucht nach Virginia. Dort wurde er am 26. April auf einer abgelegenen Farm gestellt und bei einem Schusswechsel getötet. Ein Militärgericht verurteilte Ende Juni Powell, Atzerodt, Herold und Booths Zimmerwirtin Mary Surratt, die der Mitwisserschaft verdächtigt wurde, zum Tode. Sie wurden am 7. Juli 1865 im Fort Lesley J. McNair in Washington durch Hängen hingerichtet. Lincolns Sarg wurde mit einem Sonderzug auf etwa demselben Weg nach Springfield überführt, auf dem der neugewählte Präsident 1860 nach Washington gereist war. In allen größeren Städten wie New York und Chicago fanden Trauerprozessionen und -gottesdienste mit dem aufgebahrten Leichnam statt. Am 5. Mai 1865 wurde Abraham Lincoln auf dem Friedhof Oak Ridge Cemetery in seiner Heimatstadt Springfield beigesetzt. Am 23. Juni kapitulierten bei Fort Towson im Indianerterritorium die letzten Truppen der Konföderation. Lincolns Vermächtnis, der 13. Verfassungszusatz, trat nach der Ratifizierung durch die in der Verfassung vorgesehene Mindestanzahl von Dreiviertel der im damaligen Kongress vertretenen Bundesstaaten am 18. Dezember 1865 in Kraft. == Nachleben == Als der Dichter Walt Whitman von Lincolns Tod erfuhr, widmete er ihm das Gedicht O Captain! My Captain! Es spricht von einem Kapitän, der sein Schiff durch große Gefahren sicher in den Hafen steuert, das Ziel aber selbst nicht lebend erreicht. Später verglich Whitman den Präsidenten, der an einem Karfreitag tödlich verwundet worden war, mit Jesus Christus. Dies sind nur zwei von vielen Beispielen für die bis zur Verklärung reichende Verehrung, die Abraham Lincoln bereits unmittelbar nach seiner Ermordung zuteilwurde. Mehr als die nüchterne Beurteilung seiner Präsidentschaft trugen dazu die Art seines Todes und der Vergleich mit den eher glanzlosen Regierungszeiten seiner ersten Amtsnachfolger bei. Zunächst nur in den Nordstaaten, mit wachsendem zeitlichem Abstand zum Bürgerkrieg aber in den ganzen USA, setzte sich das Bild von Lincoln als einem der bedeutendsten Präsidenten der US-Geschichte durch. Während die weißen Amerikaner in ihm den Bewahrer der Union sahen, betrachteten ihn die Afroamerikaner vor allem als den Sklavenbefreier. Auch ihr Bild von Lincoln war von religiöser Metaphorik geprägt. Schon bei seinem Besuch in Richmond kurz vor Kriegsende wurde Lincoln von den Schwarzen als „Vater Abraham“ begrüßt. Später verglichen sie ihn mit Moses, der die Israeliten ins Gelobte Land geführt hatte, ohne dass es ihm vergönnt war, dieses selbst zu betreten. Auch eher zurückhaltende Beobachter wie Frederick Douglass, der Lincoln während seiner Präsidentschaft unablässig wegen seiner zögerlichen Haltung in der Sklavenfrage kritisiert hatte, äußerten sich im Rückblick voller Respekt: Heute wird der Mitbegründer der Republikanischen Partei von Angehörigen aller ethnischen Gruppen verehrt, von Konservativen und Liberalen ebenso wie von Linken. In Umfragen unter Historikern und der US-Bevölkerung wird er gemeinsam mit George Washington und Franklin D. Roosevelt stets als einer der drei besten US-Präsidenten bewertet. Die Freiwilligenverbände aus den USA, die im Spanischen Bürgerkrieg auf Seiten der Republik gegen die Putschisten unter General Franco kämpften, nannten sich Abraham-Lincoln-Brigade. Zahlreiche Orte in den USA wurden nach dem Präsidenten benannt, von kleinen wie Fort Abraham Lincoln in North Dakota bis zu großen wie der Hauptstadt Nebraskas. Insgesamt tragen 17 Countys seinen Namen. Die US Navy taufte mehrere Schiffe auf den Namen des Präsidenten, u. a. den Flugzeugträger USS Abraham Lincoln und das strategische Atom-U-Boot SSBN Abraham Lincoln. Auch die Automarke Lincoln wurde 1917 von deren Begründer Henry M. Leland nach ihm benannt. Als Forschungsstätte wurde 1889 in Springfield die Illinois State Historical Library ins Leben gerufen, die – um ein Museum und weitere Einrichtungen erweitert – am 16. April 2005 als The Abraham Lincoln Presidential Library and Museum neu eröffnet wurde. Das Wohnhaus von Abraham Lincoln im historischen Zentrum Springfields steht unter der Obhut des U.S. National Park Service und ist heute ebenso ein Museum wie Lincolns Geburtsstätte in Kentucky, der Ort des Attentats – Ford’s Theatre – und das dem Theater gegenüberliegende Sterbehaus in Washington. Lincolns Bild ziert den 5-Dollar-Schein sowie die 1-Cent-Münze. In 10 US-Bundesstaaten wird Lincolns Geburtstag als offizieller Feiertag begangen. Zu seinen und George Washingtons Ehren wurde der nationale Feiertag „Presidents Day“ eingeführt. Und neben den Köpfen George Washingtons, Thomas Jeffersons und Theodore Roosevelts wurde auch der Lincolns in die Felsen von Mount Rushmore in South Dakota gemeißelt. Der Komponist Aaron Copland schrieb 1942 das Tongedicht Lincoln Portrait mit einem gesprochenen Begleittext zu Ehren des 16. US-Präsidenten. Bereits 1922 war am Ufer des Potomac in Washington das Lincoln Memorial eingeweiht worden. Der klassizistische Tempelbau und das Kapitol markieren die beiden Enden der National Mall, der zentralen Achse der amerikanischen Hauptstadt. Die Gedenkstätte birgt eine Kolossalstatue Abraham Lincolns, die der Zeusstatue von Olympia nachempfunden ist. In ihre Südwand ist der Text der Gettysburg Address, in die Nordwand Lincolns zweite Amtsantrittsrede eingemeißelt. Seit ihrer Entstehung ist sie Schauplatz vieler großer Bürgerrechtsdemonstrationen gewesen. Martin Luther King hielt 1963 seine berühmte Rede I Have a Dream von den Stufen des Lincoln Memorials herab. Seit 1954 ziert der Slogan „Land of Lincoln“ die Kfz-Kennzeichen von Illinois.Ein 1984 entdeckter Asteroid des inneren Hauptgürtels wurde nach dem ehemaligen Präsidenten (3153) Lincoln benannt.In Lincolns 200. Geburtsjahr trat der erste afroamerikanische Präsident der USA sein Amt an. Barack Obama hatte seine Bewerbung als Präsidentschaftskandidat am 10. Februar 2007 vor dem alten Parlamentsgebäude in Springfield bekannt gegeben, in dem Lincoln 1858 seine bis heute nachwirkende House Divided Speech gehalten hatte. Sowohl bei seiner ersten als auch bei seiner zweiten Amtseinführung in den Jahren 2009 und 2013 legte der 44. Präsident der Vereinigten Staaten seinen Eid auf Lincolns Bibel ab.Um den anti-demokratischen Tendenzen ihrer Partei und den Machtmissbräuchen des damaligen Präsidenten Donald Trump entgegenzutreten, bildeten ehemalige Republikaner Ende 2019 die politische Gruppe The Lincoln Project. Die landesweite Bewegung zielte darauf ab, Wechselwähler und traditionelle Republikaner dazu zu bewegen bei der Präsidentschaftswahl 2020 für den demokratischen Kandidaten Joe Biden zu stimmen, der Obamas Vizepräsident gewesen war. == Werke == Collected Works of Abraham Lincoln. 8 Bände. Hg. von Roy Prentice Basler im Auftrag der Abraham Lincoln Association, Rutgers University Press, New Brunswick 1953 (Korrespondenz, Reden und andere Schriften), ISBN 978-0-8135-0172-7 Speeches and Letters by Abraham Lincoln. Hg. von Merwin Roe, J. M. Dent, London 1909, 1936, 1949 (Auswahlband) == Literatur == Erich Angermann: Abraham Lincoln und die Erneuerung der nationalen Identität der Vereinigten Staaten von Amerika (= Schriften des Historischen Kollegs. Vorträge. Band 7). Stiftung Historisches Kolleg, München 1984 (Digitalisat). Michael Burlingame: Lincoln A Life Volume One and Two, Baltimore 2013, ISBN 978-1-4214-0973-3, ISBN 978-1-4214-1058-6 David Herbert Donald: Lincoln. Simon & Schuster, New York 1995, ISBN 0-684-80846-3. Shelby Foote: The Civil War. A Narrative. Bd. 1–3. New York 1974, Pimlico, London 1992–2001, ISBN 0-7126-9812-4. Henry Louis Gates, Jr., Donald Yacovone: Lincoln on Race & Slavery. Princeton University Press, Princeton 2009, ISBN 978-0-691-14234-0. Ronald D. Gerste: Abraham Lincoln. Begründer des modernen Amerika. Verlag Friedrich Pustet, Regensburg 2008, ISBN 978-3-7917-2130-9. Doris Kearns Goodwin: Team of Rivals. The Political Genius of Abraham Lincoln. Penguin Books, London 2013, ISBN 978-0-241-96608-2. John Hay, John George Nicolay: Abraham Lincoln: A History (10 Bände). The Century Magazine, New York 1890 Ibram X. Kendi: Gebrandmarkt. Die wahre Geschichte des Rassismus in Amerika, Verlag C.H.Beck, München 2017 Austin Augustus King (Hrsg.): Lincoln letters. Bibliophile Society, Boston 1913 (Digitalisat). Jürgen Kuczynski: Abraham Lincoln. Akademie Verlag, Berlin/Köln 1985, ISBN 3-7609-0971-X. Gordon Leidner (Hrsg.): Abraham Lincoln: Quotes, Quips and Speeches. Sourcebooks Inc., Naperville, Illinois, U.S.A. 2009, ISBN 978-1-4022-6912-7. OCLC 742333367, (Digitalisat); Deutsche Ausgabe: Gordon Leidner (Hrsg.): Abraham Lincoln: Vermächtnisse. Deutsche Übersetzung: Ursula Maria Ewald, Leonhard-Thurneysser-Verlag Berlin & Basel 2015, ISBN 978-3-946194-00-2 Abraham Lincoln, by some men who knew him: being personal recollections of Judge Owen T. Reeves, Hon. James S. Ewing, Col. Richard P. Morgan, Judge Franklin Blades, John W. Bunn. Pantagraph Printing & Stationery Co., Bloomington 1910. James M. McPherson: Für die Freiheit sterben – Die Geschichte des amerikanischen Bürgerkriegs. List, München/Leipzig 1988, 1995, ISBN 3-471-78178-1. James M. McPherson: Abraham Lincoln. Oxford University Press, New York 2009, ISBN 978-0-19-537452-0. Jörg Nagler: Abraham Lincoln (1861–1865). Bewahrung der Republik und Wiedergeburt der amerikanischen Nation. In: Die amerikanischen Präsidenten. 41 historische Portraits von George Washington bis Bill Clinton. Hg. v. Jürgen Heideking und Christoph Mauch, C. H. Beck, München 1995, S. 176–193, 2005, ISBN 3-406-39804-9, ISBN 3-406-53147-4. Jörg Nagler: Abraham Lincoln. Amerikas großer Präsident. 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George Saunders: Lincoln in the Bardo. Random House, New York 2017, ISBN 978-0-8129-9534-3 (Roman) Gore Vidal: Lincoln. Hamburg : Hoffmann und Campe, 1985. Übersetzung Christian Spiel, Rudolf Hermstein. ISBN 3-442-72912-2 (Roman, englisch zuerst 1984). == Verfilmungen == Seit 1911 ist Abraham Lincoln in fast 350 Filmen und Fernsehsendungen von Schauspielern dargestellt worden, unter anderem von Walter Huston, Henry Fonda, Gregory Peck, Raymond Massey, Hal Holbrook, Sam Waterston, Lance Henriksen, Daniel Day-Lewis und – besonders häufig (zehn Mal) – von Frank McGlynn senior. Day-Lewis erhielt für seine Hauptrolle in Steven Spielbergs Film Lincoln einen Oscar. Die wichtigsten Spiel- und Dokumentarfilme mit und über Lincoln sind: David Wark Griffith: Abraham Lincoln, 1930, Spielfilm John Ford: Der junge Mr. Lincoln, 1939, Spielfilm John Cromwell: Abe Lincoln in Illinois, 1940, Spielfilm George Schaefer: Lincoln, 1974, Fernsehserie Lamont Johnson: Lincoln, 1988, Miniserie Jack Bender: Im Schatten des Todes (The Perfect Tribute) (1991), Fernsehfilm mit Jason Robards als Lincoln Peter W. Kunhardt: Lincoln, 1992, Fernsehfilm Ken Burns: The Civil War. Der Amerikanische Bürgerkrieg. WDR/CS Associates, 1996, Dokumentarserie John Gray: Abraham Lincoln – Die Ermordung des Präsidenten (The Day Lincoln Was Shot), 1998, Fernsehfilm Robert Redford: Die Lincoln Verschwörung, 2010, Spielfilm Steven Spielberg: Lincoln, 2012, Spielfilm Adrian Moat: Tom Hanks: Die Lincoln-Verschwörung (Killing Lincoln), 2013, Fernsehfilm, National Geographic Channel == Weblinks == Literatur von und über Abraham Lincoln im Katalog der Deutschen Nationalbibliothek Zeitungsartikel über Abraham Lincoln in den Historischen Pressearchiven der ZBW Abraham Lincoln im Biographical Directory of the United States Congress (englisch) Abraham Lincoln Papers at the Library of Congress Mr. Lincoln’s White House (englisch) Mr. Lincoln and Freedom (englisch) Abraham Lincoln Research Site (englisch) Abraham Lincoln Assassination (englisch) Mr. Lincoln and Friends (englisch) Mr. Lincoln and New York (englisch) Biografie auf der Website des Weißen Hauses (englisch) Lincoln’s death too sad to describe (The Guardian, 14. April 1865, Originalbericht) Abraham Lincoln online (englisch) The Lincoln Institute (englisch) American President: Abraham Lincoln (1809–1865). Miller Center of Public Affairs der University of Virginia (englisch, Redakteur: Michael Burlingame) Lincoln Home National Historic Site Springfield, Illinois (englisch) Lincoln Memorial Washington, D.C. (englisch) The Alfred Whital Stern Collection of Lincolniana, American Memory (englisch) The American Presidency Project: Abraham Lincoln. Datenbank der University of California, Santa Barbara mit Reden und anderen Dokumenten aller amerikanischen Präsidenten (englisch) Life Portrait of Abraham Lincoln auf C-SPAN, 28. Juni 1999, 178 Minuten (englischsprachige Dokumentation und Diskussion mit dem Autor David E. Long und den Historikern Edna Greene Medford und Timothy Townsend sowie Führung durch die Lincoln Home National Historic Site) Abraham Lincoln in der Datenbank von Find a Grave (englisch)Vorlage:Findagrave/Wartung/Verschiedene Kenner im Quelltext und in Wikidata == Einzelnachweise ==
https://de.wikipedia.org/wiki/Abraham_Lincoln
Osttimor
= Osttimor = Osttimor, amtlich Demokratische Republik Timor-Leste, ist ein Inselstaat in Südostasien und war der erste Staat, der im 21. Jahrhundert unabhängig wurde. Die einzige Landgrenze trennt Osttimor vom indonesischen Westteil der Insel Timor, der zur Provinz Ost-Nusa Tenggara (Nusa Tenggara Timur) gehört. Nördlich liegen die zu Indonesien gehörenden Inseln Alor, Wetar und Liran und nordöstlich weitere Inseln der indonesischen Provinz Maluku. Australien liegt südlich, jenseits der Timorsee. Neben dem Ostteil Timors gehören zum Staat Osttimor auch die Exklave Oe-Cusse Ambeno in Westtimor und die Inseln Atauro und Jaco. == Landesname == Der international offizielle, portugiesische Landesname Timor-Leste bedeutet wörtlich ‚Timor-Ost‘. In der Amtssprache Tetum heißt das Land Timór Loro Sa’e, was übersetzt ebenfalls ‚Osttimor‘ bedeutet (wörtlich ‚Timor der aufgehenden Sonne‘, wobei die aufgehende Sonne in dieser Sprache für die Himmelsrichtung Osten steht). Neuerdings findet man auch offizielle Dokumente, in denen der Landesname auf Tetum Timór-Leste lautet. Berücksichtigt man, dass auch das indonesische Wort timur ‚Osten‘ bedeutet und sich der Name der Insel Timor davon herleitet, ergäbe sich die wörtliche Bedeutung ‚Osten des Ostens‘ beziehungsweise ‚Osten der Ostinsel‘. Auch der während der indonesischen Besatzungszeit verwendete Provinzname Timor Timur bedeutet damit ‚Osttimor‘. Osttimoresische Stellen legen Wert darauf, dass der Landesname nicht in fremde Sprachen übersetzt wird, hauptsächlich in dem Bestreben, zu vermeiden, dass auf Indonesisch die mit negativen, historischen Konnotationen verbundene Bezeichnung Timor Timur (kurz: TimTim) verwendet wird. Seit der Unabhängigkeit wird der offizielle Landesname im internationalen Sprachgebrauch (wie er beispielsweise von Organisationen wie UNO, ILO, EU gepflegt wird) daher in praktisch allen gängigen Arbeitssprachen unübersetzt in der portugiesischen Form Timor-Leste übernommen. Ebenso wird es mittlerweile auch im amtlichen Sprachgebrauch der deutschsprachigen Länder (zumindest im zwischenstaatlichen Schriftverkehr) gehandhabt. Die Bezeichnung der Einwohner und das vom Landesnamen abgeleitete Adjektiv werden nicht einheitlich gebraucht. Einwohner werden als Timorese/Timoresin oder weniger häufig als Timorer/Timorerin bezeichnet, wobei die weiblichen Formen auch in großen Korpora kaum auftauchen. Das Adjektiv timoresisch ist jedoch deutlich häufiger als das konkurrierende timorisch. Auch in der Fachliteratur findet man zumeist die vom Portugiesischen abgeleiteten Formen Timorese/Timoresin und timoresisch, ebenso auf Webseiten von Interessengemeinschaften, die sich im deutschen Sprachraum mit dem Land beschäftigen. Während die deutschen amtlichen Stellen früher (Liste der Staatennamen 2002) Osttimorer(in) bzw. osttimorisch empfahlen, veröffentlichen das deutsche Auswärtige Amt und der Ständige Ausschuss für geographische Namen seit der Umstellung des offiziellen Sprachgebrauchs von Osttimor auf Timor-Leste keine Vorgaben mehr für die Bezeichnung der Einwohner oder für das Adjektiv. Das österreichische Bundesministerium für europäische und internationale Angelegenheiten empfiehlt als Einwohnerbezeichnung Timorer/Timorerin und als Adjektiv timorisch.Seit den 1970er Jahren wird teilweise die Bevölkerung ethnisch auch als Maubere bezeichnet. Dieser Name war zuvor eine Bezeichnung für die Ethnie der Mambai, in der Kolonialzeit dann ein abwertendes Wort für die Landbevölkerung, bis sie in der nationalen Bewegung zur Sammelbezeichnung der Osttimoresen wurde. Auch heute wird er immer wieder im Land verwendet, seltener im offiziellen Sprachgebrauch (so nur einmal in der Verfassung) oder im internationalen Sprachverkehr. Der negative Unterton ist inzwischen verschwunden. Manche Parteien verwenden die Bezeichnung auch in ihrem Namen, so die Movimentu Libertasaun ba Povu Maubere (MLPM). Bereits zur ersten Ausrufung der Unabhängigkeit 1975 gab es Stimmen, die das Land nach seiner Hauptstadt lieber „Timor-Dili“ benennen wollten. Dieser Vorschlag setzte sich aber nicht durch. == Geographie == === Überblick === Die Insel Timor gehört zum östlichen Teil des malaiischen Archipels und zählt zu den Kleinen Sundainseln. Im Nordwesten der bergigen Insel liegt die Sawusee, nördlich die Bandasee, und südlich dehnt sich die Timorsee 500 km bis nach Australien aus. Die Timoresen nennen die raue Timorsee Tasi Mane, das Männermeer, während die ruhigen Gewässer nördlich der Insel als Tasi Feto, das Frauenmeer, bezeichnet werden. Bereits fünf Kilometer von der Nordküste entfernt fällt der Meeresgrund auf eine Tiefe von 1000 m ab. Während des Kalten Krieges konnten daher amerikanische Atom-U-Boote unentdeckt die Straßen von Ombai und Wetar passieren. In der Timorsee erstreckt sich südlich der Insel der schmale Timorgraben mit einer Tiefe von bis zu 3300 m. Osttimor ist das einzige Land Asiens, dessen Staatsgebiet komplett südlich des Äquators liegt. Es umfasst nicht nur die östliche Hälfte Timors, sondern auch die Exklave Oe-Cusse Ambeno, die an der Nordküste des indonesischen Teils der Insel gelegen ist, sowie die beiden kleinen Inseln Atauro, nördlich der Hauptstadt Dili, und Jaco an der Ostspitze. Mit einer Gesamtfläche von 14.918,72 km² ist Osttimor etwas kleiner als Schleswig-Holstein oder die Steiermark. Die Hauptlandmasse ist 260 km lang und bis zu 80 km breit. Mit der Exklave und den zugehörigen Inseln beträgt die maximale Ost-West-Ausdehnung 364 km, die maximale Nord-Süd-Ausdehnung 149 km. Osttimors Küstenlinie hat eine Länge von 783 km. Sie ist umgeben von Korallenriffen. Die Landgrenze zu Indonesien ist insgesamt 228 km lang, deren Verlauf seit 2019 mit Indonesien weitgehend geklärt ist. Seit 2015 laufen noch Verhandlungen über die Seegrenzen zwischen den beiden Staaten. Weiterhin umstritten sind die Zugehörigkeit von Naktuka (Citrana-Dreieck) und der Insel Fatu Sinai. Timor liegt auf dem äußeren Rand des sogenannten Bandabogens, der Teil eines Ausläufers des pazifischen Feuerrings ist und eine Inselkette um die Bandasee bildet. In einer ozeanischen Subduktionszone schiebt sich hier die Nordwestecke der Australischen Platte unter die Eurasische Platte. Dies führt unter anderem zu einem Wachstum der Bergkette auf Timor, die als zentrales Bergland nahezu die gesamte Insel von Südwesten nach Nordosten bis in die Region von Turiscai durchzieht. Ihre Spitze ist Osttimors höchster Berg, der Tatamailau (2963 m). Weiter östlich liegen isolierte Berge, wie der Curi (1763 m), der Monte Mundo Perdido (1332 m) und der Matebian (2376 m). An der Südküste der Ostspitze Timors verläuft die Bergkette des Paitchau (995 m). Einige Gebiete in Osttimor heben sich zwischen 1 und 1,6 mm pro Jahr. 32,1 % der Landesfläche liegt auf einer Meereshöhe zwischen 500 und 1500 m, 2,6 % über 1500 m. Geologisch gesehen ist Osttimor noch sehr jung, da es erst in den letzten etwa vier Millionen Jahren aus dem Meer gehoben wurde. Durch die geologischen Aktivitäten besteht eine ständige Gefahr durch Erdbeben und Tsunamis. Immer wieder spürt man in Dili auch Erschütterungen von Beben rings um Timor, die aber bisher keine nennenswerte Schäden verursachten. Der Nordosten der Exklave Oe-Cusse Ambeno bildet die jüngste und wildeste Oberflächenstruktur der gesamten Insel. Er ist vulkanischen Ursprungs und erreicht mit dem Sapu (Fatu Nipane) eine Höhe von 1259 m. Auch die Insel Atauro entstand durch Vulkanismus. Aktive Vulkane gibt es im Staatsgebiet Osttimors nicht mehr. Jedoch gibt es an verschiedenen Orten Schlammvulkane und heiße Quellen. Vulkanische Gase entweichen am sogenannten Bubble Beach (Suco Lauhata) aus dem Meeresboden. Im Norden fällt das Gebirge teilweise steil ins Meer ab. Charakteristische Küstenterrassen und einige markante Plateaus mit 400 bis 700 m Höhe, wie jene von Baucau, prägen das Bild. Terrassen und Plateaus entstanden aus Korallen. Das bergige Landesinnere ist von Tälern zerschnitten. Schwemmland findet sich zwischen Lautém und Baucau. Größere Flächen sind die Ebenen von Batugade, Metinaro, Dili, Manatuto, Com und am Lóisfluss. An der Südküste liegen weite Küstenebenen mit drei bis zehn Kilometern Breite, geprägt von saisonalen Sümpfen, versumpften Wäldern und Flächen mit hohem Grasbewuchs. Sie erstrecken sich von der Landesgrenze bis Viqueque und dann schmaler bis Lore. Die größten sind die Ebene von Alas mit dem südlichen Laclófluss, die Kicrasebene mit dem Sáhenfluss (Sahe), die Ebene von Luca mit dem Fluss Dilor und die Ebene von Bibiluto. An der Grenze zu Westtimor liegt das Flachplateau von Maliana, das früher eine Bucht war. Die auffälligste Hochebene Osttimors ist das Fuiloro-Plateau in der Gemeinde Lautém. Richtung Süden fällt es, aufgrund seiner großen Fläche unmerklich, von einer Höhe von 700 m auf 500 m ab. Ursprünglich war das Plateau die Lagune eines urzeitlichen Atolls. Drei weitere Hochebenen umgeben das Plateau von Fuiloro: die Plateaus von Nári im Norden, Lospalos im Westen und Rere im Süden. Städte in Osttimor mit über 10.000 Einwohnern sind (Stand 2015) Dili (244.584 Einwohner), Baucau (17.357), Maliana (12.787), Lospalos (12.471) und Same (12.421). === Binnengewässer === Die Gewässer Osttimors sind noch wenig erforscht. Teilweise gibt es Kontroversen über ihre Namensgebung, da den Gewässern in den verschiedenen Regionen, die sie durchfließen, unterschiedliche Namen gegeben wurden. Fast alle Flüsse Osttimors entspringen im zentralen Bergland und fließen, bedingt durch das steile Gefälle, in Richtung Norden oder Süden ab. Die Fließgewässer bilden im zentralen Inselgebiet ein dichtes hydrografisches Netz. Diese bestehen, wie bei vielen kleinen Inseln mit starken Erhebungen, fast nur aus Bächen, welche eher kurz, gewunden und rasch fließend sind. Jedoch liegen diese Bachläufe die meiste Zeit des Jahres trocken. Intensive Niederschläge während der Regenzeit führen zur Entstehung von Sturzbächen und dadurch zu starker Erosion des Erdreiches. Mit dem Ende des Regens fällt der Pegel der Bäche jedoch wieder, sodass sie bequem durchwatet werden können. Mit der Rückkehr der trockenen Winde, die von Australien her kommen, verbleiben nur dünne Rinnsale in breiten Flussbetten voller Müll und Geröll, die sich jedes Jahr verbreitern. Die alljährlichen Überflutungen, welche einige Monate andauern können, behindern auch den Warenverkehr zwischen den fruchtbaren Ebenen im Süden und dem restlichen Land. Es gibt Bestrebungen, mit Hilfe von Anpflanzungen die Erosion der Ufer einzuschränken und somit das Zerstörungspotential der Bäche zu verringern. Keiner der Flüsse Osttimors ist schiffbar. Ganzjährig wasserführende Flüsse gibt es genau genommen nur im Süden Osttimors. Der Grund dafür liegt in der im Vergleich zum Norden längeren Regenperiode. Flüsse, die auch im Norden ganzjährig Wasser führen, werden aus dem Süden gespeist. Dies ist der Fall beim nördlichen Lacló, der das größte hydrografische Becken Osttimors bildet, dem Seiçal in der Gemeinde Baucau und dem Lóis, dem mit 80 km längsten Fluss Osttimors, der bei Maubara mündet. Nach Süden fließend führen Irebere (Irabere), Bebui, Dilor, Tafara, Belulik (Bé-lulic), Caraulun (Carau-úlun, Karau Ulun), Südlicher Lacló und Clerec das ganze Jahr Wasser. Der Hauptfluss der Exklave Oe-Cusse Ambeno, der Tono (Nuno-eno), mündet westlich von Pante Macassar ins Meer. In einigen permanenten Flüssen entlang der südlichen Küste sammelt sich durch die starken Gezeiten Sand an den Flussmündungen, was den Abfluss immer mehr blockiert und zur Bildung von Marschland führt.Der größte See Osttimors ist der Ira Lalaro (auch Suro-bec) in der Gemeinde Lautém. Er hat eine Länge von 6,5 km und eine Breite von 3 km. Zu den weiteren Binnengewässern zählen der Maubarasee, der Lago Seloi und die Tasitoluseen. Einen besonderen Reiz der bergigen Landschaft bilden die vielen Wasserfälle, am bekanntesten ist der Wasserfall von Bandeira nahe Atsabe. === Klima === Das lokale Klima ist tropisch, im Allgemeinen heiß und schwül und von einer ausgeprägten Regen- und Trockenzeit charakterisiert. Während des Ostmonsuns zwischen Mai und November herrscht oft anhaltende Dürre, die Nordküste erreicht dann praktisch kein Regen und die braune Landschaft ist ausgedörrt. In diesen Dürreperioden kommt die Landwirtschaft zum Erliegen. Die kühleren Gebirgsregionen im Zentrum der Insel und die Südküste bekommen in der Trockenzeit gelegentlich Regen, daher bleibt hier die Landschaft grün. Die Regenzeit dauert von Ende November bis April. In dieser Zeit werden die Felder wieder bewirtschaftet. An das Ende der Regenperiode schließt sich die Erntezeit an. Mit dem Regen kommen oft Überschwemmungen, die trockenen Flussbetten können sich in kürzester Zeit füllen und zu großen Strömen heranschwellen, die Erde und Geröll mit sich reißen und Straßen unterbrechen. Am 4. April 2021 führten starke Regenfälle fast im gesamten Land zu großen Schäden. Nahezu die gesamte Hauptstadt Dili wurde überschwemmt. Es war die größte Naturkatastrophe in Osttimor seit über 40 Jahren. Dili besitzt einen durchschnittlichen Jahresniederschlag von 840 mm; der Regen fällt zum größten Teil von Dezember bis März. Dagegen erhält die Stadt Manatuto, östlich von Dili gelegen, durchschnittlich nur 565 mm Jahresniederschlag. Die Südküste Osttimors ist mit 1500 bis 2000 mm Jahresniederschlag regenreicher; der meiste Regen fällt an der mittleren Südküste und an den südlichen Bergen. Allerdings schaffen die Berge oft ein besonderes lokales Mikroklima, wodurch zum Beispiel der Ort Lolotoe in der Gemeinde Bobonaro die höchste jährliche Niederschlagsmenge in Osttimor mit 2837 mm aufweist. Auch gibt es im Laufe der Jahre sehr starke Unterschiede bei der Niederschlagsmenge (siehe Tabelle für Dili).Die Temperatur in der Trockenzeit beträgt um die 30 bis 35 °C im Flachland (nachts 20 °C). Teile der Nordküste erreichen am Ende der Trockenzeit Temperaturen bis über 35 °C, allerdings bei geringer Luftfeuchtigkeit und fast keinen Niederschlägen. In den Bergen ist es tagsüber ebenfalls warm bis heiß, nachts kann die Temperatur aber auf unter 15 °C absinken, in höheren Lagen deutlich tiefer. Auf 500 m Höhe liegt der jährliche Temperaturdurchschnitt bei 24 °C, auf 1000 m bei 21 °C, 1500 m bei 18 °C und auf 2000 m bei 14 °C. Der Wind weht in Dili im Monatsdurchschnitt am schwächsten im Mai mit 7 km/h und am stärksten im August mit 12 km/h. === Fauna und Flora === Die Insel Timor gehört zu Wallacea, einem Gebiet der biogeographischen Übergangszone zwischen der asiatischen und der australischen Flora und Fauna. Allerdings gibt es nur wenige australische Arten, wie den Grauen Kuskus. Die wenigen Säugetierarten auf Timor, wie der Mähnenhirsch, Musangs, Arten der Taxa Flughunde, Spitzmäuse und Affen, sowie Vögel und Insekten ähneln gewöhnlichen malaiischen Phänotypen. 23 Vogelarten kommen jedoch nur in der Timor and Wetar Endemic Bird Area vor, was Osttimor gerade für Ornithologen interessant macht. Zu den insgesamt etwa 240 Vogelarten gehören unter anderem zahlreiche Arten von Papageien sowie Amadinen, Kakadus und Tauben. Vor der Nordküste finden sich Dugongs und Blauwale, Pottwal und andere Meeressäuger ziehen regelmäßig direkt vor Dili vorbei. Osttimor kann nur mit wenigen Froscharten aus der Klasse der Amphibien aufwarten, die meist auch nicht endemisch, also nur auf Timor beschränkt sind. Auch Reptilien bereichern die Tierwelt Timors, so etwa der nach der Insel benannte Timor-Waran (Varanus timorensis), der Timor-Wasserpython (Liasis mackloti) und die im Meer lebende Timor-Riffschlange (Aipysurus fuscus). Endemisch ist die an der Ostspitze der Insel lebende und erst 2007 entdeckte Timorschildkröte, die teils als Unterart von McCords Schlangenhalsschildkröte (Chelodina mccordi), teils als eigene Art Chelodina timorensis angesehen wird.Eine besondere kulturelle Bedeutung hat das in Meer und Flüssen lebende Leistenkrokodil, das „Großvater Krokodil“ genannt wird. Die Insel Timor soll der Sage nach aus einem Krokodil entstanden sein. CrocBITE, die Datenbank für Krokodilangriffe der Charles Darwin University, registrierte allein zwischen 2007 und 2016 15 tödliche und fünf weitere Attacken auf Menschen in Osttimor. Auch Haustiere werden immer öfter gerissen, weswegen 2010 eine Crocodile Task Force aus zehn Männern aufgebaut wurde. Endemische Süßwasserfische in den Flüssen Timors sind der nur vier Zentimeter lange Oryzias timorensis aus der Familie der Reisfische (Adrianichthyidae) und Craterocephalus laisapi aus der Gattung der Hartköpfchen. Nicht wenige Arten Osttimors sind eher im Brackwasser der Flussmündungen und Mangroven lebend, unter anderem aus den Familien der Kreuzwelse (Ariidae), der Grundeln (Gobiidae), der Schützenfische (Toxotidae) und Kuhlia mugil aus der Familie der Flaggenschwänze (Kuhlia). Der Karpfen, der Afrikanische Raubwels und die Zahnkärpflinge Guppy, Koboldkärpflinge und Panchax wurden vom Menschen eingeführt. Die Gewässer um Timor gehören zum so genannten Korallendreieck, einer Region mit der größten Biodiversität an Korallen und Rifffischen in der Welt. Den Spitzenwert für Fische liefern die Riffe um die Insel Atauro. Bis zu 314 Arten entdeckte man 2016 an einzelnen Stellen, ein Wert, der nirgends auf der Welt übertroffen wird. Insgesamt wurden um Atauro 643 Fischarten nachgewiesen, mehrere sind wissenschaftlich noch nicht einmal beschrieben.Man schätzt, dass es in Osttimor etwa 2500 Pflanzenarten gibt. Die Vegetation Osttimors besteht hauptsächlich aus Sekundärwald, Savannen und Grasland. Es gibt zumeist Arten aus der Familie Kasuarinengewächse, der Gattung Eukalyptus, der Gattung Sappanholz, Sandelholz (tetum Ai-kameli) und Palmyrapalmen (Lontarpalmen). Die Fläche des ursprünglichen Primärwaldes Osttimors ist auf 220.000 ha, oder ein Prozent des Territoriums, zusammengeschrumpft. Dichten Wald findet man nur noch im Süden des Landes und in den Bergregionen. Mangrovenwälder bedecken nur etwa 7500 ha Osttimors, da im Gegensatz zu anderen Inseln des Archipels nur wenige Ausbuchtungen in der Küstenlinie vorhanden sind. Diese kommen hauptsächlich an der Nordküste vor, an der das Meer ruhiger ist. Beispielsweise findet man Mangrovenwälder bei Metinaro, Tibar und Maubara. An der Südküste breiten sich die Mangroven nicht viel weiter als über die Flussmündungen und sumpfigen Gelände hinaus aus. Insgesamt sind 61,9 % der Landesfläche bewaldet. == Bevölkerung == === Demografie === Osttimor hatte Anfang 2006 knapp 950.000 Einwohner, die Volkszählung von 2022 brachte ein Ergebnis von 1.341.737 Einwohnern, 383.416 Menschen leben in urbanen Gebieten, 958.321 auf dem Land. Sie wohnen in 250.270 Haushalten, womit durchschnittlich 5,4 Personen in einem Haushalt leben. 2015 waren es durchschnittlich noch 5,7.Die Bevölkerungsentwicklung im 20. Jahrhundert weist vor allem kriegsbedingt auffällige Schwankungen auf. Vor dem Zweiten Weltkrieg lebten etwa 450.000 Menschen in der damaligen portugiesischen Kolonie. Im Krieg verloren 40.000 bis 70.000 Timoresen ihr Leben. Bei der letzten portugiesischen Volkszählung 1970 zählte man 609.477 Einwohner. Durch die indonesische Invasion 1975, den Guerillakrieg und Repressalien durch die Besatzungsmacht starben zwischen 1974 und 1999 183.000 Menschen. Viele flohen auch aus dem Land, besonders direkt nach der Invasion und in den 1990er Jahren mit Höhepunkt bei den Vertreibungen von 1999, die schließlich zum Eingreifen der internationalen Staatengemeinschaft führten. Damals waren drei Viertel der Bevölkerung auf der Flucht. Etwa 280.000 Osttimoresen wurden von Indonesien nach Westtimor zwangsdeportiert oder hatten dort Zuflucht gesucht. Das jährliche Bevölkerungswachstum liegt bei 1,8 % (2022, 2004: 3,2 %) und ist damit das höchste aller Länder in der Region. Die Gemeinde Dili hat dank des Zuzugs aus den anderen Regionen eine jährliche Wachstumsrate von 2,7 %, so dass sich die Bevölkerung der Hauptstadt alle 25 Jahre verdoppelt. Ebenfalls über 2 % Wachstum haben Oe-Cusse Ambeno (2,3 %), Liquiçá (2,2 %) und Ainaro (2,1 %). Das kleinste Bevölkerungswachstum hat Viqueque mit 0,8 %. Die Fruchtbarkeitsrate sank in den letzten Jahren von 6,9 (2004) auf 5,7 (2011). Dabei betrug sie in der Stadt durchschnittlich 4,9, auf dem Land 5,9.Der Anteil der Bevölkerung mit einem Alter unter 15 Jahren beträgt 35 % und 65 Jahre oder älter sind 6 % der Bevölkerung (2022). 2011 kamen auf 100 Personen im erwerbsfähigen Alter von 15 bis 64 Jahren 81 Kinder unter 15 Jahren und 9,6 Personen über 64. Die Lebenserwartung lag 2006 bei 60,2 Jahren, 2020 betrug sie bei Frauen 70,3 Jahre und bei Männern 66,8. Das Durchschnittsalter lag 2011 bei 18,4 Jahren, ist aber infolge eines Rückgangs der Geburtenrate bis 2023 auf 21 Jahre angestiegen. Der Anteil der städtischen Bevölkerung beträgt 29,6 % (2010, 2007:27 %). Auf 100 Frauen kamen 2022 statistisch 103 Männer. Bei der Volkszählung 2022 wurde zwar als weitere Möglichkeit bei der Geschlechtsangabe „andere“, eingeführt, da diese Option aber bei den Umfragen keine Verwendung fand, konnten in den Statistiken keine Angaben gemacht werden, wie viele Osttimoresen sich weder als Männer noch Frauen ansehen.2022 lebten 17,5 % der Einwohner Osttimors nicht in der Gemeinde, in der sie geboren wurden. Allein die Hauptstadtgemeinde Dili verzeichnet eine Zunahme der Bevölkerung durch interne Migration, während vor allem Baucau, Viqueque, Lautém und Bobonaro eine große Abwanderung registrierten.10.500 Timoresen wurden im Ausland geboren, davon etwa 7.700 in Indonesien. In der Häufigkeit als Geburtsland folgen die Volksrepublik China (7,5 %) und Portugal mit seinen ehemaligen Kolonien (8,2 %). 2022 hatten von den Einwohnern Osttimors 4.100 eine ausländische Staatsbürgerschaft, dazu gehören Indonesier, Chinesen, Australier, Portugiesen, Australier und andere. (2011: 10.983). === Sprachen und Volksgruppen === Timor wurde von mindestens drei Einwanderungswellen (Veddo-Austronesen, Melanesier und Malaien) besiedelt, deren Nachkommen die verschiedenen einheimischen Völker der Insel stellen. In der wissenschaftlichen Literatur wird im Falle Timors vereinfacht dargestellt, dass die einzelnen Sprachgruppen auch jeweils eine eigene Kultur haben und so jeweils eine eigene Ethnie bilden. Die Menschen definieren sich über ihre Sprache. Es gibt auf Osttimor etwa 16 Ethnien, davon zwölf größere Stammesverbände. Sie sprechen meist austronesische (malayo-polynesische) Sprachen und Papuasprachen. Amtssprachen sind Portugiesisch und Tetum, die als Lingua Franca am weitesten verbreitete einheimische Sprache. Die 15 anderen Sprachen der einheimischen Ethnien sind als Nationalsprachen anerkannt, die nach der Verfassung „wertgeschätzt und gefördert“ werden sollen: Dies sind Atauru, Baikeno, Bekais, Bunak, Fataluku, Galoli, Habun, Idalaka, Kawaimina, Kemak, Makuva, Makalero, Makasae, Mambai und Tokodede. Englisch und Bahasa Indonesia sind als Arbeitssprachen aufgeführt. Die malayo-polynesischen Tetum bilden mit etwa 433.000 Angehörigen die größte Ethnie Osttimors. Weitere malayo-polynesische Ethnien sind die Mambai (196.000), die Kemak (69.000), die Tokodede (47.000) und die Galoli (16.000). Die Baikeno in Oe-Cusse Ambeno (69.000) sprechen eine malayo-polynesische Sprache, stammen aber von der veddo-austronesischen Einwanderungswelle ab. Melanesischer Herkunft sind die Sprecher der Papuasprachen: die Makasae (130.000), die Bunak (65.000), die Fataluku (42.000) und die Makalero (9000).Tetum war bereits vor der portugiesischen Kolonialzeit die Lingua franca des östlichen Timors. Nach der Annektierung Osttimors durch Indonesien wurde die portugiesische Sprache verboten. Die Katholische Kirche hielt ihre Messen jedoch nicht auf Bahasa Indonesia, sondern ab dem 7. April 1981 auf Tetum und trug so zur Herausbildung der Sprache und Identitätsstiftung bei. 62,5 % der Bevölkerung können Tetum sprechen, lesen und schreiben, weitere 1,3 % sprechen und lesen, 2,2 % nur lesen und 25,7 % nur sprechen.Während Tetum weit verbreitet ist, sprechen, lesen und schreiben nur 30,8 % der Bevölkerung Portugiesisch. Weitere 2,4 % können es sprechen und lesen, 24,5 % nur lesen und 3,1 % nur sprechen. Auch viele Lehrkräfte sprechen kein oder nur sehr schlecht Portugiesisch. Aufgrund dieser Probleme wird die ersten drei Jahre der Unterricht auf Tetum gehalten und erst danach Portugiesisch schrittweise eingeführt.Dazu kommen noch Einwanderer aus der jüngeren Geschichte, wie etwa Chinesen (hauptsächlich Hakka-Händler), Araber und Portugiesen. Mit der Einrichtung der Dampfschifffahrtslinie um die Jahrhundertwende zwischen Macau und Dili nahm die Zuwanderung von Chinesen nach Portugiesisch-Timor zu. Unter den Einwanderern waren auch viele zu finden, die als Gegner der chinesischen Mandschu-Kaiser aus China flohen. 1912 war die chinesische Gemeinde bereits gut organisiert. Es gab ein Vereinsgebäude, eine eigene Schule und einen buddhistischen Tempel. Die chinesische Bevölkerung sprach ursprünglich Hakka, Hochchinesisch und Kantonesisch. Vor der indonesischen Invasion 1975 gab es in Osttimor eine große und lebendige Hakkagemeinde. Während der Invasion kamen aber viele Hakka um oder flohen nach Australien. Heute leben die meisten timoresischen Hakka in Darwin und anderen australischen Städten, wie Brisbane, Sydney und Melbourne. In Osttimor nennen noch etwa 800 Menschen Chinesisch als ihre Muttersprache. Arabischer Herkunft ist zum Beispiel der ehemalige Premierminister Marí Alkatiri. Seine Vorfahren kamen am Ende des 19. Jahrhunderts aus dem heutigen Jemen nach Timor. Ihre Sprache, das Dili-Malaiisch ist nahezu verschwunden. Ein kleiner Teil der Bevölkerung ist gemischter portugiesisch-timoresischer Herkunft. Auf Portugiesisch wird diese Bevölkerung Mestiços (deutsch: Mestizen) genannt. Zu ihnen gehört zum Beispiel Staatspräsident José Ramos-Horta. Zudem gibt es noch eine kleine Gruppe reiner Portugiesen. Etwa 1400 Osttimoresen bezeichnen Portugiesisch als ihre Muttersprache. Auch einige Einwanderer aus Indonesien sind nach der Unabhängigkeit Osttimors im Land geblieben. Bahasa Indonesia hat allerdings als Verkehrssprache an Bedeutung verloren, während Englisch durch die ausländischen UN-Soldaten gewonnen hat. 36,6 % der Bevölkerung können Bahasa Indonesia sprechen, lesen und schreiben, weitere 1,7 % sprechen und lesen, 17,6 % nur lesen und 6,2 % nur sprechen. 15,6 % der Bevölkerung können Englisch sprechen, lesen und schreiben, weitere 1,7 % sprechen und lesen, 19,8 % nur lesen und 1,9 % nur sprechen. Als Muttersprache sprechen etwa 2700 Einwohner Bahasa Indonesia und etwa 7300 nennen Englisch als ihre Muttersprache. An der Nationaluniversität in Dili werden aber weiterhin viele Studiengänge auf Bahasa Indonesia gehalten. Die Besatzungszeit hat ein starkes osttimoresisches Nationalgefühl entstehen lassen, doch haben die Unruhen von 2006 wieder eine ethnische Spaltung ins Bewusstsein der Öffentlichkeit gebracht, die schon vor der Kolonialzeit bestand. Diese Teilung des Landes in einen Ost- und einen Westteil hat einen deutlichen Einfluss auf das alltägliche Leben in Osttimor. Die westliche Bevölkerung aus Loro Munu wird Kaladi, die östliche aus Loro Sae wird Firaku genannt. Der Osten besteht aus den Gemeinden Lautém, Baucau, Viqueque und Manatuto. Loro Munu besteht aus den Gemeinden Dili, Aileu, Ainaro, Atauro, Manufahi, Ermera, Bobonaro, Cova Lima, Liquiçá und Oe-Cusse Ambeno. Die Firaku sehen sich als diejenigen, die durch ihren langen Widerstand die indonesische Besatzungsmacht besiegt haben. Zu den Firaku gehören wichtige osttimoresische Persönlichkeiten aus dem Militär. Dem Westen werfen die Firaku vor, mit den Indonesiern sympathisiert zu haben. Viele der Polizisten, die die Indonesier rekrutiert haben, waren Kaladi. Die Vereinten Nationen und das unabhängige Osttimor haben die meisten dieser Polizisten in ihren Dienst übernommen. Der schwelende Konflikt zwischen Polizei und Militär resultiert daraus. Dili ist, als Schmelztiegel der verschiedenen Ethnien und Gruppen des Landes, Schauplatz von regelmäßigen Straßenkämpfen zwischen Banden aus dem Osten und dem Westen. Auch politisch ist eine Trennung zu erkennen. Während die östlichen Gemeinden die Hochburgen der alten Unabhängigkeitspartei FRETILIN sind, haben im Westteil Parteien die Mehrheit, die erst nach dem Unabhängigkeitsreferendum gegründet wurden. Trotzdem gibt es auch zahlreiche verwandtschaftliche Beziehungen zwischen den Gemeinden. Die engen Vernetzungen der einzelnen Stämme und Ethnien durch Heirat haben eine lange Tradition, die schon vor der Kolonisation die Insel und ihre grobe Teilung in eine West-, eine zentrale und eine Ostregion verband. Die Stämme am Westrand des Einflussgebietes von Wehale hatten gleichzeitig Bündnisse mit dem westlichen Timor und Oe-Cusse Ambeno, die Stämme im Osten mit dem östlichen Timor und seinen Zentren Atsabe und Lospalos. Auf diese Weise bildete die Insel aus Sicht vieler Timoresen trotz der verschiedenen Einflusssphären eine Einheit, die erst durch die koloniale Spaltung durch Niederländer und Portugiesen zerstört wurde. Doch auch von Fehden und Kriegen wird berichtet. Die alten Beziehungen und familiären Strukturen haben noch heute einen erheblichen Einfluss auf die Politik des Landes. === Religion === Fast alle Einwohner Osttimors sind christlichen Glaubens. Über 97 % gaben bei der Volkszählung 2015 an, Katholiken zu sein; Protestanten bilden eine christliche Minderheit (2,0 %). Davon gehören etwa 17.000 zur Protestantischen Kirche in Osttimor (IPTL). 0,2 % der Osttimoresen sind Muslime, zumeist Sunniten. Es sind Nachkommen von im 19. Jahrhundert eingewanderten Arabern und während der Besatzung angesiedelter Javaner. Die Annur-Moschee in Dili ist die größte Moschee des Landes. Weitere gibt es in Baucau, Lospalos und Liquiçá. Außerdem gibt es Minderheiten von Buddhisten und Hindus. Der Pura Girinatha in Dili ist der größte der wenigen hinduistische Tempel im Land, die chinesische Minderheit hat mit dem Guandi-Tempel seit hundert Jahren einen buddhistischen Tempel. Die traditionelle Religion Timors ist nur noch schwach vertreten (0,08 %). Allerdings werden animistische Glaubensinhalte immer noch im Alltag praktiziert.Der katholische Glaube war während der portugiesischen Kolonialherrschaft auf die Hauptstadt Dili und wenige größere Orte beschränkt. Die Mehrheit der Bevölkerung waren Animisten. Um 1975 betrug der Anteil der Katholiken an der Bevölkerung nur etwa 30 %. Während des Freiheitskampfes gegen Indonesien wurde die katholische Kirche jedoch zur einigenden Klammer um die zwölf größeren Stammesverbände gegen die überwiegend muslimischen Indonesier. In keinem anderen Land der Erde hat die katholische Kirche in den letzten Jahrzehnten einen derart großen Zuwachs erreicht. Sie verdankt das unter anderem dem damaligen Apostolischen Administrator des 1940 errichteten Bistums Dili, Martinho da Costa Lopes, der gegen die Menschenrechtsverletzungen der Indonesier predigte. 1983 musste er auf Druck Jakartas abdanken und wurde durch Carlos Filipe Ximenes Belo ersetzt. Doch auch er wandte sich gegen die Besatzer. In einem offenen Brief an den Generalsekretär der Vereinten Nationen forderte er ein Referendum über die Eigenständigkeit Osttimors. Weiteren Auftrieb erhielt die katholische Kirche 1989 durch den Besuch von Papst Johannes Paul II. in Osttimor. 1996 erhielt Bischof Belo, zusammen mit José Ramos-Horta, für sein gewaltloses Eintreten für die Freiheit Osttimors den Friedensnobelpreis. Die Befreiungsbewegung FRETILIN hatte zwar kommunistische Züge, deren Führer wurden aber stark durch die Befreiungstheologie Lateinamerikas von katholischen Priestern beeinflusst. Im Jahr 1996 wurde das Bistum Baucau eingerichtet, 2010 folgte als drittes das Bistum Maliana. Alle Bistümer waren bis 2019 kirchenrechtlich direkt dem Heiligen Stuhl unterstellt. Am 11. September 2019 errichtete Papst Franziskus die Kirchenprovinz Dili durch die Erhebung des Bistums Dili in den Rang eines Erzbistums, dem die Bistümer Baucau und Maliana als Suffragane unterstellt wurden. Zu den Feierlichkeiten für die Unabhängigkeit wurde 2002 eine Marienstatue aus Fátima (Portugal) nach Dili verschifft und das Land der Mutter Gottes von Fátima geweiht. Im Mai 2005 wurde der Religionsunterricht in öffentlichen Schulen nach wochenlangen Protestmärschen wieder als Pflichtfach in den Lehrplan aufgenommen. Premierminister Alkatiri hatte im Februar einen Gesetzentwurf eingebracht, nach dem das Fach nur freiwillig besucht werden solle. Osttimor ist ein säkularer Staat und es herrscht laut Verfassung Religionsfreiheit. Ramos-Horta betonte aber in seiner Antrittsrede als Premierminister 2006 die Bedeutung der katholischen Kirche als ein das Land vereinigendes und zwischen den verschiedenen Konfliktparteien aussöhnendes Element. In einem nächsten Schritt entsandte 2007 die Regierung mit Justino Maria Aparício Guterres den ersten ständig beim Heiligen Stuhl akkreditierten Botschafter, um die Beziehungen zum Vatikan weiterzuentwickeln. Außerdem wurde ein apostolischer Nuntius nach Osttimor entsandt. Am 14. August 2015 wurde anlässlich des 500. Jubiläums der Evangelisierung Timors zwischen Osttimor und dem Vatikan ein Konkordat unterzeichnet. Es definiert die Bereiche in denen die katholische Kirche unabhängig vom Staat handeln kann, so bei der spirituellen Betreuung in Gefängnissen, Kranken- und Waisenhäusern und bei der Führung eigener Schulen auf jeder Bildungsstufe.Eine Reihe von Bewegungen, wie etwa Colimau 2000 oder die Sagrada Família, tragen quasi-religiöse Züge. Diese Gruppen verwenden dafür christliche und animistische Elemente und kombinieren sie mit verschiedenen Kampfsportarten. Sie haben jeweils einige hundert bis einige tausend Mitglieder. In den letzten Jahren etablierte sich die Lesart, dass die Timoresen bereits vor Eintreffen der Missionare gläubig waren. Premierminister Rui Maria de Araújo erklärte in einer Rede 2015: Dieses Bild griff auch der apostolische Nuntius Joseph Salvador Marino in einer Rede im selben Jahr auf, der erklärte, die Timoresen hätten bereits vor den Missionaren „das Licht Gottes“ gekannt. === Frauen in Osttimor === 49,23 % der Einwohner Osttimors sind Frauen (2022). 24 % der Frauen sind bereits vor ihrem 20. Geburtstag verheiratet. Bei Männern sind es nur 5 %. Sie heiraten meist im Alter zwischen 25 und 29 Jahren. Üblicherweise sind die Ehemänner daher sieben bis zehn Jahre älter als ihre Frauen. Allgemein ist häusliche Gewalt ein großes Problem. Die Gründe dafür sind mit in den traumatischen Erlebnissen der Einwohner in der indonesischen Besatzungszeit zu suchen. Allein 2008 wurden über 400 Fälle registriert, die Dunkelziffer dürfte diese Zahl aber weit übersteigen. Studien des Entwicklungsfonds der Vereinten Nationen für Frauen (UNIFEM) in zwei der damaligen Distrikten des Landes ergaben, dass Gewalt für timoresische Frauen „normal“ sei und als Privatangelegenheit angesehen würde. 2009 wurde häusliche Gewalt als Straftat in das Bürgerliche Gesetzbuch aufgenommen, das erste Mal überhaupt in der Geschichte des Landes, denn auch unter indonesischer Herrschaft war dies nicht der Fall. Am 3. Mai 2010 verabschiedete das Nationalparlament ein Gesetz, das Opfern von häuslicher Gewalt juristische Unterstützung gewähren soll.Das Abtreibungsgesetz folgt noch immer dem alten indonesischen Recht. Schwangerschaftsabbrüche sind, auch wenn Lebensgefahr für die Mutter besteht, durch das Gesetz verboten, weswegen illegale Abtreibungen ohne ärztliche Hilfe vollzogen werden. Ein neues Gesetz, das sich an portugiesischem und australischem Recht orientiert, ist zurzeit in Planung. Danach sollen Abtreibungen erlaubt sein, wenn die Schwangerschaft das Leben der Frau gefährdet. Zunächst sprachen sich katholische Kräfte in der Politik, wie Fernanda Borges, gegen das Gesetz aus und kritisierten es als „westlichen Einfluss“. Doch weil Abtreibungen abseits der Ausnahmeregelung weiterhin als kriminell gelten sollen, befürwortete später die Katholische Kirche die Neuregelung. Auch die Abbrüche bei Opfern sexueller Gewalt und bei Inzest werden, entgegen ersten Planungen, nun nicht mehr entkriminalisiert. === Gesundheit === Die medizinische Versorgung ist mangelhaft, verbessert sich aber langsam. Die Vielfalt der Sprachen im Land führt oft zu Problemen bei der Verständigung zwischen Arzt und Patient. 2008 gab es 302 medizinische Einrichtungen (2003: 218): sechs öffentliche Krankenhäuser (die zwei größten in Dili und Baucau), 66 kommunale Gesundheitszentren, 189 medizinische Stationen und 41 Privatkliniken (Stand 2008). 2010 kamen auf 1000 Einwohner 5,9 Krankenhausbetten. Die Bevölkerung erhält in den öffentlichen Einrichtungen kostenlose Behandlung. Auf 1000 Einwohner kommen durchschnittlich 0,8 Ärzte (2020). 2008 waren es noch 0,3 Ärzte, neben 0,8 Krankenschwestern und 0,3 Hebammen (2008). Bis vor kurzem fehlten vor allem einheimische Ärzte. Von 40 Ärzten in den Hauptkrankenhäusern von Dili und Baucau waren 2003 nur 10 Osttimoresen. Dank einer Kooperation zwischen Dili und Havanna waren 2007 300 kubanische Ärzte in Osttimor tätig, 90 % aller Ärzte im Land. 700 Timoresen studierten in Kuba Medizin. Ende 2012 gab es in Osttimor 152 Ärzte, davon 13 Spezialisten, 1271 Krankenschwestern und Pfleger, 427 Hebammen und 416 medizinisch-technische Assistenten. Im Dezember 2012 graduierten als Ärzte zusätzlich 400 Osttimoresen, nach vier Jahren Studium in Kuba und 2 Jahren in Osttimor. Weitere 80 hatten bereits 2010/11 erfolgreich ihr Medizinstudium beendet. 2022 zählte man in Osttimor 1200 Ärzte. Zwei Flugzeuge der Mission Aviation Fellowship Timor-Leste (MAF TL) transportieren Kranke und Verletzte aus ländlichen Regionen in die Hauptstadt Dili.In den fünf Jahren vor dem Zensus 2022 erhielten Frauen bei 58,3 % der Geburten Unterstützung durch eine Hebamme, 24,1 % durch einen Arzt, 23,7 % durch traditionelle Geburtenbegleitung, 23,2 % durch eine Krankenschwester und 14,5 % durch andere Personen. Bei 0,9 % der Geburten fehlte eine helfende Person. Zusammengenommen wurde bei 68,5 % der Geburten Frauen durch medizinisch ausgebildetes Personal geholfen. 2016 lag die Quote noch bei 57 %, 2009/2010 bei 30 %. Während auf diese Unterstützung im ländlichen Ermera nur bei 41,0 % der Geburten zurückgegriffen werden konnte, lag die Quote in der Hauptstadtgemeinde Dili bei 93,3 %.Der Anteil am Staatshaushalt für Gesundheitsausgaben lag 2008 bei 4,73 %. 34,1 % (2010, 2006: 38 %) der Einwohner haben kein sauberes Trinkwasser und 60,8 % (2010, 2006: 59 %) keinen Zugang zu Sanitäreinrichtungen (Stand 2006). Pro 100.000 Lebendgeburten 2004 starben 800 Mütter. 2008 lobte die UNICEF Osttimor, da es zwischen 1990 und 2006 die Kindersterblichkeit um 40 % gesenkt habe. Die Kindersterblichkeit lag 1990 bei 177, 2004 bei 80, 2005 bei 61 und 2010 bei 44. Die Säuglingssterblichkeit lag 1974 bei 50 %, 1990 bei 133 von 1000 Geburten, 2004 bei 64, 2005 bei 52 und 2006 bei 47. Ein Grund für die sinkenden Raten bei der Kindersterblichkeit ist die zunehmende medizinische Versorgung. 2010 waren 53 % der Kinder im Alter von 12 bis 23 Monaten mit allen wichtigen Impfungen versorgt, 2003 waren es nur 18 %. Allerdings waren 2010 noch 23 % der Kinder ohne jegliche Impfungen.Das Cruz Vermelha de Timor-Leste CVTL (Rotes Kreuz Osttimor) wurde im Jahr 2000 gegründet.Problematisch ist die andauernde Mangelernährung, gerade von Kindern. 46 Prozent der Kinder unter fünf Jahren sind aufgrund von Unterernährung fehlentwickelt, 24 Prozent der Kinder sind stark untergewichtig. Übergewichtig sind nur 6 Prozent (Stand 2018). Am schlimmsten ist die Situation in den Gemeinden Ermera, Ainaro und der Sonderverwaltungsregion Oe-Cusse Ambeno. Auf dem Welthunger-Index belegt Osttimor 2019 Rang 106 von 107 mit einem Wert von 37,6 (2008: 46,8; 2019: 34,5). Die Lage wird als sehr ernst eingestuft. Grund für die kritische Lage sind die häufigen Missernten in Osttimor und die geringe Produktivität der Landwirtschaft (siehe auch: Kapitel Landwirtschaft und Handwerk). Der durchschnittliche männliche Osttimorese ist mit 160 cm sehr klein. Es ist weltweit die kleinste durchschnittliche Körpergröße.Die Geburtenrate lag 2011 bei 36,85 Geburten auf 1000 Einwohner (2004: 43,6), die Sterberate 2011 bei 8,77 Sterbefällen auf 1000 Einwohner (2004: 10,8). Aufgrund der Berichte über angebliche Zwangssterilisationen während der indonesischen Besatzungszeit haben gerade Frauen ein erhöhtes Misstrauen gegenüber staatlichen, medizinischen Einrichtungen, was besonders die Versorgung von Schwangeren erschwert. In einigen Gebieten ist der Anteil an jungen Müttern extrem hoch. Im Landesdurchschnitt kamen 2004 auf 1000 Lebendgeburten 59,2 Geburten bei Müttern im Alter zwischen 15 und 19 Jahren, in Tilomar waren es aber zum Beispiel 114,4, womit dieser damalige Subdistrikt ähnlich hohe Zahlen wie einige lateinamerikanische Länder hatte.Osttimor ist eines der Länder mit dem höchsten Anteil an Rauchern in der Bevölkerung. 33 % der Einwohner rauchen jeden Tag, bei den Männern beträgt der Anteil sogar 61 %. Es fehlt an einer umfassenden Gesundheitserziehung und es gibt keinerlei Reglementierung des Zigarettenkonsums, des Tabakverkaufs oder der -werbung. Geraucht wird meist Importware aus Indonesien. Es gibt aber auch einheimische Tabakbauern, deren Produktion zum Selberdrehen von Zigaretten verwendet wird, was die ohnehin niedrigen Preise für Zigaretten weiter senkt.In der Regenzeit ist Schutz vor Mücken notwendig, um sich vor von ihnen übertragenen Infektionen zu schützen. 2006 gab es 223.000 registrierte Fälle von Malaria und 68 Tote. Mit Hilfe der WHO wurde ein landesweites National Malaria Control Programme (NMCP) gestartet. 2018 registrierte man in Osttimor keine Malarianeuerkrankung mehr. Weitere Krankheiten, wie die Tuberkulose und die japanische Encephalitis, sind noch weit verbreitet. Die Anzahl von Fällen von Denguefieber ist in den letzten Jahren stark zurückgegangen, von 2789 im Jahr 2006 auf 187 im Jahr 2008. Allerdings gab es 2014 und Anfang 2019 in Dili und 2020 in Ermera mit 117 Erkrankten und vier Toten größere Ausbrüche der Krankheit.Bei der Lepra sind Fortschritte in der Bekämpfung festzustellen. Wurden 2004 noch 4,7 Neuinfektionen pro 10.000 Einwohnern registriert, waren es 2009 nur noch 1,3. Trotzdem bedeutete das zwischen 2004 und 2009 etwa 1300 neue Fälle der Krankheit. Osttimor gilt seit 2018 als frei von Masern. Bislang gab es über 10.348 bestätigte Fälle von Corona in Osttimor. Aktuell zählt man 695 Infizierte (Stand 25. Juli 2021) und 26 Verstorbene. HIV spielt noch eine geringe Rolle, auch wenn die meisten Osttimoresen nichts über das AIDS-Risiko oder seine Verhütung wissen. 2002 gab es nur einen Todesfall durch HIV in Osttimor, 2003 waren sechs Infizierte bekannt. Im März 2011 zählte man insgesamt 239 Fälle, wovon 42 bereits verstorben waren. Die meisten Infizierten kommen aus Dili, aber es gibt auch Fälle in Maliana (18) und Baucau (9). Im August 2012 waren 263 HIV-Infizierte registriert, darunter 28 neue Fälle. 73 von ihnen erhalten antiretrovirale Medikamente. 17 der Infizierten sind Kinder unter fünf Jahren, weitere fünf Kinder starben bereits infolge von AIDS.Laut der Volkszählung 2015 gibt es in Osttimor mehr als 38.000 Menschen mit Behinderungen, darunter mehr als 14.000 Blinde, rund 11.000 Körperbehinderte und fast 10.000 Gehörlose.Augenprobleme sind innerhalb der Bevölkerung Osttimors verhältnismäßig weit verbreitet. 3,6 % der Einwohner, die älter als 40 Jahre sind, sind blind. Häufigste Ursache dafür ist der Graue Star. Die sonst weltweit häufige altersbedingte Makuladegeneration kommt dagegen kaum vor. Grund könnten die Gene des Großteils der Bevölkerung sein. Die Haplogruppen für das Y-Chromosom stammen zu 73 % von asiatischen Vorfahren, je 13 % aus Eurasien und Afrika und zu 1 % aus Ozeanien. Die Haplogruppen für die mitochondriale DNA (mtDNA) weisen dagegen zu 69 % eine Herkunft aus Asien, zu 15 % aus Afrika, aber nur zu 1 % aus Eurasien und dafür zu 17 % aus Ozeanien auf. Die unterschiedliche Herkunft lässt darauf schließen, dass es auf Timor entweder sehr viele verschiedene Einwanderungswellen gab oder die Osttimoresen von einigen wenigen Männern mit sehr unterschiedlicher Herkunft abstammen. Studien zeigten, dass es klare Unterschiede zur westtimoresischen Bevölkerung gibt, die eine andere ethnische Zusammensetzung hat. Tatsächlich sprechen Historiker von mindestens vier Einwanderungswellen auf Timor. === Homosexualität === Diskriminierung aufgrund der sexuellen Orientierung ist gesetzlich verboten. In der Gesellschaft sind sexuelle Orientierung oder Gender keine großen Themen, doch sind Diskriminierung und Stigmatisierung alltäglich. Einige LGBT-Organisationen existieren. == Geschichte == === Kleine Reiche und Fremdherrschaft === Die ältesten Spuren menschlicher Besiedlung auf der Insel wurden 2017 in der Höhle Laili bei Laleia, im Norden Osttimors gefunden. Sie sind mindestens 43.000 bis 44.000 Jahre alt. Neben Steinwerkzeugen, dem ältesten bekannten Angelhaken der Welt und Muschelschalen, die als Schmuck verwendet wurden, fand man in der Kalksteinhöhle Jerimalai nahe Tutuala die Überreste von Schildkröten, Thunfischen und Riesenratten, die den Höhlenbewohnern als Nahrung gedient hatten. Außerdem wiesen die Funde erstmals nach, dass Menschen bereits vor 42.000 Jahren in der Tiefsee Fischfang betrieben. Diese Funde erhärten die Theorie, dass die Besiedlung Australiens über die Kleinen Sundainseln erfolgte.Ab 40.000 v. Chr. wurde Timor in mindestens drei weiteren Wellen von Austronesen, Melanesiern und Proto-Malaien besiedelt. Die Insel teilte sich nach Berichten der Portugiesen in drei lose Herrschaftsgebiete, die wiederum in zahlreiche kleine Reiche zersplitterten, deren Herrscher Liurais genannt wurden. Heirat- und Bündnispolitik bildeten ein Netzwerk, das praktisch die gesamte Insel miteinander verband, was aber ständige Konflikte und Kämpfe zwischen den Reichen bis in das 20. Jahrhundert hinein nicht verhinderte. 1515 landeten die Portugiesen erstmals auf Timor und gründeten 1556 mit Lifau die erste Siedlung ihrer Kolonie Portugiesisch-Timor, deren endgültige Grenzen zum niederländischen Teil der Insel erst 1916 festgelegt wurden. Beide Kolonialmächte waren bis zum Anfang des 20. Jahrhunderts noch auf die traditionellen Herrschaftsstrukturen angewiesen, um ihre Territorien zu verwalten. Ständig kam es zu Aufständen gegen die Europäer. Die größte Rebellion gegen die Portugiesen führte im Jahre 1912 Boaventura von Manufahi. Japanische Truppen besetzten die gesamte Insel von 1942 bis 1945, obwohl Portugal im Zweiten Weltkrieg ein neutrales Land war. Die Folge war ein Guerillakrieg, den alliierte Truppen gegen die Japaner auf der Insel führten, der als die Schlacht um Timor bekannt wurde. Auf beiden Seiten kämpften auch Timoresen mit. Allein in Portugiesisch-Timor starben zwischen 40.000 und 70.000 Menschen. Nach Ende des Weltkriegs erlangte Indonesien seine Unabhängigkeit von der niederländischen Kolonialmacht. Westtimor wurde Teil des neuen Staates, während Osttimor 1951 nur den neuen Status einer portugiesischen Überseeprovinz erhielt. Erst 1974 änderte die Nelkenrevolution in Portugal die politischen Verhältnisse. 1975 sollte die Kolonie für die Unabhängigkeit vorbereitet werden, doch es kam zu einem Bürgerkrieg zwischen den beiden größten Parteien FRETILIN und UDT, aus dem die FRETILIN als Sieger hervorging. Sie rief am 28. November 1975 die Unabhängigkeit aus, doch nur neun Tage später begann Indonesien mit der Operation Seroja das Land offen zu besetzen und machte es 1976 formell trotz internationaler Verurteilung zu seiner 27. Provinz Timor Timur. Zwischen 1977 und 1979 starb etwa ein Drittel der Einwohner Osttimors an Hunger, durch Epidemien, bei den Kämpfen gegen die Besatzer und durch deren Maßnahmen. Nach einem Referendum im Jahre 1999, das zu Gunsten einer Unabhängigkeit ausging und weitere Gewalt durch pro-indonesische Milizen (Wanra) und die indonesische Armee zur Folge hatte, entsandten die Vereinten Nationen unter australischer Führung die Friedenstruppe INTERFET. Osttimor kam unter Verwaltung der UNTAET, bis es schließlich am 20. Mai 2002 in die Unabhängigkeit entlassen wurde. Am 27. September 2002 wurde Osttimor als 191. Mitglied in die Vereinten Nationen aufgenommen. === Seit der Unabhängigkeit === Von Ende April bis Ende Mai 2006 erlebte Osttimor schwere Unruhen. Dabei starben 37 Menschen, 155.000 waren auf der Flucht. Ausgangspunkt dafür war die Entlassung von etwa 40 % der Armeeangehörigen, die aus Protest gegen Missstände bei den Verteidigungskräften Osttimors Anfang des Jahres desertierten. Über 3.000 Soldaten (Internationale Stabilisierungstruppe ISF) wurden aus verschiedenen Ländern nach Osttimor geschickt, um die Situation wieder zu stabilisieren. Premierminister Marí Alkatiri trat am 26. Juni zurück. Bis März 2011 übernahm die UNMIT (UN Integrated Mission in Timor-Leste) zusammen mit den ausländischen Truppen der ISF die Aufgabe, für Ordnung im Land zu sorgen. Das Mandat der UNMIT wurde bis zum 31. Dezember 2012 verlängert. Sie unterstützte bis dahin die Nationalpolizei Osttimors (PNTL) und trug auch zur Sicherheit bei den Wahlen 2012 bei.Die ersten Neuwahlen nach der Wiederherstellung der Unabhängigkeit 2007 brachten einen Machtverlust für die FRETILIN. Der parteilose José Ramos-Horta setzte sich in der Stichwahl für das Präsidentenamt gegen den FRETILIN-Kandidaten durch. Einer Vier-Parteien-Koalition gelang es, die Mehrheit im Parlament zu gewinnen und Xanana Gusmão als Premierminister einzusetzen. Die FRETILIN war zwar die stärkste Partei im Parlament, konnte aber keine Koalitionspartner finden. Dass sie als stärkste Kraft nicht die Regierung führte, sah die FRETILIN als Verfassungsbruch, kam aber von anfänglichen Drohungen ab, das Parlament zu boykottieren oder vor das Oberste Gericht zu ziehen. Der Anführer der 2006 meuternden Soldaten Alfredo Reinado war noch im selben Jahr zusammen mit 56 Getreuen aus einem Gefängnis ausgebrochen, in dem sie wegen unerlaubten Waffenbesitzes und Mordverdachts im Laufe der Maiunruhen einsaßen. Im Jahr 2007 eskalierte die Lage um die Flüchtigen, die sich in den Bergen von Manufahi und Ermera versteckten. Bei einem Überfall auf zwei Posten der Grenzpolizei raubten sie 23 teilweise schwere Waffen. Präsident Gusmão ermächtigte die ISF zur Verhaftung von Reinado und bat auch Indonesien um Unterstützung. Ein Zugriffsversuch durch australische Spezialeinheiten im März 2007 scheiterte. Mehrfach drohte Reinado der Regierung mit Bürgerkrieg und Angriffen auf Dili. Am 11. Februar 2008 kam es im Wohnhaus von Präsident Ramos-Horta zu einem Schusswechsel zwischen Reinado, einigen seiner Männer und den Sicherheitskräften. Ramos-Horta und einer seiner Leibwächter wurden dabei schwer verletzt, Reinado und ein weiterer Rebell kamen ums Leben. Kurz darauf wurde der Wagen von Premierminister Gusmão beschossen. Er entkam der Attacke aber unverletzt. Gusmão erklärte den versuchten Staatsstreich für gescheitert. Präsident Ramos-Horta übernahm im April wieder die Amtsgeschäfte, nachdem er in Darwin medizinisch behandelt worden war. Die Rebellenbewegung brach kurz nach den Attentaten endgültig zusammen. In den folgenden Jahren stabilisierte sich die politische Lage deutlich, auch wenn sich die großen Parteien als teils unversöhnlich zeigen und die Institutionen teilweise in parteipolitischen Machtkämpfen sich gegenseitig blockieren. Im Dezember 2012 wurden die letzten Soldaten und Polizisten von ISF und UNMIT verabschiedet. 75 % der Einwohner Osttimors erklärten 2008, sie seien mit der Arbeit der UN zufrieden, 3 % empfanden sie als schlecht. 2015 kam es mit dem KRM nochmals zu einem Zwischenfall, bei dem die Armee schnell wieder für Ruhe und Ordnung sorgte. Bei den Grenzstreitigkeiten mit Australien konnte Osttimor sich gerichtlich durchsetzen. Am 4. April 2021 kam es zu schweren Überschwemmungen, die zu dutzenden Toten führten. Es war die schwerste Naturkatastrophe in Osttimor seit der portugiesischen Kolonialzeit. == Politik == === Allgemeines === Die Verfassung Osttimors von 2002 wurde nach portugiesischem Vorbild gestaltet.Von vielen Seiten wird Osttimor als eine „Gesellschaft, die auf Gerüchten basiert“ (rumor-based society) bezeichnet, was eine Folge der Traumatisierung durch die gewaltreiche Vergangenheit ist. Nach Beendigung der Eroberung hielt Indonesien das besetzte Land durch eine Art Strategie der Spannung in einem Zustand der permanenten Anspannung, um den innenpolitischen Widerstand gegen die Besetzung zu unterdrücken. Es kam zu willkürlichen Verhaftungen, öffentlicher Ausstellung von Leichen, mysteriösen Morden und dem Ausstreuen von Gerüchten. Die geheimen Widerstandsgruppen wandten wahrscheinlich ähnliche Methoden an, um Angst unter den Besatzern zu schüren. Die Bevölkerung ist daher anfällig für Gerüchte und Verschwörungstheorien, was von allen politischen Parteien und Akteuren ausgenutzt wird. Das beginnt mit Vermutungen über die verfassungsmäßige Rechtmäßigkeit der ersten Koalitionsregierung unter Xanana Gusmão und geht über unbelegte Korruptionsvorwürfe und Behauptungen über Fehlverhalten der ausländischen Sicherheitskräfte (zum Beispiel der „INTERFET-Frosch“) und Unfähigkeit der Regierenden bis hin zu Gerüchten über bewaffnete, paramilitärische Gruppen und Spekulationen über den gewaltsamen Tod des Rebellen Alfredo Reinado und dessen Verbindungen ins Ausland. Im Mai 2009 appellierte der stellvertretende Polizeikommandant Alfredo de Jesus per Radio und Fernsehen an die Bevölkerung, nicht dem Gerücht zu glauben, eine Hexe namens Magareta würde nächtens über Dili fliegen. Die Gerüchte verbreiten sich schnell durch Mundpropaganda, SMS und Internet-Blogs. Dazu kommen Ankündigungen und Warnungen (zum Beispiel per SMS) vor gewalttätigen Ausschreitungen oder Massendemonstrationen, die dann nie stattfinden, oder Machtdemonstrationen von militanten Gruppen, zum Beispiel mit inszenierten Flaggenzeremonien. Folge ist ein „Reich der Angst“ (Kingdom of Fear), das durch die immer wieder vorkommende wirkliche Gewalt verstärkt wird. Nur 62 % der Einwohner Osttimors äußerten noch 2009, sie könnten ihre politische Meinung in ihrem Heimatort frei äußern; 24 % verneinten dies. 2017 waren 90 % der Meinung, sie könnten frei ihre Ansichten aussprechen, nur noch 2 % glaubten das nicht.98 % von 1200 Befragten gaben im November 2016 an, zu den 2017 anstehenden Wahlen gehen zu wollen. 72 % erwarteten, dass es dem Land im nächsten Jahr besser gehen werde, und 49 % sahen es schon jetzt auf dem richtigen Weg. 29 % der Befragten waren der Meinung, dass die Regierung eine sehr gute Arbeit mache, 45 % nannten die Arbeit gut. 44 % nannten sich als der FRETILIN nahestehend, 75 % hatten eine positive Einstellung zu der Partei. Als wichtigstes Problem sahen 29 % den Zustand der Straßen im Land. 32 % fanden, dieser hätte sich im letzten Jahr verschlechtert, 29 % sahen eine Verbesserung. Eine Mehrheit der Befragten sah Verbesserungen in den Bereichen Gesundheitsversorgung (79 %), Bildung (78 %) und Stromversorgung (71 %). 66 % haben Angst vor gewalttätigen Ausschreitungen im Umfeld der Wahlen.Beim Global Peace Index 2020 kam Osttimor auf Platz 54 und erhielt mit dem Wert 1,863 die Einordnung „High State of Peace“. Man steht damit vor Albanien (Platz 55) und Griechenland (Platz 57). Im Demokratieindex 2020 der britischen Zeitschrift The Economist belegt Osttimor Platz 44 von 167 Ländern und gilt damit als eine „unvollständige Demokratie“. Im Länderbericht Freedom in the World 2020 der US-amerikanischen Nichtregierungsorganisation Freedom House wird das politische System des Landes als „frei“ bewertet. In der Rangliste liegt es hinter Indien und vor Ungarn.Transparency International listete Osttimor im Korruptionswahrnehmungsindex 2022 auf Platz 77 mit einem Wert von 42, was eine Verbesserung gegenüber den Vorjahren bedeutet, und der gleichen Platzierung, wie jene von Burkina Faso, Ungarn, Kuwait, Trinidad und Tobago, der Salomonen und Vietnam entspricht. In der Region haben nur Singapur und Australien bessere Werte. Zur Korruptionsbekämpfung nahm 2010 die Anti-Korruptionskommission (CAC) ihre Arbeit auf. 79 % der Einwohner begrüßten in einer Umfrage die Einrichtung der Kommission. Im Laufe der letzten Jahre gab es immer wieder Gerichtsverhandlungen gegen ehemalige Regierungsmitglieder wegen Korruptions- und Misswirtschaftsvorwürfen. 2012 wurde mit Lúcia Lobato erstmals eine ehemalige Ministerin wegen Missmanagements zu fünf Jahren Haft verurteilt, verbüßte aber aufgrund einer Begnadigung nur 18 Monate davon. 2015 wurde der ehemalige Bildungsminister João Câncio Freitas wegen Korruption zu sieben Jahren Haft verurteilt. Daneben wurden bisher zwei Staatssekretäre und vier höhere Beamte wegen Korruption zu Haftstrafen verurteilt. Von Menschenrechtsorganisationen, der Katholischen Kirche und weiten Teilen der Bevölkerung wurde der Umgang der Regierung mit den Verbrechen in der indonesischen Besatzungszeit kritisiert. Die führenden Politiker sprachen sich seit der Wiedererlangung der Unabhängigkeit für Versöhnung und Vergebung aus, sowohl mit dem Nachbarn Indonesien als auch mit den Kollaborateuren innerhalb Osttimors. Die Aufarbeitung der Geschehnisse beschränkte sich auf eine Registrierung der Vorfälle und lokale Friedensvermittlungen unter staatlicher Führung. Anfang 2015 rief die Regierung die Politik des „Ent-trauerns der Nation“ (tetum Dez-lutu Nasional) oder „Ablegen des Schwarzen“ aus. Die Erinnerung an die Vergangenheit solle nun mehr in Gedenken vollzogen werden als wie bisher in Trauer. Kritiker merken an, dass viele Familien mit der Trauer noch nicht abschließen können, da die sterblichen Überreste ihrer Verwandten noch nicht gefunden wurden. Von vielen Opfern der Besatzung fehlt jede Spur, auch vom Volkshelden Nicolau Lobato, dessen 37. Todestag am 31. Dezember 2015 den Abschluss des Dez-lutu Nasional darstellen sollte. === Exekutive === Osttimor ist eine semipräsidentielle Republik.Der Präsident von Osttimor wird alle fünf Jahre gewählt und hat eher symbolische Befugnisse; er besitzt aber ein Vetorecht bei der Gesetzgebung. Ihm steht der Staatsrat beratend zur Seite. Nach den Parlamentswahlen bestimmt der Präsident einen Premierminister, der die Mehrheit einer Partei oder Koalition im Parlament hinter sich hat. Als Kopf der Regierung sitzt der Premierminister dem Kabinett vor. Taur Matan Ruak von der PLP wurde nach den Parlamentswahlen in Osttimor 2018 als Premierminister vereidigt. Er stand zunächst einer Koalition aus der PLP, des größeren Congresso Nacional da Reconstrução Timorense (CNRT) und der kleineren KHUNTO vor, die sich Aliança para Mudança e Progresso (AMP) nannte. Bei den Präsidentschaftswahlen in Osttimor 2022 scheiterte Amtsinhaber Francisco Lú-Olo Guterres von der FRETILIN beim Versuch der Wiederwahl. Stattdessen setzte sich in der zweiten Runde der frühere Präsident José Ramos-Horta durch, den der CNRT unterstützte. Ramos-Horta übernahm um Mitternacht des 20. Mais 2022 wieder das Amt.Entgegen dem Bestreben von Xanana Gusmão, der Führer des CNRT, löste Ramos-Horta das Parlament nicht vorzeitig auf, sondern ließ erst zum regulären Termin am 21. Mai 2023 das Parlament neu wählen. Ramos-Horta versucht zwischen den beiden großen Parteien FRETILIN und CNRT zu vermitteln, die aufgrund persönlicher Differenzen zwischen den Führern im Streit miteinander sind. === Legislative === Das Parlament (Parlamento Nacional) besteht aus nur einer Kammer. Seine Mitglieder werden alle fünf Jahre in freien Wahlen bestimmt. Gesetze und Verordnungen werden im Jornal da República bekannt gegeben. Die Anzahl der Parlamentssitze kann zwischen 52 und 65 variieren. Während der ersten Wahlperiode wurden ausnahmsweise die 88 Sitze der Verfassungsgebenden Versammlung beibehalten. Viele osttimoresische Parteien sind mehr auf ihre Führungspersönlichkeiten als auf ein Programm ausgerichtet, das sie von anderen unterscheidet. Seit den Parlamentswahlen in Osttimor 2007 haben sich zwei dominante Parteien herausgebildet, die linksorientierte FRETILIN, aus der Staatspräsident Francisco Guterres kommt und die von Marí Alkatiri geführt wird, und der von Xanana Gusmão gegründete CNRT. Als Vertreter der jüngeren Generation gelten mittelgroßen Parteien im Parlament: die PLP von Taur Matan Ruak, die KHUNTO, die ihren Ursprung in der Ritual-Arts-Gruppe Kmanek Oan Rai Klaran hat und die PD deren Wurzeln in der Studentenbewegung RENETIL hat. Im Parlament sind außerdem mit je einem Abgeordneten die UDT, die FM und die PUDD vertreten. Sie waren als Parteienbündnis FDD bei den Parlamentswahlen in Osttimor 2018 in das Parlament eingezogen. Bei den Parlamentswahlen am 21. Mai 2023 gewann der oppositionelle CNRT 31 der 65 Sitze im Parlament. Es wird erwartet, dass er mit der PD, die 6 Sitze erhielt, eine Regierung bilden wird. Die FRETILIN, die bisher stärkste Partei im Parlament, stürzte auf 19 Sitze ab. Ihre Partner in der Regierung PLP und KHUNTO gewannen 4, beziehungsweise 5 Sitze. Alle anderen zwölf Parteien, die bei der Wahl antraten, scheiterten an der Vier-Prozent-Hürde. Das neue Parlament trat am 22. Juni das erste Mal zusammen. Danach wird die neue Regierung gebildet. Parlamentspräsidentin ist Maria Fernanda Lay. === Judikative === Das Tribunal de Recurso de Timor-Leste (deutsch Berufungsgericht Osttimors) ist das höchste Gericht Osttimors. Gegen dessen Urteile kann nicht in Berufung gegangen werden. Den Vorsitz führt der Gerichtspräsident, der durch den Präsidenten der Republik für vier Jahre ernannt wird. Das Amt hat seit dem 28. April 2017 Deolindo dos Santos inne.Das Nationalparlament wählt ein Mitglied des Obersten Gerichts, die anderen Mitglieder werden durch den Conselho Superior da Magistratura Judicial (CSMJ, deutsch Oberster Rat des Justizwesen) bestimmt. Generalstaatsanwalt ist seit dem 29. April 2021 Alfonso Lopez. Distriktsgerichte gibt es in Dili (2017 mit 16 Richtern), Baucau (sieben Richter), Oe-Cusse Ambeno (ein Richter) und Suai (sieben Richter). Ebenso Sitze der Defensoria Pública. Bis Ende 2014 arbeiteten viele Ausländer, vor allem Portugiesen, in der Justiz Osttimors, sowohl als Berater des Generalstaatsanwalts und der Antikorruptionsbehörde als auch als Richter. Nachdem Osttimor aber mehrere Gerichtsverfahren um Steuerforderungen gegen Rohstoffkonzerne verloren hatte, wurden alle Ausländer im Justizwesen durch Parlamentsbeschluss am 24. Oktober entlassen. Man warf den Beratern Inkompetenz und möglicherweise Korruption vor. Ausländische Beobachter spekulierten aber, der Staat wolle ihm unliebsame Urteile rückgängig machen. Die Steuerverfahren wurden neu aufgerollt.Die Todesstrafe und die lebenslange Gefängnisstrafe sind in Osttimor abgeschafft. Die zulässige Höchststrafe liegt bei 25 Jahren Gefängnis. Strafgefangene müssen für ihre Ernährung und medizinische Versorgung selbst aufkommen. === Innenpolitik === Nachdem die AMP-Koalition aus CNRT, PLP und KHUNTO am 17. Januar 2020 zerbrach, konnte Premierminister Taur Matan Ruak seine Regierung retten, indem er ein neues Bündnis aus PLP, KHUNTO und FRETILIN bildete. Der CNRT sah sich nun in der Opposition wieder. Im Parlament kam es zu heftigen Konflikten, die darin gipfelten, dass die Abgeordneten des CNRT durch Abwesenheit die Stimmfähigkeit des Parlaments zu verhindern.Zu den Parlamentswahlen am 21. Mai 2023 vereinbarten FRETILIN, PLP und KHUNTO vorab eine Weiterführung der Koalition im Falle eines Wahlsieges. Allerdings verlor das Bündnis die Wahl deutlich. Für die FRETILIN war es das bisher schlechteste Ergebnis, was zu parteiinterner Kritik an der Parteiführung führte, die noch aus der Unabhängigkeistbewegung von 1975 stammt. Im Nationalparlament versuchten die drei alten Regierungsparteien noch nach der Wahl Gesetze durchzubringen. Die erste Sitzung des neuen Parlaments versuchte man auf September verschieben, was zu heftiger Kritik von Präsident Ramos-Horta führte, der verfassungsgemäß die Amtseinführung spätestens am 12. Juni forderte. Schließlich einigten sich die Fraktionsvorsitzenden, gemäß der Geschäftsordnung des Parlaments die Amtseinführung auf den 21. Juni zu legen.Es wird erwartet, dass der CNRT und die PD eine Koalition unter Xanana Gusmão als Premierminister bilden wird. Präsident Ramos-Horta hatte vor der Wahl angekündigt, keine Parteien in der Regierung zu akzeptieren, die sich auf Kampfsportgruppen stützen, was im Parlament nur auf die KHUNTO zutrifft und sie damit aus möglichen Regierungen ausschließt. === Außenpolitik === Osttimors Außenpolitik folgt dem Prinzip „Viele Freundschaften schließen und Null Feinde“ (tetum Amigos Barak no Zero Inimigos). Mit der ehemaligen Besatzungsmacht Indonesien hat es sich ausgesöhnt, ebenso mit der Kolonialmacht Portugal. Über die Gemeinschaft der Portugiesischsprachigen Länder (CPLP) hält Osttimor auch enge Kontakte mit Brasilien, Macau und den afrikanischen Mitgliedern. Portugal dient auch, zusammen mit Irland, als Tor zur Europäischen Union. Der katholische Glauben dient als verbindendes Element mit den Philippinen. Sie und Indonesien gehören zu den stärksten Befürwortern des von Osttimor angestrebten Beitritts zu den ASEAN. Die melanesische Kultur einiger Ethnien Osttimors bildet die Grundlage der guten Beziehungen zu Papua-Neuguinea und den Südseestaaten. So ist Osttimor ein assoziiertes Mitglied im Pacific Islands Forum und seit 2010 hat es Beobachterstatus bei der Melanesian Spearhead Group. 2016 trat Osttimor dem Pacific Islands Development Forum bei.In Australien gibt es viel Sympathie, da Osttimoresen bei der Schlacht um Timor auf Seiten der Alliierten kämpften und so eine japanische Invasion Australiens verhinderten. Trotzdem gab es jahrelang Streit über die Grenzziehung in der Timorsee und der Ausbeutung der dortigen Bodenschätze, was zu Spannungen und Verstimmungen führte. Vor allem nachdem bekannt wurde, dass australische Agenten während der Verhandlungen das osttimoresische Kabinett abgehört hatten. Schließlich konnte sich Osttimor vor Gericht gegen Australien durchsetzen. Große Unterstützung erhält Osttimor von Kuba und der Volksrepublik China, während die Vereinigten Staaten ebenfalls enge Beziehungen zu dem südostasiatischen Land pflegen. Weitere Partner sind Neuseeland, das Vereinigte Königreich, Südkorea und Japan. Aufgrund seiner langen Geschichte der Fremdherrschaft hat Osttimor besondere Beziehungen zur Westsahara geknüpft und unterstützt sowohl den Kosovo, als auch die Palästinensischen Autonomiegebiete. Als ehemals fragiler Staat engagiert sich Osttimor in einer Führungsposition bei den g7+-Staaten. Deutschland, Österreich und die Schweiz haben keine Botschaften in Osttimor. Zuständig sind die Botschaften der Länder in Jakarta/Indonesien. In dringenden Fällen können sich EU-Bürger an die Botschaft Portugals oder der Vertretung der Europäischen Union im Casa Europa in Dili wenden. Außerdem haben folgende Länder Botschaften in Dili: Australien, Brasilien, Brunei, Volksrepublik China, Indonesien, Japan, Kuba, Malaysia, Neuseeland, Philippinen, Südkorea, Thailand, Großbritannien und die USA. Seit 2010 gibt es auch eine Botschaft der Demokratischen Arabischen Republik Sahara in Dili. Man sieht Parallelen in der Geschichte als besetzte Staaten und nahm daher diplomatische Beziehungen auf.Irland hatte bis Oktober 2012 ein Repräsentantenbüro, das von der Botschaft in Singapur verwaltet wurde. Mexiko hat in Dili ein Honorarkonsulat. Die für Mitteleuropa zuständige Botschaft Osttimors befindet sich in Brüssel. Sie ist auch die offizielle Vertretung Osttimors bei der Europäischen Union. Der Brüsseler Botschaft ist zudem die ständige Vertretung Osttimors bei den Vereinten Nationen in Genf untergeordnet. Darüber hinaus unterhält Osttimor Botschaften in Bangkok, Canberra, Hanoi, Havanna, Jakarta, Kuala Lumpur, Lissabon, Manila, Maputo, Peking, Phnom Penh, Pretoria, Seoul, Singapur, Tokio, beim Vatikan, in Washington, D. C. und Wellington sowie eine Mission bei den Vereinten Nationen in New York. Eine weitere Botschaft ist wegen des geplanten Beitritts zu den ASEAN in Myanmars Hauptstadt Naypyidaw geplant und auch in Angola entstand eine Vertretung, während der afrikanische Staat in Dili eine Botschaft eröffnen will. In Denpasar, Kupang und Sydney befinden sich Generalkonsulate. Ein weiteres ist seit 2009 im indonesischen Surabaya geplant, da 2000 Osttimoresen in Universitäten der Provinz studieren. Außerdem werden hier mehrere Staatsbürger in Krankenhäusern behandelt. Mit der Provinzregierung soll eine Ausbildungs- und gesundheitspolitische Kooperation aufgebaut werden. In Berlin vertritt der Honorarkonsul Peter Badge Osttimor. Weitere Honorarkonsulate gibt es in Ankara, Beirut, Cebu, Dublin, Évora, Genf, Istanbul, Manila, Melbourne, Port Moresby und auf Tasmanien. == Sicherheitskräfte == === Militär === Die Verteidigungskräfte Osttimors (portugiesisch Forças de Defesa de Timor Leste, tetum Forcas Defensa Timor Lorosae) oder FALINTIL-FDTL (F-FDTL) bestehen aus Landstreitkräften und einer kleinen Marine. Oberbefehlshaber ist seit 2022 der Generalstabschef Generalleutnant Falur Rate Laek, sein Stellvertreter ist Calisto Coliati dos Santos. Minister für Verteidigung ist seit 2018 Filomeno Paixão. 2008 betrug der Anteil der Verteidigung im Staatshaushalt 4,39 % Die Planstärke der Streitkräfte sieht 1500 Aktive und weitere 1500 Angehörige vor. Ihr Grundstock wurde am 1. Februar 2001 aus Kämpfern der ehemaligen Guerillaarmee FALINTIL rekrutiert. Es blieben aber nur wenige aufgrund der geringen Altersversorgung. Nach den Unruhen von 2006 und den damit verbundenen Desertionen hat die Armee seit August 2008 wieder ihre alte Stärke. Das Heer besteht aus zwei Infanteriebataillonen. Die Marine hatte zunächst die Patrouillenboote NRTL Oecusse und NRTL Atauro übernommen. Diese wurden 2010 durch die in der Volksrepublik China neu gebauten NRTL Jaco und NRTL Betano ersetzt. Drei weitere Patrouillenboote wurden im September 2011 von Südkorea übernommen. Sie erhielten die Namen NRTL Kamenassa, NRTL Díli und NRTL Hera. Zwei der Boote wurden 2012 an die Nationalpolizei weitergegeben. Allein durch illegale Fischer entsteht Osttimor jährlich ein Schaden von 45 Millionen US-Dollar. Schmuggel kostet den Staat jährlich weitere 8 Millionen US-Dollar an Steuereinnahmen.2007 wurde die Wehrpflicht offiziell eingeführt, aber nicht angewendet. Man befürchtete, die kleine Armee könnte die große Anzahl von Rekruten nicht aufnehmen. Außerdem erschien es keine gute Idee, Mitglieder von Straßenbanden an Schnellfeuerwaffen und Handgranaten auszubilden. Taur Matan Ruak, damals Staatspräsident und ehemaliger Chef der Streitkräfte, propagierte die Anwendung als Mittel gegen die Jugendarbeitslosigkeit und zur Vertiefung des Nationalgefühls. 2020 beschloss die Regierung, nun geführt von Taur Matan Ruak als Premierminister, die Einführung einer Wehrpflicht.Im Mai 2008 unterschrieb Osttimor mit den sieben anderen Staaten der CPLP eine Vereinbarung über ein Militärbündnis. Unter anderem sollen osttimoresische Soldaten in Brasilien und Portugal ausgebildet werden. Auch mit China, Polen, Kanada, Indien und Japan gibt es Pläne zur militärischen Zusammenarbeit bei der Ausbildung der osttimoresischen Soldaten. Am 26. September 2018 unterzeichnete Osttimor den Atomwaffenverbotsvertrag der Vereinten Nationen. === Polizei und Kriminalität === Chef der Nationalpolizei Osttimors (PNTL) ist seit 2019 Faustino da Costa. Seit dem 31. Oktober 2012 hat die PNTL von den Kräften der Vereinten Nationen die alleinige Verantwortung für die innere Sicherheit in Osttimor übernommen. In der Exklave Oe-Cusse Ambeno gab es in den ersten Jahren der Unabhängigkeit keine Militäreinheiten. Hier übernahm die Grenzpolizei (portugiesisch Unidade de Patrulhamento de Fronteira UPF) die Aufgaben der F-FDTL. Ende 2018 bestand die Polizei aus 4165 Beamten.Neben der PNTL gibt es die Polícia Científica de Investigação Criminal (PCIC, deutsch Wissenschaftliche Polizei für kriminalpolizeiliche Ermittlungen), die vor allem bei schwerwiegenden Verbrechen die Ermittlungen übernimmt. 2021 registrierte die Polizei im gesamten Land 4648 Straftaten. 2180 davon wurden in der Gemeinde Dili begangen. Auf 100.000 Osttimoresen kamen somit 393 Straftaten (2020: 404), der niedrigste Wert seit 2017. Die höchsten Kriminalitätsraten hatten die Gemeinden Dili (786) und Oe-Cusse Ambeno (438), die niedrigsten Manufahi (97) und (168). 2850 Verdächtige (1161 davon zwischen 20 und 29 Jahren alt) wurden von der Polizei ermittelt, 2428 Personen wurden Opfer einer Straftat. In 39,18 % der Straftaten ging es um leichte Körperverletzung (1824), bei 7,1 % um Bedrohungen (320) und bei 8,35 % Misshandlungen in der Ehe (37). Die Zahl der Tötungsdelikte stieg von 26 auf 31 und die der Vergewaltigungen von 15 auf 47. Registrierte Fälle von sexuellem Kindesmissbrauch sank von 14 auf 11 Fälle. Straftaten im Zusammenhang mit illegalem Glücksspiel und Geldwäsche verdreifachten sich in der Zahl (von 187 auf 745). Derzeit gibt es drei Haftanstalten: Die Gefängnisse Becora, Gleno und Suai. 2022 saßen 665 Personen im Gefängnis, 89 davon in Untersuchungshaft und 87 in Sicherheitsverwahrung. 15 Gefangene waren Frauen, 11 Ausländer und 19 galten als psychisch krank. === Nachrichtendienste === Osttimor hat drei Nachrichtendienste: den Serviço Nacional de Inteligência (SNI), den Serviço de Informações de Polícia (SIP) und den Sistema de Informações Militares (SIM). Die Nachrichtendienste unterstützen ihrem Auftrag nach den Staat in seinen Aktivitäten im Bereich der staatlichen Sicherheit durch Erhebung, Verarbeitung und Weitergabe von Informationen, die für den Erhalt der Unabhängigkeit und der nationalen Souveränität notwendig sind. === Feuerwehr und Zivilschutz === Die Feuerwehr in Osttimor bestand im Jahr 2012 aus elf Feuerwehreinheiten in den 14 Gemeinden Osttimors. Sie wurde am 23. April 2000 gegründet und ist dem Zivilschutz (Serviços de Proteção Civil Timor-Leste SEPC) unterstellt, der Exekutive für den Katastrophenschutz. == Verwaltungsgliederung == 2004 wurden die Verwaltungsgrenzen überarbeitet. 2009/2015 erfolgte eine Umbenennung der bisherigen Distrikte (portugiesisch Distrito) in Gemeinden (portugiesisch Município) und der Subdistrikte (portugiesisch Subdistrito) in Verwaltungsämter (portugiesisch Posto Administrativo). Seit dem 1. Januar 2022 ist die Insel Atauro eine eigene Gemeinde.Osttimor teilt sich in 13 Gemeinden und die Sonderverwaltungsregion (portugiesisch Região Administrativa Especial) Oe-Cusse Ambeno, die eine Sonderrolle einnimmt. In Artikel 71 der Verfassung Osttimors wird Oe-Cusse Ambeno diese in Verwaltung und Wirtschaftspolitik garantiert. Am 18. Juni 2014 wurde mit dem Gesetz 03/2014 die Autoridade da Região Administrativa Especial de Oecusse (ARAEO) geschaffen.Die Gemeinden sind in insgesamt 67 Verwaltungsämter, 452 Sucos und in 2.231 Aldeias unterteilt. Die Insel Jaco ist Teil des Sucos Tutuala in der Gemeinde Lautém. == Transport und Verkehr == 2008 waren 4053 Motorräder (2004: 3512), 1159 PKW (2079), 241 Klein-LKW (614) und 216 Schwer-LKW (385) gemeldet. Wer, wie die meisten Timoresen, nicht über ein allradbetriebenes Fahrzeug verfügt, ist bei Reisen über Land auf öffentliche Verkehrsmittel angewiesen, die es in drei Formen gibt. Der Biskota ist ein größerer Bus. Solche Busse verbinden die bedeutenderen Ortschaften, wie Lospalos oder Baucau, mit Dili und fahren auf den größtenteils asphaltierten Hauptrouten. Sie verkehren aber nicht nach einem festen Fahrplan, sondern fahren erst dann ab, wenn sich genug Passagiere eingefunden haben. Um zu kleineren Orten zu gelangen, muss man auf Minibusse, sogenannte Mikroléts, umsteigen. Die dritte Variante sind Lastwagen, die auf der Ladefläche mit Sitzbänken ausgestattet sind. Alle drei sind durchweg mit Menschen und Handelsware überfüllt. Gerade in den bergigen Regionen sind die einheimischen Timor-Ponys noch ein alltägliches Transportmittel. Eisenbahnen gibt es in Osttimor nicht. In Osttimor herrscht Linksverkehr. Die Straßenverhältnisse erleichtern das Reisen nicht. 70 % der 5320 Kilometer Straße sind reparaturbedürftig. In der Regenzeit sind viele der Wege nur noch Schlammpisten und nicht mehr befahrbar. Es gibt 1426 km Nationalstraßen, 869 km Gemeindestraßen und 3025 km örtliche Straßen. Hauptverkehrswege sind die beiden Küstenstraßen an der Nord- und Südküste des Landes, die durch fünf Überlandstraßen in Nord-Süd-Richtung miteinander verbunden sind. Daneben gibt es noch zwei Querverbindungen im Landesinneren. Der erste Abschnitt der Autobahn Suai–Beaco, von Suai bis Fatukaho (Fatukahu), wurde 2018 eröffnet und ist die erste Autobahn Osttimors überhaupt. Seit 2015 sinkt die Zahl der Verkehrsunfälle in Osttimor. 2021 zählte man 1446 Unfälle, bei denen fast 60 Menschen ums Leben kamen, 322 schwer und 1562 leicht verletzt wurden. Die meisten Opfer gab es bei Motorradunfällen. Mehr als die Hälfte der Unfälle ereigneten sich in Dili.Dilis Flughafen Presidente Nicolau Lobato liegt westlich des Stadtzentrums im Suco Madohi und wird als einziger international von Passagiermaschinen angeflogen. Es bestehen Verbindungen nach Australien und Indonesien. Reguläre, zivile Flugverbindungen zu anderen Flughäfen Osttimors sind im internationalen Buchungssystem der Fluggesellschaften zurzeit nicht vermerkt. Zum Flughafen Oecusse gibt es eine Flugverbindung mit einer Zwei-Propeller-Maschine der lokalen Behörde. Auch der Flughafen Suai wurde inzwischen ausgebaut. Der Flughafen Baucau ist der einzige Flughafen Osttimors, auf dem größere Maschinen als die Boeing 737 landen können. Er wird in erster Linie für militärische und Versorgungsflüge genutzt. Neben der Regierungsmaschine nach Oecusse biete noch die Aero Dili Inlandsflüge an, derzeit von Dili nach Suai und Oecusse. Die Auslandsverbindungen sind wegen der COVID-19-Pandemie sehr stark reduziert. Aero Dili, Air Timor und das Unternehmen FlyTimor organisieren Charterflüge mit malaysischen Gesellschaften nach Kuala Lumpur und mit indonesischen Gesellschaften nach Jakarta und Surabaya. Sporadisch gibt es einen Langstreckenflug nach Lissabon. Airnorth und Qantas bieten einmal die Woche einen Hin- und Rückflug von Darwin nach Dili an. Die bisherigen Verbindungen nach Singapur und Denpasar (Bali) sind zum erliegen gekommen. Wichtigster Hafen des Landes war bis 2022 der Hafen in Dilis Stadtteil Motael. Am 30. November 2022 wurde in der Bucht von Tibar der neue Frachthafen von Dili eröffnet. Fähren, Kreuzfahrtschiffe und Yachten ankern weiter in oder vor Motael. In Beaco, an der Südküste, soll ein Flüssigerdgasterminal für 943 Millionen US-Dollar von einer chinesischen Firma innerhalb von vier Jahren gebaut werden, sobald die Finanzierung geklärt ist. Eine Fährgesellschaft hat, mit finanzieller Unterstützung aus Deutschland, eine Verbindung nach Pante Macassar in der Exklave Oe-Cusse Ambeno hergestellt, zunächst mit der MV Uma Kalada, die im Februar 2007 durch die Berlin Nakroma ersetzt wurde. Auch dieses Schiff ist ein Geschenk Deutschlands an Osttimor. Sie fährt dienstags und donnerstags von Dili in 12 bis 13 Stunden nach Pante Macassar und am selben Tag zurück. Samstags wird von der Berlin Nakroma die Insel Atauro in zweieinhalb Stunden Fahrt angelaufen. Zusätzlich verbinden kleine Boote Atauro mit Dili. Seit 2021 ist das Nachfolgeschiff der Berlin Ramelau in Osttimor: Die Berlin-Ramelau. Auch sie ist von Deutschland mitfinanziert. Sie soll in Zukunft auch in den Osten und Süden des Osttimors fahren. == Wirtschaft == === Situation === Bis Ende 1999 wurden ungefähr 70 % der ökonomischen Infrastruktur durch pro-indonesische Milizen und Militärs verwüstet. Neben diesen Folgen der Besatzung sind weitere Probleme ein eklatanter Fachkräftemangel und das hohe Lohnniveau aufgrund der früheren internationalen Präsenz und der Einführung des US-Dollars als Währung. Diese Faktoren verringern die Konkurrenzfähigkeit Osttimors gegenüber seinen Nachbarländern. Das Bruttoinlandsprodukt (BIP) fiel durch die Krise 1999 um 30 %. Während der folgenden drei Jahre wurde das Gebiet mit einem massiven internationalen Hilfsprogramm unter Führung der UN wieder aufgebaut. Das Programm umfasste zivile Beobachter, eine 5000 Mann starke Friedenstruppe und 1300 Polizisten. Das Bruttoinlandsprodukt stieg daher, getragen von der Nachfrage an Dienstleistungen und vom Bausektor, kräftig an (15,4 bzw. 18,3 %) und das Vorkrisenniveau wurde wieder erreicht. Nach der Entlassung in die Unabhängigkeit stagnierte das Bruttoinlandsprodukt die ersten Jahre. 2005 war ein Wachstum von 2,9 % zu verzeichnen. Der Abzug des Großteils des UN-Personals schadete der Wirtschaft. Die Unruhen 2006 brachten einen Einbruch. Trotz der Weltfinanzkrise konnte Osttimor 2008 dann ein Wirtschaftswachstum im Nicht-Erdöl-Bereich von 12,8 % erreichen. In einer Umfrage gaben im November/Dezember 2008 29 % der Befragten an, dass sich seit dem Regierungswechsel 2007 ihre finanzielle Situation gebessert habe. Besonders in Oe-Cusse Ambeno (58 %), Manufahi (49 %) und Lautém (42 %) sahen die Einwohner eine positive Entwicklung, während in Ainaro (16 %) und Baucau (16 %) deutlich weniger Personen eine persönliche Verbesserung sehen. Bei insgesamt 47 % ist sie unverändert, bei 20 % hat sie sich verschlechtert. 2012 wuchs die Wirtschaft um 10,9 %, womit Osttimor das viertstärkste Wirtschaftswachstum in Asien verzeichnen konnte. Der Trend ging auch 2013 so weiter. 2021 erreichte man eine Wirtschaftskraft, um offiziell die Liste der am wenigsten entwickelten Länder (Least Developed Countries LDC) verlassen zu können. Die Regierung entschied sich aber gegen eine Heraufstufung in die Gruppe der Entwicklungsländer, um weiter von den Vorteilen durch zusätzliche Hilfen profitieren zu können. Der Internationale Währungsfonds schätzte ein Pro-Kopf-BIP bei Kaufkraftparität für 2019 auf 3.245 US-Dollar. Die Zahl spiegelt aber nicht die Einkommenssituation des einzelnen Osttimoresen wider, da die Gewinne aus den Erdöleinnahmen nicht direkt an die Bevölkerung gehen, sondern in einen staatlichen Fonds wandern, aus dem zum Teil der Staatshaushalt finanziert wird. 2011 lag das durchschnittliche monatliche Pro-Kopf-Einkommen bei 62,12 US-Dollar. Auf dem Land waren es nur 50,08 US-Dollar. Osttimor ist damit, laut den Vereinten Nationen, heute vor Afghanistan das zweitärmste Land Asiens. Die Arbeitslosigkeit betrug 2021 etwa 5,9 %, die Jungendarbeitslosigkeit lag bei 13,8 %. Grund der in den letzten Jahren steigenden Rate ist das mangelnde Jobangebot im eigenen Land (Stand 2016). Es fehlt vor allem an Industrie im Land. Ausnahme sind bisher nur eine Anlage von Heineken und Timor Cement Industries. Die Regierung versucht deswegen mit anderen Ländern Gastarbeitsvereinbarungen zu treffen, so mit Australien, Südkorea, China, Japan und Malaysia. 16.000 Osttimoresen leben in Großbritannien. 37,5 % der Bevölkerung leben unterhalb der Armutsgrenze, die die Vereinten Nationen auf 1,25 US-Dollar pro Tag festgelegt haben. Im Index der menschlichen Entwicklung (HDI) lag Osttimor 2008 auf Platz 158 (2007: 150). 2009 fiel Osttimor auf Platz 162 zurück, konnte aber seinen Wert von 0,483 auf 0,489 leicht steigern. Bis 2021 erreichte Osttimor Rang 140 mit 0,607. Nach der Volkszählung von 2004 arbeiten 78 % in Land- und Forstwirtschaft und in der Fischerei. 6 % arbeiten in der Öffentlichen Verwaltung, Bildung, Gesundheits- und Sozialdienst, Gemeinden und Verteidigung, jeweils 4 % für die UN oder den diplomatischen Dienst, beziehungsweise für Handel, Hotels und Gaststätten. 3 % arbeiten in der Heimarbeit. 2 % arbeiten im Bereich Finanzen, Transport, Lagerung und Kommunikation, nur 1 % im Bereich Bergbau, Ölgewinnung, Elektrizität und im Bau. Mit Macau und Australien gibt es Vereinbarungen über die Entsendung von Gastarbeitern in diese Länder. Am 27. Oktober 2009 trafen die ersten osttimoresischen Gastarbeiter in Südkorea ein. 2012 wurde der nationale monatliche Mindestlohn in Osttimor von der Regierung auf 115 US-Dollar festgesetzt. Dies gilt sowohl für den privaten wie für den öffentlichen Sektor. Das durchschnittliche Einkommen wuchs von 367 US-Dollar im Jahre 2005 auf 3005 US-Dollar im Jahr 2011. Zwar öffnet sich die Schere zwischen Arm und Reich und Stadt und Land immer weiter, doch ist erkennbar, dass insgesamt immer mehr Einwohner über Geld verfügen. Für die Südküste plant die Regierung Osttimors ein umfassendes Infrastrukturprojekt namens Tasi Mane project. Die Weiterverarbeitung des Erdgases aus dem Greater-Sunrise-Feld in der Timorsee soll nach deren Willen dort erfolgen. Geplant sind weiter petrochemische Anlagen, eine LNG-Anlage, ein Flughafen und ein Tiefseehafen. Die bisher mit der Förderung des Erdgases beauftragte Firma Woodside Petroleum zog aber eine Weiterverarbeitung in Australien oder Offshore vor, weswegen die Regierung die Förderungslizenz stoppte. Außerdem gab es Unregelmäßigkeiten bei der Abrechnung der Gewinne und den Steuerzahlungen der Erdölfirmen aus dem kleineren Gasfeld Bayu Undan, unter anderem durch ConocoPhillips. Der Streit mit Australien um die Aufteilung der Gewinne, die Ausbeutung des Greater Sunrise field und die Grenzziehung in der Timorsee wurde mit der Unterzeichnung eines neuen Grenzvertrages 2018 beendet (siehe Grenzstreitigkeiten zwischen Australien und Osttimor). 2018 kaufte die Regierung Osttimors den 30-Prozent-Anteil von ConocoPhillips am Erdgasfeld Greater Sunrise für 350 Millionen US-Dollar auf. Ende November übernahm Osttimor auch die Anteile über 26,56 Prozent von Royal Dutch Shell für 300 Millionen US-Dollar, womit der staatlich Anteil nun bei 56,56 Prozent liegt.Bis 2028 rechnet man damit, dass das Gasfeld Bayu Undan, das den Großteil von Osttimors Gewinnen generiert, komplett ausgebeutet sein wird. === Telekommunikation === Das GSM-Netz wurde von der Timor Telecom aufgebaut, die zu 50,1 % der Portugal Telecom gehört. Weitere Anteilseigner sind der osttimoresische Staat und Vodatel. Mit der chinesischen ZTE wurde von der Timor Telecom 2009 ein Vertrag geschlossen, um das Mobilfunksystem weiter auszubauen und Wideband CDMA zu etablieren. Das Monopol der Timor Telecom wurde 2010 von der Regierung aufgehoben, um den freien Wettbewerb zu ermöglichen. Am 28. Juni 2012 wurde bekanntgegeben, dass PT Telekomunikasi Indonesia International (Telin) mit ihrer osttimoresischen Tochter Telkomcel und Digicel Pacific Limited (Digicel) Lizenzen erhalten. 2017 startete Telemor, eine Tochterfirma der vietnamesischen Viettel das erste 4G-Netz in Osttimor.Im Jahr 2020 nutzten 29,1 Prozent der Einwohner Osttimors das Internet. Das Internet wird in Osttimor vor allem mobil genutzt. Die Anzahl von Mobiltelefonen nahm nach 2006 deutlich zu. Hatten 2006 erst zehn Prozent der Bevölkerung ein Mobiltelefon, stieg der Anteil 2012, mit 600.000 Handys, bereits auf mehr als die Hälfte der Einwohner und 2014 lag der Anteil der Handybesitzer bei 63 % der Bevölkerung. Festnetzanschlüsse gab es 2008 nur 2641 (2004: 2115). Bei der Geschwindigkeit der Internetverbindung liegt Osttimor 2020 im weltweiten Vergleich auf dem sechstletzten Platz. Die durchschnittliche Downloadgeschwindigkeit beträgt 0,89 Megabit pro Sekunde. Der Download einer fünf-Gigabyte-Datei dauert fast 13 Stunden. In Portugal dauert es nur 18 Minuten, im Spitzenreiterland Liechtenstein nur drei Minuten. === Energie- und Wasserversorgung === 66 % der Haushalte haben laut Statistik Zugang zu sauberen Trinkwasserquellen, wobei nur 21 % das Wasser am oder im Haus haben. Die Bewohner der anderen Haushalte müssen das Trinkwasser aus öffentlichen Leitungen, Brunnen, Quellen oder Gewässern holen. Allerdings führt die unzureichende Abdichtung von Sanitäranlagen zu Kontaminationen des Grundwassers, weswegen Salvador Eugénio Soares dos Reis Pires, Minister für öffentliche Bauvorhaben, 2018 davon ausging, dass etwa 73 % der Osttimoresen ihr Wasser von kontaminierten Quellen bekommen.90 % der Haushalte benutzen Holz zum Kochen, was zu einem Rückgang der Wälder führt. Fast die Hälfte verwendet Petroleum, um Licht zu erzeugen, 37 % Strom. Meistens werden Dieselgeneratoren zur Stromproduktion verwendet, weswegen in kleineren Orten, wenn überhaupt, Elektrizität zumeist nur für wenige Stunden am Abend verfügbar ist. Der Stromversorger in Osttimor ist Electricidade de Timor-Leste (EDTL). Ihm gehören die größeren Kraftwerke des Landes. Seit 2008 arbeitet das von Norwegen gebaute erste Wasserkraftwerk bei Gariuai (Gemeinde Baucau). Daneben gibt es Projekte mit Biogaskraftwerken, die von Dorfkooperativen betrieben werden, so in Loi-Huno (Viqueque) und Ponilala (Ermera).2011 kamen aus Finnland sieben Generatoren für ein Ölkraftwerk in Hera an. Sie produzieren 11* MW für das nahegelegene. Die finnische Wärtsilä betreibt das Kraftwerk seit 2012. In Betano wurde mit dem Central Eléctrica de Betano ein Kraftwerk mit 136 MW zur Versorgung der Südküste gebaut und am 20. August 2013 offiziell eingeweiht. Neun Substationen wurden errichtet. Von den geplanten 600 km Hochspannungsleitungen und 120 km Verteilungskabel waren im August 2013 90 % errichtet. Damit bestand eine zentrale Stromversorgung in 47 Verwaltungsämtern in den zwölf Gemeinden. In der Sonderverwaltungsregion, der Exklave Oe-Cusse Ambeno ist seit 2015 das Inur-Sacato-Kraftwerk im Betrieb. Auch dieses wurde von Wärtsilä gebaut. Die Insel Atauro soll mittels eines Unterwasserkabels mit Strom versorgt werden. === Außenhandel === Der Gesamtwert der Importe nach Osttimor hatte 2018 eine Höhe von 519.437.000 US-Dollar (2016: 507.664.000 US-Dollar). 31 % der Importe 2018 in Osttimor stammen aus Indonesien, jeweils 15 % aus Hongkong und Singapur, 13 % aus der Volksrepublik China, 5 % aus Vietnam, 3 % aus Thailand und je 2 % aus Brasilien, Malaysia, Australien, Pakistan und Japan und 1 % aus den Vereinigten Staaten. Die restlichen 7 % kommen aus 23 anderen Ländern. Darunter finden sich auch Österreich mit einem Warenwert von 1.809.000 US-Dollar, Deutschland mit 437.000 US-Dollar und die Schweiz mit 417.000 US-Dollar.2018 machten Erdöl und Treibstoffe 27,3 % der Importe aus. 10,8 % waren Fahrzeuge und Fahrzeugteile. Größere Anteile am Import stellen Elektrogeräte, Maschinen und Getreide (Reis), außerdem weitere Lebensmittel und Medikamente.2016 exportierte Osttimor Waren im Wert von 22.926.000 US-Dollar (2016: 25.275.000 US-Dollar). Die Handelsbilanz von 2008 wies nur Kaffee als Exportgut Osttimors aus. Erdöl und Erdgas fielen unter eine andere Statistik. 2016 hatte Kaffee mit 23.962.947 US-Dollar nur noch einen Anteil am Exportwert von 94,8 %. 2018 macht Kaffee an den Nicht-Erdölexporten nur noch 19.243.641 US-Dollar (84 %) aus. 241.000 US-Dollar kamen zum Beispiel aus dem Export von Lichtnüssen und 43.000 US-Dollar von Aluminium. Bis 2013 gehörte auch Teak und bis 2012 Sandelholz zu den Exportgütern. Die Vereinigten Staaten und Deutschland wechselten sich in den Jahren seit der Unabhängigkeit Osttimors als Hauptabnehmer osttimoresischen Kaffees immer wieder ab. 2018 fiel Deutschland mit 10 % auf Platz 3 zurück, knapp gefolgt von Indonesien. Die USA waren erneut die Hauptabnehmer osttimoresischen Kaffees mit einem Anteil am Warenwert von 28 %. Kanada folgte mit 17 %. Insgesamt exportierte Osttimor 7.656.620 kg Kaffee. 36 % der Menge gingen nach Indonesien, 19 % in die USA, je 12 % nach Deutschland und nach Kanada. Weitere Großabnehmer (über 500.000 US-Dollar) sind Japan, Portugal und Australien. === Wirtschaftspolitik === Osttimor ist Mitglied des Internationalen Währungsfonds, der Weltbank sowie der Asiatischen Entwicklungsbank (ADB). Die Lage des Staatshaushalts ist stark abhängig von den Einnahmen im Öl- und Gassektor und der wechselnden Höhe des Ölpreises. Eine Staatsverschuldung existiert nicht, da die internationalen Hilfeleistungen bisher als Zuschüsse (grants) gewährt wurden. Der Staatshaushalt für 2008 hatte ursprünglich eine Höhe von 348,1 Millionen US-Dollar. Aufgrund der rapide steigenden Preise für das Grundnahrungsmittel Reis auf dem Weltmarkt und der Schwäche des US-Dollars entschloss sich die Regierung Ende Juli 2008 das Budget auf 612 Millionen US-Dollar zu erhöhen. Dafür wurden erstmals die nationalen Reserven aus den Erdölgeschäften angetastet. Im November 2008 wurden die Pläne der Regierung aber vom Obersten Gericht des Landes als verfassungswidrig erklärt. Für 2009 hatte das Parlament einen Staatshaushalt von 1,05 Milliarden US-Dollar verabschiedet. Für 2016 wurde der Haushalt auf 1,56 Milliarden US-Dollar festgelegt.Ziel der Wirtschaftspolitik sind stabile Staatsfinanzen und die Förderung des Privatsektors. Eine Aufsichtsbehörde für das Banken- und Zahlungssystem (Banking and Payments Authority) wurde bereits gegründet, ebenso das Nationale Statistische Amt. Die Politik wird geprägt von einer moderaten Ausgabenpolitik, der Begrenzung der Zahl der im öffentlichen Dienst Beschäftigten und den Bemühungen um eine Verbreiterung der steuerlichen Basis. Seit 2011 gibt es die Zentralbank von Osttimor. Bankfilialen finden sich in Dili, Baucau, Viqueque, Gleno, Maliana und Suai.Zurzeit wird ein Industriepark gebaut, um ausländische Investoren anzuziehen. Investitionshemmnisse müssen aber noch abgebaut werden, um die Privatwirtschaft in Gang zu bringen. Mit Programmen zur Erleichterung des Zugangs zu Krediten für die klein- und mittelständische Industrie sollen weitere Anreize geschaffen werden. Die Regierung hat ein Investitionsgesetz verabschiedet, das Anlegern Rechtssicherheit garantiert. Hiermit soll die Attraktivität Osttimors für Investoren gesteigert werden. Vier Banken sind in Osttimor mit Filialen vertreten: die portugiesische Banco Nacional Ultramarino (BNU), die Australia and New Zealand Banking Group (ANZ), die indonesische Bank Mandiri und die osttimoresische Banco Nacional de Comércio de Timor-Leste (BNCTL). === Währung === Landeswährung ist seit Januar 2000 der US-Dollar. Daneben sind seit 2003 eigene Centavo-Münzen im Gebrauch. Ein Centavo entspricht dabei einem US-Cent. Die Münzen gibt es in Werten von 1, 5, 10, 25 und 50 Centavos. Dazu wurde 2012 die erste Sondermünze des Landes im Wert von 100 Centavos ausgegeben. Landeseigene Banknoten gibt es nicht. Die Einführung des US-Dollars war eine politische Entscheidung. Als Alternativen standen die Einführung einer eigenen Währung oder später die des Euros zur Auswahl. Eine eigene Währung schien aufgrund der Landesgröße als sinnlos. Der Euro wurde erst wenige Monate vor der Unabhängigkeit Osttimors 2002 als Bargeld eingeführt. Der Wechselkurs zum US-Dollar war zu diesem Zeitpunkt sehr gering, die Zukunft schien noch unsicher. Der US-Dollar wurde schon zuvor von Privatleuten als sichere Währung verwendet. Außerdem hat er auch für die Volkswirtschaften der Nachbarstaaten große Bedeutung, ebenso für den Erdölhandel, auf den Osttimor große Hoffnungen setzte. Daher wurde trotz der engen Beziehungen zu Portugal der US-Dollar als offizielles Zahlungsmittel eingeführt. Durch die Dollarisierung verzichtete Osttimor zunächst auf eine eigenständige Geldpolitik. Die Seigniorage-Einnahmen beschränken sich auf die Ausgabe der Centavo-Münzen. 2011 wurde die Bank Payment Authority (BPA) in die Nationale Zentralbank Osttimors (BCTL) umgewandelt. Präsident der Zentralbank wurde der ehemalige BPA-Chef Abráo Vasconcelhos (Stand 2011). === Bodenschätze === Erdöl ist das wichtigste Wirtschaftsgut Osttimors. 2010 machte der Erdölsektor 79 % des Bruttoinlandsprodukts, 67 % des Bruttonationaleinkommens und 58 % des verfügbaren Bruttonationaleinkommen aus. Erdölvorkommen an Land waren schon früh bekannt. Bereits 1884 versorgte man die Lampen Dilis mit Öl aus Laclubar. 2012 wurden in Osttimor 3,965 Mio. t Rohöl produziert, damit nahm Osttimor die 47. Stelle der erdölproduzierenden Länder ein. 2016 wurden 2,843 Mio. t Rohöl exportiert. 2021 wurde erstmals seit der Kolonialzeit wieder eine Erdölbohrung auf dem Festland bei Suai begonnen. Man erwartet hier in 1040 m Tiefe 39 Millionen Barrel Erdöl fördern zu können. Die nationale Erdölgesellschaft heißt Timor Gap E.P. Weitere Bodenschätze spielen derzeit keine Rolle. Abbauwürdige Vorkommen von Marmor wurden in Uma Caduac, 36 km östlich von Dili, entdeckt und in den 1990er Jahren von einer indonesischen Firma genutzt. Außerdem verfügt Osttimor über Lagerstätten von Gold, Mangan und Kupfer. Entlang der Nordküste wird in mehreren Orten durch das Verdunsten von Meerwasser in flachen Teichen Salz gewonnen. Heiße Quellen in einigen Regionen deuten auf geothermische Energie hin. === Landwirtschaft und Handwerk === Der Großteil der timoresischen Bevölkerung lebt von der Land- und Forstwirtschaft und der Fischerei. Fast 90 % der Haushalte betreiben Ackerbau und halten Nutztiere. Die Flächen, die eine Familie dabei bewirtschaftet ist meist relativ klein. Bei mehr als der Hälfte ist sie nicht größer als ein Hektar. 23,0 % der Landesfläche wird für die Landwirtschaft genutzt.Osttimor liegt in einem Gebiet, in dem die javanische Reiskultur auf die auf Wurzeln basierende Kultur Melanesiens trifft. Allgemein sind Mais, Reis und Maniok die Hauptnahrungsmittel im Land. Vom Osten von Manufahi und Manatuto bis in den Westen von Lautém, im Zentrum Bobonaros und im Osten Cova Limas dominiert der Reisanbau. Mais wird eher im zentralen Hochland angebaut. Dazu kommen verschiedene Obst- und Gemüsesorten. Vor allem Dürren und Überschwemmungen verursachen immer wieder hohe Ernteverluste. Eine regionale Teilung gibt es auch bei domestizierten Tieren: Büffel und Schwein werden überall auf Timor gezüchtet, aber der Büffel besitzt zum Beispiel für die Makasae eine größere Bedeutung als das Schwein. In anderen Regionen, bei den Ost-Tetum beispielsweise, ist das Schwein von wirtschaftlich größerer Bedeutung als der Büffel. Überall in Osttimor spielen Hühner eine wichtige Rolle in der Versorgung der Bevölkerung. Andere Haustiere sind Ziegen, Schafe und Pferde.Seit 1815 wird Kaffee in Osttimor angebaut und exportiert. Gerade im Hochland wächst ein besonders aromatischer und milder Kaffee. Ein Viertel der Bevölkerung Osttimors ist abhängig von der Kaffeeproduktion. Hauptzentren sind die Gemeinden von Ermera, Ainaro und Liquiçá. 2014 wurden insgesamt 10.258 Tonnen Kaffee geerntet. Damit lag Osttimor an 37. Stelle der Kaffee produzierenden Länder. 2017 wurden 10.827 Tonnen Kaffee geerntet und 2020 7.500 t.Durch den Anbau von Vanille, Kakao und Erdnüssen neben dem bereits als Exportgut etablierten Kaffee sind hier zukünftig Ertragssteigerungen zu erwarten. Bei Zimt ist Osttimor inzwischen mit 111 Tonnen (2016) der sechstgrößte Produzent weltweit, auch wenn dies nur 0,1 % der Weltproduktion entspricht. 2020 wurden 120 Tonnen Zimt geerntet, was wieder Platz sechs der weltweiten Produktion entsprach.Vor und während der Kolonialzeit war Timor für sein Sandelholz bekannt, dessen Vorkommen bereits im 19. Jahrhundert nahezu erschöpft waren. Außerdem ist Osttimor in der Region berühmt für seine farbenfrohen gewebten Stoffe, die sogenannten Tais. Diese unterscheiden sich je nach Region des Landes. Auch traditioneller Silberschmuck wird hergestellt. Daneben gibt es kleine Schmieden, Holzverarbeitung, Töpfereien und Möbelmacher. === Fischfang und -zucht === Der Fischfang hat in Osttimor keine lange Tradition, obwohl das Land ein Inselstaat ist. Zwar zeugen Funde, dass die ersten Siedler vor über 40.000 Jahren sogar Hochseefischerei betrieben und auch der älteste bekannte Angelhaken der Welt fand sich hier, doch fiel schon Europäern im18. Jahrhundert auf, wie wenige der Einwohner Timors Fische fingen. Als Grund vermutete man die zahlreichen Krokodile, die die Fischerei gefährlich machten. Noch in den 1970er Jahren betrieben gerade einmal 0,24 % der Bevölkerung Fischfang und selbst in Liquiçá, Dili und Atauro, wo die meisten Fischer lebten, waren es weniger als 2 %. Während der indonesischen Besatzung nahm die Fischerei zu, als die Beiros genannten Fischerboote motorisiert wurden.Im Jahre 2015 betrieben knapp 5 % der Osttimoresen Fischerei. 31 % widmeten sich der Fischzucht. In Adara auf Atauro leben die Wawata Topu (deutsch Taucherinnen), Frauen, die mit Harpunen und Schwimmbrillen unter Wasser auf Fischjagd gehen. === Tourismus === Das Land bietet zum Wandern geeignete Berge, Strände, Tauchgebiete, heiße Quellen (zum Beispiel die Termas do Marobo) und eine große kulturelle Vielfalt. Gerade die Korallenriffe gehören zu den artenreichsten der Welt. Die Wälder und Feuchtgebiete bieten gute Gelegenheiten zur Vogelbeobachtung. Organisierte Touren bieten Walbeobachtung an. In Oktober und November (teils sogar von September bis Dezember) schwimmen Blauwale der Nordküste Timors entlang und passieren selbst die Landeshauptstadt Dili in nächster Nähe. Nach Norden ziehen sie von Juli bis September an der Ost- und Westspitze Timors vorbei. Auch andere Meeressäuger, wie Pottwale, Buckelwale, Delfine und Dugongs kann man hier beobachten, teilweise das ganze Jahr über. Vorteilhaft ist auch die unmittelbare Nähe zu den beliebten Touristenzielen Australien und Bali. Fehlende Infrastruktur bereiten immer noch Schwierigkeiten, weswegen bisher eher Rucksacktouristen den Weg hierher fanden. 2006 warb Osttimor zum ersten Mal auf der Internationalen Tourismus-Börse in Berlin um Besucher und wiederholte dies 2012. In den ersten Jahren kam es immer wieder zu Gewaltausbrüchen, die mögliche Touristen zurückschrecken ließen. Hauptsächlich in Dili kämpften kriminelle Jugendbanden gegeneinander, bis 2008 mehrere Gruppen einen Friedensvertrag untereinander schlossen. Seitdem hat sich die Situation etwas beruhigt. Im Oktober 2008 wurden Pläne für ein Fünf-Sterne-Hotel in Tasitolu, nahe Dili, bekannt. Es wäre das erste Luxushotel dieser Art in dem Land. Weitere Großhotels und Beach Resorts werden vor allem von Investoren aus Australien, China und Macau geplant. 2011 reisten 50.590 Ausländer über den internationalen Flughafen Dilis nach Osttimor ein. Die 18 registrierten Hotels des Landes mit 869 Zimmern und insgesamt 871 Betten registrierten 2011 17.422 Gäste (2008: 12.026, 2006: 7.858) und 101.948 Übernachtungen (59.512, 35.533). Der durchschnittliche Zimmerpreis beträgt 68 US-Dollar. 434 Menschen arbeiten in den 18 Hotels und verdienen durchschnittlich 183 US-Dollar monatlich. 2017 wurde Osttimor von 74.000 Touristen besucht (2016: 66.000 und 2015: 62.000) und war damit immer noch eines der am wenigsten von Touristen besuchten Länder der Erde.Ab und zu ankern Kreuzfahrtschiffe vor Dili und ihre Passagiere besuchen die Stadt für einen Tagesausflug. == Kultur == === Bildung === Im Staatshaushalt von 2015 bis 2017 macht der Bereich Bildung 7,9 % des Budgets aus, womit man über dem regionalen Durchschnitt von 3,9 % im Ländervergleich liegt.1974 waren noch 95 bis 99 % der Bevölkerung Analphabeten. 2004 waren es noch etwa 54,2 %; von den Frauen zwischen 15 und 60 Jahren konnten sogar 58,2 % nicht lesen und schreiben. Laut Zensus 2022 reduzierte sich die Zahl der Analphabeten auf 27,6 % der über Zehnjährigen (Frauen: 30 %; Männer: 25,3 %). Bei den 10- bis 25-jährigen können 85 bis 90 % lesen und scheiben. In dieser Altersgruppe gibt es auch keine Unterschiede bei der Lesefähigkeit der beiden Geschlechter.2022 besuchten von den Einwohnern, die zwischen 3 und 29 Jahre alt waren, 422.880 eine Schule (54,6 % der Altersgruppe). Das Ziel, dass alleKinder Zugang zu einer Ausbildung haben, ist noch nicht erreicht. Die Vorschulen (Pre-Primário) werden nur von 20,3 % der Drei- bis Fünfjährigen besucht. Bis zur Volljährigkeit mit 17 liegt der Anteil der Kinder, die Schulen besuchen um die 80 %, wobei Jungen und Mädchen nahezu gleich oft die Schulen besuchen. Am höchsten ist der Anteil der Schulbesucher bei den Elfjährigen mit 87,4 %.In den ersten 15 Jahren seit der Unabhängigkeit 2002 stieg die Zahl der Vor-, Grund- und Sekundarschulen von 93 auf 1.715 Einrichtungen, die Anzahl der Lehrer von 6.541 auf 13.948. Damit kommen durchschnittlich 28 Schüler auf einen Lehrer. Da die Kapazitäten der Schulen nicht ausreichen, müssen Kinder in Schichten unterrichtet werden. Privatschulen haben einen großen Anteil an der Bildung. Bei den Grundschulen sind 13 % nicht in öffentlicher Hand, bei den Prä-Sekundarschulen 27 % und bei den Sekundarschulen sogar 40 %. Insgesamt gibt es 14 von der Agência Nacional para a Avaliação e Acreditação Académica (ANAAA) anerkannte Hochschulen im Land. In 21 weiterführenden Schulen erhalten 3500 Schüler eine berufliche Fachausbildung. Die ersten drei Jahre wird auf Tetum unterrichtet, danach steigt sukzessiv der Anteil an Unterricht in Portugiesisch. Anfang 2012 begann eine heftige Diskussion über Pläne, in Grundschulen auch Unterricht in den jeweiligen Nationalsprachen zu halten. Demnach sollen die Kinder zunächst in der Vorschule in ihrer Muttersprache und mündlich in Tetum unterrichtet werden. Mit Beginn der Grundschule folgt dann mündlich Portugiesisch. Sobald die Schüler ihre Muttersprache schriftlich beherrschen (2. Klasse), soll das Lesen und Schreiben in Tetum folgen, später in Portugiesisch (ab der 4. Klasse). Dies führt zu einer bilingualen Ausbildung in den beiden Amtssprachen, die Muttersprache wird zur Unterstützung verwendet. Die Lesefähigkeit in der Muttersprache soll dann weiter gefördert werden. Schließlich erfolgt der Unterricht nur noch in den Amtssprachen. In der 7. Klasse kommt Englisch als Fremdsprache dazu und Bahasa Indonesia als Wahlfach, zusammen mit anderen Sprachen in der 10. Klasse. Während Befürworter so die kulturelle Identität der verschiedenen ethnolinguistischen Gruppen des Landes bewahren wollen, empfinden viele das Programm als Bedrohung der nationalen Einheit. === Medien === Aufgrund der vielen verschiedenen Sprachen, die in Osttimor im Gebrauch sind, erscheinen auch die Zeitungen in unterschiedlichen Sprachen. Die Diario Tempo, Diario Nacional und Seminario erscheinen in Portugiesisch. Die Lia Foun erscheint in Tetum. Timor Post (in Tetum und Bahasa Indonesia), East Timor Sun und Suara Timor Lorosae (in Englisch, Portugiesisch, Bahasa Indonesia und Tetum) erscheinen in mehreren Sprachen. Eine Zeitung erscheint wöchentlich, drei täglich und andere sporadisch. Osttimoresischen Medien müssen ihre Eigentumsverhältnisse transparent darstellen und dürfen sich nicht zu mehr als 30 % in ausländischem Besitz befinden. Der Journalismus ist nach wie vor von einer Kultur der Ehrerbietung und des Respekts vor Hierarchien geprägt, die so weit geht, dass sich manche Redakteure damit begnügen, die offiziellen Berichte von Pressekonferenzen wiederzugeben.Fernsehen spielt national eine geringe Rolle. Wohlhabendere Timoresen besitzen Satellitenfernseher und sehen oft indonesische und australische, teils auch chinesische Sender. Der nationale Sender ist Televisão de Timor Leste (TVTL). Er sendet auch Eigenproduktionen auf Tetum. Da Anfang 2023 noch immer weniger als 50 % der Bevölkerung RTTL empfangen konnten, begann man mit dem Bau von drei Fernsehtürmen in Form von Stahlkonstruktionen, auch um die Digitalisierung voranzutreiben. Am 23. März 2023 wurde der Grundstein für den Fernsehturm auf dem Monte Laleno gelegt. Die beiden anderen sollen in Fleixa und in Oe-po (Suco Tapo) entstehen.2015 ging der staatliche Bildungssender Televisão Educação Timor auf Sendung. Private, osttimoresische Fernsehsender sind TV-Suara Timor Lorosae (TV-STL) und Grupo de Média Nacional-TV (GMN TV). Radio e Televisão Maubere (RTM) ist der Parteisender der FRETILIN. Der Großteil der Bevölkerung nutzt das Radio, um sich zu informieren. Als Hauptquelle für politische Information geben 31 % das Radio, 27 % das Fernsehen, 13 % Freunde und Nachbarn, 9 % lokale Führungspersönlichkeiten und 3 % Zeitungen an. 33 % der Haushalte verfügen über ein Radiogerät. Auch hier sind viele Sprachen im Gebrauch. Derzeit gibt es in Osttimor mehr als 15 kommunale, einen nationalen staatlichen und drei weitere Radiosender. Überregional sind Radio Falintil/Voz da Esperanca, Radio Nacional de Timor Leste (RTL), der Parteisender der FRETILIN Radio Maubere und der katholische Sender Radio Timor Kmanek (RTK) von Bedeutung. Der Radiosender Rádio Communidade de Lospalos ist für die Gemeinde Lautém ein Beispiel der verschiedenen kommunalen Radiostationen, die die Bevölkerung mit Nachrichten versorgen.Seit 2016 gibt es mit der Tatoli (ehemals Agência Noticiosa de Timor-Leste ANTIL) eine staatliche Nachrichtenagentur.Soziale Netzwerke wie Facebook haben zunehmende Bedeutung. Angesichts von geposteten Bildern von Festnahmen und Verletzten und Toten bei Unfällen wird eine mangelnde Privatsphäre beklagt. Beleidigungen, Diffamierungen und Drohungen gegenüber Politikern und traditionellen Führern werden ebenso verbreitet, wie Falschmeldungen. Die Polizei verhaftete mehrere Personen, denen Beschimpfungen von Politikern vorgeworfen wird. Allerdings sieht das osttimoresische Strafrecht keine Konsequenzen bei Diffamierungen vor, weswegen die Festgenommenen wieder freigelassen wurden. Virgílio da Silva Guterres, der Präsident des Presserats, kritisierte, dass die Aktion sich nur gegen Personen richtete, die Politiker angriffen, nicht aber normale Bürger. Auch die Meinungsfreiheit könnte aufgrund der unklaren Rechtslage gefährdet sein. Auch beim Recht auf Privatsphäre, Unschuldsvermutung, Verletzung des Rechtsgeheimnisses und der journalistischen Deontologie sind juristische Fragen noch ungeklärt. So wurden Bilder der Verhafteten und Verhöre auch in den traditionellen Medien veröffentlicht. === Tradition === Die kulturellen Traditionen Timors zeichnen sich durch unterschiedliche soziale Institutionen aus, es gibt aber viele Gemeinsamkeiten in kosmologischen Vorstellungen und sozialen Strukturen. Die Kultur Osttimors weist, neben europäischen und asiatischen Merkmalen, auch zahlreiche pazifische Einflüsse auf. Die Lebensweise der Einwohner Osttimors hat mit derjenigen der Einwohner des indonesischen Westens der Insel wenig gemein. Der Einfluss der katholischen Kirche auf die Traditionen der Einwohner ist beschränkt und die Gesellschaft sehr liberal. Obwohl sich fast alle Einwohner Osttimors zum katholischen Glauben bekennen, sind animistische Riten noch weit verbreitet und werden zum Teil in die christliche Religion integriert. Lulik, als das Glaubensprinzip der alten Religion, hat noch immer Einflüsse in das Alltagsleben. Vor allem in den ländlichen Gebieten folgt man den lokalen, traditionellen Regeln des Tara Bandu. Bunak, Galoli und Tetum Terik Fehan haben traditionell matrilinear-uxorilokale Gesellschaften. Sie machen etwa 12 % der Bevölkerung aus. Die anderen Gruppen sind patrilinear-patrilokal. Manche Gruppen wechseln auch zwischen den Formen. Während die soziale Organisation der Baikeno wahrscheinlich durch eine symmetrische Allianz charakterisiert ist, findet sich die asymmetrische Allianz beispielsweise bei den Makasae, Naueti und Fataluku. Bei den Tetum herrschen bilaterale beziehungsweise kognate Abstammungsregeln vor. Heiraten sind verbunden mit wirtschaftlich-rituelle Allianzen zwischen den Familien und werden über die soziale Institution des Barlake gesteuert, bei dem bei den patrilinearen Gruppen teils eindrucksvolle Gütertransaktionen zwischen den sozialen Gruppen zirkulieren. Bei den matrilinear-uxorilokalen Gruppen ist zumindest eine Gabe für die Brautmutter üblich.Neben dem Krokodil (siehe Kapitel Fauna und Flora) haben auch Wasserbüffel eine große Bedeutung in der Kultur Timors. Sie gelten als das wertvollste Opfertier und werden daher nur zu den wichtigsten Zeremonien geopfert. So wird mit dem Blut eines Büffels der Boden symbolisch genährt und auf diese Weise Anspruch auf das Land erhoben. Die Büffelhörner dienen dann als greifbares Symbol dieses Anspruchs. Büffelblut dient auch als ritueller Brautpreis und symbolisiert hier die Fruchtbarkeit der Frau und ihre Menstruation. Außerdem werden Büffel bei Totenzeremonien und Beerdigungen geopfert. Büffelhörner finden sich noch heute auf Gräbern, zusammen mit dem christlichen Kreuz. Büffelherz und -kopf werden bei der Einweihung heiliger Häuser als Opfer dargebracht.Auch Katzen gelten in Osttimor als heilig. Wenn man eine Katze tötet, soll man selbst samt Nachkommen bis in die siebente Generation verflucht sein. Bei Beerdigungen werden Katzen vom Leichnam ferngehalten, weil laut einem Volksaberglauben der Tote, beherrscht von bösen Geistern, wieder zum Leben erwacht, wenn eine Katze über ihn springt. Die osttimoresische Regierung erklärte 2014 den Geburtstag des Poeten Francisco Borja da Costa, den 14. Oktober, zum „Nationalen Tag der Timoresischen Kultur“. === Architektur === Bei den traditionellen Hütten unterscheidet man zwischen den Schlafhäusern (tetum Uma tidor) und Heiligen Häusern (tetum Uma Lulik). Ein weit verbreitetes nationales Symbol für Osttimor sind Hütten mit steilen Dächern, quadratischem Grundriss und Stelzen. Diese „Häuser auf Beinen“ (fataluku Lee-teinu) sind die heiligen Häuser der Fataluku an der Ostspitze der Insel. Sie waren während der indonesischen Besatzung und vor allem der Gewaltwelle von 1999 fast alle verschwunden. Seit der Unabhängigkeit werden sie wieder neu errichtet, ebenso wie die traditionellen heiligen Häuser der anderen Ethnien. Die steilen Dächer der Fataluku-Häuser dienen auch als Vorbild für moderne Gebäude, wie zum Beispiel beim Präsidentenpalast, dem Flughafen von Dili oder der katholischen Kirche von Lospalos. Pfahlhäuser sind bei mehreren Ethnien verbreitet. Markant im Vergleich zu den benachbarten Ethnien sind die traditionellen Rundhütten der Mambai, die noch heute als Wohnhäuser weit verbreitet sind. === Traditionelle Tracht === Vor allem zu festlichen Anlässen sieht man noch die traditionellen Wickelröcke (Lipa), die sowohl von Männern als auch von Frauen getragen werden. Die gewebten Tücher werden Tais genannt. An ihren Mustern kann man die Herkunft aus den verschiedenen Regionen, Ethnien und Gruppen erkennen. Männer tragen sie um die Hüfte, der Oberkörper ist unbedeckt oder man trägt ein einfaches Hemd oder ein weißes, ärmelloses Unterhemd. Frauen wickeln sich die Tais zum Teil unter die Achseln um die Brust, so dass nur die Schultern frei sind. Manchmal werden diese mit einem weiteren Tais bedeckt. Andere wickeln den Tais um die Hüfte und tragen am Oberkörper eine Bluse, die Kebaya genannt wird. Kebayas stammen ursprünglich von der Insel Java, sind aber im gesamten Malaiischen Archipel beliebt. Noch in den 1930er Jahren trugen die Frauen bei vielen Ethnien Timors keine Oberbekleidung. Zu Festlichkeiten schmücken sich Männer und Frauen auf dem Kopf mit Federn, die Manufulun genannt werden. Sie waren ursprünglich ein Symbol der heimkehrenden, siegreichen Krieger. Ein anderer Kopfschmuck ist die Kaibauk, der timoresischen Krone. Sie ist ein Symbol der Männlichkeit, während das Belak, eine metallene Brustscheibe, die um den Hals gehängt wird, die Weiblichkeit symbolisiert. Dazu kommen Halsketten, Haarnadeln bei den Frauen, Armreife und anderer Silberschmuck. An den Fußknöcheln sieht man manchmal ebenfalls Schmuck, so tragen Tänzer kleine Glocken. Die Halsketten mit orangefarbenen Steinen, die Mortel genannt werden, dienen oft als Brautpreis. Diese sogenannten Mutissalas haben teilweise den Gegenwert mehrerer Rinder.Als Kopfbedeckung dienen bei Frauen und Männern im westlichen Teil des Landes traditionell turbanähnlich gewickelte Kopftücher. Bei Männern in der Region von Maubisse sieht man auch breitkrempige Hüte, die an Cowboyhüte erinnern. Im Alltag hat sich westliche Kleidung in Form von Hemden, T-Shirts, Hosen und Jacken weit verbreitet. Statt barfuß zu laufen, benutzen viele Menschen nun Flip-Flops. Zum Teil wird westliche Kleidung mit der traditionellen Kleidung kombiniert. Nur in Macadade auf Atauro wird Rapin Hirik hergestellt, ein Stoff auf Palmblätterfasern, der traditionell für die Kleidung der Einwohner Atauros verwendet wurde. Erst zu Beginn der indonesischen Besatzungszeit 1975 verschwand das Material aus dem Alltag und man wechselte zu importierten Textilien aus industrieller Produktion. Heute wird die traditionellen Kleider noch bei kulturellen Veranstaltungen verwendet. === Tätowierungen === Eine lange Tradition hat auf Timor auch das Tätowieren. So war es Teil der traditionellen Totenwache, dass auserwählte Verwandte Tätowierungen im Gedenken des Verstorbenen erhielten. In Suai Loro wird die zukünftige Braut bei der rituellen Verlobung in der Armbeuge tätowiert, womit das Versprechen für die Ehe Gültigkeit erlangt.Als Farbe wird in manchen Teilen Osttimors mit Wasser vermischter Ruß verwendet, in anderen Regionen Pigmente aus gekochten Blättern oder Früchten. Die Farbe wurde ursprünglich mit Dornen unter die Haut gebracht, seit der Ankunft der Portugiesen im 16. Jahrhundert auch mit Metallnadeln. In einigen Gebieten im Südosten werden die Farben gewebter Taisstoffe mit dicken, erhitzten Metallspießen in den Arm gebrannt – ein langsamer, ungenauer und schmerzhafter Prozess.Neben Ornamenten finden sich auch Schriftzeichen in traditionellen Tätowierungen. Die Timoresen kopierten dabei die von den Portugiesen eingeführte lateinische Schrift, um den Namen toter Familienmitglieder oder Freunde auf der Haut festzuhalten. Da aber die wenigsten Timoresen früher lesen und schreiben konnten, wurden Schriftzeichen oft nur nachgeahmt oder schlichtweg erfunden. Mit der Weiterführung des Gedenkens an Verstorbene auf diese Weise finden sich inzwischen auch lesbare Tätowierungen auf Oberarmen wieder. Im Unabhängigkeitskrieg fanden sich die Symbole der FRETILIN und FALINTIL auf der Haut der Kämpfer wieder. Indonesische Sicherheitskräfte schnitten oder brannten solche Tätowierungen bei Gefangenen aus. Mit dem Entstehen des Bandenwesens in Osttimor verbreiteten sich Tätowierungen mit mystischen Symbolen und das Anbringen von Schmucknarben, die sowohl als Erkennungszeichen als auch als Schutz vor Feinden dienen sollten. Dazu kommen heutzutage immer mehr christliche Symbole. === Musik === Die Musik Osttimors spiegelt den Einfluss der Fremdherrschaft wider, unter der das Land fast 500 Jahre stand. Portugiesen und Indonesier brachten beide ihre Musik wie etwa Fado und Gamelan mit. Die am weitesten verbreitete Volksmusikrichtung ist der Likurai-Tanz, der für die vom Krieg heimkehrenden Männer von den Frauen vorgeführt wird. Der Tanz wurde von einer kleinen Trommel begleitet. In früheren Zeiten trug man dazu die Köpfe erschlagener Feinde in einer Prozession durch das Dorf. Heutzutage wird dieser Tanz von den Frauen zur Werbung verwendet. Die Gitarre ist seit langem ein wichtiger Bestandteil der osttimoresischen Musik. Sie wurde von den Portugiesen eingeführt, jedoch gibt es auch einheimische Saiteninstrumente, die ihr ähneln. Ebenfalls von den Portugiesen beeinflusst ist die reichhaltige Kirchenchortradition. Das Karau dikur ist ein Horn aus einem Wasserbüffelhorn. Es wird im Heiligen Haus (Uma Lulik) oder dem Wohnsitz des Liurais geblasen, um die Dorfbewohner für große Anlässe zusammenzurufen. Es wird auch bei traditionellen Tänzen verwendet. Die Kakalo'uta ist ein Schlaginstrument aus drei aufgehängten Hölzern der Fataluku. Es wird aus dem Ai-Solda-Baum hergestellt. Die moderne timoresische Musik hat enge Bindungen zur ehemaligen Unabhängigkeitsbewegung. So hat etwa die Band Dili All Stars ein Lied veröffentlicht, das zu einer Hymne während der Vorbereitung zum Unabhängigkeitsreferendum 1999 wurde. Die Vereinten Nationen gaben den Auftrag zu dem Lied Hakotu Ba von Lahane, das die Bevölkerung ermutigen sollte, sich für das Referendum zu registrieren. Zu den osttimoresischen Popmusikern gehört Teo Batiste Ximenes, der in Australien aufwuchs und Folkrhythmen Osttimors in seiner Musik verwendet. Viele osttimoresische Auswanderer brachten ihre Volksmusik auch in die Welt, so nach Portugal und Australien. In Portugal wurde diese mit Musikrichtungen aus anderen portugiesischen Kolonien wie Angola und Mosambik vermischt. Weitere Einflüsse stammen von Rock ’n’ Roll, Hip-Hop und Reggae. Aktuelle Musiker und Bands aus Osttimor sind Ego Lemos, Cinco do Oriente, Rai Na’in, Detective und Diosis Putri.Bei der zweiten Staffel der indonesischen Gesangs-Castingshow D′Academy Asia (Ende 2016), bei der Kandidaten aus mehreren südostasiatischen Ländern teilnehmen, erreichte die Osttimoresin Maria Vitória (MarVi) hinter drei Indonesiern den vierten Platz. Bei dem Wettbewerb wurden Dangdut-Lieder gesungen. 2018 gewann MarVi die 6. Staffel von The Voice Portugal. Die in Osttimor geborene Sängerin Sandra Pires ist unter anderem in ihrer jetzigen Heimat Österreich erfolgreich. Ihre Eltern flohen vor dem Bürgerkrieg von 1975. 2007 trat Pires erstmals in ihrem Geburtsland auf. === Essen und Trinken === Die osttimoresische Küche spiegelt die verschiedenen Einflüsse wider, denen das Land unterworfen war. Man findet in ihr chinesische, portugiesische und indonesische Elemente.In den Bergen wächst Kaffee, der hocharomatisch und mild ist. Er wird gerne zum Frühstück getrunken. Dazu gibt es Brot und Butter. Tee wird heiß und süß in Gläsern serviert. Drei Mahlzeiten am Tag sind üblich, wobei das Mittagessen gewöhnlich zwischen zwölf Uhr mittags und zwei Uhr nachmittags eingenommen wird. Mais, Reis, Erdnüsse, Sago, Maniok, Taro, Kartoffeln, Brotfrucht und Süßkartoffeln werden angebaut ebenso Obst wie Jackfrüchte, Melonen, Mangos und Bananen. Einheimische Kürbisse waren vor allem in den Notzeiten des Befreiungskrieges ein wichtiger Teil der Ernährung der Unabhängigkeitskämpfer in den Bergen. Lokale Früchte, wie Salak, Jambul (Jamblang), Uha, Saramalé und Aidák ergänzen den Speisezettel. Als Beilagen zu Hauptgerichten dienen Augenbohnen, Spinat und Kohl.Daneben züchten die meisten Familien für den Eigenbedarf Vieh, wie Hühner und Schweine, seltener auch Rinder, Büffel und Ziegen. Neben dem Muskelfleisch werden auch die Innereien gegessen. Wie in vielen anderen Teilen Ostasiens ist hier der Verzehr von Hundefleisch üblich. Allerdings soll sich diese Sitte erst in den 1980er Jahren von Sulawesi kommend hier eingebürgert haben, als in Colmera, einem Stadtteil von Dili, das erste Hundefleisch-Restaurant eröffnete. Fisch hat aufgrund der Transportschwierigkeiten nur an der Küste für die Ernährung der Bevölkerung eine Bedeutung. Garnelen gelten als Delikatesse.Traditionelle Alkoholika sind verschiedene Palmweine (Tuaka und Tua Mutin) und Palmweinbrand (Tua Sabu). Für Bier und alkoholfreie Getränke hat Heineken in Dili eine Abfüllstation errichtet. Hier wird mit Liurai auch eine einheimische Biermarke hergestellt. Ansonsten wird Bier aus Australien, Indonesien und Singapur importiert und die Portugiesen brachten in der Kolonialzeit den Wein nach Osttimor. === Literatur === Der bekannteste Autor der Moderne dürfte wohl der ehemalige Freiheitskämpfer und Politiker Xanana Gusmão sein. Während seines Kampfes für die Unabhängigkeit schrieb er zwei Bücher. Auch als Dichter und Maler ist er tätig. Seine Werke beschreiben Kultur, Werte und Fähigkeiten der osttimoresischen Bevölkerung. Weitere wichtige Schriftsteller sind Luís Cardoso, Fernando Sylvan, Domingos Francisco de Sousa, Ponte Pedrinha, Jorge Barros Duarte, Crisódio Araújo, Jorge Lauten, Francisco Borja da Costa, Afonso Busa Metan und Fitun Fuik. Die timoresischen Völker kannten ursprünglich keine Schrift. Dafür existiert eine reiche Tradition an mündlichen Überlieferungen, wie etwa beim Volk der Bunak im Zentrum der Insel. Die Geschichten wurden in wiederkehrenden Reimen und Alliterationen rezitiert. In jedem Dorf bringen die Alten den Jungen die Legenden des Clans bei, aber es gibt auch die Lian Nain (in etwa Herr der Wörter), die als Bewahrer der Traditionen stundenlang Verse rezitieren konnten. Meistens wurden Verse aus zwei Zeilen verwendet, bei denen jede Zeile aus zwei Sätzen bestand. Der erste Satz der zweiten Zeile wiederholte dabei in anderen Worten den Inhalt des letzten Satzes der ersten Zeile. Die Sprache war reich an Metaphern und Symbolen aus der animistischen Kultur Timors. Die reiche Welt an timoresischen Sagen und Legenden wurde traditionell nur mündlich weitergegeben und erst in moderner Zeit niedergeschrieben. === Bildende Kunst, Film und Theater === Der portugiesische Künstler Fausto Sampaio kam 1937 in die damalige Kolonie Portugiesisch-Timor und malte dort mehrere Bilder von Dili, Baucau, Manatuto, Laclo und Vemasse, aber auch Porträts, wie von Aleixo Corte-Real. Die timoresischen Legenden, wie der Schöpfungsmythos um das Krokodil, werden oft bildlich dargestellt und Motive auch dekorativ verwendet. Seit Februar 2003 gibt es in Dili die erste freie Kunstschule Arte Moris. Ihr Hauptziel ist Kunst als ein Baustein im psychologischen und sozialen Wiederaufbau eines Landes, das von Gewalttätigkeit verwüstet worden ist, mit besonderer Betonung auf der Hilfe an seine jungen Bürger. Arte Moris bietet Malerei und Bildhauerei und ist mit der Dramaschauspieltruppe Bibi Bulak auch mit Theaterstücken in der Landessprache Tetum aktiv. Der Ort Maquili ist bekannt für seine Holzschnitzkunst. Ursprünglich schnitzte man Tanzmasken, Männer- und Frauenfiguren. Dazu kamen Schnitzereien von Meerjungfrauen und Aalen, die auf den Schöpfungsmythos der Insel Atauro hinweisen sollen. Das Christentum beeinflusste diese animistischen Darstellungen. So begann man die Genitalien der Figuren mit Tüchern zu verhüllen und auch christliche Motive zu schnitzen. Noch heute findet man auf Atauro Masken, die an Bäumen hängen und die Gärten vor Dieben schützen sollen. Auch Krieger und Tänzer nutzten die Masken. Heute finden sie als Souvenirs neue Interessenten.Mit A Guerra da Beatriz (deutsch Der Krieg von Beatriz) erschien 2013 der erste osttimoresische Spielfilm. Regie führten die Osttimoresin Bety Reis und der Australier Luigi Acquisito. In Osttimor wurde der Film oft in Open-Air-Vorführungen präsentiert, da es nur in Dili ein Kino gibt. Reis und Acquisito waren auch bei der Filmdokumentation Abdul & José (2017) und der Fernsehserie Laloran Justisa beteiligt. Auf Antrag der Regierung Osttimors hat die UNESCO die filmischen Dokumente von Max Stahl zur Unabhängigkeitsbewegung in Osttimor unter dem Titel Geburt einer Nation – Wendepunkte in die Liste des Weltdokumentenerbes aufgenommen. Es ist bislang der einzige Beitrag aus Osttimor. === Sport === Der Sport in Osttimor leidet vor allem an einer dauernden Geldknappheit. Athleten fehlen teilweise die einfachsten Sportgeräte zur Ausübung ihrer Disziplin. Erstmals erfolgreich bei internationalen Wettkämpfen waren osttimoresische Sportler in Kempō Karate. Bei den Südostasienspielen 2011 holten sie in dieser Sportart eine Gold- und eine Silbermedaille. Special Olympics Timor Leste wurde 2007 gegründet und nahm mehrmals erfolgreich an Special Olympics Weltspielen teil. Der beliebteste Sport in Osttimor ist Fußball. Hier konnte das U23-Team als erstes osttimoresisches Team am 5. November 2011 ein Länderspiel gegen die Auswahl von Brunei mit 2:1 für sich entscheiden. Die A-Nationalelf erzielte ihren ersten Länderspielsieg am 5. Oktober 2012 in der Qualifikation zur ASEAN-Fußballmeisterschaft, als Kambodscha mit 5:1 besiegt wurde. Nationale Liga ist die Liga Futebol Amadora mit einer ersten und einer zweiten Division. Des Weiteren sind osttimoresische Sportler international regelmäßig beim Marathon aktiv. Seit 2010 wird jährlich der Dili-Marathon veranstaltet. 2009 fand erstmals das jährliche internationale Mountainbikerennen „Tour de Timor“ statt, das als eines der härtesten der Welt gilt. Unter der Jugend ist Kampfsport beliebt, von dem es auch eine einheimische, traditionelle Form gibt. Schätzungsweise betreiben 70 % der jungen Männer einen Kampfsport. Verschiedene Jugendbanden bezeichnen sich offiziell als Martial Arts-Clubs, weswegen das Erlernen und die Ausübung von Kampfsport in Osttimor gesetzlich stark reglementiert sind. Weit verbreitet ist die Tradition des Hahnenkampfs, bei dem auch um Geld gewettet wird. Da das Pferd noch eine große Bedeutung als Transportmittel hat, sind auch Pferderennen beliebt. Der Basketball in Osttimor wird durch die Federação Nacional de Basquetebol de Timor-Leste (FNBTL) in der FIBA vertreten. Der in Frankreich geborene Yohan Goutt Goncalves nahm in Sotschi als erster Osttimorese an Olympischen Winterspielen teil. Er startete beim Ski-Alpin-Wettbewerb. === Öffentliche Feiertage === Da Osttimor mehrheitlich christlich ist und die katholische Kirche eine wichtige Rolle im Unabhängigkeitskampf hatte, sind die wichtigen katholischen Feste zugleich öffentliche Feiertage. Zudem sind seit 2005 auch zwei muslimische Feste öffentliche Feiertage. 2016 wurde der Todestag Nicolau dos Reis Lobatos zum Feiertag erklärt und der 7. Dezember umgewidmet.Außerdem gibt es mehrere Feiertage, die an den Freiheitskampf des Landes erinnern: Am 20. Mai 2002 wurde Osttimor endgültig von der UN-Verwaltung in die Unabhängigkeit entlassen (Unabhängigkeitstag). Am 30. August 1999 fand das Volksreferendum statt, in dem sich die Bevölkerung für die Unabhängigkeit von Indonesien aussprach. Am 20. September 1999 landeten die ersten Soldaten der INTERFET, der internationalen Eingreiftruppe, die nach den vorangegangenen Gräueltaten die Kontrolle über Osttimor von Indonesien übernahmen. Am 3. November kam die Freiheitskämpferin Maria Tapó ums Leben. Am 12. November 1991 kam es zum Santa-Cruz-Massaker, bei dem das indonesische Militär mindestens 271 Menschen tötete, weitere 270 „verschwanden“ spurlos. Der Vorfall kippte endgültig die öffentliche Meinung in der westlichen Welt zu Gunsten der Timoresen. Am 28. November 1975 erklärte Osttimor seine Unabhängigkeit von Portugal. Der Tag der Proklamation der Unabhängigkeit am 28. November ist der Nationalfeiertag Osttimors. Alle Bürger, insbesondere Studenten, Beamte und zivile Angestellte des Staates, sind per Gesetz dazu verpflichtet, an den Feierlichkeiten teilzunehmen. Am 7. Dezember 1975 begann offiziell die Invasion Osttimors durch Indonesien. Am 31. Dezember 1978 starb Nicolau Lobato.Neben den landesweiten Feiertagen sind auch lokale Feiertage möglich. Die Gedenktage sind keine Urlaubstage, Arbeitnehmern kann aber frei gegeben werden.Jedes Jahr findet am 13. Juni in Manatuto das Festa do Coronel Santo Antonio (deutsch Fest des heiligen Oberst Antonius) statt zu Ehren des heiligen Antonius von Padua. An ihm nehmen mehrere Tausend Menschen teil. Die Feierlichkeiten zum Karneval sind in Dili eine noch sehr junge Tradition. Erstmals wurden sie 2010 vom Tourismusministerium organisiert, fanden aber in der Bevölkerung großen Anklang und spiegeln die Vielfalt der lokalen Musik- und Tanzgruppen wider, die bis zum Morgengrauen im Stadtzentrum Dilis spielen. == Umwelt == Seit 2000 ist die kommerzielle Holzgewinnung verboten, doch noch immer geht in geringerem Umfang Waldfläche verloren, meist durch Brennholzgewinnung (mehr als 94 % der Haushalte kochen auf Feuerholz, 80 % davon stammen aus dem Wald), Mit der nationalen Kampagne „Ein Bürger, ein Baum“ will man für die Wiederaufforstung des Landes werben. Brandrodung, Abweidung und starke Regenfälle, die auch in vielen Teilen Timors eine starke Erosion verursachen. Darunter leidet auch die Wasserqualität der Küste, was wiederum Korallen und Fischbestände gefährdet. Hausmüll und seine Entsorgung sind ein Problem in Dili. Oft wird Müll einfach in die Wassergräben oder neben überfüllte Mülltonnen gestellt, von wo der Müll in der Regenzeit in das Meer gespült wird. Schon jetzt sieht das Gesetz Strafen für Müllsünder von zwischen 5 und 500 US-Dollar vor. Müllbrigaden und Freiwillige sammeln in Dili regelmäßig Müll auf den Straßen und an den Stränden. 20 % dieses Mülls besteht aus Kunststoff. Bereits 2019 gab die Kmanek-Supermarktgruppe Tüten aus, die aus Maniokstärke hergestellt und biologisch abbaubar sind. Am 23. September 2020 wurden mit dem Gesetz 37/2020 weitreichende Einschränkungen beim Import, Produktion und Verbreitung von Plastik eingeführt. Unter anderem sind aus Plastik bestehendes Einweggeschirr, Tabletts für Mahlzeiten, Kapseln für Getränkespender, Trinkhalme, Einwegplastiktüten, Flaschen oder andere Arten von Getränkeverpackungen mit einem Fassungsvermögen von weniger als 0,5 Litern, Eisbecher und Müllsäcke verboten. Auch Verpackungen für Obst und Gemüse aus Plastik sind nicht mehr erlaubt. Am 17. Mai 2019 wurde der Bau einer neuen Chemiefabrik in Osttimor vereinbart, in der mittels eines katalytischen hydrothermalen Reaktors (Cat-HTR) soll dort Plastik in neue Rohstoffe umgewandelt werden. Ziel ist es, auf diese Weise Osttimor „plastikneutral“ zu machen. Der Klimawandel führt in Osttimor zu stärkeren Unwettern, die die Erosion weiter vorantreiben, und steigenden Temperaturen. Der El-Niño-Effekt erscheint öfter als bisher, weswegen extreme Wetterlagen zunehmen, was zu häufigeren Dürren und Überflutungen führt. Die CO2-Emissionen pro Kopf betrugen 2006 etwa 0,2 t, 2021 waren es 0,4 t. Erneuerbare Energien hatten 2019 einen Anteil am Endenergieverbrauch von 11,7 %.2009 unterzeichnete Osttimor das Montreal-Protokoll zum Schutz der Ozonschicht.2000 gründete die UNTAET 15 Wildschutzgebiete (Protected Natural Areas PNA). Sie sind auch durch das Gesetz des unabhängigen Osttimor geschützt. Sowohl auf See als auch auf dem Land sollen sie Landschaften, seltene Arten und kulturelle Werte schützen. Dazu zählen Korallen, Feuchtgebiete und Mangroven ebenso wie historische, kulturelle und künstlerische Orte. Unter den geschützten Gebieten sind unter anderem der Tasitolu-Friedenspark mit drei Salzseen und die Berge Tatamailau, Matebian, Saboria und Monte Mundo Perdido. Außerdem wurden von BirdLife International insgesamt 17 Gebiete zu Important Bird Areas erklärt. Sie haben eine Gesamtfläche von 2.013 km², was in etwa 13,4 % der Gesamtfläche Osttimors entspricht. Am 27. Juli 2007 wurde Osttimors erster Nationalpark, der Nationalpark Nino Konis Santana, gegründet und am 4. August 2008 feierlich eröffnet. Er beinhaltet unter anderem die Important Bird Areas Paitchau, Ira Lalaro und Lore sowie Tutuala, die Insel Jaco und im Meer das Korallendreieck. Der Nationalpark hat eine Gesamtfläche von 123.600 Hektar (68.000 Hektar Landfläche und 55.600 Hektar des Meeres). Am 21. Oktober 2015 kam der Nationalpark Kay Rala Xanana Gusmão mit den Cablac-Bergen zwischen Ainaro und Manufahi dazu. Er umfasst 126,23 km².Es gibt Pläne, auch den Tasitolu-Friedenspark in einen Nationalpark umzuwandeln. Außerdem bereitet man zusammen mit australischen Wissenschaftlern ein Meeresschutzgebiet vor. Gerade die Nordküste ist der Lebensraum von geschützten Arten, wie dem Buckelwal und dem Grindwal. Zudem gibt es entlang der Küste viele Korallenriffe. Der Fischreichtum der Meeresgebiete wird durch illegale Fischerei durch ausländische Flotten gefährdet. Zum Beispiel wurden 2017 bei einer gemeinsamen Aktion der Polizei mit Sea Shepherd 15 chinesische Fischerboote vor Com aufgebracht, die illegal 40 Tonnen Haie gefangen hatten.Das Konzept des Lulik (in etwa heilig) wollte man sich vom Staat aus für den Umweltschutz zu Nutze machen. Wälder und andere Landschaften wurden mit Unterstützung der Regierung durch animistische Rituale unter Schutz gestellt, um die dortigen Geister nicht zu stören. Doch die einheimische Bevölkerung nahm das Verbot pragmatisch. Man nutzte weiter die natürlichen Ressourcen der Schutzgebiete, da man sich darauf verließ, dass die Geister reagieren würden, wenn ihnen etwas missfällt. Außerdem könnte man im Problemfall mit ihnen verhandeln. == Siehe auch == Wikipedia: WikiProjekt Osttimor – Wikipedia-interne Fachredaktion zum Thema Osttimor Liste von Persönlichkeiten aus Osttimor == Literatur == Andre Borgerhoff, Manuel Schmitz (Hrsg.): Osttimor am Scheideweg. Chaos oder Neuanfang? Focus Asien (Schriftenreihe des Asienhauses), Nr. 31, 2008, ISBN 978-3-933341-40-2. Ruy Cinatti, Leopoldo de Almeida und António de Sousa Mendes: Arquitetura Timorense, 2016, ISBN 978-989-8052-94-0. Oliver Franz: Osttimor und das Recht auf Selbstbestimmung. Eine Untersuchung zur Anwendung des Selbstbestimmungsrechts der Völker am Beispiel Osttimors. Schriften zum internationalen und zum öffentlichen Recht. Bd. 59. Peter Lang, Frankfurt am Main u. a. 2005, ISBN 3-631-53178-8. Sibylle M. Gomes et al.: Human settlement history between Sunda and Sahul: a focus on East Timor (Timor-Leste) and the Pleistocenic mtDNA diversity, 22. Dezember 2014, BMC Genomics201516:70 doi:10.1186/s12864-014-1201-x Alexander Loch: Haus, Handy & Halleluja. Psychosoziale Rekonstruktion in Osttimor. IKO Verlag, Frankfurt/London 2007, ISBN 978-3-88939-850-5. Andrew McWilliam, Elizabeth G. Traube (Hrsg.): Land and Life in Timor-Leste. Ethnographic Essays. ANU E Press, The Australian National University, Canberra 2011 Jörg Meier: Der Osttimor-Konflikt (1998–2002). Gründe und Folgen einer gescheiterten Integration. Bewaffnete Konflikte nach dem Ende des Ost-West-Konfliktes. Bd. 17. Dr. Köster, Berlin 2005, ISBN 3-89574-560-X. Henri Myrttinen, Monika Schlicher und Maria Tschanz (Hrsg.) für Watch Indonesia!: Die Freiheit, für die wir kämpfen… – Osttimor in der Unabhängigkeit – Ein politisches Lesebuch. Berlin 2011, Regiospectra Verlag, ISBN 978-3-940132-26-0 www.regiospectra.de José Ramos-Horta: Funu. Osttimors Freiheitskampf ist nicht vorbei! Ahriman-Verlag, Freiburg 1997, ISBN 3-89484-556-2. Monika Schlicher: Portugal in Ost-Timor. Eine kritische Untersuchung zur portugiesischen Kolonialgeschichte in Ost-Timor 1850 bis 1912. Abera, Hamburg 1996, ISBN 3-934376-08-8. Monika Schlicher: Osttimor stellt sich seiner Vergangenheit. Die Arbeit der Empfangs-, Wahrheits- und Versöhnungskommission. (Memento vom 27. September 2007 im Internet Archive) In: Menschenrechte. Internationales Katholisches Missionswerk e. V., Fachstelle Menschenrechte. Missio, Aachen 2005, ISSN 1618-6222 (PDF; 297 kB) == Weblinks == Offizielle Regierungswebsite (englisch) Generaldirektorat für Statistik (Direcção-Geral de Estatística) (englisch) Länderinformationen des deutschen Auswärtigen Amtes zu Osttimor East Timor & Indonesia Action News ETAN, größte internationale Nichtregierungsorganisation zu Osttimor La'o Hamutuk, lokale Nichtregierungsorganisation mit zahlreichen, aktuellen Artikeln zu politischen Themen in Tetum und Englisch == Einzelnachweise ==
https://de.wikipedia.org/wiki/Osttimor
Lesotho
= Lesotho = Das Königreich Lesotho (Sesotho [lɪ’sʊːtʰʊ]), 1868 bis 1966 Basutoland, ist ein Binnenstaat im südlichen Afrika. Lesotho ist vollständig von der Republik Südafrika umschlossen. Die Hauptstadt ist Maseru. Die Staatsform ist eine parlamentarische Monarchie. Seit 1966 gehört das Land nicht mehr zum Vereinigten Königreich, ist mit ihm aber weiterhin durch das Commonwealth verbunden. Der Unabhängigkeitstag ist jährlich ein Nationalfeiertag. Lesotho bedeutet „Land der Sotho-sprechenden Menschen“, wobei hier Sesotho gemeint ist. Aufgrund seiner besonderen Höhenlage wird das Land auch The Kingdom in the Sky („Das Königreich im Himmel“) genannt. == Geographie == Das Königreich Lesotho liegt zwischen 29 und 30 Grad südlicher Breite sowie zwischen 28 und 30 Grad östlicher Länge. Das Land gehört zu den kleineren Ländern Afrikas (Platz 42 von 54) und hat mit 30.355 km² etwa die Größe Belgiens. Es wird vollständig von einem anderen Staat (Südafrika) umgeben, was ansonsten nur bei San Marino und der Vatikanstadt der Fall ist. Mit seinem einzigen Nachbarland teilt es sich etwa 1106 Kilometer Grenze. Es grenzt im Westen und Norden an die südafrikanische Provinz Freistaat, im Osten an KwaZulu-Natal und im Süden an die Provinz Ostkap. Der westliche Teil Lesothos liegt auf einem Hochplateau, dem sogenannten Highveld (wegen seiner relativen Lage innerhalb des Landes Lowlands genannt). Es ist das Hauptsiedlungsgebiet des Landes und besteht größtenteils aus Sandstein. Die Lowlands liegen etwa 1400 bis 1700 Meter über dem Meeresspiegel. Die Landschaft ist von Tafelbergen und Flusstälern geprägt. Dort liegt auch die Hauptstadt Maseru. Die östlichen Hochflächen und Berge (Highlands) liegen hingegen teilweise über 2000 Meter hoch und bestehen aus Basalt, der durch vulkanische Eruptionen vor etwa 170 bis 150 Millionen Jahren entstand. Die Highlands sind durch tiefe Flusstäler und zahlreiche Berge und Bergketten gekennzeichnet. Nahezu sichelförmig, beginnend im Südwesten und endend im Norden, wird das Land von den Drakensbergen (in Lesotho Maloti genannt) durchzogen. Der höchste Berg des Landes und des gesamten südlichen Afrikas ist der Thabana Ntlenyana mit 3482 Metern. Der tiefste Punkt des Landes liegt am Zusammenfluss des Oranje (in Lesotho Senqu genannt) und des Makhaleng auf etwa 1390 Metern über dem Meeresspiegel. Die Höhenlage Lesothos ist eine einmalige geographische Gegebenheit: Als einziges unabhängiges Land der Erde liegt das gesamte Staatsgebiet über 1000 Meter, wobei zusätzlich etwa 80 % der Fläche über 1800 Metern liegen. In Lesotho entspringen die beiden bedeutenden südafrikanischen Flüsse Oranje und Caledon. Sie haben wie andere Flüsse Lesothos tiefe Canyons gebildet. An den Abbruchkanten des Basaltgesteins, aus denen die Drakensberge gebildet sind, findet man zahlreiche Wasserfälle, von denen der Maletsunyane-Wasserfall bei Semonkong mit etwa 192 Metern der höchste ununterbrochene Wasserfall im südlichen Afrika ist. Der Boden der Plateaus am Übergang zum Highveld im Westen besteht aus weichem Sandstein. Deshalb und auch wegen Überbesiedelung und Überforderung der Böden – nur etwa elf Prozent der Landesfläche sind landwirtschaftlich nutzbar – leiden diese hier besonders stark unter Bodenerosion. Die natürlichen Ressourcen des Landes sind Wasser sowie in geringen Maßen auch Diamanten und sonstige Mineralien. Die reichen Wasserreservoirs mit einem geschätzten täglichen Abfluss von 7.280 Millionen Litern sind Ausgangspunkt für großangelegte Projekte zur Energie- und Wasserversorgung. Im Rahmen des Lesotho Highlands Water Project wurde mit dem Bau von mehreren Talsperren begonnen, von denen die Katse-Talsperre die größte ist. === Klima und Vegetation === Durch die Lage auf der Südhalbkugel sind die Jahreszeiten in Lesotho denen auf der Nordhalbkugel entgegengesetzt. Das Klima ist durch die hohe Lage des gesamten Landes gemäßigt warm. Im Winter, zwischen Juni und August, wird es oft sehr kalt, und in den Höhenlagen im Osten kann Schnee fallen. Tagsüber ist es aber auch im Winter sonnig, während des gesamten Jahres hat das Land im Schnitt etwa 300 Sonnentage. In den Sommermonaten zwischen November und März ist es in Lesotho überwiegend heiß. An etwa 100 Tagen im Jahr, überwiegend im Sommer, gibt es Gewitter. Durch die Höhenlage können die Temperaturen während des Tages sehr stark schwanken (zwischen −15 °C nachts im Winter und bis über 30 °C während des Tages im Sommer). Die durchschnittliche Jahrestemperatur in der Hauptstadt Maseru beträgt 15 °C. In den Hochgebirgslagen der Drakensberge ist ganzjährig Schneefall möglich. Etwa 85 % der jährlichen Niederschläge – im Landesdurchschnitt etwa 600 bis 800 mm – fallen während des Sommers, weshalb die Landschaft in den trockenen Wintermonaten meist ausgedörrt ist. === Flora und Fauna === Im gesamten Land gibt es nur wenige Bäume. Diese beschränken sich hauptsächlich auf Lagen in geschützten Tälern oder Anpflanzungen. Am häufigsten anzutreffende Baumarten sind Eukalyptusbäume, Akazien und in den Dörfern Pfirsichbäume. In den Höhenlagen des Landes kommen in den Flusstälern Weiden vor. Ferner fallen viele Aloearten auf. Die Spiralaloe (Aloe polyphylla, Sesotho: lekhala) ist in Lesotho endemisch. Typisch ist auch der Bergkohlbaum (Cussonia paniculata), der bis zu drei Meter hoch werden kann. Die Wildformen der Cosmea, Zinnie und Tagetes sind recht häufig. Einige Pflanzenarten, wie die beiden letztgenannten, sind von Mittel- und Südamerika ins Land gebracht worden. Die Fauna ist durch kleinere Tiere geprägt. Größtes wild lebendes Säugetier ist die Rehantilope (Pelea capreolus, Sesotho: letsa), die knapp Rehgröße hat. Auffällig sind Vögel wie Storch, Ibis, Reiher und Geier, darunter der seltene Bartgeier. Ein Weißstorch, der in Rossitten in Ostpreußen beringt worden war, wurde in den 1920er Jahren im heutigen Lesotho gefunden. Zu den kleineren Vögeln gehören Webervögel und der Nektar saugende Malachit-Nektarvogel. Reptilien, darunter einige Schlangenarten, Amphibien und wenige Fische finden sich ebenfalls, sowie zahlreiche Insekten und andere kleine Tiere, ähnlich wie in den benachbarten Ländern. An Haustieren werden vor allem Rinder gehalten, aber auch Pferde, Schafe, Ziegen, Esel, Hühner, Hunde und Katzen. Um 1830 fand man noch Flusspferde, Zebras, Gnus, Strauße und vereinzelt Löwen im heutigen Lesotho. Der 65 km² große Sehlabathebe-Nationalpark im Südosten des Landes besteht seit 1969. Der Tšehlanyane National Park im Distrikt Butha-Buthe ist ein weiteres Schutzgebiet in Lesotho, ist aber nicht offiziell als Nationalpark anerkannt. === Geologie === Die Oberfläche wird durch die Drakensberge dominiert. Sie sind eine mächtige Erhebung von überwiegend basaltischen Gesteinen, die vor etwa 180 Millionen Jahren durch einen auf der Südhalbkugel weit verbreiteten Vulkanismus entstanden. Dabei durchbrachen die vulkanischen Kräfte die vorhandene Sedimentdecke des Karoo-Hauptbeckens und erzeugten im Randbereich dieser Zone weitere Anhebungen. Die flacheren Gebiete, vor allem in den westlichen Landesteilen, bestehen überwiegend aus Sandsteinen, die an mehreren Stellen für den regionalen und südafrikanischen Bedarf gewonnen werden. == Bevölkerung == === Demografie === Lesotho ist einer der wenigen afrikanischen Nationalstaaten, die ein homogenes Staatsvolk mit einer gemeinsamen Kultur, Identität und Tradition besitzen. Die über zwei Millionen Einwohner des Landes sind ethnisch nahezu vollständig (etwa 99 %) dem südlichen Bantuvolk der Basotho zuzurechnen, das unter morena Moshoeshoe I. aus vielen Einzelstämmen vereinigt wurde. Kleine Minderheiten im Land sind Gruppen von Zulu, Xhosa, Europäern und Asiaten. Aufgrund der geographischen Gegebenheiten ist die Bevölkerung innerhalb des Landes sehr ungleich verteilt. Etwa 70 % leben in den tieferen westlichen Landesteilen. Hier finden sich auch die fruchtbareren Gebiete des Landes. Der größte Ballungsraum ist die Hauptstadt Maseru und deren Umland. Die Arbeitslosigkeit im Land beträgt etwa 45 % (Stand 2002) und ist damit eine der höchsten weltweit. Diese Quote stieg in der Zeit seit dem Ende der Apartheid in Südafrika stark an, da viele Basotho, die als Wanderarbeiter hauptsächlich in den Bergwerken Südafrikas beschäftigt waren, nach deren Schließung wieder zurück ins Land kamen. Derzeit arbeiten noch 35 % der männlichen arbeitsfähigen Einwohner Lesothos im Nachbarland Südafrika (Stand 2011). Der Rest ist nahezu vollständig von der Landwirtschaft abhängig. 2016 bewarben sich über 100.000 lesothische Staatsbürger für eine offizielle Aufenthaltserlaubnis in Südafrika.Im Jahr 2019 betrug der Bevölkerungsanteil der über 64-jährigen Bewohner etwa 5 %, wohingegen etwa 33 % der Gesamtbevölkerung unter 15 Jahren waren. Die durchschnittliche Anzahl der Kinder je Frau betrug 3,2 und die Säuglingssterblichkeit lag bei 53 je 1000 Geburten. Die Müttersterblichkeit lag 2016 bei 4,87 je 1000 Geburten. === Sprachen und Religionen === Offizielle Amtssprachen des Landes sind Sesotho (Südliches Sotho) und Englisch. Englisch als Amtssprache ist hauptsächlich durch die Zeit als britische Kronkolonie bedingt, Muttersprache von 99 % der Bevölkerung jedoch ist Sesotho. Andere Sprachen des Landes, die allerdings von sehr kleinen Bevölkerungsgruppen gesprochen werden, sind isiZulu, Sephuthi und isiXhosa. Etwa 90 % der Gesamtbevölkerung sind Christen. Rund die Hälfte der Christen sind Angehörige der römisch-katholischen Kirche, 40 % sind Protestanten (vor allem Anhänger der Lesotho Evangelical Church in Southern Africa und Anglikaner) und 10 % Anhänger weiterer, lokaler Konfessionen. Außerdem gibt es Angehörige traditioneller Religionen (rund zehn Prozent der Gesamtbevölkerung) sowie einige Muslime und Hindus. === Gesundheitswesen === AIDS ist in Lesotho, wie auch in allen anderen Staaten des südlichen Afrikas, das größte demographische Problem. Im Jahr 2017 waren geschätzt rund 24 % der 15–49-Jährigen mit dem HI-Virus infiziert. Dies ist nach Eswatini und vor Botswana die zweithöchste Rate weltweit. Die absolute Zahl der Erkrankten betrug im Jahr 2017 etwa 320.000 Menschen. Bedingt durch die enorme Ausbreitung von Aids hat sich das Bevölkerungswachstum in den vergangenen Jahren verlangsamt und liegt im Jahr 2012 geschätzt bei 0,33 %. Die durchschnittliche Lebenserwartung beträgt etwa 53 Jahre. Frauen haben in Lesotho nur eine unwesentlich höhere Lebenserwartung als Männer, da im südlichen Afrika mehr Frauen als Männer mit dem HI-Virus infiziert sind. Die Gründe für die große Zahl der Erkrankten liegen unter anderem bei der mangelnden Aufklärungspolitik der Regierung. Erst nachdem sich die Krankheit über Jahre hinweg nahezu ungehindert verbreiten konnte, starteten die Regierung und die Königin im Jahr 1999 ein landesweites Programm zur Aufklärung und Bekämpfung von Aids sowie zur Unterstützung Infizierter. Seit 2005/2006 wird in verschiedenen staatlichen und privaten Krankenhäusern eine antiretrovirale Therapie (ART) für Aids-Kranke angeboten. Diese Programme leiden jedoch unter dem zunehmenden Personalmangel im Gesundheitswesen, da ein großer Teil des medizinischen Personals ins Ausland – vor allem nach Südafrika und in das Vereinigte Königreich – abwandert. Die Anzahl der Neuinfizierten ist von rund 30.000 im Jahr 2005 auf etwa 15.000 im Jahr 2017 gesunken.Neben Aids ist die Tuberkulose in Lesotho sehr weit verbreitet. Über 70 Prozent der Aids-Kranken leiden aufgrund ihres geschwächten Immunsystems auch an dieser Krankheit. ==== Suizid ==== Laut Studien der WHO aus den letzten Jahren rangiert Lesotho bei den Suizidraten im Spitzenfeld. Auf 100.000 Menschen hochgerechnet verüben knapp über 80 Menschen Suizid, knapp unter 5 % aller Todesfälle sind Selbsttötungen, wobei die genauen Umstände diesbezüglich nicht ausreichend wissenschaftlich belegt sind. === Bildung === Die Analphabetenquote lag 2015 bei 20 %. 88,3 % der Frauen und 70,1 % der Männer ab 15 Jahren konnten damals lesen und schreiben. Die Staatsausgaben für das Bildungswesen lagen 2008 bei 13 % des Staatshaushaltes, womit Lesotho den ersten Rang unter allen Staaten belegte. Zahlreiche Schulen werden von kirchlichen Institutionen geführt. Der Besuch der Grundschule ist obligatorisch und seit 2000 kostenlos. Es besuchen aber nur 89 % der Mädchen und 83 % der Jungen die Grundschule (primary school). 27 % bzw. 18 % von ihnen besuchen nach der 7. Klasse eine weiterführende Schule (secondary school bzw. high school, falls die Schule bis zur 12. Klasse führt). Im Sekundarbereich kamen 2014 auf 100 Jungen 157 Mädchen. Die Schüler der Grundschule sind in der Regel von 6 bis 13 Jahre alt, die Sekundarschüler bis 18 Jahre. Der Besuch der Sekundarschule ist kostenpflichtig und kann die Familienkasse deutlich belasten. Dazu kommen Kosten für die obligatorische Schuluniform und Lehrbücher. Am Ende der 12. Klasse wird eine Abschlussprüfung durchgeführt, die jedoch nur von wenigen Schülern erreicht bzw. bestanden wird. Erfolgreiche Schüler erwerben seit 2014 das Lesotho General Certificate of Secondary Education, das bei guten Noten zum Hochschulbesuch berechtigt und das von Cambridge aus gesteuerte Cambridge Overseas School Certificate ablöste. Lesotho hat eine Universität, die National University of Lesotho in Roma, das etwa 35 Kilometer von Maseru entfernt liegt. Die Universität hat acht Fakultäten und rund 7000 Studenten. Sie wurde 1945 als Pius XII College von der katholischen Kirche gegründet, später aber vom Staat übernommen. Darüber hinaus gibt es in Lesotho mehrere Institute zur beruflichen Bildung. Neben dem formalen Schulsystem britischer Prägung gibt es ein Europäern wenig bekanntes System von „Buschschulen“, die zum Beispiel in den Ferien an versteckten Orten stattfinden. Dort werden lebenspraktische Fähigkeiten vermittelt, die in der afrikanischen Tradition stehen. == Geschichte == === Frühgeschichte === Das Bergland von Lesotho wurde etwa 25.000 v. Chr. von den San, einem Jäger- und Sammlervolk, besiedelt. Von den zahlreichen Höhlen- und Felsmalereien, die diese Völker im südlichen Afrika hinterlassen haben, sind etwa 5000 in Lesotho zu finden, beispielsweise bei Ha Baroana etwa 50 Kilometer östlich von Maseru. Während der Wanderung der Bantu-Stämme, die etwa im 4. bis 5. Jahrhundert begann, gelangten die Nguni-Völker in das südliche Afrika und ließen sich als Bauern und Hirten nieder. Während der nächsten Jahrhunderte wurde das Gebiet des heutigen Lesotho von Norden kommend von den Bantu besiedelt. Die bis dahin dort ansässigen San wurden von den Basotho- und verwandten Tswana-Gruppen etwa ab dem 11. Jahrhundert immer weiter verdrängt und sind heute in diesen Regionen Südafrikas und Lesothos gar nicht mehr beheimatet. Ab dem 14. Jahrhundert umfasste das Siedlungsgebiet der Basotho große Teile der heutigen südafrikanischen Provinz Freistaat und den Westteil des heutigen Lesotho, wobei der Siedlungsschwerpunkt an den fruchtbaren Ufern des Caledon lag. Die Bantu lebten dort in kleinen Gemeinschaften hauptsächlich von Ackerbau und Viehzucht, wobei das knappe nutzbare Land immer wieder zu Unruhen unter benachbarten Stämmen führte. === Herrschaft des Königs Moshoeshoe I. === Zu Beginn des 19. Jahrhunderts vergrößerte der Zulu-König Shaka sein Reich immer weiter. Das Gebiet, auf dem die Stämme der Basotho lebten, sollte als Nächstes folgen. Dies war die düstere Zeit der Lifaqane (deutsch etwa: die Notzeiten), in der räuberische Horden die Bevölkerung terrorisierten. Es herrschte eine Hungersnot, die so schwer war, dass es zu Kannibalismus kam.In heftigen Auseinandersetzungen gelang es den Basotho, vereinigt und geführt vom 1820 zum morena ernannten Moshoeshoe I., sich gegen den Ansturm der Zulu zu wehren und ihr Land zu sichern. Moshoeshoe ließ Festungen in Butha-Buthe und Thaba Bosiu errichten, wo er vielen Flüchtlingen Schutz bot. Durch geschickte Verhandlungen sicherte er sich die Gunst und das Vertrauen benachbarter Stämme und erweiterte so sein Einflussgebiet. Er wird daher oft als Moshoeshoe der Große bezeichnet und gilt als Gründer der Basotho-Nation. In der Außenpolitik wurde er vom französischen Missionar Eugène Casalis unterstützt. Ab dem Jahr 1830 drangen die Buren auf der Suche nach Land für neue Siedlungen vor und überquerten erstmals den Vaal. Als immer mehr Voortrekker als Folge der Spannungen zwischen Buren und Briten am Kap im sogenannten Großen Treck zwischen 1836 und 1838 nach Nordosten zogen, kam es zu Auseinandersetzungen der Europäer mit den Truppen Moshoeshoes. Soldaten des neu gegründeten Oranje-Freistaats drangen immer weiter in das Siedlungsgebiet der Basotho, was Häuptling Moshoeshoe dazu veranlasste, die Briten um Schutz zu ersuchen. 1843 wurde zwischen den Basotho und der britischen Kapkolonie ein Schutzvertrag unterzeichnet, der aber im Jahr 1859 wieder aufgelöst wurde, um die angespannten britischen Beziehungen zu den Burenrepubliken zu entlasten. Einem erneuten Angriff der burischen Truppen 1865 konnte das Reich Moshoeshoes nicht standhalten und musste einen Großteil seiner fruchtbaren Gebiete auf dem Highveld an den Oranje-Freistaat abgeben. Kurz vor einer endgültigen Niederlage der Basotho griffen die Briten ein, da sie eine zu große Ausdehnung der Burenstaaten fürchteten, und machten das verbliebene Land im Jahr 1868 als Basutoland zur britischen Kolonie. Moshoeshoe gelang es jedoch, durch geschickte Diplomatie die Autonomie seines Reiches sicherzustellen. Ein Jahr nach seinem Tod 1870 ging die Autonomie verloren und Basutoland wurde an die Kapkolonie angeschlossen. === Britische Kronkolonie Basutoland === Dem Basotho-Volk unter dem neuen Häuptling Letsie I. wurde keine Vertretung im Parlament der Kapkolonie gewährt, woraufhin es zu Aufständen gegen die Briten kam. Dies führte dazu, dass sämtliche Schusswaffen der Basotho konfisziert werden sollten. Die Bekämpfung eines Aufstands des Häuptlings Moorosi 1879 und der darauf folgende so genannte Gun War zwischen 1880 und 1881 waren für die Kapkolonie derart kostspielig und wirkungsarm, dass Basutoland im Jahr 1884 wieder direkt unter britische Verwaltung gestellt wurde, diesmal als Kronkolonie.Als im Jahr 1910 die Südafrikanische Union gegründet wurde, lehnte Basutoland, ebenso wie Betschuanaland (heute: Botswana) und Swasiland (heute: Eswatini) die Eingliederung in den neuen unabhängigen Staat ab. Sie bilden heute die Gruppe der BLS-Staaten. Im Jahr 1938 beschloss die britische Regierung eine Verwaltungsreform, durch die die Zahl der Stammeshäuptlinge und deren Machtfülle drastisch reduziert wurden. Dies und der Strukturwandel innerhalb des Landes, hauptsächlich Verstädterung und bessere Bildungsmöglichkeiten, führten während der folgenden Jahrzehnte zu einem deutlichen Einflussverlust des Königshauses und der Chiefs. Nach dem Zweiten Weltkrieg, an dem auch einige tausend Soldaten aus Basutoland auf Seiten der Alliierten teilnahmen, wuchs das Bestreben nach Unabhängigkeit und führte zur Gründung mehrerer Unabhängigkeitsbewegungen wie der Basutoland Congress Party (BCP) und der Basutoland National Party (BNP; später Basotho National Party). 1959 wurde die erste Kolonialverfassung unterzeichnet und erlaubte im Jahr 1960, dem Krönungsjahr von Moshoeshoe II., die ersten freien Wahlen des Landes. Die folgenden Wahlen 1965 gewann die BNP knapp und führte Basutoland ein Jahr später mit dem neuen Namen Lesotho in die Unabhängigkeit. Als Staatsform wurde die konstitutionelle Monarchie gewählt, erster Premierminister Lesothos wurde der BNP-Vorsitzende Leabua Jonathan. === Seit der Unabhängigkeit 1966 === Nach dem Wahlsieg der oppositionellen BCP unter Ntsu Mokhehle in der Wahl von 1970 annullierte Premierminister Jonathan das Ergebnis, setzte die Verfassung außer Kraft, rief den Notstand aus und trieb König Moshoeshoe II. zeitweilig ins Exil. Mitglieder der Oppositionsparteien und deren Familienangehörige wurden getötet oder verhaftet und einige ihrer Häuser zerstört. Die verbliebenen Oppositionellen riefen nach der Bekanntgabe einer Übergangsverfassung 1973 eine Exilregierung aus, die allerdings bedeutungslos blieb. Außenpolitische Spannungen löste in den Jahren 1982/83 die Behauptung Südafrikas aus, Lesotho unterstütze die in Südafrika verbotene Anti-Apartheid-Bewegung African National Congress (ANC). Die weiße Minderheitsregierung Südafrikas verhängte daraufhin Sanktionen gegen das wirtschaftlich stark vom großen Nachbarland abhängige Königreich und führte Militäraktionen gegen Lesotho durch. Am 9. Dezember 1982 wurden bei einem Angriff Südafrikas 42 Menschen getötet. Die Weigerung Jonathans, dem ANC die Unterstützung zu entziehen und ihn aus dem Land zu vertreiben, führte nach jahrelangen innenpolitischen Unruhen am 20. Januar 1986 zu einem unblutigen Militärputsch unter General Justin Metsing Lekhanya. Die regierungstreue Nationalversammlung wurde aufgelöst, Parteien verboten und ein sechsköpfiger Militärrat gebildet. König Moshoeshoe II. wurde mit umfangreichen exekutiven und legislativen Rechten gestärkt und herrschte bis zu seiner erneuten Vertreibung ins Exil 1990 gemeinsam mit dem Vorsitzenden des Militärrates Lekhanya. Ein Jahr nach der Krönung von König Letsie III. im Jahr 1990 wurde Lekhanya von Oberst Elias Phisoana Ramaema, dem neuen Vorsitzenden des Militärrates, abgesetzt. Dieser leitete im Jahr 1993 die Entstehung einer neuen demokratischen Verfassung ein. Die ersten freien Wahlen wurden von der BCP unter Ntsu Mokhehle gewonnen. Nur ein Jahr später, im August 1994, löste König Letsie III., unterstützt durch das Militär, das Parlament wieder auf und setzte Teile der Verfassung außer Kraft. Die Regierung der Putschisten brach allerdings nach etwa einem Monat auseinander, so dass die alte Regierung wieder eingesetzt werden konnte. 1995 kehrte König Moshoeshoe II. zurück auf den Thron, verstarb aber bei einem Autounfall im Jahr 1996, so dass sein Sohn Letsie III. am 31. Oktober 1997 die Königswürde zurückerhielt. Die Wahl von 1998 konnte von der BCP-Abspaltung Lesotho Congress for Democracy (LCD) unter der Führung von Bethuel Pakalitha Mosisili gewonnen werden. Dank des Mehrheitswahlrechts gewann die Partei 79 der 80 Parlamentssitze. Daraufhin legten rebellierende Oppositionsparteien in blutigen Auseinandersetzungen nahezu das gesamte öffentliche Leben lahm. Aus Furcht vor einem erneuten Staatsstreich wurden Truppen aus Südafrika und Botswana auf Bitten des Premierministers ins Land gerufen, um die Lage zu stabilisieren. Nach einer Phase der Entspannung und einer Änderung des Wahlrechts konnten die letzten Soldaten 2001 das Land wieder verlassen. Die Wahlen von 2002, die der amtierende Premierminister Mosisili erneut gewinnen konnte, wurden von der Opposition und einer breiten Mehrheit der Bevölkerung anerkannt. Bei den Parlamentswahlen 2007 erreichte die LCD unter Mosilili 62 der 120 Sitze, so dass sie weiterregieren konnte. Die Wahlen 2012 ergaben erstmals eine Koalitionsregierung unter Thomas „Tom“ Thabane (All Basotho Convention). Im Juni 2014 suspendierte Thabane die Nationalversammlung, um einem Misstrauensvotum seines Koalitionspartners LCD zuvorzukommen. Er setzte den Chef der Lesotho Defence Force (LDF) ab; dieser verließ sein Amt aber nicht. Am 30. August 2014 versuchte die LDF, Thabane zu stürzen. Nur mit Hilfe ausländischer Staaten, vor allem Südafrikas, konnte ein Putsch abgewendet werden. Die für 2017 fälligen Parlamentswahlen wurden daraufhin auf Februar 2015 vorgezogen. Nachdem Mosisili die Wahl 2015 knapp gewonnen hatte, wurde seine Regierung Anfang 2017 durch ein Missvertrauensvotum gestürzt. Nach den Wahlen 2017 bildete Thabane erneut eine Koalitionsregierung, die aus vier Parteien bestand. Thabane wurde jedoch im Mai 2020 zum Rücktritt gezwungen und durch seinen Parteifreund Moeketsi Majoro ersetzt. Im Oktober 2022 wurde der Unternehmer Sam Matekane nach den Parlamentswahlen als politischer Außenseiter zum neuen Premierminister gewählt. == Politik == === Verfassung === Die Verfassung Lesothos wurde am 2. April 1993 verabschiedet. Sie legt die Staatsform des Landes als parlamentarische Monarchie mit Zweikammerparlament fest. Das Mindestalter für die Wahlen zur Nationalversammlung liegt bei 18 Jahren. Ebenso ist die Gewaltenteilung festgeschrieben und ein unabhängiges Justizsystem ist garantiert. In der Verfassung werden außerdem die Menschenrechte, etwa Rede-, Presse- und Versammlungsfreiheit, Religionsfreiheit, das Recht auf persönliche Freiheit, Schutz vor Zwangsarbeit und der Schutz der Privatsphäre und des privaten Eigentums, garantiert. ==== Exekutive ==== Der Premierminister Lesothos ist der Vorsitzende der Regierung und des Kabinetts und hat die ausführende Gewalt inne. Der Premierminister wird nicht gewählt. Während der Jahre 1986 bis 1993 wurde das Amt des Premierministers ausgesetzt; seine Amtsgeschäfte wurden durch den Vorsitzenden des Militärrates ausgeführt. Der König, seit dem 7. Februar 1996 Letsie III., hat fast nur eine repräsentative Funktion; die aktive Teilnahme am politischen Geschehen ist ihm durch die Verfassung untersagt. Trotzdem gilt er als Teil der Exekutive. Die Monarchie ist erblich, doch kann nach einem traditionellen Gesetz der Rat der Barena einen noch minderjährigen Nachfolger eines verstorbenen Königs ablehnen und durch eine andere Person ersetzen. Auch die Absetzung eines Königs ist durch diesen Rat möglich. ==== Legislative ==== Die gesetzgebende Gewalt in Lesotho liegt in den Händen des Parlaments, das in zwei Kammern aufgeteilt ist. Als Oberhaus fungiert der Senat, das Unterhaus ist die Nationalversammlung. Der Senat besteht aus 33 Mitgliedern, von denen 22 Stammeshäuptlinge des Landes sind. Die Mehrheit dieser Mitglieder sind Nachfahren von Moshoeshoe I. und vererben ihren Sitz im Senat an ihre Nachfahren. Die restlichen elf Mitglieder des Senats werden vom König auf Vorschlag der Regierung bestimmt. Derzeitiger Senatspräsident (Stand: Mai 2013) ist Letapata Makhaola. Hauptaufgabe des Senats gemäß der Verfassung ist die Revision und Überprüfung von Gesetzesvorlagen, die aus der Nationalversammlung kommen, aber auch der Entwurf von Gesetzen. Die zweite Kammer, die Nationalversammlung, wird direkt vom Volk in allgemeiner, freier, gleicher und geheimer Wahl gewählt. Eine Legislaturperiode dauert fünf Jahre. Seit 2007 hat das Unterhaus 120 Sitze, von denen 80 in Mehrheitswahl und 40 über Verhältniswahl gewählt werden. Dabei werden die 40 Sitze an Parteien vergeben, die – bezogen auf die 120 Sitze – unterproportional viele Abgeordnete nach dem Mehrheitswahlrecht erhalten haben. Vorsitzende (speaker) der Nationalversammlung ist seit 2017 Sephiri Motanyane von der ABC.Für die gesetzgebende Versammlung, die 1956 eingeführt wurde, hatten Frauen zunächst kein Stimmrecht. Die neue Verfassung von 1960 gewährte nur Steuer zahlenden Personen Stimmrechte für die Wahl der Distrikträte, die dann die Mitglieder der gesetzgebenden Versammlung wählten. Damit waren Frauen faktisch ohne Stimmrechte. Am 30. April 1965 wurde Wahlen abgehalten, bei denen das allgemeine Wahlrecht für Erwachsene galt. Damit war das Frauenwahlrecht eingeführt. Das aktive und passive Frauenwahlrecht wurde bei der Unabhängigkeit 1966 bestätigt.Die Nationalversammlung setzt sich seit den Wahlen 2017 wie folgt zusammen: 51 Sitze: All Basotho Convention 30 Sitze: Democratic Congress 11 Sitze: Lesotho Congress for Democracy 09 Sitze: Alliance of Democrats 06 Sitze: Movement for Economic Change 05 Sitze: Basotho National Party 03 Sitze: Popular Front for Democracy je 1 Sitz: fünf weitere Parteien ==== Judikative ==== Das Rechtssystem in Lesotho basiert, ebenso wie das Südafrikas, auf einer Mischform aus dem angloamerikanischen System des Common Law und dem Roman Dutch Law, einem Gemeinen Recht niederländischer Prägung, das sich vom Römischen Recht herleitet. Daneben gibt es das traditionelle Recht der Laws of Lerotholi, etwa im Erbrecht.Die Justiz des Landes ist gemäß der Verfassung überparteilich und unabhängig. Höchste Justizinstanz ist das Oberste Gericht, dessen Vorsitzender vom König vorgeschlagen wird. Untergeordnet sind lokale Gerichte, vorwiegend in den Städten und traditionelle Gerichte, die hauptsächlich in ländlichen Gebieten existieren. === Politische Indizes === === Außenpolitik === Durch die geographische Lage ist das Land sehr von den politischen und wirtschaftlichen Entwicklungen Südafrikas abhängig. Dementsprechend war die Außenpolitik Lesothos sehr lange fast ausschließlich von den politischen Beziehungen zum großen Nachbarn bestimmt. Lesotho geriet während der Zeit der Apartheid politisch unter den Druck der weißen Minderheitsregierung Südafrikas, da politischen Flüchtlingen des ANC in Lesotho Asyl gewährt worden war. Seit dem Ende der Apartheid in Südafrika sind die Beziehungen zwischen beiden Staaten überwiegend freundschaftlich. Lesotho ist Mitglied in verschiedenen regionalen Organisationen wie der Entwicklungsgemeinschaft für das südliche Afrika (englisch: Southern African Development Community, SADC) und der Zollunion des Südlichen Afrikas (Southern African Customs Union, SACU). Des Weiteren ist Lesotho heute unter anderem Mitglied der UNO, der Afrikanischen Union (AU) und des Commonwealth. Alle westlichen Staaten unterhalten diplomatische Beziehungen zu Lesotho; allerdings haben nur wenige einen ständigen Botschaftssitz im Land. Deutschland gab seine Botschaft in Lesotho Ende 1994 auf. === Innenpolitik === Wichtige politische Zielvorgaben der Regierung zu Beginn des 21. Jahrhunderts sind Maßnahmen gegen die Nahrungsmittelknappheit, hohe Arbeitslosigkeit und Aids. === Sicherheitspolitik === Lesotho gab 2017 knapp 2,2 Prozent seiner Wirtschaftsleistung oder 53 Millionen US-Dollar für seine Streitkräfte aus.Die Sicherheitskräfte des Landes bestehen aus der Lesotho Defence Force (LDF), einer Armee mit etwa 2100 Soldaten, und dem Lesotho Mounted Police Service (LMPS), der nationalen Polizei. Die Armee Lesothos ist dem Verteidigungsminister unterstellt. 2002 bis 2015 hatte jedoch der Premierminister den Oberbefehl über das Militär, da dieser gleichzeitig das Amt des Ministers für Verteidigung und Nationale Sicherheit innehatte. Die Polizeibehörden des Landes unterstehen dem Innenminister. Sowohl die LDF als auch die Polizei trugen in den 1990er Jahren zu Unruhen bei, nachdem die Militärregierung 1993 durch eine demokratisch gewählte Führung abgelöst worden war. 1998 marschierten Truppen aus Südafrika und Botswana in Lesotho ein, um die Streitkräfte zu befrieden. LDF und LMPS waren als Kontrahenten in die Staatskrise in Lesotho 2014 verwickelt. == Verwaltungsgliederung == === Distrikte === Lesotho ist in zehn Distrikte aufgeteilt: === Städte und Gemeinden === Zur ersten Kommunalwahl Lesothos im Jahr 2005 wurden 129 Community Councils eingeführt. Die mit Abstand größte Stadt in Lesotho ist Maseru mit einer Einwohnerzahl von 330.760 (Stand 2016). Damit konzentrieren sich rund 17 Prozent der Bevölkerung des Landes in der Hauptstadt. Die Einwohnerzahlen 2016 basieren auf der damaligen Volkszählung (für Teyateyaneng ist die Zahl unklar; 2006 war es die zweitgrößte Stadt des Landes). == Wirtschaft == Lesotho gehört, gemessen am Pro-Kopf-Einkommen, zu den ärmsten Ländern der Welt. Im Jahr 2003 belief sich der Anteil der Bevölkerung, der von weniger als einem US-Dollar pro Tag leben muss, laut der Liste der Länder mit der größten Armut weltweit auf 43 %. Das Bruttoinlandsprodukt pro Kopf betrug im Jahr 2014 kaufkraftbereinigt etwa 2900 US-Dollar, eine Steigerung um 4,3 % gegenüber dem Vorjahr. === Beschäftigung und Einnahmequellen === Die Arbeitslosenquote wird 2014 mit 28,1 % angegeben. Die meisten Arbeitsplätze sind im informellen Sektor und viele Arbeiter sind unterbeschäftigt. Die Gesamtzahl der Beschäftigten wird für 2017 auf 931.000 geschätzt, davon 46,7 % Frauen.Etwa 60 % der Bevölkerung sind direkt in der Landwirtschaft tätig. Vor allem werden Mais und Sorghumhirse angebaut. Eine wichtige Rolle spielt die Viehwirtschaft, vor allem Rinder. Lesotho liegt bei der Produktion von Mohair weltweit auf dem zweiten Platz. Die große Mehrheit der Bewohner des Landes lebt entweder von Subsistenzwirtschaft oder als Wanderarbeiter, vorrangig in den Bergwerken Südafrikas, wo 2012 rund 44.000 Basotho angestellt waren. Die Beschäftigungsmöglichkeiten in Südafrika sind allerdings seit dem Ende der dortigen Apartheidsära stark gesunken. So gab es in den 1980er Jahren noch über 100.000 lesothische Bergleute in Südafrika.Durch den African Growth and Opportunities Act (AGOA), ein Programm der US-Regierung, das die Wirtschaft in Afrika durch zollfreie Einfuhren in die USA stimulieren soll, wurde seit 2004 die Textilindustrie in Lesotho durch Investitionen asiatischer Textilunternehmen stark ausgebaut. Hier arbeiten bis zu 35.000 Menschen (Stand 2015). Das AGOA-Programm wurde bis 2025 verlängert, Lesotho könnte aber aufgrund der instabilen politischen Verhältnisse von einer weiteren Förderung ausgeschlossen sein. Die Regierung investiert verstärkt in den Bereichen Landwirtschaft und Tourismus.Rund 44.200 Menschen sind im öffentlichen Dienst angestellt (Stand 2013).Im Hochland von Lesotho entspringen zahlreiche bedeutende Flüsse, weshalb das Land über reiche Wasservorräte verfügt. Mit dem Lesotho Highlands Water Project (LHWP), einem der weltweit größten seiner Art, wurden Einnahmequellen für den Export von Wasser nach Südafrika erschlossen, das damit seine Ballungszentren in der Provinz Gauteng versorgt. Zusätzlich wird durch das LHWP der Großteil der benötigten Elektrizität gewonnen. Bergbau wird kaum betrieben; es gibt lediglich einige Diamantenminen. Relativ häufig werden dort große Diamanten gefunden, wie 2018 ein Diamant von 910 Karat.Lesotho bildet mit Eswatini, Namibia und Südafrika eine Währungsunion, das Common Monetary Area, in der der Südafrikanische Rand als Leitwährung fungiert und in allen Ländern anerkanntes Zahlungsmittel ist. Der Loti (Plural: Maloti), der seit 1980 in Lesotho gültig ist, ist mit einem festen Wechselkurs von 1:1 zum Rand konvertibel. Die Inflationsrate lag 2014 bei sechs Prozent. Lesotho ist Mitglied der Southern African Customs Union (SACU) (Lesotho, Eswatini, Namibia, Republik Südafrika und Botswana). Lesotho erhielt im Finanzjahr 2012/2013 rund 45 % seiner Staatseinnahmen von der SACU. === Außenhandel === Aufgrund der geographischen Lage des Landes betreibt Lesotho den größten Teil seines Außenhandels mit Südafrika und den übrigen Staaten der SACU. Das Land deckt seinen Importbedarf zu rund 89,5 % aus den SACU-Ländern, wovon wiederum etwa 99 % auf Südafrika entfallen, und zu etwa 7 % aus Asien. Die wichtigsten Importgüter des Landes sind Nahrungsmittel, Baumaterial, Fahrzeuge, Maschinen, IT-Ausrüstung und pharmazeutische Produkte. Den hohen Ausgaben für Importe stehen verhältnismäßig geringe Einnahmen durch den Export gegenüber. Die wichtigsten Exportgüter sind bzw. waren Textilien und Bekleidung, Schuhe, Nahrungs- und Futtermittel, Schafwolle, Mohair und lebende Tiere. Diese Güter wurden hauptsächlich von der SACU (53,9 %) und Nordamerika (45,6 %) abgenommen. Der Export nach Deutschland betrug 2021 rund 3,8 Millionen Euro, der Import aus Deutschland ca. 3,6 Millionen Euro. Im Warenverkehr mit den USA betrug der Export im Jahr 2020 rund 305 Millionen US-Dollar, der Import aus den USA jedoch 2,2 Millionen Euro.Insgesamt erreichen die Auslandsschulden wegen des deutlichen Handelsbilanzdefizits eine beträchtliche Höhe. Lesotho muss daher wirtschaftliche Unterstützung aus verschiedenen internationalen Quellen in Anspruch nehmen, beispielsweise von den USA, der Weltbank und der Europäischen Union. Bis zum Ende der Apartheid im Nachbarland Südafrika erhielt das Land mehr Entwicklungshilfe pro Kopf als jedes andere Land der Welt, um ein Zeichen gegen die Apartheid zu setzen – gleichzeitig machten aber einige der Geberländer mit Südafrika Geschäfte. Die öffentliche Entwicklungshilfe für Lesotho im Jahr 2013 betrug 320 Millionen US-Dollar, darunter 151 Mio. $ aus den USA und 50 Mio. $ aus der Europäischen Union.Nach Schätzungen ist der illegale Export von Marihuana die drittgrößte Einnahmequelle Lesothos. Als erstes afrikanisches Land kündigte Lesotho 2018 an, legal angebautes Marihuana zu exportieren. === Tourismus === Lesotho ist seit den 1980er Jahren bemüht, das Land verstärkt für den Tourismus zu erschließen. Der Schwerpunkt liegt hier auf Maseru und den Maloti-Bergen mit ihren vielfältigen Wander- und Reitmöglichkeiten. Lesotho verzeichnete im Jahr 2018 insgesamt 1 Million Touristen und lag damit nach absoluten Zahlen weltweit auf Platz 112. Mit 0,55 Touristen pro Einwohner lag Lesotho im weltweiten Vergleich auf Platz 84, in Süd-Afrika hinter Namibia auf Platz 4.Wichtige Touristenziele des Landes sind: die Hauptstadt Maseru mit zahlreichen Hotels und einem Spielcasino die Drakensberge und der Sani-Pass im Nordosten des Landes der Sehlabathebe-Nationalpark im Südosten des Landes der Ort Malealea mit umliegender Landschaft im Distrikt Mafeteng Thaba Bosiu, die alte Festung der Basotho östlich von Maseru die Katse-Talsperre, die zweithöchste Talsperre Afrikas, mit ihrem neuen Besucherzentrum und Führungen durch das Innere der Talsperre das Skigebiet Afri-Ski im Osten des Butha-Buthe-Distrikts === Kennzahlen === Alle BIP-Werte sind in US-Dollar (Kaufkraftparität) angegeben. === Staatsausgaben === Der Staatshaushalt umfasste 2009 Ausgaben von umgerechnet 675,4 Millionen US-Dollar. Dem standen Einnahmen von umgerechnet 563,4 Millionen US-Dollar gegenüber. Daraus ergibt sich ein Haushaltsdefizit in Höhe von 8,0 % des Bruttoinlandsprodukts (BIP).2006 betrug der Anteil der Staatsausgaben (in % des BIP) folgender Bereiche: Gesundheit: 6,8 % Bildung: 13,0 % Militär: 2,6 % == Infrastruktur == Die geographische Lage und die wirtschaftlichen Rahmenbedingungen des Landes sind die Hauptgründe für ein nur schwach ausgebautes Verkehrssystem. Das großteils unwirtliche und schwer wegbare Gelände in den östlichen Hochebenen und in den Drakensbergen ist vielerorts nicht erschlossen oder nur schwer zugänglich. Eine Ausnahme bilden asphaltierte Straßen, die im Rahmen des Lesotho Highlands Water Projects gebaut wurden. === Flugverkehr === Die Lesotho Airways verband seit den 1970er Jahren von einem Flughafen in unmittelbarer Nähe Maserus das Land mit Städten wie Johannesburg, Gaborone, Manzini und Maputo. 1985 wurde der Moshoeshoe I. International Airport, der 19 Kilometer südlich von Maseru liegt, eingeweiht. Damals verfügte die Fluggesellschaft außerdem über ein gutes umfangreiches inländisches Liniennetz, das mit kleinen Propellermaschinen betrieben wurde. Mit zunehmendem Straßenbau in den Gebirgsregionen wurde es aber weitgehend obsolet. Seit der Insolvenz 1997, Folge einer gescheiterten Privatisierung, verfügt das Land über keine eigene nationale Fluggesellschaft mehr, so dass der einzige internationale Flughafen des Landes nur noch von der südafrikanischen Fluggesellschaft South African Airways bzw. South African Airlink angeflogen wird – hauptsächlich vom OR Tambo International Airport bei Johannesburg aus. Ab April 2016 flog auch die lesothische Gesellschaft Maluti Sky einmal täglich zwischen OR Tambo und Moshoeshoe I., bevor sie ihren Flugbetrieb am 1. Mai 2017 einstellte. Seit der Insolvenz der South African Airways im Sommer 2020 fliegt auch deren Tochter South African Airlink Maseru nicht mehr an, so dass praktisch keine Flugverbindung nach Lesotho besteht. === Bahn === Lesotho verfügt über kein eigenes Eisenbahnsystem. Die einzige Bahnstrecke des Landes führt aus Südafrika über den Caledon-Fluss in die Hauptstadt Maseru und schließt die Stadt damit an das südafrikanische Eisenbahnnetz an. Diese Strecke ist jedoch nur für den Güterverkehr bestimmt. Das Schienennetz Lesothos ist damit nur 1,6 Kilometer lang. Die Spurweite beträgt 1067 mm (Kapspur). === Straßennetz und Autoverkehr === In Lesotho herrscht, wie im gesamten südlichen Afrika, Linksverkehr. Der öffentliche Nahverkehr ist in Lesotho schlecht ausgebaut. Da es nur wenige Buslinien im Land gibt, die zudem nur unregelmäßig bedient werden, benutzen die Einwohner des Landes für den Transport hauptsächlich private Minibus-Sammeltaxis. Diese bilden das Rückgrat des öffentlichen Transports. Sie fahren meist feste Routen und werden per Handzeichen angehalten, Zu- und Aussteigen ist an jedem Ort möglich. Das gesamte Straßennetz des Landes ist etwa 6000 Kilometer lang, wovon ungefähr 1000 Kilometer asphaltiert und befestigt sind. Lesotho verfügt im dicht besiedelten Westteil über eine gut ausgebaute und asphaltierte Nord-Süd-Hauptachse, beginnend im Süden am Grenzübergang Makhaleng Bridge nahe Mohale’s Hoek über Mafeteng, Maseru, Hlotse bis Butha-Buthe im Norden. Mit dem Bau von Talsperren in den Maloti-Bergen wurden auch dorthin asphaltierte Straßen errichtet. Die zulässige Höchstgeschwindigkeit liegt auf Landstraßen bei 80 km/h und bei 50 km/h innerhalb geschlossener Ortschaften. Aufgrund unterschiedlicher Fahrzeuge, die auf den Straßen unterwegs sind – vom Ochsenkarren bis zum LKW – mangelnder Verkehrssicherheit und fehlender Alkoholkontrollen ist der Straßenverkehr in Lesotho sehr unfallträchtig. === Einreisebestimmungen === Die Einreise nach Lesotho ist bei einem Aufenthalt von bis zu drei Monaten für Bürger der Europäischen Union und der Schweiz mit einem Touristenvisum möglich. Der Reisepass muss bei der Einreise mindestens noch sechs Monate gültig sein. Gegebenenfalls sind ein Rückflugticket mit festem Rückflugtermin sowie ein Nachweis über genügend finanzielle Mittel für die Zeit des Aufenthalts vorzulegen. Für Reisende, die aus Ländern mit erhöhter Gelbfiebergefahr anreisen, ist bei der Einreise ein Nachweis über entsprechende Impfungen vorzulegen. == Kultur == === Dörfliches und städtisches Leben === Lesotho ist, bedingt durch die weitgehend homogene ethnische Herkunft der Bevölkerung, geprägt von kulturellen und traditionellen Bräuchen der Basotho. Die Basotho haben über die Jahrhunderte eine einzigartige Kultur entwickelt. Sie leben als eines der wenigen afrikanischen Völker in einer Gebirgslandschaft, was viele Besonderheiten in ihrem täglichen Leben notwendig machte. Die nationale Kultur wird wie die Landessprache Sesotho genannt. Das traditionelle Zentrum der Sesotho-Kultur ist das Dorf. Die Dörfer liegen oftmals in den mittleren Höhenlagen der Berge, um sich vor Überschwemmungen der Flusstäler zu schützen, und sind landwirtschaftlich geprägt. Jedes Dorf hat eine feste Ordnung mit einem Vorsteher (morena), ähnlich dem europäischen Bürgermeister, der dem jeweiligen Chief der Region unterstellt ist. Die Dörfer bestehen aus vielen Hütten, die (falls es Rundhütten sind) rondavels genannt werden, die für unterschiedliche Funktionen errichtet wurden, beispielsweise als Schlafhütte, Lagerhaus oder Küche. Um diese Hütten herum liegen die Felder der Basotho, auf denen zum Beispiel Mais, Weizen und Bohnen angebaut werden. Die Verteilung der Felder auf die einzelnen Familien des Dorfes wird vom Vorsteher vorgenommen. Angelegenheiten, die das ganze Dorf betreffen, werden in einer pitso (deutsch: der Ruf) behandelt. Dies ist eine Versammlung, bei der alle erwachsenen Dorfbewohner als Teilnehmer und Redner zugelassen sind. Zur traditionellen, häufig getragenen Bekleidung gehören der mokorotlo, ein spitzer Hut, sowie Wolldecken, die auf Sesotho kobo genannt werden und mit kunstvollen Mustern verziert sind. Die Hüte sind kegelförmig, aus gewebtem Stroh und werden an der Spitze mit einem aufwändigen Knoten zusammengehalten. Die Form des Hutes wurde dem Felsen Qiloane nahe Thaba Bosiu nachempfunden. Der mokorotlo ist heute das nationale Symbol des Landes. Er war bis zum Jahr 1986 auch auf der damaligen Nationalflagge des Landes zu finden und ist auch auf der seit Oktober 2006 gültigen Landesflagge abgebildet. Weiterhin ist er auf allen Kfz-Nummernschildern des Landes dargestellt. Noch weiter verbreitet und im Alltag häufiger anzutreffen sind die traditionellen Basotho-Decken, die heute noch von sehr vielen Menschen im Land getragen werden. Um das Jahr 1860 kaufte Häuptling Moshoeshoe I. von durchreisenden englischen Händlern erstmals eine dieser Wolldecken und trug sie regelmäßig, woraufhin sich immer mehr Basotho mit diesen Umhängen kleideten. Zuvor wurde als Kleidung hauptsächlich Tierfell verwendet. Viele Basotho tragen diese Decken zu jeder Jahreszeit, da sie sowohl vor Kälte und Regen als auch vor Hitze schützen. Die Decken werden mit verschiedenen Mustern getragen, von denen der Maiskolben als Symbol der Fruchtbarkeit und die Krone die beliebtesten sind. Ein wichtiges Tier in der Sesotho-Kultur ist das Pony. Das traditionelle Basotho-Pony ist das wichtigste Transportmittel in den Bergen. Die Ponys wurden erstmals im 19. Jahrhundert von der Kapkolonie nach Lesotho gebracht. Im Gegensatz zur traditionellen, dörflichen Kultur steht das städtische Leben, das von westlichen Einflüssen geprägt ist. Besonders in Maseru und an der Universität in Roma findet man ein deutliches Abweichen von herkömmlichen Werten. === Medien === Die Medienlandschaft ist entsprechend der Landesgröße überschaubar. Lesotho News Agency (LENA) fungiert als Nachrichtenagentur. Es gibt nur einen nationalen Fernsehsender, Lesotho Television, der staatlich betrieben wird. Neben Radio Lesotho, dem ebenfalls staatlichen Radiosender, existieren seit der Rundfunkreform 1998 fünf weitere private Sender, die aber teilweise nur in bestimmten Landesteilen zu empfangen sind. Das Radio ist wichtigstes Massenmedium in Lesotho, da die Druckkosten für Zeitungen sehr hoch sind und sich die Mehrzahl der Bevölkerung kein Fernsehgerät leisten kann. Neben den nationalen Rundfunksendern können auch Fernseh- und Radioprogramme aus Südafrika empfangen werden, die teilweise in der Sprache Sesotho senden. Die Presse beschränkt sich ebenfalls auf eine geringe Anzahl von Zeitungen, die sowohl in Sesotho als auch in Englisch veröffentlicht werden. Die älteste Zeitung Lesothos, Leselinyana la Lesotho, erscheint seit 1863 und wird von der Lesotho Evangelical Church in Southern Africa herausgegeben. Lesotho Times und Sunday Express erscheinen als Printausgaben und haben Internetauftritte. The Post erscheint ebenfalls online. Weiterhin sind englischsprachige Zeitungen aus Südafrika erhältlich. Im Jahr 2020 nutzten 43 Prozent der Einwohner Lesothos das Internet.Die Nichtregierungsorganisation Reporter ohne Grenzen sieht in Lesotho erkennbare Probleme für die Pressefreiheit. === Musik === Die Bandbreite der in Lesotho geschaffenen Musik reicht von Gesängen, die bestimmten traditionellen Zeremonien zugeordnet sind, bis zu fast westlich anmutender Popmusik. Beliebt und recht zahlreich sind Famo-Bands in der Besetzung Gesang, Akkordeon und Trommel, gelegentlich auch E-Bass, die Elemente der Hirtenmusik mit ihren ostinaten Melodien mit dem Beat moderner Musik vereinen. Dabei ist das Akkordeon der Musik der Buren in Südafrika entlehnt. Die Gruppe Tau ea Matsekha, deutsch: „Löwe von Matsekha“, spielte 1985 mit Paul Simon einen Titel auf dessen Album Graceland ein. Zu den traditionellen Instrumenten gehören Mamokhorong, eine einsaitige Geige, die um 1600 auch von Khoikhoi gespielt wurde, und Lesiba.Die Band Sankomota (vormals Uhuru) war von 1976 bis 1993 in Lesotho überaus erfolgreich. Sie spielten moderne Rockmusik mit Jazz- und Soulelementen sowie afrikanischen Einflüssen. Auch in Südafrika war die Gruppe bekannt. Etliche ihrer Texte waren in Englisch, isiXhosa oder isiZulu gesungen. Auch in Großbritannien konnte Sankomota einige kleinere Erfolge erzielen. In den 1980er Jahren unternahm sie eine Deutschlandtournee. Insgesamt veröffentlichte die Band sechs Alben. Viele Basotho verfügen über bemerkenswerte sängerische Fähigkeiten. So singt in Gottesdiensten die Gemeinde oft mehrstimmig, angeführt von Frauenchören. Auch an den Schulen wird auf hohem Niveau gesungen. === Literatur === Thomas Mofolo schrieb im frühen 20. Jahrhundert das Buch Chaka, auch Chaka Zulu genannt. Es beschreibt den Lebensweg des mächtigen und blutrünstigen Zulukönigs Shaka. Mofolo schrieb das Buch in seiner Muttersprache Sesotho. Seither wurde es in viele Sprachen, auch ins Deutsche, übersetzt. Weitere Autoren, darunter ’Masechele Caroline Ntšeliseng Khaketla, veröffentlichten Bücher auf Sesotho. === Feiertage === In Lesotho gibt es folgende gesetzliche Feiertage: === Sport === Die mit Abstand populärste Sportart des Landes ist Fußball. Da viele gute Spieler das Land aufgrund der besseren Lebenssituation in Richtung Südafrika verlassen haben, ist die nationale Fußball-Liga jedoch nur von lokaler Bedeutung. Größter internationaler Erfolg der lesothischen Fußballnationalmannschaft, die seit 1964 Mitglied im internationalen Verband FIFA ist, war im Jahr 2000 die Teilnahme am Finale um den COSAFA-Pokal, eine Meisterschaft im südlichen Afrika. Bei Welt- und Afrikameisterschaften scheitert die Mannschaft, die von den Fans Likuena (Sesotho für „Krokodile“) genannt wird, regelmäßig in den ersten Qualifikationsrunden und konnte sich noch nie für eine Endrunde qualifizieren. Weitere beliebte Sportarten sind Judo, Taekwondo, Boxen, Langstreckenlauf und Reiten sowie im Schulsport für Mädchen Netball, eine Basketball-Variante. Der größte internationale Erfolg lesothischer Athleten war der Gewinn der Goldmedaille bei den Commonwealth Games 1998 in Kuala Lumpur durch den Marathonläufer Thabiso Paul Moqhali sowie die Bronzemedaille bei den Commonwealth Games 2002 in Manchester für den Bantamgewicht-Boxer Ezekiel Letuka. Lesotho beteiligte sich seit 1972 an bisher neun Olympischen Sommerspielen, konnte dort aber noch keinen Medaillenerfolg erzielen. Beste Platzierung eines lesothischen Athleten war der 16. Rang von Thabiso Moqhali im Marathon bei den Sommerspielen von Sydney 2000. Special Olympics Lesotho wurde 2019 gegründet und nahm bereits an Special Olympics Weltspielen teil. Der Verband hat seine Teilnahme an den Special Olympics World Summer Games 2023 in Berlin angekündigt. Die Delegation wird vor den Spielen im Rahmen des Host Town Programs von Fürstenwalde/Spree betreut.Nach einer mehrjährigen Pause fand 2007 wieder die Motorradrallye Roof of Africa in Lesotho statt, die als eines der härtesten Endurorennen der Welt gilt. Seit 2009 wird die Rallye jährlich ausgetragen. == Literatur == Mary Fitzpatrick, Rebecca Blond, Gemma Pitcher: South Africa, Lesotho & Swaziland. 6. Auflage. Lonely Planet, 2004, ISBN 1-74104-162-7. Lesotho Country Study Guide. International Business Publications, 2004, ISBN 0-7397-6194-3. Country presentation by the government of Lesotho. (3rd United Nations Conference on the Least Developed Countries, 2001 in Brussels, Belgium). Geneva 2001. David Percy Ambrose: The Guide to Lesotho. Verbesserte Ausgabe. Winchester Press, Johannesburg und Maseru 1976, ISBN 0-620-02190-X. Georges Lorry: Le Lesotho. In: Afrique australe, éd. Autrement, HS n°45, April 1990. == Weblinks == === Landeseigene Links === Offizielle Website der Regierung von Lesotho (englisch) National Assembly. Website der Nationalversammlung Lesothos, auf www.nationalassembly.parliament.ls (englisch) Website der Botschaft des Königreiches Lesotho in Deutschland (englisch) Bureau of Statistics Lesotho. Statistikbehörde von Lesotho (englisch) === Landesprofil bei Ministerien deutschsprachiger Staaten === Auswärtiges Amt (D): Lesotho. auf www.auswaertiges-amt.de. Bundesministerium für europäische und internationale Angelegenheiten (A): Länderspezifische Reiseinformation: Lesotho (Königreich Lesotho). auf www.bmeia.gv.at. Eidgenössisches Departement für auswärtige Angelegenheiten (CH): Südliches Afrika. auf www.eda.admin.ch. === Internationale Links === United Nations: United Nations Statistics Division. Lesotho. auf www.data.un.org (englisch). The World Bank: Countries. Lesotho. auf www.worldbank.org (englisch). US-Government: CIA World Fact Book. Lesotho. auf www.cia.gov (englisch). Electoral Institute for Sustainable Democracy in Africa: African Democracy Encyclopaedia Project: Lesotho. auf www.eisa.org (englisch). WHO: Lesotho. auf www.afro.who.int (englisch, französisch, portugiesisch). Welternährungsprogramm der Vereinten Nationen: Lesotho. auf www.wfp.org (englisch). UNHCR: Lesotho. auf www.unhcr.org (englisch). Minority Rights Group International: Lesotho. auf www.minorityrights.org (englisch). UNCTAD: Catalogue of Diversification Opportunities 2022. Lesotho. auf www.unctad.org (PDF, englisch). == Einzelnachweise ==
https://de.wikipedia.org/wiki/Lesotho
Johann Wolfgang von Goethe
= Johann Wolfgang von Goethe = Johann Wolfgang Goethe, ab 1782 von Goethe (* 28. August 1749 in Frankfurt am Main; † 22. März 1832 in Weimar, Großherzogtum Sachsen-Weimar-Eisenach), war ein deutscher Dichter, Politiker und Naturforscher. Er gilt als einer der bedeutendsten Schöpfer deutschsprachiger Dichtung. Goethe stammte aus einer angesehenen bürgerlichen Familie; sein Großvater mütterlicherseits war als Stadtschultheiß höchster Justizbeamter der Stadt Frankfurt, sein Vater Doktor der Rechte und Kaiserlicher Rat. Er und seine Schwester Cornelia erfuhren eine aufwendige Ausbildung durch Hauslehrer. Dem Wunsch seines Vaters folgend, studierte Goethe in Leipzig und Straßburg Rechtswissenschaft und war danach als Advokat in Wetzlar und Frankfurt tätig. Gleichzeitig folgte er seiner Neigung zur Dichtkunst. Die ersten Anerkennungen in der Welt der Literatur erzielte er 1773 mit dem Drama Götz von Berlichingen, das ihm nationalen Erfolg eintrug, und 1774 mit dem Briefroman Die Leiden des jungen Werthers, dem er sogar europäischen Erfolg verdankte. Beide Werke sind der literarischen Strömung des Sturm und Drang (1765 bis 1785) zuzuordnen. Als 26-Jähriger wurde er an den Hof von Weimar eingeladen, wo er sich schließlich für den Rest seines Lebens niederließ. Er bekleidete dort als Freund und Minister des Herzogs Carl August politische und administrative Ämter und leitete ein Vierteljahrhundert das Weimarer Hoftheater. Die amtliche Tätigkeit mit der Vernachlässigung seiner schöpferischen Fähigkeiten löste nach dem ersten Weimarer Jahrzehnt eine persönliche Krise aus, der sich Goethe durch die Flucht nach Italien entzog. Die Italienreise von September 1786 bis Mai 1788 empfand er wie eine „Wiedergeburt“. Ihr verdankte er die Vollendung wichtiger Werke wie Iphigenie auf Tauris (1787), Egmont (1788) und Torquato Tasso (1790). Nach seiner Rückkehr wurden seine Amtspflichten weitgehend auf repräsentative Aufgaben beschränkt. Der in Italien erlebte Reichtum an kulturellem Erbe stimulierte seine dichterische Produktion, und die erotischen Erlebnisse mit einer jungen Römerin ließen ihn unmittelbar nach seiner Rückkehr eine dauerhafte, „unstandesgemäße“ Liebesbeziehung zu Christiane Vulpius aufnehmen, die er erst achtzehn Jahre später mit einer Eheschließung amtlich legalisierte. Goethes literarisches Werk umfasst Lyrik, Dramen, Epik, autobiografische, kunst- und literaturtheoretische sowie naturwissenschaftliche Schriften. Daneben ist sein umfangreicher Briefwechsel von literarischer Bedeutung. Goethe war Vorbereiter und wichtigster Vertreter des Sturm und Drang. Sein Roman Die Leiden des jungen Werthers machte ihn in Europa berühmt. Selbst Napoleon bat ihn zu einer Audienz anlässlich des Erfurter Fürstenkongresses. Im Bunde mit Schiller und gemeinsam mit Herder und Wieland verkörperte er die Weimarer Klassik. Die Wilhelm-Meister-Romane wurden zu beispielgebenden Vorläufern deutschsprachiger Künstler- und Bildungsromane. Sein Drama Faust (1808) errang den Ruf als die bedeutendste Schöpfung der deutschsprachigen Literatur. Im Alter wurde er auch im Ausland als Repräsentant des geistigen Deutschlands angesehen. Im Deutschen Kaiserreich wurde er zum deutschen Nationaldichter und Künder des „deutschen Wesens“ verklärt und als solcher für den deutschen Nationalismus vereinnahmt. Es setzte damit eine Verehrung nicht nur des Werkes, sondern auch der Persönlichkeit des Dichters ein, dessen Lebensführung als vorbildlich empfunden wurde. Goethes Lyrik, der Faust und der Roman Die Leiden des jungen Werthers gehören zur Weltliteratur. == Leben == === Herkunft und Jugend === Johann Wolfgang von Goethe wurde am 28. August 1749 im Goetheschen Familienhaus (dem heutigen Goethe-Haus) am Frankfurter Großen Hirschgraben geboren und tags darauf evangelisch getauft. Sein Rufname war Wolfgang. Sein aus Thüringen stammender Großvater Friedrich Georg Göthe (1657–1730) hatte sich 1687 als Schneidermeister in Frankfurt niedergelassen und die Schreibweise des Familiennamens geändert. Später bot sich ihm die Gelegenheit, in ein florierendes Gasthaus- und Herbergsgeschäft einzuheiraten. Als Gastwirt und Weinhändler war er zu einem ansehnlichen Vermögen gekommen, das er in Gestalt von Immobilien, Hypothekarkrediten und mehreren Säcken voller Geld seinen beiden Söhnen aus erster Ehe und dem jüngsten Sohn Johann Caspar Goethe (1710–1782), Johann Wolfgang Goethes Vater, hinterließ. Goethes Vater hatte zwar an der Leipziger Universität den Doktorgrad der Jurisprudenz erworben, übte aber keinen juristischen Beruf aus. Mit dem Ehrentitel „Kaiserlicher Rat“ stieg er in die Frankfurter Oberschicht auf. Als Rentier lebte er von den Erträgen seines ererbten Vermögens, das später auch dem Sohn Leben und Studium ohne finanzielle Zwänge ermöglichen sollte. Er war vielseitig interessiert und gebildet, jedoch auch streng und pedantisch, was wiederholt zu Konflikten in der Familie führte. Goethes Mutter, Catharina Elisabeth Goethe, geb. Textor (1731–1808), entstammte einer wohlhabenden und angesehenen Frankfurter Familie; ihr Vater Johann Wolfgang Textor war als Stadtschultheiß der ranghöchste Justizbeamte der Stadt. Die lebenslustige und kontaktfreudige Frau hatte mit 17 Jahren den damals 38-jährigen Rat Goethe geheiratet. Nach Johann Wolfgang wurden noch fünf weitere Kinder geboren, von denen jedoch nur die wenig jüngere Schwester Cornelia das Kindesalter überlebte. Mit ihr stand der Bruder in einem engen Vertrauensverhältnis, das nach Ansicht des Biographen Nicholas Boyle und des Psychoanalytikers Kurt R. Eissler inzestuöse Gefühle einschloss. Ihren Sohn nannte die Mutter ihren „Hätschelhans“. Die Geschwister erhielten eine aufwändige Ausbildung. Von 1756 bis 1758 besuchte Johann Wolfgang eine öffentliche Schule. Danach wurden er und seine Schwester gemeinsam vom Vater sowie von insgesamt acht Hauslehrern unterrichtet. Goethe erlernte Latein, Griechisch und Hebräisch als klassische Bildungssprachen sowie die lebenden Sprachen Französisch, Italienisch, Englisch und das „Judendeutsch“, das „in der Frankfurter Judengasse lebendige Gegenwart war“. Diese lebenden Sprachen wurden von muttersprachlichen Lehrern unterrichtet. Auf dem Stundenplan standen außerdem naturwissenschaftliche Fächer, Religion und Zeichnen. Überdies lernte er Klavier- und Cellospielen, Reiten, Fechten und Tanzen.Schon früh kam der Junge in Kontakt mit Literatur. Das begann mit den Gutenachtgeschichten der Mutter und mit der Bibellektüre in der frommen, lutherisch-protestantischen Familie. Zu Weihnachten 1753 bekam er von der Großmutter ein Puppentheater geschenkt. Das für diese Bühne vorgesehene Theaterstück lernte er auswendig und führte es immer wieder mit Begeisterung gemeinsam mit Freunden auf. Erste Ansätze seiner literarischen Phantasie bewies der kleine Goethe auch mit seinen (nach eigener Aussage) „aufschneiderischen Anfängen“, wunderliche Märchen zu erfinden und seinen staunenden Freunden in der Ich-Form zur spannenden Unterhaltung aufzutischen. Gelesen wurde viel im Hause Goethe; der Vater besaß eine Bibliothek von rund 2000 Bänden. So lernte Goethe schon als Kind unter anderem das Volksbuch vom Dr. Faust kennen. Im Zuge des Siebenjährigen Krieges war von 1759 bis 1761 der französische Stadtkommandant Graf Thoranc im Elternhaus einquartiert. Ihm und der mitgereisten Schauspieltruppe verdankte Goethe seine erste Begegnung mit der französischen Dramenliteratur. Angeregt durch die vielen erlernten Sprachen, begann er als Zwölfjähriger einen mehrsprachigen Roman, in dem in buntem Durcheinander alle Sprachen zur Geltung kamen.Seinen Biographen Nicholas Boyle und Rüdiger Safranski zufolge war Goethe zwar ein hochbegabtes Kind, aber kein Wunderkind wie etwa Mozart. Er lernte schnell Sprachen und besaß eine „ganz unkindliche Gewandheit im Verfassen von Versen“. Er war „lebhaft, von überschäumendem Temperament und eigensinnig, aber ohne Tiefgang“. === Studium und frühe Dichtung === ==== Leipzig (1765–1768) ==== Auf Weisung des Vaters begann Goethe im Herbst 1765 ein Jurastudium an der traditionsreichen Universität Leipzig. Im Gegensatz zum eher altfränkischen Frankfurt, das damals noch keine eigene Universität hatte, war Leipzig eine elegante, weltoffene Stadt, die den Spitznamen Klein-Paris trug. Goethe wurde wie jemand behandelt, der aus der Provinz kam, und musste sich zunächst in Kleidung und Umgangsformen anpassen, um von seinen neuen Mitbürgern akzeptiert zu werden. Von seinem Vater mit einem monatlichen Wechsel von 100 Gulden versorgt, verfügte er über doppelt so viel Geld, wie ein Student selbst an den teuersten Universitäten damals benötigte.Goethe wohnte in Leipzig in einem Hofgebäude des Hauses Große Feuerkugel am Neumarkt. Da während der Messe die Studenten ihre Unterkunft für die Händler frei machten, zog Goethe zur Messezeit auf ein Bauerngut in Reudnitz, einem Dorf östlich von Leipzig.Obwohl ihn sein Vater der Obhut des Professors für Geschichte und Staatsrecht, Johann Gottlob Böhme, anvertraut hatte und dieser Goethe den gewünschten Wechsel des Studienfachs untersagte, begann er das Pflichtstudium schon bald zu vernachlässigen. Er gab dem Besuch der Poetikvorlesungen von Christian Fürchtegott Gellert den Vorzug, dem die Studenten ihre schriftstellerischen Versuche vorlegen konnten. Da Gellert Verse ungern annahm, reichte er Goethes poetische Versuche (unter anderem ein Hochzeitsgedicht auf den Onkel Textor) gleich an seinen Stellvertreter weiter, der davon wenig hielt. Der Maler Adam Friedrich Oeser, bei dem Goethe den Frankfurter Zeichenunterricht fortsetzte, machte ihn mit dem an der Antike orientierten Kunstideal seines Schülers Johann Joachim Winckelmann bekannt. Oeser – als Gründungsdirektor der im Jahre 1764 ins Leben gerufenen Leipziger Kunstakademie – förderte Goethes Kunstverständnis und künstlerisches Urteilsvermögen. In einem Dankesbrief aus Frankfurt schrieb Goethe ihm, er habe bei ihm mehr gelernt als in all den Jahren an der Universität. Auf Oesers Empfehlung besuchte er im März 1768 Dresden und die Gemäldegalerie. Goethe schloss mit Oesers Tochter Friederike Elisabeth (1748–1829) im Jahre 1765 eine Freundschaft, die sich auch nach seinen Leipziger Jahren noch eine Weile im Briefwechsel erhielt. Oeser blieb auch selbst mit Goethe bis zu dessen Aufbruch nach Straßburg durch Briefe in engerem Kontakt. Ihre Verbindung hat bis zum Tode von Oeser angehalten. Beim Kupferstecher Johann Michael Stock im Silbernenen Bären erlernte Goethe in seiner Leipziger Studentenzeit die Techniken des Holzschnitts und der Radierung. Fern dem Elternhaus genoss der 16- und 17-Jährige in Leipzig größere Freiheiten: Er besuchte Theateraufführungen, verbrachte die Abende mit Freunden, oder es wurden Ausflüge in die Umgebung unternommen. In die Leipziger Zeit fiel Goethes „erstes ernsthaftes Liebesverhältnis“. Die Romanze mit der Handwerker- und Gastwirtstochter Käthchen Schönkopf wurde nach zwei Jahren im gegenseitigen Einvernehmen wieder gelöst. Die Gefühlsaufwallungen dieser Jahre beeinflussten Goethes Schreibstil; hatte er zuvor schon Gedichte im regelgerechten Stil des Rokoko verfasst, so wurde ihr Tonfall nun freier und stürmischer. Eine Sammlung von 19 anakreontischen Gedichten, abgeschrieben und illustriert von seinem Freund Ernst Wolfgang Behrisch, ergab das Buch Annette. Eine weitere kleine Gedichtsammlung wurde 1769 unter dem Titel Neue Lieder als erstes von Goethes Werken gedruckt. In ihren jugendlichen Anfängen ist Goethes Dichtung, Nicholas Boyle zufolge, „kompromißlos erotisch“ und befasst sich „ganz direkt mit der machtvollsten Quelle des individuellen Wollens und Fühlens“.Im Juli 1768 erlitt Goethe einen schweren Blutsturz als Folge einer tuberkulösen Erkrankung und wurde vom Leipziger Arzt Georg Christian Reichel (1727–1771) erfolgreich behandelt. Wieder halbwegs reisefähig, kehrte er im August – zur Enttäuschung seines Vaters ohne akademischen Abschluss – ins Frankfurter Elternhaus zurück. ==== Frankfurt und Straßburg (1768–1771) ==== Die lebensbedrohliche Erkrankung erforderte eine lange Rekonvaleszenz und machte ihn empfänglich für die Vorstellungen des Pietismus, die eine Freundin der Mutter, die Herrnhuterin Susanne von Klettenberg, ihm nahebrachte. In dieser Zeit fand er in seinem Erwachsenenleben vorübergehend den engsten Kontakt zum Christentum. Er beschäftigte sich außerdem mit mystischen und alchemistischen Schriften, einer Lektüre, auf die er später im Faust zurückgreifen sollte. Unabhängig davon verfasste er in dieser Zeit sein erstes Lustspiel Die Mitschuldigen. Im April 1770 setzte Goethe sein Studium an der Universität Straßburg fort. Straßburg war mit 43.000 Einwohnern größer als Frankfurt und im Westfälischen Frieden dem französischen Königreich zugesprochen worden. Der Unterricht an der Universität erfolgte großenteils noch in deutscher Sprache. Diesmal widmete sich Goethe zielstrebiger den juristischen Studien, fand aber auch Zeit, als Gasthörer 1770/1771 die Vorlesungen über Chemie und Botanik von Jacob Reinbold Spielmann zu besuchen. In Straßburg knüpfte er eine ganze Reihe persönlicher Bekanntschaften. Die wichtigste davon war die mit dem Theologen, Kunst- und Literaturtheoretiker Johann Gottfried Herder. Goethe nennt es das „bedeutendste Ereignis“ der Straßburger Zeit. Der Ältere öffnete ihm bei den fast täglichen Besuchen die Augen für die ursprüngliche Sprachgewalt von Autoren wie Homer, Shakespeare und Ossian sowie der Volkspoesie und gab so entscheidende Impulse für Goethes dichterische Entwicklung. Später sollte er auf Goethes Fürsprache hin in weimarische Dienste berufen werden. Zu seinem Freundes- und Bekanntenkreis, der sich meist beim gemeinsamen Mittagstisch traf, gehörten auch der spätere Augenarzt und pietistisch geprägte Schriftsteller Jung-Stilling und der Theologe und Schriftsteller Jakob Michael Reinhold Lenz. Obwohl von religiös orientierten Freunden umgeben, wandte er sich in Straßburg endgültig vom Pietismus ab.Durch einen Studienfreund wurde er in die Familie des Pfarrers Brion in Sessenheim (Goethe schreibt Sesenheim) eingeführt. Er lernte dabei die Pfarrerstochter Friederike Brion kennen und lieben. Mit dem Abgang von der Straßburger Universität beendete der bindungsscheue junge Goethe die Beziehung, was für Friederike freilich erst durch einen Brief Goethes aus Frankfurt ersichtlich wurde. Wie Nicholas Boyle diese Episode deutet, musste sich Friederike schwerwiegend kompromittiert fühlen, da Goethe durch sein Verhalten ihr gegenüber als ihr Verlobter gelten konnte. Erschüttert und schuldbewusst nahm Goethe die Nachricht über ihren gesundheitlichen Zusammenbruch auf, die er ihrem späteren Antwortbrief entnahm. Die an Friederike gerichteten Gedichte, die später als Sesenheimer Lieder bekannt wurden (u. a. Willkommen und Abschied, Mailied, Heidenröslein), sind nach Karl Otto Conrady mit dem Etikett „Erlebnislyrik“ falsch benannt. Die äußere Form der Lyrik biete nichts Neues und auch der sprachliche Ausdruck gehe allenfalls in Nuancen über die gewohnte Gedichtsprache hinaus. Gleichwohl trage das Ich in ihnen individuelle Züge und lehne sich nicht an „vorgegebene Muster schäferlicher Typen“ an, vielmehr erschienen „sprechendes Ich, Geliebte, Liebe und Natur in einer bisher nicht gekannten sprachlichen Intensität“.Im Sommer 1771 reichte Goethe seine (nicht erhaltene) juristische Dissertation ein, die das Verhältnis zwischen Staat und Kirche zum Thema hatte. Die Straßburger Theologen empfanden sie als skandalös; einer von ihnen bezeichnete Goethe als „wahnsinnigen Religionsverächter“. Der Dekan der Fakultät empfahl Goethe, die Dissertation zurückzuziehen. Die Universität bot ihm jedoch die Möglichkeit, das Lizenziat zu erwerben. Für diesen niedrigeren Abschluss brauchte er nur einige Thesen aufzustellen und zu verteidigen. Grundlage der Disputation am 6. August 1771, die er „cum applausu“ bestand, waren 56 Thesen in lateinischer Sprache unter dem Titel Positiones Juris. In der vorletzten These sprach er die Streitfrage an, ob eine Kindsmörderin der Todesstrafe zu unterwerfen sei. Das Thema griff er später in künstlerischer Form in der Gretchentragödie auf. === Advokat und Dichter in Frankfurt und Wetzlar (1771–1775) === Zurück in Frankfurt, eröffnete Goethe eine kleine Anwaltskanzlei, die vornehmlich seinem Vater als „bloße Durchgangsstation“ zu höheren Ämtern (etwa Schultheiß wie der Großvater) galt. Die Advokatur betrieb er mit bald nachlassendem Interesse und geringem Arbeitseifer vier Jahre lang bis zur Abreise nach Weimar. Wichtiger als der Anwaltsberuf war Goethe die Dichtung. Ende 1771 brachte er – innerhalb von sechs Wochen – die Geschichte Gottfriedens von Berlichingen mit der eisernen Hand zu Papier. Nach einer Überarbeitung wurde das Drama 1773 als Götz von Berlichingen im Selbstverlag veröffentlicht. Das mit allen überlieferten dramatischen Regeln brechende Werk fand begeisterte Aufnahme und gilt als ein Gründungsdokument des Sturm und Drang. Das der Epoche namengebende Drama Sturm und Drang stammte von Friedrich Maximilian Klinger, der zum Freundeskreis aus Goethes Jugendtagen gehörte. Im Januar 1772 erlebte Goethe in Frankfurt die „düstere Zeremonie“ der öffentlichen Hinrichtung der Kindsmörderin Susanna Margaretha Brandt durch das Schwert. Sie bildete nach Rüdiger Safranski den persönlichen Hintergrund für die „Gretchen-Tragödie“ im Faust, an dem Goethe Anfang der 1770er Jahre zu arbeiten begonnen hatte. Seine Schwester Cornelia heiratete 1773 den Advokaten Johann Georg Schlosser, Goethes zehn Jahre älteren Freund, der als Anwalt an dem Prozess gegen die Kindsmörderin mitgewirkt hatte. 1783 plädierte Goethe später im parallel gelagerten Falle der Kindsmörderin Johanna Höhn auf Nachfrage des Herzogs Carl August von Weimar, der ihre Todesstrafe zu lebenslänglicher Haft umwandeln wollte, mit seiner ausschlaggebenden Stimme im Geheimen Consilium für die Beibehaltung der Todesstrafe, wonach Höhn am 28. November 1783 mit dem Schwert enthauptet wurde.Häufige Besuche stattete er in diesen Jahren dem Darmstädter Kreis der Empfindsamen um Johann Heinrich Merck ab, wobei er 25 Kilometer lange Wanderungen von Frankfurt nach Darmstadt auf sich nahm. Auf Mercks Urteil legte Goethe großen Wert; in seiner Autobiographie bescheinigte er ihm, dass er „den größten Einfluß“ auf sein Leben gehabt habe. Seiner Einladung folgend, schrieb Goethe Rezensionen für die von Merck und Schlosser geleitete Zeitschrift Frankfurter gelehrte Anzeigen.Zwischen den beiden Niederschriften des Götz hatte sich Goethe im Mai 1772, wiederum auf Drängen des Vaters, als Praktikant beim Reichskammergericht in Wetzlar eingeschrieben. Sein dortiger Kollege Johann Christian Kestner beschrieb später den damaligen Goethe: Wieder schenkte Goethe den juristischen Studien wenig Aufmerksamkeit. Stattdessen befasste er sich mit den antiken Autoren. Auf einem ländlichen Tanzvergnügen lernte er Kestners Verlobte, Charlotte Buff, kennen, in die er sich verliebte. Goethe wurde regelmäßiger und willkommener Gast im Haus der Familie Buff. Nachdem ihm Charlotte erklärt hatte, dass er auf nichts als ihre Freundschaft hoffen dürfe und Goethe die Hoffnungslosigkeit seiner Lage erkannt hatte, flüchtete er aus Wetzlar.Anderthalb Jahre später verarbeitete er diese Erfahrung sowie weitere eigene und fremde Erlebnisse in dem Briefroman Die Leiden des jungen Werthers, den er Anfang 1774 innerhalb von nur vier Wochen niederschrieb. Das hochemotionale Werk, das sowohl dem „Sturm und Drang“ wie der gleichzeitigen literarischen Strömung der „Empfindsamkeit“ zugerechnet wird, machte seinen Autor binnen kurzem in ganz Europa berühmt. Goethe selbst erklärte den ungeheuren Erfolg des Buches und das von ihm ausgelöste „Wertherfieber“ später damit, dass es genau die Bedürfnisse der damaligen Zeit getroffen habe. Der Dichter selbst rettete sich mit der schöpferischen Arbeit am Werther aus einer eigenen krisenhaften Lebenssituation: „Ich fühlte mich, wie nach einer Generalbeichte, wieder froh und frei, und zu einem neuen Leben berechtigt.“ Gleichwohl hielt er danach ein herzliches Verhältnis zu Kestner und Lotte durch Briefwechsel aufrecht.Bei der Rückkehr aus Wetzlar empfing ihn der Vater mit Vorwürfen, weil der dortige Aufenthalt dem beruflichen Fortkommen des Sohnes nicht dienlich gewesen war. Die folgenden Frankfurter Jahre bis zur Abreise nach Weimar zählten zu den produktivsten in Goethes Leben. Außer dem Werther entstanden die großen Hymnen (unter anderem Wandrers Sturmlied, Ganymed, Prometheus und Mahomets Gesang), mehrere Kurzdramen (unter anderem Das Jahrmarktsfest zu Plundersweilern und Götter, Helden und Wieland) sowie die Dramen Clavigo und Stella. Ein Schauspiel für Liebende. Auch griff Goethe in dieser Zeit zum ersten Mal den Fauststoff auf. Zu Ostern 1775 verlobte Goethe sich mit der Frankfurter Bankierstochter Lili Schönemann. Gegenüber Eckermann äußerte er sich gegen Ende seines Lebens, sie sei die erste gewesen, die er „tief und wahrhaft liebte“. Zum ersten Mal bot ihm Lili, wie Nicholas Boyle schreibt, „die ganz reale Möglichkeit der Ehe“, aber vor einer solchen Bindung schreckte der junge Dichter zurück. Eine Ehe war mit seinen Lebensplänen nicht vereinbar. Als weitere Hemmnisse kamen die unterschiedlichen Milieus und Konfessionen der Eltern hinzu. Um Abstand zu gewinnen, folgte er einer Einladung der Brüder Christian und Friedrich Leopold zu Stolberg-Stolberg zu einer mehrmonatigen Reise durch die Schweiz. In Zürich war er bei Lavater, an dessen Physiognomischen Fragmenten Goethe mitwirkte, zu Gast und machte die Bekanntschaft von Barbara Schultheß aus Lavaters Freundeskreis. Daraus entstand eine lebenslange Freundschaft; Goethe nannte sie seine „treueste Leserin“. Sie erhielt in Abständen die fertigen Bücher des entstehenden Wilhelm Meister–Romans, die sie mit Hilfe ihrer Tochter abschrieb. Einer ihrer Abschriften ist es zu verdanken, dass der Nachwelt die 1909 entdeckte und 1910 gedruckte Urfassung des Romans, Wilhelm Meisters theatralische Sendung, überliefert wurde.Im Oktober 1775 wurde die Verlobung durch Lilis Mutter mit der Erklärung aufgelöst, dass sich eine Heirat wegen der Verschiedenheit der Religionen nicht schicke. Goethe, der unter der Trennung sehr litt, nahm in dieser Situation eine Einladung des 18-jährigen Herzogs Carl August zu einer Reise nach Weimar an. === Minister in Weimar (ab 1775) === Im November 1775 erreichte Goethe Weimar. Die Hauptstadt des Herzogtums Sachsen-Weimar-Eisenach zählte nur rund 6000 Einwohner (das Herzogtum rund 100.000), durch die Anstrengungen der Herzoginmutter Anna Amalia entwickelte es sich dennoch zu einem kulturellen Zentrum. Zu der Zeit, als Goethe ohne Zweckbestimmung nach Weimar eingeladen wurde, war er bereits ein europaweit berühmter Autor. Er gewann schnell das Vertrauen des acht Jahre jüngeren, im aufgeklärten Geist erzogenen Herzogs Carl August, der seinen Großonkel Friedrich II. wegen seiner Freundschaft mit Voltaire bewunderte. Wie dieser wollte er sich „einen großen Geist zur Seite stellen“. Der Herzog tat alles, um Goethe in Weimar zu halten; er machte ihm großzügige Geschenke, u. a. das Gartenhaus im Park an der Ilm. Als der Herzog ihm vorschlug, bei der Leitung des Staates mitzuwirken, nahm Goethe nach einigem Zögern an. Dabei bestimmte ihn das Bedürfnis nach praktisch-wirksamer Tätigkeit. Einer Freundin aus Frankfurt schrieb er: „Ich werd […] wohl dableiben […]. Wär’s auch nur auf ein paar Jahre, ist doch immer besser als das untätige Leben zu Hause wo ich mit der grössten Lust nichts thun kann. Hier hab ich doch ein paar Herzogthümer vor mir.“ ==== Im Staatsdienst ==== Goethe wurde am 11. Juni 1776 Geheimer Legationsrat und Mitglied des Geheimen Consiliums, des dreiköpfigen Beratergremiums des Herzogs, mit einem Jahresgehalt von 1200 Talern. Nominell gehörte Goethe dem Geheimen Consilium bis zu dessen Auflösung im Jahr 1815 an. Er schrieb am 14. Mai 1780 an Kestner über sein literarisches Schaffen während des Staatsdienstes, dass er seine Schriftstellerei zurückstelle, sich aber „doch erlaube […] nach dem Beispiel des großen Königs, der täglich einige Stunden auf die Flöte wandte, auch manchmal eine Übung in dem Talente, das mir eigen ist.“Von ehemaligen Freunden aus der Sturm-und-Drang-Periode, wie Lenz und Klinger, die ihn 1776 in Weimar besuchten, sich längere Zeit dort aufhielten und von Goethe finanziell unterstützt wurden, wandte er sich schließlich schroff ab. Lenz ließ er, nach einer bis heute ungeklärten Beleidigung, gar aus dem Herzogtum ausweisen.Goethes Beamtentätigkeit erstreckte sich ab dem Jahre 1777 auf die Erneuerung des Ilmenauer Bergbaus und ab 1779 auf den Vorsitz zweier ständiger Kommissionen, der Wegebaukommission und der Kriegskommission, mit der Zuständigkeit für die Aushebung der Rekruten für die Weimarer Armee. Sein Hauptanliegen war es, durch Einschränkung der öffentlichen Ausgaben bei gleichzeitiger Förderung der Wirtschaft den hochverschuldeten Staatshaushalt zu sanieren. Dies gelang zumindest teilweise, beispielsweise führte die Halbierung der „Streitkräfte“ zu Einsparungen. Schwierigkeiten und die Erfolglosigkeit seiner Bemühungen im Staatsdienst bei gleichzeitiger Arbeitsüberlastung führten in die Resignation. Goethe notierte 1779 im Tagebuch: „Es weis kein Mensch was ich thue und mit wieviel Feinden ich kämpfe um das wenige hervorzubringen.“ Durch Reisen mit dem Herzog machte sich Goethe mit Land und Leuten vertraut. Seine Tätigkeiten führten ihn unter anderem nach Apolda, dessen Not er beschreibt, wie auch in andere Gebiete des Herzogtums. Zumeist im Rahmen dienstlicher Pflichten unternahm Goethe in seinem ersten Weimarer Jahrzehnt mehrere Reisen über die Landesgrenzen hinaus, darunter im Frühjahr 1778 eine Reise nach Dessau und Berlin, von September 1779 bis Januar 1780 in die Schweiz sowie mehrmals in den Harz (1777, 1783 und 1784). Am 5. September 1779 wurde er zum Geheimen Rat befördert. Hofrat Johann Joachim Christoph Bode, der nach Weimar gekommen war, weckte Goethes Interesse an der Weimarer Freimaurerloge „Amalia“. Während seiner zweiten Schweizreise unternahm Goethe erste Bemühungen, aufgenommen zu werden; am 23. Juni 1780 trat er der Loge bei. Rasch absolvierte er die üblichen Grade und wurde 1781 zum Gesellen befördert und 1782, zugleich mit Carl August, zum Meister erhoben. Goethe reiste am 7. Oktober 1781 nach Gotha, um Friedrich Melchior Grimm, den deutsch-französischen Autor, Diplomaten und Freund von Denis Diderot und anderen Enzyklopädisten, persönlich zu treffen. Grimm hatte Goethe bereits am 8. Oktober 1777 auf der Wartburg besucht.Goethes Tätigkeiten in Ilmenau und seine Bekämpfung der Korruption dort veranlassten den Herzog, ihm am 11. Juni 1782 die Aufgabe zu erteilen, sich mit der Direktion der Kammergeschäfte, also der Staatsfinanzen, vertraut zu machen, ohne ihm jedoch die Amtsbezeichnung des am 6. Juni 1782 entlassenen Kammerpräsidenten Johann August Alexander von Kalb zu übertragen. Er sollte an den Sitzungen des Kammerkollegiums teilnehmen und über alle außerordentlichen Geschäftsvorfälle unterrichtet werden. Im selben Jahre wurde er zur Aufsichtsperson der Universität Jena ernannt. Auf Antrag des Herzogs erhielt er am 3. Juni 1782 von Kaiser Joseph II. das Adelsdiplom. Die Nobilitierung sollte ihm sein Wirken am Hof und in Staatsgeschäften erleichtern. Später, 1827, meinte Goethe gegenüber Johann Peter Eckermann zu seiner Nobilitierung: „Als man mir das Adelsdiplom gab, glaubten viele, wie ich mich dadurch möchte erhoben fühlen. Allein, unter uns, es war mir nichts, gar nichts! Wir Frankfurter Patrizier hielten uns immer dem Adel gleich, und als ich das Diplom in Händen hielt, hatte ich in meinen Gedanken eben nichts weiter, als was ich längst besessen.“ Damit erhob sich Goethes Selbstwertgefühl allerdings ein wenig über die Realität, denn keiner seiner beiden Großväter besaß von Geburt her das Frankfurter Bürgerrecht, geschweige denn die Zugehörigkeit zum Frankfurter Patriziat; Johann Wolfgang Textor war allerdings bis zum Älteren Bürgermeister aufgestiegen und soll eine Nobilitierung abgelehnt haben. Die Immediatkommissionen zwischen 1776 und 1783 waren Goethes Hauptinstrument zur Durchsetzung von Reformvorhaben, da das „erstarrte“ Behördensystem dazu nicht in der Lage war. Die Reformbemühungen Goethes wurden in den achtziger Jahren durch die Aristokratie im Herzogtum behindert. Goethes Initiative zur Wiederbelebung des Kupfer- und Silberbergbaus in Ilmenau erwies sich als wenig erfolgreich, weshalb er 1812 schließlich ganz eingestellt wurde.Mit knapp 33 Jahren hatte Goethe den Gipfel des Erfolgs erklommen. Nach dem Herzog war er der mächtigste Mann in Weimar. Wegen seiner Arbeit für den Herzog wurde er als „Fürstendiener“ und „Despotendichter“ kritisiert.Goethes Wirken im Consilium wird in der Literatur unterschiedlich beurteilt. Einigen Autoren gilt er als aufklärerischer Reformpolitiker, der sich unter anderem um die Befreiung der Bauern von drückenden Fron- und Abgabenlasten bemühte; andere stellen heraus, dass er in amtlicher Funktion sowohl die Zwangsrekrutierung von Landeskindern für die preußische Armee als auch Maßnahmen zur Einschränkung der Redefreiheit befürwortete. 1783 votierte er für die Hinrichtung der ledigen Mutter Johanna Catharina Höhn, die ihr Neugeborenes aus Verzweiflung getötet hatte – im Gegensatz zu der verständnis- und mitleidsvollen Haltung, die er später in der Gretchentragödie zum Ausdruck brachte.1784 konnte Goethe die weimarischen, jenaischen und eisenachischen Landstände zur Übernahme der Staatsschulden in Höhe von 130.000 Talern bewegen, indem er ihre jährlichen Bewilligungen für den Militäretat von 63.400 Talern auf 30.000 Taler senkte.Am 13. September 1804 wurde Goethe schließlich Wirklicher Geheimer Rat mit dem Ehrenprädikat Excellenz. ==== Dichtung und Naturstudium ==== In seinem ersten Weimarer Jahrzehnt veröffentlichte Goethe außer einigen in Zeitschriften verstreuten Gedichten nichts. Die tägliche Arbeit ließ ihm für ernsthafte dichterische Tätigkeit wenig Zeit, zumal er auch für die Gestaltung von Hoffesten und die Belieferung des höfischen Liebhabertheaters mit Singspielen und Theaterstücken zuständig war. Zu diesen Gelegenheitsproduktionen, die er oft als eine lästige Pflicht ansah, gehört eine Neufassung des Jahrmarktsfests zu Plundersweilern. Von anspruchsvollen Arbeiten dieser Zeit wurde nur eine erste Prosafassung der Iphigenie auf Tauris fertig; begonnen wurden außerdem Egmont, Tasso und Wilhelm Meister. Ferner entstanden einige der bekanntesten Gedichte Goethes; neben den Liebesgedichten für Charlotte von Stein (beispielsweise. Warum gabst du uns die tiefen Blicke) waren dies unter anderem der Erlkönig, Wandrers Nachtlied, Gränzen der Menschheit (1780) und Das Göttliche. Um 1780 begann Goethe, sich systematisch mit naturwissenschaftlichen Fragen auseinanderzusetzen. Er führte dies später auf seine amtliche Beschäftigung mit Fragen des Berg- und Ackerbaus, der Holzwirtschaft usw. zurück. Sein Hauptinteresse galt zunächst der Geologie und der Mineralogie, der Botanik und der Osteologie. Auf diesem Gebiet gelang ihm 1784 die vermeintliche Entdeckung (weil kaum bekannt, in Wirklichkeit nur eine Selbstentdeckung) des Zwischenkieferknochens beim Menschen. Im gleichen Jahr schrieb er seinen Aufsatz Über den Granit und plante ein Buch mit dem Titel Roman der Erde. ==== Beziehung zu Charlotte von Stein ==== Die wichtigste und prägendste Beziehung Goethes während dieses Weimarer Jahrzehnts war die zu der Hofdame Charlotte von Stein (1742–1827). Die sieben Jahre Ältere war mit dem Landedelmann Baron Josias von Stein verheiratet, dem Oberstallmeister am Hofe. Sie hatte sieben Kinder mit ihm, von denen noch drei lebten, als Goethe sie kennenlernte. Die 1770 Briefe, Billette, „Zettelgen“ und die zahlreichen Gedichte, die Goethe an sie richtete, sind die Dokumente einer außergewöhnlich innigen Beziehung (Frau von Steins Briefe sind nicht erhalten). Es wird darin deutlich, dass die Geliebte den Dichter als „Erzieherin“ förderte. Sie brachte ihm höfische Umgangsformen bei, besänftigte seine innere Unruhe und stärkte seine Selbstdisziplin. Die Frage, ob es sich auch um ein sexuelles Verhältnis oder um eine reine „Seelenfreundschaft“ handelte, lässt sich nicht mit Sicherheit beantworten. Die Mehrzahl der Autoren geht davon aus, dass Charlotte von Stein sich dem körperlichen Verlangen des Geliebten verweigerte. In einem Brief aus Rom schrieb er, dass der „Gedanke, dich nicht zu besitzen mich […] aufreibt und aufzehrt“.Häufig wird die These des Psychoanalytikers Kurt Eissler vertreten, wonach Goethe seinen ersten Geschlechtsverkehr als 39-Jähriger in Rom hatte. Auch sein Biograph Nicholas Boyle sieht in der römischen Episode mit „Faustina“ den ersten sexuellen Kontakt, der dokumentarisch belegt ist.Goethes heimliche Abreise nach Italien 1786 erschütterte das Verhältnis, und nach der Rückkehr kam es zum endgültigen Bruch wegen der von Goethe aufgenommenen festen Liebesbeziehung mit Christiane Vulpius, seiner späteren Ehefrau, die ihm die tief verletzte Frau von Stein nicht verzieh. Sie, deren ganzes Leben und Selbstverständnis auf der Verleugnung der Sinnlichkeit gründete, sah in der Verbindung einen Treuebruch Goethes. Sie forderte ihre Briefe an ihn zurück. Christiane nannte sie nur „das Kreatürchen“ und meinte, Goethe habe zwei Naturen, eine sinnliche und eine geistige. Erst im Alter fanden beide erneut zu einer freundschaftlichen Beziehung, ohne dass sich der herzliche Umgang von einst wiederherstellte. Goethes kleiner Sohn August, der manche Botengänge zwischen dem Goetheschen und dem von Steinschen Haus erledigte und den Charlotte ins Herz geschlossen hatte, gab den Anstoß für eine stockende Wiederaufnahme ihres Briefwechsels ab 1794, der allerdings fortan per „Sie“ geführt wurde. === Reise nach Italien (1786–1788) === Mitte der 1780er Jahre, auf dem Gipfel seiner Amtskarriere, geriet Goethe in eine Krise. Seine amtlichen Tätigkeiten blieben ohne Erfolgserlebnisse, die Belastungen seiner Ämter und die Zwänge des Hoflebens wurden ihm lästig, die Beziehung zu Charlotte von Stein gestaltete sich zunehmend unbefriedigend. Als ihm der Verleger Göschen 1786 das Angebot einer Gesamtausgabe machte, wurde ihm schockartig klar, dass von ihm in den letzten zehn Jahren nichts Neues erschienen war. Im Blick auf seine dichterischen Fragmente (Faust, Egmont, Wilhelm Meister, Tasso) verstärkten sich die Selbstzweifel an seiner Doppelexistenz als Künstler und Amtsmensch. Im Schauspiel Torquato Tasso fand Goethe den adäquaten Stoff, um seine widersprüchliche Existenz am Hofe zu gestalten. Er legte sie in zwei Figuren auseinander, Tasso und Antonio, zwischen denen es keine Versöhnung gibt. Während er dem poetischen Ausgleich misstraute, versuchte er noch in der Realität beide Aspekte im Gleichgewicht zu halten.Aber nach der ernüchternden Erfahrung seiner dichterischen Stagnation im ersten Weimarer Jahrzehnt entzog er sich dem Hof durch eine für seine Umgebung unerwartete Bildungsreise nach Italien. Am 3. September 1786 brach er ohne Abschied von einer Kur in Karlsbad auf. Nur sein Sekretär und vertrauter Diener Philipp Seidel war eingeweiht. Den Herzog hatte er nach dem letzten persönlichen Zusammensein in Karlsbad schriftlich um unbefristeten Urlaub gebeten. Am Vortag seiner Abreise kündigte er ihm seine bevorstehende Abwesenheit an, ohne sein Reiseziel zu verraten. Die geheime Abreise mit unbekanntem Ziel war wohl Teil einer Strategie, die es Goethe ermöglichen sollte, seine Ämter niederzulegen, das Gehalt jedoch weiter zu beziehen. Der europaweit berühmte Autor des Werther reiste inkognito unter dem Namen Johann Philipp Möller, um sich ungezwungen in der Öffentlichkeit bewegen zu können. Nach Zwischenaufenthalten in Verona, Vicenza und Venedig erreichte Goethe im November Rom. Dort hielt er sich zunächst bis Februar 1787 auf (erster Romaufenthalt). Nach einer viermonatigen Reise nach Neapel und Sizilien kehrte er im Juni 1787 nach Rom zurück, wo er bis Ende April 1788 verweilte (zweiter Romaufenthalt). Auf der Rückreise machte er Zwischenstationen u. a. in Siena, Florenz, Parma und Mailand. Zwei Monate später, am 18. Juni 1788, war er wieder in Weimar. In Rom wohnte Goethe bei dem deutschen Maler Wilhelm Tischbein, der das wohl bekannteste Porträt des Dichters (Goethe in der Campagna) malte. In regem Austausch stand er auch mit anderen Mitgliedern der deutschen Künstlerkolonie in Rom, darunter Angelika Kauffmann, die ihn ebenfalls porträtierte, mit Jakob Philipp Hackert, Friedrich Bury, und mit dem Schweizer Maler Johann Heinrich Meyer, der ihm später nach Weimar folgen und dort unter anderem sein künstlerischer Berater werden sollte. In freundschaftlicher Verbindung stand er auch mit dem Schriftsteller Karl Philipp Moritz; im Gespräch mit ihm bildeten sich die kunsttheoretischen Anschauungen aus, die für Goethes „klassische“ Auffassung von der Kunst grundlegend werden sollten und von Moritz in seiner Schrift Über die bildende Nachahmung des Schönen niedergelegt wurden. Goethe lernte in Italien die Bau- und Kunstwerke der Antike und der Renaissance kennen und bewundern; seine besondere Verehrung galt Raffael und dem Architekten Andrea Palladio. An dessen Bauten hatte er in Vicenza mit Begeisterung wahrgenommen, dass sie die Formen der Antike zu neuem Leben erweckten. Unter Anleitung seiner Künstlerfreunde übte er sich mit großem Ehrgeiz im Zeichnen; etwa 850 Zeichnungen Goethes sind aus der italienischen Zeit erhalten. Er erkannte aber auch, dass er nicht zum bildenden Künstler, sondern zum Dichter geboren sei. Intensiv beschäftigte er sich mit der Fertigstellung literarischer Arbeiten: Er brachte die bereits in Prosa vorliegende Iphigenie in Versform, vollendete den zwölf Jahre zuvor begonnenen Egmont und schrieb weiter am Tasso. Daneben beschäftigte er sich mit botanischen Studien. Vor allem aber „lebte“ er: „Im Schutze des Inkognitos (den deutschen Freunden war seine wahre Identität jedoch bekannt) konnte er sich in einfachen Gesellschaftsschichten bewegen, seiner Freude an Spielen und Späßen freien Lauf lassen und erotische Erfahrungen machen.“Die Reise wurde für Goethe zu einem einschneidenden Erlebnis; er selbst sprach in Briefen nach Hause wiederholt von einer „Wiedergeburt“, einer „neuen Jugend“, die er in Italien erfahren habe. Er habe sich selbst als Künstler wiedergefunden, schrieb er dem Herzog. Über seine zukünftige Tätigkeit in Weimar ließ er ihn wissen, er wolle von den bisherigen Pflichten befreit werden und das tun, „was niemand als ich tun kann und das übrige anderen auftragen“. Der Herzog gewährte Goethe die erbetene Verlängerung seines bezahlten Urlaubs, so dass er bis Ostern 1788 in Rom bleiben konnte. Ein Ergebnis seiner Reise war, dass er nach seiner Rückkehr nach Weimar die dichterische von der politischen Existenz trennte. Basierend auf seinen Tagebüchern verfasste er zwischen 1813 und 1817 die Italienische Reise. === Zeit der Weimarer Klassik (ab 1789) === ==== Beziehung zu Christiane Vulpius (1788–1816) ==== Wenige Wochen nach seiner Rückkehr machte Goethe am 12. Juli 1788 Bekanntschaft mit der 23-jährigen Putzmacherin Christiane Vulpius, die ihm gegenüber als Bittstellerin für ihren nach dem Jurastudium in Not geratenen Bruder auftrat. Sie wurde seine Geliebte und bald darauf seine Lebensgefährtin. Goethes Mutter nannte sie den „Bettschatz“. Nicht nur aus den erotischen Anspielungen in den Römischen Elegien, die Goethe zu jener Zeit verfasste und in denen die Gestalt seiner römischen Geliebten Faustina mit der Christianes verschmolz, folgert Sigrid Damm, dass die beiden „ein sinnesfrohes, in der Liebe mit Phantasie begabtes Paar“ gewesen seien. Als Christiane hochschwanger war, wollte Goethe sie im Haus am Frauenplan aufnehmen, aber auf Wunsch des Herzogs und mit Rücksicht auf die Weimarer Gesellschaft bezog er mit ihr eine Wohnung vor den Toren der Stadt. Am 25. Dezember 1789 gebar sie den Sohn August Walter. Anlässlich der Taufe bekannte sich Goethe zwar nicht formal zu seiner Vaterschaft, doch wurde das Kind nicht als unehelich geführt. Ein Junge wurde 1791 tot geboren. Drei weitere gemeinsame Kinder überlebten die Geburt nur wenige Tage. 1792 stimmte der Herzog dem Umzug ins Haus am Frauenplan zu, welches Goethe mit Christiane mietfrei bewohnen konnte, bevor es 1794 durch eine Schenkung des Herzogs, aus Dankbarkeit für die Begleitung auf den Feldzügen 1792 und 1793, in Goethes Besitz überging.Wenig bekannt ist über Goethes „flüchtige, sentimentale Bindung an eine adelige Dame“, die 21-jährige Henriette von Lüttwitz, die er nach der Geburt Augusts auf seiner Schlesienreise 1790 in Breslau kennengelernt und der er einen Heiratsantrag gemacht hatte, den ihr adeliger Vater ablehnte.Der wenig gebildeten, aus einer in finanzielle Not geratenen Familie stammenden Christiane blieb der Zugang zur Weimarer Gesellschaft, in der Goethe sich bewegte, verschlossen. Sie galt dort als ordinär und vergnügungssüchtig; erschwerend kam die Illegitimität des „unstandesgemäßen Verhältnisses“ hinzu. Goethe schätzte ihr natürliches, fröhliches Wesen und hielt an der Verbindung mit seinem „kleinen Eroticon“ bis an Christianes Lebensende 1816 fest. Erst 1806 erleichterte er ihre gesellschaftliche Stellung durch die Heirat, die ihr den Weg in die gute Gesellschaft bahnte. Zur Heirat hatte sich Goethe kurzfristig entschlossen, nachdem ihn Christiane durch ihr beherztes Eingreifen aus Lebensgefahr gerettet hatte, als er am Abend der Schlacht bei Jena in seinem Haus in Weimar von plündernden französischen Soldaten bedroht wurde. Nur fünf Tage danach wurde die Ehe geschlossen. Als Gravur für die Ringe wählte Goethe das Datum der Schlacht und seiner Rettung in der Schreckensnacht: 14. Oktober 1806. ==== Metamorphose der Pflanzen und Römische Elegien ==== In den Jahren nach seiner Italienreise beschäftigte Goethe sich vor allem mit der Naturforschung. In seinem Verhältnis zur Natur unterschied er nur zwei Zeitperioden: das Jahrzehnt vor 1780, das vor allem in den Straßburger Jahren stark vom Naturerlebnis geprägt war, und die folgenden fünfzig Jahre systematischen Naturstudiums in Weimar. Dabei fand er zeitweise in Alexander von Humboldt einen ebenbürtigen wissenschaftlichen Partner, mit dem er sich auf langen Spaziergängen in Jena über ihre naturwissenschaftlichen Forschungen austauschen konnte und mit dem er im Frühjahr 1797 gemeinsame naturwissenschaftliche Experimente durchführte. In einem späteren Brief am Wilhelm von Humboldt nannte er die Begegnung mit ihm als einen von seinem „lichtesten Lebenspuncten“.1790 hatte Goethe seinen Versuch die Metamorphose der Pflanzen zu erklären veröffentlicht, eine zu Goethes Lebzeiten mit wenig Interesse aufgenommene 86-seitige Monographie, die ihn zu einem Mitbegründer der vergleichenden Morphologie machte. Mit dem 1798 geschriebenen großen Lehrgedicht Die Metamorphose der Pflanzen gelang ihm die Verbindung von Poesie und Naturforschung. Das im Versmaß des elegischen Distichons verfasste Naturgedicht ist an eine „Geliebte“ (Christiane Vulpius) gerichtet und präsentiert seine morphologische Lehre in konzentrierter Form. In den 1790er Jahren begann er auch mit seinen Untersuchungen zur Farbenlehre, welche ihn bis ans Lebensende beschäftigen sollte. Zu den Werken der frühen 1790er Jahre gehören die bald nach seiner Rückkehr entstandenen Römischen Elegien, eine Sammlung freizügig erotischer Gedichte. In den Formen antiker Dichtung verarbeitete Goethe nicht nur die Erinnerung an kulturelle und amouröse Rom-Erlebnisse seiner ersten Italienreise, sondern auch seine sinnlich-glückliche Liebe zu Christiane Vulpius. Zwanzig der vierundzwanzig Gedichte erschienen 1795 in Schillers Horen. Die Weimarer Gesellschaft nahm Anstoß an Goethes Erotica, obwohl er vier der freizügigsten Gedichte zurückbehalten hatte. ==== Amtliche Aufgaben, Feldzüge und Politik ==== Nach seiner Rückkehr aus Italien hatte Goethe sich vom Herzog von den meisten seiner amtlichen Pflichten entbinden lassen. Den Sitz im Consilium und damit die Möglichkeit politischer Einflussnahme behielt er jedoch bei. Als „Minister ohne Portefeuille“ übernahm er eine Reihe von kulturellen und wissenschaftlichen Aufgaben, darunter die Leitung der Zeichenschule und die Aufsicht über das öffentliche Bauwesen. Zudem wurde er mit der Leitung des Weimarer Hoftheaters betraut – einer Aufgabe, die viel Zeit in Anspruch nahm, da er für sämtliche Belange zuständig war. Daneben war Goethe in Angelegenheiten der zum Herzogtum gehörenden Universität Jena beratend tätig. Seiner Fürsprache ist die Berufung einer Reihe namhafter Professoren zu verdanken, darunter Johann Gottlieb Fichte, Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Friedrich Wilhelm Joseph Schelling und Friedrich Schiller. Nachdem ihm 1807 die Aufsicht über die Universität übertragen worden war, setzte sich Goethe vor allem für den Ausbau der naturwissenschaftlichen Fakultät ein. Nach Abschluss der achtbändigen Göschen-Werkausgabe zu seinem 40. Geburtstag plante Goethe, erneut nach Italien zu reisen. 1790 verbrachte er mehrere Monate in Venedig, wo er die Herzoginmutter auf ihrer Rückreise von einer zweijährigen Italienreise erwartete. Er begleitete sie zurück nach Weimar, mit Aufenthalten in Padua, Vicenza, Verona und Mantua. Allerdings stellte sich die Hochstimmung der ersten Italienreise nicht wieder ein. Produkt dieser zweiten (unfreiwilligen) Italienreise sind die Venetianischen Epigramme, eine Sammlung von Spottgedichten auf die europäischen Zustände, die „die ästhetisch-moralische Toleranzgrenze der Zeit überschritten“. Im vierten Epigramm fühlt er sich von den Gastwirten „geprellt“ und vermisst „deutsche Redlichkeit“, klagt: „Schön ist das Land; doch ach! Faustinen find' ich nicht wieder.“ Stattdessen sehnte er sich zurück nach Christiane, seinem „Liebchen“, das er verließ.1789 wurde das europäische Herrschafts- und Staatensystem durch die Französische Revolution erschüttert und in Frage gestellt. Die meisten von Goethes intellektuellen Zeitgenossen (z. B. Wieland, Herder, Hölderlin, Hegel, Georg Forster, Beethoven) begeisterten sich für die Freiheits- und Brüderlichkeitsideale, die von ihr ausgingen, etwa durch die Verkündigung der Menschenrechte. Klopstock feierte in seiner Ode Kennet euch selbst die Revolution als „des Jahrhunderts edelste Tat“. Goethe stand der Revolution von vornherein ablehnend gegenüber; für ihn war sie „das schrecklichste aller Ereignisse“ und stellte auch seine Weimarer Existenz als „Fürstendiener“ in Frage. Er war ein Befürworter allmählicher Reformen im Sinne der Aufklärung und fühlte sich insbesondere durch die Gewaltexzesse im Gefolge der Revolution abgestoßen; andererseits sah er deren Ursache in den sozialen Verhältnissen des Ancien Régime. Rückblickend sagte er später im Gespräch mit Eckermann, „daß die revolutionären Aufstände der unteren Klassen eine Folge der Ungerechtigkeiten der Großen sind“. Gleichzeitig verwahrte er sich dagegen, weil er Revolutionen hasste, als ein „Freund des Bestehenden“ angesehen zu werden: „Das ist […] ein sehr zweideutiger Titel, den ich mir verbitten möchte. Wenn das Bestehende alles vortrefflich, gut und gerecht wäre, so hätte ich gar nichts dawider. Da aber neben vielem Guten zugleich viel Schlechtes, Ungerechtes und Unvollkommenes besteht, so heißt ein Freund des Bestehenden oft nicht viel weniger als ein Freund des Veralteten und Schlechten.“1792 begleitete Goethe den Herzog auf dessen Wunsch in den ersten Koalitionskrieg gegen das revolutionäre Frankreich. Drei Monate lang erlebte er als Beobachter das Elend und die Gewalttaten dieses Krieges, der mit einem französischen Sieg endete. Seine Erfahrungen legte er in der autobiografischen Schrift Campagne in Frankreich nieder. Nach kurzem Aufenthalt in Weimar zog er mit dem Herzog erneut an die Front. Im Sommer 1793 begleitete er ihn, um an der Belagerung von Mainz teilzunehmen. Das von den Franzosen besetzte und von deutschen Jakobinern regierte Mainz wurde durch die preußisch-österreichischen Koalitionstruppen nach dreimonatiger Belagerung und Bombardierung zurückerobert. 1796 trat das Herzogtum dem preußisch-französischen Sonderfrieden von Basel bei. Die nun folgende zehnjährige Friedenszeit ermöglichte mitten im vom Kriegsgeschehen erschütterten Europa die Blüte der Weimarer Klassik. ==== Dichterische Verarbeitung der Revolution ==== Im Rückblick notierte Goethe, dass die Französische Revolution, als „das schrecklichste aller Ereignisse“, ihn viele Jahre grenzenlosen Bemühens gekostet habe, „dieses in seinen Ursachen und Folgen dichterisch zu gewältigen“. Rüdiger Safranski zufolge erlebte Goethe die Revolution als ein Elementarereignis wie einen Vulkanausbruch des Sozialen und Politischen, und nicht zufällig habe er sich in den Monaten nach der Revolution mit dem Naturphänomen des Vulkanismus beschäftigt.Unter dem Eindruck der Revolution entstand eine Reihe satirischer, antirevolutionärer, aber auch antiabsolutistischer Komödien: Der Groß-Cophta (1791), Der Bürgergeneral (1793) und das Fragment Die Aufgeregten (1793). Der Einakter Der Bürgergeneral war Goethes erstes Stück, das sich mit den Folgen der Revolution beschäftigte. Obwohl es zu seinen erfolgreichsten Stücken zählte – auf der Weimarer Bühne wurde es häufiger als Iphigenie und Tasso gespielt –, wollte er das später nicht mehr wahrhaben. Er nahm es auch nicht in die vom Berliner Verleger Johann Friedrich Unger von 1792 bis 1800 in unregelmäßigem Abstand veröffentlichte siebenbändige Ausgabe seiner Neuen Schriften auf. Auch der Reineke Fuchs, das 1792/93 in Hexametern verfasste Tierepos aus dem späten Mittelalter, welches die Grausamkeiten, Falschheit und Bosheit der Menschen im Tierreich widerspiegelt, verweist auf die Goethe'schen Erfahrungen jener Jahre. Noch im Heerlager vor Mainz 1793 feilte er das Epos nach und nach durch.Das revolutionäre Zeitgeschehen bildete auch den Hintergrund der von Goethe 1795 verfassten Unterhaltungen deutscher Ausgewanderter und des Versepos Hermann und Dorothea (1797). Die Unterhaltungen sind eine Novellensammlung, in der die Revolution nur in der Rahmenhandlung thematisiert wird. Um den politischen Tagesstreit zu vergessen, erzählen sich adelige Flüchtlinge, die vor den französischen Revolutionstruppen von ihren linksrheinischen Gütern ins Rechtsrheinische geflohen sind, Geschichten in der Tradition romanischer Novellestik (Giovanni Boccaccio). Diese Erzähldichtung leitete den ersten Band von Schillers Zeitschrift Die Horen ein. Direkt mit den Folgen der Revolution befasste sich Hermann und Dorothea; in diesem Epos kleidete Goethe die Schilderung des Schicksals der linksrheinischen Deutschen in das Gewand des klassischen Hexameters. Das Werk erreichte neben Schillers Glocke eine „beispiellose Popularität“. ==== Leiter des Weimarer Theaters (1776–1817) ==== Goethe war 1776 die Leitung des Liebhabertheaters am Weimarer Hof übertragen worden, zu einer Zeit, als die Höfe französisches Drama und italienische Oper bevorzugten. Als Schauspieler agierten am Weimarer Theater adlige und bürgerliche Laien, Angehörige des Hofes einschließlich des Herzogs Carl August und Goethes. Die Spielstätten wechselten. Die auf Goethes Vorschlag für Weimar engagierte Sängerin und Schauspielerin Corona Schröter aus Leipzig war zunächst die einzige ausgebildete Schauspielerin. Sie wurde die erste Darstellerin der Iphigenie in der Erstaufführung der Prosafassung von Goethes Iphigenie auf Tauris 1779, in der Goethe den Orest und Carl August den Pylades spielte. 1779 wurde auch erstmals unter Goethes Leitung eine Schauspielergesellschaft unter Vertrag genommen. Nachdem 1791 Herzog Carl August die Gründung des Weimarer Hoftheaters beschlossen hatte, übernahm Goethe dessen Direktion. Eröffnet wurde das Hoftheater am 7. Mai 1791 mit Ifflands Schauspiel Die Jäger. Goethes Wunsch, den talentreichen Schauspieler und Dramatiker Iffland an das Weimarer Theater zu binden, zerschlug sich, da dieser die attraktivere Stelle als Direktor des Berliner Nationaltheaters vorzog. Im Verlauf seiner 26-jährigen Direktion machte Goethe das Weimarer Hoftheater zu einer der führenden deutschen Bühnen, auf der nicht nur viele seiner eigenen Dramen, sondern auch die späteren Dramen von Schiller (wie die Wallensteintrilogie, Maria Stuart, Die Braut von Messina und Wilhelm Tell) zur Erstaufführung kamen. Auch Goethes Egmont bearbeitete Schiller für die Weimarer Bühne.Der Herzog hatte Goethe freie Hand in seiner Theaterleitung gelassen, die er freilich mit einem ziemlich patriarchalischen Umgang mit den Schauspielern und Schauspielerinnen ausübte. Als sich die 1797 verpflichtete, voll ausgebildete und selbstbewusste Schauspielerin und Sängerin Karoline Jagemann Goethes autoritärem Führungsstil widersetzte, zog er sich 1817 vom Theater zurück. Ein Grund war, dass diese Künstlerin nicht nur die unbestrittene Primadonna war, die Weimars Bühne zum Leuchten brachte, sondern auch die offizielle Mätresse des Herzogs, dessen Unterstützung sie im Streit mit Goethe fand. ==== Im Bund mit Schiller (1789–1805) ==== Bevor Goethe mit Schiller erstmals im Herbst 1788 im thüringischen Rudolstadt persönlich zusammentraf, waren sich beide nicht fremd geblieben. Sie kannten jeweils die frühen Werke des anderen. Bereits als Schüler der Karlsschule hatte Schiller mit Begeisterung Goethes Götz und Werther gelesen und den von ihm Bewunderten bei der Abschlussfeier seines Jahrgangs 1780 als Besucher gemeinsam mit dem Weimarer Herzog neben Karl Eugen stehen sehen. Goethe, der Schillers Räuber mit ihrer Gewalttätigkeit ablehnte, hatte nach seiner Rückkehr aus Italien mit Erstaunen Schillers gewachsenen Ruhm wahrgenommen, später auch die Gedankenlyrik Schillers und seine historischen Schriften schätzen gelernt. Schillers Urteile und Gefühle gegenüber Goethe waren zunächst schnell wechselnd und darauf angelegt, sogleich wieder revidiert zu werden. Mehrfach nennt er Goethe einen „gefühlskalten Egoisten“. Safranski spricht von einer „Haß-Liebe“ und zitiert aus einem Brief Schillers an Körner: „Mir ist er […] verhaßt, ob ich gleich seinen Geist von ganzem Herzen liebe“. Für die Befreiung von Ressentiment und Rivalität hat Schiller später die „wunderbare Formel“ (Rüdiger Safranski) gefunden: „daß es, dem Vortrefflichen gegenüber keine Freyheit gibt als die Liebe“ (Brief an Goethe vom 2. Juli 1796). Die erste persönliche Begegnung in Rudolstadt, arrangiert von Charlotte von Lengefeld, der späteren Ehefrau Schillers, verlief relativ emotionslos. In einem Bericht an Körner zweifelte Schiller „ob wir einander je sehr nahe rücken werden“. Nach dieser „misslungenen Begegnung“ hatte Goethe Schillers Berufung auf eine Jenaer Professur betrieben, die dieser aber zunächst unbesoldet antrat.Seit 1789 als Geschichtsprofessor im nahen Jena lebend, hatte Schiller Goethe im Juni 1794 gebeten, dem Herausgeberkreis einer von ihm geplanten Zeitschrift für Kultur und Kunst, Horen, beizutreten. Nach Goethes Zusage trafen sich die beiden im Juli des gleichen Jahres in Jena, für Goethe „ein glückliches Ereignis“ und der Beginn der Freundschaft mit Schiller. Im September 1794 lud er Schiller zu einem längeren Besuch in Weimar ein, der sich auf zwei Wochen ausdehnte und einem intensiven Ideenaustausch zwischen ihnen diente. Diesem Treffen schlossen sich häufige wechselseitige Besuche an. Wegen Schiller blieb Goethe oft mehrere Wochen in Jena. Er wohnte dann im weitgehend ungenutzten Stadtschloss, dem ehemaligen Sitz der Herrscher des Herzogtums, wo er seine eigenen Zimmer hatte.Die beiden Dichter stimmten in der Ablehnung der Revolution ebenso überein wie in der Hinwendung zur Antike als höchstem künstlerischen Ideal; dies war der Beginn eines intensiven Arbeitsbündnisses, aus dem zwar alles Persönlichere ausgeklammert war, das jedoch geprägt war von tiefem Verständnis für das Wesen und die Arbeitsweise des anderen. In der gemeinsamen Erörterung ästhetischer Grundsatzfragen entwickelten beide eine Literatur- und Kunstauffassung, die als „Weimarer Klassik“ zur literarhistorischen Epochenbezeichnung werden sollte. Goethe, dessen literarisches Schaffen, ebenso wie dasjenige Schillers, zuvor ins Stocken gekommen war, betonte die anregende Wirkung der Zusammenarbeit mit dem zehn Jahre Jüngeren: „Sie haben mir eine zweite Jugend verschafft und mich wieder zum Dichter gemacht, welches zu sein ich so gut als aufgehört hatte.“Im ersten Jahrgang der Horen erschienen die Römischen Elegien erstmals unter dem Titel Elegien und ohne Angabe des Verfassers. Darüber empörten sich offensichtlich „alle ehrbaren Frauen“ Weimars. Herder veranlasste die Veröffentlichung zu dem ironischen Vorschlag, die Horen müssten nun mit einem „u“ geschrieben werden. In den Horen veröffentlichte Schiller 1795/96 in drei Folgen sein Traktat Über naive und sentimentalische Dichtung, eine poetische Typologie, die wesentlich zu ihrer beider Selbstverständnis beitrug: Goethe der „naive“, Schiller der „sentimentalische“ Dichter.Beide Dichter nahmen lebhaften theoretischen und praktischen Anteil an den Werken des anderen. So beeinflusste Goethe Schillers Wallenstein, während dieser die Arbeit an Goethes Roman Wilhelm Meisters Lehrjahre kritisch begleitete und ihn zur Fortführung des Faust ermunterte. Goethe hatte Schiller gebeten, ihm bei der Fertigstellung des Wilhelm Meister-Romans behilflich zu sein, und Schiller enttäuschte ihn nicht. Er kommentierte die ihm zugesandten Manuskripte und war höchst erstaunt, dass Goethe nicht genau wusste, wie der Roman enden sollte. An Goethe schrieb er, er rechne es „zu dem schönsten Glück meines Daseins, dass ich die Vollendung dieses Produkts erlebte“. Für Nicholas Boyle bildete der Briefwechsel über den Wilhelm Meister in den Jahren 1795/96 den Höhepunkt in der geistigen Beziehung zwischen Goethe und Schiller.Sie betrieben auch gemeinsame publizistische Projekte. Zwar beteiligte sich Schiller kaum an Goethes kurzlebiger Kunstzeitschrift Propyläen; dieser jedoch veröffentlichte zahlreiche Werke in den Horen und dem ebenfalls von Schiller herausgegebenen Musen-Almanach. Der Musen-Almanach für das Jahr 1797 brachte eine Sammlung gemeinschaftlich verfasster Spottverse, die Xenien. Im Musen-Almanach des Folgejahres erschienen die berühmtesten Balladen beider Autoren, wie Goethes Der Zauberlehrling, Der Schatzgräber, Die Braut von Korinth, Der Gott und die Bajadere sowie Schillers Der Taucher, Die Kraniche des Ibykus, Der Ring des Polykrates, Der Handschuh und Ritter Toggenburg. Im Dezember 1799 zog Schiller mit seiner vierköpfigen Familie nach Weimar um, zunächst in eine Mietwohnung, die zuvor Charlotte von Kalb bewohnt hatte; 1802 erwarb er ein eigenes Haus auf der Esplanade. In Weimar bildeten sich Parteien, die zum Vergleich der beiden „Dioskuren“ herausforderten. So versuchte der erfolgreiche Theaterautor August von Kotzebue, der sich in Weimar niedergelassen hatte, mit einer prunkvollen Feier zu Ehren Schillers einen Keil zwischen die beiden zu treiben. Trotz einiger zeitweiliger Irritationen zwischen ihnen blieb ihre Freundschaft bis zum Tode Schillers jedoch intakt.Die Nachricht von Schillers Tod am 9. Mai 1805 stürzte Goethe in einen Zustand der Betäubung. Er blieb der Beerdigung fern. An den befreundeten Musiker Carl Friedrich Zelter schrieb er, er habe einen Freund und mit ihm „die Hälfte meines Daseins“ verloren. Der Tod Schillers markierte für Rüdiger Safranski eine Zäsur in Goethes Leben, einen „Abschied von jenem goldenen Zeitalter, als für eine kurze Zeit die Kunst nicht nur zu den schönsten, sondern zu den wichtigsten Dingen des Lebens gehörte“. Mit ihm endete Dieter Borchmeyer zufolge die prägende Periode der Weimarer Klassik. === Der späte Goethe (1805–1832) === Den Tod Schillers im Jahr 1805 empfand Goethe als einschneidenden Verlust. Um diese Zeit litt er zudem an verschiedenen Krankheiten (Gesichtsrose oder Gesichtserysipel 1801, Nierenkoliken, Herzattacken). Beunruhigend empfand er auch die politische Lage mit dem sich abzeichnenden Krieg mit Napoleon Bonaparte. Im Geiste sah Goethe sich mit seinem Herzog bereits bettelnd und asylsuchend durch Deutschland ziehen. Seine letzten Jahrzehnte waren gleichwohl von erheblicher Produktivität und starken Liebeserlebnissen geprägt. Als Sekretär wurde ihm Friedrich Riemer (seit 1805 Erzieher seines Sohnes) bald unentbehrlich. ==== Späte Werke und Farbenlehre ==== Als unmittelbare Nachwirkung von Schillers Tod wertet Safranski, dass Goethe die Arbeit am Faust wiederaufnahm; hinzu kam der äußere Druck vonseiten des Verlegers Cotta. Die neue achtbändige Gesamtausgabe von 1808 sollte die erste vollständige Fassung des ersten Teils des Faust enthalten.Die Eheschließung mit Christiane hinderte Goethe nicht, bereits 1807 eine amouröse Neigung zu Minna Herzlieb, der achtzehnjährigen Pflegetochter des Buchhändlers Frommann in Jena, zu zeigen. Von einer „kleinen Verliebtheit“, die Goethe als „Ersatz“ für den „schmerzlich empfundenen Verlust Schillers“ erklärte, spricht Safranski. Ein Nachklang der inneren Erlebnisse dieser Zeit findet sich in seinem letzten Roman, Die Wahlverwandtschaften (1809). Charakteristisch für Goethe ist, wie er in diesem Werk Poesie und Naturforschung verknüpft. In der zeitgenössischen Chemie gebrauchte man den Begriff der „Wahlverwandtschaft“ der Elemente, den Goethe übernahm, um die „Naturhaftigkeit durch Vernunft nicht endgültig beherrschbarer Anziehungskräfte“ zwischen zwei Paaren zu thematisieren.1810 veröffentlichte Goethe die aufwendig ausgestattete Farbenlehre in zwei Bänden und einem Band mit Bildtafeln. Mit ihr hatte er sich seit annähernd zwanzig Jahren befasst. Safranski zufolge dienten die immer wieder aufgenommenen Farbenstudien (in Form von Versuchen, Beobachtungen, Überlegungen und Literaturstudien) Goethe, um vor äußeren Turbulenzen und innerer Unruhe zu flüchten; so hatte er auch während des Feldzuges in Frankreich und bei der Belagerung von Mainz seine einschlägigen Beobachtungen notiert. Die Resonanz auf die Veröffentlichung war gering und erfüllte Goethe mit Unmut. Zwar bezeugten Freunde Respekt, doch die wissenschaftliche Welt nahm sie kaum zur Kenntnis. Die literarische Welt nahm sie als überflüssige Abschweifung in einer Zeit heftiger politischer Umwälzungen auf.Im Januar 1811 begann Goethe mit der Abfassung einer großen Autobiographie, die später den Titel Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit erhielt. Dabei war ihm Bettina Brentano behilflich, die Aufzeichnungen über Erzählungen seiner Mutter über Goethes Kindheit und Jugend besaß. Bettina besuchte Goethe 1811 in Weimar. Nach einem Streit zwischen ihr und Christiane brach Goethe mit ihr. Die ersten drei Teile der Autobiographie erschienen zwischen 1811 und 1814. Der vierte Teil erschien erst nach seinem Tod 1833. Die ursprüngliche Konzeption war eine als Metamorphose stilisierte Bildungsgeschichte des Dichters mit der Betonung der „Naturhaftigkeit der ästhetischen und dichterischen Fähigkeiten und Anlagen“. Eine Krise während der Arbeit am dritten Teil ließ sie ihm als unangemessen erscheinen. An ihre Stelle setzte er das Dämonische als „Chiffre […] des übermächtig gewordenen Natur- wie Geschichtszusammenhangs“. ==== Begegnungen mit Napoleon und Beethoven ==== Napoleon hat auf Goethe bis an sein Lebensende eine persönliche Faszination ausgeübt. Für ihn war Napoleon „einer der produktivsten Menschen […], die je gelebt haben“. „Sein Leben war das Schreiten eines Halbgottes von Schlacht zu Schlacht und von Sieg zu Sieg.“ 1808 traf Goethe zweimal mit Napoleon zusammen. Das erste Mal empfing der Kaiser ihn und Christoph Martin Wieland am 2. Oktober auf dem Erfurter Fürstenkongress zu einer Privataudienz, auf der Napoleon ihn anerkennend auf seinen Werther ansprach. Zu einer zweiten Begegnung (wiederum gemeinsam mit Wieland) kam es in Weimar anlässlich eines Hofballs am 6. Oktober. Danach wurden er und Wieland zu Rittern der Ehrenlegion ernannt. Der ebenfalls beim Fürstenkongress anwesende Zar Alexander I. verlieh beiden den Annenorden. Goethe hat zum Ärger seiner Zeitgenossen und auch des Herzogs Carl August das Legionskreuz stolz getragen, sogar noch in der Zeit des patriotischen Aufbruchs gegen die napoleonische Herrschaft in deutschen Landen. 1813 äußerte er in einem Gespräch: „Schüttelt nur an Euren Ketten; der Mann ist Euch zu groß, Ihr werdet sie nicht zerbrechen.“ Unmittelbar nach der Nachricht vom Tod Napoleons am 5. Mai 1821 auf Sankt Helena verfasste der italienische Dichter Alessandro Manzoni die Ode Il Cinque Maggio (Der fünfte Mai) mit 18 sechszeiligen Strophen. Als Goethe die Ode in Händen hielt, war er von ihr so beeindruckt, dass er sich unverzüglich an die Übersetzung machte, unter Wahrung ihres hohen, feierlichen Tons.Mit Beethoven war Goethe 1812 im böhmischen Kurbad Teplitz zusammengetroffen. Zu dieser Zeit hatte Beethoven bereits verschiedene Verse und Lieder Goethes vertont und im Auftrag des Wiener Hoftheaters 1809/10 die Ouvertüre zum Trauerspiel Egmont komponiert. Sie gilt als eine Hommage an Goethes Dramenfigur als Inbegriff des heroischen Menschen. Mit großer Respektbezeugung hatte Beethoven die Partitur Goethe zukommen lassen. Von der neuen Bekanntschaft zeigte sich Goethe angetan; es kam in Teplitz zu mehreren Begegnungen, wo Beethoven ihm auch auf dem Klavier vorspielte. Am Abend des ersten Zusammentreffens schrieb er an seine Frau: „Zusammengefasster, energischer, inniger habe ich noch keinen Künstler gesehen“. An Zelter schrieb er: „Sein Talent hat mich in Erstaunen gesetzt; allein er ist leider eine ganz ungebändigte Persönlichkeit, die zwar gar nicht unrecht hat, wenn sie die Welt detestabel findet, aber sie dadurch freilich weder für sich noch für andere genußreicher macht.“ Nicht minder kritisch äußerte sich Beethoven nach dem Treffen seinem Verleger Härtel gegenüber: „Göthe behagt die Hofluft zu sehr – mehr als es einem Dichter ziemt.“ Zwischen beiden wurden zwar noch einige Briefe gewechselt, doch es blieb beim höflichen Umgang. ==== Freundschaften mit Zelter und Boisserée ==== Goethe pflegte während seines langen Lebens viele Freundschaften. Als wichtigstes Kommunikationsmedium der Freundschaft diente der private Brief. In seinen letzten Lebensjahrzehnten schloss er zwei besondere Freundschaften mit Carl Friedrich Zelter und Sulpiz Boisserée. Der Musiker und Komponist Carl Friedrich Zelter hatte Goethe 1796 über seine Verlegerin einige Vertonungen von Texten aus Wilhelm Meisters Lehrjahren zukommen lassen. Goethe bedankte sich mit den Worten, „daß ich der Musik kaum solche herzliche Töne zugetraut hätte“. Sie begegneten sich erstmals im Februar 1802, aber bereits 1799 hatten sie brieflichen Kontakt aufgenommen. Der ausgedehnte Briefwechsel mit fast 900 Briefen dauerte bis zu Goethes Tod an. Goethe fühlte sich in dieser Altersfreundschaft von Zelter, dessen Musik seinen Ohren angenehmer klang als das „Getöse“ Ludwig van Beethovens, nicht nur in Fragen der Musik aufs Beste verstanden. Was ihm die Freundschaft mit Zelter für sein Musikverständnis bedeutete, verdankte er Sulpiz Boisserée für seine Erfahrungen mit der bildenden Kunst. Der Heidelberger Kunstsammler Boisserée, ein Jünger Friedrich Schlegels, hatte ihn erstmals 1811 in Weimar besucht. Daraus entstand ein dauerhafter Briefwechsel und eine lebenslange Freundschaft, die ihn in den nächsten Jahren um neue Kunsterfahrungen bereicherten. Sie schlugen sich, nach einer Reise in die Rhein- und Maingegend mit einem Besuch der Boisséereschen Gemäldesammlung in Heidelberg, in dem Reisebericht Ueber Kunst und Altertum in den Rhein und Mayn Gegenden von 1816 nieder. Während der Reise geriet Goethe 1814 in das Treiben des traditionellen Sankt-Rochus-Festes zu Bingen, das ihn faszinierte wie einst der Römische Karneval und das er als Volksfest liebevoll schilderte. ==== West-östlicher Divan ==== Zur patriotischen Erhebung gegen die französische Fremdherrschaft hielt Goethe Distanz. Er flüchtete sich geistig in den Orient mit dem Studium des Arabischen und Persischen, er las im Koran und rezipierte mit Begeisterung die Verse des persischen Dichters Hafis in der von Cotta verlegten Neuübersetzung des Divans aus dem 14. Jahrhundert. Sie versetzten ihn in eine „schöpferische Hochstimmung“, die er später Eckermann gegenüber als „eine wiederholte Pubertät“ bezeichnete: Er verfasste in dem leichten und verspielten Ton des Hafis binnen kurzer Zeit zahlreiche Gedichte. Von einer „eruptiven Produktivität“ spricht Hendrik Birus, der Herausgeber der Gedichtsammlung in der Frankfurter Ausgabe.Im Sommer 1814 reiste Goethe in die Rhein- und Maingegend. In Wiesbaden traf er mit dem – ihm seit den Jugendtagen bekannten – Frankfurter Bankier und Förderer des Theaters Johann Jakob von Willemer und dessen Pflegetochter Marianne Jung zusammen. Er besuchte sie danach auf der Gerbermühle bei Frankfurt, wo er auch eine Zeitlang Quartier bezog. Der verwitwete Bankier hatte Marianne als junges Mädchen aufgenommen und lebte mit ihr im Konkubinat. Noch während Goethes Anwesenheit, und möglicherweise auf seinen Rat hin, heirateten die beiden förmlich in aller Eile. Der fünfundsechzigjährige Goethe verliebte sich in Marianne. Sie wurde ihm zur Muse und Partnerin bei der Dichtung des West-östlichen Divan. Zwischen ihnen entspann sich ein „lyrischer Wechselgesang“ und ein „literarisches Rollenspiel der Liebe“, das sie im folgenden Jahr bei einem erneuten mehrwöchigen Besuch fortsetzten. Die in den Frankfurter Wochen entstandenen Gedichte fanden vornehmlich im Buch Suleika Aufnahme. Im Jahre 1850 enthüllte Marianne gegenüber Herman Grimm, dass einige der in diese Sammlung aufgenommenen Liebesgedichte von ihr stammten. Heinrich Heine fand in seiner Schrift Die romantische Schule für die Gedichtsammlung die rühmenden Worte: „den berauschendsten Lebensgenuß hat hier Goethe in Verse gebracht, und diese sind so leicht, so glücklich, so hingehaucht, so ätherisch, daß man sich wundert, wie dergleichen in deutscher Sprache möglich war“.Auf seiner Reise 1815 sah Goethe das letzte Mal seine Heimat wieder. Als er im Juli 1816 zur geplanten Kur nach Baden-Baden aufbrach und dabei den Willemers einen weiteren Besuch abstatten wollte, brach die Kutsche hinter Weimar zusammen, worauf Goethe die Reise abbrach. Fortan verzichtete er auf Besuche bei Marianne und schrieb ihr auch eine Weile nicht. Den West-östlichen Divan ließ er einige Zeit unvollendet liegen, erst 1818 schloss er ihn ab. ==== Tod Christianes, Werkaufarbeitung, Schriften zur Natur ==== Goethes Frau Christiane starb im Juni 1816 nach langer Krankheit. Wie er auch in anderen Fällen von Tod und Krankheit in seiner Nähe Ablenkung in der Arbeit suchte oder sich mit einer eigenen Erkrankung beschäftigte, zog er sich auch beim Sterben Christianes zurück. Weder an ihrem Sterbebett noch bei ihrer Beerdigung war er anwesend. Konsequent vermied Goethe den Anblick von sterbenden oder gestorbenen Menschen, die ihm nahestanden. Johanna Schopenhauer berichtete einer Freundin, es sei seine Art, „jeden Schmerz ganz in der Stille austoben zu lassen, und sich seinen Freunden erst wieder in völliger Fassung zu zeigen“. Nach Christianes Tod wurde es im großen Haus am Frauenplan einsamer um ihn. Auch der Besuch von Charlotte Buff, verwitwete Kestner, im September 1816 in Weimar trug nicht zur Aufhellung seiner Stimmung bei. Sein Sohn heiratete 1817 Ottilie von Pogwisch, die sich als Schwiegertochter fortan um Goethe kümmerte. 1817 wurde Goethe von der Leitung des Hoftheaters entbunden. Das kleine Herzogtum war – entgegen Goethes Befürchtungen – unbeschadet aus den Wirren der napoleonischen Kriege hervorgegangen, Carl August durfte sich „Königliche Hoheit“ nennen, Goethe brachten die neuen Verhältnisse am 12. Dezember 1815 den Titel eines Staatsministers ein.Goethe ordnete seine Schriften und Manuskripte. Die Tagebücher und lange liegen gebliebenen Notizen dienten ihm zur Aufarbeitung der Italienischen Reise. Zeitweise vertiefte er sich in altgriechische Mythen und orphische Dichtung. Ihren Niederschlag fand dies in fünf Stanzen, die erstmals 1817 in der Zeitschrift Zur Morphologie erschienen, zusammengefasst unter der Überschrift Urworte. Orphisch. Sie standen im Zusammenhang mit seinem Bemühen, die Lebensgesetze in Gestalt von Urpflanze und Urphänomenen zu erkennen. 1821 folgte die einbändige Erstfassung von Wilhelm Meisters Wanderjahre, die im Wesentlichen aus einer Sammlung teilweise schon zuvor veröffentlichter Novellen bestand.In diesen Jahren entstand Geschichte meines botanischen Studiums (1817), bis 1824 folgten in der Schriftenreihe Zur Naturwissenschaft überhaupt Gedanken unter anderem zu Morphologie, Geologie und Mineralogie. Hier findet sich auch die Darstellung der Morphologie der Pflanzen in Form einer Elegie, die er bereits um 1790 für seine Geliebte verfasst hatte. In dieser Zeit stand er auch in Kontakt mit dem Forstwissenschaftler Heinrich Cotta, den er bereits 1813 erstmals in Tharandt aufgesucht hatte. 1818 war Goethe Mitglied der Leopoldina, einer der renommiertesten naturwissenschaftlichen Gesellschaften, geworden.Im Februar 1823 erkrankte Goethe lebensbedrohlich, wahrscheinlich an einem Herzinfarkt. Nach seiner Genesung erschien er manchen geistig noch reger als zuvor. ==== Marienbader Elegie ==== Im Sommer brach er mit großer Erwartung auf ein Wiedersehen mit Ulrike von Levetzow nach Marienbad auf. Er hatte die damals Siebzehnjährige mit ihrer Mutter 1821 während eines Kuraufenthaltes in Marienbad kennengelernt und sich in sie verliebt. Im darauffolgenden Jahr waren sie wieder in Marienbad zusammengetroffen und hatten gemeinsame gesellige Stunden verbracht. Beim dritten Zusammentreffen hielt der zu diesem Zeitpunkt vierundsiebzigjährige Goethe um die Hand der neunzehnjährigen Ulrike an. Zum Brautwerber hatte er seinen Freund, den Großherzog Carl August, gebeten. Ulrike lehnte höflich ab. Noch in der Kutsche, die ihn über mehrere Stationen (Karlsbad, Eger) nach Weimar zurückbrachte, schrieb er die Marienbader Elegie, ein lyrisches Meisterwerk und „das bedeutendste, das persönlich intimste und darum von ihm auch geliebteste Gedicht seines Alters“ im Urteil Stefan Zweigs, der seiner Entstehungsgeschichte ein Kapitel seiner historischen Miniaturen Sternstunden der Menschheit widmete. ==== Die letzten Jahre ==== Danach gehörte sein Leben „allein noch der Arbeit“. Er nahm die Arbeit am zweiten Teil des Faust wieder auf. Er schrieb kaum noch selbst, sondern diktierte. So konnte er nicht nur einen umfangreichen Briefwechsel bewältigen, sondern auch seine Erkenntnisse und Lebensweisheiten in weit ausholenden Gesprächen dem ihm ergebenen jungen Dichter Johann Peter Eckermann anvertrauen. Für die Sammlung, Sichtung und Ordnung der schriftstellerischen Ergebnisse seines ganzen Lebens bei der Vorbereitung der Cotta-Ausgabe letzter Hand konnte Goethe sich auf einen Stab von Mitarbeitern stützen: neben dem Schreiber und Kopisten Johann August Friedrich John waren das der Jurist Johann Christian Schuchard, der Goethes Papiere archivierte und umfangreiche Register erstellte, sowie Johann Heinrich Meyer, zuständig für die Textrevision von Goethes kunsthistorischen Schriften, und der Prinzenerzieher Frédéric Soret, der sich der Herausgabe der naturwissenschaftlichen Schriften widmete. Auch der Bibliothekar und Schriftsteller Friedrich Wilhelm Riemer war, nach einem kurzzeitigen Zerwürfnis wegen der Erziehung von Goethes Sohn, wieder zum Mitarbeiterstab gestoßen. An dessen Spitze stand seit 1824 Eckermann, den Goethe ins Vertrauen zog und mit Anerkennung und Lob bedachte. Obwohl er Goethe seine ganze Arbeitskraft widmete, wurde er von ihm schlecht honoriert. Seinen Lebensunterhalt musste er zusätzlich durch Sprachunterricht für englische Bildungsreisende bestreiten. Goethe bestimmte ihn testamentarisch zum Herausgeber seiner nachgelassenen Werke. 1828 starb Goethes Freund und Förderer, der Großherzog Carl August, im November 1830 sein Sohn August. In demselben Jahr schloss er die Arbeit am zweiten Teil des Faust ab. Es war ein Werk, an dem ihm das jahrelange Werden das Wichtigste war, formal ein Bühnenstück, tatsächlich kaum auf der Bühne spielbar, eher ein phantastischer Bilderbogen, vieldeutig wie viele seiner Dichtungen. Schließlich schaltete er sich noch in die Kontroverse der beiden Paläontologen Georges Cuvier und Étienne Geoffroy Saint-Hilaire (Katastrophismus vs. kontinuierliche Entwicklung der Arten) ein. Geologie und Entwicklungslehre beschäftigten ihn ebenso wie der Regenbogen, den er mittels seiner Farbenlehre nie hatte erklären können. Auch die Frage, wie Pflanzen wachsen, ließ ihn nicht los. Im August 1831 zog es Goethe nochmals in den Thüringer Wald, dahin, wo er einst seine ersten naturwissenschaftlichen Anregungen bekommen hatte, und er begab sich nach Ilmenau. 51 Jahre nachdem er 1780 an eine Bretterwand in der Jagdhütte „Goethehäuschen“ auf dem Kickelhahn bei Ilmenau sein bekanntestes Gedicht Wandrers Nachtlied („Über allen Gipfeln ist Ruh …“) geschrieben hatte, besuchte er diese Stätte 1831 kurz vor seinem letzten Geburtstag erneut. In der Nacht auf den 21. März 1832 überfiel Goethe „nach einem vorhergegangenen ganz leichten Catarrh, plötzlich der heftigste Frost; Krämpfe in Brust und Unterleib machten besorgt. Erst am Morgen durfte der Arzt gerufen werden.“ Der hinzugezogenen Mediziner war Goethes Hausarzt Carl Vogel. Am Abend des 21. März hatte sich der Zustand des Kranken gebessert, und er soll nach dem Buch Seize mois, ou la révolution et les révolutionnaires von Narcisse-Achille de Salvandy verlangt haben.Am 22. März 1832 starb Goethe, vermutlich an einem Herzinfarkt. Zeitgenössische Quellen sprachen davon, Goethe sei am Mittag des 22. März „sanft und friedlich, weniger an einem Stickfluss, als an gleichzeitiger Erschöpfung aller Lebenssysteme“ bzw. „nach einem Krankenlager von vier Tagen, an den Folgen eines gastrisch-nervösen Fiebers“ verstorben.Ob Goethes überlieferten letzten Worte „Mehr Licht!“ authentisch sind, ist umstritten. Sie wurden von seinem Hausarzt Carl Vogel mitgeteilt, der sich jedoch im betreffenden Moment nicht im Sterbezimmer aufhielt. Vier Tage später wurde er in der Weimarer Fürstengruft bestattet. Sein Sarg war „in antiker Form mit Handhaben von Eisen, […] aus eichenen Bohlen und mit Bley gefüttert“. Er trug die schlichte Inschrift Goethe und „war nach der Zeichnung gemacht, welche Goethe zu dem Sarge entworfen hatte, der Schiller’s irdische Ueberreste in der Fürstengruft einschließen sollte“. === Goethes Einzigartigkeit === Goethes Biographen haben häufig auf die Einzigartigkeit und enge Verwobenheit von Goethes Leben und Werk aufmerksam gemacht. Im Untertitel seiner Biographie – Kunstwerk des Lebens – hat Rüdiger Safranski dies auf den Punkt gebracht. Georg Simmel zentrierte seine Goethe-Monographie von 1913 auf die exemplarische geistige Existenz Goethes mit der Verkörperung einer unverwechselbaren Individualität. Der George-Schüler Friedrich Gundolf widmete seine Monographie von 1916 der „Darstellung von Goethes gesamter Gestalt, der größten Einheit worin deutscher Geist sich verkörpert hat“, und in der „Leben und Werk“ nur als verschiedene „Attribute einer und derselben Substanz“ erscheinen. Das Wort vom „Olympier“ kam schon zu Goethes Lebzeiten auf. Weniger blumenreich spricht der Psychoanalytiker Kurt R. Eissler in seiner umfangreichen Goethe-Studie von einem „kreativen Genie“ und umreißt dessen unglaublich weiten Gesichts- und Aktivitätskreis: == Goethes „gegenständliches Denken“ == Ein zusammenhängendes Weltbild bei Goethe zu vermuten wäre falsch; angemessener ist es von seinem Weltverständnis zu sprechen. Er hat sich in den Bereichen Philosophie, Theologie und Naturwissenschaft Wissen in einem Umfang und einer Breite angeeignet wie kein Dichter seiner Zeit, aber dieses Wissen nicht zu einem System vereinigt. Gleichwohl ging er von der Einheit des menschlichen Wissens und der Erfahrungen aus, vom Zusammenhang von Kunst und Natur, Wissenschaft und Poesie, Religion und Dichtung. „Für Philosophie im eigentlichen Sinne hatte ich kein Organ“, bekannte er in seinem Aufsatz Einwirkung der neueren Philosophie (1820). Damit bezeugte er seine Abneigung gegen begriffliche Abstraktionen, in deren Sphäre er sich nicht wohlfühlte. Die aus den verschiedensten Wissensbereichen übernommenen Befunde und Erkenntnisse befruchteten und bereicherten jedoch fast alles, was er schrieb.Für das Verständnis seines philosophischen, naturwissenschaftlichen und künstlerischen Denkens sind „Anschauung“ und „gegenständliches Denken“ aufschlussreiche Schlüsselbegriffe. Immanuel Kants Kritik der Vernunft stellte er die Forderung nach einer Kritik der Sinne entgegen. Goethe bestand darauf, durch Anschauung und Nachdenken Erkenntnisse zu gewinnen, auch über „Urphänomene“ wie die „Urpflanze“. „Anschauung“ hieß für ihn der empirische Bezug auf die Phänomene durch Beobachtung und Experiment; darin folgte er der induktionistischen Methode von Francis Bacon. „Gegenständliches Denken“ ist die auf Goethe gemünzte Formulierung des Leipziger Psychiatrieprofessors Heinroth, die Goethe in seinem Aufsatz Bedeutende Fördernis durch ein einziges geistreiches Wort dankbar aufgriff. Goethe stimmte Heinroth auch darin zu, „daß mein Anschauen selbst ein Denken, mein Denken ein Anschauen sei“. Im weiteren Gedankengang seines Aufsatzes bezog er dieses Denken sowohl auf seine naturwissenschaftlichen Forschungen als auch auf seine „gegenständliche Dichtung“. Friedrich Schiller urteilte gegenüber Körner, dass Goethes Philosophie „zu viel aus der Sinnenwelt [holt]“. Heinrich Heine erkannte mit Bewunderung Goethes „Vermögen des plastischen Anschauens, Fühlens und Denkens“. „Lernbegier an den Dingen“ nannte es Andreas Bruno Wachsmuth, der langjährige Präsident der Goethe-Gesellschaft. === Naturverständnis === Der Goetheforscher Dieter Borchmeyer ist der Ansicht, dass Goethe die meiste Zeit seines Lebens der Naturwissenschaft gewidmet hat. Stefan Bollmann konstatiert in einer Monografie über Goethes Forschungen zur Natur: „Man wird sich an den Gedanken gewöhnen müssen, dass Deutschlands größter Dichter Naturwissenschaftler war.“ Jedenfalls war Goethes gesamtes Leben von einem intensiven Umgang mit der Natur gekennzeichnet, wobei sein Zugang ein doppelter war: fühlend und erlebend als Künstler, anschauend und analysierend als Gelehrter und Naturforscher. Für Goethe war die Natur in ihren unendlichen Facetten unmöglich als Ganzes zu erfassen: Sie „hat kein System; sie hat, sie ist Leben und Folge aus einem unbekannten Zentrum zu einer nicht erkennbaren Grenze. Naturbetrachtung ist daher endlos […]“. Sein „Naturdenken“ liefert den Schlüssel zum Verständnis seiner intellektuellen Biographie wie seines literarischen Werkes. Andreas Wachsmuth zufolge erhob Goethe „die Natur als Erlebnis- und Erkenntnisbereich zur höchsten Bildungsangelegenheit des Menschen“.Seit den Straßburger Jahren und angestoßen von Herder wies Goethe der Natur in seinem Leben einen zentralen Stellenwert zu. Waren es zuerst unter dem Einfluss von Rousseau, Klopstock und Ossian das Naturerleben und das Naturgefühl, die ihn berührten, entwickelte sich ab 1780 in Weimar ein zunehmendes Interesse an Naturforschung und Naturwissenschaften. Der Philosoph Alfred Schmidt nennt es den vollzogenen „Schritt vom Naturgefühl zum Naturwissen“. Als naturbeobachtender Gelehrter forschte Goethe in vielen Disziplinen: Morphologie, Geologie, Mineralogie, Optik, Botanik, Zoologie, Anatomie, Meteorologie. Dabei beschäftigten ihn, wie er sich rückblickend gegenüber Eckermann äußerte, „solche Gegenstände, die mich irdisch umgaben und die unmittelbar durch die Sinne wahrgenommen werden konnten“.Zu seinen Schlüsselbegriffen zählten Metamorphose und Typus einerseits, Polarität und Steigerung andererseits. Die Metamorphose verstand er als einen allmählichen Formwandel innerhalb der Grenzen, die der jeweilige Typus („Urpflanze“, „Urtier“) setzt. Der Wandel erfolgt in einem kontinuierlichen Prozess des Anziehens und Abstoßens (Polarität), der eine Steigerung zu Höherem herbeiführt.Im pantheistischen Gedanken, Natur und Gott identisch zu denken, verknüpften sich Natur- und Religionsverständnis Goethes. === Religionsverständnis === Abgesehen von einer kurzen Phase der Annäherung an pietistische Glaubensvorstellungen, die ihren Höhepunkt während Goethes Rekonvaleszenz von einer schweren Erkrankung in den Jahren 1768–1770 fand, blieb er gegenüber der christlichen Religion kritisch eingestellt. Schon früh hatte er dem mit ihm befreundeten Theologen Johann Caspar Lavater in einem Antwortbrief 1782 beschieden, er sei „zwar kein Widerkrist, kein Unkrist[,] aber doch ein dezidirter Nichtkrist“. Der Goetheforscher Werner Keller fasst Goethes Vorbehalte gegen das Christentum in drei Punkten zusammen: „Die Kreuzessymbolik war für Goethe ein Ärgernis, die Lehre von der Erbsünde eine Entwürdigung der Schöpfung, Jesu Vergottung in der Trinität eine Blasphemie des einen Gottes.“Laut Heinrich Heine nannte man Goethe „den großen Heiden […] allgemein in Deutschland“. In seiner durchweg optimistischen Sicht auf die menschliche Natur konnte er die Dogmen von Erbsünde und ewiger Verdammnis nicht akzeptieren. Seine „Weltfrömmigkeit“ (ein Begriff von Goethe aus Wilhelm Meisters Wanderjahre) brachte ihn in Gegensatz zu allen weltverachtenden Religionen; alles Übernatürliche lehnte er ab. In seiner großen Sturm-und-Drang-Ode Prometheus fand Goethes religiöse Rebellion ihren stärksten dichterischen Ausdruck. Nicholas Boyle sieht in ihr Goethes „explizite und wütende Absage an den Gott der Pietisten und den verlogenen Trost ihres Erlösers“. Heißt es in der zweiten Strophe des Rollengedichts „Ich kenne nichts Ärmer’s / Unter der Sonn’ als euch Götter“, dann steigert sich die prometheische Revolte am Ende der siebenstrophigen Ode zur trotzigen Herausforderung von Zeus, dem Prometheus entgegenschleudert: „Hier sitz ich, forme Menschen / Nach meinem Bilde, / Ein Geschlecht, das mir gleich sei, / Zu leiden, weinen, / Genießen und zu freuen sich, / Und dein nicht zu achten, / Wie ich.“ Zwar beschäftigte Goethe sich intensiv mit Christentum, Judentum und Islam und deren maßgeblichen Texten, doch wandte er sich gegen jede Offenbarungsreligion und gegen die Vorstellung eines persönlichen Schöpfer-Gottes. Der Einzelne müsse das Göttliche in sich selber finden und nicht einer äußeren Offenbarung aufs Wort folgen. Der Offenbarung setzte er die Anschauung entgegen. Navid Kermani spricht von einer „Religiosität der unmittelbaren Anschauung und allmenschlichen Erfahrung“, die „ohne Spekulation und fast ohne Glauben“ auskomme. „Natur hat weder Kern noch Schale / Alles ist sie mit einem Male“, heißt es in Goethes Gedicht Allerdings. Dem Physiker. von 1820, womit er betonte, dass die Natur in der Gestalt zugleich ihr Wesen zeige. Auf Friedrich Heinrich Jacobis Schrift gegen Spinoza hatte er 1785 dem Freund geantwortet, ein göttliches Wesen könne er nur in und aus den Einzeldingen erkennen, Spinoza „beweist nicht das Dasein Gottes, das Dasein ist Gott“. In einem weiteren Schreiben verteidigte er Spinoza mit den Worten: „Ich halte mich fest und fester an die Gottesverehrung des Atheisten […] und überlasse euch alles was ihr Religion heisst“.In seinen Naturstudien fand Goethe die Grundfesten der Wahrheit. Immer wieder bekannte er sich als Pantheist in der philosophischen Tradition Spinozas und als Polytheist in der Tradition der klassischen Antike. Einem Reisenden gegenüber, berichtet Dorothea Schlegel, habe Goethe erklärt, er sei „in der Naturkunde und Philosophie ein Atheist, in der Kunst ein Heide und dem Gefühl nach ein Christ“.Die Bibel und der Koran, mit dem er sich zur Zeit der Dichtung am West-östlichen Divan beschäftigt hatte, waren ihm „poetische Geschichtsbücher, da und dort mit Weisheiten durchsetzt, doch auch mit zeitgebundenen Torheiten“. Religionslehrer und Dichter sah er als „natürliche Gegner“ und Rivalen an: „die religiösen Lehrer möchten die Werke der Dichter ‚unterdrücken‘, ‚bei Seite schaffen‘, ‚unschädlich machen‘.“ Abgelöst von den Dogmen fand er in der Ikonographie und der erzählerischen Tradition aller bedeutenden Religionen, einschließlich des Islam und des Hinduismus, reiche Quellen für seine poetischen Symbole und Allusionen; die stärksten Zeugnisse davon liefern der Faust und der West-östliche Divan.Goethe liebte die plastische Darstellung der antiken Götter und Halbgötter, der Tempel und Heiligtümer, während ihm das Kreuz und die Darstellung gemarterter Leiber geradezu verhasst waren. Dem Islam begegnete Goethe mit Respekt, aber nicht kritiklos. In den Noten und Abhandlungen zum besseren Verständnis des West-östlichen Divans kritisierte er, Mohammed habe seinem Stamme „eine düstere Religionshülle übergeworfen“; dazu zählte er das negative Frauenbild, das Wein- und Rauschverbot und die Abneigung gegen die Poesie.Kirchliche Zeremonien und Prozessionen waren ihm „seelenloses Gepränge“ und „Mummereyen“. Die Kirche wolle herrschen und brauche dazu „eine bornierte Masse, die sich duckt und die geneigt ist, sich beherrschen zu lassen“. Die ganze Kirchengeschichte sei ein „Mischmasch von Irrtum und von Gewalt“. Mit Anteilnahme und tiefgründigem Humor schilderte er andererseits das traditionelle Sankt-Rochus-Fest zu Bingen – ähnlich wie schon in seiner früheren Beschreibung des „Römischen Karnevals“ (1789) – als ein heiteres Volksfest, bei dem das Leben als gut und schön bejaht und jeder christlichen Askese abgeschworen wurde. Gleichwohl sah er im Christentum „eine Ordnungsmacht, die er respektierte und die er respektiert sehen wollte“. Das Christentum sollte zwar den gesellschaftlichen Zusammenhang im Volk fördern, doch für die geistige Elite war es aus Goethes Sicht überflüssig, denn: „Wer Wissenschaft und Kunst besitzt, / hat auch Religion; / wer jene beiden nicht besitzt, / der habe Religion.“Andererseits war ihm die Vorstellung der Wiedergeburt nicht fremd. Sein Unsterblichkeitsglaube basierte jedoch nicht auf religiösen, sondern philosophischen Prämissen, etwa auf der Leibnizschen Konzeption der unzerstörbaren Monade oder der Aristotelischen Entelechie. Aus dem Gedanken der Tätigkeit entwickelte er im Gespräch mit Eckermann die These, dass die Natur verpflichtet sei, „wenn ich bis an mein Ende rastlos wirke, […] mir eine andere Form des Daseins anzuweisen, wenn die jetzige meinem Geist nicht ferner auszuhalten vermag“. === Ästhetisches Selbstverständnis === Als Rezensent der von seinem Darmstädter Freund Johann Heinrich Merck geleiteten Frankfurter Gelehrten Anzeigen setzte sich Goethe in seiner Sturm-und-Drang-Periode mit der Ästhetik des damals einflussreichen Johann Georg Sulzer auseinander. Dem traditionellen ästhetischen Prinzip, dass Kunst Nachahmung der Natur sei, stellte Goethe in seiner frühen Ästhetik das Genie gegenüber, das in seinem schöpferischen Ausdruck selbst wie die Natur schaffe. Dichterisches Schaffen sei Ausdruck ungezügelter Natur und Shakespeare deren personifizierte Schöpferkraft.Während seiner Italienreise bildete sich die Kunstanschauung Goethes heraus; sie war eng verbunden mit den Namen Johann Joachim Winckelmann und dem klassizistischen Baumeister Andrea Palladio. Im Winckelmannschen Klassizismus erkannte er die für ihn gültige Kunstwahrheit, wie schon am Beispiel Shakespeares formuliert: sie ist nicht einfach nachgeahmte, sondern gesteigerte Natur. Später würdigte er Winckelmann mit der Herausgabe von Briefen und Skizzen in dem Sammelwerk Winckelmann und sein Jahrhundert (1805). Nach seiner Rückkehr aus Italien gewannen für Goethe die Gedanken der Autonomieästhetik, die Karl Philipp Moritz in der Schrift Über die bildende Nachahmung des Schönen (1788) niedergelegt hatte, große Bedeutung. Diese Schrift war Goethe zufolge aus Gesprächen zwischen ihm und Moritz in Rom hervorgegangen. Sie postulierte, dass das Kunstwerk keinem Fremdzweck diene und der Künstler keinem dienstbar sei, sondern als Schöpfer mit dem Erzeuger des Universums auf einer Stufe stehe. In diesem Anspruch fand Goethe auch die Lösung seines Dilemmas zwischen höfischer und künstlerischer Existenz: Als Schöpfer literarischer Schönheit lässt sich der Künstler durch einen Mäzen versorgen, ohne damit dessen Zwecken zu dienen.Im Gegensatz zu Schiller lehnte er es ab, poetische Werke als Gestaltung von Ideen zu begreifen. Mit Blick auf den Faust fragte er rhetorisch, was wohl das Ergebnis gewesen wäre, „wenn ich ein so reiches, buntes und höchst mannigfaltiges Leben, wie ich es im ‚Faust‘ zur Anschauung gebracht, auf die magere Schnur einer einzigen durchgehenden Idee hätte reihen wollen!“ Dem fügt sich die im gleichen Gespräch von Eckermann festgehaltene Äußerung Goethes: „je inkommensurabeler und für den Verstand unfaßlicher eine poetische Produktion, desto besser“. Auch Denis Diderots Ansicht, dass die Kunst eine getreue Nachbildung der Natur vermitteln solle, lehnte er ab. Er bestand auf der Unterscheidung von Natur und Kunst. Ihm zufolge organisiert die Natur „ein lebendiges gleichgültiges Wesen, der Künstler ein totes, aber ein bedeutendes, die Natur ein wirkliches, der Künstler ein scheinbares. Zu den Werken der Natur muß der Beschauer erst Bedeutsamkeit, Gefühl, Gedanken, Effekt, Wirkung auf das Gemüt selbst hinbringen, im Kunstwerk will und muß er alles schon finden.“ Der Kunst, so resümiert Karl Otto Conrady, ist ein entscheidendes Mehr vorbehalten, das sie von der Natur abhebt. Der Künstler fügt der Natur etwas hinzu, was ihr nicht zu eigen ist.Schiller hatte in seiner Schrift Über naive und sentimentalische Dichtung – einer für die „Selbstdefinition der Weimarer Klassik“ sehr wichtigen „dichtungstypologischen Abhandlung“ – Goethe als naiven Dichter charakterisiert und ihn in eine Ahnenreihe mit Homer und Shakespeare gestellt. In den naiven Dichtern sah Schiller ein Streben zur „Nachahmung des Wirklichen“, ihr Objekt sei die vom Dichter durch Kunst geschaffene Welt. Demgegenüber sei das Schaffen des sentimentalischen Dichters selbstreflexiv auf die „Darstellung des Ideals“ der verlorenen Natur gerichtet. Goethe, der Realist und Optimist, versagte es sich auch, seine Dramen und Romane mit Tod und Katastrophe enden zu lassen. In einem Brief an Schiller vom 9. Dezember 1797 bezweifelte er, dass er „eine wahre Tragödie schreiben könnte“. Seine Dramen und Romane enden meist untragisch mit Entsagung, so der Roman Wilhelm Meisters Wanderjahre mit dem bezeichnenden Untertitel Die Entsagenden. In den Wahlverwandtschaften gestaltete er (in der Person Ottilie) das Thema der Entsagung ins Asketische und Heilige; diesen Roman führte er zu einem tragischen Ende.Mit seiner Wortprägung von der „Weltliteratur“ setzte der späte Goethe den partikulären Nationalliteraturen eine „allgemeine Weltliteratur“ entgegen, die „weder dem Volke noch dem Adel, weder dem König noch dem Bauer“ gehöre, sondern „Gemeingut der Menschheit“ sei. In seiner literarischen Produktion samt Übersetzungen aus den wichtigsten europäischen Sprachen demonstrierte Goethe die Spannweite seines ästhetischen Zugriffs auf Literaturen Europas, des Nahen und Fernen Ostens und der Klassischen Antike in eindrucksvoller Weise. Von der Rezeption persischer und chinesischer Lyrik geben die Gedichtzyklen West-östlicher Divan und Chinesisch-deutsche Tages- und Jahreszeiten Zeugnis. Goethe stand in brieflichem Kontakt mit europäischen Schriftstellern, so mit dem schottischen Essayisten und Verfasser von The Life von Schiller (1825), Thomas Carlyle, mit Lord Byron und dem Italiener Alessandro Manzoni. Er übersetzte die Memoiren des Renaissance-Goldschmieds Benvenuto Cellini und Diderots satirisch-philosophischen Dialog Rameaus Neffe. Regelmäßig las er ausländische Journale wie die französische Literaturzeitschrift Le Globe, die kulturgeschichtliche italienische Zeitschrift L'Eco und die Edinburgh Review. Gerhard R. Kaiser vermutet, dass in Goethes Äußerungen über Weltliteratur die Verfasserin von De l’Allemagne. (Über Deutschland. 1813), Madame de Staël, die 1803 Weimar einen Besuch abgestattet hatte, unausgesprochen präsent sei, weil ihr Werk den sich zu Goethes Zeiten vollziehenden weltliterarischen Prozess beschleunigt habe.Im Gespräch mit Eckermann postulierte er: „National-Literatur will jetzt nicht viel sagen, die Epoche der Welt-Literatur ist an der Zeit und jeder muß jetzt dazu wirken, diese Epoche zu beschleunigen.“ Während er in seinen letzten Jahren die neuere deutsche Literatur kaum einer Erwähnung für würdig befand, las er „aus Frankreich Balzac, Stendhal, Hugo, aus England Scott und Byron, und aus Italien Manzoni“. == Werk == Das künstlerische Werk Goethes ist vielfältig. Den bedeutendsten Platz nimmt das schriftstellerische Werk ein. Daneben stehen das zeichnerische Werk mit über 3.000 hinterlassenen Arbeiten, die 26-jährige Theaterdirektion in Weimar und nicht zuletzt die Planung des „Römischen Hauses“ im Park an der Ilm. Sein Werk übergreifen und durchdringen seine Ansichten zur Natur und zur Religion und sein ästhetisches Verständnis. === Lyrik === Von seiner Jugend bis ins hohe Alter war Goethe Lyriker. Mit seinen Gedichten prägte er die literarischen Epochen des Sturm und Drangs und der Weimarer Klassik. Ein großer Teil seiner Lyrik erlangte Weltgeltung und gehört zum bedeutendsten Teil des lyrischen Kanons der deutschsprachigen Literatur. Im Laufe von etwa 65 Jahren schrieb er mehr als 3000 Gedichte, die teils eigenständig, teils in Zyklen wie den Römischen Elegien, dem Sonettenzyklus, dem West-östlichen Divan oder der Trilogie der Leidenschaft erschienen. Das lyrische Werk zeigt eine erstaunliche Formen- und Ausdrucksvielfalt und entspricht der Weite des inneren Erlebens. Neben langen, mehrere hundert Verse umfassenden Gedichten stehen kurze Zweizeiler, neben Versen mit hoher sprachlicher und metaphorischer Komplexität einfache Sprüche, neben strengen und antikisierenden Metren liedhafte oder spöttische Strophen sowie reimlose Gedichte in freien Rhythmen. Mit seinem lyrischen Gesamtwerk hat Goethe das deutschsprachige Gedicht „erst eigentlich geschaffen“ und Vorbilder hinterlassen, an denen sich nahezu alle nachfolgenden Dichter gemessen haben.In seiner lyrischen Produktion hat Goethe sich alle aus der (alten und neuen) Weltliteratur bekannten Formen dieser literarischen Gattung mit metrischer Virtuosität zu eigen gemacht. Sein poetisches Ausdrucksvermögen wurde ihm so selbstverständlich „wie Essen und Atmen“. Bei der Zusammenstellung seiner Gedichte ist er selten chronologisch vorgegangen, sondern nach Kriterien der thematischen Kohärenz, wobei sich die einzelnen Gedichte gegenseitig ergänzen, aber auch widersprechen konnten. Das stellt die Goetheforschung bei der Publikation seines lyrischen Werks in kritischen Gesamtausgaben vor große Probleme. Eine Gliederung, die sich als einflussreich erwiesen hat und leicht zugänglich ist, ist die von Erich Trunz in der Hamburger Ausgabe. Die beiden von Trunz herausgegebenen Bände sind im ersten Band, Gedichte und Epen I, in leicht chronologischer Ordnung gegliedert: Frühe Gedichte, Sturm und Drang, Gedichte der ersten Mannesjahre. Die Zeit der Klassik. Alterswerke. Der zweite Band, Gedichte und Epen II. enthält den West-östlichen Divan und die Versepen Reineke Fuchs. Hermann und Dorothea und Achilleis. === Epik === Das epische Werk Goethes umfasst, wie das dramatische, fast alle Formen der epischen Literatur: die Tierfabel (Reineke Fuchs), das Versepos (Hermann und Dorothea), die Novelle (Novelle), den Roman (Die Wahlverwandtschaften, Wilhelm Meisters Lehr- und Wanderjahre) und Briefroman (Die Leiden des jungen Werthers), den Reisebericht (Italienische Reise) und autobiographische Schriften (Dichtung und Wahrheit, Campagne in Frankreich). Goethes erster Roman, Die Leiden des jungen Werthers, wurde zu einem der größten Erfolge der deutschen Literaturgeschichte. Der Verfasser bediente sich einer für das 18. Jahrhundert typischen Erzählform, des Briefromans. Aber er radikalisierte dieses Genre, indem er keinen Briefwechsel zwischen Romanfiguren darstellte, sondern einen monologischen Briefroman schrieb. In Dichtung und Wahrheit bekennt er, dass er mit dem Roman zum ersten Mal von seinem Leben dichterischen Gebrauch gemacht habe. Mit der empfindsamen Gestaltung seiner unerfüllten Liebesgeschichte mit Charlotte Buff in Wetzlar löste er eine regelrechte „Werther-Mode“ aus. Man kleidete sich wie er (blauer Gehrock, gelbe Hosen, braune Stiefel), redete und schrieb wie er. Auch gab es zahlreiche suizidale Nachahmer, denen Werthers Freitod als Vorbild diente (siehe Werther-Effekt). Seinen frühen europäischen Ruf verdankte er diesem Roman, der 1800 in den meisten europäischen Sprachen greifbar war. Selbst Napoleon kam bei der historischen Begegnung mit Goethe am 2. Oktober 1808 in Erfurt auf dieses Buch zu sprechen.Eine zentrale Stellung in Goethes epischem Werk nehmen die Wilhelm Meister-Romane ein. Der Roman Wilhelm Meisters Lehrjahre galt den Romantikern als epochales Ereignis und „Paradigma des romantischen Romans“ (Novalis), den realistischen Erzählern als „Auftakt zur Geschichte des Bildungs- und Entwicklungsromans“ im deutschsprachigen Bereich. Insbesondere den realistischen Erzählern wie Karl Immermann, Gottfried Keller und Adalbert Stifter, später auch Wilhelm Raabe und Theodor Fontane diente er als Paradigma für die poetische Reproduktion der realen Wirklichkeit. Hingegen erscheint das Spätwerk Wilhelm Meisters Wanderjahre durch seine offene Form, mit dem tendenziellen Verzicht auf die inhaltliche Instanz eines zentralen Helden und allwissenden Erzählers, als ein „hochmodernes Kunstwerk“, welches dem Leser „eine Vielzahl von Rezeptionsangeboten macht“. Der erst postum (1911) veröffentlichte Vorläufer Wilhelm Meisters theatralische Sendung – ein fragmentarischer „Urmeister“ – steht inhaltlich noch dem Sturm und Drang näher und wird formal dem Genre des Theater- und Künstlerromans zugeordnet. Unter diesem Genre hatten die Romantiker schon Wilhelm Meisters Lehrjahre rezipiert.Die Wahlverwandtschaften hat Goethe in einer Konversation als sein „bestes Buch“ bezeichnet. In einer Art experimenteller Anordnung bringt er darin zwei Paare zusammen, deren naturgebundenes Schicksal er nach dem Modell chemischer Anziehungs- und Abstoßungskräfte gestaltet, indem er deren Gesetzmäßigkeit den Beziehungen zwischen den beiden Paaren unterlegt. Eine Ambivalenz von sittlichen Lebensformen und rätselhaften Leidenschaften bestimmt das Romangeschehen. Der Roman erinnert an Goethes ersten Roman, den Werther, vornehmlich durch den „unbedingten, ja rücksichtslosen Liebesanspruch“ einer der Hauptpersonen (Eduard), „im Kontrast mit dem selbstbeherrschten Verzicht“ der anderen. Thomas Mann sah in ihm „Goethe’s ideellstes Werk“, das einzige Produkt größeren Umfangs, das Goethe, seinem Selbstzeugnis zufolge, „nach Darstellung einer durchgreifenden Idee gearbeitet“ habe. Das Werk eröffnete die Reihe europäischer Ehe(bruch)romane: Flauberts Madame Bovary, Tolstois Anna Karenina, Fontanes Effi Briest. Es wurde als unmoralisch kritisiert, obwohl der Autor den Ehebruch nur gedanklich vollziehen lässt. Die Italienische Reise veröffentlichte Goethe Jahrzehnte nach seiner Reise. Sie ist kein Reisebuch im üblichen Sinne, sondern eine Selbstdarstellung in der Begegnung mit dem Süden, ein Stück Autobiographie. Im Erstdruck erschien sie 1816–1817 als „Zweite Abteilung“ seiner Autobiographie Aus meinem Leben, deren „Erste Abteilung“ Dichtung und Wahrheit enthielt. Als Grundlage dienten Goethe sein an Charlotte von Stein in losen Folgen geschicktes italienisches Reisejournal und die damaligen Briefe an sie und Herder. Erst 1829 erschien das Werk unter dem Titel Italienische Reise mit einem zweiten Teil: „Zweiter Römischer Aufenthalt“. Darin wechseln redigierte Originalbriefe mit später geschriebenen Berichten.Mit Dichtung und Wahrheit nahm Goethe im ersten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts die Abfassung einer großen Autobiographie in Angriff. Deren ursprüngliche Konzeption war eine zur Metamorphose stilisierte Bildungsgeschichte des Dichters. Bei der Arbeit am dritten Teil geriet er mit diesem Interpretationsmodell in die Krise; er ersetzte es durch die Kategorie des „Dämonischen“, mit der er das Unkontrollierbare eines übermächtigen Natur- wie Geschichtszusammenhangs zu erfassen suchte. Die Darstellung kam nicht über die Schilderung von Kindheit, Jugend, Studium und ersten literarischen Erfolgen hinaus. === Dramatik === Goethe hat seit seiner Jugendzeit bis in seine letzten Lebensjahre mehr als zwanzig Dramen verfasst, von denen Götz von Berlichingen, Clavigo, Egmont, Stella, Iphigenie auf Tauris, Torquato Tasso und vornehmlich die beiden Teile des Faust noch heute zum klassischen Repertoire der deutschen Theater gehören. Obgleich seine Theaterstücke die gesamte Spannweite der Theaterformen – Schäferspiel, Farce, Schwank, Komödie, heroisches Drama, Trauerspiel – umfassen, bilden doch die klassischen Dramen und Tragödien den Schwerpunkt seiner dramatischen Produktion. Drei seiner Theaterstücke wurden zu Meilensteinen der deutschen Dramenliteratur. Mit dem Sturm-und-Drang-Drama Götz von Berlichingen mit der eisernen Hand gelang Goethe der Durchbruch als Dramatiker; es machte ihn über Nacht berühmt. Zeitgenossen sahen in ihm „etwas von Shakespeares Geist“, ja in Goethe den „deutschen Shakespeare“. Neben dem „Götz-Zitat“ schlug sich auch der auf die Hauptperson gemünzte Ausruf „Es ist eine Wollust, einen großen Mann zu sehn“ im sprichwörtlichen Sprachschatz der Deutschen nieder. Ein weiteres historisches Drama, der Egmont, ist gleichfalls um einen einzelnen dominanten Charakter organisiert, auch er in stellvertretender Funktion für den Autor, der seine Werke als „Bruchstücke einer großen Konfession“ verstand.Das Drama Iphigenie auf Tauris gilt als vorbildlich für Goethes Klassizismus. Goethe selbst bezeichnete es gegenüber Schiller als „ganz verteufelt human“. Friedrich Gundolf sah in ihm sogar das „Evangelium der deutschen Humanität schlechthin“. Die ursprüngliche Prosaversion wurde in der endgültigen Fassung (1787) wie der zur gleichen Zeit vollendete Torquato Tasso, das „erste reine Künstlerdrama der Weltliteratur“, in Blankversen verfasst. Die Faust-Tragödie, an der Goethe mehr als sechzig Jahre lang arbeitete, bezeichnet der Faust-Experte und Herausgeber des Bandes mit den Faust-Dichtungen in der Frankfurter Ausgabe, Albrecht Schöne, als die „Summe seiner Dichtkunst“. Mit dem Faust griff Goethe einen Renaissance-Stoff über die Hybris des Menschen auf und spitzte ihn auf die Frage zu, ob sich das Streben nach Erkenntnis mit dem Verlangen nach Glück vereinbaren lässt. Heinrich Heine nannte das Faust-Drama „die weltliche Bibel der Deutschen“. Der Philosoph Hegel würdigte das Drama als die „absolute philosophische Tragödie“, in welcher „einerseits die Befriedigungslosigkeit in der Wissenschaft, andererseits die Lebendigkeit des Weltlebens und irdischen Genusses […] eine Weite des Inhalts gibt, wie sie in ein und demselben Werke […] zuvor kein anderer dramatischer Dichter gewagt hat“. Nach der Reichsgründung wurde Faust zum „nationalen Mythos“, zur „Inkarnation deutschen Wesens und deutschen Sendungsbewußtseins“ verklärt. Neuere Interpretationen drängen den überkommenen Deutungsoptimismus des „Faustischen“ mit seiner Vorbildfigur für rastlosen Drang nach Vervollkommnung zurück und verweisen stattdessen auf das „Ruheverbot“ und den „Bewegungszwang“ im modernen Charakter des „Global Player Faust“ hin.Die auf das französische Drama (vornehmlich das von Pierre Corneille und Jean Baptiste Racine) fixierte Theatertheorie Johann Christoph Gottscheds hat Goethe abgelehnt, wie schon vor ihm Gotthold Ephraim Lessing. Nachdem Herder ihn in Straßburg mit Shakespeares Dramen bekannt gemacht hatte, erschien ihm als Stürmer und Dränger die von Gottsched gemäß Aristoteles geforderte Einheit von Ort, Handlung und Zeit „kerkermäßig ängstlich“ und „lästige Fesseln unserer Einbildungskraft“. Mit Götz von Berlichingens Bericht von seinem Leben fiel ihm ein Stoff in die Hände, der als „deutschnationale[r] Stoff […] dem englischnationalen Stoff Shakespeares entsprach“. Die im Götz gewählte offene dramatische Form wagte Goethe gleichwohl nur noch im Faust. Albrecht Schöne zufolge ging das Stück schon im ersten Teil „aus den gewohnten dramatischen Fugen“ der „traditionell-aristotelischen Einheitsregeln“; im zweiten Teil seien die „Auflösungserscheinungen unübersehbar“. Die späteren Dramen nach dem Götz näherten sich – unter Lessings Einfluss – dem bürgerlichen Drama (Stella, Clavigo) und klassischen Formen an, letzteres am deutlichsten in der Iphigenie, in der die Einheit des Orts (Hain vor Dianas Tempel) und der Zeit gewahrt wird. === Schriften zur Kunst und Literatur === Beginnend mit seinen Jugendwerken, hat Goethe sich Zeit seines Lebens zu Fragen der Kunst und Literatur geäußert. Am Anfang standen zwei „Prosahymnen“ aus den frühen 1770er Jahren: die Rede zum Shakespeare-Tag (1771) und der Hymnus auf das Straßburger Münster und seinen Erbauer Erwin von Steinbach mit der Schrift Von deutscher Baukunst (1772). Im späten Alter schrieb er eine eingehende Würdigung von Leonardos Gemälde Das Abendmahl (1818), in dem er den sakramentalen Charakter des Werks vernachlässigte und an ihm exemplarisch die künstlerische Autonomie mit ihrer eigenen inneren Gesetzlichkeit aufzeigte. Dazwischen lagen zahlreiche kunst- und literaturtheoretische Arbeiten, wie der 1798 im ersten Band seiner Zeitschrift Propyläen veröffentlichte Aufsatz Über Laokoon und die Übersetzung der Autobiographie des italienischen Renaissance-Künstlers Leben des Benvenuto Cellini (1803), ferner das von ihm herausgegebene Sammelwerk Winckelmann und sein Jahrhundert. In Briefen und Aufsätzen (1805) mit seinen Skizzen über Person und Werk Winckelmanns sowie zahlreiche Aufsätze zur europäischen und außereuropäischen Literatur, die Goethes Vorstellung einer entstehenden Weltliteratur bekräftigten. === Briefe === Goethe war nach dem Urteil Nicholas Boyles „einer der größten Briefeschreiber der Welt“, der Brief sei für ihn die „natürlichste literarische Form“ gewesen. Etwa 12.000 Briefe von ihm und 20.000 an ihn sind erhalten. Allein der bedeutsame Briefwechsel zwischen Goethe und Schiller umfasst 1015 überlieferte Briefe. Ungefähr anderthalbtausend Briefe richtete er an Charlotte von Stein. === Zeichnungen === Zeit seines Lebens hat Goethe gezeichnet, „vorzugsweise mit Bleistift, Kohle, Kreide und kolorierter Tinte“, außerdem sind einige frühe Radierungen überliefert. Seine bevorzugten Sujets waren Porträts von Köpfen, Theaterszenen und Landschaften. Hunderte Zeichnungen entstanden während seiner ersten Reise in die Schweiz mit den Stolberg-Brüdern 1775 und auf seiner Italienreise 1786–1788. In Rom lehrten ihn seine Künstlerkollegen das perspektivische Malen und Zeichnen und motivierten ihn zum Studium der menschlichen Anatomie. So erwarb er bei dem berühmten Chirurgen Lobstein Anatomiekenntnisse. Er erkannte dabei aber auch seine Grenzen in diesem Metier. === Naturwissenschaftliche Schriften === Goethes Mittel der Naturerkenntnis war die Beobachtung; Hilfsmitteln wie dem Mikroskop stand er misstrauisch gegenüber: Er war bestrebt, die Natur in ihrem Gesamtzusammenhang mit Einschluss des Menschen zu erkennen. Die Abstraktion, deren sich die Wissenschaft damals zu bedienen begann, betrachtete Goethe wegen der damit verbundenen Isolierung der Objekte vom Betrachter mit Misstrauen. Sein Verfahren ist mit der modernen exakten Naturwissenschaft jedoch nicht zu vereinbaren: „er […] hat den Bereich des unmittelbar sinnlichen Eindrucks und der unmittelbar geistigen Anschauung nicht überschritten in Richtung auf eine abstrakte, mathematisch verifizierbare, unsinnliche Gesetzlichkeit,“ (Karl Robert Mandelkow) stellte der Physiker Hermann von Helmholtz 1853 fest. Goethes Beschäftigung mit der Naturwissenschaft fand vielfach Eingang in seine Dichtung, so in den Faust und in die Gedichte Die Metamorphose der Pflanzen und Gingo biloba. Der Goethe zeitlebens beschäftigende Faust registriert für den Philosophen Alfred Schmidt, wie „die Abfolge von Gesteinsschichten, die Stadien seiner Naturerkenntnis“.Die belebte Natur stellte Goethe sich als in ständigem Wandel begriffen vor. So versuchte er in der Botanik zunächst, die unterschiedlichen Pflanzenarten auf eine gemeinsame Grundform, die „Urpflanze“, zurückzuführen, aus der sich sämtliche Arten entwickelt haben sollten. Später richtete er seine Aufmerksamkeit auf die einzelne Pflanze und glaubte zu erkennen, dass die Teile der Blüte und die Frucht letztlich umgebildete Blätter darstellen. Die Ergebnisse seiner Beobachtungen veröffentlichte er in der Schrift Versuch die Metamorphose der Pflanzen zu erklären (1790). In der Anatomie gelang Goethe 1784, gemeinsam mit dem Anatomieprofessor Justus Christian Loder, zu seiner großen Freude die (vermeintliche) Entdeckung des Zwischenkieferknochens beim menschlichen Embryo. Der Zwischenkieferknochen, zur damaligen Zeit bei anderen Säugetieren bekannt, verwächst beim Menschen vor der Geburt mit den angrenzenden Oberkieferknochen. Seine Existenz beim Menschen wurde von der Mehrheit der damaligen Anatomen bestritten. Aber schon vier Jahre vor Goethes Beobachtung hatte der französische Anatom Félix Vicq d’Azyr vor der Académie Royale des Sciences über seine Existenz an einem menschlichen Fötus berichtet. Sein Nachweis beim Menschen galt damals als wichtiges Indiz für dessen – von vielen Wissenschaftlern bestrittene – Verwandtschaft mit den Tieren.Seine Farbenlehre (erschienen 1810) hielt Goethe für sein naturwissenschaftliches Hauptwerk und verteidigte die darin vertretenen Thesen hartnäckig gegen zahlreiche Kritiker. Im Alter äußerte er, dass er den Wert dieses Werks höher einschätze als den seiner Dichtung. Mit der Farbenlehre stellte Goethe sich gegen diejenige Isaac Newtons, der nachgewiesen hatte, dass das weiße Licht sich aus Lichtern der unterschiedlichen Farben zusammensetzt. Goethe glaubte dagegen aus eigenen Beobachtungen schließen zu können, „daß das Licht eine unteilbare Einheit sei und die Farben aus dem Zusammenwirken von Hellem und Dunklem, Licht und Finsternis entstünden, und zwar durch die Vermittlung eines ‚trüben‘ Mediums“. So erscheine beispielsweise die Sonne rötlich, wenn sich eine trübe Dunstschicht vor ihr ausbreitet und sie abdunkelt. Schon zu Goethes Zeiten erkannte man allerdings, dass diese Phänomene sich auch mit der Theorie Newtons erklären lassen. Die Farbenlehre wurde in ihrem Kern von der Fachwelt schon bald zurückgewiesen, übte aber auf die zeitgenössischen und nachfolgenden Maler, vor allem Philipp Otto Runge, großen Einfluss aus. Zudem erwies sich Goethe damit als „Pionier der naturwissenschaftlichen Farbpsychologie“. Heute wird „sowohl Newton wie auch Goethe teilweise Recht und teilweise Unrecht“ zugebilligt; beide Forscher seien „Beispiele für unterschiedliche Typen experimentellen Arbeitens innerhalb des Systems der modernen Naturwissenschaft“.In der Geologie befasste Goethe sich vor allem mit dem Aufbau einer Mineralien-Sammlung, die bei seinem Tode auf 17.800 Steine angewachsen war. Über die Einzelerkenntnis der Gesteinsarten wollte er generelle Einsichten in die materielle Beschaffenheit der Erde und die Erdgeschichte erlangen. Die neuen Erkenntnisse der chemischen Forschung verfolgte er mit großem Interesse. Im Rahmen seiner Zuständigkeit für die Universität Jena begründete er den ersten Lehrstuhl für Chemie an einer deutschen Hochschule. === Niederschriften von Gesprächen === Für die Goetheforschung sind die umfangreichen Niederschriften von Johann Peter Eckermanns Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens, die von Goethes Unterhaltungen mit dem Kanzler Friedrich von Müller und die Mittheilungen über Goethe von Friedrich Wilhelm Riemer von erheblicher Bedeutung für das Verständnis von Goethes Werk und Persönlichkeit. Die von Eckermann nach Goethes Tod in zwei Teilen 1836 und einem dritten Teil 1848 veröffentlichten Niederschriften umfassen den Zeitraum 1823 bis 1832. Der mit Goethe befreundete und als sein Testamentsvollstrecker von ihm bestimmte Kanzler von Müller schrieb erstmals 1808 eine Unterhaltung mit Goethe nieder. In den nachfolgenden Jahren folgten weitere Gesprächsberichte, zunächst in seinem Tagebuch, dann auf gesonderten Blättern ausgearbeitet. Zwei noch zu seinen Lebzeiten 1832 veröffentlichte Gedächtnisreden auf Goethe ließen den Reichtum seiner Goethe-Aufzeichnungen erkennen, die aber erst 1870 gesammelt aus dem Nachlass veröffentlicht wurden. Friedrich Wilhelm Riemer, ein Sprachuniversalist und Bibliothekar in Weimar, war Goethe während dreier Jahrzehnte, zunächst als Hauslehrer seines Sohnes August, sodann als Schreiber und Sekretär zu Diensten. Er gab unmittelbar nach Goethes Tod dessen Briefwechsel mit Zelter heraus und wirkte an den großen Werkausgaben mit. Seine Mittheilungen erschienen erstmals 1841 in zwei Bänden. === Übersetzungen === Goethe war ein beflissener und vielseitiger Übersetzer. Er übertrug Werke aus dem Französischen (Voltaire, Corneille, Jean Racine, Diderot, de Staël), dem Englischen (Shakespeare, Macpherson, Lord Byron), dem Italienischen (Benvenuto Cellini, Manzoni), dem Spanischen (Calderón) und dem Altgriechischen (Pindar, Homer, Sophokles, Euripides). Auch aus der Bibel übersetzte er neu das Hohe Lied Salomons. == Ehrungen == Goethe erhielt diverse Orden und Auszeichnungen. Napoleon Bonaparte überreichte ihm am 14. Oktober 1808 das Ritterkreuz der französischen Ehrenlegion (Chevalier de la Légion d’Honneur). Napoleon kommentierte die Begegnung mit dem legendären Ausspruch „Voilà un homme!“ (sinngemäß „Was für ein Mann!“). Goethe schätzte diesen Orden, da er ein Verehrer des französischen Kaisers war. 1805 wurde Goethe als Ehrenmitglied an der Universität Moskau aufgenommen. Am 15. Oktober 1808 erhielt er vom Zaren Alexander I. den Russischen Orden der Heiligen Anna 1. Klasse. Im Jahr 1815 zeichnete Kaiser Franz I. Goethe mit dem österreichisch-kaiserlichen Leopold-Orden aus. Am 30. Januar 1816 erhielt Goethe das Großkreuz des vom Großherzog Carl August von Sachsen-Weimar-Eisenach neu belebten Hausordens vom Weißen Falken (auch Hausorden der Wachsamkeit). Die Auszeichnung erhielt er für seine amtliche Tätigkeit als Wirklicher Geheimer Rat beziehungsweise für seine politischen Aktivitäten. Im Jahr 1818 erhielt Goethe vom französischen König Ludwig XVIII. das Offizierskreuz des Ordens der Ehrenlegion. An seinem 78. Geburtstag, dem 28. August 1827, bekam er seinen letzten Orden, das Großkreuz des Verdienstordens der Bayerischen Krone. König Ludwig I. von Bayern war zur Verleihung persönlich angereist. 1830 wurde er Ehrenmitglied des Instituto di corrispondenza archeologica.Goethe hatte ein pragmatisches Verhältnis zu Orden. Gegenüber dem Porträtmaler Moritz Daniel Oppenheim sagte er im Mai 1827: „Ein Titel und ein Orden hält im Gedränge manchen Puff ab …“ Der Asteroid des mittleren Hauptgürtels (3047) Goethe wurde nach ihm benannt. == Nachkommen == Johann Wolfgang von Goethe und seine Frau Christiane von Goethe hatten fünf Kinder. Nur August von Goethe, der zuerst geborene, (* 25. Dezember 1789; † 27. Oktober 1830) erreichte das Erwachsenenalter. Ein Kind wurde bereits tot geboren, die anderen starben alle sehr früh, was in der damaligen Zeit nicht ungewöhnlich war. August hatte drei Kinder: Walther Wolfgang (* 9. April 1818; † 15. April 1885), Wolfgang Maximilian (* 18. September 1820; † 20. Januar 1883) und Alma Sedina (* 29. Oktober 1827; † 29. September 1844). August starb zwei Jahre vor seinem Vater in Rom. Seine Frau Ottilie von Goethe gebar nach seinem Tod ein weiteres (nicht von August stammendes) Kind namens Anna Sibylle, das nach einem Jahr starb. Ihre Kinder blieben unverheiratet, so dass die direkte Nachkommenslinie von Johann Wolfgang von Goethe 1885 ausstarb. Seine Schwester Cornelia hatte zwei Kinder (Nichten Goethes), deren Nachkommen (Linie Nicolovius) noch heute leben. Siehe Goethe (Familie). Goethe hatte seine drei Enkel als Universalerben eingesetzt. Als Überlebender der drei Enkel sicherte Walther das Familienerbe für die Öffentlichkeit. In seinem Testament vermachte er Goethes Archiv der Großherzogin Sophie persönlich, die Sammlungen und den Grundbesitz dem Staat Sachsen-Weimar-Eisenach. == Rezeption == Die Rezeption Goethes als eines Autors, „der wie kaum ein anderer weltweit in alle Lebensbereiche hinein gewirkt und seine prägenden Spuren hinterlassen hat“, ist außerordentlich vielfältig und geht weit über die literarisch-künstlerische Bedeutung seines Werks hinaus. === Rezeption zu Lebzeiten im In- und Ausland === Mit dem Götz von Berlichingen (Erstdruck 1773, Uraufführung 1774) erzielte Goethe einen durchschlagenden Erfolg beim literarisch gebildeten Publikum noch vor der Uraufführung im Berliner Comödienhaus. Für Nicholas Boyle war er „von nun an und für den Rest seines langen Lebens eine öffentliche Gestalt, und sehr bald schon sah man in ihm den prominentesten Vertreter einer Bewegung“, die im 19. Jahrhundert als Sturm und Drang bezeichnet wurde. Den Höhepunkt seiner Popularität erreichte Goethe als Fünfundzwanzigjähriger mit dem Werther-Roman. Das Werk fand Zugang zu allen Leserschichten und löste eine breite Auseinandersetzung aus, behandelte es doch „zentrale religiöse, weltanschauliche und gesellschaftspolitische Probleme“, die die „Prinzipien bürgerlicher Lebensordnung“ in Frage stellten.Deutsche Literaturhistoriker unterteilen Goethes Dichtung gewöhnlich in drei Perioden: Sturm und Drang, Weimarer Klassik und Alterswerk, während von außerhalb Deutschlands das „Zeitalter Goethes“ als eine Einheit und als Teil des „Zeitalters der europäischen Romantik“ gesehen wird. Als Opponent der romantischen Dichtung galt und gilt Goethe der deutschen Literaturkritik – sein Wort „Klassisch ist das Gesunde, romantisch das Kranke“ gehört zu den häufig zitierten. Jene verallgemeinernde Sicht vernachlässigt jedoch diesen Gegensatz und führt zum Bild einer klassisch-romantischen Periode von Klopstock bis Heinrich Heine, in der Goethe die bedeutende Rolle zukam, die klassischen Konventionen französischen Ursprungs mit romantischen Ideen und innovativen poetischen Praktiken durchbrochen zu haben.Die Wahrnehmung der zeitgenössischen deutschen Romantiker von Goethe war ambivalent. Er war einerseits der „intellektuelle Fokus“ der Jenaer Romantiker, die ihn als „wahren Statthalter des poetischen Geistes auf Erden“ (Novalis) und seine Dichtung als „Morgenröte echter Kunst und reiner Schönheit“ (Friedrich Schlegel) glorifizierten. Mit ihrem Konzept der Universalpoesie antizipierten sie Goethes Begriff der Weltliteratur. Andererseits kritisierten sie nach ihrer Hinwendung zum Katholizismus den zuvor gepriesenen Wilhelm Meister-Roman als „künstlerischen Atheismus“ (Novalis) und Goethe als „deutschen Voltaire“ (Friedrich Schlegel).Ebenfalls ambivalent, wenn auch in anderer Weise, würdigte Heinrich Heine in seiner Schrift Die romantische Schule Goethes Persönlichkeit und Dichtung: Er feierte ihn einerseits als Olympier und „absoluten Dichter“, dem alles, was er schrieb, zum „abgerundeten Kunstwerk“ gelang, vergleichbar nur mit Homer und Shakespeare, kritisierte aber andererseits seine politische Indifferenz im Hinblick auf die Entwicklung des deutschen Volkes.Mit ihrem 1813 erschienenen Buch De l’Allemagne (Über Deutschland) machte Madame de Staël Frankreich und im Gefolge auch England und Italien mit deutscher Kultur und Literatur bekannt. In dem europaweit rezipierten Buch charakterisierte sie die zeitgenössische deutsche Literatur als romantische Kunst mit dem Zentrum Weimar und Goethe als exemplarischer Figur, ja als „größten deutschen Dichter“. Erst danach wurde Weimar auch jenseits der deutschen Grenzen zum Inbegriff deutscher Literatur und „erst danach setzten die Pilgerreisen von Intellektuellen aus ganz Europa an den Frauenplan ein, erst danach kam es zu den internationalen Austauschprozessen, die mit Namen wie Manzoni, Carlyle oder Walter Scott verbunden sind“. Gegen Ende seines Lebens fühlte Goethe sich weniger von seinen deutschen als von ausländischen Zeitgenossen akzeptiert, mit denen er in Austausch getreten war und die über seine Werke Artikel publizierten. === Wandel des Goethebildes === Nach des Dichters Tod bis zur Reichsgründung sprach die akademische Goethephilologie von „einer Epoche der Goetheferne und der Goethefeindschaft“ und bezeichnete dessen 100. Geburtstag als den „tiefsten Stand seines Ansehens in der Nation“. Tatsächlich erschien in der Zeitspanne zwischen 1832 und 1871 „keine einzige Goethebiographie von bleibendem Wert“. Aber, wie Mandelkow zu berichten weiß, bildete dieser Abschnitt der Wirkungsgeschichte Goethes ein „Spannungsfeld zwischen Negation und Apotheose“. Die Weimarer Kunstfreunde und Mitarbeiter Goethes – die drei testamentarischen Verwalter von Goethes Nachlass (Eckermann, Riemer, Kanzler Friedrich Müller) und andere aus dem engeren Umkreis – gründeten gleich nach Goethes Tod den ersten „Goethe-Verein“ und legten mit ihren Nachlass-Editionen und -Dokumentationen „das erste Fundament einer Goethephilologie“. Gegen deren Goetheverehrung standen Heinrich Heines und Ludwig Börnes kritische Aneignung Goethes. Beide kritisierten zwar seine auf Ruhe und Ordnung bedachte „Kunstbehaglichkeit“ in einer Zeit politischer Restauration, aber in fundamentalem Gegensatz zu dem erbitterten „Goethehasser“ Börne schätzte Heine Goethes Dichtung als das Höchste. Für das Junge Deutschland stand Goethe im Schatten Schillers, dessen revolutionäre Tendenzen besser in die Zeit des Vormärz passten als die politisch konservative Haltung Goethes.Auch eine christliche Opposition, sowohl von katholischer als auch von protestantischer Seite, bildete sich gegen Goethes Leben und Werk, wobei insbesondere die Wahlverwandtschaften und der Faust ins Fadenkreuz der Kritik gerieten. Mit „unverhohlener Schärfe“ richteten sich verschiedene Kampfschriften kirchlicher Parteigänger gegen den im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts sich abzeichnenden Klassiker- und Goethekult. Der Jesuit Alexander Baumgartner schrieb eine umfangreiche Goethedarstellung, in der er allerdings Goethe als einen „glänzend begabten“ Dichter charakterisierte, aber dessen „unsittliche“ Lebensführung, „unbekümmerte Lebenslust und Genußsucht“ geißelte: „Mitten in einer christlichen Gesellschaft hat er sich offen zum Heidentum bekannt und ebenso offen nach dessen Grundsätzen sein Leben eingerichtet.“ Nachdem Goethe schon seit den 1860er Jahren zum Lektürekanon an deutschen Schulen gehörte, wurde er nach der Reichsgründung 1871 allmählich zum Genius des neuen Reiches erklärt. Beispielhaft dafür standen die Goethe-Vorlesungen Herman Grimms von 1874/75. Ihm zufolge habe Goethe „auf die geistige Atmosphäre Deutschlands gewirkt […] wie ein tellurisches Ereigniß, das unsere klimatische Wärme um so und soviele Grade im Durchschnitte erhöhte“. – „Goethe’s Prosa ist nach und nach für alle Fächer des geistigen Lebens zur mustergültigen Ausdrucksweise geworden. Durch Schelling ist sie in die Philosophie, durch Savigny in die Jurisprudenz, durch Alexander von Humboldt in die Naturwissenschaften, durch Wilhelm von Humboldt in die philologische Gelehrsamkeit eingedrungen.“Eine Flut von Goethe-Ausgaben und Goethe-Sekundärliteratur erschien. Seit 1885 widmet sich die Goethe-Gesellschaft der Erforschung und Verbreitung des Goetheschen Werkes; zu ihren Mitgliedern gehörten die Spitzen der Gesellschaft im In- und Ausland, darunter das deutsche Kaiserpaar. Charakteristisch für den Goethekult des Kaiserreiches war die Verlagerung des Interesses von Goethes Werk auf „das Kunstwerk seines wohlgeführten, bewegten und reichen, und doch durchaus in harmonischer Einheit zusammengehaltenen Lebens“, hinter dem im Allgemeinbewusstsein die dichterische Produktion zu verschwinden drohte. So schrieb der Schriftsteller Wilhelm Raabe 1880: „Goethe ist der deutschen Nation gar nicht der Dichterei usw. wegen gegeben, sondern daß sie aus seinem Leben einen ganzen vollen Menschen vom Anfang bis zum Ende kennenlernen.“ Aus dem Studium von Goethes als beispielhaft empfundenem Leben erhoffte man sich Rat und Nutzen für die eigene Lebensführung. Es gab jedoch auch Stimmen, die die Inhaltsleere des Goethekults in Teilen der Bevölkerung herausstellten. Gottfried Keller bemerkte 1884: „Jedes Gespräch wird durch den geweihten Namen beherrscht, jede neue Publikation über Goethe beklatscht – er selbst aber nicht mehr gelesen, weshalb man auch die Werke nicht mehr kennt, die Kenntnis nicht mehr fortbildet.“ Und Friedrich Nietzsche schrieb 1878: „Goethe ist in der Geschichte der Deutschen ein Zwischenfall ohne Folgen: wer wäre im Stande, in der deutschen Politik der letzten siebenzig Jahre zum Beispiel ein Stück Goethe aufzuzeigen!“In der Weimarer Republik wurde Goethe als geistige Grundlage des neuen Staates beschworen. 1919 verkündete der spätere Reichspräsident Friedrich Ebert, jetzt gelte es, die Wandlung zu vollziehen, „vom Imperialismus zum Idealismus, von der Weltmacht zur geistigen Größe. […] Wir müssen die großen Gesellschaftsprobleme in dem Geiste behandeln, in dem Goethe sie im zweiten Teil des Faust und in Wilhelm Meisters Wanderjahren erfaßt hat“. Der „Geist von Weimar“ wurde als Kontrapunkt zum überwunden geglaubten „Geist von Potsdam“ gesetzt. Praktische Wirkung hatte dieses Bekenntnis jedoch nicht. Die politische Linke kritisierte den Geniekult um Goethe mit dem „Naturschutzpark“ Weimar (Egon Erwin Kisch). Bertolt Brecht erwiderte in einem Rundfunkgespräch: Die Klassiker sind im Krieg gestorben. Es gab jedoch auch bedeutende Schriftsteller, wie Hermann Hesse, Thomas Mann und Hugo von Hofmannsthal, die der linken Klassikerschelte ein positives Goethebild entgegensetzten. Hermann Hesse fragte 1932: „War er am Ende wirklich, wie die ihn nicht gelesen habenden, naiven Marxisten meinen, eben nur ein Heros des Bürgertums, der Mitschöpfer einer subalternen, kurzfristigen, heute längst schon wieder abgeblühten Ideologie?“Anders als mit Schiller, Kleist und Hölderlin, tat sich die nationalsozialistische Kulturpolitik schwer, Goethe für ihre Ziele zu vereinnahmen. Alfred Rosenberg hatte 1930 in seinem Buch Der Mythus des 20. Jahrhunderts erklärt, dass Goethe für die kommenden „Zeiten erbitterter Kämpfe“ nicht brauchbar sei, „weil ihm die Gewalt einer typenbildenden Idee verhaßt war und er sowohl im Leben wie im Dichten keine Diktatur eines Gedankens anerkennen wollte“. Gleichwohl hat es nicht an Versuchen gefehlt, auch Goethe für die Ideologie des NS-Regimes in Anspruch zu nehmen, zum Beispiel in Schriften wie Goethes Sendung im Dritten Reich (August Raabe, 1934) oder Goethe im Lichte des neuen Werdens (Wilhelm Fehse, 1935). Diese Schriften waren die vornehmlichen Quellen, auf die sich die Parteioffiziellen bezogen, so auch Baldur von Schirach in seiner Rede zur Eröffnung der Weimarer Festspiele der Jugend von 1937. Als vielbenutztes Zitatreservoir wurde die Faust-Dichtung missbraucht (besonders Mephistos Ausspruch: „Blut ist ein ganz besonderer Saft“) und Faust als eine „Leitfigur des neuen nationalsozialistischen Menschentypus“ hochstilisiert.In den beiden deutschen Staaten nach 1945 erfuhr Goethe eine Renaissance. Er erschien nun als Repräsentant eines besseren, humanistischen Deutschlands, der über die zurückliegenden Jahre der Barbarei hinwegzutragen schien. Jedoch stand die Goethe-Aneignung in Ost und West unter unterschiedlichen Vorzeichen. In der Deutschen Demokratischen Republik etablierte sich, inspiriert vor allem durch Georg Lukács, eine marxistisch-leninistische Interpretation. Der Dichter wurde nun zum Verbündeten der Französischen Revolution und Wegbereiter der Revolution von 1848/1849 erklärt, sein Faust zur „Produktivkraft für die Errichtung einer sozialistischen Gesellschaft“. Dagegen knüpfte man in der Bundesrepublik Deutschland zunächst an das traditionelle Goethebild an, das heißt an eine zum Mythos erhobene Gestalt eines Dichters, „der aus der Barbarei der vergangenen zwölf Jahre der Naziherrschaft scheinbar unbeschädigt und unberührbar hervorgegangen war“. Ab dem Ende der 1960er Jahre kam es jedoch zu einer Neubewertung von Aufklärung, Französischer Revolution und Weimarer Klassik. Mandelkow spricht von einer „Klassikschelte“ der Neuen Linken, die Friedrich Hölderlin, den „gescheiterten Revolutionär“, als Kontrastfigur zu Goethe entwarf. Gegen Ende der 1970er Jahre zeichnete sich eine Entpolitisierung der Goetherezeption ab durch objektivere Betrachtungsweisen und eine sozialgeschichtliche Analyseperspektive. Mit seinem positiven Goethe- und Klassikbild stellte Peter Hacks innerhalb der DDR-Literatur während der 1970er Jahre eine Ausnahme dar. === Einfluss auf Literatur und Musik === Goethes Einfluss auf die nachgeborenen deutschsprachigen Dichter und Schriftsteller ist allgegenwärtig, so dass hier nur einige Autoren genannt werden können, die sich mit ihm und seinem Werk in besonderem Maße auseinandersetzten. Die Dichter und Schriftsteller der Romantik knüpften an den Gefühlsüberschwang des Sturm und Drang an. Franz Grillparzer bezeichnete Goethe als sein Vorbild und teilte mit diesem neben bestimmten stilistischen Gepflogenheiten die Abneigung gegen politischen Radikalismus jeglicher Art. Friedrich Nietzsche verehrte Goethe sein Leben lang und fühlte sich besonders in seiner skeptischen Haltung zu Deutschland und zum Christentum als dessen Nachfolger. Hugo von Hofmannsthal befand: „Goethe kann als Grundlage der Bildung eine ganze Kultur ersetzen“ und „Von Goethes Sprüchen in Prosa geht heute vielleicht mehr Lehrkraft aus als von sämtlichen deutschen Universitäten“. Er verfasste zahlreiche Aufsätze zu Goethes Werk. Thomas Mann empfand für Goethe tiefe Sympathie. Er fühlte sich ihm wesensverwandt nicht nur in seiner Rolle als Dichter, sondern auch in einer ganzen Reihe von Charakterzügen und Gewohnheiten. Thomas Mann verfasste zahlreiche Essays und Aufsätze zu Goethe und hielt die zentralen Reden zu den Goethe-Jubiläumsfeiern 1932 und 1949. In seinem Roman Lotte in Weimar lässt er den Dichter lebendig werden, mit dem Roman Doktor Faustus griff er den Fauststoff erneut auf. Hermann Hesse, der sich immer wieder mit Goethe auseinandersetzte und sich in einer Szene seines Steppenwolfs gegen eine Verfälschung des Goethebildes wandte, bekannte: „Unter allen deutschen Dichtern ist Goethe derjenige, dem ich am meisten verdanke, der mich am meisten beschäftigt, bedrängt, ermuntert, zu Nachfolge oder Widerspruch gezwungen hat.“ Ulrich Plenzdorf übertrug in seinem Roman Die neuen Leiden des jungen W. das Werther-Geschehen in die DDR der 1970er Jahre. Peter Hacks machte die Beziehung Goethes zur Hofdame Charlotte von Stein zum Thema seines Monodramas Ein Gespräch im Hause Stein über den abwesenden Herrn von Goethe. In dem Dramolett In Goethes Hand. Szenen aus dem 19. Jahrhundert machte Martin Walser Johann Peter Eckermann zur Hauptfigur und stellte ihn in seinem heiklen Verhältnis zu Goethe dar. Goethes letzte Liebe zu Ulrike von Levetzow in Marienbad diente Walser als Stoff für seinen Roman Ein liebender Mann. In Thomas Bernhards Erzählung Goethe schtirbt nennt sich die Figur Goethe einen „Lähmer der deutschen Literatur“, der darüber hinaus den Werdegang zahlreicher Dichter (Kleist, Hölderlin) ruiniert habe.Zahlreiche Gedichte Goethes wurden – von Komponisten und Komponistinnen vor allem des 19. Jahrhunderts – vertont, wodurch der Dichter die Entwicklung des Kunstliedes förderte, obgleich er das sog. durchkomponierte Lied von Franz Schubert kategorisch ablehnte. Dennoch war Schubert mit 52 Goethe-Vertonungen der produktivste unter den musikalischen Goethe-Interpreten. Zu seinen Vertonungen zählen die populär gewordenen Lieder Heidenröslein, Gretchen am Spinnrade und Erlkönig. Carl Loewe vertonte mehrere von Goethes Balladen. Felix Mendelssohn Bartholdy, mit Goethe persönlich bekannt, vertonte die Ballade Die erste Walpurgisnacht. 1822 lernte auch Fanny Hensel Goethe kennen, nachdem sie sich beklagt hatte, dass es zu wenig gut vertonbare Gedichte gebe. Daraufhin widmete Goethe, der eine hohe Meinung von ihr als Pianistin und Komponistin hatte, ihr sein Gedicht Wenn ich mir in stiller Seele. Sie setzte das Gedicht dann auch in Töne. Neben Robert und Clara Schumann hinterließ auch Hugo Wolf Goethe-Vertonungen. Robert Schumann vertonte nicht nur Szenen aus Goethes Faust, sondern auch Gedichttexte aus Wilhelm Meisters Lehrjahre sowie ein Requiem für Mignon. Hugo Wolf vertonte unter anderem Gedichte aus dem Wilhelm Meister und dem West-östlichen Divan. Auch im 20. und 21. Jahrhundert befassten sich zahlreiche Komponisten mit Goethes Werk, wobei die musikalische Darstellung neben der bewährten Gattung des Klavierliedes vielfach in neuen Besetzungen und Rezitationsformen erfolgte. Von Gustav Mahler stammt die „gewaltigste und bedeutendste“ Goethe-Vertonung, deren „Ausstrahlung auf die Musik der Wiener Schule um Arnold Schönberg, Alban Berg und Anton Webern nicht zu unterschätzen ist“: Die groß angelegte 8. Sinfonie („Sinfonie der Tausend“) gipfelt in einer Vertonung der Bergschluchten-Szene des Faust II (1910). Zeit seines Lebens hat auch Richard Strauss regelmäßig Gedichte von Goethe vertont. Zunehmend benutzten die Komponisten neben Gedichten auch andere Texte des Dichters. So verband die Österreichische Komponistin Olga Neuwirth kleinere Passagen aus der Italienischen Reise sowie aus der Metamorphose der Pflanzen in ihren …morphologischen Fragmenten… für Sopran und Kammerensemble (1999). Goethes naturwissenschaftliche Abhandlung über die Metamorphose diente auch Nicolaus A. Huber als Grundlage für Lob des Granits für Sopran und Kammerensemble (1999). Textauszüge aus Goethes Briefen bilden neben Gedichten wie Gretchen am Spinnrade die Grundlage der Goethe-Musik (2000) des Schweizer Komponisten Rudolf Kelterborn. Bemerkenswert sind auch die vom Geist strenger Zwölftontechnik geprägten Römischen Elegien von Giselher Klebe (1952) insofern, als der Vokalpart nicht von einer Gesangsstimme, sondern von einem Sprecher ausgeführt wird. Goethes Proserpina diente Wolfgang Rihm als Libretto für eine gleichnamige Oper (Proserpina, Schwetzingen 2009). Sechs Goethe-Texte unterschiedlicher Provenienz verband derselbe Komponist zum Zyklus seiner Goethe-Lieder (2004/07). Aribert Reimann komponierte eine Szene für Sopran und Klavier mit dem Titel Ein Blick war’s, der mich ins Verderben riss. Zweiter Monolog der Stella aus dem gleichnamigen Schauspiel von Johann Wolfgang von Goethe (erschienen 2014). Jörg Widmann will seine musikalische Umsetzung von Wanderers Nachtlied für Sopran und Instrumentalensemble (1999) weder als „Text-Transport“ noch als „Ver-Tonung“ im herkömmlichen Sinn verstanden wissen. Vielmehr sei „im Nachlauschen und Hineinhorchen eine beklemmend dichte ‚Szene‘“ entstanden. === Rezeption als Naturwissenschaftler === Goethes naturwissenschaftliche Arbeit wurde von den zeitgenössischen Fachkollegen anerkannt und ernst genommen; er stand in Kontakt mit angesehenen Forschern wie Alexander von Humboldt, mit dem er in den 1790er Jahren anatomische und galvanische Experimente unternahm, dem Chemiker Johann Wolfgang Döbereiner und dem Arzt Christoph Wilhelm Hufeland, der von 1783 bis 1793 sein Hausarzt war. In der Fachliteratur wurden seine Schriften, allen voran die Farbenlehre, von Beginn an kontrovers diskutiert; mit der Fortentwicklung der Naturwissenschaften wurden Goethes Theorien in weiten Teilen als überholt betrachtet. Eine vorübergehende Renaissance erfuhr er ab 1859, dem Erscheinungsjahr von Charles Darwins Werk Über die Entstehung der Arten. Goethes Annahme eines ständigen Wandels der belebten Welt und der Zurückführbarkeit der organischen Formen auf eine gemeinsame Urform führte nun dazu, dass er als ein Vordenker der Evolutionstheorien galt.Nach Carl Friedrich von Weizsäcker ist es Goethe nicht gelungen „die Naturwissenschaft zu einem besseren Verständnis ihres eigenen Wesens zu bekehren […]. Wir heutigen Physiker sind […] Schüler Newtons und nicht Goethes. Aber wir wissen, daß diese Wissenschaft nicht absolute Wahrheit, sondern ein bestimmtes methodisches Verfahren ist.“Die Klassikstiftung Weimar veranstaltete vom 28. August 2019 bis zum 16. Februar 2020 die Sonderausstellung Abenteuer der Vernunft: Goethe und die Naturwissenschaften um 1800, zu der ein Katalogband erschien. === Exemplarische Monographien und Biographien === Über Goethes Leben und Werk sind ganze Bibliotheken geschrieben worden. Die ihm gewidmeten Lexika und Kompendien, Jahrbücher und Leitfäden sind kaum noch zu zählen. Nachfolgend werden einige exemplarische Werke vorgestellt, die das Phänomen Goethe in einer Gesamtschau analysieren und interpretieren. Zu den frühen Werken dieser Art zählen: Herman Grimm: Goethe. Vorlesungen, gehalten an der Kgl. Universität zu Berlin. (2 Bände. 1. Auflage. W. Hertz, Berlin 1877; 10. Auflage. Cotta, Stuttgart 1915).Grimms legendäre Goethe-Vorlesungen von 1874/75 (Wintersemester) und 1875 (Sommersemester) wurden in einem zweibändigen Werk von über 600 Seiten (1. Auflage) mit zahlreichen Nachauflagen publiziert. Sie prägten das Goethe-Verständnis von Generationen von Lesern und Studenten. Als einer der bedeutendsten Essayisten des 19. Jahrhunderts gilt Grimm mit seiner Vorgehensweise des „ganzheitlichen“ Nacherlebens großer Künstlerpersönlichkeiten und Werke als ein Vorläufer der geistesgeschichtlichen Kunst- und Literaturbetrachtung im Sinne Wilhelm Diltheys. Der zeitgenössischen Fachwelt erschien er eher als eigenwilliger Essayist denn als Wissenschaftler. Grimm war Mitbegründer der Goethe-Gesellschaft und Mitglied des Herausgeber-Gremiums der 143-bändigen Weimarer Goethe-Ausgabe. Georg Simmel: Goethe. (1. Auflage. Klinkhardt & Biermann, Leipzig 1913; 5. Auflage. 1923)Simmels mehrfach aufgelegte und „fast einhellig positiv aufgenommene“ philosophische Monographie über Goethe umfasst nur 264 Seiten. Mit einer „programmatischen Abkehr vom Typus der positivistischen Biographie“ verarbeitet sie Goethes biographische Daten, um ihn als exemplarische geistige Existenz und Verkörperung einer unverwechselbaren Individualität darzustellen, die „nicht nur ein Punkt in der Welt, sondern selbst eine Welt ist“. Diese Individualitäts-Auffassung habe Goethe auch auf seine hauptsächlichen Gestalten übertragen, „die jede das Zentrum einer individuellen geistigen Welt ist“. Friedrich Gundolf: Goethe. (1. Auflage. Bondi, Berlin 1916; 7. Auflage 1920; 13. Auflage. 1930).Gundolf, ein George-Schüler, hat mit seinem fast 800 Seiten starken Werk Goethe als eine symbolische Person ihrer Zeit dargestellt; Goethe erscheint ihm als „der gestalterische Deutsche schlechthin“. Seine Publikation löste eine bis dahin ungewohnt heftige Diskussion aus, an der namhafte Fachkollegen teilnahmen. Die Zeitschrift Euphorion widmete der Kontroverse um die Publikation 1921 ein Sonderheft. Der Streit entzündete sich an Gundolfs geistesgeschichtlicher Vorgehensweise, die die Vertreter einer historisch-philologisch orientierten Literaturforschung als „schroffsten Gegensatz“ zur Goethe-Philologie wahrnahmen. Sie bezeichneten Gundolf als „Wissenschaftskünstler“. Walter Benjamin kritisierte an Gundolfs Buch, es habe „das gedankenloseste Dogma des Goethekults, das blasseste Bekenntnis der Adepten: dass unter allen Goetheschen Werken das größte sein Leben sei […] aufgenommen“ und würde demnach nicht streng zwischen Goethes Leben und seinen Werken unterscheiden.Für die gegenwärtige Literaturwissenschaft bieten die drei Monographien keine direkten Anknüpfungspunkte. Zwei bedeutende Werke aus den 1950er/1960er Jahren bereicherten die Goetherezeption durch ihre innovativen Zugriffe: Emil Staiger: Goethe. Band I: 1749–1786; Band II: 1786–1814; Band III: 1814–1832. (1. Auflage Artemis & Winkler, Zürich 1958–1960; 5. Auflage. 1978).In seiner dreibändigen Monographie sucht Staiger „den Dichter in den Bedingungen seiner Zeit und seines Raums“ auf. Als Bedingungen, unter denen das dichterische und naturwissenschaftliche Werk steht, werden Geschichte, Ideengeschichte und Psychologie herangezogen, wobei gleichwohl die Interpretation das Zentrum des Werkes bildet. Für Karl Robert Mandelkow ist diese Publikation „nicht nur der bedeutendste Versuch einer Gesamtdarstellung des Dichters seit Gundolf, sondern die für die fünfziger Jahre repräsentativste Leistung der Goetheforschung“. Staigers beeindruckende Goetherezeption habe durch seine werkimmanente Interpretation, die mit den Mitteln der damals neuen strukturanalytischen Literaturwissenschaft arbeitete, seinen Gegenstand der damaligen nihilistischen Zeitstimmung entzogen. Richard Friedenthal: Goethe. Sein Leben und seine Zeit. (1. Auflage Piper, München 1963, 16. Auflage. 1989).Mit dieser knapp 800 Seiten umfassenden, „groß angelegten und akribischen Arbeit […] erzielte Friedenthal einen weltweiten Erfolg“. Mit der Biographie wählte er keine akademische, sondern eine romanartige Darstellungsform oder „geistige Reportage“. Dadurch dass Friedenthal das historisch-soziologisch-politische Umfeld, das heißt: die Misere der Weimarer Verhältnisse umreißt, unter denen Goethe seine Werke produzierte, wurde sein Werk zu einem Vorläufer der sich seit Mitte der 1960er Jahre in der Bundesrepublik „vollziehenden Wendung zur politischen Literaturinterpretation und zur Sozialgeschichte der Literatur“. Zu den schwächsten Teilen der sonst verdienstvollen Biographie rechnet Mandelkow die über den Naturforscher Goethe, die dessen Morphologie und Farbenlehre als falsch und wirkungslos kennzeichneten.Aus den letzten zwei Jahrzehnten sind drei Werke hervorzuheben: Karl Otto Conrady: Goethe. Leben und Werk. Band I: Hälfte des Lebens. Band II: Summe des Lebens. (2 Bände. 1. Auflage. Athenäum, Königstein/Ts. 1985; Neuausgabe in einem Band. Artemis & Winkler, München 1994).Mit seiner 1100 Seiten umfassenden Biographie versteht Conrady, das gelehrte Sachwissen des Philologen ohne Zuhilfenahme eines wissenschaftlichen Apparats geschickt zu vermitteln. Als erster Goethebiograph verzichtet er auf eine autoritative Sicht auf seinen Gegenstand „zugunsten einer Darstellungsmethode, die die Möglichkeit anderer, alternativer Deutungen offenhält“. Nicholas Boyle: Goethe: der Dichter in seiner Zeit (2 Bände. Band I: 1749–1790; Band II: 1790–1803. C. H. Beck, München 1995 und 1999. TB-Ausgabe Insel, Frankfurt am Main 2004).Der britische Germanist an der Universität Cambridge hat eine monumentale Goethe-Biographie in Angriff genommen, die als die bei weitem umfangreichste nach 1945 gilt. Rund 2.000 Seiten umfassen die ersten beiden Bände; der abschließende dritte Band steht noch aus. Der Autor befindet sich „auf der Höhe der deutschen Goetheforschung“ und in der Fülle an Details ist er „gründlicher als seine Vorgänger [Staiger, Friedenthal, Conrady] in den vergangenen Jahrzehnten“. Rüdiger Safranski: Goethe. Kunstwerk des Lebens. Biographie. (1. Auflage Hanser, München 2013; 11. Auflage. 2013).Ähnlich wie Friedenthal stellt Safranski den engen Zusammenhang zwischen dem Leben und Werk ins Zentrum dieses „Hausbuchs der Goetheliebhaber“ (Lorenz Jäger). Safranski zeigt zugleich, dass Goethes „Lebenskunst“ darin bestand, die Sphären der Dichtung und der politisch-administrativen Verantwortlichkeit voneinander zu trennen; beide Bereiche werden in dem 750 Seiten umfassenden Buch ausführlich dargestellt. === Goethe als Namensstifter === Die eminente Bedeutung Goethes für die deutsche Kultur und deutschsprachige Literatur spiegelt sich wider in der Namensgebung zahlreicher Preise, Denkmäler, Gedenkstätten, Institutionen, Museen und Gesellschaften, wie sie kaum ein anderer Deutscher im Kulturleben seines Landes erreicht hat. So trägt das Institut, dem die Verbreitung der deutschen Kultur und Sprache im Ausland übertragen wurde, seinen Namen: Goethe-Institut, das mit Niederlassungen in aller Welt großes Ansehen erworben hat. Der Geburtsort des Dichters, Frankfurt, und seine Hauptwirkungsstätte, Weimar, ehren ihn mit dem Goethe-Nationalmuseum (Weimar), der Johann Wolfgang Goethe-Universität (Frankfurt) und dem Goethepreis der Stadt Frankfurt am Main. Die seit 1885 existierende Goethe-Gesellschaft mit Hauptsitz in Weimar vereinigt mehrere Tausend Leser und Wissenschaftler im In- und Ausland. Schließlich hat der Dichter einer ganzen literarischen Epoche, die Klassik und Romantik umfasst, seinen Namen gegeben: Goethezeit. === Denkmäler === Goethe wurden weltweit Denkmäler errichtet. Das 1819 initiierte erste Projekt in Frankfurt am Main scheiterte an der Finanzierung. Erst 1844 wurde das erste Goethedenkmal von Ludwig Schwanthaler geschaffen und auf dem Goetheplatz aufgestellt. Auch Gebäudefassaden zieren Goethe-Skulpturen, so zum Beispiel das Hauptportal der Semperoper in Dresden und das Hauptportal der Kirche St. Lamberti in Münster. === Goethe-Verfilmungen === === Filme mit Goethe als Hauptfigur === Friederike. Spielfilm 1932, 82 Minuten, Regie und Buch: Fritz Friedmann-Frederich. Goethe in Weimar. Dokumentation, 60 Min., Buch und Regie: Gabriele Dinsenbacher, Produktion: SWR, Erstsendung: 10. Juli 1999, Inhaltsangabe von Presseportal SWR-Südwestrundfunk (Wdh. v. 23. Februar 2007), abgerufen am 16. September 2009 Goethe – Magier der Leidenschaften. Dokudrama, 60 Min., Buch und Regie: Günther Klein, Produktion: ifage Filmproduktion i. A. des ZDF, Reihe: Giganten, Erstsendung: 9. April 2007, Inhaltsangabe auf der Homepage der Produktionsfirma, abgerufen am 8. Mai 2017 Die ganze Natur – Goethes Naturphilosophie. Dokumentation, 55 Min., Buch: Wolfram Höhne, Regie: Markus Schlaffke, Produktion: Studio Bauhaus (2010), Inhaltsangabe und vollständiger Film auf uni-weimar.de, abgerufen am 1. Juli 2017 Goethe! Spielfilm (2010) von Philipp Stölzl über Goethes Zeit in Wetzlar mit Alexander Fehling in der Hauptrolle. Der Film diente dem Musical Goethe! als Grundlage. === Hörspielreihe === Aus Anlass des 200. Geburtstags Goethes produzierte der Nordwestdeutsche Rundfunk in Hamburg eine 35-teilige Hörspielreihe von Hans Egon Gerlach unter dem Titel Goethe erzählt sein Leben. Die ersten drei Teile entstanden im Jahre 1948 unter der Regie von Ludwig Cremer. Alle weiteren Folgen wurden 1949 unter der Regie von Mathias Wieman hergestellt, der auch die Titelrolle sprach. Die gesamte Spieldauer beträgt mehr als 25 Stunden. == Werke (Auswahl) == Verzeichnis der Erstausgaben bei Wikisource Es war eine der besonderen Eigenarten Goethes, begonnene Dichtungen oft jahrelang, manchmal jahrzehntelang liegen zu lassen, bereits gedruckte Werke erheblichen Umarbeitungen zu unterwerfen und manches Fertiggestellte erst nach langer Zeit in den Druck zu geben. Eine Datierung der Werke nach Entstehungszeit ist deshalb manchmal sehr schwierig. Die Liste orientiert sich am (vermuteten) Zeitpunkt der Entstehung. Werkausgaben: Sämtliche Werke. Briefe, Tagebücher und Gespräche. Frankfurter Ausgabe in 40 Bänden, einschließlich der amtlichen Schriften und der Zeichnungen, mit Kommentar und Registern (die vollständigste aktuelle Gesamtausgabe der Werke Goethes). Deutscher Klassiker Verlag, Frankfurt am Main 1985 ff., ISBN 3-618-60213-8. Goethes Werke. Hamburger Ausgabe in 14 Bänden, mit Kommentar und Registern, herausgegeben von Erich Trunz. C. H. Beck, München 1982–2008, ISBN 978-3-406-08495-9. Sämtliche Werke nach Epochen seines Schaffens. Münchner Ausgabe in 20 Bänden, herausgegeben von Karl Richter. Hanser, München 1986–1999. Poetische Werke. Kunsttheoretische Schriften und Übersetzungen. Berliner Ausgabe in 22 Bänden, herausgegeben von einem Bearbeiter-Kollektiv unter Leitung von Siegfried Seidel u. a. Aufbau-Verlag, Berlin, Weimar 1965–1978. Gedenkausgabe der Werke, Briefe und Gespräche in 24 Bänden und 3 Ergänzungsbänden. Herausgegeben von Ernst Beutler. Artemis, Zürich 1948–1971. Goethes Werke. Weimarer Ausgabe (oder Sophienausgabe) in 143 Bänden. Fotomechanischer Nachdruck der Weimarer Ausgabe von 1887–1919. Deutscher Taschenbuch Verlag, München 1987, ISBN 3-423-05911-7. Goethe’s Werke. Vollständige Ausgabe letzter Hand in 60 Bänden + Registerband. J. G. Cotta, Stuttgart, Tübingen 1827–1842. Die Bände 1–40 erschienen, zu Lebzeiten Goethes, bis 1830. Die Schriften zur Naturwissenschaft. (Im Auftrage der Deutschen Akademie der Naturforscher Leopoldina begründet von K. Lothar Wolf und Wilhelm Troll.) Vollständige, mit Erläuterungen versehene Ausgabe von Dorothea Kuhn, Wolf von Engelhardt und Irmgard Müller. Weimar 1947 ff., ISBN 3-7400-0024-4. (online) (Memento vom 19. Februar 2001 im Internet Archive)Dramen: Die Laune des Verliebten (Schäferspiel), verfasst 1768, im Druck 1806 Die Mitschuldigen (Lustspiel), begonnen 1769, im Druck 1787 Götz von Berlichingen mit der eisernen Hand (Schauspiel), 1773 Satyros oder Der vergötterte Waldteufel (Schauspiel), entstanden 1773, veröffentlicht 1817 Ein Fastnachtsspiel vom Pater Brey (Posse), 1774 Das Jahrmarktsfest zu Plundersweilern (Farce), 1774 Hanswursts Hochzeit (Farce), 1775 Götter, Helden und Wieland (Farce), 1774 Clavigo (Trauerspiel), 1774 Egmont (Trauerspiel), begonnen 1775, im Druck 1788. Neueste Ausgabe: S. Fischer, Frankfurt am Main 2010, ISBN 978-3-596-90157-9. Erwin und Elmire (Schauspiel mit Gesang), 1775 Die Geschwister. Ein Schauspiel in einem Akt, 1776. Neueste Ausgabe: Dodo Press, Gloucester 2009, ISBN 978-1-4099-2326-8. Claudine von Villa Bella (Singspiel), 1776 Stella. Ein Schauspiel für Liebende, 1776. Neueste Ausgabe: Hamburger Lesehefte, Husum 2010, ISBN 978-3-87291-203-9. Der Triumph der Empfindsamkeit. Eine dramatische Grille, verfasst 1777 Lila (Singspiel), 1777 Proserpina (Monodram), 1778/1779 Iphigenie auf Tauris (Drama), Prosafassung 1779, im Druck 1787. Neueste Ausgabe: Suhrkamp, Berlin 2011, ISBN 978-3-518-18903-0. Torquato Tasso (Drama), ab 1780, im Druck 1790. Neueste Ausgabe: S. Fischer, Frankfurt am Main 2010, ISBN 978-3-596-90157-9. Faust. Ein Fragment, 1790 (Digitalisat und Volltext im Deutschen Textarchiv) Der Groß-Cophta (Lustspiel), 1792. Neueste Ausgabe: Reclam, Ditzingen 1989, ISBN 3-15-008539-X. Der Bürgergeneral (Lustspiel), 1793 Die Aufgeregten (Politisches Drama in fünf Aufzügen, Fragment), 1793 Faust. Eine Tragödie, ab 1797, im Druck unter diesem Titel zuerst 1808 erschienen. Neueste Ausgabe: Hamburger Lesehefte, Husum 2010, ISBN 978-3-87291-028-8. Mahomet der Prophet, Übersetzung und Bearbeitung einer Tragödie von Voltaire, 1802. Neueste Ausgabe: Das Arsenal, Berlin 2010, ISBN 978-3-931109-45-5. Die natürliche Tochter (Trauerspiel), 1803. Neueste Ausgabe: Reclam, Ditzingen 1986, ISBN 3-15-000114-5. Pandora. Ein Festspiel, entstanden 1807/08, im Druck 1817. Neueste Ausgabe: Insel, Frankfurt am Main 1992, ISBN 3-458-16345-X. Des Epimenides Erwachen (Festspiel), 1815 Faust. Der Tragödie zweiter Teil, 1832 (postum veröffentlicht). Neueste Ausgabe: S. Fischer, Frankfurt am Main 2010, ISBN 978-3-596-90284-2.Romane und Novellen: Die Leiden des jungen Werthers (Briefroman), 1774, 2. Fassung 1787 (Digitalisat) Wilhelm Meisters theatralische Sendung („Urmeister“, Roman), ab 1776, Im Druck 1911 Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten (Rahmenerzählung), 1795 Wilhelm Meisters Lehrjahre, 1795/96 Novelle, ab 1797 Wilhelm Meisters Wanderjahre (Roman), ab 1807, im Druck 1821, erweiterte Fassung 1829 Die Wahlverwandtschaften, 1809 Versepen: Reineke Fuchs (Tierepos), 1794 Hermann und Dorothea (Idylle in Hexametern), 1798 Achilleis (Fragment), 1799.Gedichte: 1771: Mailied 1771: Heidenröslein 1772: Wandrers Sturmlied 1774: Prometheus 1774: Ganymed 1774: Der König in Thule (Frühe Fassung: Der König von Thule) 1774/1775: Vor Gericht 1775: Willkommen und Abschied (2. Fassung 1789) 1776: Warum gabst du uns die tiefen Blicke 1776: Rastlose Liebe 1778: An den Mond 1780: Wandrers Nachtlied 1780: (Wandrers Nachtlied) Ein Gleiches (Über allen Gipfeln) 1782: Der Erlkönig (Ballade) 1797: Der Zauberlehrling und Der Schatzgräber (Balladen) 1797: Die Braut von Korinth und Der Gott und die Bajadere (Balladen) 1798: Die Metamorphose der Pflanzen 1799: Die erste Walpurgisnacht (Ballade, von Felix Mendelssohn Bartholdy in Form einer Kantate für Soli, Chor und Orchester vertont) 1813: Der Totentanz 1823: (Marienbader) Elegie 1829: VermächtnisGedichtzyklen und Epigramm-Sammlungen: Römische Elegien, 1788–1790 Venezianische Epigramme, 1790 Xenien (Epigramme, zusammen mit Friedrich Schiller), veröffentlicht 1796 Sonette, 1807/08 West-östlicher Divan, erschienen 1819, erweitert 1827 Trilogie der Leidenschaft, erschienen 1827. Chinesisch-deutsche Tages- und Jahreszeiten, erschienen 1830.Übertragungen: Diderots Versuch über die Malerei. Übersetzt und mit Anmerkungen begleitet von Goethe, erschienen 1799. Leben des Benvenuto Cellini, florentinischen Goldschmieds und Bildhauers, von ihm selbst geschrieben. Übersetzt und mit einem Anhange herausgegeben von Goethe, erschienen 1803. Rameaus Neffe. Ein Dialog von Diderot. Aus dem Manuskript übersetzt und mit Anmerkungen begleitet von Goethe erschienen 1805. Aufzeichnungen und Aphorismen: Einzelnheiten, Maximen und Reflexionen, 1833 (postum veröffentlicht)Ästhetische Schriften: Kunst und Handwerk, 1797 Über den Dilettantismus (Fragment, zusammen mit Friedrich Schiller), 1799 Über Kunst und Altertum (6 Bde., zusammen mit Johann Heinrich Meyer), 1816–1832Naturwissenschaftliche Schriften: Über den Granit 1784 Über den Zwischenkiefer der Menschen und der Tiere, 1786. Beiträge zur Optik (Abhandlungen, 2 Bde.), 1791/92 Zur Farbenlehre (wissenschaftliche Abhandlung), 1810Autobiographische Prosa: Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit (autobiografische Dichtung, 4 Bde.), 1811–1833 Italienische Reise, 1816/17 Kampagne in Frankreich (Bericht), 1822Briefsammlungen: Goethes Briefe und Briefe an Goethe. Hamburger Ausgabe. 6 Bände. C. H. Beck, München 1988. Goethe – Schiller: Briefwechsel. Mit einem Nachwort von Emil Staiger. Fischer Bücherei, Frankfurt am Main 1961. Schiller – Goethe: Der Briefwechsel. Text und Kommentar. Historisch-kritische Ausgabe. Hrsg. und kommentiert von Norbert Oellers unter Mitarbeit von Georg Kurscheidt. 2 Bände. Reclam, Leipzig 2009, ISBN 978-3-15-010712-6 und ISBN 978-3-15-010737-9. Goethe und Martius. Nemayer, Mittenwald 1932. Digitalisierte Ausgabe der Universitäts- und Landesbibliothek Düsseldorf Hans Gerhard Gräf (Hrsg.): Goethes Ehe in Briefen. Insel, Frankfurt am Main 1998, ISBN 3-458-33325-8. Richard M. Meyer (Hrsg.): Goethe und seine Freunde im Briefwechsel. 3 Bände. Bondi, Berlin 1909–1911. Jan Volker Röhnert (Hrsg.): Lotte meine Lotte. 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Hessische Biografie. (Stand: 9. Mai 2020). In: Landesgeschichtliches Informationssystem Hessen (LAGIS). Johann Wolfgang von Goethe in der Rheinland-Pfälzischen Personendatenbank Goethe, Johann Wolfgang (von) im Frankfurter PersonenlexikonHilfsmittel: Weimarer Goethe-Bibliographie online (WGB) – durchsuchbare Datenbank Kommentierte Linksammlung der Universitätsbibliothek der FU Berlin, begründet und zusammengestellt von Ulrich Goerdten (Memento vom 11. Oktober 2013 im Internet Archive) Goethe-Wörterbuch online (bisher nur digitalisiert bis Buchstabe „M“). Gedruckte Version bei Kohlhammer, Stuttgart (Band 6, Lieferung 6 bis „niederländisch“)Abbildungen: Kommentierte Goethe-Galerie Gesamtkatalog der Museen der Klassik Stiftung Weimar == Anmerkungen ==
https://de.wikipedia.org/wiki/Johann_Wolfgang_von_Goethe
Löwe
= Löwe = Der Löwe (Panthera leo) ist neben dem Tiger eine der beiden größten Arten aus der Familie der Katzen. Er ist heute nur noch in Teilen Afrikas südlich der Sahara sowie im indischen Bundesstaat Gujarat beheimatet; in Afrika ist er das größte Landraubtier. Charakteristisches Merkmal erwachsener Männchen ist eine Mähne. Löwen leben im Unterschied zu anderen Katzen in Rudeln. Eine veraltete, poetische Bezeichnung ist Leu. == Merkmale == === Körperbau und Fellfarbe === Löwen weisen unter anderem hinsichtlich ihrer Körpergröße einen deutlichen Sexualdimorphismus auf: Männchen sind durchschnittlich größer und schwerer, sie erreichen Kopf-Rumpf-Längen von durchschnittlich etwa 170 bis 190 Zentimetern und Gewichte von 150 bis 250 Kilogramm. Weibchen erreichen Kopf-Rumpf-Längen von etwa 122 bis 192 Zentimeter und wiegen zumeist 110 bis 192 Kilogramm (siehe Tabelle). Im Schnitt überragen Löwen Tiger in der Schulterhöhe, Löwen haben aber eine durchschnittlich etwas geringere Kopf-Rumpf-Länge. Die größten Löwen leben heute im südlichen Afrika, die kleinsten in Asien. Die größten Löwenformen des Pleistozän, zum Beispiel der Amerikanische Löwe oder der Höhlenlöwe, waren deutlich größer, werden heute aber meist zu eigenständigen Arten gerechnet. Nach Mazák beträgt die durchschnittliche Gesamtlänge, also die Länge einschließlich des Schwanzes, bei heutigen Löwenmännchen etwa 260 bis 270 Zentimeter, selten über 285 Zentimeter. Die größten glaubwürdig überlieferten Längenmaße für Löwen liegen bei etwa 305 bis 310 Zentimeter Gesamtlänge, gemessen in direkter Linie von der Nasen- bis zur Schwanzspitze an einem Tier aus dem Gebiet nördlich des Viktoriasees. Die Schwanzlänge macht etwa ein Drittel der Gesamtlänge aus.Heutige Wissenschaftler messen Großkatzen meistens „entlang der Kurven“. Im Durchschnitt weicht die Messmethode bei Löwen und Tiger ca. zehn cm von einer „geraden“ Messung ab. Die in der Tabelle angegebenen Werte sind gerade Messungen. Löwen haben ein kurzes, sandfarben oder gelblich bis dunkelocker oder lohfarben (hell rotbraun) gefärbtes Fell. Die Unterseite und die Beininnenseiten sind heller beziehungsweise weiß. Auffällig ist die schwarze Schwanzquaste, die häufig einen als Hornstachel bezeichneten keratinösen Sporn umgibt. Junge Löwen haben dunkle Flecken, die während des ersten Lebensjahres verblassen. Selten bleiben diese Flecken auch bei erwachsenen Löwen sichtbar, aber stets undeutlich und nur aus der Nähe erkennbar. Wie bei Tigern gibt es bei Löwen gelegentlichen Leuzismus: Löwen mit nahezu weißem Fell. Diese Tiere sind keine Albinos, was äußerlich daran erkennbar ist, dass sie keine roten Augen haben; im Gegensatz zu Albinos bilden leuzistische Tiere das Pigment Melanin. Bei Leuzismus wird die weiße Fellfarbe über ein rezessives Gen vererbt. Weiße Löwen treten heute nur in der südafrikanischen (in ihrem taxonomischen Status umstrittenen; siehe unten) Unterart Transvaal-Löwe (Panthera leo krugeri) auf. Seit 1995 (Stand: 2015) wurden keine adulten weißen Löwen in freier Natur beobachtet, obwohl gelegentlich weiße Jungtiere geboren wurden. Dies hängt jedoch offenbar nicht damit zusammen, dass weiße Löwen einen geringeren Jagderfolg hätten, weil sie für potenzielle Beutetiere leichter zu entdecken wären: Ausgewilderte weiße Löwen hatten unter naturnahen Bedingungen in umzäunten Freilandgebieten keinen signifikant geringeren Jagderfolg als normale lohfarbene (tawny) Löwen. Der Jagderfolg weißer Löwen basiert offenbar darauf, dass Löwen häufig nachts jagen und tagsüber bei der Jagd Deckung bietende Vegetation nutzen. Die Autoren dieser Untersuchung schließen aus den Ergebnissen, dass die Überlebensbedingungen weißer Löwen von Natur aus nicht schlechter sind als die normal gefärbter und dass heute deswegen keine erwachsenen weißen Löwen mehr in freier Natur beobachtet werden, weil diese von Trophäenjägern ausgerottet werden. Eine weitere, allerdings selten auftretende Färbungsvariante sind schwärzliche, melanistische Löwen. === Mähne === Adulte Männchen haben eine lange Mähne, die oft dunkelbraun ist, aber auch schwarz, hellbraun oder rotbraun sein kann. Diese Mähne breitet sich von Kopf und Hals bis über Brust und Schultern aus, seltener über den Bauch. Form und Farbe der Mähne variieren nicht nur zwischen Individuen, sondern auch beim selben Individuum im Laufe des Lebens in Abhängigkeit von der körperlichen Verfassung. Besonders lange und dunkle Mähnen sind ein Zeichen guter Verfassung und Kampfeskraft, da Hormonstatus und Ernährungszustand Auswirkungen auf Dichte und Länge der Mähne haben. Experimentelle Untersuchungen mit ausgestopften Löwenmännchen haben gezeigt, dass Weibchen positiv auf Modelle mit längeren und dunklen Mähnen reagieren, während Männchen Modelle mit ausgeprägten Mähnen eher meiden. Praktischen Nutzen könnte die Mähne als Schutz gegen Prankenhiebe und Bisse bei Kämpfen rivalisierender Männchen haben. Deshalb haben Männchen durch eine Mähne einen Selektionsvorteil, nicht aber Weibchen, die nicht auf Kämpfe spezialisiert sind: Bei der Jagd ist eine Mähne, anders als bei Kämpfen, nicht von Vorteil. Andererseits haben Forschungen gezeigt, dass auch die Temperatur einen wichtigen Einfluss auf die Größe der Mähne hat und Löwenmännchen in kälteren Gebieten auch unabhängig von ihrer Unterart stärkere Mähnen ausbilden als solche, die in sehr warmen Gebieten leben. So bilden Löwenmännchen in Zoos kühler Regionen meist stärkere Mähnen aus als ihre Artgenossen in wärmeren Gefilden. Bei asiatischen Löwen ist die Mähne weniger deutlich ausgeprägt als bei ihren afrikanischen Artgenossen. Bereits bei zwölf Monate alten Männchen sind Anzeichen einer sich entwickelnden Mähne erkennbar. Es dauert mehr als fünf Jahre, bis ein Löwenmännchen eine voll ausgebildete Mähne hat. In einigen Gebieten Afrikas, etwa im Tsavo-Nationalpark in Kenia, sind zahlreiche Männchen mähnenlos oder besitzen nur schwache Mähnen. Auch im Pendjari- und W-Nationalpark-Gebiet in Westafrika tragen nahezu alle Männchen keine oder wenig entwickelte Mähnen.In seltenen Fällen kommt es auch vor, dass weibliche Löwen eine Mähne ausbilden. Im Okavangodelta in Botswana wurden mehrfach Löwinnen gesichtet, die wie männliche Tiere aussehen und sich auch so verhalten. Grund könnte entweder ein Gendefekt bei der Entwicklung des Embryos oder eventuell ein besonders hoher Testosteronspiegel beim Muttertier während der Trächtigkeit sein. Die prähistorischen Löwen der Spelaea-Gruppe (siehe unten) hatten vermutlich keine Mähnen. == Verbreitungsgebiet und Lebensraum == Während der letzten Eiszeiten hatten Löwen (die je nach systematischer Einordnung verschiedene Arten repräsentierten oder als Unterarten nur einer Art eingestuft werden) ein großes Verbreitungsgebiet. Es reichte in der letzten Kaltzeit von Peru über Alaska, wo der Amerikanische Löwe vorkam, erstreckte sich über Sibirien und weite Teile Nordasiens und Europas, wo der Höhlenlöwe vorkam, bis Indien, Arabien und Afrika im Süden. Einen Großteil dieses Verbreitungsgebietes büßten die Löwen allerdings schon am Ende des Eiszeitalters ein. Das geschichtliche Verbreitungsgebiet des rezenten Löwen umfasste nicht nur große Teile Afrikas, sondern auch das südöstliche Europa sowie Vorderasien und Indien. Eurasien wurde während des Letzteiszeitlichen Maximums vor etwa 21.000 Jahren von Afrika aus besiedelt. Nordafrika war zu dieser Zeit etwas kühler als heute und extrem trocken; Südeuropa war großenteils von halbwüstenartiger Steppe bedeckt, in feuchteren Regionen gab es eingestreute Baumgruppen.Ob von der Iberischen Halbinsel bis Italien Löwen lebten, ist unklar. Fossilfunde aus dem frühen Holozän im Norden Spaniens lassen sich nicht eindeutig dem Löwen zuordnen, es könnte sich auch um Überreste des Höhlenlöwen gehandelt haben. Ein eisenzeitlicher Löwenfund aus dem Süden Spaniens könnte auf Tiere zurückzuführen sein, die von Römern für Zirkusspiele eingeführt wurden. Umstritten ist auch, ob in Italien gefundene etwa 7000 bis 9000 Jahre alte Zähne vom Löwen oder vom Höhlenlöwen stammen. Aus Ungarn, Bulgarien und der ukrainischen Schwarzmeerregion ist der Löwe um 2500 bis 3500 v. Chr. durch Knochenfunde nachgewiesen. In diesen drei Ländern erreichte die Verbreitung des Löwen im Norden Breitenlagen von 45 bis 48 Grad. In Ungarn und in der Ukraine starb der Löwe etwa im dritten Jahrtausend v. Chr. aus. Die jüngsten europäischen Fossilien, die in die Periode der Archaik (800 bis 500 v. Chr.) datiert werden, stammen von verschiedenen Fundorten in Griechenland. Dass auf dem Balkan noch in der Antike Löwen lebten, berichten auch zeitgenössische Gelehrte wie Herodot, Aristoteles, Plutarch und Xenophon. Der Löwe starb in Griechenland und damit in Europa im Zeitraum vom 4. vorchristlichen bis zum 1. nachchristlichen Jahrhundert aus. Im Nahen Osten und im Südkaukasus überlebte der Löwe bis ins 12. oder 13. Jahrhundert. In Nordafrika wurden die letzten Löwen in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts ausgerottet; die letzten nordafrikanischen Nachweise stammen aus dem Tschad (1940) und aus Marokko (1942). Heute ist die Verbreitung weitestgehend auf das Afrika südlich der Sahara beschränkt. Auch die asiatischen Löwenpopulationen wurden im 20. Jahrhundert nahezu vollständig vernichtet. Im Iran wurden die letzten Löwen 1957 beobachtet. Ein kleiner, in neuer Zeit zunehmender Restbestand hat sich in Indien unter anderem im Gir-Nationalpark in Gujarat gehalten.Löwen sind anpassungsfähig und kommen in einer Vielzahl von Habitaten vor. Der bevorzugte Lebensraum des Löwen ist die Savanne, doch besiedelt er auch Trockenwälder und Halbwüsten. Niemals findet man ihn in dichten, feuchten Wäldern und in extrem trockenen Wüsten. Deshalb fehlt die Art in den zentralafrikanischen Regenwäldern und im Innern der Sahara. Im Gebirge kommt der Löwe bis in Höhen von mehr als 4000 Metern vor. == Bestand und Gefährdung == Wie bei fast allen Großtieren Afrikas geht die Hauptgefährdung der Löwen durch den Menschen von Lebensraumzerstörungen und direkten Nachstellungen aus. Nach Einschätzung der IUCN ist der weltweite Löwenbestand von 1993 bis 2014 um 43 Prozent zurückgegangen. In stichprobenartig ausgewählten Subpopulationen nahmen die Bestände in vier südafrikanischen Ländern (Botswana, Namibia, Südafrika, Zimbabwe) sowie in Indien in dieser Zeit um durchschnittlich zwölf Prozent zu, in den weitaus meisten Ländern des heutigen Verbreitungsgebiets, und zwar in solchen mit hoher Bevölkerungsdichte, jedoch um 60 Prozent ab; in zwölf afrikanischen Ländern ist der Löwe in neuerer Zeit (recently) ausgestorben, in sieben weiteren, vorwiegend westafrikanischen Ländern möglicherweise ausgestorben.Hauptursachen für den Rückgang sind neben Lebensraumzerstörungen direkte Verfolgung, insbesondere durch Viehhalter, die giftkontaminierte Kadaver auslegen, sowie der Verlust der Nahrungsbasis aufgrund von Wilderei für den zunehmend kommerzialisierten Handel mit „Buschfleisch“. Eine weitere wachsende Bedrohung für Löwen ist die Gewinnung von Körperteilen für die traditionelle Medizin in Afrika und Asien. Hinzu kommt eine teilweise unzureichend reglementierte Trophäenjagd. Ein weiteres Problem sind Krankheiten wie Staupe, die in extremen Klimaperioden aufgrund von Co-Infektionen mit einzelligen Babesien für erhebliche Teile eines Löwenbestands tödlich verlaufen kann, sowie Rinder-Tuberkulose, für die insbesondere kleine, isolierte und deshalb zur Inzucht neigende Löwenpopulationen anfällig sind.Das derzeit vom Löwen besiedelte Gebiet macht etwa acht Prozent seines historischen Verbreitungsgebiets aus. Die IUCN schätzte die Anzahl geschlechtsreifer Löwen (mature individuals) für 2014 auf 23.000 bis 39.000 Individuen. Der Löwe wird von der IUCN in die Gefährdungskategorie Vulnerable (gefährdet) eingestuft, müsste jedoch ohne die oben genannten fünf Länder mit positiver Bestandsentwicklung als Endangered (stark gefährdet) gelten. Die Löwenpopulation in Westafrika, die 2011 als genetisch von südostafrikanischen Löwen abweichend beschrieben wurde, gilt als vom Aussterben bedroht (Critically Endangered). Der Asiatische Löwe, dessen aus einigen hundert Tieren bestehender Bestand auf den Gir-Nationalpark und angrenzende Gebiete in Indien beschränkt ist, gilt trotz wachsender Individuenzahlen als stark gefährdet. In einigen großen Schutzgebieten Ost- und Südafrikas scheint die Zukunft der großen Katze jedoch bislang gesichert. == Lebensweise == === Sozialverhalten === Im Gegensatz zu anderen, eher einzelgängerischen Großkatzen leben Löwen im Rudel. Ein solches Rudel besteht zumeist aus drei bis zehn, ausnahmsweise bis zu 21 untereinander verwandten Weibchen und deren Nachkommen, die von einer sogenannten „Koalition“ aus einigen erwachsenen Männchen gegen rudelfremde Männchen verteidigt werden. Für gewöhnlich gibt es in einem Rudel drei oder vier erwachsene Männchen, ausnahmsweise bis zu neun, selten nur eines. Diese Männchen sind in der Regel (aber nicht immer) miteinander verwandt, sie stehen in der Rangordnung über den Weibchen.Die Größe von Streifgebieten, die sich entweder mit Gebieten anderer Rudel überlappen oder gegen andere Rudel verteidigt werden – im letzteren Fall sind es Territorien, auch Reviere genannt – variiert in Abhängigkeit von der Rudelgröße und der Häufigkeit von Beutetieren. Sie umfasst zumeist etwa 100 bis 200 Quadratkilometer, kann jedoch auch bis zu viereinhalbtausend Quadratkilometer betragen. Reviergrenzen werden mit Kot, Urin und Kratzspuren markiert, auch das weithin hörbare Gebrüll demonstriert den Anspruch der Revierinhaber.Die jungen Männchen bleiben etwa zwei bis drei Jahre im Rudel, bis sie ihre Geschlechtsreife erreicht haben; danach werden sie vertrieben. Sie streifen dann mitunter über Jahre umher und schließen sich meist mit anderen nomadisierenden Männchen zusammen. Diese Bindung zwischen miteinander verwandten oder auch fremden Löwen kann dabei sehr stark werden. Die Nomaden legen in dieser Zeit sehr große Strecken zurück, respektieren keine Reviergrenzen, gründen aber auch keine eigenen Reviere. Um ein eigenes Rudel zu erobern, müssen sie die alten Revierbesitzer vertreiben oder im Kampf besiegen. Solche Kämpfe sind in der Regel blutig, und nicht selten können sie tödlich enden. Geschlagene Rudelführer werden vertrieben und führen dann meist ein Leben als Einzelgänger. Oft sterben sie jedoch an den Folgen der Kampfverletzungen. Nach der Eroberung eines Rudels durch neue Männchen kommt es häufig zum Infantizid, das heißt, die neuen Rudelführer töten die Jungen ihrer Vorgänger. Die ultimate Ursache dieses Verhaltens besteht entsprechend der Theorie des egoistischen Gens darin, dass die Weibchen als Folge des Infantizids nach kurzer Zeit wieder paarungsbereit sind und die neuen Männchen eigenen Nachwuchs zeugen und so ihre Gene verbreiten können. Die führenden Männchen des Rudels können sich meist nur für wenige Jahre gegen Konkurrenten durchsetzen, bis sie von jüngeren, stärkeren Artgenossen vertrieben oder getötet werden. Im Durchschnitt wechseln die dominanten Männchen eines Rudels alle zwei bis drei Jahre. Im Gegensatz zu den Männchen verbringen die Weibchen in der Regel ihr gesamtes Leben in dem Rudel, in dem sie geboren wurden. Löwen sind weniger reinlich als beispielsweise Hauskatzen; in der Regel wird nur der Nasenrücken gereinigt. Gegenseitige Fellpflege gibt es bei groben Verschmutzungen wie zum Beispiel durch Blut der Beutetiere. === Ernährung === Löwen jagen meist bei Dunkelheit oder in den kühlen Morgenstunden. Sie sind opportunistische Jäger, die zumeist diejenigen Tiere erbeuten, die gerade verfügbar sind. Zu den Beutetieren gehören vor allem mittelgroße und große Huftiere wie Antilopen, Gazellen, Gnus, Büffel, Zebras und Warzenschweine, auch domestizierte Huftiere wie Hausrinder und Esel, aber auch Raubtiere wie Hyänen und Schakale sowie kleinere Säugetiere wie Hasen und Nagetiere, außerdem Vögel wie Geier und Strauße und manchmal Reptilien wie Schildkröten und Krokodile sowie Fische und sogar Insekten. In manchen Gegenden spezialisieren sich Löwen auch auf eher untypische Beutetiere. So schlagen Löwen in großen Rudeln mit Gruppenstärken von etwa 30 Tieren am Savuti bisweilen halbwüchsige Elefanten und am Linyanti Flusspferde (beides im Chobe-Nationalpark, Botswana) oder auch Giraffen (meist Jungtiere). In Teilen dieses Nationalparks und im benachbarten Hwange-Nationalpark machen Elefanten etwa 20 Prozent der Löwennahrung aus, wobei vor allem Jungtiere und insbesondere Halbwüchsige im Alter von vier bis elf Jahren erlegt werden. In Namibia zählen bei den Wüstenlöwen auch Seebären zu den Beutetieren. Selbst große Rudel sind aber nicht in der Lage, ausgewachsene Nashörner zu erlegen. Männliche Löwen sind erfolgreiche Jäger, nehmen jedoch nur an drei bis vier Prozent der Jagden teil; häufiger als Weibchen fressen sie Aas. Eine Studie im Kruger-Nationalpark ergab allerdings, dass selbst territoriale männliche Löwen, die ein Rudel besitzen, regelmäßige Jäger sind. Besonders in dicht bewachsenen und unübersichtlichen Lebensräumen scheinen rudelführende Männchen sich weniger von der Beute ihrer Weibchen zu ernähren als in offenen Lebensräumen. Nicht-territoriale Löwenmännchen, die noch kein Rudel erobern konnten, müssen sich ohnehin ihre Beute selbst beschaffen und regelmäßig jagen. Im Gegensatz zu den weiblichen Tieren, die im untersuchten Gebiet vor allem Zebras und Gnus bevorzugten, jagten die Löwenmännchen vor allem Kaffernbüffel. Junglöwen gehen im Alter von drei Monaten zum ersten Mal mit der Mutter zur Jagd. Erst im Alter von zwei Jahren haben sie die Jagdkunst so weit erlernt, dass sie nicht mehr von Alttieren abhängig sind.Löwen sind keine ausdauernden Läufer und können ihre Höchstgeschwindigkeit von etwa 60 Kilometer pro Stunde nicht lange durchhalten. Viele der wesentlichen Beutetiere erreichen außerdem eine höhere Höchstgeschwindigkeit als Löwen. Auf Grund des Körperbaus kann ein Löwe jedoch schnell beschleunigen und ist daher auf kurzer Distanz in der Lage, beispielsweise ein Zebra einzuholen, das ihm aufgrund seiner Höchstgeschwindigkeit von 65 Kilometer pro Stunde auf längeren Strecken entkommen könnte. Löwen müssen sich deshalb im Normalfall bis auf wenige Dutzend Meter an die Beute heranpirschen. Sie schleichen sich geduckt oft über mehrere hundert Meter an die Beute heran, wobei jede Deckung ausgenutzt wird. Je näher sie der Beute kommen, desto mehr achten sie auf Deckung. Ist eine Distanz von zirka 30 Metern erreicht, wird die Beute in mehreren Sätzen angesprungen; jeder Sprung ist dabei etwa sechs Meter weit. Durch die Wucht des Aufpralls kann selbst ein Beutetier, das wie beispielsweise ein Zebra doppelt so schwer ist wie der jagende Löwe, aus dem Gleichgewicht gebracht werden. Kleinen Beutetieren wie etwa einer Thomsongazelle durchbeißen Löwen anschließend das Genick. Größere Beutetiere wie ein Gnu oder Zebra werden durch einen Kehlbiss getötet. Da die Eckzähne des Löwen zu kurz sind, um größere Blutgefäße zu erreichen, töten Löwen diese größeren Beutetiere, indem sie die Luftröhre einklemmen und so die Sauerstoffversorgung des Gehirns unterbrechen. Nach dem Jagderfolg kommt die Rangfolge im Rudel zum Tragen. Die adulten Männchen dürfen zuerst fressen, es folgen die ranghöchsten Weibchen, zuletzt die Jungen. Am Kadaver kommt es nicht selten zu Rangkämpfen, bei denen Rudelmitglieder verletzt werden. Der Jagderfolg ist abhängig vom Geschick der jagenden Tiere, von der Tageszeit, den lokalen Gegebenheiten und der bejagten Tierart. In der Serengeti sind 14 Prozent aller Jagden auf Riedböcke und 32 Prozent aller Angriffe auf Gnus erfolgreich. Der Jagderfolg von Löwen ist damit dort deutlich geringer als der von Afrikanischen Wildhunden oder Geparden. Da Löwen in offenen Landschaften jagen, erhöht die gemeinsame Jagd die Chance, erfolgreich Beute zu schlagen. Nach einer Untersuchung in der Serengeti verdoppelt sich der Jagderfolg, wenn zwei Löwinnen gemeinsam jagen. Der Jagderfolg stieg in dieser Untersuchung jedoch nicht wesentlich an, wenn mehr als zwei Löwinnen an der Jagd beteiligt waren. Eine Studie in einer halbwüstenähnlichen Region in Namibia kam dagegen zu dem Ergebnis, dass diejenigen Rudel den höchsten Jagderfolg haben, bei denen mehrere Löwinnen ihre Jagdtechnik eng koordinieren. In dieser weitgehend deckungslosen Landschaft kreisten einige Löwinnen die Beute ein, während andere sich in einem Hinterhalt auf die Lauer legten. Ein weiterer Vorteil der gemeinschaftlichen Jagd liegt darin, dass die Beute im Rudel leichter gegen andere Räuber wie Wildhunde und Hyänen verteidigt werden kann. Oft fressen Löwen auch Aas. Dabei vertreiben sie häufig andere Raubtiere wie Tüpfelhyänen von ihrer Beute – weit häufiger als umgekehrt. In einigen Gebieten Ostafrikas jagen Löwen Hyänen 70 Prozent ihrer Jagdbeute ab. Löwen finden die Beute anderer Raubtiere, indem sie auf kreisende Geier achten, die Beute von Hyänen aber auch, indem sie Streitereien von Hyänenrudeln um erlegte Beute akustisch lokalisieren. Löwen trinken, wenn Wasser verfügbar ist, sie können jedoch auch durch den Wassergehalt ihrer Beute oder von Pflanzen überleben, in der Kalahari etwa von Tsamma-Melonen. === Fortpflanzung und Entwicklung === Weibchen werden, unter anderem in Abhängigkeit von den Umweltbedingungen, im Alter von zwei bis drei Jahren geschlechtsreif, erstmals trächtig werden sie mit durchschnittlich dreieinhalb Jahren. Männchen sind mit gut zwei Jahren geschlechtsreif, können aber frühestens mit fünf Jahren ein Rudel übernehmen und Junge zeugen. Das Männchen überprüft die Paarungsbereitschaft eines Weibchens geruchlich mit dem Jacobson-Organ, das sich im harten Gaumen befindet. Dazu zieht der Löwe die Oberlippe zurück und öffnet leicht das Maul; dies wird als Flehmen bezeichnet. Auch wenn ein Männchen die Spitze der Rangordnung einnimmt, kann es sich mit einem Weibchen nur mit dessen Zustimmung paaren. Hierzu legt sich die Löwin auf den Bauch und erlaubt dem Männchen, sie zu besteigen. Während der Kopulation beißt der Kater der Löwin in den Nacken; dadurch hält diese instinktiv still. Eine Kopulation findet etwa alle 15 Minuten statt, über drei bis vier Tage zirka 40 Mal am Tag; ein Kopulationsakt dauert etwa 30 Sekunden. Nach einer Tragzeit von etwa vier Monaten bringt die Löwin in einem Versteck abseits vom Rudel zumeist ein bis vier, maximal sechs Junge zur Welt. Neugeborene wiegen etwa 1,5 Kilogramm, ihre Augen öffnen sich bei der Geburt oder kurz danach. Sie werden im Versteck etwa sechs bis acht Wochen von der Mutter gesäugt. Ist dieses weit vom Rudel entfernt, geht die Mutter allein auf Jagd. Dabei kann es vorkommen, dass die Jungen bis zu 48 Stunden allein im Versteck bleiben; dies ist besonders wegen Hyänen und anderer Raubtiere gefährlich. Nach maximal acht Wochen führt die Löwin ihre Jungen zum Rudel, wo sie sich zusammen mit anderen Jungen zu einer Crèche, einem „Hort“, zusammenschließen. Die jungen Löwen saugen ab diesem Zeitpunkt nicht nur bei der Mutter, sondern auch bei den anderen Weibchen, womit die Aufzucht allen weiblichen Mitgliedern des Rudels obliegt. Im Alter von vier bis sechs Wochen beginnen die Jungen, auch Fleisch zu fressen. Mit acht Monaten werden Löwenjunge entwöhnt, sie bleiben aber noch bis zum Alter von 21 bis 30 Monaten bei der Mutter.Etwa 60 Prozent der Löwen sterben bereits in ihrem ersten Lebensjahr. Männchen können im Freiland elf bis 13, selten 16 Jahre alt werden; häufig werden sie von jüngeren Konkurrenten getötet oder verletzt vertrieben. Weibchen können 17 bis 18 Jahre erreichen. Das Rekordalter von Löwen im Zoo beträgt etwa 27 Jahre. == Externe Systematik == Der Löwe zählt innerhalb der Großkatzen zur Gattung Panthera, deren Arten unter anderem durch ein unvollständig verknöchertes Zungenbein charakterisiert sind. Früher wurde dieses Merkmal mit der Fähigkeit zu brüllen in Verbindung gebracht. Neuere Studien zeigen jedoch, dass das charakteristische laute Brüllen des Löwen (und anderer Großkatzen der Gattung Panthera) vor allem durch eine spezielle Morphologie des Kehlkopfes bedingt ist. Der Löwe schnurrt, wie andere Großkatzen auch, nur beim Ausatmen. Das Schnurren klingt dabei nicht wie das einer Kleinkatze, sondern eher wie ein Knurren oder Brummen. == Stammesgeschichte == Die Verwandtschaftsgruppe der Löwen war einst in Afrika, Europa, Asien und Amerika weit verbreitet. Der älteste Fossilnachweis einer Katze, die stark einem Löwen ähnelt, stammt aus Laetoli in Tansania und ist etwa 3,5 Millionen Jahre alt. Von einigen Wissenschaftlern werden diese Funde, die nur aus Kieferbruchstücken und wenigen postcranialen (nicht zum Schädel gehörenden) Knochen bestehen, als Panthera leo angesehen, andere Forscher bestreiten diese Gleichsetzung. Die wenigen Funde erlauben kaum eine genaue Bestimmung der Artzugehörigkeit, auch sind die ältesten sicher bestätigten Funde von Löwen in Afrika rund zwei Millionen Jahre jünger. Vor etwa 700.000 Jahren taucht mit dem Mosbacher Löwen (Panthera fossilis) am italienischen Fundort von Isernia zum ersten Mal ein Löwe in Europa auf. Ein 1,75 Millionen Jahre alter Löwen-Unterkiefer aus der Olduvai-Schlucht in Tansania zeigt eine frappierende Ähnlichkeit mit den Mosbacher Löwen. Diese gelten als die größten Löwen Europas und jagten während der Cromer-Warmzeit vor mehr als 500.000 Jahren bei Wiesbaden in Hessen und bei Heidelberg in Baden-Württemberg. Einige Exemplare waren fast so lang wie die größten Löwen der Erdgeschichte, die Amerikanischen Löwen (Panthera atrox) aus Kalifornien, die eine Rekordlänge von 3,6 Metern (Kopf-Rumpf-Länge circa 2,4 Meter) erreichten. Die meisten Löwenfunde in Europa stammen vom eiszeitlichen Höhlenlöwen (Panthera spelaea), der sich aus dem Mosbacher Löwen entwickelt hat. In Nordostasien und Beringia lebte der Beringia-Höhlenlöwe (Panthera leo vereshchagini), eine Unterart des Höhlenlöwen. In Mitteleuropa, Nordasien und Amerika waren Löwen bis zum Ende des Pleistozäns ein häufiges Element der Fauna, starben dort aber am Ende der letzten Eiszeit aus. == Unterarten == Im Laufe der Zeit wurden zahlreiche Unterarten des Löwen beschrieben, von denen im 2009 erschienenen Raubtierband des Handbook of the Mammals of the World, einem Standardwerk zur Säugetierkunde, noch sechs anerkannt wurden: Der Kongo-Löwe (Panthera leo azandica), im Nordosten der Demokratischen Republik Kongo Der Angola-Löwe oder Katanga-Löwe (Panthera leo bleyenberghi), in Angola, Sambia und im Süden der Demokratischen Republik Kongo Der Transvaal-Löwe (Panthera leo krugeri), im nordöstlichen und östlichen Südafrika und im Kalahari-Gebiet Panthera leo nubica, in Nordost- und Ostafrika Der Asiatische Löwe (Panthera leo persica), im Gir-Nationalpark im westlichen Indien Der Westafrikanische Löwe oder Senegal-Löwe (Panthera leo senegalensis), im Westen Afrikas In einer 2017 veröffentlichten Revision der Katzensystematik durch die Cat Specialist Group der IUCN werden dagegen nur noch zwei Unterarten des Löwen anerkannt. Panthera leo leo umfasst die westafrikanischen Löwen, die Löwen, die in Zentralafrika nördlich des Regenwaldgürtels leben, die indischen Löwen sowie die ausgerotteten Löwen Nordafrikas, des Nahen und Mittleren Ostens und des Balkans. Panthera leo melanochaita umfasst die Löwen des östlichen und südlichen Afrikas.Genetische Analysen ergaben, dass sich Westafrikanische Löwen deutlich von denen im Süden und Osten des Kontinents unterscheiden und die nordafrikanischen Berberlöwen die nächsten Verwandten der indischen Löwen sind. Nordafrikanisch-asiatische Löwen spalteten sich nach molekularbiologischen Untersuchungen vor etwa 70.000 bis 200.000 Jahren von den afrikanischen Löwen südlich der Sahara ab. Auch ein 2016 veröffentlichter Genvergleich und eine 2020 veröffentlichte Studie über die Evolutionsgeschichte der Löwen zeigen, dass die rezenten Löwen aus zwei Kladen bestehen, die den Unterarten Panthera leo leo und Panthera leo melanochaita entsprechen. Die von beiden gebildete Klade ist die Schwestergruppe der ausgestorbenen Höhlenlöwen.Bei den vom Menschen ausgerotteten Berber- und Kaplöwen handelt es sich damit nicht um eigenständige Unterarten, sondern um Populationen von Panthera leo leo bzw. Panthera leo melanochaita. Bis vor 37.000 Jahren kamen Löwen auf Sri Lanka vor; sie wurden als eigenständige Unterart Panthera leo sinhaleyus beschrieben. === Spelaea-Gruppe === Die ausgestorbenen prähistorischen Löwen Amerikas und Nordeurasiens bilden die sogenannte Spelaea-Gruppe, die sich genetisch von den Löwen Afrikas und Südasiens (Leo-Gruppe) unterscheidet. Dazu zählen: Mosbacher Löwe (Panthera fossilis) Höhlenlöwe (Panthera spelaea) Amerikanischer Löwe (Panthera atrox) === Kryptozoologische Art === Die Kryptozoologie beschäftigt sich mit dem Marozi, einem angeblich gefleckten Löwen mit kurzer Mähne, der im Hochland von Kenia leben soll. Das Fell eines derartigen Löwen wird noch heute im Naturhistorischen Museum in London aufbewahrt. Seit Ende der 1930er-Jahre gab es keine Sichtung mehr. Behauptungen, solche Löwen seien Hybride aus Löwen und Leoparden, sind mehr als unwahrscheinlich, da sich diese Tiere in der Natur normalerweise feindlich gesinnt sind. In Gefangenschaft konnten dagegen schon mehrfach Hybriden aus Löwen und Leoparden dokumentiert werden, allerdings weist deren Fell ein anderes Muster als das vermeintliche Marozi-Fell in London auf. == Löwen und Menschen == === Wortherkunft === Im Deutschen gibt es zwei Varianten desselben Wortes, einmal das gängige Löwe, das aus dem norddeutschen Raum übernommen wurde, sowie das altertümlich-poetische Leu. Entlehnt hat das Deutsche die Bezeichnung aus lat. leo, das seinerseits dem gr. leōn entstammt. Vermutet wird weiterhin, dass das Wort im semitischen Raum (assyr. labbu, hebr. leva „die Löwen“) seinen Ursprung hat. === Jagd auf Löwen === Löwen wurden bereits in der Antike intensiv bejagt, so waren sie in Ägypten um 1100 v. Chr. weitgehend ausgerottet. Im 19. und 20. Jahrhundert wurden Löwen im großen Maßstab systematisch verfolgt, insbesondere auch als Folge der Besiedlung Afrikas durch Europäer. Einerseits galten Löwen als Schädlinge, andererseits wurden Zigtausende Löwen, die für Großwildjäger zu den begehrten „Big Five“ gehören, den fünf prominenten Großwildarten Afrikas, als „sportliches Freizeitvergnügen“ erschossen. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts töteten Teilnehmer mancher Safaris Löwen in dreistelliger Zahl; 1911 wurden in der Serengeti während einer einzigen Safari mindestens 700 Löwen erschossen.Die Zahl der zu Beginn des 21. Jahrhunderts von Trophäenjägern erschossenen Löwen schätzte die IUCN 2009 auf 600 pro Jahr; Körperteile von etwa 60 Prozent dieser Löwen wurden als Trophäen in die USA importiert. Vorrangiges Ziel von Trophäenjägern sind männliche Löwen; der Verlust von Rudelführern führt dann oftmals dazu, dass weitere Rudelmitglieder sterben, unter anderem weil neue Rudelführer nach der Übernahme des Rudels die Jungen ihrer Vorgänger töten. Die lokale Bevölkerung profitiert entgegen anders lautenden Behauptungen finanziell nur minimal von der Trophäenjagd. Zudem werden vor allem in Südafrika Löwen in Gefangenschaft aufgezogen, um sie dann in Gehegen von zahlungskräftigen Trophäenjägern bei sogenannten canned hunts erschießen zu lassen.Nachdem 2015 in Zimbabwe ein im Rahmen eines langjährigen Forschungsprojekts besenderter und unter Touristen besonders beliebter Löwe („Cecil“) von einem US-amerikanischen Jäger erschossen worden war, was auch in politischen Kreisen internationale Proteste nach sich zog, listete der United States Fish and Wildlife Service Löwen als gefährdete Art, womit die Jagd auf Löwen für US-amerikanische Trophäenjäger schwieriger, aber nicht unmöglich wurde. Frankreich verbot im selben Jahr als erstes Land der Europäischen Union den Import der Körperteile von Löwen, ebenso Australien. Das deutsche Bundesamt für Naturschutz erteilt dagegen weiterhin Genehmigungen für die Einfuhr von Jagdtrophäen aus Körperteilen gefährdeter Tiere wie Löwen. === Löwen in Haltung === Löwen wurden von assyrischen Herrschern bereits 850 v. Chr. in Gefangenschaft gezüchtet. Zur Zeit des Römischen Reichs wurden Löwen zu Tausenden aus Afrika importiert, in Menagerien zur Schau gestellt und bei Zirkusspielen gegen Menschen und Tiere gehetzt. Im europäischen Mittelalter wurden Löwen als Statussymbole und für Schaukämpfe in königlichen Menagerien, unter anderem im Tower of London, sowie auf den Anwesen Adeliger in Käfigen gehalten; berühmte frühneuzeitliche Menagerien, in denen Löwen und andere exotische Tiere zur Schau gestellt wurden, ließ Ludwig XIV. in Versailles und Vincennes errichten. Insbesondere im 18. und 19. Jahrhundert wurden Löwen in Europa und in den USA auch in Wandermenagerien durch das Land gekarrt.In heutigen Zoos versucht man, die genetische Vielfalt von Löwen durch Zuchtprogramme zu bewahren, indem man mit Tieren aus unterschiedlichen Regionen des Verbreitungsgebiets züchtet – unter anderem mit indischen Löwen sowie mit Löwen, zu deren Vorfahren wahrscheinlich die nordafrikanischen Berberlöwen gehören. Die Haltung von dressierten Großraubtieren wie Löwen in Zirkussen, die in der Manege Kunststücke aufführen, gilt als kontrovers und ist in einigen Ländern verboten. In manchen afrikanischen Wildreservaten wird ein sogenannter „Catwalk“ angeboten; dabei werden die Besucher mit zahmen Löwen durch die Wildnis geführt. === Löwen in Religion und Mythologie === Bereits die eiszeitlichen Jäger in der Kulturstufe des Aurignacien haben vor mehr als 30.000 Jahren Löwen dargestellt. Zu den eindrucksvollsten Kunstwerken aus jener Zeit, das zugleich zu den ältesten überlieferten Skulpturen der Menschheit zählt, gehört die aus Mammutelfenbein geschnitzte, fast 30 Zentimeter hohe Figur des sogenannten Löwenmenschen mit dem Körper eines Menschen und dem Kopf eines Höhlenlöwen; sie wurde in der Höhle Hohlenstein-Stadel in Baden-Württemberg entdeckt und verkörperte vielleicht eine Gottheit. Aus altbabylonischer Zeit stammt die Bronzeskulptur des Löwen von Mari. In vielen Kulturen hat der Löwe eine Stellung als „König der Tiere“ eingenommen, die auf den Einfluss des Physiologus zurückzuführen ist, eines frühchristlichen Buches über Tiersymbolik von allgemein großem Einfluss auf die westliche Kultur. Die vom Löwen ausgehende Faszination wird durch die Vielzahl von Wappen deutlich, auf denen er abgebildet ist. So findet man den Löwen als Wappentier beispielsweise auf den Wappen von Hessen, Husum, Luxemburg, Zürich, Aquitanien und Montenegro. Dass Löwen den Europäern bereits im Altertum bekannt wurden, liegt daran, dass sie einst rund um das Mittelmeer verbreitet waren. In der griechischen Mythologie erscheinen Löwen in verschiedener Funktion: Der Nemeische Löwe wurde als eine menschenfressende Bestie dargestellt, den zu töten eine der zwölf Aufgaben des Herakles war. In der Geschichte von Androklus zieht der Held, ein entlaufener Sklave, einem Löwen einen Dorn aus der Tatze; als er später zur Strafe für seine Flucht den Löwen zum Fraß vorgeworfen werden soll, erkennt ihn das Tier wieder und weigert sich, den Mann zu töten. Das Wappen Indiens zeigt die Darstellung einer Ashoka-Säule, auf deren Kapitell vier Löwen Rücken an Rücken sitzend in die vier Himmelsrichtungen schauen. Auf der Flagge von Sri Lanka wurde der Löwe als Symbol der Singhalesen verewigt. Der Name des Volkes der Singhalesen entstammt dem Wort siṁha aus dem Sanskrit, was „Löwe“ bedeutet. In zahlreichen antiken Kulturen spielte der Löwe eine Rolle. Im alten Ägypten wurden Pharaonen als Sphingen mit Löwenkörper und Menschenkopf dargestellt. Die berühmteste derartige Darstellung ist die Große Sphinx von Gizeh. Neben der Löwengestalt des Pharao wurde Sachmet als Göttin mit weiblichem Löwenkopf verehrt. Weiter kannte die ägyptische Mythologie sowohl Dedun, den oberägyptischen Gott des Reichtums, der in späterer Zeit ebenfalls löwenköpfig dargestellt wurde, als auch die Löwengöttinnen Repit, Mehit, Menhit, Mestjet und den Löwengott Mahes. Das Wort M3ḥs selbst ist außerdem die Bezeichnung für Löwe. Der ägyptische Erdgott Aker wird dargestellt mit einer Bildkomposition, in der zwei Löwen Rücken an Rücken sitzen und zwischen sich eine Darstellung des Horizonts mit Sonne halten. Der Markuslöwe ist das Symbol für den Evangelisten Markus. Im Mittelalter fungieren Löwenfiguren manchmal als unheilabwehrende (apotropäische) Wächter von Eingängen (z. B. an St-Trophime in Arles). Bei Grabmalen (gisants) ruhen oft die Füße von Rittern oder Adligen auf Löwenfiguren. Am nördlichen Sternenhimmel gibt es gleich zwei nach diesem Tier benannte Sternbilder: den Löwen und den Kleinen Löwen. Bei Ersterem soll es sich um eine Inkarnation des Nemeischen Löwen handeln, während Letzterer eine Neuschöpfung des 17. Jahrhunderts war. Dass der Löwe bis heute ein Image als mächtiges, stolzes, mutiges, starkes Tier hat, zeigt sich daran, dass sich bis in die Gegenwart Menschen nach ihm benennen. Bedeutendste Beispiele aus dem Mittelalter sind Heinrich der Löwe und – weniger positiv besetzt – Richard Löwenherz. In der Frühen Neuzeit wurde der schwedische König Gustav II. Adolf wegen seines Eingreifens im Dreißigjährigen Krieg „Löwe aus Mitternacht“ genannt. Der afghanische Kriegsherr Ahmad Schah Massoud wurde von seinen Anhängern „der Löwe von Pandschir“ genannt, der äthiopische Kaiser Haile Selassie nannte sich „Löwe von Juda“. In Tierfabeln wird der Löwe auch als Nobel bezeichnet. === Der Löwe in Sprache und Werbung === Löwenanteil bedeutet Großteil in dem Sinn, dass der mächtige Löwe das meiste für sich selbst beansprucht. Baulöwe und Salonlöwe stehen für manche einflussreichen, wohlhabenden Menschen der High Society. Einige Wirtschaftsunternehmen verwenden Löwenfiguren als Logos und für Werbeauftritte, unter anderem Löwenbräu (München), Kastner&Öhler (Graz) und Hartlauer (Steyr). Der körperlich große österreichische Politiker Josef Wenzl machte mit einer Löwenfigur Image- und Wahlwerbung. Im Vorspann von Filmen der Metro-Goldwyn-Mayer brüllt ein Löwe, der aus einer Rahmenkulisse herausschaut. Der Braunschweiger Löwe wurde Markenzeichen des Lkw-Herstellers Büssing und dessen Nachfolger MAN. Ein Halleiner Steinmetz wurde 1941 vom NS-Regime beauftragt, vier Löwen mit Wappen für die (heutige) Salzburger Staatsbrücke zu fertigen; nur zwei wurden fertig und ab etwa 1949 vor dem Hauptbahnhof Linz aufgestellt. Auch als Name oder Bestandteil von Namen wurde der Löwe verwendet, wie zum Beispiel bei den mittelalterlichen Königen Richard Löwenherz (1157–1199) und Heinrich der Löwe (1130–1195) oder auch bei dem Nachnamen Löwenthal. Von den lateinischen beziehungsweise griechischen Bezeichnungen für Löwe abgeleitet sind unter anderem die Namen Leo, Leon und Leonardo. === Menschenfressende Löwen === Löwen haben wahrscheinlich seit jeher Menschen und Vorfahren des heutigen Menschen erbeutet. Menschen zu jagen geht für Löwen allerdings mit Risiken einher, die den Nutzen der Nahrungsgewinnung in der Regel übersteigen; deshalb gehören Menschen nicht zum allgemeinen Beutespektrum von Löwen. Wird jedoch der Lebensraum von Löwen so gestört, dass die Bestände ihrer üblichen Beutetiere zusammenbrechen, können Löwen zur Menschenjagd übergehen. Letzteres gilt auch für einzelne Löwen, die unter schweren Verletzungen wie gebrochenen Gliedmaßen leiden. Ein weiterer Risikofaktor für Menschen besteht darin, dass Aas fressende Löwen in die Nähe menschlicher Siedlungen oder Camps gelockt werden, wenn Verstorbene nicht bestattet werden oder wenn Essensabfälle oder tote Tiere offen liegen gelassen werden; auch Vieh kann Löwen in Menschennähe locken. Löwen und Hyänen folgten außerdem Karawanen, unter anderem denen der Sklavenhändler, die sterbende und gestorbene Sklaven zurückließen.Die schwerste bekannte Angriffsserie ereignete sich von 1932 bis 1947 im südlichen Tansania, wo in einem 150 Quadratmeilen großen Gebiet etwa 1500 Menschen von Löwen getötet wurden. Man hatte dort einen „wildfreien Korridor“ geschaffen, um einer Rinderpest-Epidemie Herr zu werden. Löwen mehrerer Generationen fixierten sich in der Folge so sehr auf die Menschenjagd, dass sie sogar in Dörfer eindrangen und schließlich selbst bei der unmittelbaren Verfügbarkeit von Vieh stattdessen Menschen erbeuteten. Eine weitere Angriffsserie ereignete sich ab 1924 in Uganda, wo allein in diesem Jahr 161 Menschen von Löwen getötet wurden, nachdem man, ebenfalls zur Bekämpfung einer Rinderpest-Epidemie, die wildlebenden Huftiere ausgerottet hatte.Der bekannteste Fall von Löwenangriffen betraf das damalige Britisch-Ostafrika, das heutige Kenia: 1898 töteten dort zwei Löwen (je nach Quelle) 28 bis 135 indische und afrikanische Arbeiter, die mit dem Bau einer Eisenbahnbrücke über den Tsavo-Fluss beschäftigt waren. Die Bauarbeiten an der Brücke kamen zum Erliegen, als die Löwen auch in Camps eindrangen, die mit hohen Dornenwällen umfriedet waren, und dort Menschen erbeuteten. Dem Leiter des Bauprojekts, dem britischen Oberstleutnant John Henry Patterson, gelang es erst nach neun Monaten, die beiden Löwen zu erlegen. Beide waren männlich, mähnenlos und ungewöhnlich groß: Sie hatten Gesamtlängen von 2,95 beziehungsweise 2,90 Metern und Schulterhöhen von 1,12 beziehungsweise 1,22 Metern.Nach Pattersons Angabe wurden 135 Menschen Opfer dieser Löwen. Von Yeakel et al. durchgeführte Untersuchungen des Isotopenverhältnisses von Kohlenstoff und Stickstoff aus Knochen und Haaren zeigten, dass einer der beiden im Field Museum of Natural History in Chicago als Dermoplastiken ausgestellten Löwen gelegentlich, der zweite hauptsächlich Menschenfleisch fraß. Vermutlich war der Letztere aufgrund seiner Kieferverletzung auf leicht zu erjagende Beute angewiesen. Indem die Forscher die üblicherweise von Löwen verzehrte Fleischmenge zugrunde legten, schlossen sie rechnerisch, dass den beiden Löwen etwa 35 Menschen zum Opfer gefallen waren.Die Tsavo-Angriffe folgten ebenfalls auf eine Rinderpest-Epidemie: Diese nach Afrika eingeschleppte Seuche ließ die Bestände von Hausrindern und Büffeln zusammenbrechen. Aufgrund der Jagd nach Elfenbein waren zudem Elefanten im Osten Kenias weitgehend ausgerottet; dies hatte zur Folge, dass sich Strauchvegetation, insbesondere auch Dorngebüsche, ausgebreitet hatten, die den Lebensraum grasender Huftiere, einer wichtigen Beute von Löwen, überwucherten. Es gab bereits vor den berüchtigten Ereignissen Löwenangriffe in der Tsavo-Region, und selbst ein Jahrhundert später wurde noch über Löwenangriffe in der Region berichtet: Kerbis Peterhans & Gnoske vermuten deshalb, dass sich unter den dortigen Löwen eine lokale Verhaltenstradition der Menschenjagd herausgebildet hatte.Die Vorkommnisse während des Brückenbaus am Tsavo-Fluss inspirierten zwei Hollywood-Produktionen: Der erste kommerzielle 3D-Film, der im Jahre 1952 gedreht und in Deutschland unter dem Titel Bwana, der Teufel veröffentlicht wurde, und Der Geist und die Dunkelheit von 1996 griffen dieses Ereignis auf. == Literatur == P. Caputa: Der kahle König. In: National Geographic. Gruner und Jahr, Hamburg 2002, ISSN 0027-9358. Richard Despard Estes: The Behavior Guide to African mammals. University of California Press, Berkeley 1991, ISBN 0-520-05831-3, S. 369. Günter Kloss: Der Löwe in der Kunst in Deutschland. Skulptur vom Mittelalter bis heute. Imhof, Petersberg 2005, ISBN 3-86568-054-2. Gus Mills, Martin Harvey: African Predators. Struik, Cape Town 2001, ISBN 1-86872-569-3. Ronald M. Nowak: Walker’s mammals of the world. 6. Auflage. Johns Hopkins University Press, Baltimore 1999, ISBN 0-8018-5789-9 (englisch). Bruce D. Patterson: The Lions of Tsavo. Exploring the Legacy of Africa’s Notorious Man-eaters. McGraw Hill, New York 2004, ISBN 0-07-136333-5. Alan Turner, Mauricio Anton: The Big Cats and Their Fossil Relatives. An Illustrated Guide to Their Evolution and Natural History. Columbia University Press, New York 1997, ISBN 0-231-10229-1. Wighart von Koenigswald: Lebendige Eiszeit. Theiss, Stuttgart 2002, ISBN 3-8062-1734-3. Joachim Burger u. a.: Molecular phylogeny of the extinct cave lion. Panthera leo spelea. (PDF; 201 kB) In: Molecular Phylogenetics and Evolution. 30, 2004, ISSN 1055-7903, S. 841–849. Mustafa Haikal: Die Löwenfabrik. Lebensläufe und Legenden. Pro Leipzig, Leipzig 2006, ISBN 3-936508-15-1. August Steier: Löwe. In: Paulys Realencyclopädie der classischen Altertumswissenschaft (RE). Band XIII,1, Stuttgart 1926, Sp. 968–990. == Filmdokumentationen == Geheimnisse der Steppe (Original: The African Lion). Dokumentarfilm von James Algar, USA 1955, Walt Disney, 75 Minuten. Vanishing Kings – Lions of the Namib. Dokumentarfilm zu den Wüstenlöwen in Namibia, Namibia 2015, ORF/Into Nature Productions/Smithsonian Channel/Arte, 50 Minuten. == Weblinks == Artenprofil Löwe; IUCN/SSC Cat Specialist Group in Englisch Panthera leo in der Roten Liste gefährdeter Arten der IUCN 2012. Eingestellt von: H. Bauer, K. Nowell, C. Packer, 2008. Abgerufen am 18. Oktober 2013. == Einzelnachweise ==
https://de.wikipedia.org/wiki/L%C3%B6we
Venus (Planet)
= Venus (Planet) = Die Venus ist mit einer durchschnittlichen Sonnenentfernung von 108 Millionen Kilometern der zweitinnerste und mit einem Durchmesser von ca. 12.100 Kilometern der drittkleinste Planet des Sonnensystems. Sie zählt zu den vier erdähnlichen Planeten, die auch terrestrische oder Gesteinsplaneten genannt werden. Die Venus ist der Planet, der auf seiner Umlaufbahn der Erdbahn mit einem minimalen Abstand von 38 Millionen Kilometern am nächsten kommt. Sie hat eine ähnliche Größe wie die Erde, unterscheidet sich aber in Bezug auf die Geologie und vor allem hinsichtlich ihrer Atmosphäre. Diese besteht zu 96 % aus Kohlenstoffdioxid und ihr Oberflächendruck ist 90-mal höher als auf der Erde. Nach dem Mond ist die Venus das hellste Gestirn am nächtlichen Himmel. Weil sie als einer der unteren Planeten nur am Morgen- oder Abendhimmel sichtbar ist und nie gegen Mitternacht, wird sie auch Morgenstern und Abendstern genannt. Schon mit einem kleinen Fernrohr ist sie auch am Taghimmel beobachtbar, manchmal sogar freiäugig. Doch auch bei Erdnähe (ca. alle 1½ Jahre) lassen sich nur die Wolkenstreifen der äußerst dichten Atmosphäre erkennen. Die Erkundung der Oberfläche erfordert Radar. Das astronomische Symbol des Planeten Venus gilt als stilisierte Repräsentation des Handspiegels der namensgebenden römischen Liebesgöttin Venus: ♀. == Himmelsmechanik == === Umlaufbahn === Die große Bahnhalbachse der Venus misst 108.208.930 km; das ist der Abstand zwischen ihrem Schwerpunkt und dem gemeinsamen Schwerpunkt mit der Sonne, der wegen der vergleichsweise geringen Venusmasse nur 264 km vom Sonnenzentrum entfernt liegt. Die große Halbachse beträgt etwa 72,3 % des mittleren Erdbahnradius, das sind damit 0,723 Astronomische Einheiten (AE). Der sonnennächste Punkt der Umlaufbahn, das Perihel, liegt bei 0,718 AE und ihr sonnenfernster Punkt, das Aphel, bei 0,728 AE. Zwar kommt Venus der Erde näher als jeder andere Planet (Minimum 0,256 AE), im zeitlichen Mittel hat jedoch Merkur einen geringeren Abstand zu Venus (0,779 AE) und Erde (1,039 AE). Der mittlere Abstand zur Erde beträgt 1,136 AE. Die Venus liegt knapp außerhalb der habitablen Zone, da sie für die Existenz flüssigen Wassers der Sonne zu nahe ist. Die Bahnebene der Venus ist 3,395° gegen die Ekliptikebene der Erde geneigt. Die siderische Umlaufperiode – die Dauer eines Venusjahres – beträgt 224,701 (Erd-)Tage. Die Umlaufbahn der Venus hat unter allen Planetenbahnen die geringste Exzentrizität. Die numerische Exzentrizität beträgt nur rund 0,0067; das heißt, dass die Abweichung der Planetenbahn von einer idealen Kreisbahn sehr gering ist. Die Venus hat also die kreisförmigste Bahn aller Planeten. Noch geringere Abweichungen von der Kreisform haben im Sonnensystem nur die Umlaufbahnen einiger Monde und mancher Asteroiden. Dafür ist die Neigung der Venusbahn gegen die Bahnebene der Erde mit etwa 3,4° nach der Inklination von Merkur (7,0°) mit am größten, wenn auch deutlich mäßiger. === Rotation === Die Rotation der Venus ist im Gegensatz zum sonst fast ausschließlich vorherrschenden Drehsinn der Eigendrehung und der Umlaufbewegung der Planeten und der meisten Monde im Sonnensystem rückläufig (retrograd). Das heißt, dass die Venus von ihrem Nordpol aus gesehen im Uhrzeigersinn rotiert. Gemäß der Definition der Internationalen Astronomischen Union (IAU) ist der Nordpol eines Planeten derjenige, welcher auf der gleichen Seite der Ekliptik liegt wie der Nordpol der Erde. Somit geht auf der Venus die Sonne im Westen auf und im Osten unter. Die Neigung der Rotationsachse wird daher zumeist nicht mit 2,64°, sondern mit 177,36° angegeben, so, als wäre die Achse bei ursprünglich progradem Drehsinn auf den Kopf gekippt worden. Unter den Planeten im Sonnensystem weist außer der Venus nur noch der Uranus einen retrograden Rotationssinn auf; unter den bekannten Zwergplaneten ist das nur bei Pluto der Fall. Durch die geringe Neigung des Venusäquators gegen die Bahnebene gibt es auf dem Planeten keine Jahreszeiten. Die rückläufige Eigendrehung der Venus ist zudem außergewöhnlich langsam: Eine siderische Rotationsperiode (das heißt, relativ zu den Fixsternen) dauert 243,025 Erdtage, und damit sogar 8 Prozent länger als die Umlaufperiode (224,701 Erdtage). Durch den rückläufigen Drehsinn dauert die auf die Sonne bezogene Rotationsperiode – also ein Venustag – jedoch „nur“ 116,75 Erdtage; im rechtläufigen Fall würde das Verhältnis zwischen der Rotations- und der Umlaufgeschwindigkeit fast eine gebundene Rotation bedeuten, wie im vollendeten Beispiel des Erdmondes, der dadurch der Erde ständig dieselbe Seite zuwendet. Der Venus wäre damit gegenüber der Sonne ein ähnliches Schicksal beschieden. Die Ursache des retrograden Drehsinns und der besonders niedrigen Geschwindigkeit der Venusrotation ist nicht bekannt. Einer Hypothese zufolge könnte es das Resultat einer Kollision mit einem großen Asteroiden sein. Die synodische Rotationsperiode der Venus (das heißt relativ zur Erde) beträgt im Mittel 145,928 Tage. Das ist der Turnus, mit dem ein Venusmeridian parallel zur heliozentrischen Länge der Erde liegt. Da die fünffache Periode auf wenige Stunden genau zwei Erdenjahren entspricht, ergibt sich eine annähernd pentagrammartige Verteilung dieser Stellungen. Nach Messungen der Raumsonde Venus Express ist die Rotationsdauer der Venus etwa 6,5 Minuten länger geworden als von der Raumsonde Magellan gemessen. === Bahnstörungen und Resonanzen === Zusammen mit der Bahnperiode der Erde von 365,256 Tagen ergibt sich als Zeitraum zwischen zwei aufeinander folgenden größten Annäherungen eine Periode von 583,924 Tagen beziehungsweise 1,599 Jahren, die auch als gegenseitige Bahnstörungsperiode aufgefasst werden kann. Von der Erde aus gesehen ist das die synodische Umlaufperiode der Venus. Die Umlaufzeiten von Venus und Erde befinden sich zueinander in der Kommensurabilität 8:13 (genau 8:13,004); das heißt, sie stehen in einem Verhältnis, das auf einem gemeinsamen Maß beruht und sich dementsprechend fast exakt durch kleine ganze Zahlen ausdrücken lässt. Innerhalb von 8 Erdumläufen werden 13 Venusumläufe zurückgelegt, beide Planeten befinden sich hinterher annähernd am selben Ort. Aus der Differenz der beiden Zahlen (13 − 8 = 5) kann man im Fall eines übereinstimmenden Umlaufsinns ablesen, dass sich die größten Annäherungen im Idealfall von genau kreisförmigen Bahnen auf jeweils fünf verschiedene Bahnpunkte exakt gleichmäßig verteilen würden. Die räumliche Reihenfolge der Bahnpunkte nach jeweils einem Ganzen und drei Fünfteln eines Sonnenumlaufs ergibt mit gedachten Verbindungslinien das Venuspentagramm. Eventuell ist diese Eigenart auch mit ein Grund für die sehr geringe Exzentrizität der Venusbahn. Kommensurabilitäten führen durch den Resonanzeffekt zu starken Bahnstörungen, die umso ausgeprägter sind, je genauer das Verhältnis der Zahlen erreicht wird und desto kleiner die Differenz zwischen ihnen ist. Das bekannteste Beispiel ist der Einfluss des Jupiter auf die Verteilung der Planetoiden, der durch solche Resonanzeffekte innerhalb des Planetoidengürtels zu Kommensurabilitätslücken (Kirkwoodlücken) und -häufungen führt. Ähnliche Auswirkungen haben auch die Umlaufbewegungen unter den Monden des Saturn auf die Struktur seines Ringsystems. Alle jeweils benachbarten Planeten und regulären Monde bewegen sich in kommensurablen Umlaufverhältnissen und unterstreichen damit die gewisse Regelmäßigkeit der Bahnabstände im Sonnensystem (siehe auch: Titius-Bode-Reihe). Der mittlere Bahnabstand zum Merkur, dem kleinsten Planeten und inneren Bahnnachbarn der Venus, beträgt rund 50,3 Mio. km (0,336 Astronomische Einheiten). Das ist nur etwas weniger als dessen große Bahnhalbachse (0,387 Astronomische Einheiten). Die mittlere Bahnstörungsperiode zwischen der Venus und dem Merkur beträgt 144,565 Tage. Ihre Umlaufzeiten haben das kommensurable Verhältnis 5:2 (genau 5:1,957). Im Idealfall würden sich die größten Annäherungen also auf jeweils drei Bahnpunkte gleichmäßig verteilen, doch die Umlaufbahn des Merkurs ist fast so exzentrisch wie die des Zwergplaneten Pluto. Die zweijährige Gesamtperiode des Zusammenspiels der Venusrotation mit der Erdbewegung steht mit 729,64 Tagen in einem Verhältnis 4:5 (4:4,998) zur synodischen Umlaufperiode der Venus. Das synodische Venusjahr umfasst mit 583,924 Tagen vier mittlere synodische Rotationen (1:4,001). Ein Beobachter auf der Venus würde – bei unbeeinträchtigter Sicht – die Erde alle 146 Erdentage beziehungsweise alle 1,25 Venustage an der gleichen Position finden. Die Venus wendet der Erde zum Beispiel bei jeder oberen und jeder unteren Konjunktion, sowie, von der Sonne aus gesehen, bei jeder 90°-Stellung (nach Osten beziehungsweise nach Westen) praktisch immer ein und dieselbe Seite zu, – die Seite des Nullmeridians. Von diesem Standort aus würde die Erde alle 146 Tage abwechselnd zur Mittagszeit, gegen Sonnenuntergang, um Mitternacht und gegen Sonnenaufgang ihren Höchststand haben. Das markante Beispiel der Erdausrichtung der Hemisphäre des Nullmeridians bezieht sich auf die gleichen räumlichen Erdpositionen wie die alleinige Folge der unteren Konjunktionen, nur mit der schnelleren Periode und in der umgekehrten Reihenfolge des Pentagrammmusters. Die kleine Abweichung der Venusrotation bedeutet nur eine systematische Verschiebung um jeweils gut einen halben Längengrad in Richtung Osten. Während acht Umlaufperioden der Erde beziehungsweise dreizehn Umlaufperioden der Venus mit fünf Konjunktionsperioden zueinander rotiert die Venus, ebenfalls fast auf den Tag genau, zwölfmal relativ zu den Sternen, 20-mal relativ zur Erde und 25 Mal relativ zur Sonne. Es liegt die Vermutung nahe, dass es sich insgesamt um ein Resonanzphänomen handelt. === Planet ohne Mond === Die Venus hat keinen natürlichen Satelliten. Im Jahr 1672 behauptete der italienische Astronom Giovanni Domenico Cassini, einen solchen entdeckt zu haben, und nannte ihn Neith, nach der ägyptischen Göttin Neith („die Schreckliche“). Bis 1892 war der Glaube an einen Venusmond verbreitet, bevor sich herausstellte, dass anscheinend irrtümlich Sterne für einen Mond gehalten worden waren.Seit Mitte der 1960er Jahre gibt es von verschiedenen Wissenschaftlern die Hypothese, dass es sich bei dem äußerlich sehr erdmondähnlichen Merkur um einen entwichenen Trabanten der Venus handelt. Durch seine Gezeitenwechselwirkung soll er unter anderem die Rotation der Venus umgekehrt haben. Mit dieser Annahme kann auch erklärt werden, warum die beiden Planeten als einzige im Sonnensystem keinen Begleiter haben.2006 veröffentlichten Alex Alemi und David Stevenson vom California Institute of Technology ihre Hypothese, nach der ein ehemaliger Mond der Venus durch deren rückläufige Rotation abgestürzt wäre. Der Satellit sei demnach analog der Entstehung des Erdmondes durch eine große, fast nur streifende Kollision entstanden, deren Trümmerprodukte sich großteils im Venusorbit zu einem Satelliten vereint hatten. Nach der allgemeinen Ansicht unter Astronomen ist es in der Frühzeit des Sonnensystems zu sehr großen Einschlägen auf den Planeten gekommen, von denen nach dieser Theorie einer den Rotationssinn der Venus umgekehrt haben soll. Alemi und Stevenson gehen des Weiteren davon aus, dass letztere Kollision der Venus die zweite nach der Bildung des einstigen Venusmondes war und der Satellit sich durch die Umkehrung der Gezeitenwirkung nicht mehr wie der Erdmond langsam von seinem Planeten entfernte, sondern stattdessen wieder näherte und sich mit der Venus wieder vereinte. Beweisen lässt sich das jedoch schwerlich, denn durch die vulkanische Umformung der Venus dürften alle denkbaren Spuren mittlerweile längst getilgt sein.Die Venus hat lediglich drei Quasisatelliten: Die Asteroiden (322756) 2001 CK32, (524522) 2002 VE68 und 2012 XE133 begleiten sie auf eigenen Umlaufbahnen mit einer 1:1-Bahnresonanz. Mit dem Asteroiden 2013 ND15 wurde auch ein Trojaner der Venus entdeckt; um 60° vorauslaufend. == Aufbau == Größe und allgemeiner Aufbau der Venus sind der Erde sehr ähnlich. Die Venus hat mit 12.103,6 Kilometern fast den gleichen Durchmesser wie die Erde und auch fast die gleiche mittlere Dichte. Oft werden die beiden „Planetenschwestern“ auch als „Zwillinge“ bezeichnet. Doch so sehr sie sich in der Masse und in der chemischen Zusammensetzung auch gleichen, unterscheiden sich die Oberflächen und die Atmosphären beider Planeten doch stark. === Atmosphäre === Die Venus ist der einzige solare Gesteinsplanet mit einer ständig undurchsichtigen Atmosphäre. Unter den weiteren festen Körpern des Sonnensystems hat diese Eigenschaft nur der Saturnmond Titan. ==== Zusammensetzung ==== Die Atmosphäre der Venus besteht hauptsächlich aus Kohlendioxid. Stickstoff macht 3,5 % aus, Schwefeldioxid (150 ppm), Argon (70 ppm) und Wasser (20 ppm) kommen in Spuren vor. Wegen der großen Gesamtmasse der Atmosphäre befindet sich in ihr etwa fünfmal so viel Stickstoff wie in der Erdatmosphäre. Die Venusatmosphäre hat rund 90-mal so viel Masse wie die Lufthülle der Erde und bewirkt am mittleren Bodenniveau einen Druck von 92 bar. Dies kommt dem Druck in gut 910 m Meerestiefe gleich. Die Atmosphäre ist an der Oberfläche mit ca. 65 kg/m³ im Mittel etwa 50-mal so dicht wie auf der Erde (ca. 1,2 kg/m³, entspricht etwa 1/800 der Dichte von Wasser). Da das Gasgemisch unter diesen Bedingungen in einem überkritischen Zustand ist, kann man auch von einem Gasozean sprechen.Unterhalb einer Höhe von 28 Kilometern findet man rund 90 Prozent der Atmosphärenmasse, das entspricht etwa einem Drittel der Masse des irdischen Weltmeeres. Dieser dichten Dunstschicht weit unterhalb der Wolkendecke wurden die von verschiedenen Sonden registrierten elektromagnetischen Impulse zugeschrieben, die für sehr häufige Blitzentladungen sprechen. Innerhalb der Wolken hätten von Gewittern aufleuchtende Blitze bei Nacht auffallen müssen, aber auf der Nachtseite der Venus konnten keine entsprechenden Leuchterscheinungen beobachtet werden. Über den Wolken reichen äußere Dunstschichten bis in eine Höhe von etwa 90 Kilometern. Rund 10 km höher endet die Troposphäre. In der darüberliegenden etwa 40 km dicken Mesosphäre erreicht die Temperatur Tiefstwerte von rund −100 °C. In dem anschließenden Stockwerk, der Thermosphäre, steigt die Temperatur infolge der Absorption der Sonnenstrahlung. Minusgrade herrschen insgesamt nur am Grund der Thermosphäre bis hinunter in die oberen Wolkenlagen. Die Exosphäre als äußerste Atmosphärenschicht erstreckt sich in einer Höhe von etwa 220 bis 250 Kilometern. Dass die Atmosphäre der Venus von außen völlig undurchsichtig ist, liegt nicht an der großen Masse und Dichte der Gashülle, sondern hauptsächlich an einer stets geschlossenen Wolkendecke. Diese befindet sich mit ihrer Unterseite in einer Höhe von etwa 50 km und ist rund 20 km dick. Ihr Hauptbestandteil sind zu etwa 75 Masseprozent Tröpfchen aus Schwefelsäure. Daneben gibt es auch chlor- und phosphorhaltige Aerosole. In der unteren von insgesamt drei Wolkenschichten gibt es möglicherweise auch Beimengungen von elementarem Schwefel. Größere Tröpfchen der Schwefelsäure regnen ab, aber nur bis unweit der Unterseite der Wolkendecke, wo sie aufgrund der hohen Temperaturen verdampfen und sich anschließend in Schwefeldioxid, Wasserdampf und Sauerstoff zersetzen. Diese Gase steigen bis in die obersten Wolkenbereiche auf und reagieren und kondensieren dort wieder zu Schwefelsäure. Der Schwefel wurde ursprünglich von Vulkanen in Form von Schwefeldioxid ausgestoßen. Die sphärische Albedo der cremegelben und zumeist strukturlosen Wolkenoberfläche beträgt 0,77; das heißt, sie streut 77 % des von der Sonne praktisch parallel eintreffenden Lichts zurück. Die Erde reflektiert dagegen im Mittel nur 30,6 %. Die von der Venus nicht reflektierte Strahlung wird zu rund zwei Dritteln von der Wolkendecke absorbiert. Diese Energie treibt die obersten äquatorialen Wolkenschichten zu einer Geschwindigkeit von etwa 100 m/s, mit der sie sich immer in Rotationsrichtung der Venus in nur vier Tagen einmal um den Planeten bewegen. Die Hochatmosphäre rotiert somit rund 60-mal schneller als die Venus selbst. Diese Erscheinung wird „Superrotation“ genannt. Der Grund dafür, warum die Auswirkungen gerade so und nicht anders ablaufen, war – zumindest im Fall der Venus – lange nicht befriedigend geklärt. Die Phänomene der Venusatmosphäre wurden mittels der Raumsonde Venus Express detailliert erforscht. Beispielsweise zeigte sich, dass innerhalb von zehn Venusjahren die Geschwindigkeit, mit der sich die Wolken um den Planeten bewegen, von 300 auf 400 km/h gestiegen ist. Die einzigen anderen Beispiele für eine derart schnelle Atmosphärenzirkulation sind im Sonnensystem die Starkwindbänder in der höheren Atmosphäre der Erde und die Wolkenobergrenze des Saturnmondes Titan, dessen Stickstoffatmosphäre am Boden immerhin den anderthalbfachen Druck der irdischen Lufthülle hat. Eine Superrotation gibt es also nur bei den drei festen Weltkörpern des Sonnensystems, die eine dichte Atmosphäre besitzen. Mithilfe der Raumsonde Akatsuki konnte im Jahr 2020 eine durch die Sonneneinstrahlung hervorgerufene thermische Gezeitenwelle als Mechanismus identifiziert werden.Venus Express entdeckte 2011 eine relativ dünne Ozonschicht in einer Höhe von rund 100 Kilometern.Venus Express konnte nach der Ankunft an der Venus stark steigende Schwefeldioxidwerte über den Wolken feststellen, die mit der Zeit durch Aufspaltung des SO2 durch das Sonnenlicht zurückgingen. Da bereits Pioneer-Venus 1 nach ihrer Ankunft ähnlich hohe Werte antraf und deren Absinken verfolgen konnte, kommt als Ursache, neben Vulkanausbrüchen, ein regelmäßig durch das Venusklima bedingtes Aufsteigen des Gases aus tieferen Atmosphärenschichten in die Hochatmosphäre in Frage. ==== Wetter ==== Fast die gesamte Gashülle der Venus bildet durch Konvektion große Hadley-Zellen. Die in der am intensivsten bestrahlten Äquatorzone aufgestiegenen Gasmassen strömen in die Polargebiete und sinken dort in tiefere Lagen, in denen sie zum Äquator zurückfließen. Die im ultravioletten Licht sichtbaren Strukturen der Wolkendecke haben daher die Form eines in Richtung der Rotation liegenden Y. Die ersten von Venus Express gelieferten Fotos zeigten – besonders deutlich im infraroten Spektralbereich – einen sich dementsprechend über den größten Teil der beobachteten Südhemisphäre ausbreitenden Wolkenwirbel mit Zentrum über dem Pol. Detailliertere Beobachtungen des Südwirbels machten sein Zentrum als Doppelwirbel sichtbar. Bilder der Sonde von September 2010 zeigten anstelle des rätselhaften Doppelwirbels einen einzelnen eigenartigen Strudel.Im Dezember 2015 registrierte der Venusorbiter Akatsuki über mehrere Tage eine rund 10.000 Kilometer lange Formation in der Wolkendecke, die sich bogenförmig nach Norden und Süden weit über beide Hemisphären erstreckte. Das Gebilde hatte eine höhere Temperatur als die atmosphärische Umgebung und zog nicht, wie die Wolkendecke insgesamt, mit den schnellen Winden nach Westen, sondern stand mit seinem Zentrum weitgehend stationär über dem Westrand des äquatorialen Hochlands Aphrodite Terra. Die Bogenstruktur beruhte demnach vermutlich auf dem Phänomen einer Schwerewelle, das im Prinzip auch in der Erdatmosphäre vorkommt, das auf der Venus aber sogar die oberen Bereiche der Wolkendecke erreicht.In Bodennähe wurden bislang nur geringe Windgeschwindigkeiten von 0,5 bis 2 m/s gemessen. Durch die hohe Gasdichte entspricht das auf der Erde immerhin der Windstärke 4, das heißt, es kommt einer mäßigen Brise gleich, die Staub bewegen kann. Von dem auf die Venus einfallenden Sonnenlicht erreichen nur zwei Prozent die Oberfläche und ergeben eine Beleuchtungsstärke von etwa 5000 Lux. Die Sichtweite dort beträgt wie an einem trüben Nachmittag rund drei Kilometer. Die nicht von den Wolken reflektierte oder absorbierte Strahlung wird hauptsächlich von der unteren, sehr dichten Atmosphäre absorbiert und in thermische Strahlung des Infrarotbereichs umgewandelt. In diesem Wellenlängenbereich ist das Absorptionsvermögen des Kohlendioxids sehr groß und die Wärmestrahlung wird so gut wie vollständig von der unteren Atmosphärenschicht aufgenommen. Der starke Treibhauseffekt (man spricht hier auch vom Venus-Syndrom) ist hauptsächlich durch die Masse an Kohlendioxid bedingt, aber auch die geringen Spuren von Wasserdampf und Schwefeldioxid haben daran einen wesentlichen Anteil. Er sorgt am Boden für eine mittlere Temperatur von 464 °C (737 K). Das liegt sehr weit über der ohne Treibhauseffekt berechneten Gleichgewichtstemperatur von −41 °C (232 K), auch weit über den Schmelztemperaturen von Zinn (232 °C) und Blei (327 °C) und übertrifft sogar die Höchsttemperatur auf dem Merkur (427 °C). Trotz der sehr langsamen Rotation der Venus sind die Temperaturunterschiede sowohl zwischen der Tag- und der Nachtseite als auch zwischen der Äquatorregion und den Polgebieten sehr gering. Ein Minimum von etwa 440 °C wird in Bodennähe nie unterschritten. Ausgenommen sind nur höhere Gebirgsregionen, so herrschen auf dem höchsten Gipfel 380 °C und ein Druck von 45.000 hPa. Die Maxima betragen an den tiefsten Orten 493 °C und 119.000 hPa. Ohne die Wolkendecke mit ihrem hohen Reflexionsvermögen wäre es auf der Venus noch erheblich heißer. ==== Venuslichter ==== Seit einer Beobachtung durch Giovanni Riccioli im Jahr 1643 wurden immer wieder einmal Lichter auf der Nachtseite der Venus gemeldet. Solch ein nicht sehr helles, aber im Teleskop auffallendes Leuchten wollen bis in die Gegenwart sowohl Berufs- als auch Amateurastronomen gesehen haben. Bislang gibt es dafür jedoch keinen fotografischen Beleg. Als Ursache der Lichter werden zumeist besonders starke Blitze angenommen. Im Jahr 2001 wurde am Keck-Observatorium ein extrem schwaches Venusleuchten beobachtet. Dieses grünliche Licht entsteht, wenn die Ultraviolettstrahlung der Sonne Kohlendioxid aufgespalten hat und sich die freigesetzten Sauerstoffatome zu einem Sauerstoffmolekül verbinden. Es ist jedoch viel zu schwach, um mit viel einfacheren Teleskopen gesehen werden zu können. ==== Spekulationen über Leben in der Atmosphäre ==== Es gibt Beobachtungen, die als Hinweise auf sehr widerstandsfähige Mikroorganismen in den Wolken der Venus gedeutet werden können. Dazu zählt nach Dirk Schulze-Makuch und Louis Irwin von der University of Texas in El Paso unter anderem das Fehlen sowie das Vorhandensein bestimmter Gase. Darüber hinaus fand die große Eintauchsonde von Pioneer-Venus 2 in den Wolken Partikel in Bakteriengröße. Dunkle, sich schnell verändernde Flecken in den Wolken der Venus, deren spektroskopische Merkmale mit denen irdischer Biomoleküle und Mikroben übereinstimmen, wurden ebenfalls als Anzeichen von möglichem Leben in der Atmosphäre gewertet. Eine Veröffentlichung aus dem Jahr 2020 schloss aus Messungen des ALMA-Radioteleskops, dass in höheren Schichten der Atmosphäre eine signifikante Konzentration des Gases Monophosphan, auch Phosphin genannt, vorhanden sei. Eine abiotische, d. h. auf nichtbiologischen Prozessen beruhende Erklärung für eine so deutliche Präsenz dieses Gases ist nicht ersichtlich. Wie sich später herausstellte, war das Teleskop falsch kalibriert, sodass die berechnete Phosphinkonzentration um den Faktor sieben zu hoch war. Zwei weitere Studien konnten anhand derselben Messwerte des ALMA-Teleskops gar keine Anzeichen für das Vorhandensein von Phosphin mehr erkennen. === Oberfläche === Die Größe der Venusoberfläche entspricht mit rund 460 Millionen Quadratkilometern 90 Prozent der Erdoberfläche, also in etwa abzüglich der Flächen des Arktischen Ozeans und der Antarktis. Der Boden der Venus ist ständig grauglühend, für das menschliche Auge wäre das aber nur während der Nacht und nur schwach wahrnehmbar. Aufgrund der sehr hohen Temperaturen gibt es keine Gewässer. Das Relief wird hauptsächlich von sanft gewellten Ebenen beherrscht. Mit verhältnismäßig geringen Niveauunterschieden von weniger als tausend Metern entsprechen sie dem globalen Durchschnittsniveau und bilden, relativ ähnlich dem Meeresspiegel der Erde, für alle Höhenangaben ein praktisches Bezugsniveau. Dieses Nullniveau der Venus entspricht einem Kugelradius von 6051,84 Kilometern. Die Ebenen nehmen über 60 % der Oberfläche ein. Etwas weniger als 20 % sind bis zu 2 km tiefe Niederungen. Die verbleibenden 20 % sind Erhebungen, aber nur etwa 8 % entfallen auf ausgesprochene Hochländer, die sich mehr als 1,5 km über das Nullniveau erheben. Die hypsografische Kurve der Höhenverteilung auf der Venus zeigt also kein zweites Hauptniveau wie im Fall der Erde, deren umfangreiche Oberkruste in Form der Kontinente neben den Ozeanböden rund ein Drittel der Oberfläche der Erdkruste bildet. Der Höhenunterschied zwischen dem niedrigsten und dem höchsten Punkt der Venusoberfläche beträgt etwa 12.200 Meter; das sind rund zwei Drittel des maximalen Höhenunterschiedes der Erdkruste mit etwa 19.880 Metern. Die Höhenangaben im Einzelnen sind für die Venus oft sehr unterschiedlich. Alle Formationen auf der Venus tragen gemäß einer Konvention der Internationalen Astronomischen Union (IAU) weibliche Namen, mit Ausnahme von Alpha Regio und Beta Regio – den ab 1963 von der Erde aus zuerst entdeckten Strukturen – sowie der Maxwell Montes. Letztere erhielten als die höchste Erhebung des Planeten ihren Namen zu Ehren von James Clerk Maxwell, der mit seinen Gleichungen der elektromagnetischen Wellen unter anderem auch eine Grundlage für die Radarerkundung der Venusoberfläche geschaffen hat. Aktuelle Darstellungen des Reliefs basieren hauptsächlich auf den Radarmessungen des Venus-Orbiters Magellan der NASA, der 98 % der Oberfläche kartiert hat, mit einer horizontalen Auflösung von 120 bis 300 Metern und einer vertikalen Auflösung von 30 Metern. Gelegentlich ist aber auch noch die geringer aufgelöste globale Karte von Pioneer-Venus 1 in Gebrauch. ==== Hochländer ==== Die Hochlagen verteilen sich hauptsächlich auf zwei ausgedehntere Formationen. Die umfangreichere von beiden, Aphrodite Terra, ist etwa so groß wie Südamerika und erstreckt sich in der Form eines Skorpions längs über etwa ein Drittel des Äquators. In seinem westlichen Teil hebt sich das Plateau Ovda Regio hervor, im nördlichen Zentrum Thetis Regio und im Osten Atla Regio. Das Land der Aphrodite besteht aus von innen aufgewölbten Terrains, die in seiner östlichen Hälfte – dem Schwanz der Skorpionsform – von großen Gräben untergliedert werden und mit großen Vulkanen besetzt sind. Die Hochlandformation ist Bestandteil des äquatorialen Hochlandgürtels, der sich mit einzelnen größeren Inseln bis etwa 45° nördlicher und südlicher Breite ausdehnt. Ein ganzes Stück nordwestlich von Aphrodite, zwischen dem 45. und dem 80. Breitengrad, liegt Ishtar Terra. Das Ishtarland erinnert am ehesten an einen irdischen Kontinent. Es ist zwar nur ungefähr so groß wie Australien, doch auf ihm befinden sich unter anderem die Maxwellberge, mit einer Gipfelhöhe von bis etwa 10.800 Meter. Der Mount Everest auf der Erde steht aber mit seiner Höhe von 8848 Metern über dem Meeresspiegel nicht hinter dem Maxwellgebirge zurück, denn, wenn man die Größe des Himalayas auf analoge Weise an dem mittleren Krustenniveau der Erde misst, hat die höchste Erhebung der Erde eine Höhe von rund 11.280 Metern. In den Maxwellbergen liegt der Einschlagkrater Cleopatra, mit einem Durchmesser von 104 km die achtgrößte Impaktstruktur auf der Venus. Seine Natur als Einschlagskrater konnte erst durch hochaufgelöste Radarvermessungen geklärt werden, da ursprüngliche Vermutungen das Objekt aufgrund seiner Lage eher als Vulkankrater einstuften. Den Kern von Ishtar bildet in seinem Westteil die auf der Venus einzigartige, relativ flache Hochebene Lakshmi Planum mit den zwei großen vulkanischen Einsenkungen Colette Patera und Sacajawea Patera. Die Hochebene liegt etwa vier Kilometer über dem Durchschnittsniveau und wird von den höchsten Kettengebirgen des Planeten begrenzt. Im Süden von den Danu Montes, im Westen von den höheren Akna Montes, im Nordwesten von den mit 6,5 km noch höheren Freyja Montes und weit im Osten von den Maxwell Montes. Diese Gebirge ähneln irdischen, umsäumenden Faltengebirgen wie den Anden oder dem Himalaya. Die Entstehung der Venusgebirge ist noch ein Rätsel, denn eine Plattentektonik wie auf der Erde ist für die Venuskruste nicht nachweisbar. Diskutiert werden eine tektonische Kompression der Kruste und als Alternative eine besonders große vulkanische Aufwölbung direkt unter Ishtar Terra. Auf keinem weiteren Körper des Sonnensystems gibt es derartige Gebirgszüge. Auf vielen Bergzügen wurden radarhelle „Schneekappen“ festgestellt, die in Anbetracht der dort herrschenden Bedingungen sehr wahrscheinlich aus einer dünnen Niederschlagsschicht der Schwermetallsalze Bleisulfid und Bismutsulfid bestehen. Die Hochlagen der Tesserae (nach griech. tessera: „Kachel“ oder „Mosaik“) gehören zu den Sonderformen des Venusreliefs. Sie bestehen aus parkettmusterartig gebrochenen Blöcken mit jeweils bis über 20 km Breite, die anscheinend durch tektonische Spannungen deformiert worden sind. Sie sind geprägt durch parallele, lineare Verwerfungen, die sich mindestens in zwei Grundrichtungen annähernd rechtwinklig schneiden und damit an ein Kachelmuster erinnern. Diese mitunter auch „Würfelländer“ genannten Hochlagen nehmen große Teile im Westen und Norden von Aphrodite sowie im Norden und vor allem im Osten von Ishtar ein. Der Ostteil von Ishtar mit dem Namen Fortuna Tessera ist ein hügeliges Plateau mit einer Höhe von bis etwa 2,5 km über Nullniveau. Mehrere Tesserae ragen als Inseln aus den Tiefländern empor, wie die drei größeren Einheiten Alpha Regio, mit einem Durchmesser von etwa 1300 km, sowie Phoebe Regio und Tellus Tessera, die alle zum äquatorialen Hochlandgürtel zählen. Dicht am westlichen Südrand der Alpharegion (siehe Bild) liegt Eve Corona. Die im Durchmesser etwa 330 km große Struktur wurde ursprünglich für einen Einschlagkrater gehalten. Ihr heller zentraler Fleck diente als Bezugspunkt für die Festlegung des Nullmeridians. ==== Einschlagkrater ==== Auf der Venus wurden bisher 963 Einschlagkrater entdeckt. Das sind mindestens doppelt so viele, wie bisher auf der Landfläche der Erde nachgewiesen sind (siehe auch: Liste der Einschlagkrater der Erde). Die Durchmesser der Venuskrater liegen in dem Größenbereich zwischen 1 und 300 Kilometern. In dieser Größe gibt es dagegen allein auf der Vorderseite des Mondes, deren Größe ein 24stel der Venus beträgt, trotz der großen, von Lava weitgehend geglätteten Marebecken, rund hundertmal so viele Mondkrater. Da der Mond keine Atmosphäre besitzt und seine Oberfläche daher keiner entsprechenden Erosion ausgesetzt ist, gelten seine auch mit noch viel kleineren Einschlagstrukturen praktisch lückenlos besetzten und noch völlig erhaltenen Hochländer auf der Grundlage der chemischen Altersbestimmung der Mondgesteine als der klassische Vergleichsmaßstab für die Altersabschätzung anderer Planeten- und Mondoberflächen. Entspräche die Kraterhäufigkeit auf dem Mond jener der Venus, so hätte er insgesamt nur etwa 80 Krater. Die Venuskrater sind für ihre geringe Anzahl erstaunlich gleichmäßig über die Oberfläche verteilt. Da nur größere Meteoroiden die sehr dichte Atmosphäre durchdringen und solche Einschlagstrukturen erzeugen können, gibt es keine Kraterdurchmesser unter etwa 2 km, sondern an Stelle dessen nur so etwas wie „Schmauchspuren“. Kleinere Krater sind oft von einem radardunklen, also glatten, Terrain umgeben, das wahrscheinlich auf die Druckwelle des Einschlags zurückzuführen ist; in manchen dieser kreisförmigen Flächen ist jedoch kein Zentralkrater zu erkennen. Der mit Abstand größte Venuskrater Mead hat einen Durchmesser von etwa 270 km. Ihm folgen in dem Größenbereich von über 100 km sieben weitere Exemplare. Es fehlen Krater mit größeren Ausmaßen wie auf dem Mond, dem Mars und auch auf dem Merkur, wo sie in den jeweils markantesten Fällen sogar Durchmesser bis weit über 1000 beziehungsweise 2000 km erreichen. Das kann zum Teil ebenfalls auf die aufreibende Wirkung der besonders hohen Atmosphärendichte zurückgeführt werden, die sie für einschlagende Kleinkörper hat; andererseits gibt es die Ansicht, dass die heutige Venuskruste ein relativ geringes Alter hat, sodass sie keine Spuren des sogenannten „letzten großen Bombardements“ tragen kann, welches in der Frühzeit das Planetensystem heimgesucht haben soll. Das Relief aller Einschlagkrater auf der Venus ist sehr flach. Etwa 85 Prozent der Venusoberfläche bestehen aus deutlichen Spuren einer flächendeckenden Magmaförderung. Die meisten Krater sind davon aber nicht in Mitleidenschaft gezogen worden, sie sind demnach erst später entstanden. Das hat hinsichtlich ihrer spärlichen und sehr gleichmäßigen Verteilung im Vergleich mit der Mondoberfläche zu dem Schluss geführt, dass die derzeitige Oberfläche der Venus erst etwa 500 bis 800 Millionen Jahre alt und aus umfassenden sowie relativ raschen Lavafluten hervorgegangen ist, die das alte Relief mit einer ein bis drei Kilometer dicken Magmaschicht überdeckt haben. Diese Auffassung gipfelt in der Erklärung der amerikanischen Wissenschaftler Gerald G. Schaber und Robert G. Strom, dass die vulkanische Wärmefreisetzung der Venus nicht kontinuierlich wie auf der Erde abläuft, sondern in großen periodischen Schüben erfolgt. Das würde bedeuten, dass die Lithosphäre der Venus wesentlich dicker ist als diejenige der Erde und dadurch keinen relativ ungehinderten Wärmestrom zulässt. Gemäß dem Erklärungsansatz staut er sich über längere Zeit an, bis sich der Wärmestau mit aller Gewalt in Form von starken tektonischen Aktivitäten und heftigem Vulkanismus entlädt. Ein zweiter, konkurrierender, eher gleichförmiger Lösungsansatz neben der Katastrophentheorie geht davon aus, dass die vulkanischen Tätigkeiten die Oberfläche bis vor 750 Millionen Jahren ständig erneuert und erst seitdem stark nachgelassen haben, sodass sich die Einschlagkrater auch erst seit dieser Zeit ansammeln konnten. Ein Team amerikanischer und spanischer Wissenschaftler um Vicki Hansen hat dazu die aus den mit Lava gefluteten Ebenen wie Inseln herausragenden Gebirgszüge untersucht und anhand ihrer Flanken den ursprünglichen Verlauf der Täler rekonstruiert. Die Täler wurden nach ihrem unterschiedlichen Niveau demnach zu unterschiedlichen Zeiten geflutet, und die Lavaschicht könne nicht dicker als ein Kilometer sein. Für die intakt gebliebenen Gebirgshöhen hat Hansen ein Alter von mindestens einer Milliarde Jahre berechnet. Damit sei klar, dass es eine globale Vulkankatastrophe nicht gegeben hat. Die Daten sprechen eher für ein langsames Ausklingen der vulkanischen Aktivitäten über einen Zeitraum von rund zwei Milliarden Jahren. ==== Coronae ==== Als besonderes Zeichen dieses Umbruchs werden die einzigartigen Coronae (lat. „Kronen“) angesehen. Es sind die charakteristischsten Gebilde auf der Venus. Sie befinden sich zu Hunderten in den Ebenen, häufen sich in der Äquatorialzone und prägen dort auch große Teile des Landes der Aphrodite. Aufgrund ihres Äußeren, das am ehesten den Eindruck von eingesunkenen und deformierten Vulkanen erweckt, werden sie mitunter als Einbruchkrater bezeichnet. Die kreisförmigen und ovalen Gebilde beinhalten ein flaches, unter dem Umgebungsniveau liegendes, welliges Becken mit einem niedrigen, breiten und leicht gewölbten Rand, der von einem breiten Graben mit konzentrischen Brüchen und Gebirgskämmen umgeben ist. Die mit Abstand größte derartige Struktur ist Artemis Corona mit einem Durchmesser von etwa 2600 km und dem ringförmigen Grabensystem Artemis Chasma. Das Riesengebilde liegt im Süden des Landes der Aphrodite. In der Größe folgen ihr Heng-o Corona und Zisa Corona mit Durchmessern von 1060 und 850 Kilometern. In den meisten Fällen misst die Spannweite zwischen 100 und 400 km. Die kleinsten Durchmesser betragen rund 40 Kilometer. ==== Vulkanbauten ==== Vulkane kommen auf der Venus mindestens so zahlreich vor wie auf der Erde. Es gibt ganze Felder von Schildvulkanen und Felder mit Hunderten kleiner Vulkankuppen und -kegeln. Die Zahl der kleinen vulkanischen Erhebungen geht weit über 50.000 hinaus. Von Vulkanen mit einer mindestens 100 km durchmessenden Basis gibt es mindestens als 167 Exemplare. Zu den größten Lavabergen zählen die Schildvulkane Sif Mons und Gula Mons in Eistla Regio mit Höhen von zwei beziehungsweise drei Kilometern und Basisdurchmessern von 300 beziehungsweise 250 km. Ebenso in Beta Regio der Rhea Mons mit einer Gipfelhöhe von 4,5 km sowie der gleich hohe Theia Mons mit einem besonders großen Basisdurchmesser von 700 km. Das sind rund 100 km mehr als die Basis des Olympus Mons auf dem Mars misst, dem mit einer Basishöhe von etwa 27 km höchsten Berg im bekannten Sonnensystem. Die höchsten Vulkane der Venus gibt es in Atla Regio, dem östlichsten Abschnitt von Aphrodite Terra. Dort befindet sich außer dem zweigipfligen Sapas Mons (4,5 beziehungsweise 400 km) auch der Ozza Mons (sechs beziehungsweise 300 Kilometer) und schließlich der Maat Mons, der mit mehr als acht Kilometern höchste Vulkan der Venus und nach den Maxwellbergen ihre zweitgrößte Erhebung, mit einem Basisdurchmesser von lediglich 200 km. Die Riesenvulkane der Venus sind alle Bestandteil des äquatorialen Hochlandgürtels. In der Regel sind sie desto größer, je näher sie sich am Äquator befinden. Der Maat Mons liegt fast genau darauf. Die meisten Vulkane haben auf der Venus ein eher flaches Relief. Die Hangneigungen betragen zumeist nur 1 bis 2 Grad. Eine spezielle Vulkanform hat wegen einer gewissen Ähnlichkeit den Spitznamen „Tick“ (engl. für „Zecke“) bekommen. Ähnliche Vulkane gibt es auf dem Meeresboden der Erde. Zu den einmaligen vulkanischen Oberflächenstrukturen der Venus zählen sehr regelmäßig aufgebaute, kreisrunde Quellkuppen, die wegen ihres Erscheinungsbildes Pancake Domes („Pfannkuchenkuppeln“) genannt werden. Sie haben einen typischen Durchmesser von zumeist etwa 25 km und eine Höhe um 700 m, die aber auch bis über einen Kilometer betragen kann. Sie treten auch in Gruppen auf und überlappen sich dann oft. Ihre Oberfläche wird neben einer zentralen Öffnung von konzentrischen und radialen Rissen geprägt. Offenbar sind die Gebilde durch eine Lava mit sehr hoher Zähigkeit entstanden. Es wird gerätselt, wie die Lava derart gleichmäßig über die Ebenen quellen konnte. Viskose Lava häuft sich auch auf der Erde zu Kuppeln, aber die sind sehr viel kleiner und nicht derart symmetrisch. In der Frage nach jungem Vulkanismus ist nach Auswertungen von Messungen des Infrarot-Spektrometers VIRTIS, das auf der ESA-Planetensonde Venus Express installiert wurde, eine internationale Forschergruppe um Suzanne E. Smrekar vom JPL der NASA in einer Publikation vom 8. April 2010 zu dem Schluss gekommen, dass mindestens drei anscheinend durch Mantel-Plumes angehobene Regionen vor 2,5 Millionen bis 250.000 Jahren oder in noch jüngerer Zeit noch vulkanisch aktiv waren. Die drei Regionen – Imdr Regio, Themis Regio und Dione Regio – weisen in der Nähe ihrer Zentren gegenüber der Umgebung eine um bis zu zwölf Prozent höhere Emissivität auf; dies weist nach Ansicht der Forscher auf einen geringeren Verwitterungsgrad und damit auf ein unter diesen Bedingungen entsprechend geringes Gesteinsalter hin. ==== Lavaflüsse ==== Vulkanische Ebenen mit großen Lavaüberflutungen sind auf der Venus der häufigste Geländetyp. Neben den erstarrten Lavaströmen, den Fluctus, die wie Mylitta Fluctus eine Breite von mehreren hundert Kilometern und über 1000 Kilometer an Länge erreichen, deuten andere vulkanische Strukturen auf Ströme von sehr dünnflüssiger Lava hin. So gibt es sehr bemerkenswerte Erosionstäler. Manche gehen als breite Ausflussformation von großen Einschlagkratern aus. Sie erreichen eine Länge von bis zu 150 Kilometern, weisen auf ihrem Boden inselartige Strukturen auf und verlieren sich ohne weitere Spuren in den Ebenen. Ihre bis über 100 Meter hohen Wände sind von geschwungener Form, daher haben diese Formationen den Gattungsnamen Unda (lat. „Welle“) bekommen. Wohl am außergewöhnlichsten sind die sehr langen und deutlich gewundenen Rinnen. Sie sind zumeist nur etwa 1,5 Kilometer breit und ebenfalls nicht sehr tief. Die beeindruckendste Rinne hat eine Länge von etwa 6800 Kilometern und übertrifft damit um über 100 Kilometer sogar den Nil, den längsten Strom der Erde. Das Gebilde mit dem Namen Hildr Fossa schlängelt sich von Atla Regio bis in die große nördliche Tiefebene Atalanta Planitia, in der mit einer Tiefe von bis zu 1400 Meter unter Nullniveau der tiefste Punkt auf der Venus gemessen wurde. Die kreisförmige Senke ist ungefähr so groß wie der Golf von Mexiko. Aufgrund der extrem hohen Oberflächentemperatur kommt flüssiges Wasser als Ursache der „Kanäle“ nicht in Frage. Auf der Erde ziehen sich die längsten Lavarinnen allerdings nur einige Dutzend Kilometer hin. Möglicherweise waren es enorm dünnflüssige, salzreiche Lavamassen mit entsprechend niedrigerem Schmelzpunkt, die zu einer Zeit mit planetenweit noch größerer Oberflächentemperatur die Landschaft derart ausgeformt haben. Es werden auch pyroklastische Ströme aus heißem Gas und Staub in Betracht gezogen. Es ist eines der großen Rätsel der Venus, dass sie trotz der Vielzahl und der Vielfalt vulkanischer Strukturen heute geologisch tot zu sein scheint. Allerdings würde man während nur einer einzigen näheren Globalerkundung der vulkanisch ständig aktiven Erde auch nicht zwangsläufig in jedem Fall Zeuge eines gerade ablaufenden Vulkanausbruchs werden. Festgestellte Variationen des Anteils von Schwefeldioxid in der Venusatmosphäre und der Dichteverteilung in der oberen Dunstschicht deuten tatsächlich auf mögliche Aktivitäten hin. Auch die Anzeichen von Blitzen könnten davon zeugen. In konkretem Verdacht stehen vor allem die zwei großen Schildvulkane in Beta Regio und der Maat Mons. Teile der Vulkanflanken sind radardunkel, das heißt, sie reflektieren die abtastenden Radarstrahlen nur sehr gering und sind also ziemlich glatt. Diese Ebenheiten lassen sich in dem Fall als ein Zeichen für frische Lavaströme ansehen. Deutliche Anzeichen für einen aktiven Vulkanismus wurden Mitte 2015 publiziert. Mit Hilfe von Daten der Raumsonde Venus Express aus dem Jahr 2008 wurden vier Regionen ausgemacht, in denen die Temperatur in wenigen Tagen sehr stark angestiegen ist. Der kleinste der „Hotspots“ hat eine Fläche von einem km² und eine Temperatur von 830 °C. ==== Gräben ==== Verhältnismäßig steilwandige Täler, ähnlich einem Canyon, tragen die Bezeichnung Chasma. Der beeindruckendste Graben dieser Art auf der Venus ist Diana Chasma. Es befindet sich auf Aphrodite Terra, markanterweise in der Nachbarschaft von Artemis Corona, der mit Abstand größten Corona, und bildet zum Teil den südlichen Abschnitt des Randgrabens der großen elliptischen Ceres Corona. Diana Chasma ist etwa 280 km breit und fällt am Fuß der höchsten, es einfassenden, Bergrücken rund vier Kilometer tief auf ein Niveau von mehr als einem Kilometer unter dem Nullniveau ab. Die Struktur hat auf der Erde kein vergleichbares Beispiel und wird oft mit dem noch gewaltigeren Mariner-Talsystem auf dem Mars verglichen. Vermutlich ist sie wie dieses durch tektonische Aktivitäten entstanden. Beide Gräben erstrecken sich fast parallel zum Äquator. In der Beta Regio sind die Vulkane Rhea Mons und Theia Mons durch den offensichtlich tektonischen Graben Devana Chasma miteinander verbunden. Systeme radialsymmetrisch von einem Zentrum ausgehender Brüche werden im Einzelnen Astrum oder auch Nova genannt. ==== Windstrukturen ==== Trotz der nur geringen Windgeschwindigkeiten, die am Boden gemessen wurden, zeigen einige Regionen radarhelle streifen- und fächerförmige Strukturen in der Art von „Windfahnen“, die von einzelnen Kratern und Vulkankegeln ausgehen. Ihr Verlauf zeigt die während ihrer Bildung vorherrschende Windrichtung. Die meisten Windstreifen bevorzugen eine den globalen atmosphärischen Strömungen in Bodennähe entsprechende westliche und äquatoriale Richtung. Es ist dabei jedoch nicht immer klar, ob die hell erscheinenden Streifen direkt aus dem verwehten Material bestehen oder aber Lockermaterial ringsum abgetragen wurde und nur im Windschatten liegen geblieben ist. === Innerer Aufbau === Unterhalb der Lithosphäre ähnelt das Innere der Venus wahrscheinlich dem der Erde. Da sie fast die gleiche Masse und eine ähnliche mittlere Dichte hat (5,24 g/cm³ im Vergleich zu 5,52 g/cm³ im Falle der Erde) und der Kosmogonie gemäß im gleichen Bereich des Sonnensystems entstanden ist, sollte sie auch einen analogen Schalenaufbau aufweisen. Dass die Erde eine etwas größere mittlere Dichte hat, ist nicht nur auf ihre chemische Zusammensetzung zurückzuführen, sondern zum Teil eine rein physikalische Auswirkung ihrer größeren Masse, die durch die entsprechend größere Schwerkraft eine stärkere Eigenkompression bedingt. Die Venus besitzt – im Gegensatz zum viel kleineren Merkur – einen größeren Anteil an leichteren Elementen als die Erde, sie hätte also selbst bei gleicher Größe wie die Erde noch eine geringere Masse. Das ist für einen Planeten innerhalb der Erdbahn nicht recht verständlich, denn gemäß der herkömmlichen Theorie zur Entstehung des Sonnensystems müsste das Verhältnis zwischen den leichten und den schweren Elementen der Venus zwischen den Verhältnissen der Erde und des Merkur liegen, da vor allem die leichteren Elemente durch den besonders stürmischen Teilchenstrom der jungen, sich herausbildenden Sonne in die Außenbereiche getrieben wurden. Eine Erklärung für den verhältnismäßig großen und schweren metallischen Kern der Erde bietet die Theiatheorie, der zufolge die junge Erde mit einem marsgroßen Planeten namens Theia zusammenstieß; der Kern dieses Planeten verschmolz mit dem Erdkern, sein Gestein verdampfte und bildete nach dem Kondensieren den Mond, der deswegen nur einen kleinen Kern besitzt.Unter der Vorgabe des klassischen Schalenaufbaus der Erde kann man also statt auf einen verhältnismäßig größeren nur auf einen relativ kleineren Eisen-Nickel-Kern und dafür auf einen etwas größeren Mantel schließen. Besonders der obere Mantel wird verhältnismäßig dicker erwartet. Auch die Lithosphäre könnte, wie durch Gravitationsfeld-Messungen der Venussonde Magellan nahegelegt wurde, wesentlich dicker als die der Erde sein. Auf dieser Überlegung beruht auch die Erklärung dafür, dass es auf der Venus keine Plattentektonik wie auf der Erde gibt, sowie die Hypothese, dass sich die Venusoberfläche stattdessen in einem langperiodischen Rhythmus durch massive globale Vulkanaktivitäten erneuert. Obwohl für die Venus ein ähnlich großer Nickel-Eisen-Kern wie für die Erde angenommen wird, hat sie nur ein äußerst schwaches Magnetfeld. Dies ist auf das Fehlen eines Mondes, der durch seine Gezeitenwirkung die Venusrotation verringern und so die Entstehung von Induktionsströmen ermöglichen würde, zurückzuführen. Auch die extrem langsame Rotation dürfte dazu beitragen, da diese den Dynamo-Effekt nicht begünstigt. Das an der Venusoberfläche gemessene Magnetfeld ist äußerst schwach. Es wird durch elektrische Ströme in der Ionosphäre induziert, die dort durch die Wechselwirkung mit den elektrisch geladenen Teilchen des Sonnenwindes hervorgerufen werden. In dieser Magnetosphäre gibt es keine Gürtel von eingefangenen Sonnenteilchen gleich denen des Van-Allen-Gürtels der Erde und der Strahlungsgürtel des Jupiter, Saturn und Uranus. Das Venusmagnetfeld erreicht am Boden nur ein Zehntausendstel der Stärke, die das Erdmagnetfeld an der Erdoberfläche hat. Die Oberfläche der Venus wird vor den heranrasenden Teilchen des Sonnenwindes nicht vom Magnetfeld geschützt wie die Erdoberfläche, sondern durch die vom Teilchenstrom selbst mitinduzierte Ionosphäre sowie durch die sehr dichte Atmosphäre. == Erforschung == Aufgrund der dichten, stets geschlossenen Wolkendecke war eine Erforschung der Oberfläche des Planeten erst durch radioastronomische Verfahren und mittels Venussonden möglich. Frühe Beobachtungen mit bloßem Auge und mithilfe von Teleskopen konnten nur die Geometrie der Umlaufbahn und die Wolkenoberfläche untersuchen. === Erdgebundene Erforschung === Das bislang älteste bekannte Schriftdokument einer Planetenbeobachtung sind die Venus-Tafeln des Ammi-saduqa. Die Keilschrifttafeln tragen bis etwa 800 v. Chr. kopierte Texte des babylonischen Königs Ammi-şaduqa über Beobachtungen des 584-Tage-Intervalls der Venus ab 1645 v. Chr. Bei den ersten Beobachtungen der Venus mit Teleskopen durch Galileo Galilei und Zeitgenossen im Jahre 1610 zeigte sich unmittelbar, dass die Venus wie der Mond Phasen zeigt. Diese Beobachtung, die sich aus der Perspektive der Erde ergibt, nach der die Venus ein unterer Planet ist, war zur damaligen Zeit einer der großen Beweise, dass die Venus die Sonne und nicht die Erde umkreist. Die Phasen der Venus wurden von Nikolaus Kopernikus als möglicher Beweis seiner heliozentrischen Lehre vorhergesagt. Bei dem geozentrischen Weltbild von Ptolemäus können Merkur und Venus nie als Vollscheibe erscheinen. Allerdings gab es auch das von Athanasius Kircher so genannte „Ägyptische Modell“, welches schon Herakleides Pontikos, ein Schüler von Platon, vorgeschlagen haben soll, bei dem Merkur und Venus die Sonne umkreisen. Auch zur Entscheidung zwischen dem geo-heliozentrischen Modell von Tycho Brahe und dem heliozentrischen Modell von Kopernikus konnte die beeindruckende Entdeckung der Venusphasen nichts beitragen. Seit Johannes Kepler den Venustransit von 1631 vorhergesagt hatte, waren diese seltenen Ereignisse, bei denen die Venus als dunkles Scheibchen vor der Sonne zu sehen ist, ein besonders beliebtes Forschungsgebiet. Mit Hilfe dieser Beobachtungen konnte insbesondere die Entfernungsskala des Sonnensystems erheblich verbessert werden (siehe auch: Venustransit). Anlässlich des Venusdurchgangs von 1761 entdeckte Georg Christoph Silberschlag als erster die Atmosphäre der Venus als eine helle Aura um den Planeten. Ende des 18. Jahrhunderts führte der Lilienthaler Astronom Johann Hieronymus Schroeter genauere Untersuchungen der Venusphasen durch. Er stellte fest, dass es zwischen der geometrisch berechneten Phase der Venus und der tatsächlich beobachteten Phase systematische Unterschiede gibt. Zunächst meinte Schroeter, dass diese Unregelmäßigkeiten, wie beim Erdmond, auf Oberflächendetails wie Gebirgszüge zurückgehen. In einer 1803 veröffentlichten Arbeit über die Venusphase zum Zeitpunkt der Dichotomie („Halbvenus“) folgerte er dann aber korrekt, dass es sich um Dämmerungseffekte in der Atmosphäre handelt. Daher wird diese Erscheinung heute allgemein nach der von Patrick Moore eingeführten Bezeichnung Schroeter-Effekt genannt. Durch ihn erscheint die Dichotomie der Venus zu ihrer östlichen Elongation als Abendstern ein bis zwei Tage früher, und zu ihrer westlichen Elongation als Morgenstern entsprechend später. Der Effekt ist schon für Amateure mit kleinem Teleskop leicht als „Venushörner“ zu beobachten (siehe auch Abschnitt: Beobachtung/Grundlagen). 1927 gelang es Frank Elmore Ross, durch Ultraviolettaufnahmen zum ersten Mal Strukturen in der Wolkendecke der Venus sichtbar zu machen. Mittels der Spektralanalyse konnte 1932 erstmals Kohlendioxid als Hauptbestandteil der Venusatmosphäre nachgewiesen werden. Durch die Erfindung des Radars und der Radioastronomie traten in der Mitte des 20. Jahrhunderts weitere neue Beobachtungsmöglichkeiten hinzu. Mikrowellenbeobachtungen, die ein Astronomenteam um Cornell H. Mayer (1921–2005) im Jahr 1956 durchführte, deuteten zum ersten Mal auf eine sehr hohe Oberflächentemperatur der Venus von mindestens 600 Kelvin (327 °C) hin. 1957 bemerkte der französische Amateurastronom Charles Boyer (1911–1989), Magistratsmitglied und Präsident des Berufungsgerichtes von Brazzaville, auf seinen von der Venus gemachten Ultraviolettaufnahmen eine dunkle horizontale Y-Struktur und schloss aus ihrer Wiederkehr auf eine viertägige, retrograde atmosphärische Zirkulation. Außerhalb Frankreichs standen die Astronomen dieser Beobachtung zunächst skeptisch gegenüber. Die Rotationsperiode der Venus selbst konnte erstmals während der unteren Konjunktion im Jahre 1961 gemessen werden. Dies gelang mit Hilfe eines Radarstrahls der 26-Meter-Antenne in Goldstone, Kalifornien, dem Jodrell-Bank-Radioobservatorium in Großbritannien und dem sowjetischen Radioteleskop in Jewpatorija auf der Krim. Der retrograde Drehsinn konnte allerdings erst 1964 nachgewiesen werden. Die Messung der Laufzeit der Radarstrahlen lieferte bei diesen Untersuchungen zudem exakte Werte für den Abstand der Venus von der Erde. Im Zuge dieser Laufzeitmessungen gelang dem Physiker Irwin I. Shapiro 1968 die experimentelle Bestätigung der von ihm im Jahre 1964 vorhergesagten und nach ihm benannten Shapiro-Verzögerung. Nach der allgemeinen Relativitätstheorie sollte die Laufzeit eines Radarsignals beim Durchlauf des Gravitationsfeldes der Sonne gegenüber der klassischen Theorie etwas vergrößert sein. Der Effekt sollte bei der oberen Konjunktion der Venus etwa 200 Mikrosekunden ausmachen. Dieser Wert wurde seit den ersten Messungen mit immer größerer Genauigkeit bestätigt. Die Oberflächenerkundung mittels der erdgebundenen Radarvermessung erfasst durch die indirekt an die Erdbewegung gebundene, resonanzartige Rotation der Venus während der unteren Konjunktion immer nur die Hemisphäre von Alpha Regio, mit Beta Regio im Westen und Ishtar Terra im Norden. Der zentrale Nullmeridian dieser „Vorderseite“ verläuft dementsprechend durch Alpha Regio. Im Norden verläuft er über die Maxwell Montes. Das Koordinatensystem der Venus wurde so festgelegt, dass die Längengrade entsprechend der retrograden Rotation von Westen nach Osten, von 0° bis 360° östlicher Länge gezählt werden. Durch die Geringfügigkeit der systematischen Abweichung von einer echten Resonanz mit nur gut einem halben Längengrad in Richtung Osten müssen 347 solcher synodischen Venusjahre vergehen, also 554,7 Erdjahre, bis auch die „Rückseite“ der Venus auf diese Weise erfasst ist. === Erforschung mit Raumsonden === Seit den 1960er Jahren wurde eine Vielzahl von Raumsonden zum inneren Nachbarplaneten gestartet, wie beispielsweise die sowjetischen Venera-Sonden 1 bis 8. Einigen gelang eine weiche Landung, mit Kommunikationszeiten von bis zu 110 Minuten von der Oberfläche aus. Eine Rückkehr mit Proben war nicht vorgesehen. ==== Der Weg zur Venus ==== Ein Flug zur Venus erfordert weniger Startgeschwindigkeit als zu jedem anderen Planeten. So benötigt man nur eine Geschwindigkeitsänderung von 2,5 km/s, um von einer Kreisbahn mit 1 AE um die Sonne (entspricht der Erdbahn) auf eine Hohmann-Transferbahn zu wechseln, deren Perihel bei der Venus liegt. Ein vergleichbares Manöver für einen Flug zum Mars verlangt 2,95 km/s Geschwindigkeitsänderung. Dies führt jedoch nur zu einem Vorbeiflug an dem jeweiligen Planeten. Um einen Orbit um den Zielplaneten zu erreichen, muss man zusätzlich von der elliptischen Transferbahn auf eine Kreisbahn um die Sonne wechseln und anschließend in einen Venus- oder Marsorbit einbremsen. Ersteres kostet mit 2,7 km/s für Venus und Mars etwa gleich viel. Das Einbremsen in einen Orbit um den Zielplaneten (z. B. 500 km über der Oberfläche) ist aufgrund der größeren Masse der Venus jedoch deutlich energieintensiver als beim Mars und benötigt mit 9,95 km/s eine mehr als doppelt so große Geschwindigkeitsänderung als die 4,70 km/s beim Mars. Einen Überblick über die benötigten Geschwindigkeitsänderungen liefert die nebenstehende Tabelle. Die ersten und letzten beiden Geschwindigkeitsänderungen müssen dabei für die Gesamtbilanz aufgrund des Oberth-Effekts nur quadratisch addiert werden. Folglich ist zwar ein Venusvorbeiflug energetisch einfacher zu verwirklichen als ein Marsvorbeiflug, in einen Venusorbit einzuschwenken kostet jedoch deutlich mehr Energie. Da die Venus die Sonne näher umkreist als die Erde – ihr Abstand zur Sonne beträgt nur 72 Prozent des Sonnenabstands der Erde – muss eine Venussonde über 41 Mio. km in das Gravitationspotential der Sonne fliegen, was zu einer erheblichen Zunahme ihrer kinetischen Energie führt. Zusammen mit der hohen Schwerkraft der Venus führt dies zu einer Erhöhung der Geschwindigkeit der Sonde, sodass ihre Geschwindigkeit und Bewegungsrichtung stärker als beim Mars verändert werden müssen, um aus einer Vorbeiflugbahn in eine Umlaufbahn einzutreten. ==== Frühe Vorbeiflüge ==== Am 12. Februar 1961 brachte die Sowjetunion Venera 1 auf den Weg zur Venus. Die Sonde war damit das erste Raumfahrzeug, das zu einem anderen Planeten flog. Ein überhitzter Orientierungssensor verursachte eine Funktionsstörung, jedoch kombinierte Venera 1 erstmals alle für einen interplanetaren Flug nötigen Merkmale: Solarpaneele, parabolische Kommunikationsantenne, Drei-Achsen-Stabilisierung, Triebwerk zur Flugbahnkorrektur und einen Start von einem Parkorbit um die Erde. Die Sonde verfehlte ihr Ziel und flog am 20. Mai in 100.000 km Entfernung an der Venus vorbei, ohne ihre Beobachtungen ausführen oder mit der Erde kommunizieren zu können. Die erste erfolgreiche Venussonde war die US-amerikanische Mariner 2, eine modifizierte Ranger-Mondsonde. Mit ihr gelang am 14. Dezember 1962 in einer Distanz von 34.773 km ein geplanter Vorbeiflug. Sie entdeckte, dass der Planet kein Magnetfeld hat, und maß seine thermische Mikrowellenstrahlung. In der Sowjetunion startete am 2. April 1964 Zond 1, jedoch brach nach einer letzten Kommunikation am 16. Mai der Funkkontakt ab. Die verlorene Sonde zog am 19. Juli in 110.000 km Entfernung ohne Ergebnisse an der Venus vorbei. Die zweite erfolgreiche Venussonde der USA, Mariner 5, passierte den Planeten am 19. Oktober 1967 in einem Abstand von 3990 km. Mit ihren Funkwellen konnten die hauptsächlichen Eigenschaften der Venus und ihrer Atmosphäre näher bestimmt werden. Am 5. Februar 1974 nutzte Mariner 10 auf dem Weg zum Merkur die Venus für ein Swing-by-Manöver und übermittelte von ihr zahlreiche Bilder. Die Sonde war das erste Raumfahrzeug, das solch ein Manöver an einem Planeten vollführte. ==== Frühe Landungen und Orbiter ==== Am 1. März 1966 endete der Abstieg des ausgeklinkten Landers der sowjetische Mission Venera 3 mit einem Aufschlag. Das Gefährt hatte damit als erste Sonde die Oberfläche eines anderen Planeten erreicht, die harte Landung aber nicht überstanden. Die Schwestersonde Venera 2 fiel kurz vor dem Vorbeiflug wegen einer Überhitzung aus. Die Landekapsel der Venera 4 tauchte am 18. Oktober 1967 in die Venusatmosphäre ein. Sie maß Temperatur, Druck und Dichte, führte zudem elf automatische chemische Experimente zur Analyse der Atmosphäre durch. Sie wurde damit zur ersten Raumsonde, die direkte Messdaten von einem anderen Planeten lieferte. Die Daten zeigten einen Kohlendioxidanteil von 95 % und in Kombination mit den Daten der Sonde Mariner 5 einen weitaus höher als erwarteten Atmosphärendruck von 75 bis 100 bar. Diese Daten wurden von den Missionen Venera 5 und Venera 6 am 16. und 17. Mai 1969 bestätigt und verfeinert. Aber keine dieser Raumsonden erreichte intakt die Venusoberfläche. Die Batterie in Venera 4 entleerte sich, noch während die Sonde durch die unerwartet extrem dichte Atmosphäre trieb. Venera 5 und 6 wurden von dem hohen Außendruck in einer Höhe von etwa 18 km über dem Boden zerquetscht. Die erste erfolgreiche Landung gelang mit der Sonde Venera 7 am 15. Dezember 1970. Sie maß Oberflächentemperaturen von 457 bis 474 °C und einen Außendruck von 90 bar. Venera 8 landete am 22. Juli 1972. Zusätzlich zu den erhaltenen Druck- und Temperaturprofilen zeigte ein Lichtmesser, dass die Wolken eine Schicht bilden, die 35 km über der Oberfläche endet. Ein Gammastrahlenspektrometer analysierte die chemische Zusammensetzung des Bodengesteins. Die sowjetische Raumsonde Venera 9, die erste Sonde der neuen Generation schwerer Raumsonden, die mit neuen Protonraketen gestartet wurden, schwenkte am 22. Oktober 1975 in einen Venusorbit ein. Sie wurde damit zu dem ersten künstlichen Satelliten der Venus. Eine Vielzahl von Kameras und Spektrometern lieferte Daten über Wolken, Ionosphäre und Magnetosphäre und führte außerdem erste bistatische Radarmessungen der Venusoberfläche durch. Die 660 kg schwere Landekapsel von Venera 9 landete rund eine Stunde nach der Trennung vom Orbiter. Sie lieferte die ersten Bilder der Oberfläche, untersuchte zudem den Boden mit einem Gammastrahlenspektrometer und einem Densitometer. Während des Abstiegs wurden Druck, Temperatur und Lichtverhältnisse gemessen; außerdem wurden mit Backscattering und Multi-Angle-Scattering (Nebelmessgerät) Messungen der Wolkendichte durchgeführt. Durch die Messdaten wurde deutlich, dass die Wolken in drei getrennten Schichten angeordnet sind. Am 25. Oktober traf die Schwestersonde Venera 10 ein und führte ein ähnliches Messprogramm durch. ==== Pioneer-Venus ==== Im Jahr 1978 entsandte die NASA zwei Pioneer-Raumsonden zur Venus: den Orbiter Pioneer-Venus 1 und die Multiprobe-Sonde Pioneer-Venus 2, die getrennt gestartet wurden. Die Multiprobe-Sonde hatte eine große und drei kleinere Atmosphärensonden an Bord. Die große Sonde wurde am 16. November 1978 freigesetzt, die drei kleineren am 20. November. Alle vier traten am 9. Dezember in die Atmosphäre ein, gefolgt von der Trägersonde selbst. Obwohl die Sonden nicht darauf ausgelegt waren, eine Landung zu überleben, funkte eine von ihnen, nachdem sie die Oberfläche erreicht hatte, 45 Minuten lang Daten zurück. Der Pioneer-Venus-Orbiter erreichte am 4. Dezember 1978 einen elliptischen Venusorbit. Er hatte 17 Experimente an Bord, kartierte die Venus mit Radar (mit einer Auflösung von etwa 20 Kilometern pro Pixel) und analysierte beim Durchfliegen der höchsten Atmosphärenschichten diese, um ihre Zusammensetzung sowie die Interaktionen der Hochatmosphäre mit dem Sonnenwind zu erforschen. Der Orbiter wurde so lange betrieben, bis der zur Lagekorrektur verwendete Treibstoff ausging. Er wurde im August 1992 durch Verglühen in der Atmosphäre zerstört. ==== Weitere sowjetische Erfolge ==== Ebenfalls 1978 flogen Venera 11 und Venera 12 an der Venus vorbei und setzten ihre Landekapseln frei, die am 21. und 25. Dezember in die Atmosphäre eintraten. Die Lander trugen Farbkameras, ein Bodenbohrgerät und einen Analysator, die alle nicht funktionierten. Jeder Lander führte Messungen mit einem Nebelmessgerät, einem Massenspektrometer und einem Gaschromatographen durch. Außerdem entdeckte man mit Hilfe von Röntgenstrahlen einen unerwartet hohen Anteil von Chlor in den Wolken, zusätzlich zum bereits bekannten Schwefel. Auch wurde eine starke Blitzaktivität gemessen. Venera 13 und Venera 14 führten praktisch die gleiche Mission durch. Sie erreichten die Venus am 1. und 5. März 1982. Diesmal waren die Bohr- und Analyseexperimente erfolgreich, auch die Farbkameras funktionierten einwandfrei. Eine Röntgenbestrahlung der Bodenproben zeigte Ergebnisse, die bei Venera 13 ähnlich einem kaliumreichen Basalt ausfielen und 900 km weiter südöstlich, an der Landestelle von Venera 14, den Basalten des irdischen Ozeanbodens glichen. Am 10. und 11. Oktober traten Venera 15 und Venera 16 in polare Umlaufbahnen um die Venus ein. Venera 15 beobachtete und kartierte die obere Atmosphäre mit einem Infrarot-Fourierspektrometer. Vom 10. November bis zum 10. Juli kartierten beide Satelliten das nördliche Drittel der Planetenoberfläche mit einem Synthetic Aperture Radar. Dabei konnten insgesamt etwa 30 Prozent der Oberfläche mit einer Auflösung von ein bis zwei Kilometern erfasst werden, die erstellten Karten waren damit etwa 10 Mal detailreicher als die von Pioneer-Venus 1. Die Ergebnisse erlaubten erste konkretere Vorstellungen von der geologischen Entwicklung der Venus. Die sowjetischen Raumsonden Vega 1 und Vega 2 erreichten die Venus am 11. und 15. Juni 1985. Die Experimente ihrer Landeeinheiten waren auf die Erforschung der Wolkenzusammensetzung und Struktur fokussiert. Jeder Lander trug einen Ultraviolett-Absorption-Spektrometer sowie ein Gerät, um die Größe der Aerosolpartikel zu messen, außerdem Vorrichtungen zum Sammeln von Atmosphärenproben, die mit Hilfe eines Massenspektrometers, eines Gaschromatographen und eines Röntgenspektrometers untersucht wurden. Die zwei oberen Wolkenschichten wurden als aus Schwefelsäure, die untere Schicht als wahrscheinlich aus Phosphorsäure bestehend befunden. Auf der Oberfläche der Venus wurden ein Bohrgerät und ein Gammastrahlenspektrometer eingesetzt. Bilder von der Oberfläche gab es keine – die Lander hatten keine Kameras an Bord. Dies waren zugleich die bisher letzten Landungen auf der Oberfläche der Venus. Die Vegasonden setzten außerdem je einen Ballon in der Atmosphäre der Venus aus, die in einer Höhe von etwa 53 km jeweils 46 und 60 Stunden lang trieben. Die Ballons legten in dieser Zeit einen Weg von etwa einem Drittel des Umfangs der Venus zurück und maßen Windgeschwindigkeit, Temperatur, Druck und Wolkendichte. Dabei wurde mehr Sturm- und Strömungsaktivität entdeckt als erwartet sowie plötzlicher Flughöhewechsel um ein bis drei Kilometer registriert. Die Vega-Muttersonden flogen weiter zum Halleyschen Kometen, den sie neun Monate später erreichten. ==== Magellan ==== Am 10. August 1990 erreichte mit Magellan nach Pioneer-Venus die nächste US-amerikanische Raumsonde eine Umlaufbahn um die Venus. Das einzige Instrument der Sonde war ein Synthetic Aperture Radar, mit dem die Oberfläche der Venus kartiert werden sollte. In den darauf folgenden Jahren wurden 98 % der Oberfläche von 89° Nord bis 89° Süd kartiert, wobei die Auflösung der Aufnahmen bei rund 100 Metern pro Pixel lag. Damit waren die Karten um den Faktor 200 gegenüber Pioneer-Venus 1 und immerhin um den Faktor 15 gegenüber Venera 15 und Venera 16 detailreicher. Zudem wurde in der Endphase der Mission die Bahn der Sonde so gewählt, dass sie durch die obersten Schichten der Atmosphäre flog und so Schlussfolgerungen über die Dichte und Zusammensetzung der Atmosphäre erlaubte. Durch diese Manöver wurde die ohnehin schon kaum funktionierende Sonde ständig abgebremst und trat schließlich am 12. Oktober 1994 in die tieferen Schichten der Atmosphäre der Venus ein und verglühte; es ist jedoch nicht auszuschließen, dass einige Restteile der Sonde die Oberfläche erreichten. Der Magellansonde verdanken wir die besten der heute verfügbaren Karten der Venus. ==== Vorbeiflüge in den 1990er Jahren ==== Einige Raumsonden auf dem Weg zu Zielen weit außerhalb der Erdbahn nutzten die Venus, um durch Swing-by-Manöver ihre Geschwindigkeit zu erhöhen. Dies waren in den 1990er Jahren einmal die Galileo-Mission zum Jupiter und zweimal die Cassini-Huygens-Mission zum Saturn. Mit der Raumsonde Galileo konnten 1990 erstmals Spektralaufnahmen von der Venusoberfläche im „Fenster“ des nahen Infrarotbereichs gewonnen werden. Die Auflösung dieser Wärmebilder war jedoch sehr gering, und wegen der hohen Geschwindigkeit der Sonde während des einen Vorbeifluges wurde nur ein kleiner Teil des Planeten erfasst. Die Bordinstrumente von Cassini-Huygens konnten bei den Begegnungen 1998 und 1999 zahlreiche wissenschaftliche Daten liefern. So ergab das für die Saturnmonde konstruierte Radar die bisher genaueste Kartierung einiger Venusregionen. Magnetometertests zeigten entgegen den Daten der sowjetischen Venerasonden keine Blitze aus den 48 Kilometer hohen Venuswolken. ==== Missionen ab 2000 ==== Von April 2006 bis zum Ende der Mission und dem Verglühen in der Venusatmosphäre Ende 2014 untersuchte Venus Express, die erste Venussonde der Europäischen Weltraumorganisation (ESA), die Atmosphäre und die Oberfläche des Planeten. Forscher haben durch die Mission vor allem weitaus genauere Daten über die Atmosphäre und die Wolkendecke erhalten. Mit ihrem Magnetometer konnte der zweifelsfreie Nachweis von Blitzen auf der Venus erbracht werden. Mit MESSENGER umkreiste eine US-amerikanische Raumsonde den Merkur, die unter anderem zwei Vorbeiflüge an der Venus wie Mariner 10 zum Abbau von Bahndrehimpuls genutzt hat, um zu ihrem Ziel weit innerhalb der Erdbahn zu gelangen. Der erste dieser Swing-bys erfolgte am 24. Oktober 2006. Dabei befanden sich jedoch die Venus und die Sonde in oberer Konjunktion, also, von der Erde aus gesehen, hinter der Sonne, sodass durch den daher stark eingeschränkten Funkverkehr keine Bilder oder Messdaten übertragen werden konnten. Die zweite Passage wurde am 6. Juni 2007 vollzogen; für dieses Mal konnte der Einsatz aller Messinstrumente bei nur 337 km Abstand vorgesehen werden. Durch die laufende Mission des Orbiters Venus Express wurde die Venus während dieses Vorbeifluges zum ersten Mal von zwei Raumsonden gleichzeitig untersucht. Dieser zweite Swing-by von MESSENGER fand auf der gerade erdzugewandten Seite des Planeten statt, während sich Venus Express an der gegenüberliegenden Seite befand; dadurch war zwar keine synchrone Untersuchung desselben Gebietes möglich, aber zeitlich etwas versetzt ergänzen sich die unterschiedlichen Untersuchungsmethoden der beiden Sonden dennoch. Die japanische Raumfahrtagentur JAXA hat am 20. Mai 2010 den kleinen Venusorbiter Akatsuki gestartet. Er wurde für eine Missionsdauer von insgesamt 4,5 Jahren vorgesehen und sollte nach seiner Ankunft am 8. Dezember 2010 die Venus mit gekühlten Kameras im infraroten Licht beobachten und die Superrotation der Atmosphäre studieren. Das Einschwenken der Sonde in den Venusorbit misslang jedoch zunächst. Ein zweiter Versuch am 6. Dezember 2015 war dann erfolgreich. Am 12. August 2018 startete die NASA-Sonnensonde Parker Solar Probe und wird an der Venus insgesamt sieben Swing-by-Manöver absolvieren: am 3. Oktober 2018, am 22. Dezember 2019, am 11. Juli 2020, am 20. Februar und 16. Oktober 2021, am 16. August 2023 und am 2. November 2024.Am 20. Oktober 2018 startete die von der ESA und der JAXA gebaute Merkursonde BepiColombo. Nach einem ersten Swing-by-Manöver an der Venus am 15. Oktober 2020 hat sie am 10. August 2021 ein zweites vollführt. Dabei werden einige Instrumente getestet und die Atmosphäre sowie die Ionosphäre untersucht. ==== Geplante Missionen ==== Für die von der ESA beabsichtigte Jupitersonde JUICE ist von mehreren Swing-by-Manövern eines an der Venus vorgesehen. Ihr Start ist für April 2023[veraltet] geplant. Außerdem beschloss die ESA im Rahmen ihres Cosmic Vision-Programms die Verwirklichung des Venusorbiters EnVision. Er soll zwischen 2031 und 2033 starten. Russland will mit einer neuen Landemission namens Venera-D an die früheren Veneraerfolge der sowjetischen Zeit anknüpfen. Doch diesmal soll die Landesonde im Unterschied zu ihren Vorgängern mehrere Stunden lang auf der Venusoberfläche in Betrieb bleiben können. Der Start ist für frühestens 2029 angesetzt. Die USA plant im Rahmen des Discovery-Programms zwei Venusmissionen: DAVINCI+ (Deep Atmosphere Venus Investigation of Noble gases, Chemistry, and Imaging) soll die Venusatmosphäre untersuchen. VERITAS (Venus Emissivity, Radio Science, InSAR, Topography, and Spectroscopy) soll die Venus in noch höherer Auflösung als Magellan kartieren. == Beobachtung == Unter den Leuchtpunkten am Himmel ist die Venus der auffallendste. Die älteste bekannte bildhafte Darstellung des Wandelsterns befindet sich auf einem babylonischen Grenzstein, einem Kudurru des Königs Meli-Šipak aus dem 12. Jahrhundert v. Chr. Das Steinrelief zeigt, neben den Symbolen der Sonnenscheibe und der Mondsichel, die Venus als Stern mit acht Strahlen. Das achtstrahlige Sternsymbol stand in Babylon zugleich für die Göttin Ištar. Für die ungefähr 4000 Jahre alte Himmelsscheibe von Nebra gibt es die Deutung, dass einige der darauf verteilten Goldpunkte das Bewegungsmuster der Venus darstellen. === Grundlagen === Weil die Venus einer der unteren Planeten ist, sich ihre Umlaufbahn um die Sonne also innerhalb der Erdbahn befindet, kann sie im Gegensatz zu den oberen Planeten der Sonne an der Himmelskugel niemals gegenüberstehen, das heißt in Opposition kommen. Stattdessen unterscheidet man anstelle der Konjunktion der äußeren Planeten die Obere Konjunktion (Venus hinter der Sonne) von der unteren Konjunktion, bei der die Venus vor der Sonne steht. Die größte Elongation – das heißt, der größtmögliche östliche und westliche Winkelabstand zur Sonne – beträgt 48°. Die Neigung der Venusbahn gegen die Bahnebene der Erde beträgt etwa 3,4°, das ist nach Merkur der zweithöchste Wert der acht Planeten. Trotz dieser an sich noch geringen Neigung ist es sehr selten (auch im Vergleich zum Merkur), dass es bei der unteren Konjunktion zu einem so genannten Durchgang vor der Sonnenscheibe kommt. Da die Venus bei der unteren Konjunktion nur etwa 41 Millionen km von der Erde entfernt ist, kann sich perspektivisch ein Winkelabstand von bis zu fast 9° gegenüber der Sonnenscheibe ergeben. So kann sie für einige Tage (bei Vorbeizug nördlich der Sonne auf der Nordhalbkugel und bei Vorbeizug südlich der Sonne auf der Südhalbkugel) sowohl am Abend- als auch am Morgenhimmel gesehen werden. Im 20. Jahrhundert gab es keinen einzigen Venustransit. Hingegen kann der Planet gerade wegen seiner im Vergleich zu den anderen Planeten relativ großen Bahnneigung manchmal doppelsichtig werden, indem er mit freiem Auge sowohl in der hellen Morgen- wie in der hellen Abenddämmerung beobachtbar sein kann. Dies ist in den Tagen um die Untere Konjunktion möglich, wenn er nicht knapp an der Sonne vorbeizieht, sondern bis zu 8° nördlich oder südlich von ihr. Steht die Venus östlich der Sonne, kann sie als Abendstern am Westhimmel beobachtet werden, steht sie westlich, kann sie als Morgenstern am Osthimmel gesehen werden. Hierbei sind Sichtbarkeitszeiten von bis zu 4,5 Stunden (vom Venusaufgang bis zum Sonnenaufgang beziehungsweise vom Sonnenuntergang bis zum Venusuntergang) möglich, wenn die Venus in der Ekliptik eine höhere Position als die Sonne einnimmt. Am stärksten ist dieser Effekt im Spätwinter oder Frühling bei ihrer Sichtbarkeit als Abendstern, und bei ihrem Auftritt als Morgenstern im Herbst. Wegen ihrer großen Helligkeit und ihres größeren Winkelabstandes ist die Venus viel leichter zu beobachten als der Merkur. Bei sehr klarem Himmel und ausreichend großer Elongation kann sie auch am Tag mit bloßem Auge beobachtet werden. Aufgrund ihrer Bahnbewegung zeigt die Venus im Teleskop je nach Position unterschiedliche Phasen, gleich den Phasen des Mondes. Vor und nach einer oberen Konjunktion (wenn sie jenseits der Sonne steht) erscheint sie als kleines, fast rundes Scheibchen mit einem Durchmesser von etwa 10″ (Bogensekunden). Mit zunehmendem Winkelabstand von der Sonne kommt sie der Erde näher, erscheint größer und nimmt zur maximalen östlichen Elongation die Form einer abnehmenden „Halbvenus“ an. Da die Umlaufbahn nicht kreisförmig ist, sondern elliptisch, fällt die geometrisch berechenbare Dichotomie nicht exakt auf den Zeitpunkt der größten Elongation, sondern weicht um einige Tage davon ab. Während die Venus weiter der unteren Konjunktion zustrebt, wird ihr Winkelabstand zur Sonne wieder kleiner, sie erscheint als schmaler werdende Sichel und erreicht in der unteren Konjunktion ihren größten scheinbaren Durchmesser von etwa 60″. Die scheinbare Helligkeit der Venus hängt von ihrem scheinbaren Durchmesser und ihrer Phase ab. Die größte Helligkeit (größter Glanz) von etwa −4,3m erreicht sie etwa 35 Tage vor und nach der unteren Konjunktion, wenn von der Erde aus etwa 30 Prozent der von der Sonne beschienenen Oberfläche zu sehen sind. Bei geringerem Winkelabstand zur Sonne kann, durch die Brechung und Streuung des Sonnenlichts in den dichteren Schichten ihrer Atmosphäre, an der leuchtenden Sichel eine starke Verlängerung der Spitzen beobachtet werden, das so genannte „Übergreifen der Hörnerspitzen“. Die Venussichel umfasst nahe der unteren Konjunktion also einen Bogen von weit über 180°, obwohl eine beleuchtete Kugel nur einen Sichelbogen von exakt 180° zeigen dürfte. Die ständig geschlossene Wolkendecke der Venus verwehrt dem Auge zwar jeden Einblick, verstärkt aber stets ihr Leuchten. Kurz vor der unteren Konjunktion schließt sich der Sichelbogen sogar vollständig zu einem Kreis. Dieser Effekt ist allerdings wegen der großen Sonnennähe nur schwer zu beobachten. Der synodische Sichtbarkeitszyklus der Venus wiederholt sich gemäß der pentagrammartigen Verteilung der Konjunktionspunkte auf ihrer Bahn fünfmal nacheinander vor jeweils unterschiedlichem Sternenhintergrund. Je nach der Position in der Ekliptik sind zwei von jeweils fünf Morgen- und Abendsichtbarkeiten deutlich auffallender. Dieser gesamte Sternenzyklus wiederholt sich wiederum fast auf den Tag genau alle acht Jahre. === Sichtbarkeiten === Die Venus ist nach der Sonne und dem Mond das dritthellste Objekt am Himmel, kann aber aufgrund ihres kleinen Winkeldurchmessers von maximal einer Bogenminute ohne optisches Gerät nur als Punkt wahrgenommen werden. Sie ist nach ihnen der dritte Himmelskörper, der auf der Erde einen Schatten werfen kann, – wenn auch nur sehr schwach um die Zeit ihres größten Glanzes in den mondlosen Nächten sehr dunkler Gebiete. Sie ist als einziger der fünf mit bloßem Auge sichtbaren Planeten unter günstigen Bedingungen auch am hellen Taghimmel hoch über dem Horizont auffindbar. Ihre östliche Elongation bietet Abendsichtbarkeit, die westliche Elongation Morgensichtbarkeit. Bei diesen Positionen fällt sie während der Dämmerung als erster oder letzter mit bloßem Auge sichtbarer Punkt am Himmel auf. === Erdnähen === Von allen Umlaufbahnen unter den Planeten des Sonnensystems ist der Abstand zwischen denen der Venus und der Erde am geringsten. Im zeitlichen Mittel hat jedoch Merkur den geringsten Abstand sowohl von Venus als auch Erde. Am nächsten kommen sich die beiden Planeten, wenn sich die Venus zur unteren Konjunktion möglichst im Aphel und die Erde möglichst im Perihel befindet. Die größte Erdnähe seit dem Jahr 1800 wurde am 16. Dezember 1850 mit 0,26413854 AE bzw. 39.514.827 Kilometern erreicht. Erst am 16. Dezember 2101 wird die Venus der Erde mit einem Abstand von 0,26431736 AE bzw. 39.541.578 Kilometern fast so nahekommen wie damals (siehe auch: Apsidendrehung). === Venustransite === Trifft die untere Konjunktion mit dem Knotenpunkt der Venusbahn (einem Schnittpunkt mit der Ekliptik) zusammen, steht die Venus genau vor der Sonnenscheibe und es kommt zu einem Durchgang (Transit). Der letzte Venusdurchgang ereignete sich am 6. Juni 2012 und war in Mitteleuropa in seiner Endphase zu beobachten, der vorletzte am 8. Juni 2004 war in Europa in voller Länge zu sehen. Weitere Venusdurchgänge (nach dem gregorianischen Kalender): Durchgänge der Venus finden immer abwechselnd im Juni oder im Dezember statt, weil zu diesen Zeiten die Erde die Knoten der Venusbahn passiert. Der Zyklus der Transite beträgt 243 Jahre, dabei finden vier Durchgänge mit den Abständen von 8 Jahren, von 121,5 Jahren, wieder von 8 und dann nach 105,5 Jahren statt. Durch die Beobachtung eines Venustransits von verschiedenen Positionen auf der Erde kann man mit der Messung der Horizontalparallaxe die Entfernung Erde–Sonne (die Astronomische Einheit) bestimmen. === Bedeckungen durch die Venus === Gegenseitige Bedeckungen zwischen Planeten sind sehr selten. Am 28. Mai 1737 bedeckte die Venus etwa 10 Minuten lang vollständig den Merkur. Dies wird das nächste Mal etwa 13 Minuten lang am 3. Dezember 2133 geschehen. Die nächste Bedeckung des Mars durch die Venus wird erst am 4. Juni 2327 für rund 20 Minuten stattfinden. Am 3. Januar 1818 bedeckte die Venus für einige Minuten ringförmig den Jupiter. Am 22. November 2065 wird sie ihn teilweise und am 14. September 2123 wieder ringförmig bedecken. Am 29. August 1771 kam es kurz zu einer teilweisen Bedeckung des Saturns. Das wird sich erst am 12. August 2243 wiederholen. Am 4. März 2251 bedeckt sie kurz vollständig den Uranus, ebenso den Neptun am 21. August 2104. == Kulturgeschichte == Da die Venus das hellste sternartige Objekt am Firmament ist, hat sie wohl seit Anbeginn der Kulturgeschichte eine tragende Rolle in der Astronomie, aber auch in der Mythologie und der Astrologie gespielt. === Alter Orient === Die Sumerer verbanden den hellsten Wandelstern mit der Göttin Inanna, die Babylonier mit Ištar, der Göttin der Liebe und des Krieges, Ninsianna bezeichnete den Morgenstern. Auch nach der Erkenntnis, dass es sich um denselben Himmelskörper handelt, unterschied man in Babylonien und Assyrien weiterhin zwischen Morgen- und Abendstern. Im antiken Arabien war Al-ʿUzzā die Göttin des Morgensterns, in Syrien die Brüder Šaḥar und Šalim. Bereits Anfang des dritten Jahrtausends v. Chr. verehrten die Ägypter die Venus unter dem Namen Netjer-duai als Morgenstern. Im alten Ägypten verband man den Wandelstern mit der Göttin Isis. === China === Im antiken China ordnete man gemäß der Fünf-Elemente-Lehre den Planeten Venus der Wandlungsphase Metall zu. Daher heißt die Venus im Chinesischen und Japanischen „Metall-Stern“ (金星 chin. jīnxīng, jap. kinsei). === Persien – Iranische Mythologie === In der iranischen Mythologie wird der Planet – abgesehen von einem möglichen Hinweis im Yasht 10 auf Mithra – der Gottheit Anahita zugeordnet, was sich in der mittelpersischen Sprache in der Bezeichnung des Himmelskörpers als „Anāhid“ und im Persischen als „Nāhid“ spiegelt. Hierbei erscheint Anahita als eine Gottheit des Wassers sowie als Repräsentanz des mythischen kosmischen Urflusses und der Fruchtbarkeit. === Griechische Mythologie === Im frühen antiken Griechenland nannte man die Venus als Morgenstern Phosphoros (so viel wie „Lichtbringer“) – auf Lateinisch Lucifer –, manchmal auch Eosphoros, und als Abendstern Hesperos. Erst die späteren Hellenen bezogen diesen Planeten auf die Göttin Aphrodite. Seit der Antike wurde sowohl für den Planeten als auch für die Göttin Venus das Pentagramm als Symbol benutzt. Der Ursprung dieser Symbolik liegt anscheinend in der besonderen periodischen Bewegung des Planeten, dessen auffälligste Positionen am Sternenhimmel im Zeitraum von acht Jahren ein recht exaktes Pentagramm beschreiben. Es gibt Vermutungen, dass die Griechen die Olympischen Spiele der Antike nach diesem Zyklus ausgerichtet haben. Das heute bekannte Venussymbol ♀ steht ebenfalls sowohl für die Göttin als auch in der Astronomie und Astrologie für den Planeten. === Germanische Mythologie === In der germanischen Mythologie verband man die Venus mit der Göttin Freya. Auf Letztere geht möglicherweise die deutsche Bezeichnung Freitag für den Wochentag dies veneris, den Tag der Venus, zurück. Mit der Renaissance hat sich für den Planeten der Name Venus (lat. „Anmut“, „Liebreiz“) der römischen Liebesgöttin durchgesetzt. === Altamerikanische Mythologie === Bei den Maya galt die Venus als aggressiv. Nach dem Venuskalender wurde der Erfolg von Kriegszügen berechnet. In Mesoamerika galt der Gott Tlahuizcalpantecuhtli als Personifikation des Morgensterns, sein Bruder Xolotl wird als Abendstern gedeutet. === Astrologie === In der Astrologie ist die Venus unter anderem auch das Symbol des Bindungsvermögens. Darüber hinaus steht dieses Venussymbol seit dem Altertum auch für das Planetenmetall Kupfer, das als Spiegelmetall der Liebes- und Schönheitsgöttin dem Planeten zugeordnet wurde. Durch die allgemeine Zuordnung eines weiblichen Charakters in der abend- und morgenländischen Kultur steht das Symbol der Venus in der heutigen Gesellschaft auch für die Weiblichkeit und in der Biologie für das weibliche Geschlecht. === Christentum === In der christlichen Überlieferung ist der Morgenstern ein Symbol für den herannahenden Gottessohn und dessen lichtvolle Erscheinung in der Nacht der Welt (Epiphanie). Mitunter wird die Venus auch als die Stella maris identifiziert, ein Marientitel der Mutter von Jesus von Nazareth. Astronomische Theorien zur Datierung des Sterns von Betlehem beziehen sich unter anderem auf verschiedene Konjunktionen von Venus und Jupiter. Der Morgenstern ist aber auch Luzifer, der „gefallene Engel“ (nach Jesaia 14,12 ). == Rezeption == === Rezeption in Literatur, Film und Musik === Gottlob Frege illustrierte in seinem 1892 erschienenen Aufsatz Über Sinn und Bedeutung mit dem Planeten Venus den Unterschied von Sinn und Bedeutung eines Namens. Sein Satz „Der Morgenstern ist der Abendstern.“ ist noch heute ein Standardbeispiel in der analytischen Philosophie. In den ersten wissenschaftlich untermauerten Vorstellungen von der Venus als Weltkörper galt dieser erdähnliche Planet durch seine größere Sonnennähe im Gegensatz zum Mars als eine lebensfreundlichere, junge und sehr warme Welt der Urzeit, die unter der undurchdringlichen Wolkendecke von Dschungel und Wüsten geprägt ist. Das hat sich dann auch in der später aufgekommenen wissenschaftlichen Phantastik der Literatur und der Filmkunst niedergeschlagen, besonders in Form verschiedenster Venusianer. Mit der Erkundung der wirklichen Bedingungen, vor allem seit der zweiten Hälfte der 1960er Jahre, ist es dann in dieser Beziehung um die Venus still geworden. ==== In der Literatur ==== Hans Dominik beschrieb in seinem 1926 erschienenen Zukunftsroman Das Erbe der Uraniden die Venus als einen Planeten mit erdähnlicher Flora und Fauna, jedoch ohne intelligente bzw. humanoide Bewohner. Raumfahrer von der Erde finden dort die sterblichen Überreste humanoider Raumfahrer (Uraniden) aus einem anderen Planetensystem, die auf der Venus wegen einer Havarie landen mussten und durch den Genuss giftiger Früchte gestorben sind. Edgar Rice Burroughs, der Schöpfer von Tarzan, verfasste von 1932 bis 1970 insgesamt neun Romane, die auf der Venus spielen, darunter Piraten der Venus, Auf der Venus verschollen und Krieg auf der Venus. Sein fünfbändiger Amtor-Zyklus wird auch Venus-Zyklus genannt. Clive Staples Lewis schrieb 1943 den Roman Perelandra – nach seinem Namen für die Venus. Dieser zweite Roman der gleichnamigen Trilogie beschreibt das Reiseziel Venus des Sprachwissenschaftlers Ransom allegorisch als einen Planeten, auf dem noch das Paradies existiert. 1948 erschien von Robert A. Heinlein das Jugendbuch Space Cadet (Weltraumkadetten). Ein amerikanischer Offiziersschüler besteht als Bewerber der interplanetarischen Friedenspatrouille im Jahr 2075, im Einsatz für das friedliche Zusammenleben der verschiedenen Planetenvölker, seine erste Feuerprobe bei einem Einsatz auf der Venus, wobei er mit deren (friedliebenden) amphibischen Einwohnern interagiert. 1950 kam von Immanuel Velikovsky das spekulative Buch Welten im Zusammenstoß heraus, in dem die Venus innerhalb eines katastrophistischen Weltbildes eine zentrale Rolle spielt. Anhand von Geschichten und Mythen wird darin auf Ereignisse der letzten 5000 Jahre geschlossen. Die junge Venus, die sich aus von Jupiter abgelöster Materie als Komet gebildet haben soll, hat demnach auf einer unregelmäßigen Bahn mit ihrem Kometenschweif sowie durch ihre gravitative und elektromagnetische Wirkung die Erde mehrmals verwüstet. 1951 folgte nach anderen mit Between Planets (Zwischen den Planeten) ein weiteres Jugendbuch von Heinlein, das teils auf der Venus handelt. Mars und Venus sind von Kolonisten der Erde besiedelt, die in friedlicher Koexistenz mit jeweils einheimischen intelligenten Spezies leben. Hier rebellieren die Kolonisten des „Nebelplaneten“ Venus gegen die Regierung auf der Erde. 1951 erschien auch von Stanisław Lem der Roman Astronauci, der unter den deutschen Titeln Die Astronauten oder Planet des Todes herausgegeben wurde. Nach dieser Romanvorlage entstand neun Jahre später der Science-Fiction-Film Der schweigende Stern; siehe auch unten. Es folgten weitere Science-Fiction-Romane, welche die Venus als urzeitliche Dschungelwelt darstellen: Gustav Harder: Das Atomschiff. 1954, über ein magnetisches Feld-Triebwerk. Alexander Robé: SOS von der Venus. 1956, über Kreidezeit und Saurier. Konstantin Wolkow: Notlandung auf der Venus. 1960, über Borane und Silane als Treibstoff. Erich Dolezal: Planet im Nebel. 1962, über Terraforming. Perry-Rhodan-Heft-Romane Nummer 8, 9, 20, 22, 23, 24, alle in den Jahren 1961 und 1962. Siehe auch Venus in der Perrypedia.1959 wurde in der Sowjetunion der Roman Atomvulkan Golkonda der Brüder Strugatzki veröffentlicht, in dem Vorbereitung, Flug und Landung von Kosmonauten auf der Venus etwa zum Ende des 20. Jahrhunderts beschrieben werden. Das Interesse der Geologen aus der kommunistischen Sowjetunion richtet sich auf eine Art natürlichen Reaktor auf der Oberfläche der Venus, den Golkondakrater, in dem sich nach einem Meteoriteneinschlag radioaktive Erze bilden. Die gefährliche Suche der Kosmonauten danach führt zum Tode mehrerer Teilnehmer der Expedition. In Raumpatrouille Nebelwelt von Karl-Herbert Scheer (ZBV-Roman Nummer 16, 1963) ist die Venus wider Erwarten der Protagonisten keine Dschungelwelt. 1964 ist der Roman Das Erbe der Phaetonen von Georgi Martynow auf Deutsch erschienen. Die Venus und ihre menschenähnlichen Bewohner spielen in der sehr abwechslungsreichen Geschichte eine Nebenrolle als Zwischenstation auf der Suche nach den Spuren der alten Zivilisation des als Asteroidengürtel untergegangenen fünften Planeten Arsenia (Phaeton). Die 31-bändige Jugendbuchreihe Weltraumpartisanen von Mark Brandis, die zwischen 1970 und 1987 in deutscher Sprache erschien, wählte die Venus als Sitz der „Venus-Erde-Gesellschaft für Astronautik“ nach einem nicht näher beschriebenen Terraforming. Ben Bova widmete der Venus einen Band seiner „Grand Tour“ durch das Sonnensystem. Der Roman Venus aus dem Jahr 2000 handelt von einer kostspieligen Expedition, die die sterblichen Überreste des Sohnes eines der reichsten Männer der Erde bergen soll. Eine unvermutete Entdeckung in der Atmosphäre beendet das gefährliche Unterfangen aber beinahe. ==== Im Film ==== 1954 entstand unter der Regie von Burt Balaban der Spielfilm Stranger from Venus. Ein Venusianer taucht darin auf der Erde auf, um der Menschheit die Befürchtungen auf seinem Planeten in Hinsicht ihrer atomaren Aufrüstung mitzuteilen. 1956 erschien mit It Conquered the World eine der frühen Filmarbeiten von Roger Corman. Nach dem Funkkontakt mit einem verschollenen Satelliten der USA kehrt dieser mit einem Invasionsabsichten tragenden Weltraummonster als eines der letzten seiner Art von der Venus zurück. Unter dem Vorwand, die Selbstzerstörung der Menschheit zu verhindern, bringt das Monster aus einem Höhlenversteck mit Hilfe von kleinen fliegenden Rochen einzelne Einwohner einer amerikanischen Kleinstadt in Schlüsselpositionen unter seine Kontrolle. 1966 gab es eine Neuverfilmung unter dem Titel Zontar the Thing from Venus von Larry Buchanan. 1958 kam von Regisseur Edward Bernds Queen of Outer Space in die Kinos. 1961 folgte die deutsche Synchronfassung In den Krallen der Venus. Die satirisch angelegte Handlung von schönen Frauen und echten Kerlen spielt im Jahr 1985. Ein Raumschiff der Erde wird mit seinen Astronauten von einer unbekannten Kraft vom Kurs abgebracht und auf die Venus entführt. Dort sind nach einem Krieg bis auf wenige Ausnahmen alle Männer auf einen Nachbarplaneten verbannt worden. Nach der Vorlage von Stanisław Lems Roman Astronauci entstand von 1959 bis 1960 als Gemeinschaftsproduktion der DDR und Polen der Science-Fiction-Film Der schweigende Stern (Verleihtitel in der BRD: Raumschiff Venus antwortet nicht). Das Werk bezieht sich auf die Gefahr eines atomaren Weltkrieges. Nach der Identifizierung eines geheimnisvollen Fundes bricht im Jahr 1970 eine internationale Expedition zum Zweck der Nachforschung zur Venus auf und entschlüsselt unterwegs den Hinweis auf einen 1908 fehlgeschlagenen Angriff auf die Erde. Am Ziel angekommen, findet die Besatzung eine leblose, radioaktiv verseuchte Welt vor, auf der nur noch die automatischen Anlagen einer Vernichtungsmaschinerie laufen, der die Bewohner der Venus offenbar selbst zum Opfer gefallen sind. 1962 erschien von Regisseur Pawel Kluschanzew der sowjetische Spielfilm Planet der Stürme, der auf einer gleichnamigen Erzählung von Alexander Kasanzew basiert. Er handelt von einer ersten und verlustreichen Expedition zur Venus, deren überlebende Teilnehmer einschließlich eines humanoiden Roboters dort nach eigenem Plan in zwei Gruppen getrennt landen und sich daraufhin suchen müssen. Sie stoßen auf urzeitliche Lebensformen und Spuren menschenähnlicher Bewohner. ==== In der Musik ==== In der Musik hat Gustav Holst der Venus in seiner Orchestersuite Die Planeten (1914–1916) den zweiten Satz Venus, the Bringer of Peace (Venus, die Friedensbringerin) gewidmet. Im Jahr 1961 besang Manfred Krug mit dem Lied Venus ein anvisiertes Ziel der sowjetischen Raumfahrt.1962 brachte Paul Kuhn den Liebesschlager Wir fliegen zur Venus heraus.1978 startete die Disco-Formation Boney M. mit Nightflight to Venus ihr drittes Album. 2013 startete Lady Gaga in ihrem Popsong Venus zum Planeten der Liebesgöttin. === Namensrezeption === Die atmosphärische Erscheinung des Gegendämmerungsbogens wird wegen des in der Dämmerung sich hervorhebenden Morgen- oder Abendsterns Venusgürtel genannt. Im Jahr 1955 wurde der Venus-Gletscher auf der antarktischen Alexander-I.-Insel nach dem Planeten benannt. Nach dem Planeten sind auch einige Verkehrswege benannt: Eine Venusallee gibt es im niederösterreichischen Mistelbach in der gleichnamigen Ortschaft. Eine Venusstraße gibt es in den Orten Bayreuth, Berlin-Altglienicke, Berlin-Reinickendorf, Binningen, Bövinghausen (Dortmund), Brinkum (Stuhr), Büchenbach, Castrop-Rauxel, Flüren (Wesel), Gaimersheim, Germering, Gilching, Hahlen (Minden), Haimbach (Fulda), Hamm, Jöllenbeck (Bielefeld), Krummhörn, Montabaur, Moosburg an der Isar, Nesselwang, Neuwied, Niederbühl (Rastatt), Niederndorf (Herzogenaurach), Ringheim (Großostheim), Solingen, Stotzheim (Euskirchen), Trotha (Halle (Saale)), Velbert, Wagenfeld, Weil (Oberbayern), Wiesbaden-Bierstadt, und Willich. Einen Venusweg gibt es in Dronten, Essen-Überruhr, Feucht, Frankfurt (Oder), Fürth, Hütteldorf (Wien), Leeuwarden, Magdeburg, Marl, Rieste und Speldorf (Mülheim an der Ruhr). Seit 1920 gibt es in Berlin-Neukölln einen Venusplatz, und seit 1984 in Roringen (Göttingen) einen Venusring. Bernau bei Berlin und Flensburg haben einen Venusbogen. Die Altstadt von Duisburg-Mitte hat eine Venusgasse. == Siehe auch == Bemannte Venusmission Liste der Planeten des Sonnensystems Liste der Entdeckungen der Planeten und ihrer Monde == Literatur == Bücher: Peter Cattermole, Patrick Moore: Atlas of Venus. Cambridge University Press, Cambridge 1997 (engl.), ISBN 0-521-49652-7 Ronald Greeley, Raymond Batson: Der NASA-Atlas des Sonnensystems. Knaur, München 2002, ISBN 3-426-66454-2 Holger Heuseler, Ralf Jaumann, Gerhard Neukum: Zwischen Sonne und Pluto. Die Zukunft der Planetenforschung. BLV, München 2000, ISBN 3-405-15726-9 David Morrison: Planetenwelten. Eine Entdeckungsreise durch das Sonnensystem. Spektrum Akademischer Verlag, Heidelberg 1999, ISBN 3-8274-0527-0 Rolf Sauermost (Hrsg.): Lexikon der Astronomie. In 2 Bänden. Herder, Freiburg 1989f, ISBN 3-451-21632-9 Roland Wielen (Hrsg.): Planeten und ihre Monde. Die großen Körper des Sonnensystems. Spektrum Akademischer Verlag, Heidelberg 1997, ISBN 3-8274-0218-2 Fredric W. Taylor: The Scientific Exploration of Venus. Cambridge University Press, Cambridge 2014. ISBN 978-1-107-02348-2.Aufsätze: James W. Head: The geologic evolution of Venus: Insights into Earth history. Geology 42, S. 95–96 (2014), doi:10.1130/focus012014.1 Tilmann Althaus: Venus – Die eigenwillige Schwester der Erde. Sterne und Weltraum 45 (7), S. 32–39 (2006), ISSN 0039-1263 Thorsten Dambeck: Venus – Planet im Höllendunst. Bild der Wissenschaft, Dezember 2006, S. 44–47 == Weblinks == Solar System Exploration: Venus. In: NASA.gov. Abgerufen am 10. Mai 2020 (englisch). Die Venus – Ein Blick hinter den Schleier (Teil 1). lexikon.astronomie.info Weitere Bilder von der Oberfläche (englisch) Neue Hinweise auf aktive Vulkane? astronews.com, 3. Dezember 2012 Heiße Lavaströme auf der Venus? astronews.com, 19. Juni 2015 Junge Lavaströme an Venusvulkan? astronews.com, 19. Oktober 2016 Erkenntnisse zur Venus-Wolkendecke aus den Missionen Venus Express und Akatsuki, September 2019 (englisch)Medien Ist die Venus ein Zwilling der Erde? aus der Fernseh-Sendereihe alpha-Centauri (ca. 15 Minuten). Erstmals ausgestrahlt am 15. Aug. 1999. == Einzelnachweise ==
https://de.wikipedia.org/wiki/Venus_(Planet)
Sankt Petersburg
= Sankt Petersburg = Sankt Petersburg (russisch Санкт-Петербург Sankt-Peterburg; kurz auch St. Petersburg) ist mit 5,38 Millionen Einwohnern (Stand 2021) nach Moskau die zweitgrößte Stadt Russlands, die viertgrößte Europas und die nördlichste Millionenstadt der Welt. Sie war von 1712 bis 1918 Hauptstadt des Russischen Kaiserreiches und bis 2021 Verwaltungszentrum der sie umgebenden Oblast Leningrad. Als Stadt mit Subjektstatus ist Sankt Petersburg ein Föderationssubjekt der Russischen Föderation. Sankt Petersburg liegt im Nordwesten des Landes an der Mündung der Newa in die Newabucht am Ostende des Finnischen Meerbusens der Ostsee. Die Stadt wurde 1703 von Zar Peter dem Großen auf Sumpfgelände nahe dem Meer gegründet, um den Anspruch Russlands auf Zugang zur Ostsee durchzusetzen. 1712 wurde sie die Hauptstadt Russlands. 1918 verlegten die Bolschewiki ihre Regierung nach Moskau. Über 200 Jahre lang trug sie den heutigen Namen, von 1914 bis 1924 hieß sie Petrograd (Петроград) sowie von 1924 bis 1991 Leningrad (Ленинград), womit Lenin, der Gründer der Sowjetunion, geehrt wurde. Der örtliche Spitzname ist Piter nach der ursprünglich dem Niederländischen nachempfundenen Namensform Санкт-Питербурх Sankt-Piterburch (die vier Namen ). Die Stadt ist ein europaweit wichtiges Kulturzentrum und beherbergt den wichtigsten russischen Ostseehafen. Die historische Innenstadt mit 2300 Palästen, Prunkbauten und Schlössern ist seit 1991 als Weltkulturerbe der UNESCO unter dem Sammelbegriff Historic Centre of Saint Petersburg and Related Groups of Monuments eingetragen.Mit dem 462 Meter hohen Lakhta Center befindet sich das höchste Gebäude Europas in der Stadt. == Name == Peter der Große benannte die Stadt nach seinem Schutzheiligen, dem Apostel Simon Petrus. Die Festung hieß kurzzeitig Sankt-Pieterburch, dann, wie die etwas später entstehende Stadt, Sankt Petersburg, in der Literatur auch Paterburg oder Petropol von Petropolis genannt. Zu Beginn des Ersten Weltkriegs wurde am 18. August 1914 der deutsche Name zu Petrograd – wörtlich „Peterstadt“ – russifiziert. Nach Lenins Tod 1924 wurde die Stadt am 26. Januar 1924 in Leningrad umbenannt. Dies geschah auf Antrag der damaligen Petrograder Parteiführung und nach deren Angaben auf Wunsch der Arbeiter, die Lenins Tod betrauerten. Der erneute Namenswechsel der Stadt wurde vom Zentralkomitee der KPdSU damit begründet, dass in ihr die von Lenin geführte Oktoberrevolution begonnen hatte. Auf der Ebene der Symbolpolitik gab es aber tiefere Gründe: Sankt Petersburg hatte für das zarische Russland gestanden und war die Vorzeigestadt des Zarenreichs gewesen. Schon damals war Sankt Petersburg die zweitgrößte Stadt des Landes; das bedeutete großes Prestige für den neuen Namensgeber. Die Umbenennung in Leningrad symbolisierte den Wechsel des sozialen wie politischen Systems an einer hervorgehobenen Stelle und wurde als solcher wahrgenommen. Im Volksmund wurde auch noch nach der Umbenennung (und wird noch) oft die Abkürzung Piter (russisch Питер) weiter als Spitzname für die Stadt verwendet. Die Dichterin Anna Achmatowa schrieb 1963 in ihrem Poem ohne Held, offenbar an ihren guten Freund und von ihr als „Zwilling“ bezeichneten Ossip Mandelstam gerichtet, der Opfer der stalinistischen Säuberungen wurde: „In Petersburg werden wir uns wiedersehen …“. Literatur-Nobelpreisträger Joseph Brodsky schrieb 1987 in Erinnerungen an Leningrad Nach dem Zerfall der Sowjetunion führte eine Volksabstimmung 1991 zu einer knappen Mehrheit zugunsten der Rückbenennung in Sankt Petersburg. Der Erlass vom 6. September 1991 vollzog diesen Wählerwillen. Gleichzeitig wurden viele Straßen, Brücken, Metro-Stationen und Parks wieder rückbenannt. Im Zusammenhang mit historischen Ereignissen wird nach wie vor der zum Ereignis „passende“ Name genutzt, zum Beispiel „Heldenstadt Leningrad“ beim Gedenken an den Deutsch-Sowjetischen Krieg von 1941 bis 1945, der in Russland „Großer Vaterländischer Krieg“ (Великая Отечественная война/Welikaja Otetschestwennaja woina) genannt wird. Das umliegende Verwaltungsgebiet (föderative Einheit) Oblast Leningrad (russ. Leningradskaja Oblast) behielt nach einem Beschluss des dortigen Gebietssowjets den alten Namen. == Geographie == === Lagebeschreibung und Wirkung der Ostseenähe === Die ursprünglich in einem Sumpfgebiet gebaute Stadt liegt an der Mündung der Newa in den Finnischen Meerbusen. Das Stadtgebiet umfasst etwa 1.431 km² einschließlich der administrativ seit 1999 zu Sankt Petersburg gehörenden Vororte wie Peterhof und Puschkin, davon etwa 10 Prozent Wasser. Die Stadt besteht aus 42 Inseln. Ursprünglich waren es mehr gewesen, zahlreiche Kanäle zwischen ihnen wurden jedoch mittlerweile zugeschüttet. Die Stadt selbst musste zwei bis vier Meter über dem Meeresspiegel gebaut werden, da die Newa-Mündung sich ungefähr auf Meereshöhe befindet. Daher stießen die ersten Bauarbeiter bereits in wenigen Zentimetern Tiefe auf Grundwasser. Die Ufer wurden schon früh mit Granitblöcken befestigt, was Sankt Petersburg nicht nur vor dem Wasser schützt, sondern viel zum spezifischen Stadtbild beiträgt. Alexander Puschkin beschrieb es als: „Die Stadt kleidet sich in Granit“. Durch ihre Lage wenige Meter über dem Meeresspiegel ist die Stadt stets durch Hochwasser bedroht. Das auf einer nahen Insel gelegene Kronstadt ist ein Referenzpunkt für das Höhennull. Die Bezugsfläche dieses Kronstädter Pegels liegt etwa 15 Zentimeter höher als der in Deutschland gültige Amsterdamer Pegel und ist in großen Teilen Osteuropas und war in den Neuen Bundesländern bis 1993 Referenzpunkt für Höhenangaben. Die Stadt wurde oft ein Opfer von Überschwemmungen. Die offizielle Statistik zählt seit der Stadtgründung 295 Überschwemmungen (Stand: 2003), davon allein 44 seit 1980. Die schlimmsten Fluten waren 1824 (je nach Statistik 200 bis 500 Tote) und 1924. === Klima === Sankt Petersburg liegt auf demselben Breitengrad wie die Städte Oslo und Stockholm, der Südteil Alaskas und die Südspitze Grönlands. Es hat ein typisches Meeresklima, das Wetter ist wechselhaft und kann innerhalb kurzer Zeit umschlagen. Die Sommer sind vergleichsweise mild mit Durchschnittstemperaturen von 19 bis 22 °C, im Winter sinken die Durchschnittstemperaturen allerdings auf −4 bis −8 °C. Die Maxima betragen +37 °C im Sommer (2010) und −42 °C im Winter (1941 und andere, allerdings unsichere Angaben). Aufgrund der Lage wird es zur Zeit der Sommersonnenwende nachts nicht vollständig dunkel (sog. „Weiße Nächte“). === Wirkung der Newa === Die Newa ist mit 74 Kilometer Länge zwar ein sehr kurzer, aber einer der wasserreichsten Flüsse Europas. Sie wird bis zu 600 Meter breit und hat eine starke Strömung. Rund 28 Kilometer seiner Strecke legt der Fluss innerhalb des Stadtgebiets von Sankt Petersburg zurück. Bis in das 19. Jahrhundert hinein genügte die Biologie der relativ flachen Bucht der Newa allein, um das Abwasser aus Sankt Petersburg zu reinigen. Noch immer machen die Abwässer der 5 Millionen Einwohner zählenden Industriestadt erst 2 Prozent der Gesamtwassermenge der Newa aus. Mitte des 19. Jahrhunderts jedoch brachen erste wassergebundene Epidemien wie Cholera und Typhus aus. Allein während der Typhus-Epidemie von 1908 starben etwa 9000 Menschen. Durch eine Änderung der Einleitungsbedingungen konnte dem Problem ab 1910 vorerst abgeholfen werden. In den 1950er und 1960er Jahren sorgte der starke Anstieg der Bevölkerungszahlen erneut für eine Eskalation des Abwasserproblems. Hinzu kam die stärkere Verschmutzung der Newa an ihrem Flusslauf – sie entwässert den Ladogasee, an dessen Ufer zahlreiche Fabriken liegen und der selbst über seine Zubringer das Schmutzwasser zahlreicher russischer Städte aufnimmt. Eine Kläranlage wurde gebaut, allerdings erreichen 25 bis 30 Prozent der städtischen Abwässer ungeklärt den Fluss und die Bucht. In der Bucht leben vor allem Süßwasser- aber auch einige Brackwasserbewohner. Das biologische System ist hoch veränderlich und leidet unter menschlichen Eingriffen. Neben Moskau gilt Petersburg als eine der am stärksten verschmutzten Städte Russlands. Seit 1978 ließ die sowjetische Regierung den Petersburger Damm quer durch die Newabucht bauen, um die Stadt vor Überschwemmungen zu schützen. Im Gegensatz zu den meisten Überflutungen durch Flüsse rühren die Überschwemmungen an der Newa nämlich nicht daher, dass der Fluss von seinem Oberlauf mehr Wasser mitbringt, sondern daher, dass Westwind in den Finnischen Meerbusen drückt und den Abfluss des Wassers verhindert oder in extremen Fällen die Fließrichtung umkehrt. Die Konstruktion wurde Ende der 1980er Jahre aus Gründen des Umweltschutzes vorläufig abgebrochen: Der Damm störte die Zirkulation des Küstenwassers, große Teile des Wassers standen still, die Wasserqualität sank erheblich. Befürchtungen gehen dahin, dass die gesamte Bucht sich in einen Sumpf verwandeln könnte. Der Damm wurde jedoch seit 1990 mit niederländischer Hilfe und Unterstützung der Europäischen Investitionsbank weiter gebaut und 2010 vollendet. Da die Umweltschutzargumente gegen den Damm aber weiterhin vorhanden sind, bleibt das Thema in der Stadt sehr umstritten. == Verwaltungsgliederung == Sankt Petersburg gliedert sich in 18 „Rajon“ genannte Stadtbezirke, die ihrerseits in insgesamt 111 Verwaltungseinheiten der nächsten Ebene unterteilt sind (81 munizipale Bezirke, 9 Städte, 21 Siedlungen). Anmerkungen: == Geschichte == === Vorgeschichte, Gründung und Aufbau der Stadt === Die Stadtgründung von Sankt Petersburg ist Gegenstand eines um Peter den Großen gewobenen politischen Mythos. Danach soll der Zar bereits bei deren erstem Anblick eine unbewohnte und öde Sumpflandschaft an der Newa-Mündung zum Standort seiner zukünftigen Hauptstadt, eines „Fensters nach Europa“ für Russland, ausgewählt haben. Die wortmächtigste und am häufigsten zitierte Ausformulierung dieses Mythos von der eine „Hauptstadt aus dem Nichts“ erschaffenden Willenskraft Peters des Großen findet sich in dem Gedicht Der eherne Reiter (1834) von Alexander Puschkin. Tatsächlich war der Bereich der unteren Newa schon lange zuvor Teil einer Kulturlandschaft, des Ingermanlandes. Dort lebten seit dem 10. Jahrhundert Vertreter verschiedener finno-ugrischer Völker größtenteils von der Landwirtschaft. Zu Beginn des 14. Jahrhunderts stritten Schweden und Nowgorod um das Gebiet. Eine als Landskrona überlieferte schwedische Siedlung an diesem Ort wurde angeblich im Jahr 1301 zerstört. Danach einigte man sich darauf, die Region als Pufferzone zwischen den Einflusssphären zu betrachten, in der keine Festungen errichtet werden durften. In den folgenden Jahrhunderten wurde das Gebiet zumindest als Landungsstelle für die Newa befahrende Schiffe genutzt, möglicherweise aber als Handelsplatz. Letzteres gilt sicher für die Zeit einer erneuten schwedischen Dominanz in der Region nach der Errichtung der Festung Nyenschanz im Jahr 1611 und der sie bald umgebenden Siedlung Nyen. Beide lagen auf dem Stadtgebiet des heutigen Sankt Petersburg am nördlichen (oder rechten) Ufer der Newa. Es gibt Hinweise auf größere städtebauliche Ambitionen der Schweden für Nyen im 17. Jahrhundert. Allerdings erlebten diese Vorhaben einen herben Rückschlag, als Siedlung und Festung 1656 während des Zweiten Nordischen Krieges von russischen Truppen zerstört wurden. Dem Wiederaufbau folgte am 1. Mai 1703, während des Großen Nordischen Krieges, die endgültige Eroberung von Nyenschanz durch die newaabwärts vorrückenden Russen unter Scheremetew. Nyen war zu diesem Zeitpunkt bereits von den Schweden selbst präventiv geräumt und teilweise zerstört worden. Das Ende von Nyen und Nyenschanz markierte gleichzeitig den Beginn der Stadtgeschichte von Sankt Petersburg. Offiziell verbindet man ihn mit dem Datum 16. Maijul. / 27. Mai 1703greg.. An diesem Tag wurde auf einer Nyenschanz gegenüber gelegenen Insel im Newa-Delta der Grundstein für die nach dem Namenspatron des Zaren benannte Peter-und-Paul-Festung gelegt. In Urkunden und Karten aus der Gründungszeit finden sich neben der deutschen Bezeichnung Sankt Petersburg die niederländisch klingenden Sankt Piter Bourgh oder St. Petersburch. Es gibt keine Quellen, die glaubhaft belegen würden, dass Peter der Große das Bollwerk von Beginn an als Keimzelle einer größeren Siedlung oder gar seiner zukünftigen Hauptstadt angesehen hätte. In erster Linie sollte die Peter-und-Paul-Festung zunächst wohl die Funktion von Nyenschanz übernehmen, also die Newa-Mündung strategisch absichern, nur jetzt für die Russen. Die äußeren Bedingungen für eine Stadtgründung waren denkbar ungeeignet, soweit stimmt die Überlieferung. Das Delta wurde häufig von Überschwemmungen heimgesucht, ein Großteil der Gegend war nicht einmal für die Landwirtschaft geeignet. Nur einige Fischer hielten sich hier in den Sommermonaten auf. Später sollte es aufgrund der ungünstigen Lage immer wieder zu Überschwemmungen kommen, bei denen zahlreiche Bewohner ihr Leben ließen. Dass Peter der Große trotz der widrigen Gegebenheiten diesen Ort schließlich für seine neue Hauptstadt auswählte, ist auf die Tatsache zurückzuführen, dass hier vorzüglich ein Seehafen angelegt werden konnte und zudem der Anschluss an das binnenrussische Flusssystem gegeben war. Im Stadtwappen wird dies ausgedrückt, indem neben dem Zepter sowohl ein See- als auch ein Binnenanker dargestellt werden. Des Weiteren war die Nähe zu Westeuropa ausschlaggebend, ging es Peter dem Großen doch darum, Russland zu modernisieren. Erst ab dem Jahr 1706 ist, durch die Zwangsrekrutierung zahlreicher Leibeigener für die Bauarbeiten an der Newa-Mündung, ein wirklicher Plan für die Errichtung einer neuen Stadt erkennbar. Sobald dieses Ziel vor Augen stand, wurde es mit großem Nachdruck und mit Rücksichtslosigkeit von Zar Peter in wenigen Jahren umgesetzt. Während die Stadt in ihren Grundmauern erstand, verbot er die Errichtung von Steingebäuden in ganz Russland außerhalb Sankt Petersburgs – jeder verfügbare Steinmetz sollte an der Erbauung der neuen russischen Hauptstadt arbeiten. Die Flucht von Arbeitern aus der Stadt und vom oft tödlichen Bauprojekt wurde mit harten Strafen geahndet. 1706 wurden 30.000 Leibeigene im Zarentum Russlands zwangsrekrutiert, 1707 waren es 40.000. Ungefähr die Hälfte von ihnen schaffte es, auf dem Weg nach Nordwesten zu fliehen. Schon während der Errichtung der Stadt kamen vermutlich Zehntausende von Zwangsarbeitern und Leibeigenen ums Leben. Sie starben an Sumpffieber, Skorbut, an der Ruhr oder einfach an Hunger und Entkräftung. Große Teile der Stadt sind auf Pfählen im Boden errichtet, aufgrund der großen Zahl von Toten beim Bau sprechen viele Leute davon, dass sie eigentlich auf Skeletten ruht. Zudem befand Russland sich noch bis 1721 im Krieg gegen Schweden, mehrere Gefechte fanden in der Nähe der gerade gegründeten Zarenresidenz statt (vgl. Angriffe auf Sankt Petersburg). Erst nachdem die Schweden 1709 in der Schlacht bei Poltawa geschlagen worden waren, konnte die Stadt weitgehend als gesichert angesehen werden. Da der russische Adel nicht bereit war, in die Stadt zu ziehen, beorderte Peter ihn nach Sankt Petersburg. Die Familien mussten auf eigene Kosten mit ihrem gesamten Haushalt in die Stadt ziehen, in Häuser, deren Stil und Größe genau festgeschrieben waren. 1714 standen in Sankt Petersburg etwa 50.000 bewohnte Häuser, die Stadt war die erste in Russland, die eine offizielle Polizei sowie eine effektiv funktionierende Feuerwehr hatte. Die Innenstadt wurde abends und nachts künstlich beleuchtet, die Bewohner dazu angehalten, Bäume zu pflanzen. === Sankt Petersburg wird Hauptstadt === Das Bauprogramm des Zaren konnte nur mit drastischen Maßnahmen durchgeführt werden. Baumaterialien waren an der Newamündung ein seltenes Gut. So wurde 1710 ein Erlass herausgegeben, nach dem jeder Einwohner der Stadt jährlich 100 Steine abliefern oder aber eine hohe Geldstrafe zahlen musste. Jedes Frachtschiff, das die Stadt anlief, musste einen bestimmten Prozentsatz der Ladung Steine anliefern. Ein Erlass von 1714 besagte, dass Steinbauten nur noch in Sankt Petersburg gebaut werden durften (dieser Erlass wurde erst 1741 wieder aufgehoben). Die drakonischen Erlasse des Zaren zeigten Erfolg: Schon 1712 erklärte Peter der Große Sankt Petersburg anstelle von Moskau zur Hauptstadt des Russischen Zarentums (ab 1721: des Russischen Kaiserreichs). Bis auf ein kleines Zwischenspiel in den Jahren 1728–1732, als der Hof wieder in Moskau residierte, blieb Petersburg bis 1918 Hauptstadt Russlands. === Blütezeit === Peter ließ Handwerker und Ingenieure aus ganz Europa, insbesondere aus Deutschland und den Niederlanden, kommen, welche die neue Hauptstadt von Anfang an zu einem Zentrum europäischer Technik und Wissenschaft machen sollten. Zu dieser Zeit wurde die deutschsprachige St. Petersburgische Zeitung gegründet, die erste Zeitung der Stadt. Das Wachstum der Stadt hielt weiter an. So zählte St. Petersburg 1725 bereits 70.000 Einwohner. Nach dem Tod Peters des Großen 1725 legte sich der Enthusiasmus der russischen Herrscher für das Fenster nach Europa. Im Jahr 1727 wurde Moskau für kurze Zeit wieder Hauptstadt. Erst Kaiserin Anna kehrte nach Sankt Petersburg zurück und machte St. Petersburg erneut zur Hauptstadt. Annas stadtplanerische Entscheidungen prägen Petersburg bis in das 21. Jahrhundert. Sie verlegte zum einen das Stadtzentrum von der sogenannten Petrograder Seite auf die Admiralitätsseite der Newa, zum anderen legte sie die wichtigsten Hauptstraßen, den Newski-Prospekt, die Gorochowaja Uliza und den Wosnessenski-Prospekt an. Trotzdem residierte sie weiterhin lieber und öfter in Moskau. Kaiserin Elisabeth (1741–1762) und vor allem Katharina II. „die Große“ (1762–1796) öffneten das Reich wieder verstärkt nach Westen, indem sie Künstler und Architekten nach Sankt Petersburg holten. Durch das Einladungsmanifest Katharinas wurden unter anderem Religionsfreiheit und die Selbstverwaltung auf lokaler Ebene mit Deutsch als Sprache zugesichert, ferner eine finanzielle Starthilfe. In der Zeit Elisabeths entstanden die meisten der Prunkbauten, die noch immer das Stadtbild bestimmen. Sie ließ unter anderem den Winterpalast und das Smolny-Kloster bauen. Den Katharinenpalast ließ sie zu Ehren ihrer Mutter umgestalten, der Stil Francesco Rastrellis begann die Stadt zu prägen. Die nach Peter wahrscheinlich wichtigste Gestalt in der Geschichte der Stadt ist Katharina die Große, die 1762 den Thron bestieg. Sie sah sich – zumindest bis die Französische Revolution ausbrach – dem Geist der Aufklärung verpflichtet und setzte auf Bildung und Kunst. Katharina II. gründete in ihrer Zeit 25 akademische Einrichtungen sowie mit dem Smolny-Institut die erste staatliche russische Schule für Mädchen. Das Reiterstandbild Peters des Großen, ein Wahrzeichen der Stadt, stammt ebenfalls aus dieser Zeit. Ende des 18. und in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts erlebte die Stadt eine Blütezeit, vorerst vor allem auf kulturellem, später auf wissenschaftlich-technischem Gebiet. Die erste russische Ballettschule entstand 1738 in der Stadt. 1757 eröffnete die Akademie der Künste, in der seitdem Maler, Bildhauer und Architekten ausgebildet werden. Theater und Museen, höhere Schulen und Bibliotheken entstanden: 1783 wurde das Mariinski-Theater eröffnet, in dem später die großen Nationalopern Michail Glinkas aufgeführt werden sollten. 1810 wurde eine militärische Ingenieursschule gegründet, das erste höhere Bildungsinstitut für Ingenieure in Russland (nach mehreren Umbenennungen, so 1855 in Nikolajewski-Militärakademie für Ingenieurswesen und zuletzt 1997, besteht sie nunmehr als Militärische ingenieurtechnische Universität). 1819 wurde aus dem Pädagogischen Institut die Petersburger Universität. Bis auf wenige Ausnahmen waren vor allem deutsche Handwerker daran beteiligt, dass Sankt Petersburg Zentrum des russischen Klavierbaus wurde. Im Verlauf des 19. Jahrhunderts gab es in Sankt Petersburg 60 Manufakturen und Fabriken für Klavierbau, darunter Tischner, Diederichs, Mühlbach, Becker, Lichtenthal, Tresselt, Ihse oder Wirth. Die Aufhebung der Leibeigenschaft in Russland durch Kaiser Alexander II. sorgte ab 1861 dafür, dass zahlreiche Menschen in die Stadt einwanderten. Die Bevölkerungszahl schnellte innerhalb weniger Jahre empor. Schriftsteller und Intellektuelle schlossen sich in literarischen Kreisen zusammen und gaben Wörterbücher und Zeitschriften heraus. Der Brockhaus-Efron entstand 1890 als erste russische Enzyclopädie in Sankt Petersburg. Zu den wichtigsten Zeitschriften zählen etwa der Polarstern von Rylejew und Bestuschew oder Puschkins Sowremennik (Der Zeitgenosse). === Aufstände, Attentate, Revolutionen === In der Soldaten- und Regierungsstadt Sankt Petersburg fanden bis 1918 alle wichtigen Revolten und Revolutionen der russischen Geschichte statt, der Dekabristenaufstand 1825 ebenso wie die Ereignisse, die langfristig zur Gründung der Sowjetunion führten. In Sankt Petersburg nahmen Ende des 19. Jahrhunderts Unruhen und kleinere Aufstände zu. Die Stadt war Schauplatz zahlreicher Attentate gegen Mitglieder des Zarenhofs und der russischen Verwaltung; unter anderem wurde hier 1881 Alexander II. ermordet. Revolutionäre Parteien und Vereinigungen gründeten sich, die von der Polizei blutig verfolgt wurden. In Sankt Petersburg begann mit dem Petersburger Blutsonntag die Revolution von 1905 bis 1907. Als Folge wurde die zweite Duma der russischen Geschichte in der Stadt eröffnet, sie blieb politisch allerdings einflusslos. Die Februarrevolution 1917 fand vor allem in Sankt Petersburg statt. Das Startsignal für die Oktoberrevolution 1917 gab ein Schuss des Kreuzers Aurora im Petrograder Hafen. Der nahe gelegene Hafen von Kronstadt bildete das Zentrum eines anarchistisch und rätekommunistisch inspirierten Matrosenaufstands gegen die Diktatur der Bolschewiki, der von Leo Trotzki blutig niedergeschlagen wurde. Lenin erklärte Moskau (wieder) zur sowjetischen und russischen Hauptstadt. Die Bevölkerungszahl der Stadt sank innerhalb weniger Jahre erheblich primär durch Bürgerkrieg und die dadurch verursachte Hungersnot und sekundär durch den Statusverlust und den Umzug der gesamten Regierung und Verwaltung nach Moskau. === Leningrad === Nach dem Tode Lenins wurde die ehemalige Stadt der Zaren in Leningrad umbenannt. Dies beschloss der zweite Rätekongress der UdSSR am 26. Januar 1924 auf einen entsprechenden Wunsch des Petrograder Rates der Deputierten hin. Das Machtzentrum der Sowjetunion verschob sich dennoch immer mehr nach Moskau. Hatten die Funktionäre der KPdSU in Leningrad anfangs noch gesamtstaatlichen Einfluss, änderte sich das mit dem Ausbau der persönlichen Macht Stalins. 1934 wurde im Rahmen der stalinistischen Säuberungen der populäre Leningrader Parteichef Sergei Kirow in seinem Büro ermordet, der ehemalige Vorsitzende des Petrograder Sowjets Grigori Sinowjew fiel einem Schauprozess zum Opfer, ein anderer ehemaliger Vorsitzender des Petrograder Sowjets, Leo Trotzki, wurde 1940 im mexikanischen Exil umgebracht. In der Stadtplanung zeigte sich die Auseinandersetzung zwischen Moskau und Leningrad. Der Generalplan von 1935 sah vor, das Stadtzentrum nach Süden zu verlegen, an den neu geschaffenen Moskauer Platz am Moskauer Prospekt. Zentrum Leningrads sollte das an dessen Ostseite gelegene Haus der Sowjets werden, ähnlich dem für Moskau geplanten Palast der Sowjets. Der Moskauer Platz und seine Umgebung sind in der Form des typischen Zentrums der Sozialistischen Stadt angelegt, wie man es dutzendfach in der Sowjetunion finden konnte. Der Ausbruch des Zweiten Weltkriegs und materielle Schwierigkeiten bedeuteten schließlich das Aus für die Verlegung des Zentrums. Der Platz ist der größte der Stadt. Beobachter werten den Leningrader Generalplan allgemein als Angriff auf das alte Petersburg. Durch die Verlegung des Zentrums sollte das alte Sankt Petersburg abgewertet werden. Form und Benennung („Moskauer Platz“, „Moskauer Prospekt“) der neuen Mitte sollten der Stadt ihre Besonderheit nehmen und sie zu einer unter vielen Sowjetstädten machen. Leningrader Blockade Während des Zweiten Weltkrieges wurde die Stadt 871 Tage lang von deutschen Truppen unter Generalfeldmarschall Wilhelm Ritter von Leeb (Oberbefehl bis 16. Januar 1942) belagert. In der Zeit der Belagerung vom 8. September 1941 bis zum 27. Januar 1944, in der die Wehrmacht auf Befehl Hitlers keine Eroberung Leningrads versuchte, sondern stattdessen die Stadt systematisch von jeglicher Versorgung abschnitt, starben über eine Million Zivilisten. Eine geheime Weisung des Oberkommandos der Wehrmacht vom 23. September 1941 lautete: „Der Führer ist entschlossen, die Stadt Petersburg vom Erdboden verschwinden zu lassen. Es besteht nach der Niederwerfung Sowjetrusslands keinerlei Interesse am Fortbestand dieser Großsiedlung.“ Ab Frühjahr 1942 wurde das historische Ingermanland, zu dem ein Großteil des Gebietes von Leningrad gehörte, dann als „deutsches Siedlungsgebiet“ in die Annexionspläne des Generalplans Ost mit einbezogen. Das implizierte den Genozid an den etwa drei Millionen Einwohnern Leningrads, die in dieser „Neuordnung des Ostraums“ keinen Platz mehr gehabt hätten. In der Zeit der deutschen Belagerung Leningrads konnten Nahrungsmittel zur Versorgung der Millionenstadt nur unter großen Gefahren per Flugzeug oder im Winter über den vereisten Ladogasee per Eisenbahn und Lkw („Straße des Lebens“) nach Leningrad gebracht werden. Die Route über den See lag im Schussfeld der Wehrmacht, im Schnitt kam von drei gestarteten Lastkraftwagen einer in Leningrad an. Besonders dramatisch war die Situation im Jahr 1941. Durch Luftangriffe wurde ein Großteil der Nahrungsmittelvorräte vernichtet, zudem brach der Winter ungewöhnlich früh ein. Der Abwurf gefälschter Lebensmittelbezugsscheine aus Flugzeugen der Wehrmacht tat ein Übriges. Die Rationen sanken im Oktober auf 400 Gramm Brot für Arbeiter, 200 Gramm für Kinder und Frauen. Am 20. November 1941 wurden sie auf 250 Gramm respektive 125 Gramm reduziert. Zudem herrschten Temperaturen von bis zu −40 Grad Celsius in einer Stadt, in der Heizmaterial äußerst knapp war. Allein im Dezember 1941 starben rund 53.000 Menschen. Viele von ihnen fielen einfach vor Entkräftung auf der Straße um. Während der Belagerung wurden etwa 150.000 Artilleriegeschosse auf die Stadt abgeschossen, etwa 100.000 Fliegerbomben fielen. Bei Versuchen der Roten Armee, die Belagerung zu sprengen, kamen dazu etwa 500.000 sowjetische Soldaten ums Leben. Versuche 1941 und 1942 scheiterten, erst mit der Einnahme von Schlüsselburg am 18. Januar 1943 gelang es, wieder eine Versorgungslinie in die Stadt zu etablieren. Die Offensive, welche die Stadt befreien sollte, begann am 14. Januar 1944 und konnte am 27. Januar 1944 zum Abschluss gebracht werden. Bis in die 1980er Jahre wurde die Leningrader Blockade von einigen Historikern nicht in Zusammenhang mit der nationalsozialistischen Vernichtungspolitik gesehen, sondern davon abgekoppelt, beispielsweise von Joachim Hoffmann, als völkerrechtlich „zu den gebräuchlichen und unbestrittenen Methoden der Kriegführung“ gehörend gewertet. In der gegenwärtigen historischen Forschung wird der Charakter der Blockade als „Genozid“ herausgearbeitet, der kein schicksalhaftes Ereignis im Rahmen einer angeblich völkerrechtskonformen Kriegführung darstellte, sondern auf Basis einer „rassistisch motivierten Hungerpolitik“, verbunden mit selbstgeschaffenen Sachzwängen integraler Bestandteil des deutschen Vernichtungskrieges gegen die Sowjetunion war. Die Historiker Jörg Ganzenmüller, Johannes Hürter und Adam Tooze zeigen in jüngeren Studien, dass der Hungertod der Bewohner sowjetischer Städte, mit Leningrad an herausragender Stelle, von der deutschen Kriegführung gezielt einkalkuliert war, schon weil die für ihre Versorgung notwendigen Nahrungsmittel für die Wehrmacht und die Zivilbevölkerung in Deutschland und den besetzten westeuropäischen Ländern eingeplant waren. === Nach dem Zweiten Weltkrieg === Die Behandlung Leningrads nach dem Großen Vaterländischen Krieg, wie der Kampf gegen Deutschland im Zweiten Weltkrieg in Russland genannt wird, war widersprüchlich. Einerseits war die Stadt zu dem sowjetischen Symbol von Widerstandswillen und Leiden im Krieg geworden – andererseits tobten Machtkämpfe zwischen Leningrader und Moskauer Funktionären noch bis in die 1950er Jahre hinein. Der Wiederaufbau Leningrads wurde zu einer Prestigeangelegenheit der Sowjetunion. Innerhalb kürzester Zeit wurde eine Million Arbeiter in die Stadt gezogen, die sie wiederaufbauten – die Restaurierung der Kulturdenkmäler besaß dabei eine besondere Wertigkeit. 1945 erhielt die Stadt die Auszeichnung als Heldenstadt. In der Stadt bestanden die beiden Kriegsgefangenenlager 254 und 339 für deutsche Kriegsgefangene des Zweiten Weltkriegs. Schwer Erkrankte wurden im Kriegsgefangenenhospital 1261 versorgt. Ebenfalls in den Nachkriegsjahren wurden zahlreiche neue Stadtteile gebaut – 1953 war das Jahr, in dem mehr neuer Wohnraum in der Stadt geschaffen wurde als je vorher oder nachher. Das 250-jährige Stadtjubiläum wurde verschoben: 1953 war der Machtkampf noch im Gange und jede positive Erwähnung unerwünscht – zudem war im März Stalin gestorben; eine Feierlichkeit, egal aus welchem Anlass, erschien nicht angebracht. Die Feier wurde 1957 unter Stalins Nachfolger Chruschtschow nachgeholt – ohne die Erwähnung, dass es eigentlich der 254. Geburtstag war. In den Folgejahren hielt die Stadt ihren Ruf als große Industriestadt und eines der wissenschaftlichen Zentren der Sowjetunion. Das politisch-kulturelle Zentrum Russlands und der Sowjetunion lag zu dieser Zeit aber klar in Moskau. Die Bevölkerung war durch die Ereignisse der Kriegs- und Nachkriegszeit ebenfalls zu einem Großteil ausgetauscht worden – die Verbundenheit mit Petersburg in der Stadt wurde zunehmend schwächer. 1988 wurde bei einem Brand in der Bibliothek der Russischen Akademie der Wissenschaften ungefähr eine Million Bibliotheksbände ein Opfer der Flammen. 1989 wurde die Innenstadt unter Denkmalschutz gestellt. 1990 wurde die Innenstadt von Sankt Petersburg und die dazugehörigen Monumente zum UNESCO-Weltkulturerbe ernannt. 1991 zerfiel die Sowjetunion. === Russische Föderation, Sankt Petersburg === Nach einer Volksabstimmung, in der sich am 12. Juni 1991 54 Prozent der Bevölkerung für die Rückkehr zum historischen Namen ausgesprochen hatten, stimmte der Stadtrat am 25. Juni 1991 der Umbenennung mit großer Mehrheit zu und die Stadt erhielt am 6. September 1991 durch ein Dekret des Präsidiums des Obersten Sowjets der UdSSR wieder den Namen Sankt Petersburg. Die umgebende Verwaltungseinheit blieb aber weiterhin als Leningrader Gebiet (Oblast Leningrad) bestehen. Während der Verfassungskrise unter Präsident Boris Jelzin im Oktober 1993 sammelte der damalige Petersburger Oberbürgermeister Anatoli Sobtschak die Anhänger Jelzins um sich, es kam zu einer großen Demonstration vor dem Winterpalast gegen den Kongress der Volksdeputierten. 1999 wurde die Fläche der Stadt Sankt Petersburg durch die Satellitenstädte Kolpino, Puschkin, Lomonossow, Kronstadt, Peterhof sowie angrenzende Vororte erweitert. Diese ehemaligen Städte sind jetzt Stadtbezirke von St. Petersburg und gehören daher nicht mehr administrativ und territorial zur Oblast Leningrad. Am 27. Mai 2003 beging die Stadt ihr 300-jähriges Jubiläum. Zur Vorbereitung wurden Teile der Altstadt und verschiedene Paläste saniert. Der russische Staat gab dafür ein bis zwei Milliarden Euro aus. An den Kosten der Nachbildung des im Zweiten Weltkrieg verschollenen Bernsteinzimmers beteiligte sich die deutsche Firma Ruhrgas, eng verbunden mit dem staatlichen russischen Energiekonzern Gazprom, durch eine Spende von 3,5 Millionen Dollar. Am 31. Mai des Jahres weihten Russlands Präsident Wladimir Putin und Deutschlands Bundeskanzler Gerhard Schröder das rekonstruierte Bernsteinzimmer ein. Im Juli 2006 trafen sich hier internationale Politiker auf einem G8-Gipfel und im September 2013 auf einem G20-Gipfel. Durch einen Terroranschlag am 3. April 2017 wurden 14 Menschen in einem Zug in der Metro Sankt Petersburg getötet.Seit 1. Oktober 2019 ist ein visumfreier Besuch von bis zu 8 Tagen per E-Visum, das kostenfrei erteilt wird, für EU-Bürger möglich.Ab 2020 wurden die Gemeindeabgeordneten des Bezirks Smolninskoje an der Abhaltung ihrer Sitzungen im Bezirksgebäude gehindert; sie beschlossen daraufhin, jeweils auf dem Balkon zu tagen. Die beschlussfähigen Anwesenden der Sitzung vom 7. September 2022 besprachen neben dem Verkehrsproblem und dem Unterhalt von Fußgängerübergängen auch einen Antrag an die Russische Duma zur Anklage Wladimir Putins wegen Hochverrats aufgrund des gegen die Interessen Russlands begonnenen Überfalls auf die Ukraine. Der Antrag wurde mit sieben Stimmen bei drei Enthaltungen angenommen. Rein rechtlich muss der Beschluss protokolliert werden und müssen die Briefe an die Dumamitglieder versendet werden, welche den Hinweis auf laut Artikel 176, Kapitel 22, Abschnitt IV der Geschäftsordnung der Staatsduma enthalten, wonach die Duma-Abgeordneten das Recht haben, einen Antrag auf gerichtliche Klärung zu stellen. Der Appell wurde speziell formuliert, um die Armee nicht zu „diskreditieren“. Sofort wurden Ermittlungen exakt deswegen aufgenommen. == Politik == Sankt Petersburg ist Verwaltungssitz der Oblast Leningrad und des Föderationskreises Nordwestrussland. Innerhalb Russlands ist die Stadt jedoch – genauso wie Moskau – ein eigenständiges Verwaltungssubjekt. Die Spitze der Exekutive bildet der für vier Jahre direkt gewählte Gouverneur der Stadt. Die Legislative, die gesetzgebende Versammlung, besteht aus 50 hauptamtlichen Mitgliedern, die ebenfalls für vier Jahre gewählt werden. Der Vorsitzende der Kammer ist protokollarisch mit dem Gouverneur gleichgestellt. 1996 war es Wladimir Jakowlew, der Anatoli Sobtschak ablöste. Er präsentierte sich mehrfach als ideologisch ungebundener Pragmatiker. Sobtschak war hingegen ein strikter Reformer der nach-kommunistischen Ära, der aufgrund seines radikal marktwirtschaftlichen Kurses viele Animositäten in der Stadt erzeugte. Er verweigerte mehrmals die Entlassung Wladimir Putins aufgrund von Korruptionsvorwürfen, als dieser noch in der Stadtregierung arbeitete. Putin organisierte den erfolglosen 1996er-Wahlkampf von Sobtschak. Jakowlew trat im Oktober 2003 nicht mehr zur Neuwahl an. Seine Nachfolgerin wurde nach diesen Wahlen Walentina Matwijenko. Sie war die Favoritin Putins und der russischen Regierung. Matwijenko trat im August 2011 zurück und wurde im September als Vertreterin der Exekutive St. Petersburgs Vorsitzende des russischen Föderationsrats und somit zur Trägerin des dritthöchsten Staatsamtes in Russland. Gouverneur von 2011 bis 2018 war Georgi Poltawtschenko. Der Sohn eines aus Aserbaidschan nach Leningrad versetzen Marineoffiziers erhielt 1979–1980 eine Ausbildung an der KGB-Hochschule in Minsk. Danach übernahm er verschiedene Aufgaben beim KGB und beim KGB-Nachfolgedienst FSB. Von 1992 bis 1993 war er Leiter der Steuerfahndung und 1993 bis 1999 Chef der Steuerpolizei in Sankt Petersburg. Präsident Wladimir Putin ernannte ihn 1999 zum Vertreter des russischen Präsidenten in der Oblast Leningrad, später zum Generalgouverneur für Zentralrussland. In dieser Funktion war er Mitglied im russischen Sicherheitsrat. Am 30. August 2011 wurde er zum amtierenden Gouverneur von Sankt Petersburg ernannt und dem Stadtparlament zur Wahl vorgeschlagen. Von 52 Abgeordneten der gesetzgebenden Versammlung stimmten 37 für ihn. Am 31. August 2011 wurde er in sein Amt eingeführt. Seit dem 3. Oktober 2018 bis zur Gouverneurswahl im September 2019 war Alexander Beglow als kommissarischer Gouverneur eingesetzt. Am 8. September 2019 wurde er mit fast zwei Dritteln der Stimmen ins Amt gewählt. International und in Deutschland bekannt wurde die Stadt politisch unter anderem durch den Petersburger Dialog – die regelmäßigen deutsch-russischen Gespräche in der Stadt – und das Petersburger Komitee der Soldatenmütter, das regelmäßig gegen den Krieg in Tschetschenien und gegen die Gewalt in der Armee protestiert. Im Juli 2006 fand in Sankt Petersburg außerdem der jährliche G8-Gipfel statt, da Russland 2006 turnusgemäß den Vorsitz in der Gruppe der Acht übernommen hatte. 2013 fand am 5. und 6. September das Treffen der Gruppe der zwanzig wichtigsten Industrie- und Schwellenländer in Sankt Petersburg statt. == Wappen == == Bevölkerung == === Überblick === Laut dem Ergebnis der letzten Volkszählung vom 14. Oktober 2010 hatte Sankt Petersburg 4.879.566 Einwohner. Das sind etwa drei Prozent der gesamten Einwohnerzahl Russlands. Im September 2012 wurde der fünfmillionste Einwohner registriert. Der durchschnittliche Bruttomonatslohn betrug 2009 nach offiziellen Angaben 23.000 Rubel. Sankt Petersburg war seit seiner Gründung eine Stadt großer sozialer Gegensätze. Seit der Perestroika und dem Untergang der Sowjetunion brechen diese wieder verschärft auf. In Sankt Petersburg galt eine Zuzugsperre – Wohnrecht in der Stadt erhielt nur, wer Wohnung und Arbeit nachweisen konnte oder mit einem Einwohner verheiratet war. Die Internationale Arbeitsorganisation schätzte, dass in der Stadt im Jahr 2000 etwa 16.000 Straßenkinder lebten. Zu Beginn der COVID im Frühjahr 2020 gab es laut offizieller Statistik 8.000 Obdachlose.Die ehemals multikulturell geprägte Stadt ist zu Beginn des 21. Jahrhunderts überwiegend, laut offizieller Statistik zu 89,1 %, von ethnischen Russen bewohnt. Dazu kommen 2,1 % Juden, 1,9 % Ukrainer, 1,9 % Belarussen sowie kleinere Gruppen von Tataren, Kaukasiern, Usbeken, Wepsen und Finnen. Trotz der zu Sowjetzeiten staatlich verordneten Religionsfeindschaft sind 2004 nach Schätzungen nur noch 10 Prozent der Bevölkerung Atheisten. Der Großteil ist russisch-orthodox, wobei es in der Stadt aber heftige Auseinandersetzungen zwischen Traditionalisten und Reformern gibt. Die Kirchengebäude gehören überwiegend dem russischen Staat. Peter der Große untersagte den Bau von Zwiebeltürmen. Dies ist der Grund, dass sich in der ganzen Stadt nur ein einziger solcher Turm aus der Vorkriegszeit findet – er befindet sich an der Stelle, wo Zar Alexander II. ermordet und die Auferstehungskirche für ihn errichtet wurde. Die zahlreichen Kirchenneubauten in den Randgebieten werden hingegen meist im traditionellen russischen Stil errichtet. 1914 wurde von der tatarischen Gemeinde am Nordufer der Newa die weithin sichtbare Petersburger Moschee errichtet. In der Nähe des Mariinski-Theaters befindet sich die im orientalischen Stil erbaute und 2003 komplett renovierte Synagoge. Sie ist das drittgrößte jüdische Gotteshaus in Europa. → Liste von Kirchen in Sankt Petersburg: Übersicht aller Kirchengebäude === Bevölkerungsentwicklung === Die folgende Übersicht zeigt die Einwohnerzahlen nach dem jeweiligen Gebietsstand. Bis 1944 handelt es sich meist um Schätzungen, von 1959 bis 2010 um Volkszählungsergebnisse. In der Tabelle wird die Anzahl der Einwohner in der Stadt selbst ohne die Einwohner im Vorortgürtel aufgeführt, außerdem für die Volkszählungen 1959 bis 1989 für die Stadt mit Vororten (mit den im Umland liegenden Städten und Siedlungen städtischen Typs, die dem Leningrader Stadtsowjet unterstellt waren). Alle diese Städte und Siedlungen im Umland wurden 1998 eingemeindet, so dass die Angabe der Einwohner mit Vororten ab 2002 entfällt. Die Einwohnerzahl von 2002 ist daher mit der Zahl von 1989 mit Vororten zu vergleichen. Abzüglich der Einwohnerzahl der 1998 eingemeindeten Ortschaften hatte Sankt Petersburg im Jahr 2002 in den Grenzen von 1989 4.137.563 Einwohner. Die Einwohnerzahl der eigentlichen Stadt war also zwischen 1989 und 2002 um 322.861 zurückgegangen, die der ehemaligen Vororte um 39.426. In den Folgejahren stieg die Einwohnerzahl wieder stark an. Nach Berechnungen wurde die 5-Millionen-Grenze am 22. September 2012 überschritten. Das Wachstum ist allerdings ausschließlich auf Zuwanderung zurückzuführen, da die Sterberate in den vorhergehenden Jahren weiterhin die Geburtenrate übertraf. == Architektur == === Architekturgeschichtliche Übersicht === Die ab 1703 erbaute Stadt ist vergleichsweise jung. Ihre Baukunst wurde stärker von westeuropäischen Vorbildern beeinflusst als etwa Moskau. Markanter als bei jeder anderen Metropole ist das Stadtbild Petersburgs geprägt vom Klassizismus in all seinen Spielarten, auch wenn Historismus und Jugendstil die Gebrauchsarchitektur an den Straßenzügen der Innenstadt mitbestimmen. Die barocken Bauten der Zeit Peters des Großen († 1725) sind von zunächst holländischen, dann auch französischen Vorbildern bestimmt. Eine fast klassizistische Strenge und Zurückhaltung im Dekorativen sind Merkmale des ersten Drittel des 18. Jahrhunderts. Die Gliederung der Palastfassaden verwendet eher flache Pilaster als plastische Säulen. Trezzini ist der maßgebende Architekt dieser Ära. In seine Zeit fällt die Anlage der drei breiten, vom Turm der Admiralität ausgehenden Hauptachsen („Prospekte“). Unter Elisabeth (1741–1761) verlagerte sich die Bautätigkeit auf das Südufer der Newa. Ein 1730 vorgelegter Generalbebauungsplan legte detaillierte Bestimmungen für Traufhöhen und Fluchtlinien fest. In Elisabeths Regierungszeit werden die Gestaltungsmittel abwechslungsreicher. Die Fassaden bekommen kräftige Farben und schmuckhafte Dekorationselemente. Dichte Säulenreihen erzeugen Licht- und Schattenwirkungen und die Grundrisse werden komplexer. Die „altrussischen“ Stilelemente beschränken sich auf die Verwendung des Fünf-Kuppel-Motivs. Baumeister dieser Zeit waren vor allem Bartolomeo Francesco Rastrelli, daneben auch Sawwa Tschewakinski. Den Stil der Regierungszeit Katharinas der Großen (1762–1796) könnte man als „spätbarocken Klassizismus“ charakterisieren. Auf Bauplastik wird eher verzichtet und die Farbigkeit reduziert sich auf gelb-graue Töne. Ein Lieblingsmotiv repräsentativer Bauten ist fortan der Portikus. Iwan Starow und Giacomo Quarenghi waren die führenden Architekten. Mit dem Beginn des 19. Jahrhunderts setzt in St. Petersburg der „Alexandrinische Klassizismus“ ein. Dem westeuropäischen Empire entsprechend verbindet er mit dem treu nachgeahmten Vorbild der „dorischen“ Antike strenge Geradlinigkeit und monumentale Wirkung. Im ersten Drittel des Jahrhunderts entstanden bedeutende Platzanlagen, wie die vor der Kasaner Kathedrale, auf der Wassiljewski-Insel (Strelka), dem Marsfeld (1817–1829), und der Schlossplatz sowie das gesamte Viertel um das Alexandrinski-Theater bekamen ihre heutige Gestalt. Bedeutendster Architekt dieser Zeit war der Italiener Carlo Rossi. Eine mit russischen Elementen angereicherte Variante dieses Stils wurde vor allem von Wassili Stassow gepflegt. Der Historismus in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, mit seinen Bahnhofs-, Theater-, Warenhaus-, Bank-, Zirkus- und Wohnhausfassaden folgt weitgehend westeuropäischen, aus Renaissance und Barock abgeleiteten Stilmustern. Eine so weitgehende Rezeption „altrussischer“ Architekturmotive wie bei der Auferstehungskirche bleibt seltene Ausnahme im Stadtbild. Die Bauten des „Jugendstils“ zwischen der Jahrhundertwende und dem Beginn des Ersten Weltkrieges 1914, in Russland auch als Petersburger Moderne bezeichnet, sind noch eher von einer Anhäufung klassizistischer oder eklektizistischer Versatzstücke geprägt, als von der floralen Eleganz des Art Nouveau in Wien oder den romanischen Ländern. Den Übergang zu der formal strengen, ornamentlosen Architektur der Moderne markiert die Deutsche Botschaft von Peter Behrens. Nach der Oktoberrevolution wurden einige konstruktivistische Projekte verwirklicht. In der totalitären Ära ab 1932 war eine gemäßigte Form des Stalinschen Monumentalstils („Sozialistischer Klassizismus“) zu beobachten. Zentrum der Bautätigkeit war das neugeplante Stadtviertel um das Haus der Sowjets am Moskauer Platz. Die Belagerung Leningrads durch die deutsche Wehrmacht, deren erklärtes Ziel es war, die Stadt „vom Erdboden verschwinden zu lassen“, brachte schwerste Zerstörungen über die Stadt. Bei der enormen Kraftanstrengung des Wiederaufbaus nach 1945 wurde großer Wert auf die Wiederherstellung des alten Stadtbildes und die Restaurierung der denkmalwerten Architektursubstanz gelegt. Markante Beispiele für Neubauten sind die Stationen der Metro sowie der Moskowski-Prospekt. In den 1960er und 1970er Jahren erweiterte sich die Stadt durch riesige, planvoll angelegte Neubausiedlungen. === Bauzustand und Denkmalschutz === Sankt Petersburg war lange Zeit der Sitz der russischen Zaren. In der Stadt entfalteten sie die ganze Pracht ihres immensen Reichtums, von der zahlreiche Zeugnisse zu sehen sind. Im Hinblick auf die 300-Jahr-Feier im Jahr 2003 wurden zahlreiche der Sehenswürdigkeiten aufwendig restauriert. Die Stadt besitzt neben den 250 Museen ungefähr 4000 geschützte Kultur-, Geschichts- oder Baudenkmäler. 15 % der Gebäude in Sankt Petersburg – insgesamt rund 2400 Gebäude – wurden von der UNESCO als Denkmäler der Architekturgeschichte eingestuft. Damit wird Petersburg in dieser Hinsicht nur noch von Venedig übertroffen. Die Stadt hat allerdings Probleme, die Kosten zur Erhaltung dieser Baudenkmäler aufzubringen. Neben deren großen Anzahl gibt es auch andere Probleme: Teilweise sind die Häuser nach der Sowjetzeit in einem desaströsen Bauzustand und müssten dementsprechend aufwendig restauriert werden. Zum anderen sorgen die Industrie und der starke innerstädtische Verkehr für eine starke Luftverschmutzung, die insbesondere den Fassaden zusetzt. Obwohl seit 2004 Anstrengungen unternommen werden, zumindest einige Baudenkmäler zu privatisieren, gehören immer noch etwa 80 % aller Petersburger Immobilien dem russischen Staat. === Stadtrundgang === Markantestes Gebäude der Skyline und höchstes Gebäude der Stadt ist der Fernsehturm Sankt Petersburg. Er befindet sich außerhalb der Innenstadt, die vor allem auf der Admiralitätsseite der Newa liegt. Mit dem 462 Meter hohen Lakhta Center entstand der derzeit höchste Wolkenkratzer Europas; er wurde Mitte 2018 fertiggestellt. Historisches Stadtzentrum, UNESCO-WeltkulturerbeDer mit hunderten historischer Paläste und Gebäude ausgestattete Newski-Prospekt, die Haupteinkaufsstraße der Stadt, erstreckt sich über vier Kilometer von der Admiralität beziehungsweise der Eremitage nebst Dworzowaja Ploschtschad – dem Parade- und Schlossplatz – bis zum Alexander-Newski-Kloster, der sogenannten Lawra. Letzteres ist nach dem russischen Volkshelden Alexander Newski, der Prospekt allerdings nach der Newa benannt. Zu den am Newski-Prospekt gelegenen Sehenswürdigkeiten zählen die Kasaner Kathedrale und das Kaufhaus Gostiny Dwor. Der Prospekt stößt auf den Ploschtschad Wosstanija, den „Platz des Aufstandes“. Der Newski-Prospekt führt über folgende Kanäle: Der Fluss Moika in Höhe der Kasaner Kathedrale. Auf der linken Seite, also gegenüber der Kathedrale, sieht man am Ufer der Moika in geringer Entfernung die Christi-Auferstehungskirche, die der Basilius-Kathedrale am Roten Platz in Moskau äußerlich sehr ähnelt. Am Ufer der Moika befindet sich ebenfalls das Haus, in dem der russische Nationaldichter Puschkin lebte und nach einer schweren Verwundung in einem Duell mit dem Franzosen Georges-Charles de Heeckeren d’Anthès verstarb. Die Moika wird unter anderem von der Grünen Brücke (in Höhe des Newski-Prospekts) und der Pozelujew-Brücke überspannt. Der Gribojedow-Kanal. Links (östlich) davon erstreckt sich das Marsfeld, der Sommergarten mit dem Sommerpalast und der Wladimir-Palast. Der Fluss Fontanka, den die Anitschkow-Brücke überspannt. Hier befindet sich der gleichnamige Palast, in dem der bekannte Schachtrainer Zak unter anderem mit dem späteren Weltmeister Spasski arbeitete.Unweit des Newski-Prospekts stehen weitere Sehenswürdigkeiten: das Russische Museum, das sich neben der Auferstehungskirche befindet, die Isaakskathedrale, die sich unmittelbar an die Admiralität und die Eremitage anschließt, die Peter-und-Paul-Festung – eine befestigte Insel, Haseninsel genannt, auf der dem Prospekt gegenüberliegenden Seite der Newa, mit zugehöriger Kathedrale, in der Zaren und Großfürsten beerdigt wurden. In einer Kapelle der Kathedrale wurde der letzte Zar Nikolaus II. mit seiner Familie und seiner Dienerschaft beigesetzt. In der Festung wurden schließlich zahlreiche Prominente der russischen Geschichte (im frühen 19. Jahrhundert zum Beispiel die Dekabristen, später die Anarchisten Michail Bakunin und Peter Kropotkin) festgehalten. Der Kreuzer Aurora kann auf derselben Newa-Seite nordwestlich der Festung besichtigt werden. Der eherne Reiter, das Smolny-Kloster, die Rossistraße, der Sommergarten und die Christi-Auferstehungskirche befinden sich alle auf der südlichen Newa-Seite. Als besonders reizvoll gilt ein Spaziergang durch die Stadt während der Weißen Nächte im Frühsommer, dem nächtlichen Höchststand der Sonne.Eine Besonderheit der Stadt sind die vielen Klappbrücken, die noch in den Nachtstunden für den Schiffsverkehr geöffnet werden. Dadurch kann evtl. ein kurz zuvor begangener Weg nicht mehr zurück gelaufen werden. Die Stadt heißt auch wegen ihrer vielen Wasserläufe, Inseln und Brücken Venedig des Nordens. In der südlichen beziehungsweise südwestlichen Umgebung Sankt Petersburgs sind das Schloss Peterhof, dieses UNESCO-Weltkulturerbe, Pawlowsk und die Stadt Puschkin beliebte Ausflugsziele. Im Letzteren ist im Katharinenpalast das nachgebaute Bernsteinzimmer zu besichtigen. Der Peterhof ist eine direkt am Meer gelegene weite Schlossanlage mit Palast, Schlosskirche, Orangerie, kleinen Lustschlössern wie „Monplaisir“, „Marly“ und einer besonders schönen Fontänen-Kaskade in Hanglage mit markanten vergoldeten wasserspeienden Bronzeskulpturen. Der Peterhof, der nach 35 Minuten Fahrt mit der Elektritschka vom Baltischen Bahnhof ausgehend mit Zielbahnhof Oranienbaum Haltepunkt ist, das Schloss Pawlowsk sowie der Katharinenpalast wurden im Verlauf des Zweiten Weltkrieges von den deutschen Besatzern zu großen Teilen verwüstet und nach dem Krieg in mühevoller Kleinarbeit wieder aufgebaut und restauriert. Vom Witebsker Bahnhof aus lassen sich Pawlowsk und Puschkin leicht mit dem 'Elektritschka'-Vorortzug erreichen. An dieser Bahnstrecke befindet sich der Halt „21 km“, der an der südlichen Belagerungslinie der Stadt im Zweiten Weltkrieg gebaut wurde. Neben den Gleisen erinnern gegen Süden gerichtete damalige Kanonen an die deutsche Belagerung. == Kunst und Kultur == Sankt Petersburg ist eine Stadt, in der Kunstsammlungen, Theater, Literatur, Ballett und Musik Weltgeltung besitzen. === Museen, Galerien und Ausstellungskomplexe (Auswahl) === Die Stadt weist nach eigenen Angaben 221 Museen auf. Darüber hinaus gibt es 45 Galerien und Ausstellungshallen sowie 80 Kulturhäuser (Stand November 2013). Sie lassen sich in vier Komplexe – Historische Museen, Kunstmuseen, Museen für Spezialgebiete sowie Museen berühmter Persönlichkeiten unterteilen. ==== Kunstkammer ==== Die 1734 gegründete Kunstkammer war die erste offizielle Sammlung von damals zeitgenössischen Kunstwerken. ==== Eremitage ==== Die Eremitage ist mit drei bis vier Millionen Besuchern im Jahr der bestbesuchte und wohl international wichtigste Ausstellungskomplex. Sie gehört zu den bedeutendsten Kunstmuseen der Welt. Sie beherbergt eine immens große Sammlung der europäischen bildenden Kunst bis 1917 sowie die weltweit größte Juwelensammlung. Das Museum nimmt fünf Bauten in Anspruch mit einer Gesamtausstellungsfläche von 57.475 m² und einer Lagerfläche von 45.000 m². Der Winterpalast, in dem sich ein Großteil der Sammlung befindet, ist dabei eine eigene Sehenswürdigkeit. In ihrem Archiv beherbergt die Eremitage mehr als 2,7 Millionen Ausstellungsstücke. In den 350 Ausstellungsräumen sind davon 65.000 organisiert in sechs Sammlungen ausgestellt. Es sind Sammlungen über Prähistorische Kunst, Kunst und Kultur der Antike, Kunst und Kultur der Völker des Ostens, Westeuropäische Kunst und Russische Kunst zu sehen, sowie Juwelenschätze und numismatische Exponate. Da der größte Teil der russischen Kunst mittlerweile in das Russische Museum ausgelagert wurde, ist die westeuropäische Kunst und Kultur der bedeutsamste Teil der Sammlung. Die Exponate umfassen unter anderem Werke von Leonardo da Vinci (eines bzw. – unter Kunsthistorikern umstritten – auch zwei der weltweit bekannten zwölf Originale), Raffael, Tizian, Paolo Veronese, El Greco, Goya, Lucas Cranach dem Älteren, mehr als 40 Bilder von Rubens, 25 Werke von Rembrandt und diverse seiner Schüler, Vincent van Gogh, 37 Bilder von Henri Matisse, Pierre-Auguste Renoir, Paul Gauguin, 31 Bilder von Pablo Picasso sowie Bilder von Édouard Manet und Wassily Kandinsky. Das Museum entstand als Privatsammlung der Zaren, seit 1852 war es öffentlich zugänglich. Nach der Oktoberrevolution wurden zahlreiche Privatsammlungen enteigneter russischer Adliger in die Eremitage überführt. Die Belagerung der Stadt überstanden die Bestände weitgehend unbeschadet im Keller des Museums, die wertvollsten Stücke waren ausgelagert worden. 1948 wurden die Kunstbestände aufgestockt durch einen großen Teil der Sammlung des Museums für neue westliche Kultur in Moskau. Von den vielen Touristenzielen der Stadt ist die Eremitage wahrscheinlich das bedeutendste. Es besteht eine langfristige Zusammenarbeit mit dem Solomon R. Guggenheim Museum. ==== Zentrales Marinemuseum ==== Das 1709 gegründete Museum ist eines der ältesten Museen Russlands und zählt mit seinen 700.000 gesammelten Objekten zu den größten Schifffahrtsmuseen der Welt. In den 2014 neu bezogenen Ausstellungshallen wird in neunzehn Ausstellungshallen die Geschichte der russischen Seekriegsflotte nachgezeichnet. In fünf weiteren Sälen finden Wechselausstellungen statt. Zum Museum zählen sechs Außenstellen, beispielsweise der Kreuzer Aurora, der Ausstellungsort Straße des Lebens, die Festung Kronstadt mit der Nikolaus-Marine-Kathedrale, dem Artillerie-Gelände und der Gedenkausstellung für Alexander Stepanowitsch Popow oder das Museumsschiff Kreuzer Michail Kutusow. ==== Erarta-Museum ==== Das Erarta-Museum für zeitgenössische Kunst ist das größte private Museum für zeitgenössische Kunst in Russland. Im Bestand des Museums befinden sich über 2800 Werke zeitgenössischer Kunst, die von mehr als 300 Künstlern aus über 20 Regionen Russlands geschaffen wurden. ==== Siehe auch ==== Arktis- und Antarktismuseum Suworow-Museum Russisches Eisenbahnmuseum Im Vasileostrovsky Tram Depot (1906–1908, beachtl. Backstein-Gebäude; gleichnamige Metrostation), dem ältesten Depot der elektr. Tram, befindet sich das Museum zum Straßenbahn- (Tramwaj-) und dem Trolley-Bus-System === Theater und Musik === Als ältestes Ensemble gilt die 1497 gegründete Staatliche Akademische Kapelle. In der Stadt befinden sich 80 Theaterstätten und 100 Konzerthäuser. Das Mariinski-Theater ist eines der bekanntesten Opernhäuser der Welt. Es nahm seine Arbeit im Jahr 1783 auf und ist die Heimat des Mariinski-Balletts. Daneben ist das 1833 erbaute Michailowski-Theater, im 19. Jahrhundert auch Théâtre Michel, im 20. Jahrhundert lange Kleines Opernhaus, das bedeutendste Opernhaus der Stadt. Das Alexandrinski-Theater wurde auf Erlass der Zarin Elisabeth I. 1756 gegründet. Eine aus Schülern des Kadettenkorps zusammengestellte Truppe bildete das erste ständige Theater Russlands. Erst 1832 erhielt das Ensemble sein heutiges prächtiges Gebäude, das unter Leitung des Architekten Carlo Rossi entstand. Von 1901 bis 1906 bestand das bekannte Neue Theater in der Uferstraße (набережной р. Мойки) 61. Im Rahmen der klassischen Musik sind neben der Oper (siehe oben) vor allem die Sankt Petersburger Philharmoniker zu nennen. Im gleichnamigen Gebäude in der Stadt befindet sich das Stammhaus dieses Orchesters. In der Stadt lebten und arbeiteten die Komponisten Michail Glinka, Modest Mussorgski, Nikolai Rimski-Korsakow, Pjotr Tschaikowski, Igor Strawinski und Dmitri Schostakowitsch. Michail Glinka (1804–1857), in Nowo-Spaskoje geboren, studierte am Adelsinstitut von Sankt Petersburg, sein Grabmal befindet sich auf dem Tichwiner Friedhof. Die Oper „Boris Godunow“ von Modest Mussorgski (1839–1981) wurde im Mariinski-Theater uraufgeführt. Alexander Borodin (1833–1887) wurde in Sankt Petersburg geboren und ist in der Stadt gestorben. Schostakowitsch (1906–1975), geboren in Sankt Petersburg, studierte von 1919 bis 1925 am Petrograder Konservatorium. Während der Belagerung komponierte er 1941 seine Leningrader Symphonie. Die ersten drei Sätze entstanden während der Leningrader Blockade durch die Deutschen. Die Sinfonie ist Ausdruck des Durchhaltewillens der Leningrader Bevölkerung und aller sowjetischen Menschen. Sie wurde vollendet und in Kuibyschew uraufgeführt. Die Orchesterpartituren hatten Helfer danach durch die deutsche Blockade hindurch in die Stadt (Leningrad) geschafft, und unter Lebensgefahr für Aufführende und Zuhörer fand das Konzert im Großen Saal der Philharmonie am 8. August 1942 unter Karl Eliasberg statt, welches im gesamten sowjetischen Rundfunk übertragen wurde. Im Jahr 1975 erhielt dieser Saal den Namen Schostakowitsch-Saal. Mit der nachlassenden Staatskontrolle in der Perestroikazeit entwickelte sich im Leningrad der 1980er Jahre eine sehr lebendige Rockmusikszene. Ein Teil der Bands entstand unter dem Dach des Leningrader Rockclubs, andere waren aus verschiedenen Landesteilen hierhergezogen. Im Gegensatz zur Hauptstadt Moskau, wo die Bürgerfreiheiten strenger überwacht wurden, konnte sich die Kunst in Leningrad vergleichsweise frei entfalten. Die damals entstandenen Bands und Interpreten haben ihren Einfluss nicht verloren. Zu diesem Teil der russischen Musikszene, der in Russland als „Piterski Rock“ („Petersburger Rock“) bekannt ist, zählen Bands wie „Aquarium“ mit Boris Grebenschtschikow, „Kino“ mit Wiktor Zoi, „Alissa“ mit Konstantin Kintschew, „AuktYon“ mit Leonid Fjodorow, „Pop-Mechanika“ mit Sergei Kurjochin, „Zoopark“ mit Michail „Mike“ Naumenko oder „DDT“ mit Juri Schewtschuk (aus Ufa). Diese Musik lehnt sich an westliche Stilrichtungen an, behält aber die für „das russische Ohr“ typische Tonalität bei. In den Liedertexten finden sich oft Parallelen zu den Autoren des Silbernen Zeitalters, einer kulturellen Blütezeit in Petersburg und Moskau am Anfang des 20. Jahrhunderts. === Ballett === Die Stadt ist einer der wichtigsten Orte für die Entwicklung des Balletts. Sergei Djagilew, Marius Petipa, Vaslav Nijinsky, Mathilda-Maria Kschessinskaja und Anna Pawlowa waren maßgeblich an dieser Entwicklung beteiligt. Hier befindet sich die wahrscheinlich berühmteste Ballettschule der Welt – die Waganowa-Ballettakademie, gegründet im Jahr 1738. === Petersburg im Film === Das Ende der kulturellen Blütezeit Sankt Petersburgs fiel zeitlich mit dem Aufkommen der Filmindustrie zusammen. Bei bemerkenswerten Filmen bis 1990 handelt es sich zu einem Großteil um Verfilmungen klassischer russischer Literatur. Es gibt dutzende Verfilmungen von Anna Karenina (die ersten sind eine russische und eine französische, beide von 1911, die erste westliche, die vor Ort gedreht wurde, ist von 1997) oder einige Versionen von Dostojewskis Der Idiot (die erste ist eine russische, von 1910). Einige Filme beziehen sich auf die Stadtgeschichte. Neben einer großen Anzahl sowjetischer Propagandafilme gibt es bisher aber erst wenige Werke: In seiner Art eigenständig ist der Film Noi Vivi (Italien, 1942), eine Verfilmung des in der Stadt spielenden Buches von Ayn Rand Wir leben, der vor dem Hintergrund der sowjetischen Oktoberrevolution eine Kritik des faschistischen Italien versucht. Die Geschichte um die Tochter des letzten Zaren Anastasia wurde mehrfach verfilmt. Besonders bekannt sind die Versionen von 1956 mit Ingrid Bergman und das Zeichentrick-Musical (USA, 1997) von Don Bluth, ehemaliger Chefzeichner von Walt Disney. Besonders das Zeichentrick-Musical bezieht sich zwar sowohl auf die Stadtgeschichte als deren optische Opulenz, verfremdet beides aber so stark, dass es kaum wiederzuerkennen ist. Der italienische Spezialist für Filme über die russische Geschichte Giuseppe Tornatore drehte einen Film über die Belagerung der Stadt im Zweiten Weltkrieg. Für die meiste internationale Resonanz sorgte bisher von allen Petersburger Filmen Russian Ark, der, in der Eremitage gedreht, 300 Jahre russische Geschichte in einem einzigen Schnitt Revue passieren lässt. Der Film Der Untergang wurde in der Stadt gedreht, da die historische Innenstadt in Teilen große Ähnlichkeiten mit dem Berlin des Jahres 1945 aufweist. In Petersburg (damals noch Leningrad) spielt der Kultfilm Intergirl von Pjotr Todorowski, der letzte große Kinoerfolg der Sowjetunion vor deren Untergang. Der James-Bond-Film GoldenEye (1995) zeigt die Stadt in einem schon fast postapokalyptisch zu nennenden Zustand. Ein anderer britischer Action-Film, Midnight in St. Petersburg (1996) hingegen hat opulente Aufnahmen der Petersburger Sehenswürdigkeiten. Der Film Onegin (1999) mit Ralph Fiennes und Liv Tyler in den Hauptrollen, nimmt den Stoff des Puschkin-Gedichtes als Ausgangspunkt. In Das Rußland-Haus, einem Spionage-Thriller mit Sean Connery, Michelle Pfeiffer und Klaus Maria Brandauer, wird ein romantisches Bild der Stadt gezeigt. Masjanja (russisch Масяня) ist eine beliebte russische nicht-kommerzielle Internet-Trickfilm-Serie, deren Handlung in Sankt Petersburg spielt. === Literatur === Zahlreiche bekannte russische Künstler haben in Sankt Petersburg gelebt und gearbeitet, darunter Literaten wie Alexander Puschkin, Fjodor Dostojewski, Nikolai Gogol, Anna Achmatowa, Alexander Blok und Joseph Brodsky. ==== Bibliotheken ==== Die Stadt besitzt rund 2000 Bibliotheken, von kleinen Volksbibliotheken in den einzelnen Stadtteilen bis zu mehreren bedeutenden Büchersammlungen. Die Russische Nationalbibliothek ist die zweitgrößte Bibliothek Russlands und eine der drei Nationalbibliotheken des Landes. Sie wurde 1795 durch Katharina II. gegründet und hat einen Bestand von über 30 Millionen Medien, davon über 450.000 Handschriften (Ostromir-Evangeliar, Codex Petropolitanus Purpureus, Codex Leningradensis u. a.). In ihrem Bestand befinden sich Bücher in 85 Sprachen. Die 1714 gegründete Bibliothek der Akademie der Wissenschaften weist über 20 Millionen Bände auf. Die Puschkin-Bibliothek besitzt mit 5000 Werken einen wertvollen Bestand von Werken aus der privaten Bibliothek des Dichters. Die Präsidentenbibliothek Boris Jelzin wurde 2009 gegründet und ist vor allem als Onlinebibliothek von historischen und diplomatischen Dokumenten ausgerichtet. ==== Der Petersburger Text ==== Petersburg, als Zarenstadt über Jahrhunderte kulturelles Zentrum Russlands, zog eine große Zahl von Schriftstellern an, welche die Stadt literarisch verewigten. Nachdem in den ersten Jahrzehnten nach dem Bau der Stadt den Zaren preisende Auftragslyrik das Bild bestimmt hatte, begann 1833 mit Puschkins Gedicht Der eherne Reiter eine andere Art der Literatur dominant zu werden. Das Gedicht thematisiert den russischen Beamten Jewgeni, der am Reiterstandbild Peters des Großen, dem Wahrzeichen der Stadt, zur Zarenbeschimpfung ansetzt. Doch er erregt den Zorn der Statue. Diese späteren Texte haben eine verblüffende Ähnlichkeit bei Motiven, Sprache, Atmosphäre, aber auch beim Sinn. Der Moskauer Kultursemiotiker Wladimir Toporow prägte dafür 1984 im Aufsatz Petersburg und der Petersburger Text der russischen Literatur (Peterburg i peterburgskij tekst russkoj literatury) den Begriff des „Petersburger Texts“.Die Allgegenwart der Macht des Zaren wie des russischen Staatsapparates, die Beamten- und Soldatenstadt sind ebenso ein stetig wiederkehrendes Thema wie der Wahnsinn, Hochwasser und Überschwemmung, Zerstörung, Untergang, Fieberwahn und (Alb-)Traumstadt. Viele Literaten attestieren der Stadt eine gewisse Unwirklichkeit, eine Aura dessen, dass sie nicht ganz real ist. Das beginnt schon mit dem Mythos, die Stadt sei in der Luft gebaut worden und erst danach auf die Erde gesunken, weil man auf diesem Gelände eigentlich gar nicht bauen könne. Literatur-Nobelpreisträger Joseph Brodsky attestiert: „Es gibt keinen Ort in Russland, wo die Imagination sich mit solcher Leichtigkeit von der Realität ablöst.“ Nikolai Gogol sagte bereits 1835 über den Newski-Prospekt: „Hier ist alles Trug, alles Traum, alles nicht das, was es scheint.“ Allein der Plan, eine Großstadt am Ende der Welt inmitten von Sümpfen zu bauen, gibt Sankt Petersburg diesen Gründungsmythos mit, der die literarische Stimmung bis zur Oktoberrevolution bestimmt. Selbst Giacomo Casanova ließ sich von der Stimmung der Stadt beeinflussen. 1764 schrieb er: „Alles erschien mir, als hätte man es schon als Ruine gebaut. Man pflasterte die Straßen und wusste, dass man sie sechs Monate später erneut würde pflastern müssen.“ Besonders bekannte Nachfolger Puschkins waren in dieser Tradition Nikolai Gogol mit dessen Petersburger Erzählungen sowie der wahrscheinlich berühmteste Schriftsteller der Stadt, Fjodor Dostojewski, dessen Romane und Erzählungen Weiße Nächte, Arme Leute, Der Doppelgänger, Der Idiot und Schuld und Sühne in der Stadt spielen. Das Haus seiner Romanfigur Raskolnikow findet sich in der Stadt, über die er schreibt: „Es wehte ihn daraus immer eine rätselhafte Kälte an, dieses prächtige Panorama war für ihn mit einem stummen, dumpfen Geist erfüllt.“ Mit dem symbolistischen Roman Petersburg (1913) schrieb Andrei Bely eines der Meisterwerke der russischen Literatur. Er steht am Beginn der Reihe der Großstadtromane der Moderne und wurde so oft mit James Joyce’ Ulysses und Alfred Döblins Berlin Alexanderplatz verglichen. Mit der Oktoberrevolution und der Verlagerung der Hauptstadt entstanden weiterhin literarische Werke hoher Bedeutung, die allerdings nicht mehr den typischen Petersburger Text widerspiegelten. Alexander Bloks Erzählung Die Zwölf von 1918 schilderte den Marsch von zwölf Rotarmisten durch die Stadt. Schließlich erscheint Jesus an der Spitze der Gruppe. Daniil Charms, einer der letzten Vertreter der frühen russischen Avantgarde, verfasste neben Die Komödie der Stadt Petersburg zahlreiche kurze Stücke. Eines davon, An der Kaimauer, greift wiederum die klassischen Motive des Petersburger Textes auf: Der gebürtige Petersburger Vladimir Nabokov kehrt in seinen Büchern immer wieder an den Ort seiner Kindheit zurück. Anna Achmatowa, Marina Zwetajewa, Ossip Mandelstam, Welimir Chlebnikow, Sergei Jessenin und Joseph Brodsky verewigten die Stadt durch ihre Lyrik. Ebenso wie als Stadt der Literatur erschien die Stadt immer als eine der verfolgten Literatur. Bereits Dostojewski und Puschkin wurden vom Zar verfolgt, nach der Oktoberrevolution wurden zahlreiche Literaten ermordet, bekamen Berufsverbot oder sie wanderten aus, sofern es ihnen möglich war. Ossip Mandelstam bemerkte: „Kein anderes Land nimmt Poesie so wichtig wie Russland, nirgendwo sonst werden ihretwegen so viele Menschen umgebracht.“ == Gedenkstätten == Auf dem Piskarjowskoje-Gedenkfriedhof wird der Opfer der 900-tägigen Blockade von Leningrad durch die deutsche Wehrmacht gedacht. Die Blockade wurde am 27. Januar 1944 durch Sowjettruppen beendet. == Sport == === Fußball === Der bekannteste Sportverein der Stadt ist der 1925 gegründete Fußballklub Zenit St. Petersburg. Die Saison 2007 konnte Zenit erstmals als russischer Meister abschließen. Von 1950 bis 1992 diente das mittlerweile abgerissene Kirow-Stadion, das insgesamt 72.000 Zuschauern Platz bot, als Heimspielstätte für Zenit Sankt Petersburg. Im Jahre 1993 zog die Mannschaft in das 1925 erbaute und 21.570 Zuschauer fassende Petrowski-Stadion um, das bis April 2017 vom Verein für die Heimpartien genutzt wurde. Der Verein gehört seit einigen Jahren dem gleichzeitigen Hauptsponsor Gazprom, der seit der Übernahme viele Millionen in die Verstärkung des Kaders sowie den laufenden Bau der neuen Gazprom-Arena gesteckt hat. Im Spieljahr 2007/2008 gewann der Fußballklub nach 4:1 im Viertelfinale gegen Bayer Leverkusen und 4:0 gegen Bayern München im Halbfinale den UEFA-Pokal in Manchester durch ein 2:0 gegen die Glasgow Rangers sowie in Monaco den UEFA Super Cup mit einem 2:1 gegen Manchester United. Zur Saison 2010 feierten sie den russischen Pokalsieg durch ein 1:0 gegen FK Sibir Nowosibirsk im Rostower Stadion Olimp-2. 2011 und 2012 wurde Zenit erneut russischer Meister. Sankt Petersburg war einer der Austragungsorte der Fußball-Weltmeisterschaft 2018. Hierzu wurde in der Stadt die Gazprom-Arena errichtet, die ebenfalls für den FIFA-Konföderationen-Pokal 2017 genutzt wurde. === Andere Ballsportarten === Der Damen-Volleyballverein Leningradka Sankt Petersburg spielt in der höchsten Spielklasse Russlands, der Superleague. Darüber hinaus ist in der Stadt der Basketballverein BK Spartak Sankt Petersburg beheimatet. Die Handballmannschaft der Herren des GK Newa St. Petersburg nimmt am Spielbetrieb der Super League sowie der EHF Champions League teil. Im Dezember 2005 wurde in Sankt Petersburg die Handball-Weltmeisterschaft der Frauen 2005 ausgetragen, wobei die Heimmannschaft zum Weltmeister wurde. === Eishockey === Der Eishockeyverein SKA Sankt Petersburg spielt in der Kontinentalen Hockey-Liga, während der HK WMF Sankt Petersburg am Spielbetrieb der Wysschaja Hockey-Liga teilnimmt. Die größten Eishockeystadien sind das SKK Peterburgski, der Eispalast Sankt Petersburg und der Jubileiny-Sportkomplex. Im Eispalast wurde das KHL All-Star Game 2011 ausgerichtet. In Sankt Petersburg wurde in den Jahren 2000 und 2016 um die Eishockey-Weltmeisterschaft gespielt. === Schach === Zu den Bewohnern von Sankt Petersburg zählten einige herausragende Schachspieler: Michail Botwinnik (langjähriger und mehrmaliger Weltmeister zwischen 1948 und 1963), Boris Spasski (Weltmeister von 1969 bis 1972, über Schachgrenzen hinaus bekannt durch das sogenannte Match des Jahrhunderts gegen Bobby Fischer (Vereinigte Staaten) 1972 in Reykjavík, das wegen des Ost-West-Konfliktes im Kalten Krieg weltweites Interesse erregte), sowie Viktor Kortschnoi, langjähriger Vize-Weltmeister und Emigrant aus der Sowjetunion. Kortschnoi erlangte internationale Bekanntheit durch die Duelle mit Anatoli Karpow um die Weltmeisterschaft 1978 in Baguio und 1981 in Meran, welchen große politische Brisanz innewohnte. Karpow lebte lange Jahre in Leningrad. Zu herausragenden Verfassern von Schachaufgaben, die in Sankt Petersburg wohnten, zählen Botwinniks früher Sparringspartner Sergei Kaminer, die Brüder Kubbel und Alexei Troizki. === Tennis === Das Herren-Tennisturnier St. Petersburg Open wird seit 1995 in der russischen Metropole – im Sportkomplex SKK Peterburgski – ausgerichtet. Damen spielen um den St. Petersburg Ladies Trophy, ein Damen-Tennisturnier der WTA Tour. === Turnen === Die 22. Turn-Europameisterschaften der Frauen fanden vom 30. April bis 3. Mai 1998 in Sankt Petersburg statt. === Automobilsport === 1913 und 1914 wurden in Sankt Petersburg die Automobilrennen um den Großen Preis von Russland veranstaltet, die heute nach einer Pause bis 2014 im Rahmen der Formel-1-Weltmeisterschaft ausgefahren werden, jetzt jedoch in Sotschi. == Bildung == Sankt Petersburg war historisch das Zentrum der russischen Wissenschaft und ist neben Moskau immer noch der wichtigste Bildungs- und Wissenschaftsstandort. In der Stadt sind über 120 Universitäten, Hochschulen und Fachhochschulen ansässig. Davon sind 43 staatlich-zivil, 22 militärisch und etwa 50 werden privat betrieben, sind aber staatlich lizenziert. Zu den bekannteren Universitäten gehören die Staatliche Universität Sankt Petersburg, die Staatliche Universität für Wirtschaft und Finanzen, die Staatliche Polytechnische Universität, die Europäische Universität Sankt Petersburg, die Waganowa-Ballettakademie, die Russische Kunstakademie und das Sankt Petersburger Konservatorium. Zu den militärischen Institutionen gehören beispielsweise die Militärische ingenieurtechnische Universität, die Militärakademie der Fernmeldetruppe, S. M. Budjonny, die Militärmedizinische Akademie S. M. Kirow und die Militärakademie für rückwärtige Dienste und Transportwesen. In der Stadt sind etwa 600.000 Einwohner in Bildung und Wissenschaft beschäftigt, darunter sind ungefähr 340.000 Studierende. In Petersburg lebten und wirkten mehrere Nobelpreisträger, darunter als letzter Schores Alfjorow, der Nobelpreisträger für Physik des Jahres 2000, ehemaliger Direktor des Joffe-Instituts. Mit dem Steklow-Institut für Mathematik verfügt St. Petersburg über ein mathematisches Forschungsinstitut von Weltrang. Führende Mathematiker, unter anderem der Fields-Medaillen-Preisträger Grigori Perelman, wirkten an diesem Institut. == Religion == Die russisch-orthodoxe Kirche hat nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion wieder deutlichen Zuwachs erhalten, aber auch andere Religionsgemeinschaften haben Zulauf. So ist Sankt Petersburg Sitz des Zentralen Kirchenamtes und der Kanzlei des Erzbischofs der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Russland, der Ukraine, in Kasachstan und Mittelasien (ELKRAS) in der St. Petri-Kirche sowie der Evangelisch-Lutherischen Kirche des Ingermanlandes in Russland. Die finnisch-lutherische und schwedisch-lutherische Kirche befinden sich in der Nähe, ebenso eine römisch-katholische und eine armenisch-apostolische Kirche. Mit dem Gunsetschoinei-Dazan gibt es einen buddhistischen Tempel in der Stadt. Die Sankt Petersburger Moschee wurde in den Jahren 1910 bis 1913 errichtet. In einer Umfrage aus dem Jahr 2013 bezeichneten sich 70 % der Einwohner als orthodox (1995 waren es noch 58 %). Weitere 20 % gaben an, nicht gläubig zu sein. Insgesamt waren 55 Prozent der Meinung, die Russische-Orthodoxe Kirche habe einen großen Einfluss auf das gesellschaftliche Leben in Sankt Petersburg. == Wirtschaft und Verkehr == Laut einer Studie aus dem Jahr 2014 erwirtschafte der Großraum Sankt Petersburg ein Bruttoinlandsprodukt von 119,6 Milliarden US-Dollar (KKB) was ein bedeutender Teil der gesamten Wirtschaftsleistung des Landes ist. In der Rangliste der wirtschaftsstärksten Metropolregionen weltweit belegte er damit den 114. Platz und den zweiten Platz in Russland. Das BIP pro Kopf lag bei 23.361 US-Dollar. === Wirtschaft === Sankt Petersburg ist ein Zentrum russischer Forschung und Entwicklung. Dementsprechend beherbergt es ein großes Potenzial an Betrieben aus diesem Bereich. Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion und der russischen Rubelkrise von 1998 konnte die Stadt große Teile ihres Potenzials retten. In Sankt Petersburg finden sich Betriebe fast aller Zweige der verarbeitenden Industrie, ein besonderer Schwerpunkt liegt aber auf dem Schiff- und Maschinenbau. Unter anderem werden alle russischen atomgetriebenen Eisbrecher in der Stadt gefertigt. Weitere Schwerpunkte des industriellen Sektors in der Stadt sind Radioelektronik (vor allem in der Luft- und Raumfahrt), neue Baustoffe (eine der vorrangigen Wachstumsbranchen), Energiemaschinenbau (Branchenbetriebe gelten als weltweit wettbewerbsfähig), Bau medizinischer Geräte, Vorbeugungsmedizin und Gesundheitswesen sowie Umwelttechnologie. Außerdem besitzt die Stadt Möbelindustrie, Nahrungsmittelindustrie (unter anderem Baltika-Brauerei) und erdölverarbeitende Industrie. In jüngster Zeit beginnt die Informationstechnik eine größere Rolle einzunehmen. Zahlreiche russische Großkonzerne, vor allem solche mit hohem Staatsanteil, verlagern gegenwärtig ihre Hauptquartiere aus Moskau an die Newa. Die Steuern der Gazprom-Öltochter Gazprom Neft, der Außenhandelsbank VTB, der Reederei Sovtorgflot, die Pipeline-Firma Transnefteprodukt oder der Fluggesellschaft Transaero sollen in Zukunft das Stadtbudget auffüllen. Der Erfolg dieser Wirtschaftsansiedlung ist aber nur bedingt auf die guten Petersburger Investitionsbedingungen zurückzuführen, sondern administrativ gesteuert. Ausländische Unternehmen entscheiden sich dagegen aus nüchternen Kalkulationen für ihre Standorte. Russlands Automarkt boomte zu Beginn der 2010er Jahre, die Zulassungszahlen von Import-Pkw erreichten die des früheren Quasi-Monopolisten Lada. Zudem sind wegen des 2012 erfolgten WTO-Beitritts Sonderkonditionen bei Importzöllen entfallen, die das russische Wirtschaftsministerium für die Errichtung von Kfz-Produktionsstätten im Land ausgeschrieben hat. Aus diesem Grund wurde von einer Entwicklung Petersburgs hin zum „russischen Detroit“ gesprochen – die Stadt siedelte bislang die Hälfte aller ausländischen Automobilwerk-Projekte an. Besonders begünstigt wird diese Entwicklung durch einen relativ guten logistischen Anschluss (vor allem über den größten russischen Hafen), qualifizierte Arbeitskräfte, erschlossene Gewerbeflächen, lokale Steuervergünstigungen und die Nähe zum Hauptabsatzmarkt. Neben der boomenden Autoindustrie haben in der Stadt an ausländischen Unternehmen unter anderem Wrigley, Gillette, Rothmans, Unilever, Japan Tobacco und Coca-Cola nennenswerte Investitionen getätigt. Fast eine Milliarde Euro (Stand 2005) Umsatz machte die Baltika-Brauerei. Mehrheitsaktionär ist die Baltic Beverages Holding (BBH), diese wiederum gehört je zur Hälfte der dänischen Carlsberg-Brauerei und der schottischen Brauerei Scottish & Newcastle. Baltika ist inzwischen die größte Brauerei in Russland und Osteuropa und nach Heineken die zweitgrößte in Europa. Das Joint-Venture wurde 1990 in Sankt Petersburg gegründet und hat sich schnell zu einem wichtigen Wirtschaftsfaktor für die Stadt entwickelt. Wichtigster Außenhandelspartner der Stadt ist Deutschland. An Rohstoffen finden sich Kies, Sandstein, Ton und Torf. Hingegen spielt die Landwirtschaft keine Rolle in der lokalen Wirtschaft. 80 Kilometer von Sankt Petersburg entfernt stehen in Sosnowy Bor zwei Kernkraftwerke, das in Betrieb befindliche Kernkraftwerk Leningrad und das in Bau befindliche Kernkraftwerk Leningrad II. Die Hälfte des Strombedarfs der Region werden von hier eingespeist. In der Sowjetunion war Sankt Petersburg der Hauptflottenstützpunkt der Baltischen Flotte zunächst der zaristischen, dann der sowjetischen und der russischen Marine. Noch immer befindet sich der Großteil der ehemaligen Kriegsschiffe und U-Boote im Petersburger Militärhäfen. Das erste Dieselmotorschiff der Welt, die Vandal, lief von Rybinsk kommend ab 1903 planmäßig Sankt Petersburg an. Vor der Perestroika bildete der rüstungsindustrielle Komplex 80 Prozent der Leningrader Wirtschaft. Hier befinden sich die Werften Admiralitätswerft (Адмиралтейские верфи), die Atom-U-Boote des Projekts 671 sowie das Boot des Projekts 677 fertigte, die Newski-Werft (Средне-Невский судостроительный завод), wo die Minenräumschiffe des Projekts 12700 gebaut wurden, das Baltische Werk (Балтийский завод), das von 1975 bis 2007 unter anderem neun Atomeisbrecher baute, und die Nordwerft (Северная верфь), welche die Zerstörer der Sowremenny-Klasse und der Udaloy-Klasse, die Fregatten der Kriwak-Klasse sowie die Kreuzer der Kresta-II-Klasse und der Kara-Klasse produzierte. Weitere Unternehmen, welche die Sowjetzeit überdauert haben und weltweit bekannt sind, haben ihre Zentralen nach wie vor in Sankt Petersburg. Beispielsweise gibt es dort den renommierten Verlag Prospekt Nauki, bekannt für seine wissenschaftlichen Werke, wie das sowjetische Optik-Kombinat Lomo PLC dessen anfangs unbedeutende Kamera Lomo LC-A (Lomo-Compakt-Automatic), mit ihrer eher zweifelhaften Bildqualität Ausgangspunkt für eine charakteristische künstlerische Photogestaltung, die sogenannten Lomographie, wurde. Ebenfalls in Sankt Petersburg befindet sich das sowjetische Traditionsunternehmen für Uhren, die Uhrenfabrik Petrodworez, mit ihren berühmten Raketa-Uhren. === Verkehr === Tourismus wird ein zunehmend wichtiger Wirtschaftsfaktor in der Stadt. Laut der UNESCO gehört die Stadt zu den zehn für Touristen attraktivsten Reisezielen weltweit. Sankt Petersburg ist ein großer Verkehrsknotenpunkt. Hierbei stellt die Stadt eine wichtige Verknüpfung zwischen Seeschifffahrt, Binnenschifffahrt und Eisenbahn her. ==== Schifffahrt ==== Die Häfen von Sankt Petersburg und der Umgebung sind die bedeutendste Hafengruppe Russlands (Güterumschlag 2012: 57,8 Mio. t) und wichtig für den ganzen osteuropäischen und nordasiatischen Raum. Besonders schnell steigt der Containerverkehr. Linienverbindungen bestehen unter anderem nach Stockholm, Helsinki, Kiel, Lübeck und anderen Hafenstädten an der Ostsee sowie zu allen wichtigen Containerhäfen in der Nordsee. Nachbarhäfen von Sankt Petersburg befinden sich an der Ostsee in Ust-Luga, Primorsk (Öl) und in Wyssozk. Das weitere Wachstum des Hafens an den gegenwärtigen Standorten im Stadtgebiet wird durch fehlende Flächen und die schwierige Anbindung an den Hinterlandverkehr über das permanent verstopfte städtische Straßen- und Schienennetz behindert. Entwicklungsprojekte gibt es im Bereich Lomonossow und Bronka, ein neuer Seehafen für den Container- und RoRo-Umschlag am Südufer der Newa-Bucht, 120 Kilometer westlich von St. Petersburg. Nach der ersten Ausbaustufe des Ende 2015 in Betrieb gegangenen Containerterminals von Bronka stehen 107 Hektar Fläche mit Anbindung an das russische Eisenbahnnetz und zum St. Petersburger Autobahnring zur Verfügung. Hier sind fünf Liegeplätze mit bis zu 14,4 m Wassertiefe bei einer Kailänge von zusammen 1.220 m mit einer jährlichen Umschlagkapazität von 1,45 Mio. TEU vorgesehen. Im benachbarten RoRo-Terminal mit 57 Hektar Größe mit drei Liegeplätzen an 710 m Kailänge können bis zu 260.000 Einheiten im Jahr umgeschlagen werden. Ein weiteres Wachstum soll auch im noch etwas weiter westlich liegenden Seehafen von Ust-Luga erfolgen, hier jedoch besonders für die Umschlaggüter Öl und trockene Massengüter. Über die Newa und verschiedene Kanäle bestehen schiffbare Verbindungen zum Ladogasee, zur Wolga und zum Weißen Meer. Dabei fahren die Schiffe nachts durch das Stadtgebiet, wofür Klappbrücken hochgeklappt werden. Seit einigen Jahren hat sich die Passagierschifffahrt in Form von Flusskreuzfahrten als guter Wirtschaftsfaktor herausgestellt, wozu der Flusshafen im Süden der Stadt an der Newa gut ausgebaut wurde. ==== Flugverkehr ==== Etwa zwölf Kilometer südlich der Innenstadt liegt der Flughafen Pulkowo. Am 4. Dezember 2013 wurde das neue, moderne Terminal 1 eröffnet. Es grenzt direkt an Pulkowo-I und wickelt den nationalen sowie internationalen Verkehr ab. Seit dem 28. März 2014 werden alle Flüge nur noch über das neue Terminal abgewickelt. Es ist geplant, das alte Terminal Pulkowo-I zu renovieren und an das neue Gebäude durch Bau eines Durchgangs anzuschließen. Von hier aus fliegt die Fluggesellschaft Rossija, in der die ehemalige Pulkovo Airlines aufgegangen ist. Auch zahlreiche ausländische Airlines bedienen den Flughafen, darunter die deutsche Fluggesellschaft Lufthansa. Sie bietet Direktflüge zwischen Sankt Petersburg und Berlin, Frankfurt am Main, Köln/Bonn, Dresden, Düsseldorf, München, Münster und Wien an. Die Fluggesellschaft Rossija bietet darüber hinaus Flüge nach Hamburg, Hannover und Zürich. ==== Eisenbahn ==== Die erste russische Eisenbahn (Zarskoje-Selo-Bahn) führte ab 1837 von Sankt Petersburg nach Zarskoje Selo und verband die Hauptstadt mit dem „Zarendorf“. Mit der Eröffnung der Nikolaibahn von Sankt Petersburg nach Moskau 1851 wurden die beiden größten Städte des Russischen Reiches verbunden. Der Bau einer Eisenbahnstrecke von der russischen Hauptstadt nach Warschau folgte zwischen 1851 und 1862. Über eine Zweigstrecke von Wilna über Kowno wurde diese an die 1860 fertiggestellte Preußische Ostbahn angeschlossen, über die ab diesem Zeitpunkt via Königsberg Direktverbindung nach Berlin bestand. Bis zum Ersten Weltkrieg fuhr der Nord-Express zwischen Sankt Petersburg und Paris über diese Strecke. Es bestehen direkte Eisenbahnverbindungen nach Murmansk („Murmanbahn“), Helsinki (vom Finnischen Bahnhof aus), Kirow, Moskau (vom Moskauer Bahnhof an der Bahnstrecke Sankt Petersburg–Moskau), Kaliningrad, Minsk und Berlin (vom Witebsker Bahnhof). Auch Bukarest, Budapest, Chisinau, Kiew, Sotschi, Rostow am Don, Wolgograd und Irkutsk / Baikalsee sind umsteigefrei zu erreichen. Seit Dezember 2012 gibt es einmal in der Woche eine umsteigefreie Direktverbindung nach Berlin. Abfahrt ist am Witebsker Bahnhof.Die Stadt ist Verwaltungssitz der Oktober Regionaldirektion der Russischen Staatsbahn. Die Direktion betreibt nicht nur alle Eisenbahnlinien samt zugehöriger Infrastruktur im Großraum Sankt Petersburg, sondern auch ein über 10000 Kilometer langes Schienennetz im Nordwesten des europäischen Teils Russlands. Am 1. November 2017 wurde direkt neben dem Baltischen Bahnhof das neu gestaltete Russische Eisenbahnmuseum eröffnet. Es ist eines der größten Eisenbahnmuseen weltweit. ==== Straßenverkehr ==== Sankt Petersburg ist durch zwölf Fernstraßen erschlossen. Am 7. September 2006 wurde der erste Bauabschnitt der neu gebauten Ringautobahn „KAD“ um Sankt Petersburg für den Verkehr freigegeben. Die 66 Kilometer lange Route umgeht die Hafenstadt im Osten. Doch nach wie vor gibt es Engpässe. Begonnen wurde das mit Kosten von bislang etwa zwei Milliarden Euro größte aktuelle Straßenbauprojekt Russlands im Frühjahr 2001. Für den sich bisher durch die Stadt quälenden Transitverkehr auf der Route von Finnland nach Moskau bedeutet die Autobahn mit ihrer momentanen Kapazität von 50.000 Fahrzeugen pro Tag eine enorme Erleichterung: Die Fahrtzeit zum Passieren der Fünf-Millionen-Stadt dürfte auf etwa ein Drittel schrumpfen. Zum Wahrzeichen der neuen Autobahn wurde eine Ende 2004 eröffnete 2,8 Kilometer lange Hängebrücke, die hoch genug ist, um als einzige Newa-Brücke in Sankt Petersburg zum Passieren des Schiffsverkehrs nachts nicht hochgeklappt werden zu müssen. Das Hochklappen aller anderen Newa-Brücken, insbesondere in den Weißen Nächten, ist zwar touristisch hoch attraktiv, legt jedoch den Straßenverkehr jede Nacht für drei bis fünf Stunden praktisch lahm. Bislang wies der Ring jedoch noch eine vier Kilometer lange Lücke im Stadtteil Rschewka auf, deren Schließung sich als besonders kompliziert erwies: Hier musste sowohl der Newa-Nebenfluss Ochta als auch ein großes Eisenbahngelände samt einem Bahnhof überbrückt werden. Außerdem stießen die Bautrupps auf eine bei der Planung übersehene unterirdische Ölleitung, die erst verlegt werden musste. Engpässe gibt es auf der Strecke aber nach wie vor: Der geplante achtspurige Ausbaustand wurde bislang nur auf 25 Kilometern verwirklicht, ansonsten ist die Autobahn vierspurig. Gespart wurde an der Anbindung des Autobahnringes an das restliche Verkehrsnetz. Mit nur elf Anschlussstellen wurden zwei weniger als ursprünglich geplant realisiert. Am 12. August 2011 wurde der Kfz-Tunnel unter dem Hochwasserschutzdamm für den Verkehr geöffnet, damit gilt die 115 Kilometer lange, seit 1979 in Bau befindliche Trasse als vollendet. Neben der abgekürzt „KAD“ genannten Ringautobahn wird in Sankt Petersburg noch die nur sehr aufwendig zu realisierende Nord-Süd-Stadtautobahn „SSD“ projektiert. Sie wird unter anderem den Petersburger Hafen an den Autobahnring anbinden. Anders als die KAD soll diese Route mautpflichtig werden. ==== Öffentlicher Nahverkehr ==== Die Metro Sankt Petersburg ist aufgrund ihrer Lage im Sumpf und der Notwendigkeit, den Vortrieb der Tunnel in den darunter liegenden Tonsteinschichten vorzunehmen, bis zu 102 Meter tief gebaut und insgesamt die tiefstliegende U-Bahn der Welt. Die 1955 eröffnete Metro besteht aus fünf Linien. Am 28. Dezember 2012 wurden zwei neue Metrostationen nach jahrzehntelangem, wegen finanzieller Schwierigkeiten mehrfach unterbrochenem Bau im dichtbesiedelten Süden der Stadt eröffnet.Bereits vor der Petersburger Metro gibt es zahlreiche Bus- und Trolleybuslinien. Entstanden aus Pferdebahnen gibt es seit 1907 mit der durch amerikanische Firmen entwickelten elektrischen Straßenbahn Sankt Petersburg das zeitweise größte Straßenbahnnetz der Welt. Ein großer Anteil des bodengebundenen Reisendenstroms wird jedoch von den Linientaxis („Marschrutkas“) bewältigt. Sankt Petersburg besitzt zusätzlich ein weit in die Oblast Leningrad und bis nach Oblast Pskow, Oblast Nowgorod und die Republik Karelien reichendes Regionalbahnnetz („Elektritschka“). ==== Fahrradverkehr ==== Erstmals wurde im Sommer 2014 versuchsweise eine Fahrradvermietung an 30 Stationen eingerichtet. Die Stadt ist wegen ihrer flachen Topografie und sehr breiten Straßen gut geeignet zum Fahrradfahren. == Partnerstädte == Sankt Petersburg und Hamburg führen seit 1957 die erste deutsch-sowjetische bzw. erste deutsch-russische Städtepartnerschaft. Diese wurde später zu zwei Dreieckspartnerschaften mit Dresden (seit 1961) und Prag (1991–2014) ergänzt. Sankt Petersburg unterhält weitere Städtepartnerschaften mit folgenden Städten: Weiterhin besteht ein Kooperationsabkommen mit Bordeaux, Frankreich. == Die Stadt als Namenspate == St. Petersburg bzw. Leningrad wurde vielfach durch Namenspatenschaften gewürdigt, und zahlreiche Werke künstlerischen Schaffens haben die Stadt zum Inhalt. Insofern kann die folgende Zusammenstellung nur als beispielhafte Auflistung gelten, ohne Anspruch auf annähernde Vollständigkeit zu erheben. Seit 1988/90 ist die Stadt Namensgeber des auf der Halbinsel Kamtschatka neu entdeckten Minerals Leningradit. Zuvor trug bereits der Leningradkollen in Antarktika den Namen. Die in St. Petersburg aufbewahrte älteste vollständig erhaltene Handschrift der hebräischen Bibel wurde ursprünglich Codex Petersburgensis und später Codex Leningradensis genannt, wobei die letztere Bezeichnung bis heute die offizielle ist, aber beide Namen im aktuellen kodikologischen bzw. theologischen Sprachgebrauch gebräuchlich sind.Eine Reihe von Schiffen wurde im Laufe der Zeit nach der Stadt benannt, u. a. eine Zerstörerklasse in den 1930er Jahren, ein Hubschrauberträger (1967) sowie ein Fischtrawler, ein in der DDR gebautes Fährschiff, ein Frachtschiff und ein Containerschiff. Verschiedene Komponisten schrieben musikalische Huldigungen an die Stadt, unter anderem Johann Strauß (Sohn) mit dem „Abschied von St. Petersburg“ (op. 210, 1857) und Richard Eilenberg mit der „Petersburger Schlittenfahrt“ (op. 86, 1886).Unter den literarischen Hommagen ist z. B. der Roman „Abschied von St. Petersburg“ von Danielle Steel zu nennen, der 1995 auch verfilmt wurde. == Persönlichkeiten == Sankt Petersburg war Geburts- und Wohnort zahlreicher russischer und ausländischer Adliger, Politiker, Künstler und Wissenschaftler. Zu den bekanntesten von ihnen gehören Fjodor Dostojewski, Alexander Puschkin, Daniil Charms, Vladimir Nabokov, alle russischen Zaren seit 1718, Leonhard Euler, Pafnuti Lwowitsch Tschebyschow, Armand Marseille, Lew Alexandrowitsch Mei, Iwan Pawlow, Dmitri Iwanowitsch Mendelejew oder Dmitri Medwedew, Wladimir Putin. Der in Stockholm gebürtige Alfred Nobel verbrachte 17 Jahre seiner Kindheit und Jugend in Sankt Petersburg. == Siehe auch == == Literatur == Hildburg Bethke (Hrsg.), Werner Jaspert (Hrsg.): Moskau, Leningrad heute: Berichte und Impressionen von einer Reise (=Kleine antworten-Reihe). Stimme-Verlag, Frankfurt am Main 1965. Gerhard Hallmann: Leningrad. (Kunstgeschichtliche Städtebücher) 3. Auflage. Seemann, Leipzig 1978, DNB 780435729. Solomon Volkov: St. Petersburg. A Cultural History. Free Press, New York 1995, ISBN 0-684-83296-8. Swetlana Smelowa, Nikolaus Pawlow: Literarisches St. Petersburg: 50 Dichter, Schriftsteller und Gelehrte ; Wohnorte, Wirken und Werke, Verlag Jena 1800, Berlin 2003, Deutsche Bearbeitung: Christian Hufen und Martin Stiebert, ISBN 978-3-931911-26-3. Jörg Ganzenmüller: Das belagerte Leningrad 1941–1944. Eine Stadt in den Strategien von Angreifern und Verteidigern. Schöningh, Paderborn 2005, ISBN 3-506-72889-X. Karl Schlögel, Frithjof Benjamin Schenk, Markus Ackeret (Hrsg.): Sankt Petersburg. Schauplätze einer Stadtgeschichte. Campus, Frankfurt am Main 2007, ISBN 978-3-593-38321-7. Jan Kusber: Kleine Geschichte St. Petersburgs. Pustet, Regensburg 2009, ISBN 978-3-7917-2227-6. Paullina Simons: Die Liebenden von Leningrad. Weltbild, Augsburg 2008, ISBN 978-3-8289-9196-5. Joseph Brodsky, Erinnerungen an Petersburg, übersetzt aus dem Englischen von Sylvia List und Marianne Frisch. Hanser Verlag, 152 Seiten, 2003. ISBN 978-3-446-20290-0. Karl Schlögel: Petersburg. Das Laboratorium der Moderne 1909–1921. Fischer, Frankfurt am Main 2009, ISBN 978-3-596-16720-3. Marianna Butenschön: St. Petersburg. Stimmen zur Stadtgeschichte. Anthologie. Osburg Verlag, Hamburg 2021, ISBN 978-3-95510-240-1. == Weblinks == Petersburg.Aktuell.RU – Deutschsprachiges Stadtjournal aus Sankt Petersburg Petersburger Herold – Deutschsprachige Onlinezeitung aus Sankt Petersburg Reiseführer Sankt Petersburg in Wort und Bild Großformatiger kolorierter Stadtplan von W. P. Clarke (1834) (englisch) Sankt Petersburg in der Online-Enzyklopädie Sankt Petersburg (englisch, russisch) == Einzelnachweise ==
https://de.wikipedia.org/wiki/Sankt_Petersburg
Stern
= Stern = Unter einem Stern (altgriechisch ἀστήρ, ἄστρον astēr, astron und lateinisch aster, astrum, stella, sidus für ‘Stern, Gestirn’; ahd. sterno; astronomisches Symbol: ✱) versteht man in der Astronomie einen massereichen, selbstleuchtenden Himmelskörper aus sehr heißem Gas und Plasma, wie zum Beispiel die Sonne. Daneben wird ein von der Sonne angestrahlter Planet unseres Sonnensystems gemeinsprachlich auch Stern genannt, etwa Abendstern, obgleich er kein Stern wie die Sonne ist. Dass nahezu alle mit dem bloßen Auge sichtbaren selbstleuchtenden Himmelskörper sonnenähnliche Objekte sind, die nur wegen ihrer weiten Entfernung punktförmig erscheinen, ist eine der wichtigsten Erkenntnisse der modernen Astronomie. Etwa drei Viertel der Sterne sind Teil eines Doppelstern- oder Mehrfachsystems, viele haben ein Planetensystem. Gemeinsam entstandene Sterne bilden öfter Sternhaufen. Unter günstigen Bedingungen können mehrere Tausend Sterne freiäugig unterschieden werden. Sie gehören alle zur gleichen Galaxie wie die Sonne, zur Milchstraße, die aus über hundert Milliarden Sternen besteht. Diese Galaxis gehört gemeinsam mit ihren Nachbargalaxien zur Lokalen Gruppe, einem von abertausend Galaxienhaufen. Sterne entstehen aus Gaswolken – in bestimmten Gebieten (H-II-Gebiet) aus gasförmigen Molekülwolken – durch lokale starke Verdichtung in mehreren Phasen. Sie werden von der Schwerkraft ihrer eigenen Masse zusammengehalten und sind daher annähernd kugelförmig. Während ein Stern im Inneren mehrere Millionen Grad heiß ist (beim Kern der Sonne knapp 16.000.000 Kelvin), liegt bei den meisten die Oberflächentemperatur etwa zwischen 2.000 K und 20.000 K (bei der Photosphäre der Sonne knapp 6.000 K); Weiße Zwerge können als freigelegte Sternkerne Temperaturen bis zu 100.000 K an ihrer Oberfläche erreichen. Von der glühenden Sternoberfläche geht nicht nur eine intensive Strahlung wie Licht aus, sondern auch ein Strom geladener Plasmateilchen (Sternwind) weit in den Raum und bildet so eine Astrosphäre. Sterne können sich in Masse und Volumen erheblich unterscheiden, wie auch hinsichtlich Leuchtkraft und Farbe; im Verlauf der Entwicklung eines Sterns verändern sich diese Eigenschaften. Eine orientierende Klassifizierung der Sterne wird schon allein mit den beiden Merkmalen absolute Helligkeit und Spektraltyp möglich. Die Eigenschaften von Sternen sind auch von Bedeutung bei der Frage, ob ein sie umkreisender Planet Leben tragen könnte oder nicht (siehe habitable Zone). == Etymologie == Althochdeutsch sterno, mittelhochdeutsch stern[e], schwedisch stjärna stehen neben anders gebildetem althochdeutsch sterro und mittelhochdeutsch sterre, englisch star. Außergermanisch sind z. B. griechisch astḗr, lateinisch stella verwandt. Die Wörter gehen auf indogermanisch stē̌r- „Stern“ zurück. == Übersicht == Die meisten Sterne bestehen zu 99 % aus Wasserstoff und Helium in der Form von heißem Plasma. Ihre Strahlungsenergie wird im Sterninnern durch die stellare Kernfusion erzeugt und gelangt durch intensive Strahlung und Konvektion an die Oberfläche. Etwa 90 % der Sterne – die Hauptreihensterne – sind wie die Sonne in einem stabilen Gleichgewicht zwischen Gravitation, Strahlungs- und Gasdruck, in dem sie viele Millionen bis Milliarden Jahre verbleiben. Danach blähen sie sich zu Riesensternen auf und schrumpfen schließlich zu Weißen Zwergen, als die sie langsam abkühlen. Auch diese sehr kompakten Endstadien der Sternentwicklung sowie die noch dichteren Neutronensterne werden zu den Sternen gezählt, obwohl sie nur mehr aufgrund ihrer Restwärme Strahlung abgeben. Der nächste und am besten erforschte Stern ist die Sonne, das Zentrum des Sonnensystems. Noch im Mittelalter war unbekannt, dass die Sonne ein „normaler Stern“ ist, doch ahnten bereits antike Naturphilosophen, dass sie heißer als ein glühender Stein sein müsse. Die Sonne ist der einzige Stern, auf dem von der Erde aus Strukturen deutlich zu erkennen sind: Sonnenflecken, Sonnenfackeln und Sonneneruptionen. Nur einige relativ nahe Überriesen wie Beteigeuze oder Mira werden in modernsten Teleskopen als Scheiben sichtbar, die grobe Ungleichförmigkeiten erkennen lassen können. Alle anderen Sterne sind dafür zu weit entfernt; sie erscheinen mit den zur Verfügung stehenden optischen Instrumenten als Beugungsscheibchen punktförmiger Lichtquellen. Früher wurde zur Abgrenzung gegenüber Schweifsternen (Kometen) und Wandelsternen (Planeten) der Begriff der Fixsterne gebraucht. Doch liegen die Positionen von Sternen am Himmel nicht fest, sondern ihre Sternörter verschieben sich langsam gegeneinander. Die messbare Eigenbewegung ist verschieden groß und kann bei einem vergleichsweise nahen Stern wie Barnards Pfeilstern rund zehn Bogensekunden pro Jahr betragen (10,3″/a). In zehntausend Jahren werden daher manche der heutigen Sternbilder deutlich verändert sein. Mit bloßem Auge sind am gesamten Himmel je nach Dunkelheit und atmosphärischen Bedingungen etwa 2000 bis 6000 Sterne zu erkennen, in Stadtnähe jedoch weniger als 1000. Der Anblick dieser scheinbar strukturlosen Lichtpunkte täuscht leicht darüber hinweg, dass Sterne nicht nur hinsichtlich ihrer Entfernung, sondern auch bezüglich der Variationsbreiten von Temperaturen, Leuchtkraft, Massendichte, Volumen und Lebensdauer immense Wertebereiche überspannen. So würde man die äußersten Schichten von roten Riesensternen nach den Kriterien irdischer Technik als Vakuum bezeichnen, während Neutronensterne dichter als Atomkerne sein können; bei einer Massendichte von 4·1015 kg/m³ wöge ein Löffel mit 12 cm³ davon etwa soviel wie das gesamte Wasser im Bodensee (48 km³). Den überaus verschiedenen Erscheinungsformen von Sternen entsprechen erhebliche Unterschiede ihrer inneren Struktur; zwischen den tiefenabhängig gegliederten Zonen finden oft turbulente Austauschvorgänge statt. Dieser Artikel bietet einen groben Überblick und verweist auf weiterführende Artikel. == Sterne aus der Sicht des Menschen == Sterne haben in allen Kulturen eine wichtige Rolle gespielt und die menschliche Vorstellung inspiriert. Sie wurden religiös interpretiert und zur Kalenderbestimmung, später auch als Navigationssterne benutzt. In der Antike stellten sich die Naturphilosophen vor, dass die Fixsterne aus glühendem Gestein bestehen könnten, weil normales Kohlenfeuer für die auf so große Entfernung wirkende Hitze nicht auszureichen schien. Dass Sterne hingegen nur aus Gas bestehen, wurde erst vor etwa 300 Jahren erkannt – unter anderem durch verschiedene Deutungen der Sonnenflecke – und durch die im 19. Jahrhundert aufkommende Spektralanalyse bestätigt. Die ersten physikalisch fundierten Hypothesen zur Bildung von Sternen stammen von Kant und Laplace. Beide gingen von einem Urnebel aus, doch unterschieden sich ihre postulierten Bildungsvorgänge. Häufig werden beide Theorien jedoch zusammengefasst als Kant-Laplace-Theorie. === Sternbilder und Sternbezeichnungen === Die im westlichen Kulturkreis bekannten Sternbilder gehen teilweise auf die Babylonier und die griechische Antike zurück. Die zwölf Sternbilder des Tierkreises bildeten die Basis der Astrologie. Aufgrund der Präzession sind die sichtbaren Sternbilder heute jedoch gegen die astrologischen Tierkreiszeichen um etwa ein Zeichen verschoben (Ausnahme: die vedische/indische Astrologie). Viele der heute bekannten Eigennamen wie Algol, Deneb oder Regulus entstammen dem Arabischen und Lateinischen. Etwa ab 1600 nutzte die Astronomie die Sternbilder zur namentlichen Kennzeichnung der Objekte in den jeweiligen Himmelsregionen. Ein noch heute weit verbreitetes System zur Benennung der jeweils hellsten Sterne eines Sternbildes geht auf die Sternkarten des deutschen Astronomen Johann Bayer zurück. Die Bayer-Bezeichnung eines Sterns besteht aus einem griechischen Buchstaben gefolgt vom Genitiv des lateinischen Namens des Sternbilds, in dem der Stern liegt; so bezieht sich beispielsweise γ Lyrae auf den dritthellsten Stern im Sternbild Leier. Ein ähnliches System wurde vom britischen Astronomen John Flamsteed eingeführt: Die Flamsteed-Bezeichnung eines Sterns besteht aus einer vorangestellten, aufsteigend nach Rektaszension geordneten Zahl und wiederum dem Genitiv des lateinischen Namens des Sternbilds, wie zum Beispiel bei 13 Lyrae. Die Flamsteed-Bezeichnung wird oft dann gewählt, wenn für einen Stern keine Bayer-Bezeichnung existiert. Die meisten Sterne werden aber lediglich durch ihre Nummer in einem Sternkatalog identifiziert. Am gebräuchlichsten ist hierfür der SAO-Katalog mit rund 250.000 Sternen. In Buchform (100 Sterne pro Seite) umfasst er etwa 2.500 Seiten in 4 Bänden, ist aber auch als Datenbank verfügbar. Es gibt eine Reihe von Firmen und sogar einige Sternwarten, die zahlenden Kunden anbieten, Sterne nach ihnen zu benennen. Diese Namen werden jedoch von niemandem außer der registrierenden Firma und dem Kunden anerkannt. Die Internationale Astronomische Union, die offiziell für Sternbenennungen zuständige Stelle, hat sich deutlich von dieser Praxis distanziert. === Scheinbare Bewegung des Sternenhimmels === Da sich die Erde im Laufe eines Tages einmal um sich selbst dreht und im Laufe eines Jahres einmal um die Sonne kreist, ändert sich der Anblick des Himmels mit Sternen und Sternbildern für den Beobachter auf der Erde sowohl im Verlauf einer Nacht wie auch mit den Jahreszeiten. Für den Beobachter auf der Nordhalbkugel der Erde (nördlich des Erdäquators) gilt: Bei Blickrichtung nach Norden dreht sich während der Nacht der Sternhimmel im Gegenuhrzeigersinn um den Polarstern. Bei Blickrichtung nach Süden verlaufen die scheinbaren Sternbahnen andersherum (weil der Beobachter andersherum steht): Die Sterne und der Sternhimmel bewegen sich im Uhrzeigersinn von links (Osten) nach rechts (Westen). Auch im Ablauf eines Jahres gilt die gleiche, nur 365-mal langsamere Bewegung, wenn man immer zur selben Uhrzeit auf den Himmel schaut: im Norden gegen den Uhrzeiger, im Süden von links nach rechts. Der Sternenhimmel kann dabei – ausgenommen die Stellungen der Planeten und des Mondes – sehr ähnliche Bilder zeigen: Beispielsweise ist der Anblick am 31. Oktober um 4:00 Uhr fast gleich dem am 31. Dezember um 24:00 Uhr oder dem am 2. März um 20:00 Uhr. Das bedeutet, dass eine Uhrzeit-Veränderung von vier Stunden (ein sechstel Tag) einer Kalender-Veränderung von rund 60 Tagen (ein sechstel Jahr) entspricht. Für den Beobachter auf der Südhalbkugel der Erde (südlich des Erdäquators) gilt: Bei Blickrichtung nach Süden dreht sich der Sternenhimmel im Uhrzeigersinn um den Himmelssüdpol. Bei Blickrichtung nach Norden verlaufen die scheinbaren Sternbahnen andersherum: Die Sterne bewegen sich im Gegenuhrzeigersinn von rechts (Osten) nach links (Westen). Auch im Verlauf eines Jahres ergibt sich bei Blick nach Süden die gleiche Bewegung, nur langsamer, im Uhrzeigersinn. Bei Blick nach Norden ist die scheinbare Bewegung wieder im Gegenuhrzeigersinn von rechts nach links. === Verteilung der Sterne am Himmel === Der erdnächste Stern ist die Sonne. Der nächste Fixstern in klassischem Sinn ist Proxima Centauri, er befindet sich in einer Entfernung von 4,22 Lichtjahren (Lj). Der nach der Sonne am hellsten erscheinende Stern ist Sirius mit einer scheinbaren Helligkeit von −1,46m, gefolgt von etwa 20 Sternen erster Größe. Die Leuchtkraft des 8,6 Lj entfernten Sirius ist etwa 25-mal stärker als die der Sonne, und über tausendmal schwächer als die von Deneb. Alle mit bloßem Auge erkennbaren Sterne gehören der Milchstraße an. Sie konzentrieren sich – zusammen mit über 100 Milliarden schwächeren, freiäugig nicht sichtbaren Sternen – in einem Band quer über den Nachthimmel, das die Ebene der Milchstraße markiert. Der am weitesten vom Sonnensystem entfernte bekannte Stern ist Earendel in einer Entfernung von 12,9 Milliarden Lichtjahren im Sternbild Walfisch, der Anfang 2022 mit dem Hubble-Weltraumteleskop entdeckt werden konnte. Sterne erscheinen wegen ihrer riesigen Entfernung nur als Lichtpunkte am Himmel, die bei der Abbildung durch das Auge oder Teleskop zu Beugungsscheibchen verschmieren. Je größer die Apertur, desto kleiner sind die Beugungsringe (siehe Bild). Nur die beiden recht nahen Riesensterne Beteigeuze und Mira liegen mit einem scheinbaren Durchmesser von ca. 0,03" an der Auflösungsgrenze des Hubble-Weltraumteleskops und erscheinen dort als unstrukturierte Fläche. Das Flackern der Sterne, die Szintillation, das meist beim Beobachten mit bloßem Auge sichtbar ist, beruht auf Turbulenzen in der Erdatmosphäre. Es hat nichts mit den Leuchteigenschaften der Sterne zu tun. Mit bloßem Auge sind unter optimalen Bedingungen Sterne der sechsten Größenklasse erkennbar. Am irdischen Nachthimmel sind dies maximal 5000, das heißt, auf der sichtbaren Himmelshälfte rund 2000. Diese Zahl gilt für völlig klare Luft und sinkt durch die industrielle und städtische Lichtverschmutzung oft auf nur 300 bis 500, in den Stadtzentren sogar auf 50 bis 100 Sterne. == Vorkommen und Eigenschaften == Die Astronomie hat in den letzten hundert Jahren zunehmend auf Methoden der Physik zurückgegriffen. So beruht ein großer Teil des Wissens über Sterne aus theoretischen Sternmodellen, deren Qualität an der Übereinstimmung mit den astronomischen Beobachtungen gemessen wird. Umgekehrt ist die Erforschung der Sterne aufgrund der enormen Vielfalt der Phänomene und der Spannweite der beteiligten Parameter auch für die physikalische Grundlagenforschung von großer Bedeutung. === Räumliche Verteilung und Dynamik der Sterne === Fast alle Sterne finden sich in Galaxien. Galaxien bestehen aus einigen Millionen bis zu Hunderten von Milliarden Sternen und sind ihrerseits in Galaxienhaufen angeordnet. Nach Schätzungen der Astronomen gibt es im gesamten sichtbaren Universum etwa 100 Milliarden solcher Galaxien mit insgesamt etwa 70 Trilliarden (7 × 1022) Sternen. Aufgrund der Gravitation umkreisen Sterne das Zentrum ihrer Galaxie mit Geschwindigkeiten im Bereich von einigen Dutzend km/s und benötigen typischerweise für einen Umlauf mehrere 100.000 Jahre bis 200 Millionen Jahre (vgl. Galaktisches Jahr). Zum Zentrum hin stellen sich jedoch deutlich kürzere Umlaufzeiten ein. Die Sterne sind innerhalb einer Galaxie nicht völlig gleichmäßig verteilt, sondern bilden teilweise offene Sternhaufen wie beispielsweise die Plejaden, auch Siebengestirn genannt, oder Kugelsternhaufen, die sich im Halo von Galaxien befinden. Darüber hinaus stehen sie im galaktischen Zentrum deutlich dichter als in den Randbereichen. Die längste Liste von bekannten Sternen, der Tycho-2-Katalog, zählt 2.539.913 Sterne (Stand 2015) und listet deren Position, Bewegung und photometrische Information. Bis zur Magnitude +11,0 hält man den Katalog für 99,9 % vollständig. Er ist das Ergebnis der Hipparcos-Satellitenmission und deren systematischer Durchmusterung des Himmels. Die Nachfolgemission zu Hipparcos ist die Gaia-Satellitenmission. Dieser Satellit sammelt seit 2013 Daten und soll den bestehenden Datensatz erheblich erweitern. === Zustandsgrößen der Sterne === Sterne lassen sich mit wenigen Zustandsgrößen nahezu vollständig charakterisieren. Die wichtigsten nennt man fundamentale Parameter. Dazu zählen: Oberflächentemperatur Schwerebeschleunigung an der Oberfläche Masse (wichtigster Parameter), meist in Einheiten der Sonnenmassesowie, je nach Zusammenhang: Radius Dichte absolute Helligkeit (Leuchtkraft) Metallizität (Häufigkeit chemischer Elemente schwerer als Helium) Rotationsgeschwindigkeit EigenbewegungDie Oberflächentemperatur, die Schwerebeschleunigung und die Häufigkeit der chemischen Elemente an der Sternoberfläche lassen sich unmittelbar aus dem Sternspektrum ermitteln. Ist die Entfernung eines Sterns bekannt, beispielsweise durch die Messung seiner Parallaxe, so kann man die Leuchtkraft über die scheinbare Helligkeit berechnen, die durch Fotometrie gemessen wird. Aus diesen Informationen können schließlich der Radius und die Masse des Sterns berechnet werden. Die Rotationsgeschwindigkeit v am Äquator kann nicht direkt bestimmt werden, sondern nur die projizierte Komponente v ⋅ sin ⁡ i {\displaystyle v\cdot \sin i} mit der Inklination i, die die Orientierung der Rotationsachse beschreibt. Mehr als 99 Prozent aller Sterne lassen sich eindeutig einer Spektralklasse sowie einer Leuchtkraftklasse zuordnen. Diese fallen innerhalb des Hertzsprung-Russell-Diagramms (HRD) oder des verwandten Farben-Helligkeits-Diagramms in relativ kleine Bereiche, deren wichtigster die Hauptreihe ist. Durch eine Eichung anhand der bekannten Zustandsgrößen einiger Sterne erhält man die Möglichkeit, die Zustandsgrößen anderer Sterne unmittelbar aus ihrer Position in diesem Diagramm abzuschätzen. Die Tatsache, dass sich fast alle Sterne so einfach einordnen lassen, bedeutet, dass das Erscheinungsbild der Sterne von nur relativ wenigen physikalischen Prinzipien bestimmt wird. Im Verlauf seiner Entwicklung bewegt sich der Stern im Hertzsprung-Russell-Diagramm. Die zugehörige Bahn eines Sternes in diesem Diagramm ist weitgehend durch eine einzige Größe festgelegt, nämlich seine anfängliche Masse. Dabei verharren die Sterne die meiste Zeit auf der Hauptreihe, entwickeln sich im Spätstadium zu Roten Riesen und enden teilweise als Weiße Zwerge. Diese Stadien werden im Abschnitt über die Sternentwicklung näher beschrieben. Der Wertebereich einiger Zustandsgrößen überdeckt viele Größenordnungen. Die Oberflächentemperaturen von Hauptreihensternen reichen von etwa 2200 K bis 45.000 K, ihre Massen von 0,07 bis 120 Sonnenmassen und ihre Radien von 0,1 bis 25 Sonnenradien. Rote Riesen sind deutlich kühler und können so groß werden, dass die komplette Erdbahn in ihnen Platz hätte. Weiße Zwerge haben Temperaturen bis zu 100.000 K, sind aber nur so klein wie die Erde, obwohl ihre Masse mit der der Sonne vergleichbar ist. Die Masse von Sternen der Hauptreihe kann durch die Masse-Leuchtkraft-Relation abgeschätzt werden. Die Eigenbewegung eines Sterns schließlich ist der Geschwindigkeitsvektor in Bezug auf die Position der Sonne. Typische Eigenbewegungen liegen zwischen 10 und 100 Kilometern pro Sekunde. Diese ist meist auch eine Eigenschaft der Umgebung des Sterns, d. h. Sterne befinden sich meist in Ruhe in ihrer eigenen Umgebung. Das rührt daher, dass Sterne in Gruppen aus großen Gaswolken entstehen. Durch zufällige Prozesse wie beispielsweise Sternbegegnungen in dichten Kugelsternhaufen oder mögliche Supernova-Explosionen in ihrer Umgebung können Sterne überdurchschnittliche Eigengeschwindigkeiten erhalten (so genannte runaway stars oder Hyperschnellläufer). Die jeweilige Geschwindigkeit geht aber nie über Werte von wenigen hundert Kilometern pro Sekunde hinaus. Die erste Entdeckung von Sternen, die aufgrund ihrer Eigenbewegung die Milchstraße verlassen werden, wurde in den letzten Jahren gemacht. Momentan sind elf dieser Sterne bekannt, die großteils durch nahe Begegnungen mit dem Schwarzen Loch im galaktischen Zentrum ihren Impuls bekommen haben. == Sternentwicklung == === Entstehung === Ein großer Anteil der Sterne ist im Frühstadium des Universums vor über 10 Milliarden Jahren entstanden. Aber auch heute bilden sich noch Sterne. Die typische Sternentstehung verläuft nach folgendem Schema: Ausgangspunkt für die Sternentstehung ist eine Gaswolke (meist Molekülwolke), die überwiegend aus Wasserstoff besteht, und die aufgrund ihrer eigenen Schwerkraft kollabiert. Das geschieht, wenn die Schwerkraft den Gasdruck dominiert, und damit das Jeans-Kriterium erfüllt ist. Auslöser können z. B. die Druckwelle einer nahen Supernova, Dichtewellen in der interstellaren Materie oder der Strahlungsdruck bereits entstandener Jungsterne sein. Durch die weitere Verdichtung der Gaswolke entstehen einzelne Globulen (räumlich eng begrenzte Staub- und Gaswolken), aus denen anschließend die Sterne hervorgehen: Dabei entstehen die Sterne selten isoliert, sondern eher in Gruppen. Die Periode der Kontraktion dauert insgesamt etwa 10 bis 15 Millionen Jahre. Bei der weiteren Kontraktion der Globulen nimmt die Dichte zu und wegen der freiwerdenden Gravitationsenergie (wie des damit erhöhten Gravitationsdrucks) steigt die Temperatur weiter an (Virialsatz; die kinetische Energie der Teilchen entspricht der Temperatur). Der freie Kollaps kommt zum Stillstand, wenn die Wolke im Farben-Helligkeits-Diagramm die so genannte Hayashi-Linie erreicht, die das Gebiet abgrenzt, innerhalb dessen überhaupt stabile Sterne möglich sind. Danach bewegt sich der Stern im Farben-Helligkeits-Diagramm zunächst entlang dieser Hayashi-Linie, bevor er sich auf die Hauptreihe zubewegt, wo das sogenannte Wasserstoffbrennen einsetzt, das heißt die stellare Kernfusion von Wasserstoff zu Helium durch den Bethe-Weizsäcker-Zyklus oder die Proton-Proton-Reaktion. Als Folge des Drehimpulses der Globule bildet sich eine Scheibe aus, die den jungen Stern umkreist, und aus der er weiter Masse akkretiert. Aus dieser Akkretionsscheibe können ein oder mehrere Sterne sowie Planeten entstehen. Diese Phase der Sternentwicklung ist jedoch bisher noch nicht so gut verstanden. Aus der Ebene der Scheibe wird die Ekliptik. Bei der Akkretion aus der Scheibe bilden sich auch in beide Richtungen der Polachsen Materie-Jets (siehe Bild), die eine Länge von über 10 Lichtjahren erreichen können.Massereiche Sterne entstehen seltener als massearme. Dies wird beschrieben durch die Ursprüngliche Massenfunktion. Je nach Masse ergeben sich verschiedene Szenarien der Sternentstehung: Oberhalb einer gewissen Grenzmasse können Sterne durch den Akkretionsprozess vermutlich gar nicht entstehen, da diese Sterne bereits im Akkretionsstadium einen dermaßen starken Sternwind produzieren würden, dass der Massenverlust die Akkretionsrate übersteigen würde. Sterne dieser Größe, wie beispielsweise die blauen Nachzügler (engl. blue stragglers), entstehen vermutlich durch Sternkollisionen. Massereiche und damit heiße Sterne mit mehr als 8 Sonnenmassen kontrahieren vergleichsweise schnell. Nach der Zündung der Kernfusion treibt die UV-reiche Strahlung die umgebende Globule schnell auseinander und der Stern akkretiert keine weitere Masse. Sie gelangen deshalb sehr schnell auf die Hauptreihe im Hertzsprung-Russell-Diagramm. Der mit 265 Sonnenmassen schwerste bislang entdeckte Stern mit Kurzbezeichnung R136a1 ist etwas über eine Million Jahre alt und befindet sich in einem Sternhaufen im Tarantelnebel der Großen Magellanschen Wolke. Bei seiner Entstehung könnte der Stern bis zu 320 Sonnenmassen gehabt haben. Sterne zwischen etwa 3 und 8 Sonnenmassen durchlaufen eine Phase, in der sie Herbig-Ae/Be-Sterne genannt werden. In dieser Phase befindet sich der Stern schon auf der Hauptreihe, akkretiert aber noch einige Zeit Masse. Masseärmere Sterne zwischen 0,07 und 3 Sonnenmassen bleiben nach der Zündung der Kernfusion noch einige Zeit in die Globule eingebettet und akkretieren weiter Masse. In dieser Zeit sind sie nur im infraroten Spektralbereich erkennbar. Während sie sich der Hauptreihe annähern, durchlaufen sie das Stadium der T-Tauri-Sterne. Objekte zwischen 13 und 75 Jupitermassen (oder 0,07 Sonnenmassen) erreichen ebenfalls die nötige Temperatur, um eine Kernfusion zu zünden, allerdings nicht die Fusion von Wasserstoff, sondern nur die von primordial in geringen Mengen vorhandenem Deuterium, ab 65 Jupitermassen auch von Lithium. Diese Objekte werden Braune Zwerge genannt und sind hinsichtlich ihrer Masse zwischen den planetaren Gasriesen (bis 13 MJ) und Sternen angesiedelt. Da der Brennstoffvorrat nicht ausreicht, die Kontraktion nennenswert aufzuhalten, werden Braune Zwerge als substellare Objekte bezeichnet. Aus einer Globule kann sowohl ein Doppel- oder Mehrfachsternsystem als auch ein einzelner Stern entstehen. Wenn sich Sterne in Gruppen bilden, können aber auch unabhängig voneinander entstandene Sterne durch gegenseitigen Einfang Doppel- oder Mehrfachsternsysteme bilden. Man schätzt, dass etwa zwei Drittel aller Sterne Bestandteil eines Doppel- oder Mehrfachsternsystems sind. Im Frühstadium des Universums standen für die Sternentstehung nur Wasserstoff und Helium zur Verfügung. Diese Sterne zählt man zur so genannten Population III, sie waren zu massereich und somit zu kurzlebig, um bis heute zu existieren. Die nächste Generation, Population-II-Sterne genannt, existieren noch heute, man findet sie vor allem im Halo der Milchstraße, aber auch in Sonnennähe wurden sie nachgewiesen. Sterne, die später entstanden sind, enthalten von Anfang an einen gewissen Anteil an schweren Elementen, die in früheren Sterngenerationen durch Kernreaktionen erzeugt wurden und beispielsweise über Supernova-Explosionen die interstellare Materie mit schweren Elementen anreicherten. Die meisten Sterne in der Scheibe der Milchstraße gehören dazu. Man bezeichnet sie als Sterne der Population I. Ein Beispiel für eine aktive Sternentstehungsregion ist NGC 3603 im Sternbild Kiel des Schiffs in einer Entfernung von 20.000 Lichtjahren. Sternentstehungsprozesse werden im Infraroten und im Röntgenbereich beobachtet, da diese Spektralbereiche durch die umgebenden Staubwolken kaum absorbiert werden, anders als das sichtbare Licht. Dazu werden Satelliten eingesetzt wie beispielsweise das Röntgenteleskop Chandra. === Hauptreihenphase === Der weitere Verlauf der Sternentwicklung wird im Wesentlichen durch die Masse bestimmt. Je größer die Masse eines Sternes ist, desto kürzer ist seine Brenndauer. Die massereichsten Sterne verbrauchen in nur wenigen hunderttausend Jahren ihren gesamten Brennstoff. Ihre Strahlungsleistung übertrifft dabei die der Sonne um das Hunderttausendfache oder mehr. Die Sonne dagegen hat nach 4,6 Milliarden Jahren noch nicht einmal die Hälfte ihrer Hauptreihenphase hinter sich gebracht. Die massearmen Roten Zwerge entwickeln sich noch wesentlich langsamer. Da die Roten Zwerge ein Alter von mehreren 10 Milliarden bis hin zu Billionen von Jahren erreichen und das Universum erst etwa 14 Milliarden Jahre alt ist, hat von den masseärmsten Sternen auch noch kein einziger die Hauptreihe verlassen können. Neben der Masse ist der Anteil an schweren Elementen von Bedeutung. Neben seinem Einfluss auf die Brenndauer bestimmt er, ob sich beispielsweise Magnetfelder bilden können oder wie stark der Sternwind wird, der zu einem erheblichen Massenverlust im Laufe der Sternentwicklung führen kann. Die folgenden Entwicklungsszenarien beziehen sich auf Sterne mit solaren Elementhäufigkeiten, wie sie für die meisten Sterne in der Scheibe der Milchstraße üblich sind. In den magellanschen Wolken beispielsweise, zwei Zwerggalaxien in der Nachbarschaft der Milchstraße, haben die Sterne jedoch einen deutlich geringeren Anteil an schweren Elementen. Sterne verbringen nach ihrer Entstehung den größten Teil ihrer Brenndauer (etwa 90 Prozent ihrer Lebenszeit) auf der Hauptreihe. Während dieser Dauer wird im Kern der Sterne gleichmäßig Wasserstoff zu Helium fusioniert. Die schwereren Sterne sind dabei heißer und heller und befinden sich links oben im Farben-Helligkeits-Diagramm, die leichteren rechts unten bei den kühleren mit geringerer Leuchtkraft. Im Verlauf dieser Hauptreihenphase werden die Sterne langsam größer, heißer und heller und bewegen sich in Richtung der Riesensterne. Dies trifft auch auf die Sonne zu, die heute etwa 40 Prozent heller ist als bei ihrer Entstehung. Die Kernfusion von Wasserstoff zu Helium findet dabei in einem Zentralbereich des Sternes statt, der nur wenige Prozent seines Gesamtvolumens einnimmt, jedoch etwa die Hälfte seiner Masse enthält. Die Temperatur beträgt dort über 10 Millionen Kelvin. Dort sammeln sich auch die Fusionsprodukte an. Der Energietransport an die Sternoberfläche dauert mehrere hunderttausend Jahre. Er findet über Strahlungstransport, Wärmeleitung oder Konvektion statt. Den Bereich, der die Strahlung in den Weltraum abgibt, nennt man die Sternatmosphäre. Ihre Temperatur beträgt mehrere tausend bis mehrere zehntausend Kelvin. So weist beispielsweise ein Stern mit 30 Sonnenmassen eine typische Oberflächentemperatur von 40.000 K auf. Er gibt daher fast ausschließlich UV-Strahlung ab und nur etwa 3 % sichtbares Licht. === Spätstadien === ==== Letzte Brennphasen ==== Bei genügend hoher Temperatur und ausreichend hohem Druck beginnen die beim Wasserstoffbrennen erbrüteten Heliumkerne im Kern des Sterns zu fusionieren. Das Wasserstoffbrennen wird dabei nicht ausgesetzt, sondern läuft in einer Schale um den Helium brennenden Kern weiter. Damit einher geht, dass der Stern die Hauptreihe im Hertzsprung-Russell-Diagramm verlässt. Das Zünden des Heliumbrennens ist aber nur für Sterne hinreichender Masse möglich (ab 0,3 Sonnenmassen, siehe unten), leichtere Sterne glühen nach Abschluss des Wasserstoffbrennens aus. Die weitere Entwicklung verläuft für massearme und massereiche Sterne deutlich verschieden. Dabei bezeichnet man Sterne bis zu 2,3 Sonnenmassen als massearm. Massearme Sterne bis zu 0,3 Sonnenmassen führen die Fusion des Wasserstoffs in einer wachsenden Schale um den erloschenen Kern fort. Sie erlöschen nach dem Ende dieses so genannten Schalenbrennens vollständig. Durch die Temperaturabnahme im Zentrum geben sie der Schwerkraft nach und kontrahieren zu Weißen Zwergen mit Durchmessern von einigen tausend Kilometern. Dadurch steigt die Oberflächentemperatur zunächst stark an. Im weiteren Verlauf kühlen die Weißen Zwerge jedoch ab und enden schließlich als Schwarze Zwerge. Massearme Sterne zwischen 0,3 und 2,3 Sonnenmassen wie die Sonne selbst erreichen durch weitere Kontraktion die zum Heliumbrennen notwendige Temperatur und Dichte in ihrem Kern. Bei der Zündung des Heliumbrennens spielen sich innerhalb von Sekunden dramatische Prozesse ab, bei denen der Leistungsumsatz im Zentrum auf das 100-Milliarden-Fache der heutigen Sonnenleistung ansteigen kann, ohne dass an der Oberfläche davon etwas erkennbar ist. Diese Vorgänge bis zur Stabilisierung des Heliumbrennens werden als Heliumflash bezeichnet. Beim Heliumbrennen entstehen Elemente bis zum Sauerstoff. Gleichzeitig findet in einer Schale um den Kern noch Wasserstoffbrennen statt. Durch den Temperatur- und Leistungsanstieg expandieren die Sterne zu Roten Riesen mit Durchmessern von typischerweise dem Hundertfachen der Sonne. Dabei werden oft die äußeren Hüllen der Sterne abgestoßen und bilden Planetarische Nebel. Schließlich erlischt auch das Heliumbrennen und die Sterne werden zu Weißen Zwergen wie oben beschrieben. Massereiche Sterne zwischen 2,3 und 3 Sonnenmassen erreichen nach dem Heliumbrennen das Stadium des Kohlenstoffbrennens, bei dem Elemente bis zum Eisen entstehen. Eisen ist in gewissem Sinne die Sternenasche, da aus ihm durch Fusion keine weitere Energie gewonnen werden kann. Durch Sternwind oder die Bildung Planetarischer Nebel verlieren diese Sterne jedoch einen erheblichen Teil ihrer Masse. Sie geraten so unter die kritische Grenze für eine Supernova-Explosion und werden ebenfalls zu Weißen Zwergen. Massereiche Sterne über 3 Sonnenmassen verbrennen in den letzten Jahrtausenden ihres Lebenszyklus praktisch alle leichteren Elemente in ihrem Kern zu Eisen. Auch diese Sterne stoßen einen großen Teil der Masse in ihren äußeren Schichten als Sternwind ab. Die dabei entstehenden Nebel sind oft bipolare Strukturen, wie zum Beispiel der Homunkulusnebel um η Carinae. Gleichzeitig bilden sich um den Kern im Sterninneren Schalen nach Art einer Zwiebel, in denen verschiedene Fusionsprozesse stattfinden. Die Zustände in diesen Schalen unterscheiden sich dramatisch. Das sei exemplarisch am Beispiel eines Sternes mit 18 Sonnenmassen dargestellt, der die 40.000-fache Sonnenleistung und den 50-fachen Sonnendurchmesser aufweist: Die Grenze zwischen der Helium- und der Kohlenstoffzone ist hinsichtlich des relativen Temperatur- und Dichtesprungs vergleichbar mit der Erdatmosphäre über einem Lavasee. Ein erheblicher Teil der gesamten Sternmasse konzentriert sich im Eisenkern mit einem Durchmesser von nur etwa 10.000 km. Sobald er die Chandrasekhar-Grenze von 1,44 Sonnenmassen überschreitet, kollabiert er innerhalb von Sekundenbruchteilen, während die äußeren Schichten durch freigesetzte Energie in Form von Neutrinos und Strahlung abgestoßen werden und eine expandierende Explosionswolke bilden. Unter welchen Umständen als Endprodukt einer solchen Supernova vom Typ II ein Neutronenstern oder ein Schwarzes Loch entsteht, ist noch nicht genau bekannt. Dabei dürfte neben der Masse aber auch die Rotation des Vorläufersterns und dessen Magnetfeld eine besondere Rolle spielen. Möglich wäre auch die Bildung eines Quarksterns, dessen Existenz jedoch bisher lediglich hypothetisch ist. Ereignet sich die Supernova in einem Doppelsternsystem, bei dem Massetransfer von einem Roten Riesen zu einem Weißen Zwerg stattfindet (Typ Ia), können Kohlenstofffusionsprozesse den Stern sogar vollständig zerreißen. ==== Nukleosynthese und Metallizität ==== Elemente schwerer als Helium werden fast ausschließlich durch Kernreaktionen im späten Verlauf der Sternentwicklung erzeugt, in der so genannten Nukleosynthese. Bei den im thermischen Gleichgewicht ablaufenden Fusionsreaktionen im Plasma können alle Elemente bis zur Kernladungszahl von Eisen entstehen. Schwerere Elemente, bei denen die Bindungsenergie pro Nukleon wieder ansteigt, werden durch Einfangen von Nuklearteilchen in nichtthermischen Kernreaktionen gebildet. Hauptsächlich entstehen schwere Elemente durch Neutroneneinfang mit nachfolgendem β-Zerfall in kohlenstoffbrennenden Riesensternen im s-Prozess oder in der ersten, explosiven Phase einer Supernova im r-Prozess. Hierbei steht s für slow und r für rapid. Neben diesen beiden häufigsten Prozessen, die im Endergebnis zu deutlich unterscheidbaren Signaturen in den Elementhäufigkeiten führen, finden auch Protoneneinfang und Spallation statt. Die entstandenen Elemente werden zum großen Teil wieder in das interstellare Medium eingespeist, aus dem weitere Sterngenerationen entstehen. Je häufiger dieser Prozess bereits durchlaufen wurde, umso mehr sind die Elemente, die schwerer als Helium sind, angereichert. Für diese Elemente hat sich in der Astronomie der Sammelbegriff Metalle eingebürgert. Da sich diese Metalle einigermaßen gleichmäßig anreichern, genügt es oft, statt der einzelnen Elementhäufigkeiten die Metallizität anzugeben. Sterne, deren relative Häufigkeitsmuster von diesem Schema abweichen, werden als chemisch pekuliar bezeichnet. Spätere Sternengenerationen haben folglich eine höhere Metallizität. Die Metallizität ist daher ein Maß für das Entstehungsalter eines Sternes. == Doppelsterne == Ein Doppelstern oder Doppelsternsystem besteht aus zwei Sternen, die scheinbar oder tatsächlich am Himmel nahe beisammenstehen. Wenn sie gravitativ aneinander gebunden sind, bewegen sie sich periodisch um ihren gemeinsamen Schwerpunkt. Man unterscheidet folgende Arten doppelter Sterne bzw. Sternpaare: Optische Doppelsterne (scheinbare Doppelsterne): zwei Sterne, die von der Erde aus in fast gleicher Richtung am Himmel erscheinen, die sich aber gravitativ nicht gegenseitig beeinflussen. Geometrische Doppelsterne (räumliche Doppelsterne): Sterne, die einander räumlich nahe, aufgrund ihrer hohen Relativgeschwindigkeiten jedoch nicht aneinander gebunden sind. Physikalische Doppelsterne oder Doppelsternsysteme sind zwei Sterne, die aufgrund ihrer räumlichen Nähe gravitativ gebunden sind und sich nach den Kepler’schen Gesetzen um einen gemeinsamen Schwerpunkt bewegen. Über die Hälfte aller Sterne im Universum sind Teil eines Doppelsternsystems. Ein Mehrfachsternsystem besteht aus mehr als zwei physikalisch gebundenen Sternen. == Veränderliche Sterne == Die scheinbare und oft auch die absolute Helligkeit mancher Sterne unterliegt zeitlichen Schwankungen, erkennbar in den Lichtkurven. Man unterscheidet folgende Typen von veränderlichen Sternen: Bedeckungsveränderliche. Dabei handelt es sich um Doppelsterne, die sich während ihres Umlaufs aus irdischer Perspektive zeitweise verdecken. Rotationsveränderliche. Dabei ist die beobachtete Veränderung auf die Rotation des Sterns zurückzuführen, da er nicht in alle Richtungen gleich hell strahlt (z. B. Pulsare). Pulsationsveränderliche. Dabei verändern sich die Zustandsgrößen mehr oder weniger periodisch und damit auch die Leuchtkraft. Die meisten Sterne durchlaufen solche instabile Phasen während ihrer Entwicklung, in der Regel aber erst nach dem Hauptreihenstadium. Wichtige Typen sind: Cepheiden – Ihrer Periode lässt sich exakt eine bestimmte Leuchtkraft zuordnen. Sie sind daher bei der Entfernungsbestimmung als so genannte Standardkerzen von Bedeutung. Mirasterne – Ihre Periode ist länger und unregelmäßiger als die der Cepheiden. RR-Lyrae-Sterne – Sie pulsieren sehr regelmäßig mit vergleichsweise kurzer Periode und haben etwa die 90-fache Leuchtkraft der Sonne. Kataklysmisch Veränderliche. Dabei handelt es sich üblicherweise um Doppelstern­systeme, bei denen ein Massetransfer von einem Roten Riesen zu einem Weißen Zwerg stattfindet. Sie zeigen Ausbrüche in Abständen von wenigen Stunden bis zu mehreren Millionen Jahren. Supernovae. Bei Supernovae gibt es mehrere Typen, von denen Typ Ia ebenfalls ein Doppelsternphänomen ist. Nur die Typen Ib, Ic und II markieren das Ende der Evolution eines massereichen Sterns. Eruptiv Veränderliche. Sie erleiden für kurze Zeiten Ausbrüche, die sich oft in mehr oder weniger unregelmäßigen Abständen wiederholen. Beispiele sind (z. B. UV-Ceti-Sterne, T-Tauri-Sterne): Röntgendoppelsterne sind Doppelsternsysteme, die Röntgenstrahlung aussenden. Dabei empfängt ein kompakter Partner durch Akkretion Materie von einem anderen Stern. Dadurch ähneln die Röntgendoppelsterne den kataklysmischen Veränderlichen. == Siehe auch == Sternaufbau, Sternoberfläche Gestirn, Astronomisches Objekt Klassifizierung der Sterne Liste der Sterne Liste der Doppel- und Mehrfachsterne Liste sehr großer Sterne Liste der nächsten Sterne Liste der hellsten Sterne Celestia – freie 3D Echtzeit-Weltraumsimulation (OpenGL) == Literatur == S. W. Stahler & F. Palla: The Formation of Stars. WILEY-VCH, Weinheim 2004, ISBN 3-527-40559-3 H. H. Voigt: Abriss der Astronomie. 4. Auflage. Bibliographisches Institut, Mannheim 1988, ISBN 3-411-03148-4. H. Scheffler, Hans Elsässer: Physik der Sterne und der Sonne. 2. Auflage. BI-Wiss.-Verl., Mannheim 1990, ISBN 3-411-14172-7. Rudolf Kippenhahn, A. Weigert: Stellar structure and evolution. Springer, Berlin 1990, ISBN 3-540-50211-4 (englisch). N. Langer: Leben und Sterben der Sterne. Becksche Reihe. Beck, München 1995, ISBN 3-406-39720-4. D. Prialnik: An Introduction to the Theory of Stellar Structure and Evolution. Cambridge University Press, Cambridge 2000, ISBN 0-521-65065-8. J. Bennett, M. Donahue, N. Schneider, M. Voith: Astronomie (Kapitel 14–16), Hrsg. Harald Lesch, 5. Auflage (1170 S.), Pearson-Studienverlag, München-Boston-Harlow-Sydney-Madrid 2010 Thassilo von Scheffer, Die Legenden der Sterne, 1939. == Weblinks == Literatur von und über Stern im Katalog der Deutschen Nationalbibliothek Sternentstehung bei www.zum.de Sternentstehung – Zusammenfassung bei www.astronomia.de Interaktives Hertzsprung-Russell-Diagramm zur Sternentwicklung (Java) auf der Internetpräsenz der Universität Bonn Kann man zu den Sternen reisen? aus der Fernseh-Sendereihe alpha-Centauri (ca. 15 Minuten). Erstmals ausgestrahlt am 14. Mär. 1999. Rauchen junge Sterne? aus der Fernseh-Sendereihe alpha-Centauri (ca. 15 Minuten). Erstmals ausgestrahlt am 16. Juli 2000. Was sind Doppelsterne? aus der Fernseh-Sendereihe alpha-Centauri (ca. 15 Minuten). Erstmals ausgestrahlt am 29. Apr. 2001. Was sind Kugelsternhaufen? aus der Fernseh-Sendereihe alpha-Centauri (ca. 15 Minuten). Erstmals ausgestrahlt am 3. Mär. 2002. Was sind Quark-Sterne? aus der Fernseh-Sendereihe alpha-Centauri (ca. 15 Minuten). Erstmals ausgestrahlt am 22. Dez. 2002. Was sind Population-Drei-Sterne? aus der Fernseh-Sendereihe alpha-Centauri (ca. 15 Minuten). Erstmals ausgestrahlt am 15. Okt. 2003. == Belege ==
https://de.wikipedia.org/wiki/Stern
Merkur (Planet)
= Merkur (Planet) = Der Merkur ist mit einem Durchmesser von knapp 4880 Kilometern der kleinste, mit einer durchschnittlichen Sonnenentfernung von etwa 58 Millionen Kilometern der sonnennächste und somit auch schnellste Planet im Sonnensystem. Er hat mit einer maximalen Tagestemperatur von rund +430 °C und einer Nachttemperatur bis −170 °C die größten Oberflächen-Temperaturschwankungen aller Planeten. Aufgrund seiner Größe und seiner chemischen Zusammensetzung zählt er zu den erdähnlichen Planeten. Wegen seiner Sonnennähe ist er von der Erde aus schwer zu beobachten, da er nur einen maximalen Winkelabstand von etwa 28° von der Sonne erreicht. Freiäugig ist er nur maximal eine Stunde lang entweder am Abend- oder am Morgenhimmel zu sehen, teleskopisch hingegen auch tagsüber. Details auf seiner Oberfläche sind ab einer Fernrohröffnung von etwa 20 cm zu erkennen. In 46 % der Zeit ist Merkur der am nächsten bei der Erde befindliche Planet. Benannt ist der Merkur nach dem Götterboten Mercurius, dem römischen Gott der Händler und Diebe. Sein astronomisches Symbol ist ☿. == Himmelsmechanik == === Umlaufbahn === Als sonnennächster Planet hat Merkur auf einer Umlaufbahn mit der großen Halbachse von 0,387 AE (57,9 Mio. km) – bei einer mittleren Entfernung zum Sonnenzentrum von 0,403 AE (60,4 Mio. km) – mit knapp 88 Tagen auch die kürzeste Umlaufzeit. Mit einer numerischen Exzentrizität von 0,2056 ist die Umlaufbahn des Merkur stärker elliptisch als die aller anderen großen Planeten des Sonnensystems. So liegt sein sonnennächster Punkt, das Perihel, bei 0,307 AE (46,0 Mio. km) und sein sonnenfernster Punkt, das Aphel, bei 0,467 AE (69,8 Mio. km). Ebenso ist die Neigung seiner Bahnebene gegen die Erdbahnebene mit 7° größer als die aller anderen Planeten. Eine dermaßen hohe Exzentrizität und Bahnneigung sind ansonsten eher typisch für Zwergplaneten wie Pluto und Eris. ==== Periheldrehung ==== Für eine komplette Periheldrehung von 360° benötigt der Merkur rund 225.000 Jahre bzw. rund 930.000 Umläufe und erfährt so je Umlauf ein um rund 1,4″ gedrehtes Perihel. Bereits die newtonsche Mechanik sagt voraus, dass der gravitative Einfluss der anderen Planeten das Zweikörpersystem Sonne-Merkur stört. Durch diese Störung führt die große Bahnachse der Merkurbahn eine langsame rechtläufige Drehung in der Bahnebene aus. Der Merkur durchläuft also streng genommen keine Ellipsen-, sondern eine Rosettenbahn. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts waren die Astronomen in der Lage, diese Veränderungen, insbesondere die Lage des Merkurperihels, mit großer Genauigkeit zu messen. Urbain Le Verrier, der damalige Direktor des Pariser Observatoriums, bemerkte, dass die Präzession (Drehung) des Perihels für Merkur 5,74″ (Bogensekunden) pro Jahr beträgt. Dieser Wert konnte allerdings nicht völlig mit der klassischen Mechanik von Isaac Newton erklärt werden. Laut der newtonschen Himmelsmechanik dürfte er nur 5,32″ betragen, der gemessene Wert ist also um 0,43″ pro Jahr zu groß, der Fehler beträgt also 0,1″ (bzw. 29 km) pro Umlauf. Darum vermutete man neben einer verursachenden Abplattung der Sonne noch einen Asteroidengürtel zwischen dem Merkur und der Sonne oder einen weiteren Planeten, der für diese Störungen verantwortlich sein sollte. Die Existenz dieses weiteren Planeten galt als so wahrscheinlich, dass mit Vulkan bereits ein Name festgelegt wurde. Dennoch konnte trotz intensiver Suche kein entsprechendes Objekt innerhalb der Merkurbahn gefunden werden. Dies wurde zunächst auf die große Nähe zur Sonne zurückgeführt, die eine visuelle Entdeckung des Planeten erschwerte, da die Sonne ihn überstrahlte. Die Suche nach Vulkan erübrigte sich erst dann vollständig, als die Allgemeine Relativitätstheorie die systematische Abweichung zwischen der berechneten und der beobachteten Bahn nicht mit einem zusätzlichen Massenkörper erklärte, sondern mit relativistischer Verzerrung der Raumzeit in Sonnennähe. Der anhand der ART berechnete Überschuss von 43,03″ (Unsicherheit: 0,03″) je Jahrhundert stimmt gut mit der beobachteten Differenz von 42,96″ (Unsicherheit: 0,94″) überein. Δ ϕ = 3 π r S.sol / p = 0,103 3 ″ {\displaystyle \Delta \phi =3\pi r_{\text{S.sol}}/p=0{,}1033''} r S.sol = 2953 , 25 m {\displaystyle r_{\text{S.sol}}=2953{,}25\;\mathrm {m} } Schwarzschildradius der Sonne p = a ( 1 − ε 2 ) {\displaystyle p=a(1-\varepsilon ^{2})} Halbparameter der Merkurbahn a {\displaystyle a} große Halbachse der Merkurbahn ε {\displaystyle \varepsilon } numerische Exzentrizität der Merkurbahn ==== Mögliche zukünftige Entwicklung ==== Konstantin Batygin und Gregory Laughlin von der University of California, Santa Cruz sowie davon unabhängig Jacques Laskar vom Pariser Observatorium haben durch Computersimulationen festgestellt, dass das innere Sonnensystem auf lange Sicht nicht stabil ist. In ferner Zukunft – in einer Milliarde Jahren oder mehr – könnte Jupiters Anziehungskraft Merkur aus seiner jetzigen Umlaufbahn herausreißen, indem ihr Einfluss nach und nach Merkurs große Bahnexzentrizität weiter vergrößert, bis der Planet in seinem sonnenfernsten Punkt die Umlaufbahn der Venus kreuzt.Daraufhin könnte es vier Szenarien geben: Merkur stürzt in die Sonne; er wird aus dem Sonnensystem geschleudert; er kollidiert mit der Venus oder mit der Erde. Die Wahrscheinlichkeit, dass eine dieser Möglichkeiten eintrifft, bevor sich die Sonne zu einem Roten Riesen aufblähen wird, liegt jedoch nur bei rund 1 %. === Rotation === Die Achse von Merkurs rechtläufiger Rotation steht fast senkrecht auf seiner Bahnebene. Deswegen gibt es auf dem Merkur keine Jahreszeiten mit unterschiedlicher Tageslänge. Allerdings variiert die Sonneneinstrahlung aufgrund der Exzentrizität der Bahn beträchtlich: Im Perihel trifft etwa 2,3-mal so viel Energie von der Sonne auf die Merkuroberfläche wie im Aphel. Dieser Effekt, der beispielsweise auf der Erde wegen der geringen Exzentrizität der Bahn klein ist (7 %), führt zu Jahreszeiten auf dem Merkur.Radarbeobachtungen zeigten 1965, dass der Planet nicht, wie ursprünglich von Giovanni Schiaparelli 1889 angenommen, eine einfache gebundene Rotation besitzt, das heißt, der Sonne immer dieselbe Seite zuwendet (so, wie der Erdmond der Erde immer dieselbe Seite zeigt). Vielmehr besitzt er als Besonderheit eine gebrochen gebundene Rotation und dreht sich während zweier Umläufe exakt dreimal um seine Achse. Seine siderische Rotationsperiode beträgt zwar 58,646 Tage, aber aufgrund der 2:3-Kopplung an die schnelle Umlaufbewegung mit demselben Drehsinn entspricht der Merkurtag – der zeitliche Abstand zwischen zwei Sonnenaufgängen an einem beliebigen Punkt – auf dem Planeten mit 175,938 Tagen auch genau dem Zeitraum von zwei Sonnenumläufen. Nach einem weiteren Umlauf geht die Sonne dementsprechend am Antipodenort auf. Durchläuft der Merkur den sonnennächsten Punkt seiner ziemlich stark exzentrischen Bahn, das Perihel, steht das Zentralgestirn zum Beispiel immer abwechselnd über dem Calorisbecken am 180. Längengrad oder über dessen chaotischem Antipodengebiet am Nullmeridian im Zenit. Während des Merkurs höchsten Bahngeschwindigkeiten im Perihelbereich ist die Winkelgeschwindigkeit seiner Bahnbewegung größer als die seiner Rotation, sodass die Sonne am Merkurhimmel eine rückläufige Schleifenbewegung vollführt. Zur Erklärung der Kopplung von Rotation und Umlauf wird unter Caloris Planitia (der „heißen“ Tiefebene) eine Massekonzentration ähnlich den sogenannten Mascons der großen, annähernd kreisförmigen Maria des Erdmondes, angenommen, an der die Gezeitenkräfte der Sonne die vermutlich einst schnellere Eigendrehung des Merkurs zu dieser ungewöhnlichen Resonanz heruntergebremst haben. === Planet ohne Mond === Der Merkur hat keinen Mond. Die Existenz eines solchen wurde auch niemals ernsthaft in Erwägung gezogen. Es besteht jedoch seit Mitte der 1960er Jahre von verschiedenen Wissenschaftlern die Hypothese, dass der Merkur selbst einmal ein Mond der Venus war. Anlass zu der Annahme gaben anfangs nur einige Besonderheiten seiner Umlaufbahn. Später kamen seine spezielle Rotation sowie die zum Erdmond analoge Oberflächengestalt von zwei auffallend unterschiedlichen Hemisphären hinzu. Mit dieser Annahme lässt sich auch erklären, warum die beiden Planeten als einzige im Sonnensystem mondlos sind.Am 27. März 1974 glaubte man, einen Mond um den Merkur entdeckt zu haben. Zwei Tage, bevor Mariner 10 den Merkur passierte, fing die Sonde an, starke UV-Emissionen zu messen, die kurz darauf aber wieder verschwanden. Drei Tage später tauchten die Emissionen wieder auf, schienen sich aber vom Merkur fortzubewegen. Einige Astronomen vermuteten einen neu entdeckten Stern, andere wiederum einen Mond. Die Geschwindigkeit des Objekts wurde mit 4 km/s berechnet, was etwa dem erwarteten Wert eines Merkurmondes entsprach. Einige Zeit später konnte das Objekt schließlich als Stern 31 Crateris identifiziert werden. == Aufbau == Merkur gleicht äußerlich dem planetologisch-geologisch inaktiven Erdmond, doch das Innere entspricht anscheinend viel mehr dem der geologisch sehr dynamischen Erde. === Atmosphäre === Der Merkur hat keine Atmosphäre im herkömmlichen Sinn, denn sie ist dünner als ein labortechnisch erreichbares Vakuum, ähnlich wie die Atmosphäre des Mondes. Die „atmosphärischen“ Bestandteile Wasserstoff H2 (22 %) und Helium (6 %) stammen sehr wahrscheinlich aus dem Sonnenwind, wohingegen Sauerstoff O2 (42 %), Natrium (29 %) und Kalium (0,5 %) vermutlich aus dem Material der Oberfläche freigesetzt wurden (die Prozentangaben sind ungenaue Schätzungen für die Volumenanteile der Gase). Der Druck der Gashülle beträgt nur etwa 10−15 Bar am Boden von Merkur und die Gesamtmasse der Merkuratmosphäre damit nur etwa 1000 Kilogramm.Aufgrund der hohen Temperaturen und der geringen Anziehungskraft kann der Merkur die Gasmoleküle nicht lange halten, sie entweichen durch Photoevaporation stets schnell ins All. Bezogen auf die Erde wird jener Bereich, für den dies zutrifft, Exosphäre genannt; es ist die Austauschzone zum interplanetaren Raum. Eine ursprüngliche Atmosphäre als Entgasungsprodukt des Planeteninnern ist dem Merkur längst verloren gegangen; es gibt auch keine Spuren einer früheren Erosion durch Wind und Wasser. Allerdings enthält die Exosphäre geringe Anteile von Wasserdampf, wie Messungen der Merkur-Sonde Messenger zwischen 2011 und 2015 ergaben. Er könnte entweder aus den Schweifen vorbeiziehender Kometen oder aus den Wassereisvorkommen auf den Böden von Kratern in den Polarregionen des Planeten stammen. Das Fehlen einer richtigen Gashülle, welche für einen gewissen Ausgleich der Oberflächentemperaturen sorgen würde, bedingt in dieser Sonnennähe extreme Temperaturschwankungen zwischen der Tag- und der Nachtseite. Gegenüber den Nachttemperaturen, die bis auf −173 °C sinken, wird die während des geringsten Sonnenabstands beschienene Planetenseite bis auf +427 °C aufgeheizt. Während des größten Sonnenabstands beträgt die höchste Bodentemperatur bei der großen Bahnexzentrizität des Merkur noch rund +250 °C. === Oberfläche === Wegen der schwierigen Erreichbarkeit auf der sonnennahen Umlaufbahn und der damit verbundenen Gefahr durch den intensiveren Sonnenwind haben bislang erst zwei Raumsonden, Mariner 10 und Messenger, den Planeten besucht und eingehender studiert. Bei drei Vorbeiflügen in den 1970er Jahren konnte Mariner 10 lediglich etwa 45 % seiner Oberfläche kartieren. Die Merkursonde Messenger hatte gleich bei ihrem ersten Vorbeiflug im Januar 2008 auch einige von Mariner 10 nicht erfasste Gebiete fotografiert und konnte die Abdeckung auf etwa 66 % erhöhen. Mit ihrem zweiten Swing-by im Oktober 2008 stieg die Abdeckung auf rund 95 %.Die mondähnliche, von Kratern durchsetzte Oberfläche aus rauem, porösem, dunklem Gestein reflektiert das Sonnenlicht nur schwach. Die mittlere sphärische Albedo beträgt 0,06, das heißt, die Oberfläche streut im Durchschnitt 6 % des von der Sonne praktisch parallel eintreffenden Lichtes zurück. Damit ist der Merkur im Mittel noch etwas dunkler als der Mond (0,07). Anhand der zerstörerischen Beeinträchtigung der Oberflächenstrukturen untereinander ist, wie auch bei Mond und Mars, eine Rekonstruktion der zeitlichen Reihenfolge der prägenden Ereignisse möglich. Es gibt in den abgelichteten Gebieten des Planeten keine Anzeichen von Plattentektonik; Messenger hat aber zahlreiche Hinweise auf vulkanische Eruptionen gefunden. ==== Krater ==== Die Oberfläche des Merkur ist mit Kratern übersät. Die Verteilung der Einschlagstrukturen ist gleichmäßiger als auf dem Mond und dem Mars; demnach ist das Alter seiner Oberfläche gleichmäßig sehr hoch. Mit ein Grund für die hohe Kraterdichte ist die äußerst dünne Atmosphäre, die ein ungehindertes Eindringen von Kleinkörpern gestattet. Die große Anzahl der Krater je Fläche – ein Maß für das Alter der Kruste – spricht für eine sehr alte, das heißt, seit der Bildung und Verfestigung des Merkurs von vor etwa 4,5 bis vor ungefähr 4 Milliarden Jahren sonst wenig veränderte Oberfläche. Wie auch beim Mond zeigen die Krater des Merkurs ein weiteres Merkmal, das für eine durch Impakt entstandene Struktur als typisch gilt: Das hinausgeschleuderte und zurückgefallene Material, das sich um den Krater herum anhäuft; manchmal in Form von radialen Strahlen, wie man sie auch als Strahlensysteme auf dem Mond kennt. Sowohl diese speichenartigen Strahlen als auch die Zentralkrater, von denen sie jeweils ausgehen, sind aufgrund des relativ geringen Alters heller als die Umgebung. Die ersten Beobachtungen der Strahlen des Merkurs machte man mit den Radioteleskopen Arecibo und Goldstone und mithilfe des Very Large Array (VLA) des nationalen Radioobservatoriums der Vereinigten Staaten (siehe auch Astrogeologie). Der erste Krater, der durch die Raumsonde Mariner 10 während ihrer ersten Annäherung erkannt wurde, war der 40 km breite, aber sehr helle Strahlenkrater Kuiper (siehe Bild rechts). Der Krater wurde nach dem niederländisch-US-amerikanischen Mond- und Planetenforscher Gerard Kuiper benannt, der dem Mariner-10-Team angehörte und noch vor der Ankunft der Sonde verstarb. Nördlich des Äquators liegt Caloris Planitia, ein riesiges, kreisförmiges, aber ziemlich flaches Becken. Mit einem Durchmesser von etwa 1550 km ist es das größte bekannte Gebilde auf dem Merkur. Es wurde vermutlich vor etwa 3,8 Milliarden Jahren von einem über 100 km großen Einschlagkörper erzeugt. Der Impakt war so heftig, dass durch die seismischen Schwingungen um den Ort des Einschlags mehrere konzentrische Ringwälle aufgeworfen wurden und aus dem Innern des Planeten Lava austrat. Die von Messenger neu entdeckten vulkanischen Strukturen finden sich insbesondere im Umfeld und auch im Inneren des Beckens. Das Beckeninnere ist von dem Magma aus der Tiefe anscheinend aufgefüllt worden, ähnlich wie die Marebecken des Mondes. Den Boden des Beckens prägen viele konzentrische Furchen und Grate, die an eine Zielscheibe erinnern und ihm Ähnlichkeit mit dem annähernd vergleichbar großen Multiringsystem auf dem Mond geben, in dessen Beckenzentrum das Mare Orientale liegt. Das ziemlich flache Caloris-Becken wird von den Caloris Montes begrenzt, einem unregelmäßigen Kettengebirge, dessen Gipfelhöhen lediglich etwa 1 km erreichen. ==== Ebenen ==== Auch andere flache Tiefebenen ähneln den Maria des Mondes. Mare (Mehrzahl: Maria, deutsch ‚Meere‘) ist in der Selenologie – der „Geologie“ des Erdtrabanten – der lateinische Gattungsname für die glatten und dunklen Basaltflächen, die zahlreiche Krater und Becken des Mondes infolge von aus Bodenspalten emporgestiegener und erstarrter Lava ausfüllen. Die glatten Ebenen des Merkurs sind aber nicht dunkel wie die „Mondmeere“. Insgesamt sind sie anscheinend auch kleiner und weniger zahlreich. Sie liegen alle auf der Nordhalbkugel im Umkreis des Caloris-Beckens. Ihre Gattungsbezeichnung ist Planitia, lateinisch für Tiefebene. Dass sich die mareähnlichen Ebenen auf dem Merkur nicht wie die Maria des Mondes mit einer dunkleren Farbe von der Umgebung abheben, wird mit einem geringeren Gehalt an Eisen und Titan erklärt. Damit ergibt sich jedoch ein gewisser Widerspruch zu der hohen mittleren Dichte des Planeten, die für einen verhältnismäßig sehr großen Metallkern spricht, der vor allem aus Eisen besteht. Dunkle Böden wurden durch Messenger im Caloris-Becken nur als Füllung kleinerer Krater gefunden, und obwohl für deren Material ein vulkanischer Ursprung vermutet wird, zeigen die Messdaten, anders als bei solchem Gestein zu erwarten ist, ebenfalls nur einen sehr geringen Anteil an Eisen. Das Metall ist in Merkurs Oberfläche zu höchstens 6 Prozent enthalten. ==== Besonderheiten ==== Zwei Formationen findet man ausschließlich auf der Merkuroberfläche: Erstens ein eigentümlich chaotisch wirkendes Gelände unregelmäßig geformter, bis etwa 1 km hoher Hügel, das von Tälern zerschnitten ist, das sich dem Caloris-Becken genau gegenüber befindet. Als Entstehungsursache wird eine Bündelung der seismischen Schwingungen des großen Einschlages angenommen, durch die das ursprüngliche Relief des Antipodengebietes zerstört wurde. Das betroffene Gebiet ist etwa fünfmal so groß wie Deutschland und ist demnach mindestens von gleicher Größe wie das nur zu rund einem Drittel erkundete Caloris-Becken. Zweitens bis zu mehrere hundert Kilometer lange Steilstufen, die die größten Höhenunterschiede (2 km) auf dem Merkur aufweisen. Diese Strukturen werden in der Astrogeologie als Rupes (lat. Böschung, Steilwand) bezeichnet. Sie ziehen sich in sanften Windungen quer durch Ebenen und Krater. Es handelt sich um Überschiebungen der Kruste. Die dadurch seitlich versetzten Kraterteile zeigen an, dass sie auch horizontal gegeneinander verschoben wurden. Diese Überschiebungen sind vermutlich durch ein Schrumpfen des gesamten Planeten entstanden.Der in der Planetengeologie profilierte amerikanische Geologe Robert G. Strom hat den Umfang der Schrumpfung der Merkuroberfläche auf etwa 100.000 km² abgeschätzt. Das entspricht einer Verringerung des Planetenradius um bis zu etwa 2 km. Neuere Schätzungen, die wesentlich auf den Messungen der Raumsonde Messenger beruhen, kommen auf einen deutlich höheren Wert von etwa 7 km Kontraktion.Als Ursache der Kontraktion wird die Abkühlung des Planeten im Anschluss an eine heiße Phase seiner Entstehung gesehen, in der er ähnlich wie die Erde und der Mond von vielen großen Asteroideneinschlägen bis zur Glutflüssigkeit aufgeheizt worden sein soll. Dieser Abschnitt der Entwicklung nahm demnach erst vor etwa 3,8 Milliarden Jahren mit dem „Letzten Schweren Bombardement“ seinen Ausklang, während dessen Nachlassens die Kruste langsam auskühlen und erstarren konnte. Einige der gelappten Böschungen wurden offenbar durch die ausklingende Bombardierung wieder teilweise zerstört. Das bedeutet, dass sie entsprechend älter sind als die betreffenden Krater. Der Zeitpunkt der Merkurschrumpfung wird anhand des Grades der Weltraum-Erosion – durch viele kleinere, nachfolgende Einschläge – vor ungefähr 4 Milliarden Jahren angenommen, also während der Entstehung der mareähnlichen Ebenen. Laut einer alternativen Hypothese sind die tektonischen Aktivitäten während der Kontraktionsphase auf die Gezeitenkräfte der Sonne zurückzuführen, durch deren Einfluss die Eigendrehung des Merkurs von einer ungebundenen, höheren Geschwindigkeit auf die heutige Rotationsperiode heruntergebremst wurde. Dafür spricht, dass sich diese Strukturen wie auch eine ganze Reihe von Rinnen und Bergrücken mehr in meridionale als in Ost-West-Richtung erstrecken. Nach der Kontraktion und der dementsprechenden Verfestigung des Planeten entstanden kleine Risse auf der Oberfläche, die sich mit anderen Strukturen, wie Kratern und den flachen Tiefebenen überlagerten – ein klares Indiz dafür, dass die Risse im Vergleich zu den anderen Strukturen jüngeren Ursprungs sind. Die Zeit des Vulkanismus auf dem Merkur endete, als die Kompression der Hülle sich einstellte, sodass dadurch die Ausgänge der Lava an der Oberfläche verschlossen wurden. Vermutlich passierte das während einer Periode, die man zwischen die ersten 700 bis 800 Millionen Jahre der Geschichte des Merkurs einordnet. Seither gab es nur noch vereinzelte Einschläge von Kometen und Asteroiden. Eine weitere Besonderheit gegenüber dem Relief des Mondes sind auf dem Merkur die sogenannten Zwischenkraterebenen. Im Unterschied zu der auch mit größeren Kratern gesättigten Mondoberfläche kommen auf dem Merkur zwischen den großen Kratern relativ glatte Ebenen mit Hochlandcharakter vor, die nur von verhältnismäßig wenigen Kratern mit Durchmessern von unter 20 km geprägt sind. Dieser Geländetyp ist auf dem Merkur am häufigsten verbreitet. Manche Forscher sehen darin die ursprüngliche, verhältnismäßig unveränderte Merkuroberfläche. Andere glauben, dass ein sehr früher und großräumiger Vulkanismus die Regionen einst geglättet hat. Es gibt Anzeichen dafür, dass sich in diesen Ebenen die Reste größerer und auch vieler doppelter Ringwälle gleich solchen des Mondes noch schwach abzeichnen. ==== Möglichkeit des Vorhandenseins von Eis und kleinen organischen Molekülen ==== Für die Polregionen des Merkurs lassen die Ergebnisse von Radaruntersuchungen die Möglichkeit zu, dass dort kleine Mengen von Wassereis existieren könnten. Da des Merkurs Rotationsachse mit 0,01° praktisch senkrecht auf der Bahnebene steht, liegt das Innere einiger polnaher Krater stets im Schatten. In diesen Gebieten ewiger Nacht sind dauerhafte Temperaturen von −160 °C möglich. Solche Bedingungen können Eis konservieren, das z. B. durch eingeschlagene Kometen eingebracht wurde. Die hohen Radar-Reflexionen können jedoch auch durch Metallsulfide oder durch die in der Atmosphäre nachgewiesenen Alkalimetalle oder andere Materialien verursacht werden. Im November 2012 veröffentlichte Messungen der Raumsonde Messenger weisen auf Wassereis im Inneren von Kratern am Merkurnordpol hin, die ständig im Schatten liegen. Außerdem wurden Spuren von organischen Molekülen (einfache Kohlenstoff- und Stickstoffverbindungen) gefunden. Da diese Moleküle als Grundvoraussetzungen für die Entstehung von Leben gelten, rief diese Entdeckung einiges Erstaunen hervor, da dies auf dem atmosphärelosen und durch die Sonne intensiv aufgeheizten Planeten nicht für möglich gehalten worden war. Es wird vermutet, dass diese Spuren an Wasser und organischer Materie durch Kometen, die auf dem Merkur eingeschlagen sind, eingebracht wurden. ===== Indizien im Detail ===== Die Radiowellen, die vom Goldstone-Radioteleskop des NASA Deep Space Network ausgesandt wurden, hatten eine Leistung von 450 Kilowatt bei 8,51 Gigahertz; die vom VLA mit 26 Antennen empfangenen Radiowellen ließen helle Punkte auf dem Radarschirm erscheinen, Punkte, die auf depolarisierte Reflexionen von Wellen vom Nordpol des Merkurs schließen lassen. Die Studien, die mit dem Radioteleskop von Arecibo gemacht wurden, das Wellen im S-Band (2,4 GHz) mit einer Leistung von 420 kW ausstrahlte, gestatteten es, eine Karte von der Oberfläche des Merkurs anzufertigen, die eine Auflösung von 15 km hat. Bei diesen Studien konnte nicht nur die Existenz der bereits gefundenen Zonen hoher Reflexion und Depolarisation nachgewiesen werden, sondern insgesamt 20 Zonen an beiden Polen. Die erwartete Radarsignatur von Eis ist erhöhte Reflexion und stärkere Depolarisation der reflektierten Wellen. Silikatgestein, das den größten Anteil der Oberfläche ausmacht, zeigt dieses nicht. Andere Untersuchungsmethoden der zur Erde zurückgeworfenen Strahlen legen nahe, dass die Form dieser Zonen kreisförmig sind, und dass es sich deshalb um Krater handeln könnte. Am Südpol des Merkurs scheinen sich Zonen hoher Reflexion mit dem Chao Meng-Fu Krater und kleinen Gebieten zu decken, in denen ebenfalls bereits Krater identifiziert wurden. Am Nordpol gestaltet sich die Situation etwas schwieriger, weil sich die Radarbilder mit denen von Mariner 10 offenbar nicht decken lassen. Es liegt deshalb nahe, dass es Zonen hoher Reflexion geben kann, die sich nicht mit der Existenz von Kratern erklären lassen. Die Reflexionen der Radarwellen, die das Eis auf der Oberfläche des Merkurs erzeugt, sind geringer als die Reflexionen, die sich mit reinem Eis erzeugen ließen; eventuell liegt es am Vorhandensein von Staub, der die Oberfläche des Kraters teilweise überdeckt. ==== Nomenklatur der Oberflächenstrukturen ==== In der planetaren Nomenklatur der Internationalen Astronomischen Union (IAU) sind für die Bezeichnung von Oberflächenstrukturen auf dem Merkur folgende Konventionen festgelegt: Ferner wurde die einzige Hochebene (Catuilla Planum) nach dem quechuanischen Wort für (den Planet) Merkur benannt. Für die 32 benannten Albedomerkmale – Gebiete mit besonderem Rückstrahlvermögen – wurde ein Großteil der Namen aus der Merkurkartierung von Eugène Michel Antoniadi übernommen. === Innerer Aufbau === Der Merkur ist ein Gesteinsplanet wie die Venus, die Erde und der Mars und ist von allen der kleinste Planet im Sonnensystem. Sein Durchmesser beträgt mit 4878 km nur knapp 40 Prozent des Erddurchmessers. Er ist damit sogar kleiner als der Jupitermond Ganymed und der Saturnmond Titan, dafür aber jeweils mehr als doppelt so massereich wie diese sehr eisreichen Trabanten. Das Diagramm zeigt, wie stark die mittlere Dichte der erdähnlichen Planeten einschließlich des Erdmondes bei ähnlicher chemischer Zusammensetzung mit dem Durchmesser im Allgemeinen ansteigt. Der Merkur allerdings hat mit 5,427 g/cm³ fast die Dichte der weit größeren Erde und liegt damit für seine Größe weit über dem Durchmesser-Dichte-Verhältnis der anderen. Das zeigt, dass er eine „schwerere“ chemische Zusammensetzung haben muss: Sein sehr großer Eisen-Nickel-Kern soll zu 65 Prozent aus Eisen bestehen, etwa 70 Prozent der Masse des Planeten ausmachen und einen Durchmesser von etwa 3600 km haben. Jüngere Forschungsergebnisse zeigen sogar einen Kerndurchmesser von 4100 km, rund 84 Prozent des Planetendurchmessers, womit der Kern größer als der Erdmond wäre. Auf den wohl nur 600 km dünnen Mantel aus Silikaten entfallen rund 30 Prozent der Masse, bei der Erde sind es 62 Prozent. Die Kruste ist mit einigen 10 km relativ dick und besteht überwiegend aus Feldspat und Mineralien der Pyroxengruppe, ist also dem irdischen Basalt sehr ähnlich. Die dennoch etwas höhere Gesamtdichte der Erde resultiert aus der kompressiveren Wirkung ihrer starken Gravitation. ==== Ursache des hohen Eisengehalts ==== Des Merkurs relativer Gehalt an Eisen ist größer als der jedes anderen großen Objektes im Sonnensystem. Als Erklärung werden verschiedene Hypothesen ins Feld geführt, die alle von einem ehemals ausgeglicheneren Schalenaufbau und einem entsprechend dickeren, metallarmen Mantel ausgehen: So geht eine Theorie davon aus, dass der Merkur ursprünglich ein Metall-Silikat-Verhältnis ähnlich dem der Chondrite, der meistverbreiteten Klasse von Meteoriten im Sonnensystem, aufwies. Seine Ausgangsmasse müsste demnach etwa das 2,25-fache seiner heutigen Masse gewesen sein. In der Frühzeit des Sonnensystems, vor etwa 4,5 Milliarden Jahren, wurde der Merkur jedoch – so wird gemutmaßt – von einem sehr großen Asteroiden mit etwa einem Sechstel dieser Masse getroffen. Ein Aufschlag dieser Größenordnung hätte einen Großteil der Planetenkruste und des Mantels weggerissen und lediglich den metallreichen Kern übrig gelassen. Eine ähnliche Erklärung wurde zur Entstehung des Erdmondes im Rahmen der Kollisionstheorie vorgeschlagen. Beim Merkur blieb jedoch unklar, weshalb nur ein so geringer Teil des zersprengten Materials auf den Planeten zurückfiel. Nach Computersimulationen von 2006 wird das mit der Wirkung des Sonnenwindes erklärt, durch den sehr viele Teilchen verweht wurden. Von diesen Partikeln und Meteoriten, die nicht in die Sonne fielen, sind demnach die meisten in den interstellaren Raum entwichen und 1 bis 2 Prozent auf die Venus sowie etwa 0,02 Prozent auf die Erde gelangt. Eine andere Theorie schlägt vor, dass der Merkur sehr früh in der Entwicklung des Sonnensystems entstanden sei, noch bevor sich die Energieabstrahlung der jungen Sonne stabilisiert hat. Auch diese Theorie geht von einer etwa doppelt so großen Ursprungsmasse des innersten Planeten aus. Als der Protostern sich zusammenzuziehen begann, könnten auf dem Merkur Temperaturen zwischen 2500 und 3500 K (Kelvin), möglicherweise sogar bis zu 10.000 K geherrscht haben. Ein Teil seiner Materie wäre bei diesen Temperaturen verdampft und hätte eine Atmosphäre gebildet, die im Laufe der Zeit vom Sonnenwind fortgerissen worden sei. Eine dritte Theorie argumentiert ähnlich und geht von einer langanhaltenden Erosion der äußeren Schichten des Planeten durch den Sonnenwind aus. Nach einer vierten Theorie wurde der Merkur kurz nach seiner Bildung von einem oder mehreren Protoplaneten gestreift, die doppelt bis viermal so schwer waren wie er – wobei er große Teile seines Gesteinsmantels verlor. === Magnetfeld === Trotz seiner langsamen Rotation besitzt der Merkur eine Magnetosphäre, deren Volumen etwa 5 Prozent der Magnetosphäre der Erde beträgt. Es hat mit einer mittleren Feldintensität von 450 Nanotesla an der Oberfläche des Planeten ungefähr 1 Prozent der Stärke des Erdmagnetfeldes. Die Neigung des Dipolfeldes gegen die Rotationsachse beträgt rund 7°. Die Ausrichtung der Magnetpole entspricht der Situation der Erde, das heißt, dass beispielsweise der magnetische Nordpol des Merkurs im Umkreis seiner südlichen Rotationsachse liegt. Die Grenze der Magnetosphäre befindet sich in Richtung der Sonne lediglich in einer Höhe von etwa 1000 Kilometern, wodurch energiereiche Teilchen des Sonnenwinds ungehindert die Oberfläche erreichen können. Es gibt keine Strahlungsgürtel. Insgesamt ist Merkurs Magnetfeld asymmetrisch. Es ist auf der Nordhalbkugel stärker als auf der Südhalbkugel, sodass der magnetische Äquator gegenüber dem geografischen Äquator rund 500 Kilometer nördlich liegt. Dadurch ist die Südhalbkugel für den Sonnenwind leichter erreichbar.Möglicherweise wird Merkurs Dipolfeld ganz ähnlich dem der Erde durch den Dynamo-Effekt zirkulierender Schmelzen im Metallkern erzeugt; dann müsste seine Feldstärke aber 30-mal stärker sein, als von Mariner 10 gemessen. Einer Modellrechnung zufolge (Ulrich Christensen 2007 im Max-Planck-Institut für Sonnensystemforschung Katlenburg-Lindau) werden große Teile eines im Inneren entstehenden, fluktuierenden Feldes durch elektrisch leitende und stabile Schichtungen des äußeren, flüssigen Kerns stark gedämpft, sodass an der Oberfläche nur ein relativ schwaches Feld übrig bleibt. Eigentlich sollte der Merkur aufgrund seiner geringen Größe – ebenso wie der wesentlich größere und bereits erstarrte Mars – seit seiner Entstehung schon längst zu stark abgekühlt sein, um in seinem Kern Eisen oder ein Eisen-Nickel-Gemisch noch flüssig halten zu können. Aus diesem Grund wurde eine Hypothese aufgestellt, welche die Existenz des Magnetfeldes als Überbleibsel eines früheren, mittlerweile aber erloschenen Dynamo-Effektes erklärt; es wäre dann das Ergebnis erstarrter Ferromagnetite. Es ist aber möglich, dass sich zum Beispiel durch Mischungen mit Schwefel eine eutektische Legierung mit niedrigerem Schmelzpunkt bilden konnte. Durch ein spezielles Auswertungsverfahren konnte bis 2007 ein Team amerikanischer und russischer Planetenforscher um Jean-Luc Margot von der Cornell-Universität anhand von Radarwellen die Rotation des Merkurs von der Erde aus genauer untersuchen und ausgeprägte Schwankungen feststellen, die mit einer Größe von 0,03 Prozent deutlich für ein teilweise aufgeschmolzenes Inneres sprechen. === Entwicklungsetappen === Nach der herkömmlichen Theorie zur Entstehung des Planetensystems der Sonne ist der Merkur wie alle Planeten aus einer allmählichen Zusammenballung von Planetesimalen hervorgegangen, die sich zu immer größeren Körpern vereinten. In der letzten Phase der Akkretion schluckten die größeren Körper die kleineren und in dem Bereich des heutigen Merkurorbits bildete sich binnen etwa 10 Millionen Jahren der sonnennächste Planet. Mit der Aufheizung des Protoplaneten, also des „Rohplaneten“, durch den Zerfall der radioaktiven Elemente und durch die Energie vieler großer und andauernder Einschläge während des Aufsammelns der kleineren Brocken begann das, was man mangels eines merkurspezifischen Begriffes als geologische Entwicklung bezeichnen kann. Der bis zur Glut erhitzte Körper differenzierte sich durch seine innere Gravitation chemisch in Kern, Mantel und Kruste. Mit dem Ausklingen des Dauerbombardements konnte der entstandene Planet beginnen, sich abzukühlen, und es bildete sich aus der äußeren Schicht eine feste Gesteinskruste. In der folgenden Etappe sind anscheinend alle Krater und andere Spuren der ausklingenden Akkretion überdeckt worden. Die Ursache könnte eine Periode von frühem Vulkanismus gewesen sein. Dieser Zeit wird die Entstehung der Zwischenkraterebenen zugeordnet sowie die Bildung der gelappten Böschungen durch ein Schrumpfen des Merkurs zugeschrieben. Das Ende des Schweren Bombardements schlug sich in der Entstehung des Caloris-Beckens und den damit verbundenen Landschaftsformen im Relief als Beginn der dritten Epoche eindrucksvoll nieder. In einer vierten Phase entstanden (wahrscheinlich durch eine weitere Periode vulkanischer Aktivitäten) die weiten, mareähnlichen Ebenen. Die fünfte und seit etwa 3 Milliarden Jahren noch immer andauernde Phase der Oberflächengestaltung zeichnet sich lediglich durch eine Zunahme der Einschlagkrater aus. Dieser Zeit werden die Zentralkrater der Strahlensysteme zugeordnet, deren auffällige Helligkeit als ein Zeichen der Frische angesehen werden. Die Abfolge der Ereignisse hat im Allgemeinen eine überraschend große Ähnlichkeit mit der Geschichte der Oberfläche des Mondes; in Anbetracht der ungleichen Größe, der sehr verschiedenen Orte im Sonnensystem und den damit verbundenen unterschiedlichen Bedingungen war das nicht zu erwarten. == Erforschung == Der Merkur ist mindestens seit der Zeit der Sumerer (3. Jahrtausend v. Chr.) bekannt. Die Griechen der Antike gaben ihm zwei Namen, Apollo, wenn er am Morgenhimmel die Sonne ankündigte, und Hermes, wenn er am Abendhimmel der Sonne hinterherjagte.Die griechischen Astronomen wussten allerdings, dass es sich um denselben Himmelskörper handelte. Nach nicht eindeutigen Quellen hat Herakleides Pontikos möglicherweise sogar schon geglaubt, dass der Merkur und auch die Venus um die Sonne kreisen und nicht um die Erde. 1543 veröffentlichte Nikolaus Kopernikus sein Werk De revolutionibus orbium coelestium (lat.: Über die Umschwünge der himmlischen Kreise), indem er die Planeten ihrer Geschwindigkeit nach in kreisförmigen Bahnen um die Sonne anordnete, womit der Merkur der Sonne am nächsten war. Die Römer benannten den Planeten wegen seiner schnellen Bewegung am Himmel nach dem geflügelten Götterboten Mercurius. === Erdgebundene Erforschung === Die Umlaufbahn des Merkurs bereitete den Astronomen lange Zeit Probleme. Kopernikus etwa schrieb dazu in De revolutionibus: „Der Planet hat uns mit vielen Rätseln und großer Mühsal gequält als wir seine Wanderungen erkundeten“. 1629 gelang es Johannes Kepler mithilfe von Beobachtungsdaten seines Vorgängers Tycho Brahe erstmals einen sogenannten Merkurtransit für den 7. November 1631 (auf etwa einen halben Tag genau) vorherzusagen. Als Pierre Gassendi diesen Durchgang vor der Sonne beobachten konnte, stellte er feste, dass der Merkur nicht wie von Ptolemäus im 2. Jahrhundert geschätzt ein Fünfzehntel des Sonnendurchmessers maß, sondern um ein Vielfaches kleiner war. Nach der Erfindung des Fernrohrs entdeckte Giovanni Battista Zupi im Jahre 1639, dass der Merkur Phasen zeigt wie der Mond, und bewies damit seinen Umlauf um die Sonne. Als Sir Isaac Newton 1687 die Principia Mathematica veröffentlichte und damit die Gravitation beschrieb, konnten die Planetenbahnen nun exakt berechnet werden. Der Merkur jedoch wich immer von diesen Berechnungen ab, was Urbain Le Verrier (der Entdecker des Planeten Neptun) 1859 dazu veranlasste, einen weiteren noch schnelleren sonnennäheren Planeten zu postulieren: Vulcanus. Erst Albert Einsteins Relativitätstheorie konnte diese Abweichungen in Merkurs Umlaufbahn richtig erklären.Die ersten, nur sehr vagen Merkurkarten wurden von Johann Hieronymus Schroeter skizziert. Die ersten detaillierteren Karten wurden im späten 19. Jahrhundert, etwa 1881 von Giovanni Schiaparelli und danach von Percival Lowell angefertigt. Lowell meinte, ähnlich wie Schiaparelli bei seinen Marsbeobachtungen auf dem Merkur Kanäle erkennen zu können. Besser, wenn auch immer noch sehr ungenau, war die Merkurkarte von Eugène Michel Antoniadi aus dem Jahr 1934. Antoniadi ging dabei von der geläufigen, aber irrigen Annahme aus, dass der Merkur eine gebundene Rotation von 1:1 um die Sonne aufweist. Für seine Nomenklatur der Albedomerkmale bezog er sich auf die Hermes-Mythologie. Audouin Dollfus übernahm sie großteils für seine genauere Karte von 1972. Die Internationale Astronomische Union (IAU) billigte diese Nomenklatur für heutige Merkurkarten auf der Grundlage der Naherkundung. Für die topografischen Strukturen wurde ein anderes Schema gewählt. So bekamen die den Maria des Mondes ähnlichen Tiefebenen den Namen des Gottes Merkur in verschiedenen Sprachen. Im Koordinatensystem des Merkurs werden die Längengrade von Ost nach West zwischen 0 und 360° gemessen. Der Nullmeridian wird durch den Punkt definiert, der am ersten Merkurperihel nach dem 1. Januar 1950 die Sonne im Zenit hatte. Die Breitengrade zwischen 0° und 90° werden nach Norden positiv und nach Süden negativ gezählt. Gesteinsbrocken des Merkurs, die durch den Einschlag größerer Asteroiden ins All geschleudert wurden, können als Meteoriten im Laufe der Zeit auch die Erde erreichen. Als mögliche Merkurmeteoriten werden der Enstatit-Chondrit Abee und der Achondrit NWA 7325 diskutiert. === Erforschung mit Raumsonden === Der Merkur gehört zu den am wenigsten erforschten Planeten des Sonnensystems. Dies liegt vor allem an den für Raumsonden sehr unwirtlichen Bedingungen in der Nähe der Sonne, wie der hohen Temperatur und intensiven Strahlung, sowie an zahlreichen technischen Schwierigkeiten, die bei einem Flug zum Merkur in Kauf genommen werden müssen. Selbst von einem Erdorbit aus sind die Beobachtungsbedingungen zu ungünstig, um den Planeten mit Teleskopen zu beobachten. Der Spiegel des Hubble-Weltraumteleskops nähme durch die Strahlung der Sonne großen Schaden, wenn er auf einen dermaßen sonnennahen Bereich ausgerichtet würde. Der mittlere Sonnenabstand des Merkurs beträgt ein Drittel desjenigen der Erde, sodass eine Raumsonde über 91 Millionen Kilometer in den Gravitationspotentialtopf der Sonne fliegen muss, um den Planeten zu erreichen. Von einem stationären Startpunkt bräuchte die Raumsonde keine Energie, um in Richtung Sonne zu fallen. Da der Start aber von der Erde erfolgt, die sich mit einer Orbitalgeschwindigkeit von 30 km/s um die Sonne bewegt, verhindert der hohe Bahndrehimpuls der Sonde eine Bewegung Richtung Sonne. Daher muss die Raumsonde eine beträchtliche Geschwindigkeitsänderung aufbringen, um in eine Hohmannbahn einzutreten, die in die Nähe des Merkurs führt. Zusätzlich führt die Abnahme der potenziellen Energie der Raumsonde bei einem Flug in den Gravitationspotentialtopf der Sonne zur Erhöhung ihrer kinetischen Energie, also zu einer Erhöhung ihrer Fluggeschwindigkeit. Wenn man dies nicht korrigiert, ist die Sonde beim Erreichen des Merkurs bereits so schnell, dass ein sicherer Eintritt in den Merkurorbit oder gar eine Landung erheblich erschwert werden. Für einen Vorbeiflug ist die hohe Fluggeschwindigkeit allerdings von geringerer Bedeutung. Ein weiteres Hindernis ist das Fehlen einer Atmosphäre; dies macht es unmöglich, treibstoffsparende Aerobraking-Manöver zum Erreichen des gewünschten Orbits um den Planeten einzusetzen. Stattdessen muss der gesamte Bremsimpuls für einen Eintritt in den Merkurorbit mittels der bordeigenen Triebwerke durch eine Extramenge an mitgeführtem Treibstoff aufgebracht werden. Diese Einschränkungen sind mit ein Grund dafür, dass der Merkur vor Messenger nur mit der einen Raumsonde Mariner 10 erforscht wurde. Eine dritte Merkursonde BepiColombo wurde am 20. Oktober 2018 gestartet. ==== Mariner 10 ==== Die Flugbahn von Mariner 10 wurde so gewählt, dass die Sonde zunächst die Venus anflog, dann in deren Anziehungsbereich durch ein Swing-by-Manöver Kurs auf den Merkur nahm. So gelangte sie auf eine merkurnahe Umlaufbahn um die Sonne, die mit einer Trägerrakete vom Typ Atlas-Centaur nur auf diese Weise erreicht werden konnte; ohne den Swing-by an der Venus hätte Mariner 10 eine deutlich größere und teurere Titan IIIC benötigt. Der schon lange an der Erforschung des innersten Planeten interessierte Mathematiker Giuseppe Colombo hatte diese Flugbahn entworfen, auf welcher der Merkur gleich mehrmals passiert werden konnte, und zwar immer in der Nähe seines sonnenfernsten Bahnpunktes – bei dem die Beeinträchtigung durch den Sonnenwind am geringsten ist – und am zugleich sonnennächsten Bahnpunkt von Mariner 10. Die anfänglich dabei nicht vorhergesehene Folge dieser himmelsmechanischen Drei-Körper-Wechselwirkung war, dass die Umlaufperiode von Mariner 10 genau zweimal so lang geriet wie die vom Merkur. Bei dieser Bahneigenschaft bekam die Raumsonde während jeder Begegnung ein und dieselbe Hemisphäre unter den gleichen Beleuchtungsverhältnissen vor die Kamera und erbrachte so den eindringlichen Beweis für die genaue 2:3-Kopplung von Merkurs Rotation an seine Umlaufbewegung, die nach den ersten, ungefähren Radarmessungen Colombo selbst schon vermutet hatte. Durch dieses seltsame Zusammentreffen konnten trotz der wiederholten Vorbeiflüge nur 45 Prozent der Merkuroberfläche kartiert werden. Mariner 10 flog im betriebstüchtigen Zustand von 1974 bis 1975 dreimal am Merkur vorbei: Am 29. März 1974 in einer Entfernung von 705 km, am 21. September in rund 50.000 km und am 16. März 1975 in einer Entfernung von 327 km. Zusätzlich zu den herkömmlichen Aufnahmen wurde der Planet im infraroten sowie im UV-Licht untersucht, und über seiner den störenden Sonnenwind abschirmenden Nachtseite liefen während des ersten und dritten Vorbeifluges Messungen des durch die Sonde entdeckten Magnetfeldes und geladener Partikel. ==== Messenger ==== Eine weitere Raumsonde der NASA, Messenger, startete am 3. August 2004 und schwenkte im März 2011 als erste Raumsonde in einen Merkurorbit ein, um den Planeten mit ihren zahlreichen Instrumenten eingehend zu studieren und erstmals vollständig zu kartografieren. Die Raumsonde widmete sich dabei der Untersuchung der geologischen und tektonischen Geschichte Merkurs sowie seiner Zusammensetzung. Weiterhin suchte die Sonde nach dem Ursprung des Magnetfeldes, bestimmte die Größe und den Zustand des Planetenkerns, untersuchte die Polarkappen des Planeten und erforschte die Exosphäre sowie die Magnetosphäre. Um sein Ziel zu erreichen, flog Messenger eine sehr komplexe Route, die ihn in mehreren Fly-by-Manövern erst zurück zur Erde, dann zweimal an der Venus sowie dreimal am Merkur vorbeiführte. Der erste Vorbeiflug am Merkur fand am 14. Januar 2008 um 20:04 Uhr MEZ statt und der zweite am 6. Oktober 2008. Dabei wurden bereits Untersuchungen der Oberfläche durchgeführt und Fotos von bisher unbekannten Gebieten aufgenommen. Der dritte Vorbeiflug, durch den die Geschwindigkeit der Sonde verringert wurde, erfolgte am 30. September 2009. Da die Sonde kurz vor der Passage unerwartet in den abgesicherten Modus umschaltete, konnten für geraume Zeit keine Beobachtungsdaten gesammelt und übertragen werden. Die gesamte Reise nahm etwa 6,5 Jahre in Anspruch. Die darauf folgende Mission im Merkurorbit ist in Jahresabschnitte geteilt, welche jeweils am 18. März beginnen. Vom 18. März 2011 bis 18. März 2012 wurden während der sogenannten primären Mission die wichtigsten Forschungen vorgenommen; anschließend begann die erste erweiterte Mission, welche bis zum 18. März 2013 lief. Danach wurde die Mission noch einmal bis März 2015 verlängert. Gegen Ende der Mission wurde die Sonde in Umlaufbahnen um den Planeten gebracht, deren niedrigster Punkt nur 5,3 km über der Oberfläche lag. Der verbleibende Treibstoff für die Triebwerke der Sonde wurde genutzt, um dem bremsenden Effekt der schwachen, aber doch vorhandenen Atmosphäre entgegenzuwirken. Die letzte dieser Kurskorrekturen erfolgte am 25. März 2015. Am 30. April 2015 stürzte die Sonde dann auf die erdabgewandte Seite des Merkurs. ==== BepiColombo ==== Die europäische Raumfahrtorganisation ESA und die japanische Raumfahrtbehörde JAXA erforschen den sonnennächsten Planeten mit der kombinierten Merkursonde BepiColombo. Das gemeinsame Unternehmen ist nach dem Spitznamen des 1984 verstorbenen Giuseppe Colombo benannt und besteht aus zwei am Ziel getrennt eingesetzten Orbitern: einem Fernerkundungsorbiter für eine 400 km × 1500 km messende polare Umlaufbahn und einem Magnetosphärenorbiter für einen polaren Merkurumlauf von 400 km × 12.000 km. Die Komponenten werden sich jeweils der Untersuchung des Magnetfeldes sowie der geologischen Zusammensetzung in Hinsicht der Geschichte des Merkurs widmen. Die Sonde startete am 20. Oktober 2018, ihre Reise zum Merkur wird mit Ionentriebwerken und Vorbeiflügen an den inneren Planeten unterstützt und soll 2025 in eine Umlaufbahn eintreten. Am Ziel wird die Sonde Temperaturen von bis zu 250 °C ausgesetzt sein und soll mindestens ein Jahr lang (d. h. über vier Merkurjahre) Daten liefern. == Beobachtung == === Immer nur nahe der Sonne === Der Merkur kann sich als innerster Planet des Sonnensystems nur bis zu einem Winkel von maximal 28 Grad (größte Elongation) von der Sonne entfernen und ist daher schwierig zu beobachten. Dem in Frauenburg tätigen Nikolaus Kopernikus war es beispielsweise nie gelungen, den Merkur zu beobachten. Der Merkur kann in der Abend- oder Morgendämmerung als orangefarbener Lichtpunkt mit einer scheinbaren Helligkeit von etwa 1 mag bis maximal −1,9 mag in der Nähe des Horizonts mit bloßem Auge wahrgenommen werden. Bei Tagbeobachtungen ist er – je nach Sichtverhältnissen – ab einer Fernrohröffnung von etwa 10 bis 20 cm gut zu erkennen. Durch die Horizontnähe wird seine Beobachtung mit Teleskopen sehr erschwert, da sein Licht eine größere Strecke durch die Erdatmosphäre zurücklegen muss und durch Turbulenzen, Lichtbrechung und Absorption gestört wird. Der Planet erscheint meist als verwaschenes, halbmondförmiges Scheibchen im Teleskop. Auch mit leistungsfähigen Teleskopen sind kaum markante Merkmale auf seiner Oberfläche auszumachen. Da die Merkurbahn stark elliptisch ist, schwanken die Werte seiner größten Elongation zwischen den einzelnen Umläufen von 18 bis 28 Grad. Bei der Beobachtung des Merkurs sind – bei gleicher geographischer nördlicher oder südlicher Breite – die Beobachter der Nordhalbkugel im Nachteil, denn die Merkur-Elongationen mit den größten Werten finden zu Zeiten statt, bei denen für einen Beobachter auf der Nordhalbkugel die Ekliptik flach über dem Horizont verläuft und der Merkur in der hellen Dämmerung auf- oder untergeht. In den Breiten Mitteleuropas ist er dann mit bloßem Auge nicht zu sehen. Die beste Sichtbarkeit verspricht eine maximale westliche Elongation (Morgensichtbarkeit) im Herbst, sowie eine maximale östliche Elongation (Abendsichtbarkeit) im Frühling. In großer Höhe über dem Horizont kann der Merkur mit bloßem Auge nur während einer totalen Sonnenfinsternis gesehen werden. Wegen der großen Bahnneigung zieht der Planet nur alle paar Jahre vor der Sonnenscheibe vorbei (siehe nächster Abschnitt). Hingegen kann er gerade deshalb manchmal doppelsichtig werden, indem er mit freiem Auge sowohl in der hellen Morgen- wie in der hellen Abenddämmerung beobachtbar sein kann. Dies ist in den Tagen um die Untere Konjunktion möglich, wenn er nicht knapp an der Sonne vorbeizieht, sondern bis zu 8° nördlich von ihr. === Merkurtransit === Aufgrund der Bahneigenschaften des Merkurs und der Erde wiederholen sich alle 13 Jahre ähnliche Merkursichtbarkeiten. In diesem Zeitraum finden im Allgemeinen auch zwei sogenannte Transits oder Durchgänge statt, bei denen der Merkur von der Erde aus gesehen direkt vor der Sonnenscheibe als schwarzes Scheibchen zu sehen ist. Ein solcher Transit des Merkurs ist sichtbar, wenn er bei der unteren Konjunktion – während er die Erde beim Umlauf um die Sonne auf seiner Innenbahn überholt – in der Nähe eines seiner beiden Bahnknoten steht, also die Erdbahnebene kreuzt. Ein solches Ereignis ist aufgrund der entsprechenden Geometrie nur zwischen dem 6. und dem 11. Mai oder zwischen dem 6. und dem 15. November möglich, da die beiden Bahnknoten am 9. Mai oder am 11. November von der Erde aus gesehen vor der Sonne stehen. Der letzte Merkurdurchgang fand am 11. November 2019 statt, der nächste folgt am 13. November 2032. === Sichtbarkeit === In der folgenden Tabelle sind die speziellen Konstellationen des Merkurs für das Jahr 2021 angegeben. Östliche Elongation bietet Abendsichtbarkeit, westliche Elongation Morgensichtbarkeit: == Kulturgeschichte == In der altägyptischen Mythologie und Astronomie galt der Merkur hauptsächlich als Stern des Seth. Sein Name Sebeg (auch Sebgu) stand für eine weitere Erscheinungsform der altägyptischen Götter Seth und Thot. Im antiken Griechenland bezog man den Planeten auf den Gott und Götterboten Hermes, assoziierte ihn aber auch mit den Titanen Metis und Koios. Der zumeist nur in der Dämmerung und dann auch nur schwer zu entdeckende, besonders rastlose Planet wurde auch als Symbol für Hermes als Schutzpatron der Händler, Wegelagerer und Diebe gesehen. Bei den Römern entsprach Hermes spätestens in der nachantiken Zeit dem Mercurius, abgeleitet von mercari (lat. für Handel treiben). Der von ihnen nach dem Merkur benannte Wochentag dies Mercurii ist im Deutschen der Mittwoch. In der Zuordnung der Wochentage besteht die namentliche Verbindung des Merkurs mit dem Mittwoch noch im Französischen (mercredi), im Italienischen (mercoledì), im Spanischen (miércoles), im Rumänischen (miercuri) und im Albanischen (e mërkurë). Den Germanen wird als Entsprechung des Gestirns der Gott Odin bzw. Wotan zugeschrieben, dem ebenso der Mittwoch (im Englischen wednesday, im Niederländischen woensdag) zugeordnet wurde. Im Altertum und in der Welt der mittelalterlichen Alchemisten hat man dem eiligen Wandelstern als Planetenmetall das bewegliche Quecksilber zugeordnet. In vielen Sprachen basiert der Name des Metalls heute noch auf diesem Wortstamm (englisch mercury, französisch mercure). == Rezeption in Literatur, Film und Musik == In der Musik hat Gustav Holst dem Merkur in seiner Orchestersuite The Planets (Die Planeten, 1914–1916) den dritten Satz gewidmet: Mercury, the Winged Messenger (Merkur, der geflügelte Bote).In der Unterhaltungsliteratur schrieb Isaac Asimov im Jahr 1956 für seine Lucky-Starr-Reihe den Science-Fiction-Roman Lucky Starr and the Big Sun of Mercury. Darin startet auf dem Planeten der lebensfeindlichen Temperaturextreme ein Projekt neuer Energiegewinnungs- und -transportmethoden für den wachsenden Energiebedarf der Erde, das jedoch von Sabotage betroffen ist. Die deutsche Ausgabe erschien erstmals 1974 unter dem Titel Im Licht der Merkur-Sonne.In dem Film Sunshine, von Regisseur Danny Boyle im Jahr 2007 in die Kinos gebracht, dient eine Umlaufbahn um den Merkur als Zwischenstation für ein Raumschiff, dessen Fracht die Sonne vor dem Erlöschen bewahren soll. Der im Jahr 2012 erschienene Roman 2312 von Kim Stanley Robinson handelt in eben jenem Jahr 2312, unter anderem in Merkurs Hauptstadt Terminator, die sich ständig auf Schienen entlang des Äquators bewegt und plötzlich mit gezielten Meteoroiden angegriffen wird. == Siehe auch == Liste der Planeten des Sonnensystems Liste der Entdeckungen der Planeten und ihrer Monde == Literatur == Lexikon der Astronomie. 2 Bände. Herder, Freiburg / Basel / Wien 1989, ISBN 3-451-21632-9. ABC-Lexikon Astronomie. Spektrum Akademischer Verlag, Heidelberg / Berlin / Oxford 1995, ISBN 3-86025-688-2. David Morrison: Planetenwelten. Spektrum Akademischer Verlag, Heidelberg / Berlin 1999, ISBN 3-8274-0527-0. Planeten und ihre Monde. Spektrum Akademischer Verlag, Heidelberg / Berlin 1997, ISBN 3-8274-0218-2. Der NASA-Atlas des Sonnensystems. Knaur, München 2002, ISBN 3-426-66454-2. Holger Heuseler, Ralf Jaumann, Gerhard Neukum: Zwischen Sonne und Pluto. BLV, München / Wien / Zürich 1999, ISBN 3-405-15726-9. Edward J. Tarbuck, Frederick K. Lutgens: Ciencias de la Tierra. Una Introducción a la Geología Física. Prentice Hall, Madrid 2000, ISBN 84-8322-180-2. Hielo en Mercurio. In: Joan Pericay: El Universo. Enciclopedia de la Astronomía y el Espacio. Band 5. Editorial Planeta-De Agostini, Barcelona 1997, S. 141–145. Stardate, Guide to the Solar System. Publication der University of Texas at Austin McDonald Observatory, OCLC 48099283. Our Solar System, A Geologic Snapshot. NASA (NP-157). Mai 1992. == Weblinks == NASA: Mariner 10 Bilder von Mercury (englisch) NASA: Merkuratlas (englisch) Solar System Exploration: Mercury. In: NASA.gov. Abgerufen am 9. Mai 2020 (englisch). Solarviews: Merkur J. A. Dunne, E. Burgess: The voyage of Mariner 10: Missions to Venus and Mercury, Prepared by Jet Propulsion Laboratory, California Institute of Technology, 1978, (NASA-SP-424) (englisch) Merton E. Davies, Stephen E. Dwornik, Donald E. Gault, Robert G. Strom: Atlas of Mercury, Prepared for the Office of Space Sciences, National Aeronautics and Space Administration Scientific and Technical Information Office, 1978, (NASA-SP-423) (englisch) Raumfahrer.net: Messenger entdeckt Wassereis auf dem Merkur scinexx.de: Innerer Kern ist doch fest 18. April 2019Medien Haben wir den Planeten Merkur vergessen? aus der Fernseh-Sendereihe alpha-Centauri (ca. 15 Minuten). Erstmals ausgestrahlt am 11. Apr. 1999. == Einzelnachweise ==
https://de.wikipedia.org/wiki/Merkur_(Planet)
Galileo Galilei
= Galileo Galilei = Galileo Galilei (* 15. Februar 1564 in Pisa; † 29. Dezember 1641jul. / 8. Januar 1642greg. in Arcetri bei Florenz) war ein italienischer Universalgelehrter, Physiker, Astrophysiker, Mathematiker, Ingenieur, Astronom, Philosoph und Kosmologe. Viele seiner Entdeckungen – vor allem in der Mechanik und der Astronomie – gelten als bahnbrechend. Er entwickelte die Methode, die Natur durch die Kombination von Experimenten, Messungen und mathematischen Analysen zu erforschen, und wurde damit einer der wichtigsten Begründer der neuzeitlichen exakten Naturwissenschaften. Berühmt wurde er auch dadurch, dass die katholische Kirche ihn verurteilte, weil einige seiner Theorien der damaligen Weltsicht widersprachen; 1992 rehabilitierte sie ihn. == Leben und Werk == === Herkunft und Lehrjahre === Galileo Galilei stammte aus einer verarmten Florentiner Patrizierfamilie. Sein Familienzweig hatte den Namen eines bedeutenden Vorfahren angenommen, des Arztes Galileo Bonaiuti (15. Jahrhundert). Galileis Vater Vincenzo war vorübergehend nach der Heirat mit Giulia Ammannati (Pisa, 1562) Tuchhändler, ansonsten aber Musiker, Komponist und Musiktheoretiker und hatte mathematische Kenntnisse und Interessen; er lebte ab den 1570er Jahren ständig in Florenz. Dort untersuchte er unter anderem den Klang einer schwingenden Saite und entdeckte den quadratischen Zusammenhang zwischen den Veränderungen von Spannung bzw. Länge der Saite, wenn die Tonhöhe sich um ein bestimmtes Intervall ändern soll. Galilei wurde als Novize im Kloster der Vallombrosaner erzogen und zeigte Neigung, in den Benediktinerorden einzutreten, wurde aber von seinem Vater nach Hause geholt und 1580 zum Medizinstudium nach Pisa geschickt, wo sich Galileo 1581 einschrieb; dort war einer seiner Dozenten Andrea Camuzio. Nach vier Jahren brach er sein Studium ab und ging nach Florenz, um bei Ostilio Ricci, einem Gelehrten aus der Schule von Nicolo Tartaglia, Mathematik zu studieren. Er bestritt seinen Lebensunterhalt mit Privatunterricht, beschäftigte sich mit angewandter Mathematik, Mechanik und Hydraulik und begann, in den gebildeten Kreisen der Stadt mit Vorträgen und Manuskripten auf sich aufmerksam zu machen. Vor der Accademia Fiorentina glänzte er mit einem geometrisch-philologischen Referat über die Topografie von Dantes Hölle (Due lezioni all’Accademia fiorentina circa la figura, sito e grandezza dell’Inferno di Dante, 1588). 1585/86 veröffentlichte er erste Ergebnisse zur Schwere fester Körper (Theoremata circa centrum gravitatis solidorum) (in der Tradition von Archimedes’ Schrift darüber) und löste ein in einer Anekdote über Archimedes überliefertes antikes Problem (Krone des Hieron II.) durch Konstruktion einer hydrostatischen Waage zur Bestimmung des spezifischen Gewichts (La bilancetta, Manuskript). Seine 1587 erfolgte Bewerbung um eine Professorenstelle für Mathematik an der Päpstlichen Universität von Bologna hatte keinen Erfolg, obwohl er sich in der Bewerbung drei Jahre älter machte. Man zog den älteren Giovanni Antonio Magini vor, der außerdem dort studiert hatte. Die Gutachter vermuteten auch einen Fehler in den von Galilei der Bewerbung beigegebenen mathematischen Schriften. Danach schuf er sich aber einen Ruf als Mathematiker in Florenz unter anderem durch öffentliche Vorlesungen in der Akademie über die Architektur-Maße der Hölle (1588) und durch ein Manuskript über die Theorie der Schwerpunkte in der Tradition von Archimedes (1587), das er zirkulieren ließ. === Hochschullehrer in Pisa, 1589–1592 === Im Jahr 1589 erhielt Galilei für drei Jahre eine Stelle als Hochschullehrer und Inhaber des Lehrstuhls für Mathematik an der Universität Pisa. Er unterrichtete Euklids Elemente und elementare Astronomie sowie Astrologie für Mediziner. Die Bezahlung war allerdings gering; dennoch gelang es ihm, vorzügliche Instrumente zu bauen und zu verkaufen. Auch entwickelte er ein – noch sehr ungenau arbeitendes – Thermometer. Er untersuchte die Pendelbewegung und fand, dass die Periode nicht von der Auslenkung oder dem Gewicht des Pendels, sondern von dessen Länge abhängt. Bis in seine letzten Lebensjahre beschäftigte ihn das Problem, wie man diese Entdeckung zur Konstruktion einer Pendeluhr nutzen kann. Ausgehend von der Bewegung des Pendels führte Galilei als Versuchsanordnung zur Untersuchung der Fallgesetze die schiefe Ebene mit anschließender horizontaler Bahn ein. Die schiefe Ebene diente ihm zur „Verdünnung“ der Schwerkraft, weil die Messung der Fallgeschwindigkeit damals noch zu ungenau war. Galilei benützte in diesen Experimenten Kugeln aus verschiedenen Materialien. Das erlaubte es erstmals, den langsam anrollenden Kugeln eine bestimmte Geschwindigkeit zu erteilen und diese zu messen. So entdeckte er die Beschleunigung und die Tatsache, dass diese etwas von der Geschwindigkeit völlig verschiedenes ist. Dies wiederum ließ sich am besten in der Formelsprache der Mathematik darstellen. Am deutlichsten formulierte Galilei diese neue Einstellung zur Physik 1623 im Saggiatore: Galileis Schüler und erster Biograf Vincenzo Viviani behauptete, Galilei habe in Pisa auch Fallversuche vom Schiefen Turm unternommen. In Galileis eigenen Schriften und Aufzeichnungen findet sich jedoch kein Hinweis auf solche Versuche. Davon zu unterscheiden ist das Turmargument als Gedankenexperiment, auf das Galilei in seinem Hauptwerk Dialogo eingeht. Galilei fasste die Ergebnisse seiner mechanischen Untersuchungen in einem Manuskript zusammen, das heute als De motu antiquiora zitiert wird und erst 1890 gedruckt wurde. Darin enthaltene Angriffe auf Aristoteles nahmen seine aristotelisch geprägten Kollegen in Pisa unfreundlich auf. Galileis Anstellung wurde 1592 nicht verlängert. Seine materielle Situation war zusätzlich dadurch verschärft, dass 1591 sein Vater gestorben war und er nun als ältester Sohn auch für seine Geschwister (einen Bruder und drei Schwestern) und Mutter Verantwortung übernehmen musste. === Professor in Padua, 1592–1610 === Dank guter Protektion aus florentinischen Kreisen wurde Galilei 1592 auf den Lehrstuhl für Mathematik an der Universität Padua berufen, auf den sich auch Giordano Bruno Hoffnungen gemacht hatte. In Padua, das zur reichen und liberalen Republik Venedig gehörte, blieb Galilei 18 Jahre lang. Obwohl seine Stelle wesentlich besser dotiert war als die vorige in Pisa, besserte Galilei sein Gehalt auf, indem er neben seinen akademischen Vorlesungen vornehmen Schülern Privatunterricht erteilte, darunter zwei späteren Kardinälen. Ferner vertrieb Galilei ab 1597 einen Proportionszirkel. Für die Fertigung dieses Vorläufers des Rechenschiebers, der Compasso genannt wurde und dessen Konstruktion er erheblich verbessert hatte, beschäftigte er einen eigenen Mechaniker. Bereits in diesem Jahr ließ er in einem Brief an Johannes Kepler deutlich erkennen, dass er das heliozentrische Weltsystem gegenüber dem vorherrschenden Glauben an das geozentrische Weltbild favorisierte: „… unser Lehrer Copernicus, der verlacht wurde“. Die heute nach Kepler benannte Supernova von 1604 veranlasste ihn zu drei öffentlichen Vorträgen, in denen er die aristotelische Astronomie und Naturphilosophie angriff. Aus der Tatsache, dass keine Parallaxe festgestellt werden konnte, schloss Galilei wie bereits 1572 Tycho Brahe, dass der neue Stern weit von der Erde entfernt sei und sich deshalb in der Fixsternsphäre befinden müsse. Nach herrschender Lehre wurde diese Sphäre für unveränderlich gehalten und Galilei vertrat damit ein weiteres Argument gegen die Anschauungen der Peripatetiker, wie man die Aristoteles-Schüler auch nannte. Seine Untersuchungen zu den Bewegungsgesetzen setzte er in diesen Jahren fort. 1609 erfuhr Galilei von dem im Jahr zuvor in Holland von Jan Lipperhey erfundenen Fernrohr. Er baute aus käuflichen Linsen ein Gerät mit ungefähr vierfacher Vergrößerung, lernte dann selbst Linsen zu schleifen und erreichte bald eine acht- bis neunfache, in späteren Jahren bis zu 33-fache Vergrößerung. Aus dieser Zeit stammt auch ein in der Nationalbibliothek von Florenz entdeckter Einkaufszettel, der Einblick gibt, wie Galilei seine diesbezüglichen Erkenntnisse in die Praxis umsetzte.Am 25. August 1609 führte Galilei sein Instrument, dessen militärischer Nutzen auf der Hand lag und das im Gegensatz zum wenig später entwickelten Kepler-Fernrohr eine aufrecht stehende Abbildung lieferte, der venezianischen Regierung – der Signoria – vor. Das Instrument machte einen tiefen Eindruck und Galilei überließ der Signoria das völlig illusorische alleinige Recht zur Herstellung solcher Instrumente, woraufhin sein Gehalt erhöht wurde. Verschiedentlich wurde behauptet, Galilei habe die Erfindung des Fernrohrs wider besseres Wissen für sich beansprucht, so durch Brecht im Drama Leben des Galilei und durch Hans Conrad Zander, der sich auf das Galilei-Zitat zu einem „neulich von ihm erfundenen Fernrohr“ aus dem Sidereus Nuncius beruft. Dagegen hat Galilei die Grundidee des Teleskops wohl nicht als seine eigene Erfindung ausgegeben, eine Gehaltskürzung (-suspension) im folgenden Jahr deutet aber an, dass sich die Signoria durchaus hinters Licht geführt fühlte. Als einer der ersten Forscher nutzte Galilei ein Fernrohr zur Himmelsbeobachtung. Dies bedeutete eine Revolution in der Astronomie, denn bis dahin waren die Menschen auf Beobachtungen mit dem bloßen Auge angewiesen. Er stellte fest, dass die Oberfläche des Mondes rau und uneben ist, mit Erhebungen, Klüften und Kratern. Er erkannte zudem, dass die dunkle Partie der Mondoberfläche von der Erde aufgehellt wird (sog. Erdschein) und dass die Planeten – im Gegensatz zu den Fixsternen – als Scheiben zu sehen sind. Er entdeckte die vier größten Monde des Jupiter, die er in Vorbereitung seines Wechsels an den Medici-Hof die Mediceischen Gestirne nannte und die heute als die Galileischen Monde bezeichnet werden. Unabhängig von ihm gelang dies fast gleichzeitig Simon Marius. Der chinesische Astronom Gan De schreibt bereits im Jahr 365 v. Chr., einen Begleiter des Jupiter gesehen zu haben. Vermutlich war dies Ganymed, der unter idealen Bedingungen für das bloße Auge sichtbar ist. Galilei beobachtete, dass es sich bei der Milchstraße nicht um ein nebliges Gebilde (wie es dem bloßen Auge vorkommt), sondern um „nihil aliud quam innumerarum Stellarum coacervatim consitarum congeries (nichts anderes als eine Anhäufung zahlloser Sterne)“ handelt. Diese Entdeckungen und seine Federzeichnung der Mondoberfläche wurden im Sidereus Nuncius (Sternenbote bzw. Nachricht von den Sternen) von 1610 veröffentlicht und machten Galilei auf einen Schlag berühmt. Obwohl Galilei darin die Abbildung eines unübersehbar nichtexistenten großen Mondkraters am Terminator publizierte, war der Sidereus Nuncius innerhalb weniger Tage vergriffen. === Hofmathematiker in Florenz, ab 1610 === Im Herbst 1610 ernannte der Großherzog der Toskana und ehemalige Schüler Galileis Cosimo II. de’ Medici ihn zum Hofmathematiker, Hofphilosophen und zum ersten Mathematikprofessor in Pisa ohne jede Lehrverpflichtung. Galilei bekam damit volle Freiheit, sich ganz seinen Forschungen zu widmen. Bereits 1605 war Galilei zum Mitglied der Florentiner Accademia della Crusca gewählt worden, nach seiner Übersiedlung übernahm er in ihr auch Führungsaufgaben. 1658 beschloss die Akademie, seine Opere in der nächsten Ausgabe des Vocabolario (1691 veröffentlicht) als eine der Textgrundlagen für mathematische und philosophische Terminologie zu benutzen.Spätestens bei der Umsiedlung nach Florenz trennte sich Galilei von Marina Gamba, seiner Haushälterin, mit der er drei Kinder hatte: Virginia (Ordensname: Maria Celeste; 1600–1634), Livia (Ordensname: Arcangela; 1601–1659) und Vincenzio (1606–1669). Mit Hilfe eines Bewunderers, des Kardinals Maffeo Barberini und späteren Papstes Urban VIII., brachte Galilei seine Töchter noch vor Erreichen des Mindestalters in einem Kloster unter, denn sie hatten als uneheliche Kinder kaum Aussichten auf eine standesgemäße Heirat. Der Sohn wurde 1613 zu seinem Vater nach Florenz geschickt, nachdem Marina Gamba einen Mann namens Giovanni Bartoluzzi geheiratet hatte. Galilei legitimierte ihn später. === Weitere astronomische Entdeckungen === Galilei setzte seine astronomischen Beobachtungen fort und beobachtete Ende 1610, dass der Planet Venus Phasengestalten wie der Mond zeigt, wobei sich – im Gegensatz zum Mond – die Größe der Planetenscheibe ändert. Die Venussichel und die volleren Phasen interpretierte er derart, dass die Venus zeitweise zwischen Sonne und Erde steht, zu anderen Zeiten aber jenseits der Sonne. Darüber korrespondierte er mit den römischen Jesuiten um Christophorus Clavius (mit diesem hatte er bereits 1587 eine kontroverse Diskussion geführt), welche die Phasengestalt der Venus bereits unabhängig von ihm entdeckt hatten. Über die kosmologischen Konsequenzen und darüber, dass das ptolemäische Weltbild nicht mehr länger haltbar war, waren sich beide mehr oder weniger im Klaren. In seiner Begeisterung über seine wissenschaftlichen Erkenntnisse sandte er in seiner Werkstatt gefertigte Fernrohre an Freunde und andere Wissenschaftler. Jedoch erreichten nur wenige Exemplare das gewünschte Auflösungsvermögen. So konnte es geschehen, dass manche die Jupitermonde und andere seiner Entdeckungen nicht erkennen konnten und ihm Täuschungsabsichten unterstellten. Im Jahr 1611 besuchte Galilei Rom. Er wurde für seine Entdeckungen hoch geehrt und machte mittels seines Teleskops seinen Freunden – darunter auch Jesuiten – unverzüglich „le cose nuove del cielo“ (die neu entdeckten Gegenstände am Himmel) zugänglich: den Jupiter mit seinen vier Begleitern, den gebirgigen, zerklüfteten Mond, die „gehörnte“, d. h. sichelförmige Venus und den „dreifachen“ Saturn. Er wurde daraufhin zum sechsten Mitglied der Accademia dei Lincei ernannt. Diese Ehre war ihm so wichtig, dass er sich fortan Galileo Galilei Linceo nannte. Bei diesem Aufenthalt hatte er eine Audienz bei Papst Paul V. und traf seinen alten Bewunderer Maffeo Barberini. Ein Jahr später war Barberini dabei, als Galilei eine weitere, unhaltbare Behauptung des Aristoteles mit einem simplen, aber überzeugenden Experiment widerlegte: Eis schwimmt auf Wasser nicht deswegen, weil es zwar schwerer, aber flach ist, sondern weil es leichter ist. Zwischen Ende 1610 und Mitte 1611 beobachtete Galilei erstmals mit dem Teleskop dunkle Flecken auf der Sonnenscheibe. Diese Entdeckung der Sonnenflecken verwickelte ihn in eine Auseinandersetzung mit dem Jesuiten Christoph Scheiner: Man stritt sowohl um die Priorität als auch um die Deutung. Um die Vollkommenheit der Sonne zu retten, nahm Scheiner an, dass die Flecken Satelliten seien, wogegen Galilei die Beobachtung anführte, dass Sonnenflecken entstehen und vergehen. Er veröffentlichte diese Erkenntnis 1613 in Lettere solari, einem der ersten wissenschaftlichen Werke, die nicht in lateinischer Sprache, sondern in Umgangssprache verfasst wurden. Für Galilei war es offensichtlich, dass seine astronomischen Beobachtungen das heliozentrische Weltbild des Nikolaus Kopernikus stützten, aber keinen zwingenden Beweis lieferten: Sämtliche Beobachtungen wie etwa die Venusphasen waren auch mit dem Weltmodell des Tycho Brahe vereinbar, wonach sich Sonne und Mond um die Erde, die übrigen Planeten aber um die Sonne drehen. Tatsächlich gelang es erst James Bradley im Jahre 1729, mit der stellaren Aberration die Eigenbewegung der Erde gegenüber der Fixsternsphäre nachzuweisen. Galilei hielt sich bei der Interpretation seiner astronomischen Beobachtungen zunächst zurück. Jedoch war ihm wohl schon in seiner Zeit in Pisa der Gedanke gekommen, die Drehungen (revolutiones) der Erde um ihre Achse und um die Sonne seien die Ursache für die Gezeiten: „die Gewässer würden dabei beschleunigt und hin- und herbewegt“. Damit glaubte er, einen Beweis für das kopernikanische Weltbild in Händen zu haben, insbesondere für die bewegte Erde. Doch diese Erklärung war falsch, Hauptursache der Gezeiten sind die räumlich variierenden Anziehungskräfte von Mond und Sonne, wie erst durch Isaac Newton im Jahre 1687 zutreffend beschrieben wurde. Kontroverse Diskussionen am Florentiner Hof veranlassten Galilei zu erklären, dass astronomische Angaben in der Bibel nicht wörtlich zu nehmen seien, mithin eine mit dem kopernikanischen System verträgliche Bibelauslegung möglich sei, und dass die Forschung frei sein sollte von der Kirchendoktrin (Brief an seinen Schüler und Nachfolger in Pisa, Benedetto Castelli, 21. Dezember 1613, der in Kopie am 7. Februar 1615 durch den Dominikaner Niccolò Lorini der Inquisition zugespielt wurde). Galileo schickte am 16. Februar 1615 eine abgeschwächte, weniger ketzerisch formulierte Version des Briefes als angebliches Original an seinen Freund Piero Dini in Rom mit der Bitte, es im Vatikan zu verbreiten. Von beiden Versionen wurden viele Kopien erstellt und es war lange unklar, ob Galileos Schutzbehauptung zutraf. Das von Galileo mit zahlreichen Streichungen und Ergänzungen versehene Original, das Castelli ihm zurückgesandt hatte, wurde erst im Sommer 2018 in der Bibliothek der Royal Society wiederentdeckt; es war im Katalog fehldatiert auf den 21. Oktober 1613.Im März 1614 gelang es Galilei, das spezifische Gewicht der Luft als ein 660stel des Gewichts des Wassers zu bestimmen – herrschende Meinung war damals, Luft hätte kein Gewicht. Dies war eine weitere Widerlegung aristotelischer Anschauungen. In dieser Zeit war er häufig als Gutachter für den Großherzog in technisch-physikalischen Fragen tätig. Als Forscher beschäftigte er sich insbesondere mit Hydrodynamik, Lichtbrechung in Glas und Wasser sowie Mechanik mit der mathematischen Beschreibung der Beschleunigung beliebiger Körper. In den Jahren 1610–1614 hielt er sich häufig auf dem Landgut seines Freundes Filippo Salviati auf, um seine seit Jahren angeschlagene Gesundheit wiederherzustellen. === Das Verfahren von 1616 === Im Jahr 1615 veröffentlichte der Kleriker Paolo Antonio Foscarini (circa 1565–1616) ein Buch, das beweisen sollte, dass die kopernikanische Astronomie nicht der Heiligen Schrift widersprach. Daraufhin eröffnete die Römische Inquisition nach Vorarbeit des bedeutenden Kirchenlehrers Kardinal Robert Bellarmin, einer zentralen Persönlichkeit der Kurie und der Inquisition, ein Untersuchungsverfahren. 1616 wurde Foscarinis Buch gebannt. Zugleich wurden einige nichttheologische Schriften über kopernikanische Astronomie, darunter auch ein Werk von Johannes Kepler, auf den Index Librorum Prohibitorum gesetzt. Das Hauptwerk des Kopernikus, De revolutionibus orbium coelestium, in dessen Todesjahr 1543 erschienen, wurde nicht verboten, sondern „suspendiert“: Es durfte fortan bis 1822 im Einflussbereich der Römischen Inquisition nur noch in Bearbeitungen erscheinen, die betonten, dass das heliozentrische System ein bloßes mathematisches Modell sei. An diesem Verfahren, das nicht zu den Inquisitionsprozessen gezählt werden kann, war Galilei offiziell nicht beteiligt. Seine Haltung war jedoch ein offenes Geheimnis, auch wenn das Schreiben an die Großherzogin-Mutter noch nicht veröffentlicht war. Wenige Tage nach der förmlichen Index-Beschlussfassung schrieb Bellarmin an Galilei einen Brief mit der Versicherung, Galilei habe keiner Lehre abschwören müssen; gleichzeitig jedoch enthielt dieses Schreiben die nachdrückliche Ermahnung, das kopernikanische System in keiner Weise als Tatsache zu verteidigen, sondern allenfalls als Hypothese zu diskutieren. Dieser Brief wurde im Prozess von 1632/33 als Beweis für Galileis Ungehorsam zitiert. Allerdings gab es in den Akten zwei verschiedene Fassungen, von denen nur eine korrekt unterschrieben und zugestellt war, weshalb im 19. und 20. Jahrhundert einige Historiker annahmen, die Inquisitionsbehörde habe 1632 zu Ungunsten Galileis einen Beweis gefälscht. Galilei hielt sich von nun an mit Äußerungen in der Öffentlichkeit zum kopernikanischen System zurück. Ab 1616 beschäftigte er sich intensiv mit der Möglichkeit, die Bewegungen der Jupitermonde als Zeitmesser zu nutzen, um das Längengradproblem zu lösen. Allerdings blieb er damit erfolglos. === Saggiatore === 1623 wurde Galileis alter Förderer, Kardinal Maffeo Barberini, zum Papst gewählt (Urban VIII.). Galilei widmete ihm sogleich seine Schrift Saggiatore (italienisch = die Goldwaage), eine Polemik gegen den Jesuitenpater Orazio Grassi über die Kometenerscheinungen von 1618–1619, über atomistische und methodologische Fragen. In diesem Buch, an dem er seit 1620 gearbeitet hatte, äußerte Galilei seine berühmt gewordene Überzeugung, die Philosophie (nach dem Sprachgebrauch der Zeit ist damit die Naturwissenschaft gemeint) stehe in dem Buch der Natur, und dieses Buch sei in mathematischer Sprache geschrieben: Ohne Geometrie zu beherrschen, verstehe man kein einziges Wort. Unabhängig von Galileis eigener Position zu Alchemie und Astrologie gilt er seither als Begründer der modernen, mathematisch formulierten und an überprüfbaren Fakten orientierten Naturwissenschaften. Im Saggiatore griff er auf eine Theorie des Aristoteles über Meteore zurück und interpretierte die Kometen als erdnahe optische Effekte, vergleichbar den Phänomenen wie Regenbogen oder Polarlicht. Zur Zeit der Kometenerscheinungen war Galilei allerdings aus gesundheitlichen Gründen nicht in der Lage, selbst Beobachtungen anzustellen. Seine empirisch nicht fundierte Polemik gegen die Theorie der Kometen, die Tycho Brahe und Orazio Grassi vertraten, ist als indirekte Verteidigung des kopernikanischen Systems zu verstehen, das durch die Annahme sich nicht auf Kreisbahnen bewegender Himmelskörper bedroht gewesen wäre. Das Saggiatore wurde anonym wegen Atomismus und damit eines Verstoßes gegen die die Eucharistie betreffenden Dogmen des tridentinischen Konzils angezeigt. Unter Zuhilfenahme eines Gefälligkeitsgutachtens Pater Giovanni Guevaras ließen die Gönner Galileis im Vatikan diese Anzeige versanden. Der Wissenschaftshistoriker Pietro Redondi vermutet deshalb, dass auch dem Prozess 1633 eine Anzeige wegen Atomismus und damit häretischer Ansichten bezüglich des Abendmahls zugrunde liegt, die jedoch durch Intervention der eigens geschaffenen päpstlichen Untersuchungskommission auf die weit weniger brisante Frage des Kopernikanismus bzw. des Ungehorsams abgelenkt wurde. === Der Dialog über die zwei Weltsysteme === 1624 reiste Galilei nach Rom und wurde sechs Mal von Papst Urban VIII. empfangen, der ihn ermutigte, über das kopernikanische System zu publizieren, solange er dieses als Hypothese behandle; den Brief von Bellarmin an Galilei aus dem Jahr 1616 kannte Urban VIII. damals nicht. Nach langen Vorarbeiten und wieder unterbrochen durch Krankheiten, vollendete Galilei 1630 den Dialogo di Galileo Galilei sopra i due Massimi Sistemi del Mondo Tolemaico e Copernicano (Dialog von Galileo Galilei über die zwei wichtigsten Weltsysteme, das ptolemäische und das kopernikanische). In diesem Buch erklärte Galilei unter anderem sein Relativitätsprinzip und seinen Vorschlag zur Bestimmung der Lichtgeschwindigkeit. Die erste präzise Messung der Lichtgeschwindigkeit auf der Erde gelang erst 1849 Fizeau. Als vermeintlich stärkstes Argument für das kopernikanische System diente Galilei seine – irrige – Theorie der Gezeiten. Im Mai 1630 reiste Galilei erneut nach Rom, um bei Papst Urban VIII. und dem für die Zensur verantwortlichen Inquisitor Niccolò Riccardi ein Imprimatur zu erwirken. Er erhielt daraufhin eine vorläufige Druckerlaubnis. Zurück in Florenz entschied Galilei aus verschiedenen Gründen, sich mit dem Imprimatur durch den Florentiner Inquisitor zu begnügen und das Werk in Florenz drucken zu lassen. Zwei dieser Gründe waren der Tod des Herausgebers Fürst Cesi, Gründers der Accademia dei Lincei, und eine Pestepidemie. Aufgrund verschiedener Schwierigkeiten, ausgelöst durch Riccardi, konnte der Druck aber erst im Juli 1631 beginnen. Im Februar 1632 erschien der Dialogo. Das Buch widmete Galileo Galilei dem Großherzog Ferdinando II. de’ Medici und händigte ihm das erste gedruckte Exemplar am 22. Februar aus.In zweierlei Hinsicht setzte der Dialogo im aktuellen, astronomischen und eben auch weltanschaulich-theologischen Diskurs neue Akzente: An die Stelle der Wissenschaftssprache Latein trat die Volkssprache Italienisch, denn die Diskussionen sollten gezielt über die Kreise der Wissenschaft hinausgetragen werden. Er verschwieg bewusst das von den Jesuiten – u. a. Clavius, Giovanni Riccioli, Grimaldi – favorisierte Tychonische Planetenmodell. Es hätte analog zu Kopernikus’ Modell einige Phänomene wie die zeitweise Venussichel und die veränderliche Größe der Planetenscheibchen erklärt. Im Kampf um die Deutungshoheit des astronomischen Weltbildes bekämpfte Galilei den Konkurrenten Tycho Brahe mit Totschweigen.Der Zensurauflage, das Werk mit einer Schlussrede zugunsten des ptolemäischen Systems zu beschließen, meinte Galilei nachzukommen, indem er diese Rede in den Mund des offensichtlichen Dummkopfs Simplicio legte. Überdies beging er den Fehler, sich über einen Lieblingsgedanken Barberinis (Urban VIII.) lustig zu machen: dass man eine Theorie niemals über die von ihr vorhergesagten Effekte prüfen könne, da Gott diese Effekte jederzeit auch auf anderem Wege hervorbringen könne. Damit hatte Galilei den Bogen überspannt und die Protektion des Papstes verspielt. === Der Prozess gegen den Dialog === Im Juli 1632 wies Riccardi den Inquisitor von Florenz an, er solle die Verbreitung des Dialogo verhindern. Im September bestellte der Papst Galilei nach Rom ein. Mit Bitte um Aufschub, ärztlichen Attesten, langwieriger Anreise und obendrein Quarantäne infolge der Pestepidemie verging jedoch der gesamte Winter. In Rom wohnte Galilei in der Residenz des toskanischen Botschafters. Anfang April 1633 wurde er offiziell vernommen und musste für 22 Tage eine Unterkunft der Inquisition beziehen. Am 30. April bekannte er in einer zweiten Anhörung, in seinem Buch geirrt zu haben, und durfte wieder in die toskanische Botschaft zurückkehren. Am 10. Mai reichte er seine schriftliche Verteidigung ein, eine Bitte um Gnade. Am 22. Juni 1633 fand der Prozess im Dominikanerkloster neben der Basilika Santa Maria sopra Minerva statt. Zunächst leugnete Galilei, auf die Dialogform seines Werkes verweisend, das kopernikanische System gelehrt zu haben. Ihm wurde der Bellarminbrief (welche Fassung, ist nicht bekannt) vorgehalten, und man beschuldigte ihn des Ungehorsams. Nachdem er seinen Fehlern abgeschworen, sie verflucht und verabscheut hatte, wurde er zu lebenslanger Kerkerhaft verurteilt und war somit der Hinrichtung auf dem Scheiterhaufen entkommen. Dass Galilei überhaupt verurteilt wurde, war unter den zuständigen zehn Kardinälen durchaus strittig; drei von ihnen (darunter Francesco Barberini, der Neffe des Papstes) unterschrieben das Urteil nicht. Galilei selbst hielt an seiner Überzeugung fest. Die Behauptung, der zufolge er beim Verlassen des Gerichtssaals gemurmelt haben soll, „Eppur si muove“ (und sie [die Erde] bewegt sich doch), gilt vielfach als nachträgliche Erfindung. Sie wurde schon bald nach seinem Tod verbreitet, wie ein spanisches Gemälde von circa 1643/45 mit diesen Worten zeigt, das 1911 entdeckt wurde.Galilei sah zeitlebens die Kreisbahnen als zentralen Bestandteil des kopernikanischen Systems an und lehnte elliptische Bahnen aus diesem Grund ab. Kepler, mit dem er in Briefkontakt stand, hatte mit seinem Modell der Ellipsenbahnen praktisch alle Ungereimtheiten zwischen Beobachtung und dem heliozentrischen Weltbild beseitigt. Zur Rettung seines Konzepts der Kreisbahnen nahm Galilei in Kauf, dass es die beobachtete Position des Planeten Mars wesentlich schlechter voraussagte als die geozentrischen Modelle von Ptolemaios oder Brahe. Dass Galilei die Kometen zu atmosphärischen Erscheinungen uminterpretierte, weil die alternative Erklärung von sich im Sonnensystem umherbewegenden Objekten sein Weltbild gefährdet hätte, dürfte der Glaubwürdigkeit seines Modells ebenfalls eher abträglich gewesen sein. Bei den nur unter großen Gefahren für das Augenlicht beobachtbaren Sonnenflecken kam hinzu, dass deren Zahl nach 1610 abfiel und sie von 1645 an sogar für fast 75 Jahre nahezu völlig ausblieben (sog. Maunderminimum). Schließlich diskutierte Galilei in seinem Dialog wohlweislich nur die beiden Weltsysteme von Copernicus und Ptolemaios. Letzteres hatte er anhand der Venusphasen empirisch widerlegt, nicht jedoch das geozentrische Modell von Brahe, das sich mit seinen Beobachtungen ebenfalls vertrug. === Hausarrest 1633–1642 und die Discorsi === Galilei blieb nach dem Urteil unter Arrest in der Botschaft des Herzogtums Toskana in Rom. Nach wenigen Wochen wurde er unter die Aufsicht des Erzbischofs von Siena Ascanio II. Piccolomini gestellt, der allerdings sein glühender Bewunderer war und ihn nach Kräften unterstützte. In Siena konnte er seine tiefe Niedergeschlagenheit über den Prozess und seinen Ausgang überwinden. Nach fünf Monaten, im Dezember 1633, durfte er in seine Villa Gioiella in Arcetri zurückkehren, blieb jedoch unter Hausarrest, verbunden mit dem Verbot jeglicher Lehrtätigkeit. Als er wegen eines schmerzhaften Leistenbruchs um Erlaubnis bat, Ärzte in Florenz aufsuchen zu dürfen, wurde sein Gesuch abgelehnt mit der Warnung, weitere solche Anfragen würden zu Aufhebung des Hausarrestes und Einkerkerung führen. Gemäß dem Urteil hatte er über drei Jahre lang wöchentlich die sieben Bußpsalmen zu beten; diese Verpflichtung übernahm – solange sie noch lebte – seine Tochter Schwester Maria Celeste. Zudem wurden seine sozialen Kontakte stark eingeschränkt. Immerhin war es ihm gestattet, mit seinen weniger kontroversen Forschungen fortzufahren und seine Töchter im Kloster San Matteo zu besuchen. Sämtliche Veröffentlichungen waren ihm verboten, jedoch führte er einen ausgedehnten Briefwechsel mit Freunden und Gelehrten im In- und Ausland und konnte später zeitweilig Besucher empfangen, darunter Thomas Hobbes und John Milton, ab 1641 seinen ehemaligen Schüler Benedetto Castelli. Galilei hatte seit längerem Probleme mit seinen Augen; 1637 erblindete er auf dem rechten Auge und 1638 vollständig, als Folge von Überanstrengung, Entzündungen, Glaukom und grauem Star. Jedoch entdeckte er noch kurz vor dem völligen Verlust seiner Sehkraft die Libration des Mondes und teilte das 1637/38 brieflich mit, nachdem er einen Spezialfall (parallaktische Libration) schon in seinem Dialog über die beiden Weltsysteme von 1632 geschildert hatte. Ein Gnadengesuch auf Freilassung wurde abgelehnt. Seine letzten Jahre verbrachte er in seinem Landhaus in Arcetri. Ab dem Juli 1633 – noch in Siena – hatte Galilei an seinem physikalischen Hauptwerk Discorsi e Dimostrazioni Matematiche intorno a due nuove scienze gearbeitet. Obwohl das Inquisitionsurteil kein explizites Publikationsverbot enthielt, stellte sich eine Veröffentlichung im Einflussbereich der katholischen Kirche als unmöglich heraus. So geschah es, dass die Öffentlichkeit zuerst durch Matthias Berneggers lateinische Übersetzung von Galileis Werk Kenntnis erhielt, erschienen unter dem Titel Systema cosmicum im Verlag Elsevier und gedruckt 1635 in Straßburg bei David Hautt. Ein Druck des italienischen Texts der Discorsi erschien im Jahr 1638 bei Elsevier in Leiden. Inhaltlich griff Galilei in den Discorsi Ansätze und Ergebnisse aus seinen frühen Jahren wieder auf. Die beiden neuen Wissenschaften, die Galilei darin begründet, sind in moderner Sprache Festigkeitslehre und Kinematik. Er wies unter anderem nach, dass die bogenförmige Bewegung eines Geschosses aus zwei Komponenten besteht: Die horizontale mit konstanter Geschwindigkeit in Folge der Trägheit, die nach unten gerichtete mit zeitproportional zunehmender Geschwindigkeit durch konstante Beschleunigung. Das Zusammenwirken beider führt zu einer parabelförmigen Flugbahn. In dem Buch findet sich auch ein Paradoxon über das Unendliche (Galileis Paradoxon), dessen zugrundeliegende Ideen erst viel später im 19. Jahrhundert von Georg Cantor ausgebaut wurden. Im Spätherbst 1641 löste Evangelista Torricelli den seit 1639 für Galilei tätigen Begleiter Vincenzo Viviani als Assistent und Privatsekretär ab, doch war bereits klar, dass Galilei nicht mehr lang zu leben hatte. Er starb am 8. Januar 1642 in Arcetri. Ein feierliches Begräbnis in einem prunkvollen Grab, das der Großherzog vorgesehen hatte, wurde unterbunden. Er wurde zunächst anonym in Santa Croce in Florenz beigesetzt. Erst ungefähr 30 Jahre später erfolgte die Kennzeichnung des Grabes mit einer Inschrift. Die heute vorhandene repräsentative Grabstätte in Santa Croce wurde 1737 fertiggestellt, sie wurde durch eine Stiftung des Galilei-Assistenten Vincenzo Viviani finanziert. == Galilei und die Kirche == Nachdem es den Päpsten und Kardinälen gerade erst gelungen war, mithilfe der Dominikaner- und Jesuitenorden ihren Einfluss in Italien im Kampf gegen die Reformation wieder zu festigen, deuteten sie die Förderung der Wissenschaften in Großbritannien, Holland und Deutschland als fortdauernde Angriffe auf die Erklärungshoheit ihrer Institutionen – des dekretierten Consensus patrum. Sie sahen sich zum Beharren auf dem Althergebrachten gezwungen. Gleichzeitig gab es mächtige kirchliche Stimmen, die eine wörtliche Auslegung der Heiligen Schrift ablehnten und die Argumentation, Glauben und Wissenschaft seien getrennte Sphären, offensiv vertraten. So schrieb Kardinal Bellarmin, dass man, läge ein wirklicher Beweis für das heliozentrische System vor, bei der Auslegung der heiligen Schrift in der Tat vorsichtig vorgehen müsse. Ausdruck der kirchlichen Ambivalenz ihm gegenüber ist die recht milde Ermahnung von 1616, Galilei sei im „Irrtum des Glaubens“ und möge darum „von einer Verbreitung des kopernikanischen Weltbildes absehen“.Erst nachdem Galilei 1632 mit dem Dialogo wieder für das kopernikanische Weltbild eintrat und die ersten Exemplare sogar an seine erklärten Gegner wie z. B. den Inquisitor Serristori schickte, wurde ein formales Verfahren gegen ihn eröffnet. Auch jetzt noch war das Klima, verglichen mit anderen Häresieprozessen, freundlich und das Urteil milde. Nachdem Galilei geschworen hatte, „stets geglaubt zu haben, gegenwärtig zu glauben und in Zukunft mit Gottes Hilfe glauben zu wollen alles das, was die katholische und apostolische Kirche für wahr hält, predigt und lehret“, erhielt er lediglich Kerkerhaft, die bereits am nächsten Tag in Hausarrest umgewandelt wurde. In einem Kerker hat Galilei nie eingesessen.Die Tragik von Galileis Wirken liegt darin, dass er als ein zeitlebens tiefgläubiges Mitglied der Kirche den Versuch unternahm, ebendiese Kirche vor einem verhängnisvollen Irrtum zu bewahren. Seine Intention war es nicht, die Kirche zu widerlegen oder zu spalten, vielmehr war ihm an einer Reform der Weltsicht der Kirche gelegen. Seine verschiedenen Aufenthalte in Rom bis zum Jahr 1616 hatten auch den Zweck, Kirchenmänner wie Bellarmin davon zu überzeugen, dass die Peripatetiker nicht unfehlbar waren und Aussagen astronomischen Gehalts in der Heiligen Schrift nicht immer buchstabengetreu gelesen werden müssten. Auch war Galilei davon überzeugt, die Werke Gottes durch Experiment und Logik früher oder später vollständig klären zu können. Papst Urban VIII. dagegen vertrat die Auffassung, dass sich die vielfältigen, von Gott bewirkten Naturerscheinungen dem beschränkten Verstand der Menschen für immer entzögen.Der Inquisitionsprozess gegen Galilei hat zu endlosen historischen Kontroversen und zahlreichen literarischen Bearbeitungen angeregt; unter anderem in Bertolt Brechts Leben des Galilei. 1741 gewährte die römische Inquisition auf Bitte Benedikts XIV. das Imprimatur auf die erste Gesamtausgabe der Werke Galileis. Unter Pius VII. wurde 1822 erstmals ein Imprimatur auf ein Buch erteilt, das das kopernikanische System als physikalische Realität behandelte. Der Autor, ein gewisser Settele, war Kanoniker. Für Nicht-Kleriker war das Interdikt wohl längst belanglos geworden. 1979 beauftragte Johannes Paul II. die Päpstliche Akademie der Wissenschaften, den berühmten Fall aufzuarbeiten. Am 31. Oktober 1992 wurde der Kommissionsbericht übergeben, und Johannes Paul II. hielt eine Rede, in der er seine Sicht des Verhältnisses von kirchlicher Lehre und Wissenschaft darstellte. Am 2. November 1992 wurde Galileo Galilei von der römisch-katholischen Kirche formal rehabilitiert. Es war sogar geplant, Galilei durch eine Statue im Vatikan zu ehren, 2013 rückte der Vatikan davon aber ohne Angabe von Gründen ab, obwohl ein Modell bereits hergestellt worden war und ein Sponsor existierte. Im November 2008 distanzierte sich der Vatikan erneut von der Verurteilung Galileis durch die päpstliche Inquisition. Der damalige Papst Urban VIII. habe das Urteil gegen Galilei nicht unterzeichnet, Papst und Kurie hätten nicht geschlossen hinter der Inquisition gestanden. == Wissenschaftliche Leistungen == === Begründer der naturwissenschaftlichen Methode === Galilei gilt als wesentlicher Begründer der modernen Naturwissenschaften. Zum einen entwickelte er maßgeblich die für sie grundlegende Methode, bestehend aus der Kombination von eigener Beobachtung, gegebenenfalls anhand von geplanten Experimenten, mit möglichst genauer quantitativer Messung der beobachtbaren Größen und der Analyse der Messergebnisse mit den Mitteln der Mathematik. Zum anderen forderte er, den so gewonnenen Ergebnissen eine Vorrangstellung vor rein philosophisch oder theologisch begründeten Aussagen über die Natur zuzuerkennen.Es blieb nicht aus, dass Galilei als dem wesentlichen Begründer der experimentellen Methodik vorgeworfen wurde, einige der von ihm beschriebenen und als Beleg für die Korrektheit seiner Theorien ausgegebenen Experimente niemals selbst durchgeführt zu haben. Das gilt in wesentlichen Punkten als widerlegt (siehe Betrug und Fälschung in der Wissenschaft). === Beschleunigte Bewegung, Relativitätsprinzip und Trägheitsprinzip === Zu den großen begrifflichen Errungenschaften Galileis zählt die Widerlegung der Bewegungslehre des Aristoteles, insbesondere der darin formulierten prinzipiellen Gegensätze zwischen Ruhe und Bewegung sowie zwischen natürlicher und unnatürlicher (oder erzwungener) Bewegung. Galilei hatte an der schiefen Ebene erstmals die Zunahme der Fallgeschwindigkeit nachgemessen und gefunden, dass sie nicht in diskreten Graden und nicht in Proportion zur durchlaufenen Strecke zunimmt, sondern dass sie in Proportion zur verstrichenen Zeit vom Wert null an stetig anwächst und bis zum Erreichen der Endgeschwindigkeit alle dazwischen liegenden Werte durchläuft. Die von Johannes Buridan und Francis Bacon beobachtete Tatsache, dass die rein mechanischen Vorgänge wie Fall und Stoß auf einem gleichmäßig bewegten Schiff genau so ablaufen wie an Land, verallgemeinerte Galilei zu einem neuen Relativitätsprinzip: Danach gibt es bei den beobachtbaren Vorgängen keinen absoluten Unterschied zwischen Ruhe und (gleichförmiger) Bewegung. Das führte ihn weiter zur Aufstellung einer Vorform des Trägheitsprinzips, denn wenn die gleichförmige Mitbewegung eines Körpers mit einem Schiff von einem Mitfahrer des Schiffs genau so gut auch als Ruhe angesehen werden kann, dann erfordert die Aufrechterhaltung dieser Bewegung offenbar keine dauernd wirkende äußere Kraft.(S. 65), (Kap. 7), (Kap. 1.4) In seiner endgültigen Form wurde das Trägheitsprinzip, dem zufolge die kräftefreie Bewegung geradlinig ist (und nicht etwa kreisförmig), und dass dieses auch für die Bewegung der Himmelskörper gilt, erst von Newton klar ausgesprochen (Erstes Newtonsches Gesetz). === Kinematik === Die gleichmäßig beschleunigte Bewegung beschäftigte Galilei über vierzig Jahre lang. Seine experimentelle Innovation bestand in der Verwendung einer Fallrinne als schiefe Ebene, mit der er die Fallgesetze auf einer verlangsamten Zeitskala studieren konnte. Die Beschleunigung bestimmte er über seinen Puls, mit Wasseruhren oder dadurch, dass der Körper ein rhythmisches Signal auslöst, wenn der Auslöser in geeigneten Abständen platziert ist. Für die Entwicklung der physikalischen Methode ebenso bedeutsam war Galileis Schritt, die aus Experimenten gewonnenen Kenntnisse dazu zu nutzen, weiterführende Experimente zu planen und durchzuführen: Er präparierte mithilfe der schiefen Ebene Körper, die eine definierte horizontale Geschwindigkeit besaßen, und konnte mit diesen die Experimente zum horizontalen Wurf anstellen. Die verbreitete Geschichte über Galileis eigenhändig durchgeführte Fallversuche vom Schiefen Turm in Pisa sind als Legende einzustufen, denn es gibt keinen verlässlichen Beleg dafür. Ebenso wurde und wird vereinzelt immer noch bezweifelt, dass Galilei die Versuche zur beschleunigten Bewegung auf der schiefen Ebene wirklich durchgeführt hat. Die Begründung beruhte ursprünglich darauf, dass im gesamten Nachlass Galileis, der Anfang des 20. Jahrhunderts publiziert worden war, fast keine Aufzeichnungen zu durchgeführten Messungen zu finden waren. Jedoch fand in den 1960er Jahren Stillman Drake, nachdem er selber in Florenz in das Archiv hinuntergestiegen war, zahlreiche Blätter von Galileis Hand, die in der Gesamtausgabe fortgelassen worden waren. Es waren die Protokolle der Messungen, die bei der Zusammenstellung der Gesamtausgabe für unwichtig gehalten worden waren, weil auf ihnen nur wenig oder gar kein Text zu sehen war, dafür aber Skizzen und Zahlen. === Festigkeitslehre === Wie aus dem Titel der Discorsi hervorgeht, veröffentlichte Galilei seine Ergebnisse über die Festigkeit eines Balkens mit dem vollen Bewusstsein, damit eine neue Wissenschaft zu begründen. Die weitere Entwicklung hat ihm recht gegeben; sein Beitrag kann tatsächlich als Begründung der Festigkeitslehre gelten.Galilei stellte fest, dass die Tragfähigkeit eines Balkens größer ist, wenn man ihn hochkant, nicht flachkant stellt. Er setzte als Erster die äußere Belastung in Relation zu den inneren Spannungen. Eine quantitative Theorie konnte er allerdings noch nicht aufstellen. Den heute Neutralfläche genannten Bereich verschwindender Zug- bzw. Druckspannung ordnete er am unteren Rand des eingespannten Balkens statt in der Mitte des Balkenquerschnittes an. Korrekturen dieses Irrtums konnten sich im 17. und 18. Jahrhundert nicht durchsetzen; erst Anfang des 19. Jahrhunderts sorgte Navier erfolgreich für eine Richtigstellung. === Astronomie === Galileis astronomische Entdeckungen sind im biografischen Teil bereits aufgeführt. Zwar wurden viele seiner rasch publizierten Entdeckungen von anderen Forschern vor ihm gemacht, doch einige davon zogen bahnbrechende Erkenntnisse nach sich: Supernovae finden nicht sublunar statt, sondern weit entfernt: Die Fixsternsphäre ist nicht unveränderlich. Die Oberfläche des Mondes ist rau und die Sonne zeigt Flecken: Körper am Himmel sind nicht perfekt. Jupiter umkreisen vier Monde: Es gibt weder undurchdringliche kristallene Himmelssphären, noch dreht sich der Äther ewig kreisförmig um die Erde. Die Venus kreist um die Sonne, nicht um die Erde (siehe oben). === Weitere Erfindungen === Galileis Thermoskop aus dem Jahr 1592 ist das erste nachweisbare Temperaturmessgerät. Es wurde von Santorius mit Skalenstrichen versehen und schließlich von Fahrenheit 1714 entscheidend verbessert. Christiaan Huygens entwickelte später Galileis Idee, eine mechanische Uhr durch ein Pendel zu steuern, zur Praxisreife. == Rezeption == Galileo Galilei wurde auf der italienischen 2000-Lire-Banknote abgebildet, die von der Banca d’Italia zwischen 1973 und 1993 ausgegeben wurde. Siehe auch Kategorie: Galileo Galilei als Namensgeber. Nach Galilei benannt sind: im cgs-System die Einheit für die Erdbeschleunigung Gal ein Mondkrater, ein Marskrater und ein Exoplanet das Galileo-Thermometer das Hemmpendel die Galilei-Zahl, eine Kennzahl mit der Einheit Eins der Strömungsmechanik ein Computerreservierungssystem ein Fachverlag eine Raumsonde ein Satellitennavigationssystem eine Fernsehsendung der Flughafen von Pisa Kliffs auf der Alexander-I.-Insel in der Antarktis mehrere Schulen ein außerschulischer Lernort mit Planetarium und Sternwarte das Planetarium in Buenos Aires die Pflanzengattung Galilea Parl. aus der Familie der Sauergrasgewächse (Cyperaceae) === Siehe auch === Antonio Francesco Gori === Literatur === Bertolt Brecht: Leben des Galilei. (Dänemark, 1938/39) Suhrkamp, Frankfurt am Main 2002, ISBN 3-518-10001-7.Im 8. Bild bringt Galilei das Problem von wissenschaftlicher Forschung und theologischer Deutungshoheit mit einem berühmt gewordenen Aperçu auf den Punkt: „Die Winkelsumme im Dreieck kann nicht nach den Bedürfnissen der Kurie abgeändert werden.“ Zsolt Harsányi: Und sie bewegt sich doch. Aus dem Ungarischen von Joseph P. Toth, Artur Luther. Esche Verlag, Leipzig 1937 (Pabel-Moewig Verlag, 1993, ISBN 3-8118-7557-4). Atle Næss: Als die Welt still stand: Galileo Galilei – verraten, verkannt, verehrt. Springer 2006. Friedrich Karl Schubert: Und sie bewegt sich doch! Roman. Rümpler, Hannover 1870 (Digitalisat von Band 1 und Band 2 bei Google Books) Dava Sobel: Galileos Tochter: Eine Geschichte von der Wissenschaft, den Sternen und der Liebe. Deutsch von Barbara Schaden. Berlin Verlag 2008 (Original englisch: Galileo’s Daughter 1999). === Musik === Haggard: Eppur Si Muove. Konzeptalbum über Galileo Galilei, 2004, Metal. „Eppur Si Muove“ heißt auf deutsch „und sie (die Erde) bewegt sich doch“. Philip Glass: Galileo Galilei. 2001, Oper. === Kunst === Skulptur Galileo (1996) von Mark di Suvero auf dem Piano-See am Atrium Tower am Potsdamer Platz in Berlin-Tiergarten. Lichtinstallation ALTISSIMUM PLANETAM TERGEMINUM OBSERVAVI (2019) von Sebastian Wanke neben dem Hochaltar in der Altstädter Kirche in Erlangen. Über Galileo Galileis Entdeckung der Saturnringe 1610. === Film === 1947 verfilmten in den USA Ruth Berlau und Joseph Losey die Broadway-Aufführung von Brechts Leben des Galilei mit Charles Laughton in der Titelrolle. Es handelt sich um einen Schwarzweiß-Stummfilm von 30 Minuten Dauer. In einer deutschen Fernsehverfilmung nach Brechts Leben des Galilei (1962) unter der Regie von Egon Monk spielte Ernst Schröder den Galilei. Mit 150 Minuten Spiellänge ist das die bisher längste Umsetzung des Stoffes im Fernsehen. In der 76-minütigen amerikanischen Fernsehverfilmung Lamp at Midnight (1966), die nicht auf Brecht beruht, wurde Galilei von Melvyn Douglas gespielt. 1975 führte Joseph Losey Regie in Galileo (USA), einem Spielfilm, der wiederum auf Brechts Stück beruht. Chaim Topol spielte den Gelehrten in dem 145 Minuten lang dauernden Eastmancolor-Film. 1989 verfilmte der Regisseur Ivo Barnabò Micheli unter dem Titel „Eppur si muove!“ Der Prozess Galileo Galilei eigene Recherchen zum Inquisitionsprozess gegen Galilei. Im Film verkörpert Mario Adorf in einer Doppelrolle sowohl die Figur des zeitgenössischen Forschers als auch jene des historischen Galilei. In Interviews kommen u. a. der damalige Kardinal Joseph Ratzinger und der Physiker Carl Friedrich von Weizsäcker zu Wort. == Literatur == === Schriften === Galilei veröffentlichte seine wissenschaftlichen Erkenntnisse in den folgenden Hauptwerken: Sidereus Nuncius. Venedig 1610. (Deutsch: Nachrichten von neuen Sternen) Il Saggiatore. Rom 1623. (Deutsch: Der Prüfer mit der Goldwaage) Dialogo sopra i due massimi sistemi. Florenz 1632. Deutsch: Dialog über die beiden hauptsächlichen Weltsysteme. Leipzig 1891. Discorsi e dimostrazioni matematiche. Leiden 1638. Deutsch: Unterredung und mathematische Demonstration über zwei neue Wissenszweige die Mechanik und die Fallgesetze betreffend. Leipzig 1890.Neuere Ausgaben sind: Edward Stafford Carlos (Hrsg.): The sidereal messenger of Galileo Galilei and a part of the preface to Kepler’s Dioptrics containing the original account of Galileo’s astronomical discoveries. London 1880, archive.org Arthur von Oettingen (Hrsg.): Unterredung und mathematische Demonstration über zwei neue Wissenszweige die Mechanik und die Fallgesetze betreffend. Leipzig: Engelmann 1890, archive.org Antonio Favaro (Hrsg.): Le opere di Galileo Galilei. 20 Bände, Florenz 1890 bis 1909, Reprints mit Zusätzen Florenz 1929 bis 1939, 1964/1965. Emil Strauss (Übers., Hrsg.): Dialog über die beiden hauptsächlichsten Weltsysteme. Teubner 1891, archive.org Stillman Drake (Hrsg.): Discoveries and Opinions of Galileo. Doubleday & Company, New York NY 1957 (Auswahl aus seinen Schriften). Stillman Drake (Übers.): On Mechanics. University of Wisconsin Press, Madison 1960. Stillman Drake (Übers.): Il Saggiatore, The Assayer. In: Stillman Drake, Charles D. O’Malley (Hrsg.): The Controversy of the Comets of 1618. The University of Pennsylvania Press, Philadelphia 1960. I. E. Drabkin (Übers.): On Motion. University of Wisconsin Press, Madison 1960. Franz Brunetti (Hrsg.): Opere di Galileo Galilei. 2 Bände, Turin 1964. Pio Paschini, Edmondo Lamalle: Vita e Opere di Galileo Galilei. 3 Bände, Vatikanstadt 1964. Hans Blumenberg (Hrsg.): Sidereus Nuncius. Nachrichten von neuen Sternen. Suhrkamp Taschenbuch Wissenschaft 1980, 2002. Galileo Galilei, Anna Mudry (Hrsg.): Schriften, Briefe, Dokumente. 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Virtuelle Ausstellung der Bibliothek der ETH Zürich Galileo-Projekt der Rice-Universität Das Leben Galileo Galileis in Bild und Ton beim Bayerischen Rundfunk === Primärtexte === Galileis Schriften als Online-Texte (im italienischen Original) Manuskripte von Galileo Galilei (De motu, MS 72) Archimedes-Projekt (Quellen zur Geschichte der Mechanik) I documenti del processo di Galileo Galilei, Die Akten des Prozesses gegen Galilei, in Italienisch und Latein, mit mehrsprachigem Vorwort und einer italienischsprachigen Einführung, Vatikanisches Apostolisches Archiv, 1984 Sidereus nuncius Magna. === Sichtweise der katholischen Kirche === Ansprache von Johannes Paul II vom 31. Oktober 1992. Bei: vatican.va. Abgerufen am 5. Februar 2010. H.-D. Mutschler: Naturwissenschaft und die Dispensierung der Sinnfrage – Der wahre Konflikt um Galilei. (PDF; 15 Seiten; 68 kB). Nicht mehr verfügbar, Stand 20. Oktober 2020 Ausführlicher Aufsatz zum Konflikt zwischen Galileo Galilei und Kirche. == Einzelnachweise ==
https://de.wikipedia.org/wiki/Galileo_Galilei
Kairo
= Kairo = Kairo (arabisch القاهرة, DMG al-Qāhira ‚die Starke‘ oder ‚die Eroberin‘, wahrscheinlich nach dem Mars, arabisch القاهر, DMG al-Qāhir, benannt) ist die Hauptstadt Ägyptens und die größte Stadt der arabischen Welt. Sie wurde 969 von dem fatimidischen Feldherrn Dschauhar as-Siqillī gegründet. Von Ägyptern wird die Stadt oftmals auch einfach mit dem Landesnamen – arabisch مصر, DMG Miṣr, ägyptisch-arabisch Maṣr – bezeichnet. Kairo ist das politische, wirtschaftliche und kulturelle Zentrum Ägyptens und der Arabischen Welt. Die Stadt ist Sitz der ägyptischen Regierung, des Parlaments, aller staatlichen und religiösen Zentralbehörden (Mogamma) sowie zahlreicher diplomatischer Vertretungen. Kairo ist der bedeutendste Verkehrsknotenpunkt Ägyptens und besitzt zahlreiche Universitäten, Hochschulen, Theater, Museen sowie Baudenkmäler. Die Altstadt von Kairo ist ein Ensemble islamischer Baukunst und wird seit 1979 von der UNESCO als Weltkulturerbe anerkannt. Die Stadt hat den Status eines Gouvernements und wird von einem Gouverneur regiert, der vom Staatspräsidenten ernannt wird. Kairo hat gut 10 Millionen Einwohner im administrativen Stadtgebiet (2022) und die Metropolregion Kairo ist mit etwa 19,3 Millionen Einwohnern (2020) vor Lagos in Nigeria die größte in Afrika. Das administrative Stadtgebiet ist bezüglich der Einwohnerzahl, nach Kinshasa und Lagos, das drittgrößte Afrikas. In Ägypten existiert allerdings keine Meldepflicht, weswegen die angegebenen Einwohnerzahlen Hochrechnungen auf Basis der Volkszählungsergebnisse darstellen. == Geographie == === Lage === Kairo hat eine Stadtfläche von 606 Quadratkilometern und liegt im Nordosten des Landes auf dem rechten Nilufer durchschnittlich 68 Meter über dem Meeresspiegel. Die Stadt umfasst auch die beiden Inseln Gezira (الجزيرة, mit dem Stadtteil Zamalek) und Roda (الروضة). Ihr gegenüber liegt am westlichen Ufer die Regierung-Gīza (el-Gīza), unter anderem mit den historischen Anlagen von Gizeh. Die geographischen Koordinaten von Kairo sind 30° 03' nördlicher Breite und 31° 15' östlicher Länge. Die erste Siedlung wurde ursprünglich zwischen dem Gebirgsausläufer Muqattam im Osten und dem Nil im Westen errichtet. Doch auch wenn diese Kairo schon lange nicht mehr eingrenzen, so bilden die Viertel, die sich zwischen diesen beiden natürlichen Schranken befinden, den alten Stadtkern. Nördlich der Stadt erstreckt sich bis zum Mittelmeer das Nildelta. Im Westen befinden sich die Pyramiden von Gizeh. Im Süden liegt das alte Memphis. === Geologie === Kairo liegt im Tal des Nils, des weltweit längsten, jedoch nicht wasserreichsten Stromes, als dessen Quellfluss der im Hochland von Ruanda entspringende Kagera angesehen wird. Der Nillauf folgt einer tektonischen Linie. Die sich dort befindenden Plateaus brechen hier stufenförmig oder mit einheitlichem Steilhang 100 bis 140 Meter tief ab. Im Tal hat der Fluss eine Reihe von Schotterterrassen gebildet und ein Schwemmland aus schwarzem Schlamm von durchschnittlich zehn Metern Mächtigkeit abgelagert. Die Gesamtbreite des Tales beträgt im Süden, im Bereich des nubischen Sandsteins, zwei bis fünf Kilometer, im Bereich der tertiären Kalke, etwa von Assuan flussabwärts, zehn bis 15 Kilometer. Stellenweise hat die Erosion des Flusses das widerständige Gestein des kristallinen Unterbaues erreicht. Westlich des heutigen Tales sind Reste eines älteren Niltales erhalten, beispielsweise in der vom Fluss gespeisten Senke des Fayyum. Unterhalb von Kairo öffnet sich das Tal und geht in die weiten, von Kanälen durchzogenen Flächen des 23.000 Quadratkilometer großen Deltas über. === Stadtgliederung === ==== Innenstadt ==== Die Innenstadt lässt sich grob in einen traditionellen und einen modernen Teil einteilen. Das traditionelle Kairo liegt abseits des Nils vor der Zitadelle und dem Berg Muqattam (المقطّم). Es umfasst hauptsächlich das islamische Kairo rund um die Azhar- und andere Moscheen. Des Weiteren sind hier die Wohnviertel nördlich, östlich und südlich des Viertels um die al-Azhar-Moschee zu nennen, so etwa Bāb el-Chalq (باب الخلق), Darb el-Ahmar (الدرب الأحمر), el-Mūskī (الموسكي) oder Sayyida Zeinab (السيّدة زينب es-Sayyeda Zēnab). Neben den Ausgrabungen von al-Fustat im Süden liegt das koptische Viertel oder Alt-Kairo (مصر القديمة, hocharabisch Misru l-qadīma, ägyptisch-arabisch Masr el-edīma). Eine Besonderheit ist die Stadt der Toten südöstlich des islamischen Viertels, eine Nekropole, die bewohnt ist und sich heute (fast) wie ein normales Stadtviertel gibt. Das moderne Kairo besteht aus den Geschäftsvierteln, die vom Mīdān et-Tahrīr (ميدان التحرير), dem Mīdān el-Ōperā (ميدان الأوبرا), dem Ramses-Bahnhof (محطة رمسيس Mahattat Ramsīs) und dem Nil eingegrenzt werden. Diese Bereiche sind noch durch kolonialzeitliche Architektur, einen mediterranen Baustil, geprägt. Westlich davon befindet sich das Viertel Zamalek (الزمالك ez-Zamālek) auf der Insel Gezīra, südwestlich liegen Insel Roda und die Garden City (جاردن سيتي), wo viele Botschaften untergebracht sind. ==== Vororte ==== Der wohl bekannteste Vorort ist Heliopolis (مصر الجديدة, hocharabisch Miṣru l-Dschadīda, ägyptisch-arabisch Masr el-Gedīda) im Nordosten der Stadt. Im Süden liegt das in der Kolonialzeit geplante Maadi (المعادي al-Maʿādī), welches durch zahlreiche Villengrundstücke mit umgebendem Garten geprägt ist und somit zu den teureren Wohngebieten zählt. Südlich schließt sich das zum Gouvernement Kairo zählende Helwan (حلوان) an. Ein weiterer Vorort ist Schubra al-Chaima (شبرا الخيمة Schubrā al-Chaima) im Norden. Weiter außerhalb ist zu unterscheiden zwischen ehemaligen Dörfern und Städten, die sich in die Peripherie Kairos integriert haben, und den auf dem Reißbrett geplanten Satellitenstädten, die sich teilweise direkt an Kairo anschließen, teilweise bis zu 50 Kilometer von der Innenstadt entfernt in der Wüste liegen.Für Letztere sind auf der östlichen Nilseite unter anderem Nasr City (مدينة نصر Mādīnat Nasr) und die Stadt des 15. Mai (مدينة ١٥ مايو Mādīnat Chāmāstaschar Māio) zu nennen, auf der westlichen Seite die Stadt des 6. Oktober (مدينة ٦ أكتوبر Madīnat Sitta Oktobar) und Sadat City (مدينة السادات Madīnat es-Sādāt). Die Stadt des 6. Oktober gehört zum neu gegründeten Gouvernement as-Sadis min Uktubar, dem auch die Oase Bahariya angehört. Sadat City gehört zum Gouvernement Al-Dschiza. === New Cairo === Das seit 2004 laufende Stadtplanungsprojekt New Cairo geht über die übliche Projektierung eines Vorortes weit hinaus. Es ist die Antwort auf die empfundene Enge, den Wohnraummangel, den Lärm und teilweise Unwirtlichkeit der alten Stadtviertel Kairos. Rund 17 bis 28 Kilometer östlich der Innenstadt sind auf einer bis vor kurzem hügeligen Wüstenfläche von etwa 120 Quadratkilometern private Investoren eingeladen, die erschlossenen Baufelder zu nutzen. Erreichbar durch ein radiales Schnellstraßensystem werden bodennivellierte Sektoren von mindestens 240 Feddan (entsprechen 100 Hektar) in einem Guss in Angriff genommen, ihre Vernetzung ist im Masterplan-Raster gewährleistet. Diese moderne Entlastungsstadt soll bei ihrer Fertigstellung nach 2020 einmal 2 bis 2,4 Millionen Menschen aufnehmen. Es ist eine neuzeitlichen Anforderungen entsprechende soziale und freizeitorientierte Infrastruktur geplant, mit gebietsweiser Versorgung durch Einkaufszentren, mit öffentlichen Grünflächen sowie vereinsbetriebenen Sportzentren, gekennzeichnet durch eine überdurchschnittliche Qualität der Appartements, Eigenheime und Villen. Die ersten Abschnitte sind Anfang 2011 fertig: eine Campushochschule, mehrere Siedlungen bzw. Teilsiedlungen und teilweise private Schulen verschiedener europäischer Länder. Auffallend ist das rasante Tempo der Entwicklung, die Teilabschnitte wachsen in für europäische Verhältnisse unvorstellbar kurzen Zeiträumen. New Cairo dürfte vom Miet- bzw. Kaufpreisniveau her überwiegend eine Urbanisation für den neuen Mittelstand und für ausländische Fachkräfte werden. === Klima === Kairo befindet sich in der subtropischen Klimazone. In der Region herrscht ein warmes und trockenes Wüstenklima. Die Jahresdurchschnittstemperatur beträgt 21,7 Grad Celsius, die jährliche Niederschlagsmenge 24,7 Millimeter im Mittel. Der wärmste Monat ist der Juli mit durchschnittlich 28 Grad Celsius, der kälteste der Januar mit 13,9 Grad Celsius im Mittel. Etwas Niederschlag fällt nur zwischen November und März mit durchschnittlich 3,8 bis 5,9 Millimeter. Im Sommer, von Mai bis September, wird es sehr heiß, wobei es zu Sandstürmen aus dem Süden des Landes kommen kann. Die Temperaturen erreichen Tageshöchstwerte bis zu 35 Grad Celsius bei einer täglichen Sonnenscheindauer von bis zu 13 Stunden im Mittel. Nachts fallen die Temperaturen nicht unter 20 Grad Celsius. In der Zeit von Oktober bis April betragen die Tageshöchstwerte 20 bis 28 Grad Celsius im Mittel bei einer täglichen Sonnenscheindauer von neun bis elf Stunden. Im Winter, von Dezember bis Februar, fallen die durchschnittlichen Tageshöchsttemperaturen teilweise unter 20 Grad Celsius und die nächtlichen Tiefstwerte unter zehn Grad Celsius im Mittel. Im Dezember 2013 war Kairo zum ersten Mal seit über hundert Jahren von Schneefall betroffen. == Geschichte == === Vorgeschichte === Kairos Ursprünge liegen in mehreren Siedlungen. Im heutigen Stadtgebiet lag der Ort Cheri-aha, wo nach der ägyptischen Mythologie die Götter Horus und Seth einander bekämpften. Die altägyptische Siedlung am Ostufer des Nils – man nannte den Ort „Babylon in Ägypten“ – wurde im 1. Jahrhundert n. Chr. unter den Römern zur Zeit Trajans gegründet und später zur Festung ausgebaut. Der Name Babylon entstand aus einer Fehllesung der altägyptischen Ortsbezeichnung „Haus des Nils von Heliopolis“. In Babylon wurden Atum und die Neunheit verehrt. Ende des 4. Jahrhunderts begannen dort die ersten Kopten, Kirchen und Schutzmauern zu errichten und sich anzusiedeln. Am 9. April 641 eroberten die Araber die oströmische Festung. Sie fanden bei ihrer Ankunft eine riesige Burganlage mit 42 Kirchen, großen Türmen und Bastionen vor. In unmittelbarer Nähe davon gründete ʿAmr ibn al-ʿĀs im Jahre 643 das Lager Fustāt, das sich allmählich zu einer Stadt entwickelte. Beide Siedlungen wuchsen im Laufe der Zeit zusammen. Während von der frühislamischen Stadt Fustāt außer Mauerresten und der ʿAmr-ibn-al-ʿĀs-Moschee kaum etwas übrig geblieben ist, ist das koptische Viertel bis heute erhalten. Bis Ende des 9. Jahrhunderts war der Ort ein Karawanenlager und -stützpunkt und hatte keine große Bedeutung für die islamischen Herrscher in Damaskus (bis 750) und Bagdad (ab 750). Einen ersten kleinen Aufschwung erlebte die Stadt unter den Tuluniden, denen Fustāt als Hauptstadt diente und die in direkter Nachbarschaft die Siedlung al-Qatāʾiʿ gründeten. Zwei Bauwerke sind aus dieser Zeit noch erhalten: Die Ibn-Tulun-Moschee und der Nilometer. Nachdem diese Stadt durch Brände teilweise zerstört worden war, errichteten die Abbasiden eine weitere Siedlung am Nil. === Gründung Kairos durch die Fatimiden === Nachdem die Fatimiden unter Dschauhar as-Siqillī im Jahre 969 Ägypten den Ichschididen entrissen hatten, errichteten sie vier Kilometer nordöstlich von Fustāt ein neues, rechteckiges Militärlager. Wie al-Maqrīzī berichtet, wurde mit den Bauarbeiten am 6. Juli 969 begonnen. Nördlich dieses Lagers, das wie die nordafrikanische Residenz des fatimidischen Imam-Kalifen al-Mansūrīya genannt wurde, legte Dschauhar einen Musallā an. Innerhalb des Lagers erbaute er eine Freitagsmoschee, in der im Juni 971 zum ersten Mal das Freitagsgebet verrichtet wurde. Nachdem Dschauhar die bedeutendsten Angriffe der Qarmaten auf Ägypten abgewehrt hatte, traf im Sommer 972 der fatimidische Imam-Kalif Abu Tamim al-Muizz Vorbereitungen, um seine Hauptstadt an den Nil zu verlegen. Dschauhar legte im Frühjahr 973 in der neuen Lagerstadt einen prachtvollen Palast an, den der Imam-Kalif im Sommer des gleichen Jahres bezog. Bei dieser Gelegenheit wurde die neue Palaststadt in al-Qāhira al-Muʿizzīya („die Siegreiche des Muʿizz“) umbenannt. In der Kurzform al-Qāhira ist dies bis heute der Name der Stadt geblieben. Die von Dschauhar errichtete Moschee, die seit 1010 als Azhar-Moschee bezeichnet wird, bildet bis in die Gegenwart die Hauptmoschee von Kairo und ist Sitz der bekannten al-Azhar-Universität. Die neue Stadt war nun politisches Zentrum eines Reiches, das sich von Marokko bis in den Nahen Osten erstreckte. Auch Fustāt profitierte von der politischen Bedeutung der neuen Nachbarstadt und entwickelte sich zu einem internationalen Handelszentrum. Der arabische Geograph al-Muqaddasī (946–1000) beschreibt die Stadt im Bericht über die Dinge, die ich mit eigenen Augen gesehen habe im Jahre 988 mit den Worten: Die große Bedeutung Fustāts als internationalem Handelszentrum geht auch aus den Texten hervor, die in der Geniza der in Fustāt gelegenen Ben-Esra-Synagoge gefunden wurden. Im Laufe der Zeit wurde allerdings Fustat in seiner wirtschaftlichen Bedeutung von Kairo überrundet.Aus der Fatimidenzeit haben sich nur wenige Bauten in Kairo erhalten, darunter die al-Hākim-Moschee und die al-Aqmar-Moschee. Als Saladin (1137–1193) im Jahr 1171 Ägypten wieder dem abbasidischen Kalifat von Bagdad unterstellte, wurde Kairo zu einem wichtigen Zentrum des sunnitischen Islams. Für Saladin, der mit der ayyubidischen Eroberung Kairos die Führung der arabischen Welt übernommen hatte, war oberste Priorität, die schiitischen Einflüsse der Fatimiden zu beseitigen. Er ließ neue Moscheen und Schulen errichten und schuf die Grundmauern der späteren Zitadelle. Den Ayyubiden folgten 1250 die Mamluken, die Kairo wieder zur Hauptstadt machten. Sie ließen viele Paläste, Moscheen und Karawansereien errichten, um ihre Macht zu demonstrieren. Kairo wurde zum bedeutendsten Wirtschafts- und Kulturzentrum der islamischen Welt. Im Jahr 1304 wurden der Grabkomplex von Salar und Sandschar al-Dschauli und 1345 die Grabmoschee Aslam as-Silahdars des Emirs Aslam al-Baha'i as-Silahdar errichtet. === Osmanische und britische Herrschaft === Nach der Schlacht von Raydaniyya wurde Kairo am 13. April 1517 von Streitkräften der Osmanen erobert, deren Regierungszeit in Ägypten bis ins späte 18. Jahrhundert andauerte. Ägypten wird zu einer osmanischen Provinz und Kairo verliert politisch stark an Bedeutung. Am 24. Juli 1798 übernahmen französische Truppen unter Napoleon Bonaparte (1769–1821) während dessen ägyptischer Expedition die Kontrolle über Kairo. Am 18. Juni 1801 kam die Stadt wieder unter osmanische Herrschaft. Ein wirklicher Bedeutungswandel vollzog sich für Kairo im 19. Jahrhundert mit der Entstehung des Khediven-Reiches. Ismail Pascha, der zwischen 1863 und 1879 regierte, ließ in der Stadt zahlreiche Gebäude errichten und nahm die Eröffnung des Sueskanals im Jahre 1869 zum Anlass, Kairo den europäischen Mächten als blühende Metropole zu präsentieren. Der überwiegende Teil der Entwicklung wurde jedoch über Auslandsanleihen finanziert, wodurch besonders Großbritanniens Einfluss zunahm. 1876 hatte die staatliche Auslandsverschuldung bereits 91 Millionen britische Pfund erreicht. Während der Herrschaft Ismail Paschas dehnte sich Kairo, das nun wieder Hauptstadt wurde, über den Nil Richtung Westen aus. Europäische Architekten wurden beauftragt, die Stadt zu erneuern, die Wohnviertel Zamalek und Muhandisin entstanden, aber auch große Teile der heutigen Innenstadt stammen aus dieser Zeit. Mit der nun forcierten Industrialisierung Ägyptens wuchs die Hauptstadt des Landes immer mehr. Bis Ende des 19. Jahrhunderts hatten die Auslandsverschuldung Ägyptens und die Schwäche des Osmanischen Reiches einen wachsenden europäischen Einfluss in Kairo zur Folge. Mit der Besetzung Ägyptens durch britische Truppen und der Zerschlagung der Urabi-Bewegung (1881–1882) übernahm Großbritannien die Macht, ohne die formelle Zuordnung zum Osmanischen Reich zu beenden. Der Khediv von Ägypten blieb formell weiterhin Vasall der Osmanen. Die Urabi-Bewegung entstand im Herbst 1881, als nach dem finanziellen Ruin Ägyptens unter Ismail Pascha das Land unter internationale Finanzkontrolle geriet. Gegen diese internationale Kontrolle von Finanz- und Wirtschaftspolitik und die autokratische Herrschaft der Dynastie des Muhammad Ali wandte sich die Bewegung. Anfang des 20. Jahrhunderts wurde Kairo zur Kulturhauptstadt. Selbst die feine englische Gesellschaft zog es dorthin. Bis zum Beginn des Ersten Weltkrieges herrschte ein reges künstlerisches Schaffen. Am 18. Dezember 1914 erklärte Großbritannien Ägypten offiziell zum britischen Protektorat, womit die letzten formalen Beziehungen zum Osmanischen Reich aufgehoben wurden. Außerdem setzten die Briten die Kriegswirtschaft durch, was zu einer weitreichenden Verarmung der Bevölkerung führte, da durch die Kaufkraft der britischen Truppen die Lebensmittelpreise stark anstiegen, andererseits aber die Baumwollpreise auf britische Intervention stark gesenkt wurden. Als die Briten 1919 die Reise einer Delegation ägyptischer Nationalisten unter Saad Zaghlul (Wafd-Partei) zur Pariser Friedenskonferenz verhinderten, kam es zu schweren Unruhen, Streiks und zum Boykott britischer Produkte. Unter diesem Druck setzte der britische Hochkommissar Allenby durch, Ägypten am 28. Februar 1922 die Unabhängigkeit zu gewähren, um weiterhin die britischen Interessen wahren zu können. Kairo blieb weiterhin Hauptstadt des Landes. === Nach der Unabhängigkeit === Zwischen den Weltkriegen wuchs die Einwohnerzahl Kairos rasch an und hatte bis zum Beginn des Zweiten Weltkrieges die Zweimillionengrenze erreicht. Das Wachstum der Bevölkerung hielt auch in der Folgezeit an. Der einsetzende Bauboom veränderte das Stadtbild durch hoch aufragende Wohn-, Gewerbe- und Regierungsgebäude. Am 22. März 1945 wurde in Kairo die Arabische Liga gegründet. Nach dem „Schwarzen Samstag“ am 26. Januar, einem Großbrand in Kairo während des Aufruhrs von 1952, schnellte die Einwohnerzahl Kairos in die Höhe, immer mehr Landflüchtige siedelten sich dort an. Zahlreiche Trabantenstädte entstanden; es begann eine Siedlungsnot und die Stadt wurde zu einer unüberschaubaren Metropole. Heute umfasst das Stadtgebiet Orte, die einst mehrere Kilometer von Kairo entfernt lagen. Die Stadtverwaltung hat begonnen, durch günstige Mieten und Schaffung von Arbeitsplätzen Anreize zu schaffen, die die Kairoer Bevölkerung zur Umsiedlung in die Trabantenstädte bewegen sollen. Doch auf jeden Bürger, der die Stadt verlässt, kommen zwei, die durch Landflucht in die Stadt getrieben werden. Im Jahre 1994 wurde die Weltbevölkerungskonferenz der Vereinten Nationen in Kairo abgehalten. Thema dieser Konferenz waren Probleme, mit denen auch Kairo konfrontiert ist. Hierzu zählen neben der Überbevölkerung vor allem Armut und die teilweise katastrophale hygienische und ökologische Situation. Von 1992 an verübten islamische Fundamentalisten in Kairo wiederholt Anschläge auf inländische und ausländische Besucher, bei denen Menschen getötet wurden. Einer der folgenschwersten Anschläge in Kairo ereignete sich am 18. September 1997, als neun Deutsche und ein Ägypter bei einem Attentat auf einen Touristenbus vor einem Museum starben. Ziel dieser extremistischen Gruppen ist es, Touristen von Reisen nach Ägypten abzuhalten, um die innenpolitische Stabilität des von Devisen abhängigen Landes zu brechen. Im Jahr 2011 kam es in Kairo zu Protesten weiter Teile der Bevölkerung. Die Revolution in Ägypten 2011 richtete sich vor allem gegen das autoritäre Regime mit einem ausgeprägten Sicherheitsapparat, fehlende Mitsprachemöglichkeiten der Bürger, sowie Korruption in Staat, Wirtschaft und Verwaltung. Im gleichen Jahr kam es zum Angriff auf die Kirchen von Imbaba sowie zum Maspero-Massaker, bei dem zahlreiche Angehörige der koptischen Minderheit getötet wurden. === Einwohnerentwicklung === Die Einwohnerzahl Kairos stieg während der vergangenen Jahrzehnte rapide. Sie hat sich seit Mitte der 1960er Jahre bis heute verdoppelt. Ein Grund hierfür ist neben der hohen Geburtenrate auch die zunehmende Landflucht. Um das ständige Bevölkerungswachstum auffangen zu können, haben sich um Kairo herum im Laufe der Jahre mehrere Satellitenstädte gebildet. Durch die eng gezogenen Stadtgrenzen ist die Bevölkerungszunahme in der Stadt inzwischen deutlich abgeschwächt, diese findet vor allem in den zahlreichen Vororten statt, die inzwischen mit zusammen circa 8,2 Millionen Einwohnern ähnlich bevölkerungsreich sind wie die Stadt selbst mit 9,1 Millionen Einwohnern (2017). Davon entfallen allein auf Gizeh schon annähernd 2,5 Millionen Einwohner. In der Metropolregion Kairo leben im Jahr 2008 insgesamt 16,1 Millionen Menschen. Für 2050 wird mit einer Bevölkerung von mehr als 24 Millionen Menschen im Ballungsraum gerechnet und für 2100 mit mehr als 40 Millionen.Die folgende Übersicht zeigt die Einwohnerzahlen nach dem jeweiligen Gebietsstand. Bis 1877 handelt es sich um Schätzungen, von 1882 bis 2006 um Volkszählungsergebnisse und 2008 um eine Berechnung. Die Einwohnerzahlen beziehen sich auf das Gouvernement (arabisch Muhafaza) Kairo und schließen die anderen Gouvernements der Agglomeration, Gizeh und Qaliubia, nicht ein. === Entwicklung der Wohnsituation === Etwa die Hälfte der Bevölkerung der Metropolregion Kairo lebt in sogenannten informellen Siedlungen, von Landflüchtlingen am Stadtrand illegal errichteten Behausungen mit unzureichender Infrastruktur und hoher Bevölkerungsdichte. Als vermuteter Aufenthaltsort islamischer Fundamentalisten stehen sie im Mittelpunkt ägyptischer Sicherheitspolitik. Während zahlreiche Menschen vergeblich nach preiswerten Wohnungen suchen, stehen mehrere hunderttausend Wohnungen in der Region leer. Ein Grund dafür ist, dass die Mietpreise für Altbauten auf dem Stand der 1950er Jahre eingefroren sind. Die Häuser sind deshalb einem raschen Verfall ausgesetzt, da die Mieten nicht ausreichen, um die anfallenden Reparaturen zu finanzieren. Für Neubauten werden die Mietpreise vom Staat auf einem so niedrigen Niveau festgesetzt, dass entweder vor dem Abschluss des Mietvertrages eine illegale Zahlung vom Mieter verlangt wird, die ungefähr die Höhe der Baukosten für die Wohnung erreicht, oder diese wird gleich zum Verkauf angeboten. Der gesetzliche Kündigungsschutz verhindert deren spätere Nutzung durch den Eigentümer. Legal, aber statistisch nicht erfasst, hat sich eine fast dörflich anmutende Wohnszene auf den Flachdächern vieler Bauten gebildet. Die Bewohner haben keinen schriftlichen Vertrag, werden aber geduldet. Dafür leisten sie Hilfsdienste für die Miete zahlenden Bewohner, z. B. als Hauswart. In selbst errichteten Hütten leben Verwandte und Freunde. Auch Haustiere werden gehalten.Auch die Immobilienspekulation bei Eigentumswohnungen trägt dazu bei, dass zahlreiche Wohnungen in der Region leer stehen. Nach dem Abbau der staatlichen Subventionen für Nahrungsmittel, Energie und öffentliche Transportmittel können sich die ärmeren Bevölkerungsschichten eine Mietwohnung oder den Kauf einer Eigentumswohnung nicht leisten. Das Armenviertel Imbaba gehört zu den größten Slums der Welt. In einer Rangliste der Städte nach ihrer Lebensqualität belegte Kairo im Jahre 2018 den 178. Platz unter 231 untersuchten Städten weltweit. === Erdbeben 1992 === Am 12. Oktober 1992 wurde Kairo um 15:09 Uhr Ortszeit von einem Erdbeben der Stärke 5,8 auf der Richterskala erschüttert. Rund 550 Menschen kamen durch das Beben ums Leben. Tausende Gebäude, vor allem in den Armenvierteln der Altstadt, wurden zerstört, und rund 50.000 Menschen verloren ihre Unterkünfte; auch wertvolle historische Gebäude wie die al-Azhar-Moschee erlitten schwere Schäden. Das Epizentrum des Erdbebens lag rund 26 Kilometer südwestlich von Kairo, in der Umgebung der Pyramiden von Dahschur. Es war das stärkste Erdbeben in Kairo seit 1847. === Neuere Entwicklung === Als größte Stadt der arabischen Welt und Hauptstadt des bevölkerungsreichsten arabischen Landes war Kairo auch ein Zentrum des „Arabischen Frühlings“ ab 2010. Die Revolution in Ägypten 2011, die sich wesentlich in Kairo abspielte, führte 2011 zum Sturz des autoritären Regimes des Präsidenten Hosni Mubarak. Der Tahrir-Platz in Kairo stand im Zentrum der internationalen Berichterstattung, zum einen, weil sich hier gewalttätige Zusammenstöße zwischen Polizeikräften und Demonstranten abspielten, und zum anderen, weil sich hier während der Revolution verstörende Fälle von öffentlicher sexueller Gewalt gegen Frauen ereigneten (und bis heute ereignen). Nachdem islamische und islamistische Gruppierungen wie die Muslimbrüder bei den Parlaments- und Präsidentschaftswahlen 2011 und 2012 erfolgreich waren, fanden erneut zahlreiche Demonstrationen der politischen Gegner statt. 2013 kam es zum Militärputsch und der Absetzung des gewählten Präsidenten aus der Muslimbrüderschaft, Mohammed Mursi. Die Präsidentschaftswahl 2014 gewann der Kandidat der Militärs Abd al-Fattah as-Sisi, wobei die Muslimbrüder von der Wahlteilnahme ausgeschlossen waren. In den Jahren 2010 bis 2014 war die Sicherheitslage in Kairo angespannt und die Stadt wurde durch meist islamistisch motivierte Bombenanschläge erschüttert. Vor dem Jahrestag der ägyptischen Revolution im Januar 2014 starben sechs Menschen bei vier Anschlägen. Am 11. Juli 2015 starb ein Mensch bei einem Bombenanschlag auf das italienische Konsulat. Am 20. August 2015 verursachte ein Autobombenanschlag mindestens 29 Verletzte. Am 4. Dezember 2015 starben mindestens 16 Menschen beim Angriff auf einen Nachtclub. Am 11. Dezember 2016 starben bei einem Bombenattentat auf die koptische Markuskathedrale mindestens 25 Menschen. == Politik == === Stadtregierung === An der Spitze des Gouvernements in Kairo steht der vom Präsidenten des Landes persönlich ernannte Gouverneur, seit dem Jahre 2004 Abdel Azim Mussa Wazir. Er besitzt den Rang eines Ministers und ist formal der Repräsentant des ägyptischen Präsidenten im Gouvernement. Die Politik auf kommunaler und lokaler Ebene wird in Kairo im Wesentlichen von zwei verschiedenen Verfassungsorganen ausgeübt: dem ernannten Exekutivrat und dem gewählten Volksrat. Der Exekutivrat ist das oberste Verwaltungsorgan im Gouvernement. Mitglieder sind beispielsweise der Gouverneur, sein Stellvertreter, die Vorsitzenden der Lokalräte sowie die Repräsentanten der exekutiven Verwaltung. Der Rat verfügt über eine umfangreiche Machtfülle mit zahlreichen Eingriffs- und Entscheidungsmöglichkeiten. Er stellt das bedeutendste administrative Organ zur Planung und Koordinierung sowie Durchsetzung zentralstaatlicher Politik auf der lokalen Ebene in Kairo dar. Der für vier Jahre von der Bevölkerung gewählte Volksrat hat dagegen die Aufgabe gegenüber der administrativen Verwaltung beziehungsweise dem Exekutivrat die Interessen des Volkes wahrzunehmen beziehungsweise zu vertreten. Der Volksrat stellt damit im System der Lokalverwaltung das einzige politische Organ dar, das durch ein Wahlverfahren zustande kommt und deshalb auch grundsätzlich außerhalb jeden unmittelbaren Zugriffs der ägyptischen Regierung liegt. Laut Verfassung sind keine Bürgerbefragungen oder andere Formen der Bürgerbeteiligung auf lokaler Ebene im Land erlaubt. Die letzten Kommunalwahlen fanden am 8. April 2002 statt. Sie waren zuerst für das Jahr 2001 vorgesehen, wurden aber wegen der im gleichen Jahr stattfindenden Parlamentswahlen um ein Jahr verschoben. Während bei den Wahlen 1997 die sogenannten unabhängigen Kandidaten der Opposition, die oft der Muslimbruderschaft nahestehen, noch 20 Prozent der abgegebenen Stimmen erhielten, boykottierten sie die Wahl im Jahre 2002 wegen unzureichender Kontrolle durch unabhängige Richter. So ist auch der hohe Wahlsieg von 97 Prozent der regierenden Nationaldemokratischen Partei (NDP) von Präsident Muhammad Husni Mubarak zu erklären. Die für 2006 geplanten Kommunalwahlen wurden auf das Jahr 2008 verschoben. Grund ist die Einführung des neuen Gesetzes zur kommunalen Verwaltung. === Städtepartnerschaften === Kairo unterhält mit folgenden Städten Partnerschaften: === Städtefreundschaften === Kairo hat 1979 mit folgender Stadt einen Freundschaftsvertrag abgeschlossen: Deutschland Frankfurt am Main, Deutschland == Kultur und Sehenswürdigkeiten == === Sprachen === In Kairo spricht man wie fast überall im Land Ägyptisch-Arabisch. Das in der Hauptstadt gesprochene Arabisch unterscheidet sich aber zum Teil beträchtlich von den Dialekten Mittel- und Oberägyptens. Ägyptisch-Arabisch ist der bedeutendste neuarabische Dialekt. Dies liegt vor allem daran, dass die ägyptische Filmindustrie mit Sitz in Kairo die größte der arabischen Welt ist. Ägyptische Filme werden im gesamten arabischsprachigen Raum gezeigt, ohne Synchronisation oder Untertitel. Im Gegensatz zu Nachrichten und ähnlichem werden Filme nicht auf Hocharabisch, der Schriftsprache des gesamten arabischen Raums, gedreht, sondern in der jeweiligen Umgangssprache; für die meisten Filme ist dies eben Ägyptisch-Arabisch. Dadurch wird Ägyptisch-Arabisch beziehungsweise der Kairoer Dialekt heute im gesamten arabischen Raum verstanden. Das Hocharabische ist seit der arabischen Eroberung im 7. Jahrhundert Schriftsprache. Nur in der koptischen Kirche wird als Liturgiesprache noch das Koptische verwendet, das in eigener Schrift, die von der griechischen abgeleitet ist, geschrieben wird. Die Sprache des alten Ägyptens, die im Koptischen ihre Fortsetzung fand, wird heute nur noch als Sakralsprache gesprochen. Als Fremdsprache ist Englisch und in der Oberschicht auch Französisch verbreitet. Durch den Tourismus und deutschsprachige Universitäten wird auch die deutsche Sprache immer populärer. === Religionen === In Kairo ist die vorherrschende Glaubensrichtung der Islam, die Scharia ist laut der ägyptischen Verfassung die Hauptquelle der Gesetzgebung. Neben der sunnitischen Mehrheit lebt in der Stadt auch eine christliche Minderheit. Eine amtliche Zählung der Christen wird bewusst nicht durchgeführt, obwohl die Religion im Pass eingetragen sein muss. Nach Schätzungen sind etwa 90 Prozent der Bevölkerung sunnitische Muslime. Der Großteil der verbleibenden zehn Prozent sind orthodoxe Kopten, deren Markuskathedrale im Stadtteil Abbassia heute die zweitgrößte Kirche Afrikas ist. Des Weiteren gibt es auch mehrere Tausend katholische Kopten und griechisch-orthodoxe Christen (siehe auch: Griechisch-orthodoxe Kirche St. Georg). Außerdem lebt eine kleine jüdische Gemeinde in Kairo und es bestehen oder bestanden weitere christliche Gemeinden der Diaspora. Meist leben die Religionsgemeinschaften mehr oder minder friedlich nebeneinander. Auslandschweizer haben den Schweizer Friedhof von Kairo gegründet. Vor allem die Kopten sind aber immer wieder Ziel von Angriffen radikaler Islamisten, häufig mit Wissen der lokalen Behörden. Viele der islamischen Fundamentalisten leben in den informellen Siedlungen (Slums) am Stadtrand von Kairo. Vor dem Gesetz sind alle Ägypter, unabhängig von ihrem Glauben, gleichberechtigt. In der Praxis müssen Muslime, die zum Christentum übertreten, jedoch mit staatlichen Zwangsmaßnahmen rechnen. Neue Kirchen dürfen nur durch einen Präsidialerlass gebaut werden, auch für kleinere Reparaturen ist dieser notwendig. Neben den zahlreichen Moscheen und Kirchen gibt es in Kairo auch viele Synagogen, verwaiste jüdische Schulen, Hospitäler und Gemeindehäuser. Sie erinnern an die Zeit, als Juden in der Stadt wichtige Rollen in Wirtschaft und Kultur innehatten. Juden waren es auch, die den Stadtteil Zamalek und die Vororte Maadi und Heliopolis gründeten. Die Gemeinde war überwiegend französischsprachig. 1937 lag die Einschulungsrate bei ägyptischen Juden mit 75 % deutlich über dem Landesdurchschnitt. 1917 waren die meisten Juden staatenlos oder Bürger europäischer Nationen, 22 % besaßen die ägyptische Staatsbürgerschaft. Bis 1927 war der Anteil auf 33 % gestiegen. In den 1930er und 1940er Jahren erschien die jüdische Zeitung al-Shams in arabischer Sprache. Daneben gab es mehrere Publikationen auf Französisch. Am Ende des Zweiten Weltkrieges lebten in ganz Ägypten schätzungsweise 75.000 Juden, davon allein 55.000 in Kairo, die meisten von ihnen Sepharden. Doch bereits kurz nach Kriegsende kam es zu Pogromen gegen die Minderheit. Mit Beginn der arabisch-israelischen Auseinandersetzungen, die 1948 mit der Gründung des Staates Israel ihren Anfang nahmen, ging ihre Zahl weiter stark zurück. Viele Juden wurden verhaftet und in das Gefängnis von Huckstep nahe Kairo oder in Lager gebracht, jüdische Zeitschriften und Zeitungen verboten sowie jüdisches Vermögen beschlagnahmt. Die meisten zog es dadurch schnell in den neu gegründeten Staat Israel. Die letzte Flüchtlingswelle von Juden nach Israel kam mit der Sueskrise 1956 und dem Sechstagekrieg 1967. Die Zahl der Juden in ganz Ägypten wurde im Jahr 2000 auf rund 100 Personen geschätzt, einige wenige Familien, die meisten davon ältere Menschen. Geblieben vom religiösen und kulturellen Leben ist ein kleines jüdisches Viertel, das Harat al-Yahud, das jedoch von vielen Juden bereits um das Ende des 19. Jahrhunderts verlassen wurde. Nahe dem Viertel Muski mit der Maimonides-Synagoge besteht ein sehr ausgedehnter Friedhof zwischen Maadi und Zentrum, eine Totenstadt aus dem 9. Jahrhundert, die sich über 850.000 Quadratmeter erstreckt. Es ist einer der bedeutendsten Friedhöfe der jüdischen Welt. Außerdem leben schätzungsweise zwischen einigen 100 bis zu 2000 Bahai im Land, darunter viele in Kairo, die sich durch die Regierung diskriminiert sehen, da auf den ägyptischen Pässen die Religionsangabe Bahai nicht verfügbar ist, sondern nur zwischen muslimisch, christlich oder jüdisch gewählt werden kann. === Theater === Kairo beherbergt zahlreiche Theater, Opern- und Konzerthäuser. Das anlässlich der Eröffnung des Sueskanals im Jahre 1869 in Kairo errichtete Khedivial-Opernhaus brannte 1971 ab. 1988 wurde das neue Opernhaus Kairo eröffnet und ist heute das Zuhause der „Cairo Opera Company“. Die Konzerthalle wird auch vom „Cairo Symphony Orchestra“ und der „Cairo Opera Ballet Company“ genutzt. Die Opernhausanlage beherbergt mehrere Galerien, darunter das Museum für Moderne Kunst. Das „Gomhouriya-Theater“ wurde ursprünglich als Kino gebaut und diente als Oper, als das Opernhaus nach dem Brand renoviert wurde. Heute wird das Gebäude als Konzerthalle für verschiedene Musikereignisse benutzt. Dort finden regelmäßig Aufführungen arabischer Musikgruppen und eines folkloristischen ägyptischen Orchesters statt. Das mit der „American University of Cairo“ verbundene „Wallace Theater“ bietet mehrmals im Jahr englischsprachige Stücke an. Es wird auch für Musikaufführungen – vom Jazz bis zu Kammermusik – genutzt. Ein weiteres Theater ist das „Al-Arayes“ (Cairo Puppet Theatre) am Ataba-Platz im Zentrum von Kairo. Die Vorstellungen des Marionettentheaters sind in arabischer Sprache. Aufgeführt werden dort klassische Stücke wie Alibaba oder Sinbad. Das Um-Kulthum-Theater (Al-Balloon Theatre) in Agouza führt Folklore, arabische Stücke und ägyptischen Volkstanz auf. === Museen === Zu den bekanntesten Museen Kairos zählt das Ägyptische Museum am Tahrir-Platz. Das Museum wartet mit einer bedeutenden Sammlung ägyptischer Kunstschätze aus allen Epochen der altägyptischen Geschichte, so der Prädynastik, den Zwischenzeiten und der griechisch-römischen Zeit auf. Bevor der jetzige Standort bezogen wurde, war die Ausstellung altägyptischer Antikenstücke im Museum in der Nähe der Asbakiya Gärten untergebracht (1835–1855). Aufgrund chronischen Platzmangels wurden die Artefakte in das Museum nach Bulaq am Nil gebracht, wo sie bis zur flutbedingten Schädigung des Museums 1878 ausgestellt waren. Danach wurden die Exponate in Gizeh, im Palast des Khediven Ismail Pascha zwischengelagert und nur teilweise ausgestellt. Das heutige Gebäude in Tahrir wurde 1900 von der ägyptischen und britischen Regierung als Aufbewahrungsstätte für Fundstücke erbaut. Der ehemalige Service des Antiques de l'Egypte (heute Supreme Council of Antiquities) wurde damit beauftragt, altägyptische Kunstschätze zu sammeln und die im Giza-Palast, dem Herrschaftssitz von Ismail Pascha, aufbewahrten Stücke dorthin zu bringen. Der Neubau des Museums und der Umzug der Ausstellung war bis zum Jahre 1902 komplett abgeschlossen. Diese Maßnahme sollte vor allem dazu dienen, Grabplünderungen aufzuhalten und so das wertvolle Kulturerbe für Ägypten zu erhalten. Kernstücke des Museums sind die Exponate aus dem Grab (KV62) des Pharao Tutanchamun. Dazu gehören Streitwagen, Schmuck, Betten und weitere Möbelstücke. Die Särge aus vergoldetem Holz und Gold des Pharao und das Kernstück der Sammlung, die goldene Totenmaske des jugendlich anmutenden Königs, sind die wohl bekanntesten Attraktionen. Zu besichtigen sind weiterhin Alltagsgegenstände aus der mehr als 5.000 Jahre zurückliegenden Geschichte, monumentale Statuen, Mumien, Sarkophage und Münzen aus griechisch-römischer Zeit. Das Museum beherbergt heute mit rund 150.000 Ausstellungsstücken die größte Sammlung altägyptischer Artefakte weltweit.Das Museum Arabischer und Islamischer Kunst (eröffnet 1903) umfasst eine umfangreiche Sammlung zur frühen islamischen Kultur. Das 1910 von Marcus Simaika Pascha eröffnete und 1984 renovierte Koptische Museum verfolgt die Geschichte der koptischen Gemeinde in Ägypten zurück und ist auf den Ruinen der Römischen Garnisonsfestung Babylon erbaut. Im 1963 fertiggestellten Mahmoud-Khalil-Museum am Westufer des Nils sind Werke von Vincent van Gogh, Paul Gauguin, Peter Paul Rubens und anderen namhaften europäischen und ägyptischen Malern ausgestellt. Neben dem Hauptbahnhof befindet sich das kleine zweistöckige Ägyptische Eisenbahnmuseum der Egyptian National Railway (ENR). Im oberen Stockwerk sind Modelle von Transportmitteln aus der Zeit vor der Erfindung der Dampfkraft zu sehen, Lokomotiven, Waggons, aber auch Modelle des Wasser- und Lufttransportes. Zu den Ausstellungsstücken gehört auch ein Modell des Khediven-Zuges von 1859 mit Wagen für Offiziere, Minister und die Khediven-Familie. Im Erdgeschoss sind unter anderem Modelle von Brücken, Bahnhöfen und Expresslokomotiven aus der Khediven-Zeit ausgestellt. Dort steht neben anderen Zugmaschinen eine Originallokomotive, die 1862 für Prinzessin Eugenie in England hergestellt wurde. Sie verkehrte einst zwischen Ra's el Tin und dem Montaza-Palast in Alexandria. Einen Einblick in die Kariner Wohnkultur der frühen Neuzeit und das arabisch-ägyptische Kunsthandwerk vermittelt das Gayer-Anderson-Museum neben der Ibn-Tulun-Moschee. Das Museum enthält interessante Exponate aus dem Privatbesitz des britischen Sanitätsoffiziers Robert Grenville Gayer-Anderson, der das Haus mehrere Jahre bewohnte. === Bauwerke (Auswahl) === ==== Gebäude in Kairo ==== Die Stadt Kairo ist überwiegend von Wüstengebiet umgeben, im Norden wird sie vom Delta des Nils begrenzt. Zum Stadtgebiet zählen auch eine Reihe von Inseln, die größte davon ist die zentral gelegene al-Gesira, auf der sich unter anderem das 1869 eröffnete Opernhaus und der 187 Meter hohe Fernsehturm befinden. Der aus Stahlbeton erbaute Turm erinnert in seiner Bauweise an eine Lotusblume. Der Fernsehturm wurde 1961 fertiggestellt und besitzt eine für den Publikumsverkehr geöffnete Aussichtsplattform. Mehrere Brücken verbinden die Insel al-Gesira mit den gegenüberliegenden Flussufern. Das Zentrum Kairos bildet der Tahrirplatz, an dem sich auch das Gebäude der Arabischen Liga, die Oman-Makran-Moschee und ein Busbahnhof befinden. Das Stadtbild wird durch viele historisch bedeutende Bauwerke geprägt. Von den mehreren hundert Moscheen zählen die im 9. Jahrhundert errichtete Ibn-Tulun-Moschee sowie die Azhar- und die Al-Hakims-Moschee (beide aus dem 10. Jahrhundert) zu den bekanntesten. Die Zitadelle im östlichen Teil der Stadt wurde im Jahre 1176 vom Sultan Salah ad-Din auf einer Anhöhe erbaut. Ihre verzierten Gebäude sind ein Teil der Silhouette von Kairo. Die Muhammad-Ali-Moschee ist die bemerkenswertere der beiden Moscheen in der Zitadelle. Sie besitzt mehrstöckige Kuppeln und ein Doppelminarett, das aus zwei der ältesten der berühmten „Tausend Minarette“ der Stadt besteht. Die 1125 fertiggestellte Al-Aqmar-Moschee im Norden der Muizz-Straße ist die erste Moschee Kairos, deren Hauptachse nicht nach Mekka ausgerichtet ist, sondern dem Straßenverlauf folgt. In der Altstadt von Kairo befinden sich sehenswerte Stadttore; sie sind Überreste einer ehemaligen, die Stadt umgebenden Befestigungsanlage. Von den ursprünglich acht Stadttoren sind jedoch nur noch drei erhalten (Bab al-Futuh, Bab an-Nasr und Bab Zuweila). Die Märkte (Suqs), von denen sich zahlreiche auf bestimmte Waren wie Gewürze, Stoffe oder wertvolle Metalle spezialisiert haben, verbinden heutiges Wirtschaftsleben mit traditionellen Formen des Handels und Kunsthandwerkes. Gegenüber dem Ausgang der Metro-Station Mar Girgis befindet sich die „Hängende Kirche“, die Kanisa Mu'allaqa. Als „hängend“ bezeichnet man sie, da sie über dem einstigen Eingang des römischen Forts gebaut wurde und deshalb erhöht steht. Der Jungfrau Maria geweiht, wurde sie im 4. Jahrhundert gebaut und im 7. Jahrhundert zum Bischofssitz ernannt. Im 9. Jahrhundert wurde sie zerstört, dann aber im 11. Jahrhundert wieder aufgebaut und zum koptischen Patriarchalsitz erhoben. Seitdem wurde sie immer wieder renoviert. Die Fassade stammt aus dem 19. Jahrhundert. Die islamische Altstadt von Kairo wurde von der UNESCO im Jahre 1979 in die Liste des Weltkulturerbes aufgenommen. Außerhalb von Alt-Kairo, das von alten Wohnvierteln und engen Gassen geprägt wird, breitet sich das moderne Kairo mit Hochhäusern und breiten Straßenzügen aus. Einen Besuch wert sind auch die Totenstädte, die bewohnten Friedhöfe Kairos. Während in anderen islamischen Ländern oder auch in Europa Tote unter der Erde begraben liegen, hat sich in Ägypten der pharaonische Totenkult gehalten: Statt die Menschen im Boden zu verscharren, baut man ihnen Häuser. Je mächtiger und reicher ein Mensch zu Lebzeiten war, desto größer und prachtvoller ist sein Mausoleum. Viele der Grabbauten haben mehrere Zimmer, um die herum eine Schutzmauer errichtet wird. Der Leichnam ruht im Untergeschoss in einem Sarkophag aus Stein, der oft reich dekoriert und mit Koranversen verziert ist. Um die Wende zum 20. Jahrhundert waren auch französische Architekten in Kairo tätig. Georges Parcq errichtete im Jahre 1928 die Börse (Stock Exchange) an der Cherifein Street, sowie im Jahre 1913 das Wohngebäude Sednaoui an der Midan Khazindar. Weitere Werke waren die Mubarak-Bibliothek und die französische Botschaft. ==== Pyramiden von Gizeh ==== Die Pyramiden von Gizeh nahe Kairo gehören zu den bekanntesten Bauwerken der Menschheit. Nach der Zerstörung aller übrigen sechs Weltwunder der Antike sind sie als letztes erhalten geblieben. Die Pyramiden werden von den Ägyptern El Ahram („die Heiligtümer“) genannt und erheben sich auf einer Hochfläche, einem Ausläufer der westlichen Wüste etwa acht Kilometer südwestlich der Stadt Gizeh (Gîza), einem Kairoer Vorort. Die Pyramiden befinden sich somit rund 15 Kilometer vom Stadtzentrum entfernt, direkt an der Pyramidenstraße (Scharia el-Ahram). Die Theorie zur Funktion der Pyramiden besagt, dass diese vor etwa 4500 Jahren in einem Zeitraum von ungefähr 100 Jahren in der 4. Dynastie als Grabstätten dreier Pharaonen gedacht waren. Sie bilden das Zentrum einer riesigen Nekropole des Alten Reiches. Die mittlere der drei Pyramiden ist die Chephren-Pyramide, während die bekannteste und größte die Cheops-Pyramide ist. Die Chephren-Pyramide wirkt wegen ihres circa 10 Meter höher gelegenen Standortes etwas größer als die tatsächlich größere Cheops-Pyramide. Zusammen mit der dritten, der Mykerinos-Pyramide, wurden sie 1979 als Kulturdenkmal von der UNESCO in die Liste des Welterbes aufgenommen. Die Grabstätten sind das Ergebnis einer theologischen Entwicklung und einer brillanten technologischen Leistung, die den alten Baumeistern noch heute kein Architekt oder Statiker so einfach nachmachen könnte. In den Glaubensvorstellungen von einem ewigen Leben war der Pharao, der als Sohn Sonnengottes galt, der Vermittler zwischen Erde und Kosmos. Die Entwicklung einer zunehmend ausgeklügelten Grabstätte, von der Mastaba über die Stufenpyramide zur „echten“ Pyramide, sollte dem Herrscher nach seinem Tod den Aufstieg zum Firmament ermöglichen. Durch die dortige Vereinigung mit seinem Vater, dem Sonnengott Re, garantierte er seinem Volk Stärke und dem Land Fruchtbarkeit. Deshalb wurde er nach seinem Dahinscheiden auch verehrt. Im Osten einer Pyramide stand der Totentempel, der über einen Aufweg mit dem Taltempel verbunden war. Zum Taltempel, der seinerseits mit dem Nil verbunden war, wurde der tote Pharao wahrscheinlich in einer Barke zur Einbalsamierung gebracht. Eine Pyramide war einzig dem Pharao und seiner Gemahlin als Begräbnisstätte vorbehalten. Die Pyramide stellte die uneingeschränkte Macht der Pharaonen dar und gilt bis heute als Symbol der pharaonischen Kultur schlechthin. ==== Große Sphinx von Gizeh ==== Die Große Sphinx von Gizeh ist die wohl berühmteste und größte Sphinx und ragt schon seit mehr als viereinhalb Jahrtausenden aus dem Sand der ägyptischen Wüste. Sie stellt einen liegenden Löwen mit einem Menschenkopf dar und wurde in der 4. Dynastie circa 2700–2600 v. Chr. errichtet. Die Figur ist circa 73,5 Meter lang, sechs Meter breit und circa 20 Meter hoch. Allein die Vorderpfoten haben eine Länge von etwa 15 Metern. Farbreste am Ohr lassen darauf schließen, dass die Figur ursprünglich bunt bemalt war. Die Figur wurde aus dem Rest eines Kalksteinhügels gehauen, der als Steinbruch für die Cheops-Pyramide diente. Neben der Sphinx wurde ein Tempel errichtet, der mit dem Taltempel der Chephren-Pyramide fast exakt in einer Linie liegt. Thutmosis IV. errichtete zwischen den Pranken der Sphinx eine Stele, die sogenannte „Traumstele“, deren Inschriften aus seinem Leben berichten. Der Ursprung des arabischen Namens Abu l-Haul („Vater des Entsetzens“) ist nicht klar. Wozu die Sphinx diente, ist ebenso unbekannt, möglicherweise sollte sie das Plateau von Gizeh bewachen. Der deutsche Ägyptologe Herbert Ricke meint, dass die Statue zum Sonnenkult gehörte und Harmachis („Horus im Horizont“ – Heru-em-achet) darstellt, einen Aspekt des Sonnengottes Horus. Möglicherweise ist die Statue aber auch ein Bild des Pharaos Chephren, dargestellt als Horus, oder auch ein Abbild des Cheops. Mark Lehner, der von 1979 bis 1983 an dem Sphinx geforscht hat, favorisiert wie andere Chephren als Erbauer. Der deutsche Ägyptologe Rainer Stadelmann bevorzugt dagegen König Cheops. Mit modernsten Methoden wurden in letzter Zeit andere Abbildungen und Statuen dieser beiden Pharaonen mit dem Kopf des Sphinx verglichen, eine eindeutige und zweifelsfreie Zuordnung war jedoch noch immer nicht möglich. Sicher scheint hingegen, dass die Sphinx im Neuen Reich als eine Verkörperung des Sonnengottes Re-Harachte angesehen wurde. Sie war mehrmals im Sand der Wüste begraben und noch im 19. Jahrhundert war nur der Kopf sichtbar. Diesem Umstand ist wohl die gute Erhaltung zu verdanken. Doch seit den 1980er Jahren leidet die über 4500 Jahre alte Sphinx stark unter dem Smog der nahe gelegenen Metropole und einem ständig steigenden Grundwasserspiegel. Jahrelange aufwendige Restaurierungsarbeiten lassen sie im 21. Jahrhundert in neuem Glanz erstrahlen. === Heliakischer Aufgang des Sirius === Der Sirius war mit seinem heliakischen Aufgang ab ca. 2850 v. Chr. im Alten Ägypten der Bringer der Nilflut. In der heutigen Zeit kann dieses Schauspiel am 6./7. August (je nach Sicht) beobachtet werden. === Parks === Zu den vielen Parks in Kairo gehört der gepflegte „Gabalaya-Park“. Er wurde im 19. Jahrhundert angelegt und ist heute eine grüne Oase im Verkehrschaos der Stadt. Sehenswert sind die in labyrinthartigen Grotten gehauenen Aquarien mit Nilfischen. Die Anlage ist auch ein beliebter Picknickplatz für Einheimische und Touristen. Der größte Zoologische Garten Afrikas befindet sich neben der Universität von Kairo in Gizeh und wurde bereits im Jahre 1891 eröffnet. Er beherbergt rund 400 verschiedene Tierarten, darunter bis 2006 König Faruks Schildkröte, die mit 270 Jahren angeblich älteste Schildkröte der Welt. Die Tierhaltung ist in zahlreichen Fällen nicht artgerecht. Der Zoo ist vor allem freitags ein beliebtes Picknick- und Ausflugsgebiet der Einwohner Kairos. Dr. Ragab’s Pharaonic Village ist ein pharaonisches Disneyland, gelegen auf einem 150.000 Quadratmeter großen Gelände mit von Papyruspflanzen gesäumten Wasserwegen. Dort sind die genauen Nachbildungen alter ägyptischer Bauten zu besichtigen. Junge Ägypter zeigen in historischen Trachten, mit Werkzeugen und Ackergerät im Stile ihrer Vorfahren das Leben und Arbeiten von damals. Ein Höhepunkt der Attraktionen ist die Nachbildung des Grabes von Tutenchamun. Der Dream Park an der Oasis Road in 6th of October City, einem Vorort Kairos, ist einer der größten Themenparks im Nahen Osten für die ganze Familie, mit zahlreichen Fahrgeschäften, Attraktionen, Shows und über 20 Restaurants. Der al-Azhar-Park ist eine 30 Hektar große Gartenanlage oberhalb der al-Azhar-Moschee. Er wurde im Jahr 2005 eröffnet und vom Aga Khan Development Network (AKDN) mit 30 Millionen Dollar unterstützt, als Geschenk von Aga Khan IV., dessen Vorfahren im Jahre 969 die Stadt Kairo begründet hatten. Es ist der größte öffentliche Park von Kairo. Zuvor befand sich an dieser Stelle eine Mülldeponie, die sich in 500 Jahren aufgetürmt hatte. Bei der Anlage des Parks wurden Stadtmauern aus der Zeit der Ayyubiden gefunden, die Saladin im 12. Jahrhundert hatte erbauen lassen. Zum Projekt gehörten zudem die Restaurierung der Um Sultan Shaban Moschee aus dem 14. Jahrhundert, des Khayrbek-Komplexes aus dem 13. Jahrhundert sowie der Darb Shoughlan Schule. Im Park befinden sich auch Einrichtungen für soziale und gesundheitliche Dienste. Der Müll wurde auf einer weiter entfernte Deponie umgesetzt. === Regelmäßige Veranstaltungen === In Kairo und Umgebung finden das ganze Jahr über zahlreiche Feste und Veranstaltungen statt. Dazu gehören unter anderem im Januar der „Internationale ägyptische Marathon“ in Gizeh, im Februar die Internationale Buchmesse, im März die Cairo International Fair, Afrikas größte Handelsmesse, und im Juli das Dokumentarfilm-Festival. Weitere bedeutende Veranstaltungen sind im September das Festival des experimentellen Theaters, das Wafa el Nil Festival, ein großes Folklorefestival, sowie der Welttourismustag, eine Veranstaltung mit Musik und Ständen, auf der sich die Regionen Ägyptens vorstellen. Im Oktober finden die Pharaonen-Rallye, eine Motorrad-Rallye, sowie der Arabische Reise-Markt, eine Touristikmesse, in Gizeh statt. Im Dezember werden das Internationale Rowing Festival, ein Ruder-Wettbewerb auf dem Nil, und das Cairo International Film Festival veranstaltet. In Kairo sind vor allem zwei Mulids interessant und zwar das Mulid Sayyidna Hussein im dritten islamischen Monat und das Mulid Sayyida Zainab im zweiten islamischen Monat. Beide Mulids sind sehr große Feste, die zu Ehren des Enkels beziehungsweise der Enkelin des Propheten veranstaltet werden. Das Mulid der Zainab ist eines der größten im Land und wird mehrere Tage lang mit viel Musik, sufischen Tänzen, Gebeten und Prozessionen gefeiert. Ende März findet in Kairo jährlich die Kairo-Konferenz, eine der derzeit bedeutendsten Anti-Kriegs-Konferenzen weltweit, statt. === Kulinarische Spezialitäten === Kairo beherbergt viele Restaurants, die ägyptische wie auch internationale Küche anbieten. Die einheimische Küche wartet mit einer besonders großen Auswahl an Vorspeisen (mezze) auf, die dem Gast auf kleinen Tellern serviert und nach Landessitte mit dem Fladenbrot ('aish balladi) gegessen wird. Unter den mezze finden sich häufig auch tamaya (Gemüsefrikadellen) und ful (Bohnenbrei), für einen Großteil der weniger verdienenden Ägypter tägliches Frühstück und wichtigste Hauptmahlzeit. Eine weitere ägyptische Spezialität ist Kuschari, ein Gericht aus Nudeln, Reis, Linsen und einer pikanten Sauce aus Tomaten und Röstzwiebeln. Das Fleisch von Rind, Huhn und Lamm (Schwein ist den Muslimen verboten) wird überwiegend auf dem offenen Feuer gegrillt oder im Ofenrohr gebrutzelt wie Hackfleischbällchen (kofta) und „kebab“. Empfehlenswert ist auch die Fischküche des Mittelmeeres und des Roten Meeres, in der Barrakudas, Garnelen, Hummer, Krabben und Tintenfische je nach Küstenregion verschieden zubereitet werden. Eine Spezialität der Mittelmeerküste ist der stark gepökelte fesich, ein sehr schmackhafter Fisch. === Handel === Die zahlreichen Einkaufszentren, Geschäfte und Basare in Kairo bieten vielfältige Möglichkeiten zum Einkaufen. Der Wekalat Al-Balah-Markt bietet eine große Auswahl an Vorhängen. Geschnürt zu Tafeln werden diese in vielen kleinen Nischen, in den Gassen und in großen, palastartigen Läden, oft bis zu drei Schichten hoch, gestützt von weißen Säulen, verkauft. Der 1650 erbaute Tentmakers' Basar ist Kairos einzig erhaltener überdeckter Markt. Er liegt südlich von Chan el-Chalili. Dort werden Segelprodukte und geometrische Tapisserien angeboten. Kleidung jeder Art gibt es auf den großen Märkten entlang der Sh. 26th July, nahe der 6. Oktober-Brücke, sowie in den Läden zwischen Midan Urabi und Talaat Harb, der Kairoer Flaniermeile. Rechts und links der Straßen gibt es Tausende von Läden mit Kleidung im vorwiegend westlichen Modestil. Diese wird auch in diversen Läden im World Trade Center angeboten. Ein ständiger Obst- und Gemüsemarkt hat sich nahe dem Midan Urabi etabliert, an der Sh. Talaat Harb, und einen am Midan Falaki, der im gedeckten Marché Bab el Louk, einer Markthalle aus dem Jahre 1912, untergebracht ist. Auf dem Campus der American University of Cairo befindet sich die größte Buchhandlung Ägyptens, vor allem mit englischsprachiger Literatur zu Kairo und Ägypten, vielen Reiseführern, Bildbänden, Fachliteratur rund um den Islam und den Orient sowie einer großen Auswahl an Büchern zu Politik und Geschichte. == Wirtschaft und Infrastruktur == === Wirtschaft === Laut einer Studie aus dem Jahr 2014 erwirtschafte der Großraum Kairo ein Bruttoinlandsprodukt von 102,2 Milliarden US-Dollar (KKP). In der Rangliste der wirtschaftsstärksten Metropolregionen weltweit belegte er damit den 131. Platz. Zusammen mit Johannesburg und Lagos zählt Kairo zu den führenden Wirtschaftszentren in Afrika.Kairo wurde durch die verkehrsgünstige Lage an der Drehscheibe zwischen Südeuropa, Vorderasien, Maghreb und Subsahara-Afrika schon früh ein wichtiges Handelszentrum. Bedeutendste Produktionszweige sind die Metallverarbeitung, die Zementindustrie, die Herstellung von Möbeln, Schuhen, Tabakwaren und Textilien sowie das Druckgewerbe. Die Stadt ist als wichtigstes Geschäftszentrum des Nahen Ostens Sitz zahlreicher Konzerne und Wirtschaftsorganisationen. Der größte Wirtschaftsbereich der Stadt ist der öffentliche Sektor, einschließlich der Regierung, der öffentlichen Einrichtungen und des Militärs. Darüber hinaus ist der Fremdenverkehr von herausragender Bedeutung. Kairo ist das touristische Zentrum des Landes und dessen größte Deviseneinnahmequelle. Etwa ein Drittel aller ägyptischen Industriebetriebe sind im Raum von Kairo angesiedelt. Die Stadt ist das bedeutendste Verlagszentrum im Nahen Osten. === Soziale Probleme === Die sogenannte Informelle Wirtschaft macht in Kairo ungefähr ein Viertel der gesamten wirtschaftlichen Aktivität aus. Der Einzelhandel, das Handwerk, aber auch die Infrastruktur sind sehr stark davon abhängig. In diesem Bereich, in dem es keine soziale Absicherung gibt und die Arbeitsbedingungen katastrophal sind, arbeiten immer mehr Frauen und auch kriminelle Kinderarbeit hat dort ihre größte Verbreitung. Die Liberalisierung in der Wirtschaft, zu der auch der Abbau von Subventionen gehörte, hat die sozialen Lebensumstände verschlechtert. Die Arbeitslosigkeit ist sehr hoch. Zu den von der Regierung angegebenen rund zehn Prozent Arbeitslosen kommen noch zahlreiche nicht registrierte Erwerbslose hinzu. So gehen Schätzungen von einer Rate über 20 Prozent aus. Ein Drittel der Bevölkerung Kairos lebt unterhalb der Armutsgrenze, die Familien können sich ein Minimum an Nahrung und Obdach nicht leisten. Die im Stadtgebiet lebenden Menschen sind relativ gesehen heute ärmer als im Jahre 1958. === Umwelt- und Müllprobleme === Probleme bereiten die unzureichende Infrastruktur und die, bedingt durch die Landflucht, außerordentlich große Wohnungsnot. Die Strom- und Wasserversorgung befinden sich in einem desolaten Zustand und es vergeht kaum ein Tag, an dem nicht baufällige Häuser einstürzen. In der Industrie, die sich in der Metropolregion Kairo konzentriert, bestehen nur ungenügende Entsorgungs- und Reinigungskapazitäten für Abwässer, Abgase und Abfälle. Zu den Infektionserkrankungen wie Cholera, Diarrhöe und Typhus, die durch unzureichende hygienische Bedingungen verbreitet werden, kommen so Atemwegs- und Hauterkrankungen aufgrund der giftigen Emissionen der vielen Industriebetriebe und des Kraftfahrzeugverkehrs. Besondere Probleme ergeben sich aus der oft direkten Nachbarschaft ärmerer Wohngebiete und der Industrie. Die Luftverschmutzung und die Zersiedlung historisch bedeutender Areale zerstören viele Kulturdenkmäler Kairos. Die Stadtverwaltung Kairos versucht dem entgegenzuwirken. So dürfen keine Industriebetriebe mehr in der Stadt angesiedelt werden und der Bau von Hochhäusern und großen Hotels soll gestoppt werden. Es gibt keine von Staats wegen unterhaltenen Müllentsorgungsanlagen. So werden täglich durch Freiwillige und private Unternehmen Müllsäcke eingesammelt und mit kleinen Lastautos weit an den Rand Kairos transportiert. Dort entstehen nach einer groben Sortierung und teilweisen Weiterverarbeitung moderne Pyramiden. === Kfz-Herstellung === Seit dem Jahr 1961 werden in Kairo Autos als Lizenzproduktion verschiedener großer Firmen hergestellt, den Anfang bildete ein 1959 geschlossener Vertrag zwischen der damaligen ägyptischen Regierung und einem deutschen Autoproduzenten (Mercedes), der die Errichtung einer Fabrik für Lastwagen und Omnibusse in Wadi Hof nahe Helwan (Assuan) zur Folge hatte. Diese erhielt den Namen El Nasr Automotive Manufacturing Company (NASCO) und wurde 1961 in Betrieb genommen. Die NASCO nahm bald mit weiteren Firmen Beziehungen auf und produzierte dann auch Traktoren und Personenkraftwagen. Im Nutzfahrzeugsektor ist die MCV Corporate Group ansässig. Aber auch der älteste und größte Fahrzeughersteller des Nahen Ostens, die Ghabbour Group, hat hier ihren Sitz und ist mit 25 Prozent Marktanteil für die Hyundai Motor Company und auch Volvo Trucks sowie die Fuso von wichtigem Stellenwert. Dahinter rangiert die General Motors Egypt seit 1993 mit den KfZ-Marken Chevrolet und Isuzu. Ein weiterer in Kairo ansässiger Automobilhersteller ist das zu Chrysler gehörige Unternehmen Arab American Vehicles. Neben kompletten Autos werden in Ägyptgen auch wichtige Autokomponenten firmenoffen hergestellt, beispielsweise Reifen, Autoglas, Aluminium- und Plastikteile, verschiedene Filter.Nahezu unbekannte Automobilhersteller Kairos sind zum einen die Seoudi Group, welche für Suzuki, Nissan und auch den Fiat-Konzern Fahrzeuge produziert. Ein anderer Hersteller, der hauptsächlich im Nutzfahrzeugsektor tätig ist, ist das Projekt Mod Car. Ein mittlerweile erloschener Hersteller war die Egyptian Light Transport Manufacturing Company, welche von 1958 bis 1973 den NSU Prinz unter dem Markennamen Ramses für den ägyptischen Markt montierte.Anfang des Jahres 2011 hatten die Firmen Nissan, Isuzu (Personennautos) und Suzuki (leichte Nutzfahrzeuge) ihre Autoproduktion in Ägypten wegen der starken Unruhen im Land vorübergehend eingestellt.Insgesamt werden 26 Produktionsstandorte für Auto genannt, 133.000 Autos kamen im Jahr 2011 aus dem eigenen Land, dagegen wurden 97.000 Auto importiert. Im Jahr 2018 wurden 150.016 Fahrzeugeinheiten im Land verkauft.In den Folgejahren gab es stetige Weiterentwicklungen an den Produktionsstandorten, Dienstleister gesellten sich hinzu, die Tourismusindustrie führte zu einem Aufschwung der Busproduktion und zugehörigen Dienstleistern. – Das Zeitalter der Elektromobilität hat auch in Kairo Einzug gehalten: seit 2019 entstehen in Lizenz mit einer chinesischen Firma innerhalb von vier Jahren rund 2000 Omnibusse. Die Ägypter produzieren rund 45 Prozent der benötigten Teile selbst, der Rest kommt aus China. Mit türkischen Autoherstellern bestehen ebenfalls vertragliche Beziehungen. Eine gesonderte Rolle kommt der Ausrüstung der Militärs mit Nutzfahrzeugen aller Art (Busse, Panzer, leichte Feldfahrzeuge) zu, für die ebenfalls Elektroantriebe vorgesehen sind. Mit schottischen Unternehmen (Scottish energy company SSE und Marathon International Ltd.) wurde die Errichtung eines Netzes von Ladestationen vereinbart. Ein stark wachsendes Segment ist die Herstellung von Elektrobussen (Stadtbusse, Reisebusse, Privatbusse, Minibusse usw.) Ein wichtiger Aspekt für den Kraftfahrzeugverkehr ist der Ausbau der Verkehrswege, wofür im Jahr 2020 eine chinesische Firma als Investor gewonnen wurde. == Verkehr == === Fernverkehr === Ein ausgedehntes Straßennetz verbindet die ägyptische Hauptstadt mit allen größeren Städten des Landes. Die wichtigsten Verbindungen von Kairo in nordwestliche Richtung nach Alexandria und an die Mittelmeerküste sind die Autobahn Nr. 1 durch das Nildelta und die Wüstenautobahn Nr. 11. In südliche Richtung am Nil entlang nach Luxor verläuft die Autobahn Nr. 2, in nordöstliche Richtung nach Port Said die Autobahn Nr. 3 und in östliche Richtung nach Sues die Autobahn Nr. 33. Der Flughafen Kairo-International liegt in Heliopolis, 22 Kilometer nordöstlich des Stadtzentrums von Kairo. Die Inlandsflüge werden hauptsächlich durch Egypt Air und kleinen nationalen Linien angeboten, die jedoch alle über EgyptAir gebucht werden können. Man kann nach Alexandria, Assuan, Luxor, Taba, Abu Simbel, Kharga, Sharm el Shaikh und Hurghada fliegen. Mit der neu gegründeten Tochtergesellschaft Egypt Air Express kam eine Flotte von Embraer 170 auf den Inlandsflügen zum Einsatz. Die 12,5 km lange Brücke des 6. Oktober verbindet die Stadt mit dem Flughafen. Das ägyptische Niltal kann von Alexandria im Norden bis Assuan im Süden mit der Eisenbahn befahren werden. Die Bahn ist für afrikanische Verhältnisse komfortabel und schnell. Sie befördert den Reisenden vom Ramses-Bahnhof nach Alexandria, an den Sueskanal und entlang des Nils nach Süden. Ansonsten ist das gesamte Land von Kairo aus mit Fernbussen zu erreichen. In Kairo gibt es zehn Brücken über den Nil. Der zentrale Busbahnhof Turgoman liegt in der Nähe des Ramses-Bahnhofs. Von dort fahren die meisten Busse in alle Richtungen ab. In Heliopolis halten fast alle Busse, die Richtung Norden oder Sinai fahren, noch einmal. Wer dort wohnt kann auch erst dort zusteigen. Rund um den Ramses-Bahnhof gibt es außerdem ein paar weitere kleine Busbahnhöfe. Minibusse nach El-Fayum fahren nördlich des Midan Ulali ab, Minibusse nach Port Said und Ismailiya direkt südlich des Ramses-Bahnhofs an der Straße Richtung Midan Ulali. === Privater Kraftverkehr === Rund zwei Millionen Autos fahren in der sehr dicht besiedelten Stadt. Probleme bereiten die täglichen Staus und die hohe Umweltverschmutzung. === Nahverkehr === ==== Straßenbahn ==== Die Cairo Transport Authority betreibt in Kairo und Heliopolis auf einer Länge von 30 Kilometern zwei miteinander verbundene meterspurige Straßenbahnnetze. Seit der Übernahme der früher selbständigen Heliopolis-Gesellschaft im Jahre 1991 unterstehen alle Strecken der CTA. Am 12. August 1896 wurde in Kairo die erste Straßenbahnstrecke eröffnet, in Heliopolis am 5. September 1908. Isoliert vom Netz in Kairo und Heliopolis betrieb die CTA seit dem 19. Februar 1981 auch einige neu gebaute Straßenbahnstrecken in der südlich von Kairo gelegenen Industriestadt Helwan mit zusätzlich 16 Kilometern Länge. ==== Stadtbusse ==== Die 2.600 Omnibusse der Cairo Transport Authority befördern pro Jahr 1,3 Milliarden Fahrgäste. Die Busse verkehren auf 450 Linien mit einer Länge von 8.460 Kilometern. Der zentrale Busbahnhof für den Nahverkehr befindet sich in Kairo auf dem Midan Abdelmunim Riad zwischen dem Ägyptischen Museum und der Corniche. Das nahe gelegene Gizeh kann mit Minibussen vom nördlich des Midan Ulali gelegenen Busbahnhof erreicht werden. Der erste Oberleitungsbus fuhr 1950 in der Stadt. Nach 31 Jahren Betrieb wurde dieser am 22. Oktober 1981 eingestellt. ==== Metro ==== Der erste Streckenabschnitt der Metro wurde am 26. September 1987 eingeweiht. Heute fährt sie auf drei Linien mit einer Länge von rund 65 Kilometern: Linie 1 führt in Nord-Süd-Richtung von New El Marg (المرج الجديدة el-Marg el-dschadīda) nach Helwān (حلوان). Sie besteht aus zwei Vorortlinien, die bis 1989 durch einen Innenstadttunnel miteinander verbunden wurden. Linie 2 ist im Gegensatz dazu eine Voll-U-Bahn: sie wurde in den 1990er Jahren gebaut und verläuft in der Innenstadt unterirdisch, in den Außenbezirken oberirdisch. Ein Tunnelabschnitt verläuft unter dem Nil. Die Linienführung ist ebenfalls Nord-Süd – von Shubra (شبرا الخيمة Shobrā el-Chēma) nach Giza Suburban (ضواحي الجيزة Dawāhī el-Gīzā) – jedoch verläuft sie in der Innenstadt in Ost-West-Richtung. Sie kreuzt zweimal die Linie 1 (Stationen أنور السادات Anwar as-Sadat und الشهداء Al-Shohadaa ‚Märtyrer‘). Linie 3 verläuft in Ost-West-Richtung und soll die Stadtteile Mohandessin und Imbaba mit dem Flughafen anbinden. Auch hier ist eine Untertunnelung des Nils geplant. Der erste Bauabschnitt zwischen Attaba (Umstieg zur Linie 2) und Abbasiya wurde am 21. Februar 2012 eröffnet. == Bildung == Die Metropolregion Kairo beherbergt zahlreiche Universitäten, Hoch- und Fachschulen, Akademien, Forschungsinstitute sowie Bibliotheken. Die al-Azhar-Universität ist die berühmteste islamische Bildungseinrichtung der Stadt sowie eine der ältesten und angesehensten Bildungsinstitutionen der muslimischen Welt. Gleichzeitig besitzt sie eine hohe Autorität in islamischen Rechtsfragen (Scharia) für die sunnitische Glaubensrichtung, der 85 Prozent aller Muslime angehören. Oberhaupt der Universität war bis 2010 Scheich Muhammad Sayyid Tantawi. Die Bedeutung der Universität lässt sich auch an der Zahl der Studierenden ablesen, die völlig außerhalb dessen steht, was an US-amerikanischen oder europäischen Universitäten üblich ist: Im Jahr 2004 waren an der Azhar etwa 375.000 Studenten eingeschrieben, davon mit 150.000 fast die Hälfte Frauen. Rund 16.000 Dozenten lehren an der al-Azhar. Weitere Universitäten in der Region sind die Universität Kairo (1908 gegründet), die American University in Cairo (1919), die Ain-Schams-Universität (1950), die Helwan-Universität (1975) und die German University in Cairo (2003) (alle in Kairo), die Misr University for Science & Technology (in 6th of October City), die Modern Sciences & Arts University (in Gizeh), The Arab Open University – Cairo Branch (in Nasr City) sowie The British University in Egypt (in El Shorouk City). Weitere bedeutende Bildungseinrichtungen sind die Arab Academy for Science & Technology & Maritime Transport, das Cairo American College, das Canadian International College, die Khedeve Ismail Secondary School, die Modern Academy, die Police Academy und die Sadat Academy for Management & Computer Sciences (alle in Kairo), die El Shorouk Academy (in El Shorouk City), das High Cinema Institute – Haram (in Gizeh), das Higher Technological Institute (in 10th of Ramadan City), die Modern Academy for Engineering & Technology (in Maadi) sowie das St Clare's College und das St George's College (beide in Heliopolis). Für die Allgemeinbildung in Kairo sorgen rund 1.000 Schulen. Die Schulbildung in Ägypten ist als Grundrecht in der Verfassung verbürgt. Die seit 1923 bestehende sechsjährige allgemeine Schulpflicht ab sechs Jahren wurde wegen Lehrermangels 1991 auf fünf Jahre verkürzt. Zum Hochschulzugang berechtigt die anschließende sechs Jahre dauernde Sekundarstufe. Das ägyptische Pendant zum deutschen Abitur ist die ṯanāwīya ʿāmma. Grund- und Sekundarstufe sind generell kostenfrei. Die Anstrengungen im Bildungswesen führten in der Statistik zu einer Einschulungsrate von beinahe 100 Prozent für die Grundschule. Immerhin noch 75 Prozent der Kinder im entsprechenden Alter werden für die Sekundarschule angemeldet. Doch diese Zahlen verschleiern ein wenig die Realität an den Kairoer Schulen, denn es gibt zahlreiche Schulabbrecher (bis zu 30 Prozent). Oft haben Kinder keine Zeit für die Schule, denn, obwohl verboten, arbeiten viele Kinder, um zum Lebensunterhalt der Familien, meist in den ärmeren Stadtvierteln und informellen Siedlungen am Stadtrand lebend, beizutragen. Auch die Qualität der Schulbildung lässt zu wünschen übrig. Klassen mit mehr als 70 Schülern sind keine Seltenheit. Die schlecht bezahlten Lehrer sind unmotiviert, da sie von ihrem Gehalt kaum leben können. Obwohl Ägypten im Jahre 1998 den UNESCO-Preis für die Bekämpfung des Analphabetentums erhielt, liegt die Analphabetenquote in Kairo noch sehr hoch. Vor allen Dingen für Erwachsene ab 15 Jahren liegen die Schätzungen zwischen 40 und 50 Prozent. Dabei liegt die Rate bei den Frauen um über zehn Prozent höher als bei Männern, da die Ausbildung von Mädchen von konservativen Familien teils noch immer als sekundär betrachtet wird. == Söhne und Töchter der Stadt == Kairo ist Geburtsort zahlreicher prominenter Persönlichkeiten. Dazu gehören unter anderem der italienische Musiker und Komponist Miguel Ablóniz, der kanadisch-armenische Regisseur Atom Egoyan, der palästinensische Politiker Jassir Arafat, der Generaldirektor der Internationalen Atomenergie-Organisation Mohammed el-Baradei, der bedeutende arabische Denker Faradsch Fauda und der berühmte Literat und Denker der arabischen Welt Salama Moussa. Weitere Söhne und Töchter der Stadt sind die letzte Königin Ägyptens Nariman Sadiq, der König von Ägypten Fu'ād I., die Schauspielerin und Sängerin Marika Rökk, die ägyptischen Schriftsteller Nagib Mahfuz und Ala al-Aswani sowie der frankophone Schriftsteller Albert Cossery, der Islamwissenschaftler, Semitist, Orientalist und katholische Theologe Samir Khalil Samir, der albanische Schriftsteller und Übersetzer Andon Zako Çajupi und der Berater von Osama bin Laden und ägyptische Terrorist Aiman az-Zawahiri. == Siehe auch == Liste islamischer Kunstzentren == Literatur == (chronologisch sortiert) Uri Avnery, Fotos: Thomas Nebbia: Kairo: Das liebenswerte Chaos. In: Geo-Magazin. Hamburg 1979,1, S. 74–102. Informativer Erlebnisbericht über Kairoer und Israeli mit ihrer Lebenseinstellung. ISSN 0342-8311 Mohammed Heikal: Das Kairo-Dossier. Aus den Geheimpapieren des Gamal Abdel Nasser. Molden, München 1984, ISBN 3-217-00455-8. Oleg V. Volkoff: 1000 Jahre Kairo. Die Geschichte einer verzaubernden Stadt. von Zabern, Mainz 1984, ISBN 3-8053-0535-4. Reinhard Goethert: Kairo – Zur Leistungsfähigkeit inoffizieller Stadtrandentwicklung. Deutscher Gemeindeverlag, Köln 1986, ISBN 3-555-00670-3. Hans-Günter Semsek, Georg Stauth, Unter Mitarb. von Ahmed Zayed: Lebenspraxis, Alltagserfahrung und soziale Konflikte: Kairoer Slums der achtziger Jahre. Steiner, Stuttgart/ Wiesbaden 1987, ISBN 3-515-04863-4. Günter Meyer: Kairo. Entwicklungsprobleme einer Metropole der Dritten Welt. Aulis, Köln 1989, ISBN 3-7614-1208-8. Mohamed Scharabi: Kairo. Stadt und Architektur im Zeitalter des europäischen Kolonialismus. Wasmuth, Tübingen 1989, ISBN 3-8030-0146-3. Carl H. Fisch, Horst Nusser, Fritz Klein: Ballungszentren in der Dritten Welt: Kairo. Winklers, Darmstadt 1990, ISBN 3-88091-176-2. Horst Nusser: Ballungsgebiete von Metropolen in Entwicklungsländern im Vergleich. Kathmandu – Kairo – Khartoum. Winklers, Darmstadt 1992, ISBN 3-88091-582-2. André Raymond: Le Caire. Fayard, Paris 1993, ISBN 2-213-02983-0. Gladys Asmah, Michael Bohnet, Hans Hurni, Marian Leimbach, Nafis Sadik, Ralf E. Ulrich: Kairo + 5, Chancen und Hindernisse einer erfolgreichen Bevölkerungspolitik. Konrad-Adenauer-Stiftung, Sankt Augustin 1999, ISBN 3-933714-34-6. Ihab Morgan: Die Entwicklung des modernen Stadtzentrums von Kairo im 19. und frühen 20. Jahrhundert. Lang, Bern 1999, ISBN 3-906763-41-2. Heinz Halm: Die Kalifen von Kairo. Beck, München 2003, ISBN 3-406-48654-1. Amira S. Helmi: Luftverunreinigung im Großraum Kairo. Eine umweltökonomische Analyse. Cuvillier, Göttingen 2004, ISBN 3-86537-242-2. Jonathan M. Bloom: Ceremonial and Sacred Space in Early Fatimid Cairo. In: Amira K. Bennison, Alison L. Gascoigne (Hrsg.): Cities in the pre-modern Islamic world: The impact of religion, state and society. Routledge, New York u. a. 2007, ISBN 978-0-415-42439-4, S. 96–114. Wolfgang Mayer, Philipp Speiser: Der Vergangenheit eine Zukunft, Denkmalpflege in der islamischen Altstadt von Kairo 1973–2004, Deutsches Archäologisches Institut Kairo. Philipp von Zabern, Mainz 2007, ISBN 978-3-8053-3792-2. Gerhard Haase-Hindenberg Das Mädchen aus der Totenstadt. Monas Leben auf den Gräbern Kairos. 1. Auflage. Heyne, München 2008, ISBN 978-3-453-12765-4. Gerhard Haase-Hindenberg: Verborgenes Kairo. Malik – on tour, München 2009, ISBN 978-3-89029-751-4. Jörg Armbruster, Suleman Taufiq (Hrsg.): مدينتي القاهرة (MYCAI – My Cairo Mein Kairo), Texte verschiedener Autorinnen/Autoren, Fotos von Barbara Armbruster und Hala Elkoussy, edition esefeld & traub, Stuttgart 2014, ISBN 978-3-9809887-8-0. Vittoria Capresi, Barbara Pampe: Discovering Downtown Cairo. Architecture and Stories. Jovis, Berlin 2014, ISBN 978-3-86859-296-2. == Weblinks == Literatur zu Kairo im Katalog der Deutschen Nationalbibliothek Mouhafazat of Cairo Amt für Neue Wohnsiedlungen (Kairo)@1@2Vorlage:Toter Link/www.urban-comm.gov.eg (Seite nicht mehr abrufbar, festgestellt im August 2022. Suche in Webarchiven.) Goethe-Institut Kairo Deutsche Botschaft Kairo GUC – German University in Cairo Edda Dammmüller: 06.07.0969 - Fatimiden beginnen mit dem Bau von Kairo. WDR ZeitZeichen vom 6. Juli 2014 (Podcast). == Einzelnachweise ==
https://de.wikipedia.org/wiki/Kairo
Pablo Picasso
= Pablo Picasso = Pablo Ruiz Picasso (* 25. Oktober 1881 in Málaga, Spanien; † 8. April 1973 in Mougins, Frankreich, voller Name Pablo Diego José Francisco de Paula Juan Nepomuceno María de los Remedios Cipriano de la Santísima Trinidad Ruiz y Picasso) war ein spanischer Maler, Grafiker und Bildhauer. Sein umfangreiches Gesamtwerk umfasst Gemälde, Zeichnungen, Grafiken, Collagen, Plastiken und Keramiken, deren Gesamtzahl auf 50.000 geschätzt wird. Es ist geprägt durch eine große Vielfalt künstlerischer Ausdrucksformen und Techniken. Die Werke aus seiner Blauen und Rosa Periode und die Begründung des Kubismus zusammen mit Georges Braque bilden den Beginn seiner außerordentlichen Künstlerlaufbahn. Zu den bekanntesten Werken Picassos gehört das Gemälde Les Demoiselles d’Avignon (1907). Es avancierte zum Schlüsselbild der Klassischen Moderne. Mit Ausnahme des monumentalen Gemäldes Guernica (1937), einer künstlerischen Umsetzung der Schrecken des Spanischen Bürgerkriegs, hat kein anderes Kunstwerk des 20. Jahrhunderts die Forschung so herausgefordert wie die Demoiselles. Das Motiv der Taube auf dem Plakat, das er im Jahr 1949 für den Pariser Weltfriedenskongress entwarf, wurde weltweit zum Friedenssymbol. Umfassende Sammlungen von Picasso werden in Museen in Paris, Barcelona und Madrid gezeigt. Er ist mit Werken in vielen bedeutenden Kunstmuseen der Welt, die die Kunst des 20. Jahrhunderts ausstellen, prominent vertreten. Das Museu Picasso in Barcelona und das Musée Picasso in Antibes entstanden bereits zu Lebzeiten. == Leben == === Kindheit und Ausbildung (1881–1900) === ==== Frühe Jahre ==== Pablo Ruiz Picasso wurde als erstes Kind von José Ruiz Blasco (1838–1913) und María Picasso y López (1855–1938) als vermutete Totgeburt geboren. Der traditionellen Namensgebung in Málaga folgend erhielt er bei seiner Geburt im Jahr 1881 eine Vielzahl von Vornamen: Pablo, Diego, José, Francisco de Paula, Juan Nepomuceno, María de los Remedios, Cipriano de la Santísima Trinidad, von denen lediglich Pablo (eine Reverenz an Blascos kurz vor dem ursprünglichen Hochzeitstermin verstorbenen älteren Bruder) gebräuchlich wurde. Der Vater war freischaffender Maler und Lehrer an der „Escuela de San Telmo“, einer Kunstgewerbeschule, die in der Tradition der akademischen Malerei des 19. Jahrhunderts stand, sowie Konservator eines kleinen Museums. 1884 wurde seine Schwester Dolores (Lola) und 1887 seine Schwester Concepción (Conchita) geboren. Picasso beschrieb die künstlerischen Fähigkeiten des Vaters: „Mein Vater malte Bilder für Esszimmer; Rebhühner oder Tauben, Tauben und Kaninchen: Fell und Federn waren darauf zu sehen, Vögel und Blumen seine Spezialität. Vor allem Tauben und Flieder.“ Bereits im Alter von sieben Jahren begann er unter Anleitung seines Vaters zu malen. Er vollendete 1890 das 1889 begonnene Ölbild Picador, das einen Stierkämpfer in der Arena zeigt und das als sein erstes bekanntes Ölgemälde gilt. 1891 zog die Familie nach A Coruña in Galicien um, wo Picassos Vater eine Stelle als Kunstlehrer am „Instituto da Guarda“ angenommen hatte. Picasso wurde dort als Zehnjähriger an der Schule für Bildende Künste aufgenommen. Ab 1894 begann er Tagebücher zu führen, die er La Coruña und Azul y Blanco („Blau und Weiß“) nannte und mit Porträts und Karikaturen illustrierte. Im selben Jahr begann er seine Werke mit „P. Ruiz“ zu signieren. ==== Studium ==== Nach dem Tod der Schwester Conchita, die im Januar 1895 an Diphtherie starb, zog die Familie nach Barcelona, wo Picasso mühelos mit 14 Jahren die Aufnahmeprüfung an der Kunstakademie „La Llotja“ in nur einem Tag schaffte – seinem Vater wurde dort eine Stelle als Lehrer angeboten – sodass er die ersten zwei Klassen überspringen durfte. Der Vater richtete ihm ein Jahr später sein erstes Atelier in der Nähe der elterlichen Wohnung ein, das Picasso gemeinsam mit seinem Freund Manuel Pallarès i Grau, einem katalanischen Maler, nutzte.1897 studierte Picasso für kurze Zeit an der angesehenen Königlichen Akademie von San Fernando in der Hauptstadt Madrid, die er jedoch wieder verließ, weil ihm die dortigen Lehrmethoden missfielen. In seinem Selbstbildnis von 1897/98 änderte er die Signatur „Ruiz“ erstmals zu „P. Picasso“ – ein Symbol für die innere Loslösung vom Elternhaus. In Madrid besuchte Picasso die Museen, vor allem den Prado – wie schon auf einem Besuch 1895 – und die Künstlerlokale. ==== Erste Einzelausstellung im „Els Quatre Gats“ ==== Nach einer Scharlach-Erkrankung, die ihn zur Rekonvaleszenz in Horta de Sant Joan (Katalonien) zwang, kehrte er 1898 nach Barcelona zurück. Hier verkehrte er in avantgardistischen Künstlerkreisen des katalanischen Modernisme, unter anderem mit Ramon Casas, Carlos Casagemas, Isidre Nonell, Ramon Pichot i Gironès und Santiago Rusiñol, die sich im Café und Künstlerzentrum Els Quatre Gats trafen. Ab Juni 1898 verbrachte er acht Monate mit seinem Malerfreund Manuel Pallarès i Grau in dessen Heimatstadt Horta de Sant Joan. 1899 lernte er den Dichter Jaime Sabartés kennen, der sein enger Freund und 1935 sein Sekretär werden sollte. Im Februar 1900 wurde im „Els Quatre Gats“ die erste Einzelausstellung Picassos gezeigt, die jedoch, kritisch rezensiert, nur zu einem mäßigen Verkaufserfolg führte. Im selben Jahr unternahm Picasso anlässlich der Weltausstellung gemeinsam mit seinem Freund Casagemas eine erste Reise in die Kunstmetropole Paris, wo ihn die impressionistischen Werke von Paul Cézanne, Edgar Degas und Pierre Bonnard beeindruckten. Er teilte im Oktober mit Casagemas zeitweise ein Atelier am Montmartre an der Adresse 49 Rue Gabrielle, das Nonell aufgegeben hatte. Zu dieser Zeit lernte er die Arbeiten von Henri de Toulouse-Lautrec kennen, die ihn zu farbenfrohen Darstellungen des großstädtischen Lebens inspirierten. === Paris – Madrid – Barcelona – Paris (1901–1907) === ==== Tod Casagemas – Beginn der Blauen Periode ==== Im Januar 1901 kehrte Picasso nach Madrid zurück. Er erhielt eine Nachricht, die ihn tief erschütterte: Sein Freund Carlos Casagemas hatte sich am 17. Februar aus enttäuschter Liebe zu der Tänzerin Germaine Gargallo in Paris erschossen. Picasso versuchte sich in Madrid an einer neuen Karriere: ab März des Jahres erschien das erste von insgesamt fünf Heften der Kunstzeitschrift Arte Joven (Junge Kunst), herausgegeben von dem katalanischen Schriftsteller Francisco de Assis Soler, die Picasso als Mitherausgeber mit Illustrationen versah. Seine Signatur änderte sich erneut, er signierte nur noch mit „Picasso“. Die Zeitschrift musste jedoch nach kurzer Zeit aus finanziellen Gründen eingestellt werden. Picasso verließ nach der Einstellung von Arte Joven Madrid und kehrte nach Barcelona zurück. Zwei Jahre später schuf er ein Porträt des Schriftstellers. Im Mai besuchte der aufstrebende Künstler wiederum Paris. Sein erster Kunsthändler Pere Mañach, bei dem er logierte, die Galeristin Berthe Weill und vor allem der Kunsthändler und Verleger Ambroise Vollard bemühten sich um den vielversprechenden jungen Künstler. Ab dem 24. Juni 1901 zeigte Vollard in seiner Galerie, 6 Rue Laffite, Picassos Werke erstmals in einer Pariser Ausstellung und wurde sein Förderer in Picassos Blauer und Rosa Periode. Dem nachfolgenden kubistischen Werk stand er nicht so positiv gegenüber. Picassos kubistisches Porträt von Vollard entstand 1910.Picasso widmete 1901 seinem Freund Casagemas das Bild Evokation – Das Begräbnis Casagemas. Es gilt als das erste Bild der Blauen Periode. Casagemas’ Porträt ist ebenfalls in der männlichen Figur des melancholischen Gemäldes aus dem Jahr 1903, La Vie (Das Leben) dargestellt. Die Werke aus dieser Zeit brachten dem Künstler mehr Zustimmung von Galeristen und Kritikern ein als seine früheren Bilder. Ein Freund Gauguins, der Dichter Charles Morice, sah in einer Besprechung die „unfruchtbare Traurigkeit“, bescheinigte Picasso dennoch ein „wahres Talent“.Im Oktober 1902 kehrte Picasso zum dritten Mal nach Paris zurück und wohnte erst in Hotels, hiernach bei dem Dichter Max Jacob, der als Gehilfe in einem Modegeschäft arbeiten musste. Im Winter heizten die Freunde mit Picassos Zeichnungen den Raum, weil Geld für Heizmaterial fehlte, aus demselben Grund benutzte Picasso Leuchtpetroleum statt Öl zum Malen und sparte an Bindemitteln. ==== Picassos Atelier im Bateau-Lavoir ==== Im Jahr 1903 arbeitete Picasso sehr produktiv in Barcelona, kehrte jedoch wieder nach Paris zurück, wo er ab April 1904 bis zum Oktober 1909 im Bateau-Lavoir wohnte. Dieses war ein verwahrlostes Haus mit zahlreichen Künstlerateliers auf dem Montmartre. Dort hatten schon der mit Picasso befreundete spanische Bildhauer Paco Durrio und der Maler Kees van Dongen Unterkunft gefunden. Später kamen unter anderem Max Jacob und Juan Gris hinzu. Er schloss mit dem Dichter Guillaume Apollinaire Freundschaft und lernte 1904 Fernande Olivier kennen, die von 1905 bis 1912 seine Begleiterin und Muse wurde. Fernande war eine aus kleinbürgerlichen Verhältnissen stammende geschiedene Frau, die sich für die Malerei der Impressionisten begeisterte. Über die Begegnung mit Picasso berichtet sie in ihren Erinnerungen Picasso et ses amis, erschienen 1933: Fernande Olivier bildete er unter anderem in dem Ölgemälde La Toilette im Jahr 1906 ab oder 1909 in Bronze gegossen als Tête de femme. Die Unterkunft im Bateau-Lavoir war kärglich. Picassos Kunsthändler Kahnweiler erinnert sich an das eiskalte und zugige Atelier im Winter und berichtet, dass im Sommer, „wenn es zu heiß war, Picasso bei geöffneten Türen völlig nackt im Korridor mit nur einem Tuch um die Lenden arbeitete.“ ==== Bekanntschaft mit Gertrude und Leo Stein sowie mit Matisse ==== Clovis Sagot, ein früherer Zirkusclown, hatte in einer ehemaligen Apotheke in der Rue Laffitte eine Galerie eingerichtet. Dort entdeckte der in Paris lebende US-amerikanische Kunstsammler Leo Stein, der Bruder der Dichterin und Kunstsammlerin Gertrude Stein, 1905 Picassos Gemälde. Das erste Bild des Künstlers, das Leo Stein kaufte, Junges Mädchen mit dem Blumenkorb, gefiel seiner Schwester nicht. Als Picasso die Geschwister bei Sagot kennengelernt hatte, lud er sie in sein Atelier ein und konnte ihnen Bilder für 800 Francs verkaufen, die auch Gertrude Steins Interesse weckten. Die Steins gaben regelmäßig in ihrem Salon nahe dem Jardin du Luxembourg in der 27 Rue de Fleurus am Samstag Gesellschaften, wo sich die Künstler der Avantgarde trafen, zu denen fortan ebenfalls Picasso gehörte, der dort im Jahr 1906 Henri Matisse traf und Freundschaft mit ihm schloss. Im Salon d’Automne hatten die Fauves, zu denen Matisse gehörte, mit ihrer ersten Gemeinschaftsausstellung im Vorjahr auf sich aufmerksam gemacht. Der Galerist Vollard kaufte Picasso bald darauf Werke für 2000 Franc ab, was seine finanzielle Situation wesentlich verbesserte. Sein Bildnis Gertrude Stein entstand im Jahr 1906, für das die Schriftstellerin bis zu neunzigmal Modell gesessen haben soll. Im Frühjahr brach Picasso die Porträtsitzungen mit Gertrude Stein ab. Er traf Derain durch Vermittlung von Alice Princet. Im Sommer desselben Jahres hielt er sich mit Fernande Olivier in Gósol auf. Als er wieder nach Paris zurückkehrte, vollendete Picasso das Porträt Gertrude Steins aus dem Gedächtnis und reduzierte die Gesichtszüge auf die Schlichtheit iberischer Masken. ==== Beginn der Rosa Periode und Les Demoiselles d’Avignon ==== Ab 1905 beginnen rosa Töne in Picassos Werken vorzuherrschen. So bildet das Gemälde Junge mit Pfeife aus dem Jahr 1905 den Übergang von der Blauen zur Rosa Periode. Im Vergleich zur Blauen Periode gibt es nur noch wenig Melancholie in den Werken dieser Periode. Das Blau weicht in den Hintergrund. Besonders Gaukler, Seiltänzer und Harlekins, traurige Spaßmacher aus der Commedia dell’arte, zählen zu seinen Bildmotiven. Seit dem Winter des Jahres 1906 bereitete Picasso in zahlreichen Studien und Variationen das große Gemälde Les Demoiselles d’Avignon vor, das er im Juli 1907 beendete. Mit den Demoiselles legte er den Grundstein kubistischen Denkens und leitete die als „période nègre“ bezeichnete Periode ein. Die ersten Reaktionen bei der Begegnung mit den Demoiselles in Picassos Atelier waren überwiegend negativ. Das Bild wurde weitgehend als unmoralisch angesehen und von vielen, selbst engen Freunden Picassos, heftig kritisiert. Neben Wilhelm Uhde hatte nur Leo Stein zunächst Verständnis für die Demoiselles aufgebracht, kaufte seine neuen Werke jedoch nicht mehr. Die Künstler des Fauvismus, Matisse und Derain, äußerten ihr Missfallen. Gertrude Stein förderte Picasso weiter und näherte sich in ihrem literarischen Ausdruck dem Kubismus. Im Jahr 1938 schrieb sie eine Broschüre über Picasso.Wilhelm Uhde machte den jungen deutschen Galeristen Daniel-Henry Kahnweiler, der in der Rue Vignon 28 seine erste Galerie eröffnet hatte, auf Picasso aufmerksam. Kahnweiler wurde sein wichtigster Förderer und stellte im selben Jahr Picassos Werke aus. Picasso hatte die große Retrospektive von Paul Cézannes Werken 1907 im Pariser Salon d’Automne besucht, die ein Jahr nach dem Tod des Künstlers ausgerichtet worden war. Durch Apollinaire lernte Picasso den gleichaltrigen fauvistischen Maler Georges Braque gegen Ende des Jahres kennen; die Freundschaft mit Braque sollte große Auswirkungen auf den Verlauf der modernen Kunstgeschichte haben. === Picasso begründet mit Braque den Kubismus (1908–1914) === ==== Zusammenarbeit mit Braque ==== Den Sommer 1908 verbrachte Picasso mit Fernande Olivier in La Rue-des-Bois nördlich von Paris. Im Herbst desselben Jahres verglichen Braque und Picasso ihre im Sommer geschaffenen Bilder – Braque in L’Estaque und Picasso in La Rue-des-Bois. Sie waren merkwürdig ähnlich. Braque stellte im Gegensatz zu Picasso im November des Jahres seine Werke in der Galerie Kahnweiler aus. In der Besprechung zur Ausstellung der Bilder Braques prägte der französische Kunstkritiker Louis Vauxcelles in der Kunstzeitschrift Gil Blas zum ersten Mal den Begriff der „cubes“ (Kuben). Vauxcelles bezog sich dabei im Besonderen auf das Gemälde Braques Häuser in L’Estaque.Zwischen September 1908 und Mai 1909 sahen sich Picasso und Braque beinahe täglich; Kahnweiler war der Dritte im Bunde und vermittelte zwischen den vom Naturell her sehr unterschiedlichen Künstlern, dem besonnenen, systematisch arbeitenden Braque und dem temperamentvollen Picasso. Ihre Arbeitsgemeinschaft war so intensiv, dass sich die Künstler mit den Brüdern Wright, den Flugpionieren, verglichen und sich wie Mechaniker kleideten.Ebenfalls 1908 war der spanische Maler Juan Gris in das Bateau-Lavoir gezogen, wo er Ateliernachbar von Picasso wurde. Nachdem er 1911 begonnen hatte, sich mit dem Kubismus auseinanderzusetzen, entstand im Jahr 1912 das kubistische Porträt Hommage à Picasso von Gris. ==== Das Bankett für Rousseau ==== Im November 1908 gab Picasso in seinem Atelier im Bateau-Lavoir ein großes Fest zu Ehren Henri Rousseaus, von dem er das lebensgroße Bildnis einer früheren Freundin Rousseaus, die sogenannte Yadwigha, erworben hatte und das er sein Leben lang behalten sollte. Über das kunsthistorisch bekannt gewordene Bankett für Rousseau, an dem neben vielen anderen Künstlern Apollinaire, Jacob, Salmon, Uhde und den Geschwistern Stein ferner die junge Malerin Marie Laurencin teilnahm, berichtete Raynal als Augenzeuge: „Es war eine richtige Scheune. […] An den Mauern, die man von ihrem gewöhnlichen Schmuck befreit hatte, hingen nur einige schöne Negermasken, eine Münztabelle und auf dem Ehrenplatz das große, von Rousseau gemalte Porträt Yadwigha“. Nicht lange nach dem Bankett verließ Picasso im Jahr 1909 das Bateau-Lavoir und wohnte bis 1912 in einer Atelierwohnung am Boulevard de Clichy 130. ==== Distanzierung von den Salonkubisten ==== Fernand Léger und Robert Delaunay lernten die Arbeiten Picassos und Braques durch Vermittlung von Kahnweiler kennen. Die Einflüsse Picassos und Braques machten sich von nun an in den Bildwerken vieler Maler bemerkbar. Es bildete sich 1911 eine Gruppierung von Malern, die als Salonkubisten bezeichnet wurden. Zu ihnen zählen neben Léger und Delaunay die Künstler Albert Gleizes, Jean Metzinger und Henri Le Fauconnier. Picasso und Braque distanzierten sich von den Salonkubisten. ==== Der Raub der Mona Lisa ==== Im Sommer 1911 gerieten die Freunde Apollinaire und Picasso in den Verdacht, am Diebstahl des bekanntesten Gemäldes des Louvre, der Mona Lisa, beteiligt zu sein. Sie war am 21. August 1911 spurlos verschwunden, und beide gerieten in das Visier der Polizei durch den Besitz von iberischen Steinmasken, die über Géry Pieret – ein belgischer Abenteurer und zeitweise Angestellter Apollinaires – erworben worden waren. Nach einer Hausdurchsuchung wurde Apollinaire am 8. September wegen Beherbergung eines Kriminellen und Verwahrung von Diebesgut verhaftet; er verriet nach zwei Tagen Picassos Beteiligung. Dieser wurde zwar verhört, aber nicht arretiert. Apollinaire wurde wenige Tage später aus der Haft entlassen und der Prozess gegen ihn im Januar 1912 aus Mangel an Beweisen eingestellt. Die Mona Lisa tauchte erst wieder am 13. Dezember 1913 in Florenz auf und kehrte am 1. Januar 1914 in den Louvre zurück. Der Dieb war Vincenzo Peruggia, ein Bildeinrahmer des Louvre. ==== Erste Ausstellungen von Picassos Werken im Ausland ==== Die frühe Phase des Kubismus bis etwa 1912 wird als „Analytischer Kubismus“ bezeichnet. Ein Beispiel hierfür ist das Bildnis Ambroise Vollard (1910). Ab dem Jahr 1912 entstanden die Papiers collés, eine Frühform der Collagen. Der Übergang zum „Synthetischen Kubismus“ hatte begonnen. Picassos Werke wurden allmählich im Ausland bekannt. In Deutschland war Picasso 1910 auf der Ausstellung der Neuen Künstlervereinigung München vertreten sowie auf der im Mai 1912 eröffneten Ausstellung des Sonderbundes in Köln und in Herwarth Waldens Galerie Der Sturm in Berlin. Vier von Picassos Werken wurden im selben Jahr in die zweite Ausstellung des Blauen Reiter in der Münchner Galerie Goltz aufgenommen: Frauenkopf (1902), Umarmung (1903), Kopf (1909) und Stillleben (1910). 1913 fand die erste größere Retrospektive in der Modernen Galerie von Heinrich Thannhauser in München statt.Ab November 1910 zeigte die von Roger Fry in London organisierte Ausstellung Manet and the Post-Impressionists unter anderem Gemälde, Zeichnungen und Drucke Picassos, ebenso eine Nachfolgeausstellung 1912.In Übersee war die neue Kunstrichtung nach einer erstmaligen Ausstellung Picassos im Jahr 1911 in Alfred Stieglitz’ Galerie 291 ebenfalls in der Armory Show, New York, 1913 vertreten, in der beispielsweise Werke von Braque, Picasso und Matisse ausgestellt wurden. Gezeigt wurden von Pablo Picasso acht Arbeiten, darunter zwei Stillleben, die Zeichnung Frauenakt von 1910, Frau mit Senftopf von 1910, eine Leihgabe von Kahnweiler, und die Bronze Frauenkopf von 1909, eine Leihgabe von Stieglitz. Die Kritik bei allen Ausstellungen war jedoch beträchtlich, die moderne Kunst wurde noch nicht akzeptiert. Als Picassos Liaison mit Fernande Olivier im Jahr 1912 zerbrach, wurde Eva Gouel, geborene Marcelle Humbert, die er Eva nannte, seine zweite Lebensgefährtin bis zu ihrem frühen Tod 1915. Den Sommer des Jahres 1913 verbrachte Picasso mit Braque und Juan Gris in Céret. Im selben Jahr starb sein Vater. Seinen Wohnsitz schlug er in der Rue Schoelcher 5 am Montparnasse auf, nachdem er 1912 kurzfristig am Boulevard Raspail 242 gewohnt hatte. === Zeit des Ersten Weltkriegs (1914–1918) === Picasso verbrachte die Zeit von Ende Juni bis Mitte November 1914 mit Eva Gouel in Avignon. Mit dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs änderte sich die Situation für viele Künstler schlagartig. Am 2. August 1914 begleitete Picasso Braque und Derain, die ihren Gestellungsbefehl erhalten hatten, zum Bahnhof in Avignon. Braque erlitt 1915 eine schwere Kopfverletzung und brauchte nach überstandener Operation länger als ein Jahr, um davon zu genesen. Ihr Kunsthändler Kahnweiler, der Deutscher war, musste Frankreich verlassen; Picasso, der als Spanier keinen Kriegsdienst leisten musste, blieb in Paris ohne seine Freunde zurück.Im Juli 1916 organisierte André Salmon eine Ausstellung, L’Art moderne en France (der so genannte „Salon d’Antin“), in der Pariser Galerie Barbazanges. Dort wurde Picassos Werk Les Demoiselles d’Avignon zum ersten Mal der Öffentlichkeit vorgestellt; das Gemälde erhielt erst zu diesem Zeitpunkt von Salmon diesen Namen. Nach dem Tod von Eva Gouel, die 1915 an Tuberkulose starb, hatte Picasso eine Affäre mit Gabrielle Lespinasse, die er Gaby nannte. Sie wohnte am Boulevard Raspail nahe seinem Studio. Während eines Aufenthalts in Saint-Tropez im Jahr 1916 erklärte er ihr seine Liebe, sie wies ihn jedoch ab und heiratete im folgenden Jahr den amerikanischen Künstler Herbert Lespinasse. Im Oktober 1916 zog er nach Montrouge bei Paris. Im Frühjahr 1917 wohnte Picasso in Rom den Proben des Ensembles Ballets Russes unter der Leitung von Sergei Djagilew zum Ballett Parade mit dem Libretto von Jean Cocteau und der Musik von Erik Satie bei. Er entwarf die Kostüme, Bühnenbilder und den aus der Reihe fallenden klassisch romantischen Bühnenvorhang. Der sowjetische Schriftsteller Ilja Ehrenburg, der in Paris im Exil lebte, beschrieb die spektakuläre Premiere im Mai 1917 im Pariser Théâtre du Châtelet und den Aufruhr des Publikums, das den Abbruch der Vorstellung forderte: „Die Musik gab sich modern, das Bühnenbild war halb kubistisch […] Und als ein Pferd mit kubistischer Schnauze Zirkusnummer vorführte, verloren sie endgültig die Geduld: ‚Tod den Russen! Picasso ist ein Boche! Die Russen sind Boches!‘“ Picassos Freunde jedoch waren begeistert. Apollinaire beispielsweise betrachtete die erstmalige künstlerische Allianz zwischen Malerei und Tanz, Plastik und Darstellungskunst als Beginn einer umfassenden Kunst, als eine Art „sur-réalisme“. Während der Arbeiten zu Parade lernte Picasso die Tänzerin Olga Stepanowna Chochlowa, Primaballerina des „Ballets Russes“, kennen, die er am 12. Juli 1918 in Paris heiratete. Trauzeugen waren Cocteau, Max Jacob und Apollinaire. Das Ehepaar bezog im Dezember eine Wohnung in der Rue La Boétie 23. Nach der Heirat gab er sein Bohèmeleben auf und wurde zum „Malerfürsten“ mit eigenem Chauffeur und Hauspersonal. Aus der Ehe ging Sohn Paulo hervor. Nach Kahnweiler wurde Picasso ab 1918 von den Kunsthändlern Paul Rosenberg und Georges Wildenstein gemeinsam weltweit vertreten. Sie kauften jedes Jahr eine nennenswerte Anzahl seiner Bilder. Die Verbindung Picassos zu Rosenberg dauerte bis zum Jahr 1939, die zu Wildenstein bis 1932. === Abkehr von den Kubisten (1916–1924) === Bereits 1914 begann sich Picasso von dem Kreis der Kubisten zu entfernen. Er erinnerte sich an diesen Abschied und äußerte: „Aus dem Kubismus hat man eine Art Körperkultur machen wollen. […] Daraus ist eine verkünstelte Kunst hervorgegangen, ohne echte Beziehung zur logischen Arbeit, die ich zu tun trachte.“Von 1916 bis 1924 zeigt sein Werk ein stilistisches Nebeneinander. Neben klassizistischen Gemälden wie Drei Frauen am Brunnen aus dem Jahr 1921, gemalt in Fontainebleau, und Panflöte, 1923, gemalt in seinem Ferienort Antibes, entstanden Arbeiten im Stil des synthetischen Kubismus, wie beispielsweise Drei Musikanten aus dem Jahr 1921. Picasso konnte dank seines gewachsenen Ruhms mehr Zeit für die Entwicklung seiner Formensprache nutzen. Er experimentierte viel und legte einen neuen Schwerpunkt auf sein plastisches Werk, das er 1902 mit Sitzende Frau eröffnet hatte. Gleichzeitig entfremdete er sich von seiner Frau Olga. === Auseinandersetzung mit dem Surrealismus (1924–1936) === ==== Beteiligung und Konflikte ==== Im Jahr 1923 traf Picasso den Surrealisten André Breton. Bereits in der ersten Nummer der surrealistischen Zeitschrift La Révolution surréaliste vom Dezember 1924 wurde eine plastische Konstruktion Picassos reproduziert. In der zweiten Nummer vom Januar 1925 zwei Seiten aus dem im Sommer 1924 in Juan-les-Pins geführten Skizzenbuch mit den Sternzeichnungen. In der vierten Ausgabe erschien eine Abbildung von Picassos Gemälde Les Trois Danseuses (Die drei Tänzerinnen) und – erstmals in Frankreich – von den Demoiselles d’Avignon.Der langjährige Kontakt mit den Surrealisten war jedoch nicht konfliktfrei. Als 1924 Eric Saties Ballett Les Aventures de Mercure mit dem Bühnenbild und den Kostümen von Picasso aufgeführt wurde, protestierten mehrere Surrealisten gegen Picassos Mitwirkung und nannten das Ereignis eine Wohltätigkeitsveranstaltung für die internationale Aristokratie. André Breton, Louis Aragon und andere Surrealisten, die von Picassos Einfallsreichtum beeindruckt waren, veröffentlichten daraufhin im Paris-Journal eine als Hommage à Picasso deklarierte Entschuldigung. Andererseits beschuldigte Picasso 1926 die Surrealisten in einer ausführlichen Stellungnahme zu den Absichten und Zielen seiner Kunst, ihn nicht verstanden zu haben. Die gegen Breton gerichtete surrealistische Zeitschrift Documents von Georges Bataille widmete sich in ihrer Sonderausgabe Nr. 3 vom April 1930 vollständig Picasso.Im Jahr 1927 lernte er Marie-Thérèse Walter kennen, die er in Frau mit Blume 1932 in minimalistischer Weise mit surrealistischen Anklängen porträtierte. Die Beziehung zu der anfangs noch minderjährigen Marie-Thérèse hielt er lange Zeit geheim. Erstmals tauchte 1928 das Minotaurus-Motiv in seinen Werken auf – als Spanier war Picasso schon immer vom Stierkampf fasziniert. Die erste Nummer des surrealistischen Künstlermagazins Minotaure erschien am 25. Mai 1933 mit einem Cover von Picasso, der dem Titel gemäß einen Minotaurus zeigt. 1935 entstand die Radierungsfolge Minotauromachie, die von Francisco de Goyas Tauromaquia (um 1815) inspiriert wurden. Darin wird in immer neuen Variationen der Zusammenhang von Sexualität, Gewalt und Tod ausgelotet.Im Sommer 1936 lernte Picasso durch den surrealistischen Dichter Paul Éluard den Künstler und Kunstkritiker Roland Penrose kennen, mit dem er Freundschaft schloss und der im Jahr 1958 die erste Biografie über Picasso veröffentlichte, an der der Künstler mitwirkte. 1937 schuf er von Penrose’ späterer Ehefrau, der Fotografin Lee Miller, sechs Porträts. Die Fotografin machte bei gegenseitigen Besuchen um die 1000 Aufnahmen, die Picasso während der Arbeit und in der Freizeit zeigen. Deutlichere Anklänge an seinen Spätstil zeigt ein weiteres Porträt der Marie-Thérèse Walter, das Interieur mit zeichnendem Mädchen aus dem Jahr 1935. Der Zusammenhang von Sexualität und künstlerischer Kreativität wurde zu einem Thema, das Picasso bis zu seinem Lebensende beschäftigte. ==== Familiäre Krisen ==== Das Jahr 1935 bezeichnet eine Krise in seinem Leben und Schaffen. Aus der Beziehung zu Marie-Thérèse, die bis 1937 andauerte, wurde die Tochter Maya in diesem Jahr geboren. Dies wurde seiner Frau hinterbracht, die daraufhin die Scheidung verlangte. Nach französischem Recht hätte Picasso seinen Besitz mit ihr teilen müssen. Daran hatte er kein Interesse, und sie blieben daher bis zu ihrem Tod im Februar 1955 verheiratet. 1936 hatte Picasso eine Affäre mit Alice Rahon, der Ehefrau von Wolfgang Paalen, und lernte die französische Fotografin Dora Maar kennen, die in den 1940er Jahren seine ständige Begleiterin wurde und die ihm oft Modell saß. Im November 1937 besuchte er Paul Klee in Bern, um ihn moralisch zu unterstützen, da dessen Werke gerade in der berüchtigten Münchner Ausstellung über „Entartete Kunst“ von den Nationalsozialisten diffamiert wurden. 1941 entstand Dora Maars Porträt mit gleichzeitiger Vorder- und Seitenansicht, Dora Maar mit Katze (Dora Maar au chat). Sie konkurrierte mit Marie-Thérèse Walter um die Gunst Pablo Picassos. „Ich hatte kein Interesse daran, eine Entscheidung zu treffen. […] Ich sagte ihnen, sie sollten es unter sich ausmachen“, so der Maler über die Rivalität zwischen den beiden Frauen. === Stellungnahmen zum Spanischen Bürgerkrieg – Guernica (1936–1939) === Die Ereignisse des Spanischen Bürgerkriegs erschütterten Picasso zutiefst, und es entstanden Bilder, die in ihrer Eindringlichkeit an Goyas Schrecken des Krieges erinnern, vor allem Guernica, das das Grauen anlässlich der Bombardierung der baskischen Stadt Gernika am 26. April 1937 durch die deutsche Legion Condor thematisiert. Unter diesem Eindruck begann Picasso bereits am 1. Mai mit Studien für das gleichnamige monumentale Bild, das ab dem 12. Juli 1937 als Wandbild im spanischen Pavillon auf der Weltausstellung in Paris ausgestellt wurde.Picasso unterstützte ab 1936 von Paris aus die republikanische Regierung Spaniens, die sich gegen den Putschisten und künftigen Diktator Franco zur Wehr setzte. Er versuchte, gleichwohl vergeblich, die französische Regierung zum Eingreifen zu bewegen und wurde für seinen Einsatz von der republikanischen Regierung Spaniens 1937 in Abwesenheit zum Direktor des bedeutenden Kunstmuseums Prado in Madrid bestimmt. === Zeit des Zweiten Weltkriegs (1940–1945) === Der Künstler arbeitete seit 1936 in Paris in einem Atelier in der 7 Rue des Grands-Augustins, in dem Guernica entstand und das er seit dem Frühjahr 1939 zudem als Wohnung nutzte. Vom Beginn der deutschen Besetzung 1940 im Zweiten Weltkrieg bis zur Befreiung von Paris am 25. August 1944 wohnte er hier, ohne eine Reise zu unternehmen. Die Nationalsozialisten hatten ihm wegen seiner Gegnerschaft zu Franco Ausstellungsverbot erteilt. Der von Picasso 1940 gestellte Antrag auf den Erwerb der französischen Staatsbürgerschaft war abgelehnt worden, da den Behörden Dossiers aus dem Jahr 1905 vorlagen, in denen er als anarchistisch eingestuft worden war.Während der Besatzungszeit wurde die moderne Kunst von den Kollaborateuren nicht toleriert. Der Maler André Lhote erinnerte sich an die Schlachtrufe „Matisse in den Müllkasten“ und „Picasso ins Irrenhaus!“. Nach der Befreiung schätzte ihn die politische Linke zunächst als den Künstler ein, der „aufs Wirksamste den Geist des Widerstands versinnbildlichte“.Das Museum of Modern Art in New York City unter seinem Direktor Alfred Barr widmete Picasso 1939–1940 eine erfolgreiche Retrospektive, die ihn in Amerika und bei zeitgenössischen Kunstkritikern und Künstlerkollegen weithin bekannt machte. Im Jahr 1944 wurde Picasso Mitglied der Kommunistischen Partei Frankreichs und blieb es bis ans Ende seines Lebens. Die Ernsthaftigkeit seines Eintritts wurde bezweifelt, und man beschuldigte ihn, dass seine Farben und Formen in seinen Arbeiten eine bestimmte symbolische Bedeutung besäßen, woraufhin er konterte: „Bloß wegen des Vergnügens, verstanden zu werden, werde ich nicht in einem gewöhnlichen Stil arbeiten.“ Eine Aussage, unter anderen, die zu der Anschuldigung führte, dass sein Kommunismus oberflächlich sei und er nicht an die Untrennbarkeit von Kunst und Politik glaube. Zu seiner Verteidigung schrieb er: „Was, glauben Sie denn, ist ein Künstler? Ein Schwachsinniger, der nur Augen hat, wenn er Maler ist, nur Ohren, wenn er Musiker ist, gar nur eine Lyra für alle Lagen des Herzens, wenn er Dichter ist, oder gar Muskeln, wenn er Boxer ist? Ganz im Gegenteil! Er ist gleichzeitig ein politisches Wesen, das ständig im Bewußtsein der zerstörerischen, brennenden oder beglückenden Weltereignisse lebt und sich ganz und gar nach ihrem Bilde formt. […] Nein, die Malerei ist nicht erfunden, um Wohnungen auszuschmücken! Sie ist eine Waffe zum Angriff und zur Verteidigung gegen den Feind.“ === Die späteren Jahre (1945–1973) === Nach sechs Jahren innerer Emigration und Isolation in Paris während des Zweiten Weltkriegs besuchte Picasso ab 1945 häufiger südfranzösische Orte wie Antibes und Nizza. Dort besuchte er Henri Matisse, dessen Malweise deutliche Einflüsse in Picassos Spätwerk hinterließ. Beide Künstler blieben über viele Jahre in loser Verbindung, wobei Matisse der einzige lebende Künstler war, den Picasso als ebenbürtig ansah. Beide erkannten die Bedeutung des Anderen, respektierten einander zeitlebens und beeinflussten sich trotz ihrer Andersartigkeit gegenseitig.Seine Begleiterin in diesen Jahren war die Malerin Françoise Gilot, die er 1943 in Paris kennengelernt hatte. Die Beziehung dauerte bis 1953; der Sohn Claude wurde im Jahr 1947 geboren, die Tochter Paloma 1949. Sie gilt als die einzige Frau, die Picasso verlassen hat und nicht von ihm verlassen wurde. ==== Vallauris und Cannes ==== Die mediterrane Umgebung seiner Jugendzeit zog Picasso wieder in seinen Bann, denn ab dem Frühling 1948 wohnten er und Françoise Gilot nach Aufenthalten in Golfe-Juan in der Villa „La Galloise“ in Vallauris, einem Ort mit traditionellen Töpfereien, wo er sich schon im Jahr zuvor aufgehalten hatte. Dort experimentierte er unter Anleitung örtlicher Töpfer in der Manufaktur Madoura mit Ton und Glasuren, sprengte den traditionellen Produktrahmen und verhalf dem Ort zu überregionaler und später zu internationaler Bekanntheit. Trotz des Eintritts in die Kommunistische Partei behielt Picasso eine unabhängige Einstellung. Das Gemälde Massaker in Korea, das 1951 entstand, verärgerte die Amerikaner, sein Porträt Stalins von 1953 die Kommunisten, denn in der Sowjetunion galt seine Malweise offiziell als dekadent. Picasso engagierte sich allerdings, wann immer man ihn darum bat, für den Frieden. Im Jahr 1949 entwarf er ein Plakat mit einer Taube für den Pariser Weltfriedenskongress. Die Taube wurde in der Folge weltweit ein Symbol für den Frieden. 1952 entstanden zwei große Wandgemälde: Der Krieg und Der Frieden, für den „Friedenstempel“ in Vallauris. Jacqueline Roque, eine Keramikverkäuferin bei Madoura in Vallauris, war Picassos neue Lebensgefährtin ab 1953, nachdem ihn Françoise Gilot verlassen hatte, und auch Geneviève Laporte, mit der er eine Affäre hatte, nicht zu ihm ziehen wollte. Er schuf zahlreiche Porträts von Roque wie beispielsweise 1954 Bildnis Madame Z. (Jacqueline Roque) und 1956 Jacqueline im Atelier. 1954 lernte er in Vallauris die 19-jährige Sylvette David kennen, eine junge Frau mit blondem Pferdeschwanz, die ihm Modell saß und die er in mehreren Monaten in knapp 60 Porträts darstellte.1955 kaufte Picasso die Villa „La Californie“ in Cannes. Seine Hinwendung zu klassischen Interpretationen von Meisterwerken zeigten Werke wie Frauen von Algier von Eugène Delacroix 1955, Diego Velazquez’ Las Meninas 1957 oder Édouard Manets Frühstück im Freien 1961. Bereits 1946 hatte eine Ausstellung im Louvre seine Bilder denen klassischer Meister gegenübergestellt. In der „Tauwetter-Periode“ der Sowjetunion gelang es Ilja Ehrenburg 1956, eine große Picasso-Ausstellung im Moskauer Puschkin-Museum durchzusetzen.Im Jahr 1958 bot ihm der französische Kabinettschef und spätere Staatspräsident Georges Pompidou die französische Staatsbürgerschaft an, doch Picasso reagierte nicht. ==== Erwerb von Schloss Vauvenargues ==== Picasso wurde zunehmend von Touristen und Bewunderern belästigt. In unmittelbarer Nähe von „La Californie“ wurden Wohnhochhäuser gebaut, die ihm sowohl den Ausblick auf die Landschaft versperrten als auch Fremden den Einblick auf sein Grundstück ermöglichten. Er versuchte erfolglos, den Kunstsammler Douglas Cooper dazu zu bewegen, ihm dessen Schloss Château de Castille nahe Avignon zu überlassen. Cooper empfahl ihm 1958 stattdessen das Schloss Vauvenargues bei Aix-en-Provence mit Blick auf Paul Cézannes Lieblingsmotiv, das Gebirge Montagne Sainte-Victoire. Picasso erwarb es und richtete sich dort ein Studio ein, kehrte aber immer wieder nach „La Californie“ zurück.Picassos Stil reduzierte sich zunehmend auf das Linienbetonte, Skizzenhafte. Mit hoher Produktivität setzte er sich nicht nur mit der Malerei und Grafik wie Lithografie und Linolschnitt auseinander, sondern ab 1947 auch mit der Bildhauerei und Keramik. Er variierte und zitierte seine Themen wiederholt. ==== Letzter Wohnort Mougins und Tod ==== Picasso hatte sich von seiner Frau Olga aus finanziellen Gründen nie scheiden lassen. Mehrere Jahre nach ihrem Tod heiratete er 1961 Jacqueline Roque und zog mit ihr nach Mougins in das Herrenhaus Mas Notre-Dame de Vie, nördlich über den Hängen von Cannes. Die Ehe blieb kinderlos. Das Schloss Vauvenargues nutzte er als Lager für unzählige Bilder. 1962 wurde Picasso mit dem Internationalen Lenin-Friedenspreis ausgezeichnet. 1963 wurde das Museu Picasso in Barcelona eröffnet, das später einen Großteil seines Nachlasses erhielt. Den Grundstock bildete die Schenkung von 574 Werken von Picassos Freund und Sekretär Sabartés. Anlässlich des Erscheinens der Erinnerungen von Françoise Gilot, Leben mit Picasso im Jahr 1964, kam es zum Zerwürfnis mit seinen aus dieser Beziehung stammenden Kindern Claude und Paloma Picasso. Im Jahr 1971 fand eine Retrospektive in Paris anlässlich Picassos 90. Geburtstags im Louvre statt. Er war der erste Künstler, dem diese Auszeichnung bereits zu Lebzeiten gewährt wurde. Am 8. April 1973 starb Picasso in seinem Haus in Mougins infolge einer Lungenembolie, andere Quellen nennen als Ursache infolge eines Herzinfarkts mit Lungenödem. Er wurde am 10. April im Garten seines Schlosses in Vauvenargues begraben. Picasso hatte kein Testament hinterlassen. Seine Erben entrichteten die Erbschaftsteuer in Form von Kunstwerken Picassos und anderen Gemälden aus seiner Sammlung, wie beispielsweise Werke von Matisse und die Yadwigha von Rousseau. Sie bildeten den Grundstock der Kollektion des Musée Picasso in Paris. Im Jahr 2003 weihten Verwandte das Picasso gewidmete Museum in seiner Geburtsstadt Málaga ein, das Museo Picasso Málaga, und überließen ihm viele Ausstellungsstücke. Seine Witwe Jacqueline nahm sich in dem Haus in Mougins 1986 das Leben, 13 Jahre nach dem Tod Picassos. === Nachlass === Picasso hinterließ neben Immobilien ca. 1900 Gemälde, 12 000 Zeichnungen, 1300 Skulpturen, 3000 Keramiken und acht Teppiche. Ein von Christian Zervos herausgegebenes Werkverzeichnis ist 33 Bände stark, umfasst aber nicht alle Picasso-Arbeiten. Immer wieder tauchen unbekannte Werke auf.Der renommierte Pariser Auktionator Maurice Rheims wurde mit der systematischen Erfassung aller Kunstwerke beauftragt. Auftraggeber war der französische Staat, die Sichtung begann 1974 und dauerte bis 1981.Der französische Staat suchte sich 3800 Kunstwerke aus dem Nachlass aus und zog so die Erbschaftssteuer in Form von Kunstwerken ein. Sie wurden zur Grundlage des Musée Picasso, des größten Picasso-Museums der Welt. === Nachkommen/Erben === Da Picasso kein Testament hinterlassen hatte, war die Erbauseinandersetzung durch juristische Auseinandersetzungen geprägt. Im Herbst 1977 war das Erbe verteilt. Die Beteiligten einigten sich auf Quoten am Gesamterbe. Jacqueline Roque, die zweite Ehefrau, erhielt 30 Prozent des Nachlasses, die Mehrzahl der Kinder und Enkel je 10 Prozent.Etwas abweichend äußert sich folgender Beitrag: Die überlebenden fünf Erben (nach dem Tod von Jacqueline Roque) sind Françoise Gilots Kinder Claude und Paloma, Maya Widmayer-Picasso (* 5. September 1935; † 20. Dezember 2022), Tochter von Picasso und Marie-Thérèse Walter, sowie die Enkel Bernard und Marina Picasso.Zunächst gab es offiziell nur einen rechtmäßigen Erben unter Picassos Kindern: Paulo Picasso (* 4. Februar 1921; † 5. Juni 1975) war das erste Kind Picassos aus seiner Ehe mit Olga Chochlowa. Er verstarb bereits vor Beendigung des Erbstreits. Paulo war als Kleinkind unter anderem das Modell für die Gemälde Paulo auf einem Esel (1923) und Paulo als Harlekin (1924). Pablito Picasso (1949–1973, Suizid) Marina Picasso (* 14. November 1950), erbte ein Fünftel des Nachlasses ihres Großvaters und hat einen Großteil des Erbes verwendet, um humanitäre Bemühungen für Kinder in Not zu finanzieren. Bernard Ruiz-Picasso (* 3. September 1959)Erst 1975 wurden die drei unehelichen Kinder als rechtmäßige Erben Picassos anerkannt. Maya Widmaier Picasso (* 5. September 1935; † 20. Dezember 2022) entstammte der Verbindung mit Marie-Thérèse Walter. Ihr Vater malte mehrere Bilder, die Maya zum Thema hatten, darunter Maya à la poupée (Maya mit Puppe), das im Februar 2007 aus der Wohnung ihrer Tochter Diana Widmaier Picasso (* 12. März 1974) geraubt wurde. Im August 2008 wurden die Bilder und eine ebenfalls gestohlene Zeichnung von der französischen Polizei wiedergefunden. Außer der Tochter Diana hatte sie die Söhne Olivier und Richard.Claude Picasso (* 15. Mai 1947) ist das erste Kind aus der Verbindung mit Françoise Gilot. Er wurde zwei Jahre nach Picassos Tod als Nachlassverwalter für die Familie eingesetzt und lebt in Paris. Er hat einen 1981 geborenen Sohn Jasmin aus der Ehe mit Sydney Picasso.Paloma Picasso (* 19. April 1949) ist das zweite Kind aus der Verbindung Picassos mit Françoise Gilot. Sie schaffte sich durch die Kreation von Schmuck, Modeaccessoires und Parfums einen Markennamen. == Werk == Nach dem On-Line Picasso Project, 1997 von Enrique Mallen, Professor an der Sam Houston State University, eingerichtet, wird die Gesamtzahl der Werke Picassos auf etwa 50.000 geschätzt, darunter 1885 Gemälde, 7089 Zeichnungen, 30.000 Drucke (Radierungen, Lithographien etc.), 150 Skizzenbücher, 1228 Skulpturen, 3222 Keramiken sowie Bildteppiche. Das On-Line-Projekt benutzt ein dem @-Zeichen nachempfundenes kleines P als Logo. === Malerei === ==== Werk der Jugend (1889–1897) ==== Das erste, um 1889 entstandene Bild von Picasso ist Der Picador, das bereits in Öl gemalt ist. Stierkampfszenen, Tauben und die Darstellung einer Herkulesstatue bildeten die Themen seiner ersten Zeichnungen. Es entstanden Ölbilder in der Malweise der altmeisterlichen Genremalerei nach dem Vorbild des Vaters. Als Elfjähriger erhielt er Unterricht in der Tradition der Akademischen Malerei unter dessen Anleitung. Nach Gipsabdrücken fertigte er Zeichnungen wie Etude pour un torse.In den um 1895 entstandenen Bildern waren die spanischen Maler des 17. Jahrhunderts sein Vorbild. Zu dieser Zeit war er Schüler der Zeichenklasse der „La Llotja“ in Barcelona. Einige seiner Bilder zeigen Anklänge und Studien nach den Werken von Francisco de Zurbarán und des frühen Diego Velázquez, wie etwa das Porträt Philippe IV. nach Velázquez. Ab 1897 studierte Picasso für kurze Zeit an der königlichen Akademie von San Fernando in Madrid. Eine aus dieser Zeit stammende Zeichnung zeigt den Matador Luis Miguel Dominguin.1896 war sein Gemälde Die Erstkommunion in der Ausstellung für Kunst und Kunstgewerbe in Barcelona ausgestellt und wurde in einer bedeutenden Zeitung lobend besprochen. 1897 malte er die große Komposition Wissenschaft und Nächstenliebe. Sie entsprach der seinerzeit beliebten Spielart der Historienmalerei und erhielt in der Allgemeinen Kunstausstellung in Madrid eine offizielle ehrenvolle Erwähnung. Später erhielt es in seiner Geburtsstadt Málaga eine Goldmedaille. ==== Jahre der Orientierung (1898–1901) ==== Als Picasso 1897, im Alter von 16 Jahren, die Königliche Akademie verlassen hatte, begann seine selbständige Künstlerkarriere. Die Jahre zwischen 1898 und 1901 charakterisieren die Zeit der Orientierung: das konsequente Überprüfen der kreativen Prinzipien nahezu aller damals progressiven und avantgardistischen Richtungen. Er überwand seine rein akademische Ausbildung in einer für ihn bezeichnenden Weise, so wie er gelernt hatte, Neues aufzunehmen: als Aneignung durch Nachahmung.Er wurde von den Werken der katalanischen Maler des Modernisme, Isidre Nonell und Santiago Rusiñol, beeinflusst und erhielt weitere Anregungen – um nur einige zu nennen – aus dem Bereich des Symbolismus, der englischen Präraffaeliten, der Wiener Moderne, katalanischen Wandmalereien des 14. Jahrhunderts, aus den Werken von El Greco, Henri de Toulouse-Lautrec und Théophile Steinlen, dem Illustrator im Stil des Art Nouveau. Picasso versuchte bereits seine Vorbilder umzuformen. Im Jahr 1900 fand Picassos Auseinandersetzung mit Toulouse-Lautrec in dem Gemälde Le Moulin de la Galette ihren Höhepunkt. Seine erste Einzelausstellung im „Els Quatre Gats“ im selben Jahr erntete jedoch negative Kritiken. ==== Blaue Periode (1901–1904) ==== Der Begriff Blaue Periode in Picassos Werk stellt die vorherrschende monochrome Farbigkeit in den Vordergrund. Die Grundlagen der Blauen Periode wurden in Paris entwickelt. Das Bild Evokation – Das Begräbnis Casagemas ist das erste Bild jener Schaffensphase. Es soll das Ende einer Freundschaft und den Beginn von etwas Neuem darstellen. Es entstanden in Folge Werke wie Das Blaue Zimmer und das berühmte Selbstbildnis aus dem Jahr 1901. Nach der Umsiedlung nach Barcelona im Jahr 1902 bildeten schwermütige Figurenbilder die Hauptthemen. Außenseiter der Gesellschaft wie Bettler, Obdachlose, aber auch einsame Menschen sowie Mutter und Kind kamen zur Darstellung. Mit Hilfe dieser Themen verarbeitete er sowohl seine Einsamkeit in der Fremde als auch den Tod des Freundes. Die Themenwahl der Werke Picassos ist mit den Werken Nonells vergleichbar. Gibt Nonell jedoch einen Wirklichkeitsausschnitt zu erkennen und lässt den Rückschluss auf größere Zusammenhänge zu, so verwirklicht Picasso das Schicksal als etwas einzelnes, in der Isolation.1902 entstand Melancholie, das Bildnis einer melancholischen jungen Frau. Die überlange Darstellung der Personen wie beispielsweise bei der Büglerin (1904) ist auf die Auseinandersetzung mit El Greco zurückzuführen: „Daß meine Figuren in der Blauen Periode sich alle in die Länge strecken, liegt wahrscheinlich an seinem Einfluß.“ Andererseits schließt sich das Thema der Büglerin nahtlos an die Darstellungen von Daumier und großartige Studien von Degas an.Als Hauptwerk der Blauen Periode gilt La Vie (Das Leben) vom Mai 1903, in dem der abgebildete Mann die Gesichtszüge des Freundes Carlos Casagemas trägt. ==== Rosa Periode (1904–1906) ==== Die Kunstgeschichte trennt die Jahre 1901–1906 im Schaffen Picassos in zwei Perioden, die Blaue und die Rosa Periode. Für die Zeitgenossen hingegen bildeten die erwähnten Jahre eine Einheit. Die vorherrschende Verwendung der Farbe Rosa rechtfertigte für sie keineswegs eine Abtrennung vom Vorangegangenen, und sie sprachen durchgehend von der Blauen Periode. Auch der Künstler sah es in der Rückschau so.Mit den Bildern der Blauen und der Rosa Periode setzte sich Picasso thematisch deutlich von der seinerzeit gefeierten offiziellen Kunst ab. Ab 1904 ersetzte Picasso allmählich das vorherrschende Blau durch rosa- und orangefarbene Töne. Die Motive der Rosa Periode stammen oft aus der Welt der Schauspieler und Artisten, die damals als Symbole für das Künstlertum verstanden wurden. So wird die Rosa Periode auch als Harlekin-Periode bezeichnet. Andererseits jedoch tritt die Figur des Harlekin in beiden Perioden auf. Picasso hatte sich selbst 1905 im Pariser Kabarett Le Lapin Agile in dem Gemälde Au Lapin Agile als Harlekin mit seiner damaligen Geliebten Germaine Gargallo porträtiert. Bedingt durch die Liebe Picassos zu Fernande Olivier, dem Modell für Bildhauer und Maler, die er 1904 in Paris getroffen hatte und die zum Thema vieler seiner Gemälde werden sollte, und zusätzlich durch seine ersten finanziellen Erfolge, erscheint das Werk optimistischer. Als Hauptwerk der Rosa Periode gilt das Gemälde Die Gaukler (Les Saltimbanques) aus dem Jahr 1905. ==== Les Demoiselles d’Avignon und période nègre (1907–1908) ==== Das Gemälde Les Demoiselles d’Avignon aus dem Jahr 1907 gilt heute unbestritten als Höhepunkt von Picassos Sturm-und-Drang-Periode. Als das Werk 1939 seinen Weg in die Öffentlichkeit fand, avancierte es zum Schlüsselbild der Moderne schlechthin. Inspiriert sind die Demoiselles von den Gemälden Paul Cézannes und den Arbeiten der Fauves, etwa Le bonheur de vivre (Lebensfreude, 1905/06) von Henri Matisse. Ausgangspunkt für Picasso war seine Auseinandersetzung mit der europäischen Kunstüberlieferung und der Rückgriff auf prähistorische Kunst, der sich in seiner im Sommer 1906 beginnenden Beschäftigung mit der iberischen Kunst zeigt. Seit dem Winter 1905/06 entstanden Formstudien, die diese Auseinandersetzung widerspiegeln. Mit dem abschließenden Werk der Demoiselles begann Picassos sogenannte période nègre (Negerperiode oder Iberische Periode). In jener Phase hatte Picasso Anregungen aus der afrikanischen und, in geringem Ausmaß, ozeanischen Kunst frei kombiniert (siehe hierzu Primitivismus). Picasso selbst sprach immer nur von art nègre, da er die ozeanischen Vorbilder „afrikanisierte“. Ein Werk aus der période nègre ist das Gemälde Akt mit Kleidungsstück aus dem Sommer/Herbst 1907. ==== Kubismus (1908–1916) ==== Zentraler Ausgangspunkt für Picasso war die malerische Kunstform Cézannes aus dessen letzten Lebensjahren. Picasso hatte dessen Werk studiert und äußerte später gegenüber dem Fotografen Brassaï: „Cézanne! Er war unser aller Vater!“ Bevorzugte Motive waren Stillleben, insbesondere sind Musikinstrumente, Landschaften und Personen dargestellt. Die kubistische Periode Picassos lässt sich in zwei Phasen einteilen: in den analytischen und synthetischen Kubismus. Analytischer Kubismus (1908–1912). Picassos Methode – das „Öffnen“ der geschlossenen Form der dargestellten Körper zugunsten eines Formenrhythmus – gestattet, die Körperlichkeit der Dinge und ihre Lage im Raum darzustellen, anstatt sie durch illusionistische Mittel vorzutäuschen. Die Lichtführung spielte eine untergeordnete Rolle. In den Gemälden wurde nicht festgelegt, von welcher Seite das Licht kommt. Die dadurch hervortretenden unterschiedlichen Ansichten der Objekte bewirken die Erscheinung simultaner Perspektive, als könnten sie von allen Seiten gleichzeitig betrachtet werden. Auf diese Weise entsteht die Wirkung einer „kristallinen“ Struktur. Ein Beispiel ist das im Jahr 1910 geschaffene Porträt Ambroise Vollard. Synthetischer Kubismus (1912–1916). Der synthetische Kubismus entstand durch die von Picasso und Braque praktizierte Collagetechnik, dem papier collé. Zu den papier collés wurden sie durch ihre zuvor entstandenen dreidimensionalen Konstruktionen, den Papierplastiken angeregt, die sie aus Papier und Karton, Picasso später aus Blech, fertigten. Sie bilden die Grundlage aller nachfolgenden Collage-Techniken bis hin zum Ready-made. In den Werken tauchten nun Papier, Zeitung, Tapete, imitierte Holzmaserung, Sägespäne, Sand und ähnliche Materialien auf. Die Grenzen zwischen gemaltem und realem Gegenstand bis hin zum Objekt gehen fließend ineinander über. Auf diese Weise schufen Braque und Picasso eine Synthese aus verschiedenen Elementen, woraus sich der Name dieser Schaffensperiode ergab. Die in dieser Weise bearbeiteten Bilder bekommen einen dinghaften, materiellen Charakter, der eine neue Realität des Bildes schafft. Picassos erstes Werk dieser Art war die im Jahr 1912 entstandene Arbeit Stillleben mit Rohrstuhl (Nature morte à la chaise cannée), die die erste Collage darstellt. Eine weitere Arbeit aus dieser Phase ist Geige und Weinglas auf einem Tisch. ==== Stilistisches Nebeneinander (1916–1924) ==== Während des Ersten Weltkriegs entstand in Europa eine Sehnsucht nach „Reinheit und Ordnung“ (Retour à l’ordre). Es erfolgte eine Rückbesinnung auf die klassische Tradition und einer oft krass vorgetragenen Ablehnung aller Modernismen. Frankreich verstand sich in direkter Nachfolge der vorbildlichen Antike als Hort der Humanität und Gegner der „barbarischen Deutschen“. Die Rückbesinnung vollzog sich auch in anderen romanischen Ländern: so in Barcelona im Noucentisme, den Picasso 1917 bei seiner Spanienreise kennenlernte. In Frankreich bildeten sich zwei entgegengesetzte künstlerische Lager heraus. Das eine, mit dem Hauptvertreter Fernand Léger, versuchte, die formalen Errungenschaften des Kubismus mit den Formen der Klassik zu verbinden, um die Kunst politischen Zielen dienstbar zu machen. Das andere, mit Picasso als Hauptvertreter, folgte der unmittelbaren Auseinandersetzung mit den klassischen Werten. Die Wiederbelebung des Klassizismus in Picassos Werk war die Folge.So zeigen Picassos Arbeiten bereits ab 1914/15 Figurendarstellungen, die ganz nach der Tradition der Klassik und der europäischen Klassizismen von der formbestimmenden Linie ausgehen, wie etwa das Bildnis Olga in einem Sessel aus dem Jahr 1917. Neben den klassizistischen Akten, Porträts und szenischen Darstellungen entstanden jedoch gleichzeitig Werke des synthetischen Kubismus, wie etwa Stillleben vor einem Fenster in Saint-Raphaël aus dem Sommer 1919 oder Drei Musikanten aus dem Sommer 1921. Die Jahre 1916 bis 1924 bilden auf diese Weise scheinbar eine Zeit der Koexistenz der Gegensätze. So spottete der Kunsthistoriker Julius Meier-Graefe: „Morgens macht er Kuben, nachmittags voluminöse Frauen.“Die Komposition Drei Frauen am Brunnen aus dem Jahr 1921 zeigt drei mächtig wirkende Frauen, gekleidet wie antike Göttinnen, die sich melancholisch anblicken. Ein weiteres antikes Thema bildet das Gemälde Die Panflöte aus dem Jahr 1924 ab. ==== Auseinandersetzung mit dem Surrealismus (1925–1936) ==== Von 1925 bis 1936 wandte sich Picasso erneut intensiv plastischer Gestaltung zu. Alle zwei- und dreidimensionale Ausdrucksformen wurden in einer geradezu „explodierenden“ Fülle gegenseitiger Entsprechungen neben- und nacheinander gesetzt. Für sein Jonglieren mit der Form erhielt Picasso in jenen Jahren durch eine neue künstlerische Bewegung Rückhalt, die sich aus den Strömungen des Dadaismus herauskristallisiert hatte: den Surrealismus. Für die Surrealisten war Picasso eine Symbolfigur der Moderne. Jedoch kann Picasso im engeren Sinn nicht dem Surrealismus zugerechnet werden. Picasso beteiligte sich 1925 an der ersten Ausstellung surrealistischer Maler in der Pariser Galerie Pierre. Seine Arbeiten waren dort neben Werken von Hans Arp, Giorgio de Chirico, Max Ernst, Man Ray und Joan Miró zu sehen. Rückschauend äußerte er sich dann in den fünfziger Jahren, vor 1933 frei von surrealistischen Einflüssen gearbeitet zu haben. Dieser Äußerung Picassos steht jedoch gegenüber, dass er die Arbeiten von Giorgio de Chirico bis zu Joan Miró genau wahrgenommen und als Vorbild verwendet hatte. Besonders viele Anregungen gab ihm die surrealistische Plastik, vor allem Werke von Alberto Giacometti. Allerdings stehen diese Übernahmen nie isoliert, sondern werden von Picasso für seine Zwecke funktionalisiert und mit Anleihen aus völlig anders gearteten Kunstrichtungen kombiniert. Picasso äußerte: „Manche nennen die Arbeiten, die ich in einer bestimmten Periode geschaffen habe, surrealistisch. Ich bin kein Surrealist. Ich bin nie von der Wahrheit abgewichen: Ich bin immer in der Wirklichkeit geblieben.“Als surrealistisch inspirierte Werke gelten beispielsweise Schlafende Frau im Armsessel, 1927, die Sitzende Badende am Meeresstrand und Die Kreuzigung aus dem Jahr 1930. ==== Guernica (1937) ==== Das erste Werk, das Picasso zum Thema des Spanischen Bürgerkriegs schuf, war Traum und Lüge Francos, eine Folge von 18 Aquatinta-Radierungen, die Picasso am 8. Januar 1937 begonnen hatte. Nach der Bombardierung Gernikas im April 1937 entstand unter diesem Eindruck das großformatige, rund dreieinhalb Meter hohe und fast acht Meter breite Wandbild Guernica, das zusammen mit Paul Éluards Gedicht Der Sieg von Guernica im Juni in der Pariser Weltausstellung im spanischen Pavillon ausgestellt war.Nach anfänglicher Kritik, die sich gerade an seiner mangelnden politischen Eindeutigkeit festmachte, wurde es in der Rezeption zum berühmtesten Antikriegsbild des 20. Jahrhunderts erklärt – in weitem Abstand folgen die Bilder von George Grosz und Otto Dix über den Ersten Weltkrieg. Einige Schlüsselfiguren aus dem Gemälde, wie die Weinende Frau und das Sterbende Pferd, finden sich in seinen späteren Werken wieder. ==== Spätwerk nach 1945 ==== Nach dem Zweiten Weltkrieg änderte sich Picassos Stil erneut, indem er die Kunst der alten Meister neu interpretierte und den Wettstreit mit ihnen suchte. Beispiele sind Bildnis eines Malers nach El Greco, 1950, die ab 1954 entstandenen 15 Versionen nach Delacroix’ Frauen von Algier sowie 1957 Las Meninas nach Velazquez. In Las Meninas ersetzte Picasso die Dogge des spanischen Königs durch seinen Dachshund Lump. Die Nachschöpfungen zeichnen sich durch formalen Witz und inhaltliche Ironie aus. Die „Zitatkunst“ nahm er hiermit vorweg, sie sollte in den 1960er Jahren sehr verbreitet werden.Die von Jean Crotti erfundene spezielle Form der Glasmalerei, „Gemmail“ (Plural „Gemmaux“), wendete Picasso beispielsweise in seinem Werk Ma jolie guitar aus dem Jahr 1955 an. In dieser Technik schuf er ab 1954 etwa 60 Werke, in denen er frühere Themen wiederholte.Selbstporträts von Picasso sind selten: „Mit meinem Gesicht habe ich mich wirklich nicht oft beschäftigt.“ Stattdessen zeigte sich Picasso in verschlüsselten Selbstbildnissen, versteckt in Harlekinen, Jünglingen und Greisen sowie in den Porträts von Rembrandt und Balzac (1952). Gegen Ende seines Schaffens entstanden jedoch eine Reihe von Selbstbildnissen. Im April 1972 schuf Picasso Der junge Maler. Mit wenigen schlichten Strichen, die im Gegensatz zu den expressiven, pastos gemalten Werken der vergangenen Jahre stehen, porträtiert er sich mit breitkrempigem Hut, den Pinsel locker in der Hand haltend, vielleicht ein Versuch angesichts des Todes, wieder der kleine Pablo Ruiz zu sein. Im Juni folgte ein weiteres Selbstporträt, das ihn als alten Mann zeigt und auf dem er den Betrachter mit schreckgeweiteten Augen anstarrt. Mit dem Bild Die Umarmung, das am 1. Juni 1972 entstand, endete Picassos malerisches Werk; bis zu seinem Tod am 8. April 1973 zeichnete Picasso nur noch – es waren nicht weniger als zweihundert Bilder. Zwei Farben dominieren die Liebesszene: Blau und Rosa. Picasso greift hier noch einmal auf die Grundlagen seiner Kunst zurück: auf die Todesbilder, den Liebesrausch, die melancholische Blaue Periode und die spielerische Rosa Periode. In diesem letzten Bild rast eine blaue Welle auf ein Paar zu, das kaum zu erkennen ist; es ist nur aus dem Titel abzuleiten. Ein ekstatisches Knäuel aus Körper- und Geschlechtsteilen beherrscht das Bild. === Bildhauerei === Als nicht ausgebildeter Bildhauer schuf Picasso zwischen den Jahren 1909 und 1930 Skulpturen, die einen großen Einfluss auf die Bildhauerei des 20. Jahrhunderts haben sollten. Dreidimensionale Arbeiten begleiteten sein ganzes Werk und dienten ihm als Experimentierfeld für sein malerisches Schaffen. Seine Innovationen verfolgte er nicht weiter, sie dienten jedoch zeitgenössischen Bildhauern als Anregung wie beispielsweise den Futuristen, den Dadaisten und den Konstruktivisten.Picassos früheste Skulptur ist die kleine Bronze Sitzende Frau von 1902, die er modellierte, als er gut 20 Jahre alt war. Seine erste bedeutende Skulptur war der annähernd lebensgroße Frauenkopf (Fernande) aus dem Sommer 1909, der im Zusammenhang mit Bildern von Fernande entstand, die nach der Auseinandersetzung mit Cézannes Spätwerk bereits einen neuen, nichtperspektivischen Bildaufbau, eine reduzierte Farbplatte und Formzerlegung aufwiesen. Bis zum Jahr 1912, als die erste Collage, Stillleben mit Rohrstuhlgeflecht geschaffen wurde, entstanden keine weiteren Plastiken. Im selben Jahr schuf er die Montage Gitarre, eine „Konstruktion“ aus zusammengeleimten, mit Schnüren versehenen Kartonstücken. Aus dem Jahr 1914 stammt eine Serie von sechs Absinthgläsern, bestehend aus kubistisch geformtem Glas aus Bronze, dem ein echter Absinthlöffel und ein unechtes Stück Zucker hinzugefügt wurde und die eine unterschiedliche Bemalung aufweisen – eine unkonventionelle Behandlung des Werkstoffs Bronze. Es handelt sich hier um eine Assemblage. Der echte Löffel erinnert an ein Ready-made von Marcel Duchamp. Ab 1923 arbeitete Picasso mit seinem Freund, dem Bildhauer Julio González, zusammen, der ihn mit den verschiedenen Möglichkeiten der bildhauerischen Gestaltung weiter vertraut machte. In den Jahren 1928 und 1929 entstanden die Eisen- und Drahtskulpturen, von denen eines seiner Schlüsselwerke die Drahtkonstruktion (Denkmal für Guillaume Apollinaire) ist; sie wurde in Paris Ende 1928 geschaffen. In seiner Werkphase zu Beginn der 1930er Jahre schuf Picasso Skulpturen in realistischer Ausformung wie den Frauenkopf (Marie Thérèse), 1931, der auf die Liebesbeziehung mit seiner neuen Partnerin Marie-Thérèse Walter verweist. Zu weiteren plastischen Werken gehören beispielsweise die Assemblage Der Stierschädel von 1942, Mann mit Lamm, 1942/43, sowie das Modell für die monumentale Plastik ohne Titel aus dem Jahr 1967 in Chicago auf dem Daley Plaza; die Bürger bezeichnen sie als Chicago Picasso, und sie wird gelegentlich mit einem Vogel oder Frauenkopf verglichen. Picassos Enkel Olivier Widmaier Picasso äußerte 2004 gegenüber der Chicago Sun-Times, dass der Künstler beim Entwurf der Skulptur von seinem Modell Sylvette inspiriert gewesen sei. === Druckgrafik === In den Jahren von 1930 bis 1937 schuf Picasso eine Serie von hundert Grafiken, die nach dem Verleger und Kunsthändler Vollard die Suite Vollard benannt wurde; dieser hatte sie bei dem Künstler in Auftrag gegeben. Picasso variiert darin Themen wie Künstler und Modell und das Minotaurus-Motiv. Das Graphikmuseum Pablo Picasso Münster erwarb 2001 die komplette Grafikfolge.Ein zentrales Thema wurde der Stierkampf, den Picasso 1935 in einer Folge von Radierungen darstellte. Motive des Stiers und des Stierkampfes als traditionell spanisches Thema ziehen sich durch Picassos gesamtes Werk. Die Minotauromachie verknüpft den antiken Minotauros-Mythos mit modernen Stierkampfszenen, die beispielsweise in der 1937 entstandenen Radierungsfolge Traum und Lüge Francos und seinem Monumentalgemälde Guernica anzutreffen sind. Die Minotauromachie ist ein Zitat seines Landsmanns Francisco de Goya, der seine Radierungsfolge Tauromaquia um 1815 schuf. Die 1957 geschaffene Serie La Tauromaquia mit 26 Aquatinta-Radierungen entstand als Illustration zum ersten Lehrbuch der Stierkampfkunst, La Tauromaquia, o arte de torear, ein Buch aus dem Jahre 1796, dessen Autor einer der bekanntesten Stierkämpfer seiner Zeit war, der Torero José Delgado y Galvez, genannt Pepe Illo.Ab November 1945 wandte er sich, nach ersten Lithografien der Jahre 1919 bis 1930, in der Werkstatt von Fernand Mourlot in Paris erneut der Technik der Lithografie zu; es entstanden beispielsweise Tête de femme, Les deux femmes nues und Le Taureau.1968 entstanden zwei große Radierfolgen: Maler und Modell sowie Die Liegenden, die nochmals die zentralen Themen seines Werkes aufnahmen: Zirkus, Stierkampf und erotische Motive. Gebrauchsgrafik Picasso war ferner in der Gebrauchsgrafik tätig – Herstellung von Pressezeichnungen, Plakaten und Buchillustrationen sowie mit Entwürfen für Kalenderbilder, Karten und Notenheften. Die gebrauchsgrafischen Arbeiten dienten zunächst noch dem Broterwerb des jungen Künstlers, später entstanden sie als Gefälligkeiten für befreundete Schriftsteller, Komponisten, Verleger und Galeristen. Er widmete sich in Vallauris 1948 neben der Keramik der Technik des Linolschnitts, den er zusammen mit dem Drucker Hidalgo Arnera ausführte. Plakate für Stierkämpfe und Keramikausstellungen der Gemeinde waren seine ersten Werke. Sein bekanntestes Plakat ist die Friedenstaube für den Pariser Weltfriedenskongress im Jahr 1949. Für die Friedenstaube, die zum weltweit bekannten Symbol wurde, schuf Picasso etwa hundert Zeichnungen; ihre Gestaltung beruht auf impressionistischen Stilmitteln. Im April 1949 wurde die Friedenstaube erstmals auf dem Pariser Kongress, dem „Congrès mondial des partisans de la paix“ ausgestellt. Weitere Tauben folgten für die Kongresse in Warschau und Wien.Buchillustrationen Picasso illustrierte Werke aus der griechischen Antike bis zu zeitgenössischer Literatur in bibliophilen Ausgaben. André Bretons Clair de terre aus dem Jahr 1923 enthält seine ersten Buchillustrationen, es folgten Abbildungen für Werke von Luis de Góngora, Francesco Petrarca, Tristan Tzara, Antonin Artaud und Pierre Reverdy. Das bekannteste Werk ist das von Vollard 1931 herausgegebene Le Chef d’Œuvre Inconnu (Das unbekannte Meisterwerk) von Honoré de Balzac mit Illustrationen des Künstlers. Mit dem Protagonisten Frenhofer, einem Maler, verband ihn der Beruf und die Straße, in der jener gelebt hatte – die Rue des Grands-Augustins. === Weitere Werkgattungen === Bühnenbilder und -vorhänge, Kostüme Schon in frühen Jahren hatte Picasso das Theater als Inspirationsquelle für seine Kunst entdeckt. Ab 1905 hatte er den melancholischen Harlekin und traurige Artisten als Motive seiner Gemälde gewählt. Die Auseinandersetzung mit dem Theater zieht sich durch sein gesamtes Werk. Im Jahr 1917 schuf Picasso sechs Bühnenbilder, den Bühnenvorhang und die Kostüme für Sergei Djagilews Balletts Russes, die nach einem Thema Jean Cocteaus und der Musik Erik Saties das Ballett Parade aufführten. 1919 folgten Bühnenbilder für Manuel de Fallas Oper Der Dreispitz, 1920 für Igor Strawinskis Pulcinella und 1924 für Saties Ballett Les Aventures de Mercure. Die Frankfurter Schirn zeigte Ende 2006 bis Anfang 2007 mehr als 140 Werke: Entwürfe für Bühnenbilder, Fotografien, Kostüme, Bühnenvorhänge, Zeichnungen und Gemälde. Viele originale Bühnenbilder und Kostüme sind jedoch zerstört oder verschollen. Von den ursprünglichen Choreografien existieren oft nur noch wenige Schwarz-Weiß-Fotografien.Keramik Im Frühjahr 1947 bezog Picasso ein Atelier in dem französischen Ort Vallauris, nachdem er im Jahr zuvor bei der jährlichen Töpferausstellung zufällig Suzanne und Georges Ramie, die Eigentümer der Werkstatt Madoura, einer Keramikfabrik, getroffen hatte. Picasso unternahm seine ersten Versuche mit Keramik und beschloss, sich dieser Kunst zu widmen. Seine Vorgehensweise war unorthodox. Er schuf Faune und Nymphen aus dem Ton, goss die Erde wie Bronze, dekorierte Platten und Teller mit seinen bevorzugten Motiven wie Stierkampf, Frauen, Eulen, Ziegen, benutzte ungewöhnliche Unterlagen (Pignates-Scherben, Brennkapseln oder zerbrochene Ziegel) und erfand eine weiße Tonmasse aus nicht emaillierter, mit Reliefs versehener Keramik. Innerhalb von zwanzig Jahren schuf Picasso eine große Anzahl keramischer Originalwerke.Luminografie Obwohl sich Picasso selbst wenig mit der Fotografie befasste, wusste er die Möglichkeiten des Mediums durchaus für seine künstlerischen Experimente zu nutzen. So entstand 1949 in Vallauris in Zusammenarbeit mit dem Fotografen Gjon Mili eine Serie von Lichtmalereien, sogenannte Luminografien. Picasso tauschte dazu den Zeichenstift mit einer Taschenlampe und malte in einem abgedunkelten Raum vor Milis Kamera Figuren in die Luft. Durch Langzeitbelichtung wurden seine Lichtbahnen auf dem Foto als „Luminogramme“ deutlich.Medailleur Als Designer schuf Picasso die Medaillen für die seit 1974 in Tel Aviv, Israel, alle drei Jahre stattfindende Arthur Rubinstein International Piano Master Competition. === Literarisches Werk === Neben seinem bildnerischen Werk hinterließ Pablo Picasso Dutzende von Gedichten. Seine Texte finden sich in der Literaturliste unter Peter Schifferli: Pablo Picasso. Wort und Bekenntnis. Die gesammelten Dichtungen und Zeugnisse. Zudem trat Picasso als Dramatiker in Erscheinung. Unter dem Eindruck der deutschen Besatzung von Paris und eines harten Winters entstand 1941 in nur wenigen Tagen das Stück Le Désir attrapé par la queue, das zuerst in der Zeitschrift Message erschien. Es wurde im März 1944 unter der Regie von Albert Camus in der Wohnung von Michel Leiris unter Mitwirkung von Simone de Beauvoir, Jean-Paul Sartre, Raymond Queneau, Dora Maar und Valentine Hugo szenisch gelesen. Seine Erstaufführung erlebte es 1950 im Londoner Watergate Theatre.Paul Celan übersetzte dieses Drama unter dem Titel Wie man Wünsche beim Schwanz packt ins Deutsche. Seine deutschsprachige Erstaufführung fand 1956 im Kleintheater Bern unter der Regie von Daniel Spoerri und der Mitwirkung unter anderem von Meret Oppenheim (Bühnenbild und Kostüme) statt. Veit Relin bearbeitete das Stück 1971 für das ZDF. Der Deutschlandfunk schrieb anlässlich der vom SDR 1980 produzierten Hörspielversion dieser „dadaistischen, erotischen Komödie“: „Das vom Geist der Psychoanalyse inspirierte Stück ist eine (aber)witzige Collage absurder Szenen und surrealer Begegnungen eines Dichters, in der Traumbilder und Elemente der realen Welt zu einer befremdlichen Synthese verschmelzen.“1948 schrieb Picasso ein weiteres Schauspiel Les quatre petites, das unter dem Titel Vier kleine Mädchen ins Deutsche übersetzt und 1981 in London uraufgeführt wurde. == Rezeption == === Zeugnisse von Zeitgenossen === Picassos Landsmann Salvador Dalí reiste 1926 zum ersten Mal nach Paris und besuchte Picasso. „Als ich bei Picasso ankam, war ich so tief bewegt und voller Respekt, als hätte ich eine Audienz beim Papst“. Im Jahr 1934 lieh Picasso Dalí das Geld für eine Überfahrt in die USA, das Dalí nie zurückzahlen sollte. Die Wertschätzung sollte sich später ändern, sie wurden Konkurrenten und Dalí im Gegensatz zu Picasso ein Anhänger Francisco Francos. Bekannt wurde Dalís Ausspruch: „Picasso es pintor, yo también; Picasso es español, yo también; Picasso es comunista, yo tampoco.“ („Picasso ist Maler, ich auch; Picasso ist Spanier, ich auch; Picasso ist Kommunist, ich auch nicht.“)Der surrealistische Schriftsteller André Breton lobt in seiner Schrift Der Surrealismus und die Malerei aus dem Jahr 1928 den Künstler: „Man muß bar sein allen Vorstellungsvermögens von der außerordentlichen Prädestination Picassos, um auch nur zu wagen, ein Nachlassen bei ihm zu befürchten. O Picasso, der Du den Geist bis zu seinem höchsten Grade nicht des Widerspruchs, aber der Befreiung getrieben hast […].“ Valentine Hugo schuf ein surrealistisches Porträt Picassos, das seit 1951 als Geschenk der Künstlerin im Besitz des Centre Pompidou ist und dessen Entstehung mit den Jahren 1934 und 1948 angegeben wird.Der Galerist Ambroise Vollard berichtet in seiner Schrift Erinnerungen eines Kunsthändlers 1936 über die Reaktion des Publikums anlässlich der Ausstellungen seiner Werke: „Jedes neue Werk Picassos entsetzt das Publikum, bis das Erstaunen sich in Bewunderung verwandelt.“ Maurice de Vlaminck äußert sich 1942 kritisch: „Er zieht keinen Strich, legt keine Farbe auf, ohne an ein Original zu erinnern. Giorgione, El Greco, Steinlen, Lautrec, griechische Masken und Figurinen: Er benutzt alles […] Das einzige, was Picasso nicht fertigbringt: einen ‚Picasso‘, der von Picasso stammt“ (Nachdruck in „Mein Testament“, 1959). Max Ernst dagegen bewundert Picasso in einem Interview des Spiegel im Jahr 1970 mit den Worten: „Picasso, gegen den kann doch niemand ankommen, der ist doch das Genie.“ === Beziehung zu Matisse === Die Beziehung zu Henri Matisse ist in folgendem Abschnitt dargestellt: → Matisse’ Beziehung zu Picasso === Der Mythos Picasso – „Picasso und die Mythen“ === Kein anderer Künstler des 20. Jahrhunderts war so umstritten und keiner ist so berühmt geworden wie Picasso. Keiner war so früh schon, so lange und schließlich so übereinstimmend als der entscheidende Künstler seiner Epoche gedeutet worden. Keiner wurde so oft zum Thema in Dichtungen oder Filmen. Schon Picassos Vater soll dem Sohn die Ehre erwiesen haben wie das von Sabartés wiedergegebene Zitat Picassos zeigt: „Da gab er mir seine Farben und seine Pinsel und hat nie mehr gemalt“. Der Vater soll dies zu einem Zeitpunkt getan haben, als der junge Pablo von ihm nichts mehr lernen konnte.Die Meinungen über Picasso zeigen alle Extreme der gängigen Auffassungen von der Moderne und steigerten sich ins Unübersehbare. Bereits die beachtliche Menge an biografischer Überlieferung stellt „nur einen Tropfen“ dar im Vergleich zu dem seit Jahrzehnten fließenden Strom von Stellungnahmen, Kritiken, Untersuchungen und Büchern zum Werk Picassos. Für Klaus Herding ist das Werk Picassos die Herausforderung der Avantgarde schlechthin, und in den Augen Werner Spies’ ist Picasso wiederum „fraglos der größte Zeichner“ des 20. Jahrhunderts. Nach William Rubin repräsentiert das Werk Picassos durch die „Vielfalt seiner Stile, dem Abwechslungsreichtum und seiner Schöpferkraft die Kunst des 20. Jahrhunderts als Ganzes.“ 2002 zeigte das Bucerius Kunst Forum in Hamburg die Ausstellung „Picasso und die Mythen“. Petra Kipphoff rezensierte in der Zeit: „Picasso und die Frauen, Picasso und die Kinder, Picasso und der Tod, Picasso und der Krieg, Picasso, der Maler, der Plastiker, der Zeichner, der Grafiker: Kein anderer Künstler des 20. Jahrhunderts ist so viel ausgestellt, so extensiv publiziert und kommentiert worden. […] Für den Spanier und bekennenden Macho Pablo Picasso aber war der Stier der Fixpunkt der Mythen und die präferierte andere Identität. Der Minotaurus, Ergebnis eines sorgfältig vorbereiteten Seitensprungs der kretischen Königin Pasiphae mit einem Stier, ist der Anfang aller Männlichkeitssagen. Picasso hat ihn nicht nur immer wieder zitiert, sondern spielt selber auch mit der Doppelrolle von Mann und Stier, mal heiter, mal aggressiv. Und dass der Mythos der Vorzeit sich auch seine Bestätigung auf der Straße im 20. Jahrhundert holen kann, zeigt der berühmte Stierschädel von 1942, bei dem Picasso den Sattel und die Lenkstange eines Fahrrades so montierte, dass in der Tat die Silhouette eines Stierkopfes sichtbar wird.“ === „Hommage à Picasso“ === 69 Exponate von zeitgenössischen Künstlern, die Picasso und sein Werk zitieren, präsentierte eine Ausstellung mit dem Titel „Hommage à Picasso“ anlässlich der 1000-Jahr-Feier der Stadt Kronach im Jahr 2003. Die Künstler hatten ihm ihre künstlerische Reverenz zu seinem 90. Geburtstag im Jahr 1971 erweisen wollen. Die präsentierten Linolschnitte, Radierungen und Lithografien stammen aus den Jahren 1971 bis 1974, und wurden 1973 und 1974 erstmals in einem Mappenwerk, herausgegeben vom Propyläen Verlag, Berlin, und der Pantheon Presse, Rom, publiziert. Die Mappe umfasst unter anderem Werke von Künstlern wie Henry Moore, Max Bill, Allen Jones, Robert Motherwell, Jacques Lipchitz, Giacomo Manzù, Pierre Alechinsky, Joseph Beuys, Roy Lichtenstein, Michelangelo Pistoletto, Richard Hamilton, Walter De Maria und Hans Hartung, die mit ihrer spezifischen künstlerischen Formensprache Picasso ehrten.Dem im Jahr 1973 entstandenen Werk Joan Mirós unter dem Titel Hommage à Picasso gingen bereits im Jahr 1912 Juan Gris’ und 1914 Paul Klees gleichnamige Bilder voran. Die Deutsche Guggenheim zeigte 2006 eine von der Konzeptkünstlerin Hanne Darboven als Auftragsarbeit aktualisierte und erweiterte Version ihrer Arbeit Hommage à Picasso aus den Jahren 1995/96. Darboven stellte 9720 Schriftblätter in 270 Rahmen in einer Rauminstallation eine Kopie von Picassos Gemälde Sitzende Frau im türkischen Kostüm gegenüber, – sein Original entstand 1955 – die durch eine Serie von Skulpturen, einer bronzenen Büste Picassos bis hin zu aus Birkenzweigen geflochtenen Eseln komplettiert wurde. Ein weiterer Teil der Arbeit war Opus 60, eine während der Ausstellung aufgeführte musikalische Komposition. === Neubewertung von Picassos Spätwerk === Nachdem bereits 1992/93 die Hamburger Kunsthalle, die Kunsthalle der Hypo-Kulturstiftung, München und die Neue Nationalgalerie, Berlin in der Ausstellung „Picasso, Die Zeit nach Guernica 1937–1973“ das Spätwerk des Künstlers zeigten, fand anlässlich von Picassos 125. Geburtstag in Ausstellungen der Albertina, Wien und der Kunstsammlung Nordrhein-Westfalen, Düsseldorf, unter dem Titel „Picasso – Malen gegen die Zeit“ im Jahr 2006 eine Neubewertung von Picassos Spätwerk statt, das lange Zeit in der Kritik gestanden hatte. „Unzusammenhängende Schmierereien, ausgeführt von einem rasenden Greis im Vorzimmer des Todes“, urteilte beispielsweise der Sammler und Kunsthistoriker Douglas Cooper über das verstörende wilde Spätwerk Picassos.Den Katalog zur Ausstellung gab Werner Spies heraus, der Picasso persönlich gekannt hatte und als ausgezeichneter Experte seines Werkes gilt. „Pablo Picasso hat die Kunst des 20. Jahrhunderts so nachhaltig geprägt wie kein zweiter. Unter den zahlreichen Phasen und Stilperioden in seinem Schaffen nimmt das Alterswerk eine besondere Stellung ein. Seine späten Bilder, die mit allen Fasern an Sinnlichkeit und Umarmung hängen, die Kuss und Kopulation in Großaufnahmen zeigen, sind geprägt von einer großen Rastlosigkeit, die darauf zielt, den Tod zu exorzieren. Den meisterhaft schnellen, ‚wilden‘ Gemälden stehen technisch akribisch ausgeführte Zeichnungen gegenüber, in denen eine einzigartige Erzählfreude vorherrscht. Anhand von fast 200 Werken – Gemälde, Zeichnungen, Druckgrafiken und Skulpturen – die besondere Arbeitsweise und Dialektik von Picassos später Kunst. Vor allem der spannungsvolle Dialog von Malerei und Zeichnung, entwickelt in den Jahren in Mougins, zeigt den größten Künstler des 20. Jahrhunderts im Wettlauf mit der ihm noch verbleibenden Zeit.“ === Film, Theater, Video === Der französische Filmregisseur Henri-Georges Clouzot brachte 1956 unter dem Titel Picasso (Le Mystere Picasso) einen im Reportage-Stil hergestellten Dokumentarfilm über Pablo Picasso und dessen Arbeitsweise in die Kinos. In Jean Cocteaus Film aus dem Jahr 1960, Le Testament d’Orphée (Das Testament des Orpheus), hatte Picasso einen Cameo-Auftritt. 1978 wurde die schwedische Filmkomödie Die Abenteuer des Herrn Picasso (Picassos äventyr) gedreht, die Regie führte Tage Danielsson. Im Jahr 1996 entstand die Filmbiografie Mein Mann Picasso (Surviving Picasso), in der Sir Anthony Hopkins den Maler verkörperte. Der Film spielt in den zehn Jahren von 1943 bis 1953, als Gilot Picassos Lebensgefährtin war. Picassos Bild Mädchen mit Taube spielt eine zentrale Rolle in der von Adolf Kabatek ersonnenen Disney-Geschichte Picasso-Raub in Barcelona (1985), ein Comic, in der Dagobert Duck mit seiner Verwandtschaft allerlei Abenteuer in und um Barcelona erleben. In dem 184-minütigen Dokumentarfilm 13 Tage im Leben von Pablo Picasso (Frankreich 1999, ARTE-Edition/absolut Medien), hergestellt von Pierre Daix, Pierre Philippe und Pierre-André Boutang, werden dreizehn Tage, die Wendepunkte in Picassos Leben darstellen, anhand von Kunstwerken, Skizzenbüchern, Gesprächen und Filmausschnitten dokumentiert. 1993 verfasste der amerikanische Schauspieler Steve Martin das Bühnenstück Picasso at the Lapin Agile. Es beschreibt ein imaginäres Treffen im Jahr 1904 von Pablo Picasso und Albert Einstein im Pariser Kabarett Lapin Agile.Der anderthalbstündige Fernsehfilm Matisse & Picasso: A Gentle Rivalry entstand im Jahr 2000; er befasst sich mit den Porträts der zwei „Giganten“ in der Kunst des 20. Jahrhunderts. Er zeigt selten veröffentlichte Fotografien ihrer Gemälde und Skulpturen sowie Fotos und Filme aus Archiven, die sie bei der Arbeit zeigen. Geneviève Bujold ist die Stimme von Françoise Gilot, Robert Clary ist Matisse und Miguel Ferrer Picasso. Die mit einem nationalen Emmy ausgestattete Produktion stammt von KERA-Dallas/Fort Worth/Denton in Zusammenarbeit mit dem Kimbell Art Museum, Fort Worth, Texas.In dem Theaterstück des irischen Autors Brian McAvera Picassos Frauen (Picasso’s Women) erzählen acht Frauen im Rahmen einer fiktiven Pressekonferenz von ihrem Leben mit dem Künstler in der Reihenfolge der Bekanntschaft mit Picasso: Zunächst spricht Fernande Olivier, gefolgt von Eva Gouel, Gabrielle Lespinasse, Olga Chochlowa, Marie-Thérèse Walter, dann Dora Maar, Françoise Gilot und zuletzt Jacqueline Roque. Die Buchausgabe erschien 1998. Ab 2003 fanden Aufführungen in Form von Tourneen statt.Der italienische Dramatiker und Maler Dario Fo verfasste das Bühnenstück Picasso desnudo, das 2012 uraufgeführt wurde. Die hierfür entstandenen Bilder empfand er selbst nach als „Falso Picasso“, da ihm die Bildrechte zu teuer erschienen. Sie wurden im November 2014 in einer Stuttgarter Galerie gezeigt.Ebenfalls 2012 wurde der Film La banda Picasso unter der Regie des Spaniers Fernando Colomo gedreht. Er befasst sich mit dem spektakulären Raub des Gemäldes der Mona Lisa, der anfangs Guillaume Apollinaire und Picasso unter Verdacht geraten ließ.Die 2013 entstandene Dokumentation von Hugues Nancy, Picasso, l’inventaire d’une vie (in der deutschen Fassung Looking for Picasso), zeigt chronologisch viele seiner Werke wie in einem Tagebuch, insbesondere auch bis dahin nicht gezeigte Werke aus dem persönlichen Nachlass. Seine Kernthese ist, Françoise Gilot zitierend, ebenso John Richardson, einem Wechsel in der Beziehung zu Frauen folgte bei Picasso ein Stilwechsel. Sie enthält Interviews mit Familienmitgliedern, Freunden, Anwälten und Biografen. Eine Fernsehserie des National Geographic Channel zeigte ab April 2018 in der Reihe Genius in der deutschsprachigen Fassung unter dem Titel Genie: Picasso das Leben des Künstlers. Der Hauptdarsteller des älteren Picasso ist Antonio Banderas.Im Fernsehen auf Arte wurde der Film Blow up – Picasso am 12. April 2021 gezeigt. Er ist abrufbar bis zum 14. April 2024.Anlässlich des 50. Todestags Picassos sendete Deutschlandfunk Kultur am 1. April 2023 einen Beitrag von Susanne Luerweg und Sabine Oelze.Am 26. Mai 2023 sendete der NDR einen Beitrag mit dem Titel Pablo Picasso: Maler und Macho. === Kunstmarkt === Unter den teuersten Gemälden der Welt befinden sich Werke von Picasso, darunter: Les femmes d’Alger (Version "O"), Akt mit grünen Blättern und Büste, Junge mit Pfeife sowie Dora Maar mit Katze. Am 13. Mai 2021 wurde das 1932 vollendete Werk Sitzende Frau am Fenster (Marie-Thérèse) auf einer Auktion bei Christie’s in New York veräußert. Innerhalb von 19 Minuten Auktionszeit erreichte das Bild einen Verkaufspreis von 90 Millionen Dollar. Inklusive der Kommission und Gebühren wurde die symbolisch wichtige Marke von 100 Millionen Dollar Auktionswert überboten, sodass das Werk insgesamt für 103,4 Millionen Dollar (umgerechnet etwa 85,4 Millionen Euro) den Besitzer wechselte.Picassos Werke blieben auch nicht von Fälschungen verschont. Bereits im Jahr 1974 drehte Orson Welles die Dokumentation F for fake, in der er Kunstfälscher porträtierte; unter ihnen ist der ungarische Maler Elmyr de Hory, der serienweise „Picassos“ täuschend ähnlich kopierte. === „Picasso-Fund“ 2010 === Bei Picassos früherem Elektriker Pierre Le Guennec und seiner Frau wurden 2010 271 bisher unbekannte Werke Picassos entdeckt, die angeblich in Guennecs Garage 40 Jahre lang lagerten und als Lohn für handwerkliche Arbeiten deklariert wurden. Ein sich anschließender Prozess wegen Hehlerei wurde im März 2015 mit einer Strafe von zwei Jahren auf Bewährung abgeschlossen. Näheres findet sich im Artikel zum Nachlassverwalter Claude Picasso. === Diebstähle === Der Wert des Gemäldes Buste de Femme aus 1938 wurde 2019 auf 25 Millionen Euro geschätzt. Unbekannte hatten es 1999 von einer Yacht, auf Anker vor Antibes, Frankreich gestohlen. Die Versicherung hatte damals eine Belohnung von 400.000 Euro ausgesetzt. Ein Kunstdetektiv hatte einen Hinweis aus der kriminellen Unterwelt erhalten und fand 2019 das Bild bei einem Geschäftsmann in Amsterdam. Der Diebstahl ist verjährt, das Bild wurde der Versicherung übergeben.Vom 19. auf den 20. Mai 2010 wurde u. a. Taube mit Erbsen, 1911 oder Frühjahr 1912 kubistisch gemalt, aus dem Musée d’art moderne de la Ville de Paris gestohlen und aus dem Rahmen geschnitten. 2017 wird vom Prozess gegen drei Verdächtige berichtet, das Bild bleibt verschollen.Im Juni 2021 wurden die Gemälde Frauenkopf von Picasso aus dem Jahr 1939 und ein beschädigtes Werk von Piet Mondrian in einem Lagerhaus 50 km entfernt von Athen gefunden, die 2012 aus der Nationalgalerie (Athen) geraubt worden waren. Ein Verdächtiger wurde ermittelt. Picassos Werk wird auf 16,5 Millionen Euro geschätzt. Er hatte das Bild Griechenland höchstpersönlich für den Widerstand gegen die Nationalsozialisten übergeben. === Tourismus === Die „Picasso Route“ in der katalanischen Stadt Barcelona führt zu seiner Ausbildungsstätte „La Llotja“, zum Künstlercafé Els Quatre Gats, dem Ort seiner ersten Ausstellung, zum Museu Picasso, und zeigt die drei Friese an der Fassade des Col·legi d’Arquitectes, die nach Picassos Zeichnungen von dem norwegischen Künstler Carl Nesjar (1920–2015) geschaffen wurden, sowie den Wohnort der Familie, das Gebäude Porxos d’en Xifré.Seit 2009 gibt es die „Route Picasso“ in Südfrankreich, die von Avignon bis Antibes führt. Sie leitet den kunstinteressierten Touristen zu Lebens- und Wirkungsstätten des Künstlers. === Reaktionen zum 50. Todestag im April 2023 === Im Jahr 2023 gibt es nicht nur weltweit viele Ausstellungen von Picassos Werken, sondern auch starke Kritik an seinem Verhalten Frauen gegenüber. Sprüche wie „Für mich gibt es nur zwei Arten von Frauen: Göttinnen und Fußabtreter“ lösen heute, im Zeitalter von #MeToo, einen Sturm der Entrüstung aus. Das Zitat stammt aus Françoise Gilots Buch Life with Picasso, das sie zusammen mit Carlton Lake 1964 verfasst hatte. Der Spruch lautet dort: „There are only two types of women: goddesses and doormats“. Sein machistischer und sexistischer Umgang mit Frauen wurden in zahlreichen Büchern und Artikeln veröffentlicht. Durch feministische Lesarten hat sich der Blick auf den spanischen Maler geändert. Man müsse sich fragen, wie man Picasso heute zeigen kann, meint beispielsweise Cécile Debray, die Direktorin des Pariser Musée Picasso. Als sie ihr Amt Ende 2021 antrat, stellte sie fest, dass Picassos Aura vor allem in akademischen Kreisen und bei der Jugend nachgelassen habe, sagte sie im Gespräch mit der Deutschen Presse-Agentur. == Ausstellungen (Auswahl) == Werke von Pablo Picasso wurden in der Galerie 291 (1911), der Armory Show (1913), der documenta 1 (1955), der documenta II (1959), der documenta III (1964), der documenta 6 (1977) und der documenta 8 im Jahr 1987 in Kassel ausgestellt. 1913: Pablo Picasso, Moderne Galerie Heinrich Thannhauser, München. Weltweit erste große Galerieausstellung 1925: Erste gemeinsame Ausstellung der Surrealisten in der Galerie Pierre, Paris 1932: Picasso, Kunsthaus Zürich. Weltweit erste Museumsretrospektive 1936: International Surrealist Exhibition, Burlington Galleries, London 1938: Exposition Internationale du Surréalisme, Galerie Beaux-Arts, Paris 1939: Retrospektive im Museum of Modern Art, New York 1971: Erste Retrospektive eines lebenden Künstlers im Louvre 1973/74: Hommage à Picasso, Kestner-Gesellschaft, Hannover 1986: Picasso – Pastelle, Zeichnungen, Aquarelle, Düsseldorf, Kunstsammlung Nordrhein-Westfalen, Tübingen, Kunsthalle (Katalog von Werner Spies bei Hatje) 1993: Picasso. Die Zeit nach Guernica 1937–1973. München, Kunsthalle der Hypo-Kulturstiftung 1996/97: Picasso et le portrait. Galeries nationales, Grand Palais, Paris 2000/01: Picasso. Figur und Porträt, Hauptwerke aus der Sammlung Bernard Picasso im Bank Austria Kunstforum 2002/03: Matisse–Picasso. Tate Gallery of Modern Art, London (anschließend: Galeries nationales, Grand Palais, Paris; Museum of Modern Art, New York) 2006: Ausstellungen zum 125. Geburtstag 2007: Picasso – Malen gegen die Zeit, Alterswerk (Malereien, Grafiken). Albertina, Wien und Kunstsammlung Nordrhein-Westfalen, Düsseldorf 2009: Picasso et les maîtres. Galeries nationales, Grand Palais, Paris 2010/11: Picasso: Peace and Freedom, Tate, Liverpool; Picasso: Frieden und Freiheit, Albertina, Wien 2010/11: Picasso (Hommage an die Ausstellung von 1932), Kunsthaus Zürich 2012: Frauen. Pablo Picasso, Max Beckmann, Willem de Kooning, Pinakothek der Moderne, München 2013: Becoming Picasso: Paris 1901, Courtauld Gallery, London 2014: Sylvette, Sylvette, Sylvette. Picasso und das Modell, Kunsthalle Bremen, 22. Februar bis 22. Juni 2014 2015/16: Picasso Sculpture, Museum of Modern Art, New York, 14. September 2015 bis 7. Februar 2016 2016: Picasso. Fenster zur Welt, Bucerius Kunst Forum, Hamburg, 6. Februar bis 16. Mai 2016 2016/17: Picasso. Sculptures, Palais des Beaux-Arts (BOZAR), Brüssel, 26. Oktober 2016 bis 5. März 2017 2017: Olga Picasso, Musée Picasso, Paris, 21. März bis 3. September 2017 2019: Der junge Picasso – Blaue und Rosa Periode, Fondation Beyeler, Riehen/Basel, 3. Februar 2019 bis 26. Mai 2019 2019/20: Magic Paintings. Musée Picasso, Paris, 1. Oktober 2019 bis 23. Februar 2020 2020: Pablo Picasso. Kriegsjahre 1939 bis 1945. K20/K21 – Kunstsammlung Nordrhein-Westfalen, Düsseldorf, 15. Februar bis 14. Juni 2020 2021: Picasso & Les Femmes d’Alger. Museum Berggruen, Berlin. 21. Mai bis 29. August 2021 2022: Picasso. Keramik. Ostholstein-Museum Eutin, 23. August bis 13. November 2022 2023: Ausstellungen zum 50. Todesjahr Picassos 2023: Picasso: Künstler und Modell – Letzte Bilder, Fondation Beyeler Riehen, 19. Februar bis 1. Mai 2023 == Werke (Auswahl) == Bildnerisches Werk ab 1889: Einige Jugendwerke Picassos 1897: Wissenschaft und Barmherzigkeit, Öl auf Leinwand, 197 × 249,5 cm, Museu Picasso, Barcelona 1901: Evokation – Das Begräbnis Casagemas, Öl auf Leinwand, 150 × 90 cm, Musée Picasso, Paris. 1901: La Gommeuse, Öl auf Leinwand, 81,3 × 54 cm, Privatsammlung. 1902: Eingeschlafene Trinkerin (Buveuse assoupie), Öl auf Leinwand, 80 × 60,5 cm, Kunstmuseum Bern 1902: Die beiden Schwestern, Öl auf Leinwand, 152 × 100 cm, Eremitage, Sankt Petersburg 1902: Melancholie, Öl auf Leinwand, 100 × 69,2 cm, Detroit Institute of Arts, Detroit 1903: Familie Soler, Öl auf Leinwand, 150 × 200 cm, Le Musée d’Art moderne et d’Art contemporain, Liège (Lüttich) 1903: Das Leben (La Vie), Öl auf Leinwand, 197 × 127 cm, Cleveland Museum of Art 1904: Das karge Mahl, Radierung, 46,3 × 37,7 cm, Ulmer Museum, Ulm 1904: Die Büglerin, Öl auf Leinwand, 116 × 73 cm, The Solomon R. Guggenheim Museum, New York Abb. 1904: Frau mit Krähe, Holzkohle, Pastel und Aquarell auf Papier, 64,6 × 49,5 cm, Toledo Museum of Art 1905: Sitzender Harlekin, Aquarell und Tusche auf Karton 57,2 × 41,2 cm Sammlung Berggruen, Berlin 1905: Junge mit Pfeife, Öl auf Leinwand, 100 × 81,3 cm, Privatbesitz 1905: Die Gaukler (Les Saltimbanques), Öl auf Leinwand, 212 × 229 cm, National Gallery of Art, Washington 1906: Bildnis Allan Stein, Gouache auf Karton, 74 × 59,7 cm, Baltimore Museum of Art Abb. 1906: Bildnis Gertrude Stein, Öl auf Leinwand, 100 × 81 cm, The Metropolitan Museum of Art, New York 1906: Selbstbildnis, Öl auf Leinwand, 93 × 73 cm, The Philadelphia Museum of Art 1907: Les Demoiselles d’Avignon, Öl auf Leinwand, 243,9 × 233,7 cm, Museum of Modern Art, New York 1908: Die große Dryade, Öl auf Leinwand, 185 × 108 cm, Eremitage, St. Petersburg 1910: Porträt Ambroise Vollard, Öl auf Leinwand, 92 × 65 cm, Puschkin-Museum, Moskau Abb. 1910: Bildnis Daniel-Henry Kahnweiler, Öl auf Leinwand, 101 × 73 cm, The Art Institute of Chikago 1910: Frau mit Senftopf, Öl auf Leinwand, etwa 29 × 24 cm, Gemeentmuseum, The Hague Abb. 1919: Schlafende Bauern, Tempera, Aquarell und Bleistift, 31,1 × 48,9 cm, Museum of Modern Art, New York 1920: Zwei sitzende Frauen, Öl auf Leinwand, 195 × 163 cm, Kunstsammlung Nordrhein-Westfalen, Düsseldorf 1921: Drei Musikanten, Öl auf Leinwand, 200,7 × 222,9 cm, Museum of Modern Art, New York 1921: Drei Frauen am Brunnen, Öl auf Leinwand, 203,9 × 1744 cm, Museum of Modern Art, New York 1923: Die Flöte des Pan, Öl auf Leinwand, 205 × 174,5 cm, Musée Picasso, Paris Abb. 1924: Paolo als Harlekin, Öl auf Leinwand, 130 × 97 cm, Musée Picasso, Paris 1925: Die Umarmung (Der Kuss), 130,5 × 97,7 cm, Musée Picasso, Paris Abb. 1925: Die drei Tänzerinnen (Les Trois Danseuses), Öl auf Leinwand, 215 × 142 cm, Tate Modern, London 1927: Sitzende Frau, Öl auf Holz, 130 × 97 cm, The Museum of Modern Art, New York 1930: Sitzende Badende am Meeresstrand, Öl auf Leinwand, 163,2 × 129,5 cm, The Museum of Modern Art, New York 1932: Akt mit grünen Blättern und Büste, Öl auf Leinwand, 162 × 130 cm, Privatbesitz 1932: Mädchen vor dem Spiegel, Öl auf Leinwand, 162,5 × 130 cm, The Museum of Modern Art, New York 1932: Le Rêve (Gemälde) (Der Traum), Öl auf Leinwand, 130 × 98 cm, Privatbesitz 1935: Interieur mit zeichnendem Mädchen, Öl auf Leinwand, 130 × 195 cm, Museum of Modern Art, New York 1937: Bildnis Dora Maar, Öl auf Leinwand, 92 × 65 cm, Musée Picasso, Paris Abb. 1937: Porträt Lee Millers als Arlésienne, Öl auf Leinwand, Museu Picasso, Barcelona Abb. 1937: Die weinende Frau, Tate Modern, London Abb. 1937: Guernica, Öl auf Leinwand, 349,3 × 776,6 cm, Museo Reina Sofia, Madrid 1939: Nächtlicher Fischfang in Antibes, Öl auf Leinwand, 205,7 × 345,4 cm, Museum of Modern Art, New York 1941: Dora Maar mit Katze (Dora Maar au Chat), Öl auf Leinwand, 130 × 97 cm, Privatbesitz 1942: Das Morgenständchen (L'aubade, Serenade), Öl auf Leinwand, 195 × 265 cm, Centre Pompidou 1945: Das Beinhaus, Öl auf Leinwand, 199,8 × 250,1 cm, Museum of Modern Art, New York 1946: La femme-fleur, Porträt von Francoise Gilot, Öl auf Leinwand, 146 × 89 cm, Collection Particuliére 1951: Massaker in Korea, Öl auf Sperrholz, 109,5 × 209,5 cm, Musée Picasso, Paris 1954: Porträt von Sylvette, Öl auf Leinwand, 81 × 65 cm, Privatbesitz Abb. Bildauswahl aus einer Porträtreihe Sylvette 1954/55: Les Femmes d’Alger (Die Frauen von Algier), 15 Versionen, inspiriert von Delacroix’ Die Frauen von Algier 1956: Das Atelier „La Californie“ in Cannes, Öl auf Leinwand, 89 × 116 cm, Musée Picasso, Paris 1957: Las Meninas nach Velazquez, Öl auf Leinwand, 194 × 260 cm, Museu Picasso, Barcelona Abb. 1958: Der Sturz des Ikarus, 800 × 1000 cm, Wandgemälde UNESCO, Delegates’ Lobby, Paris Abb. 1961: Frühstück im Freien nach Manet, Öl auf Leinwand, 60 × 73 cm, Museum Ludwig, Köln 1963: Frau mit Spiegel, Öl auf Leinwand, 116 × 89 cm, Privatbesitz 1964: Femme au chat assise dans un fauteuil, Öl auf Leinwand, 130 × 81 cm, Christie’s, New York an Dimitri Mavromatis 1965: Nackte Frau, Öl auf Leinwand, 115,8 × 88,5 cm, Christie’s, London 1969: Zwei Kämpfer III, roter Filzstift auf Papier, 11,7 × 18,4 cm, Sotheby’s, London 1961: Mann mit Pfeife, Öl auf Leinwand, 130,2 × 97,2 cm, Sotheby’s, London 1968: Frauenraub, Radierung, Staatliche Kunstsammlungen Dresden 1972: Der junge Maler III, Öl auf Leinwand, 91 × 72,5 cm, Musée Picasso, Paris 1972: Selbstporträt, Wachsstift auf Papier, 65,7 × 50,5 cm, Fuji Television Gallery, Tokio Abb. 1973: Sitzender Mann, rote Kreide auf Papier, 33,7 × 26,7 cm, Sotheby’s, LondonBildhauerisches Werk 1905: Der Hofnarr, Bronze, 40 × 35 × 22 cm, Privatsammlung 1909: Kopf von Fernande, Bronze, 41,3 cm hoch, Musée Picasso, Paris Abb. 1928: Drahtkonstruktion (Denkmal für Guillaume Apollinaire), Metalldraht, 50,5 × 40,8 × 18,5 cm, Musée Picasso, Paris 1929–1930: Frau in einem Garten, Bronze, 210 × 117 × 82 cm, Sammlung Paloma Picasso Lopez, Paris 1932: Kopf einer Frau, Bronze, 128,5 × 54,5 × 62,5 cm, Musée Picasso, Paris 1934: Frau mit Blättern, Bronze, 38 × 18,7 × 25,8 cm, Musée Picasso, Paris 1942: Stierschädel, Assemblage aus Fahrradsitz und Fahrradgriff, 33,5 × 43,5 × 19 cm, Musée Picasso, Paris Abb. 1943: Totenkopf, Bronze, 25 × 21 × 31 cm, Musée Picasso, Paris 1944: Mann mit Schaf, Bronze, 220 × 78 × 72 cm, Philadelphia Museum of Art, Philadelphia 1950: Frau mit verschränkten Armen, Bronze, 34 × 10 × 10 cm, Sammlung Paloma Picasso Lopez, Paris Frau mit Kinderwagen, diverse Materialien, 203 × 145 × 61 cm, Museum Ludwig, Köln, 1951: Pavian mit Jungem, Bronze, 53,3 × 33,7 × 42,7 cm, The Museum of Modern Art, New York 1952–1953: Lesende Frau, Bronze bemalt, 15,5 × 35,5 cm, Privatsammlung, Paris 1959: Der Arm, Bronze, 57,8 × 16,5 × 16 cm, Hirschhorn Museum and Sculpture Garden, Smithsonian Institution, Washington, D.C. 1962: Kopf, Eisen, Metall, 105 × 70 × 48 cm, The Art Institute of Chicago, Chicago 1964: Sitzender Faun, Glas, handgeblasen, 11,5 cm, Sotheby’s, London 1972: Monument, 395,3 × 149,2 × 319,3 cm, The Museum of Modern Art, New York == Sammlungen in Museen == Umfangreiche Werkgruppen zu Picasso sind in Deutschland im Museum Berggruen in Berlin, im Sprengel Museum Hannover, in der Kunstsammlung Nordrhein-Westfalen in Düsseldorf, im Museum Ludwig in Köln sowie in der Staatsgalerie Stuttgart ausgestellt. Sein grafisches Werk ist nahezu komplett im Kunstmuseum Pablo Picasso Münster zu sehen. In Österreich sind Werke des spanischen Malers in Dauerausstellungen im Albertina („Monet bis Picasso“. Die Sammlung Batliner) und im mumok – Museum moderner Kunst Stiftung Ludwig in Wien zu sehen. Bedeutende Sammlungen von Gemälden Picassos in der deutschsprachigen Schweiz werden im Kunstmuseum Basel, in der Fondation Beyeler in Riehen, in der Sammlung Rosengart in Luzern sowie im Kunstmuseum Bern gezeigt. In Frankreich finden sich Sammlungen im Musée Picasso in Paris, im Musée national Picasso La Guerre et la Paix de Vallauris, im Lille Métropole Museum für Moderne Kunst, Zeitgenössische Kunst und Art Brut in Villeneuve-d’Ascq sowie im Musée Picasso Antibes im Chateâu Grimaldi. In Russland im Puschkin-Museum in Moskau und in der Eremitage, Sankt Petersburg. In Spanien im Museu Picasso, Barcelona, im Museo Reina Sofía, Madrid sowie im Museo Picasso in Málaga und in den USA im Museum of Modern Art, New York und im Art Institute of Chicago. == Ehrungen == 1950 Ernennung zum Ehrenbürger von Vallauris 1962 Internationaler Lenin-Friedenspreis 1971 Ernennung zum Ehrenbürger von Paris 1990 wurde der Asteroid (4221) Picasso nach ihm benannt. == Literatur == Werkverzeichnisse und HilfsmittelLexika Pierre Daix: Dictionaire Picasso. Robert Laffont, Paris 1995. Johannes M. Fox: Picassos Welt. Ein Lexikon. Bd. 1–2. Projekte Verlag Cornelius, Halle 2008.Werkübersichten Pablo Picasso: Blaue u. rosa Periode, mit einer Einführung von Otto Benesch, Desch Verlag, München/Wien/Basel 1954. DNB-Link Herschel Chipp, Alan Wofsy: Picasso-Project. Picasso’s Paintings, Watercolours, Drawings and Sculpture. A. Comprehensive Illustrated Catalogue 1885–1973, bisher 22 Bde. Alan Wofsy, San Francisco 1995 ff. Juan-Eduardo Cirlot: Pablo Picasso. Das Jugendwerk eines Genies. DuMont, Köln 1972. Christian Zervos: Catalogue Raisonné des Œuvres de Pablo Picasso. Éditions Cahiers d’Art, Paris, 1932–1978 (Werkverzeichnis, 33 Bände mit 16.000 S/W-Repros; Neuauflage, hrsg. von Staffan Ahrenberg, 2014) Enrique Mallen: Pablo Picasso: The Aphrodite Period (1924–1936). Sussex Academic Press, Brighton 2020, ISBN 978-1-78976-008-8.Grafik und Handzeichnung Brigitte Baer, Bernhard Geiser: Picasso. Peintre-Graveur. Catalogue Raisonne de l’oeuvre grave et lithographie et des monotypes 1899–1972 Bd. I–VII [+ addendum zum Catalogue Raisonné 1969–1972]. Kornfeld, Bern 1984–1996. Georges Bloch: Picasso. Catalogue de l’oeuvre gravé et lithographié. Bd. 1–2 und 4. Kornfeld, revidierte Aufl. Bern 1975, Bd. 2 und 4 in nochmals revidierter Auflage im Rahmen des Picasso-Project (s. Weblinks) Wofsy, San Francisco 2004; Bd. 3 Catalogue de l’oeuvre gravé ceramique. Kornfeld und Klipstein, Bern 1972. Arnold Glimcher: Je suis le cahier. 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Erinnerungen aus den Jahren 1905–1913. Vorwort Paul Léautaud. Übers. Gertrud Droz-Rüegg. Diogenes, Zürich 1989, ISBN 978-3-257-21748-3 (Es gibt frühere Ausgaben.- Original Picasso et ses amis. 1933) Geneviève Laporte: Si tard le soir le soleil brille. Éditions Plon, Paris 1973 (Weitere Bücher über Picasso folgten.) Antony Penrose: Der Junge, der Picasso biss (Kinderbuch). Aus dem Englischen von Egbert Baqué, Knesebeck, München 2010, ISBN 978-3-86873-260-3. Marina Picasso: Die vergessenen Kinder. Bastei-Lübbe, Bergisch Gladbach 1998, ISBN 3-404-61403-8. Marina Picasso: Und trotzdem eine Picasso. Leben im Schatten meines Großvaters. List, München 2001, ISBN 3-471-78443-8. Jaime Sabartés: Picasso. Gespräche und Erinnerungen. Mit 17 Porträts und Zeichnungen von Picasso. Arche, Zürich 1956. Gertrude Stein: Picasso. Sämtliche Texte 1909–1938. Arche, Hamburg, Neuausgabe 2003, ISBN 978-3-7160-2314-3. Olivier Widmaier Picasso (Sohn von Picassos Tochter Maya): Picasso – Porträt der Familie. 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Januar 2023. == Weblinks == Literatur von und über Pablo Picasso im Katalog der Deutschen Nationalbibliothek Werke von und über Pablo Picasso in der Deutschen Digitalen Bibliothek Publikationen von und über Pablo Picasso im Katalog Helveticat der Schweizerischen Nationalbibliothek Pablo Picasso in Swisscovery, dem schweizerischen Suchportal der wissenschaftlichen Bibliotheken Literatur von und über Pablo Picasso im Katalog der Bibliothek des Instituto Cervantes in Deutschland Pablo Picasso. Tabellarischer Lebenslauf im LeMO (DHM und HdG) Pablo Picasso auf kunstaspekte.de Offizielle Webseite: Succession Picasso, Paris pablo-ruiz-picasso.net: Biografie und Werke nach Jahren gelistet Übersicht mit Fotos und Gemälden über Picassos Frauen (englisch) Materialien von und über Pablo Picasso im documenta-Archiv Im Labyrinth des Minotaurus. Verena Ott über Schreiben als Übersetzen im schriftstellerischen Werk Picassos, ReLÜ, Rezensionszeitschrift, 13, 2012 Werke von Pablo Picasso in der Europeana Zum 50. Todestag: Picasso: Zehn Fakten über die Kunst und das Leben des berühmten Malers, auf dw.com, 8. April 2023, abgerufen am 8. April 2023 == Abbildungen == == Einzelnachweise ==
https://de.wikipedia.org/wiki/Pablo_Picasso
Saturn (Planet)
= Saturn (Planet) = Der Saturn ist von der Sonne aus gesehen der sechste Planet des Sonnensystems und mit einem Äquatordurchmesser von etwa 120.500 Kilometern (9,5-facher Erddurchmesser) nach Jupiter der zweitgrößte. Mit 95 Erdmassen hat er jedoch nur 30 % der Masse Jupiters. Wegen seines auffallenden und schon im kleinen Fernrohr sichtbaren Ringsystems wird er oft auch der Ringplanet genannt, obwohl auch bei den anderen drei Gasplaneten Ringsysteme gefunden wurden. Der Saturn hat eine durchschnittliche Entfernung zur Sonne von gut 1,43 Milliarden Kilometern, seine Bahn verläuft zwischen der von Jupiter und der des sonnenferneren Uranus. Er ist der äußerste Planet, der auch mit bloßem Auge gut sichtbar ist, und war daher schon Jahrtausende vor der Erfindung des Fernrohrs bekannt. Als Gasplanet hat Saturn keine feste Oberfläche. Seine oberen Schichten bestehen zu etwa 96 % Stoffanteil aus Wasserstoff. Von allen Planeten des Sonnensystems weist Saturn die geringste mittlere Dichte auf (etwa 0,69 g/cm³). Von den anderen Planeten hebt sich der Saturn durch seine ausgeprägten, hellen und schon lange bekannten Ringe ab, die zu großen Teilen aus Wassereis- und Gesteinsbrocken bestehen. Der scheinbare Winkeldurchmesser des Planetenkörpers beträgt je nach Erdentfernung zwischen 15″ und 20″, jener der Ringe zwischen 37″ und 46″. Die sogenannten Äquatorstreifen der Wolkenschichten sind auf Saturn weniger deutlich ausgeprägt als bei Jupiter, was wahrscheinlich mit einer hochlagernden Dunstschicht zusammenhängt. Bis 2023 wurden 145 Monde des Saturns entdeckt. Der mit Abstand größte Saturnmond ist Titan mit 5150 Kilometern Durchmesser. Benannt ist der Planet nach dem römischen Gott des Reichtums und der Ernte, Saturn. Sein astronomisches Symbol ♄ stilisiert die Sichel des Gottes. == Umlaufbahn und Rotation == === Umlaufbahn === Der Saturn läuft auf einer annähernd kreisförmigen Umlaufbahn mit einer Exzentrizität von 0,054 um die Sonne. Sein sonnennächster Punkt, das Perihel, liegt bei 9,04 AE und sein sonnenfernster Punkt, das Aphel, bei 10,12 AE. Seine Umlaufbahn ist mit 2,48° leicht gegen die Ekliptik geneigt. Weitere Bahndaten sind die Länge des aufsteigenden Knotens mit 113,72°, die Länge des Perihels mit 92,43° und die mittlere Anomalie mit 49,94° zur Epoche J2000.0. Für einen Umlauf um die Sonne benötigt der Saturn ungefähr 29 Jahre und 166 Tage. === Rotation === Die Äquatorebene des Saturn ist 26,73° gegen die Bahnebene geneigt. Er rotiert nicht wie ein starrer Körper, sondern zeigt als Gasplanet eine differentielle Rotation: Die Äquatorregionen rotieren schneller (eine Rotation in 10 Stunden, 13 Minuten und 59 Sekunden) als die Polregionen (10 Stunden, 39 Minuten und 22 Sekunden). Die Äquatorregionen werden als „System I“, die Polregionen als „System II“ bezeichnet. Aus Messungen des Saturnmagnetfeldes durch Raumsonden wurde für das Saturninnere eine noch etwas langsamere Rotationsperiode von 10 Stunden, 47 Minuten und 6 Sekunden hergeleitet. Durch neuere, kombinierte Auswertung von Messdaten, welche die Raumsonden Pioneer 11, Voyager 1 und 2 sowie Cassini-Huygens von der Schwerkraft, den Windgeschwindigkeiten und mittels Radio-Okkultationen geliefert haben, sind zwei US-amerikanische Wissenschaftler 2007 zu dem Ergebnis gekommen, dass der Saturnkern eine Umdrehung in 10 Stunden, 32 Minuten und 35 Sekunden absolviert und somit um sieben Minuten schneller ist, als bislang gedacht. Demnach müsste der Kern kleiner sein als vermutet. In Hinsicht auf die Entstehung des Gasplaneten könnte das für die Scheiben-Instabilitäts-Hypothese sprechen. Nach dieser Hypothese ist der Saturn aus einer kollabierenden Verdichtung der protoplanetaren Scheibe entstanden. Früher wurde zumeist die Kern-Aggregations-Hypothese als Entstehungsmodell angenommen, nach der Saturn aus einem Kern von über zehn Erdmassen entstanden ist. In letzterem Modell hätte sich der Kern als Erstes aus festen Bestandteilen der Gas- und Staubscheibe gesammelt und erst danach das Gas aus seiner Umgebung ausreichend angezogen.Anfang 2019 wurde eine nochmals verbesserte Messung der Rotationsgeschwindigkeit des Saturn veröffentlicht, die ebenfalls aus Daten der Cassini-Mission abgeleitet werden konnte. Danach rotiert der Planet in zehn Stunden, 33 Minuten und 38 Sekunden einmal um seine eigene Achse.Die Präzessionsperiode der Saturnachse liegt nach einer Modellrechnung und Beobachtungen von Durchquerungen der Ringebene in einer Größenordnung von zwei Millionen Jahren. == Physikalische Eigenschaften == Der Saturn gehört zu den sogenannten Gasriesen. Mit einem Durchmesser von gut 120.000 km ist er nach Jupiter der zweitgrößte Planet des Sonnensystems. Obwohl sein Volumen 58 % des Volumens des Jupiters entspricht, beträgt seine Masse weniger als ein Drittel der Jupitermasse (etwa 95 Erdmassen). Der Saturn hat daher eine sehr geringe mittlere Dichte von nur 0,687 g/cm³. Im Durchschnitt ist sein Material also leichter als Wasser unter Normalbedingungen, was für keinen anderen Planeten des Sonnensystems zutrifft. Die Temperatur beträgt bei 1 bar Atmosphärendruck (dies wird bei Gasplaneten allgemein als „Oberfläche“ definiert) 134 K (−139 °C) und bei 0,1 bar Druck 84 K (−189 °C). === Obere Schichten === Seine Atmosphäre enthält wie die des Jupiters überwiegend Wasserstoff und Helium, jedoch in einer anderen Zusammensetzung. Der Wasserstoffanteil ist mit etwa 93 % der Masse deutlich höher, der Heliumanteil mit nur knapp 7 % entsprechend geringer. Des Weiteren kommen Spuren von Methan, Ammoniak und anderen Gasen vor.Während die Atmosphäre des Jupiters die Elemente Wasserstoff und Helium im gleichen Verhältnis wie die Sonne enthält, ist der Heliumanteil beim Saturn wesentlich geringer. Die eher detailarme, gelblich-braune Wolkendecke enthält überwiegend gefrorene Ammoniakkristalle. === Innerer Aufbau === Die Atmosphäre, die wie bei Jupiter hauptsächlich aus Wasserstoff besteht, geht mit zunehmender Tiefe aufgrund des hohen Druckes allmählich vom gasförmigen in den flüssigen Zustand über. Es existiert jedoch keine definierte Oberfläche, da der Druck in den Tiefen der Atmosphäre jenseits des kritischen Punkts ansteigt und unter diesen Bedingungen eine Unterscheidung zwischen Gas und Flüssigkeit nicht mehr möglich ist. Weiter in der Tiefe geht der Wasserstoff schließlich in seine metallische Form über. Diese Schichten haben jedoch im Gegensatz zum Jupiter aufgrund der kleineren Masse andere Mächtigkeitsverhältnisse. So beginnt im Saturn die metallische Schicht erst bei 0,47 Saturnradien (Jupiter: 0,77 Jupiterradien). Unterhalb dieser Schicht liegt ein Gesteinskern (genauer: Eis-Silikat-Kern), für den Modellrechnungen eine Masse von circa 16 Erdmassen ergeben. Damit besitzt der Saturnkern einen Masseanteil von 25 %, der des Jupiter lediglich 4 %. Das Innere des Gesteinskerns ist sehr heiß, es herrscht eine Temperatur von 12.000 Kelvin. Als Grund dafür wird unter anderem der Kelvin-Helmholtz-Mechanismus angenommen, eine langsame gravitationsbedingte Kompression. Dadurch strahlt der Saturn 2,3-mal so viel Energie ab, wie er von der Sonne empfängt. Ein alternativer oder zusätzlicher Mechanismus kann die Erzeugung von Wärme durch das „Herausregnen“ von Heliumtröpfchen im Inneren des Saturn sein. Wenn die Tröpfchen durch den Wasserstoff mit geringerer Dichte absteigen, setzt der Prozess Wärme durch Reibung frei und hinterlässt Saturns äußere Schichten, die an Helium verarmt sind. Diese absteigenden Tröpfchen könnten sich in einer Heliumhülle angesammelt haben, die den Kern umgibt. Es wird vermutet, dass Niederschläge von Diamanten im Saturn auftreten. === Wetter === Die Wolken, die in der Atmosphäre des Saturn zu sehen sind, bestehen vor allem aus auskristallisiertem Ammoniak. Saturn besitzt mindestens zwei Wolkenschichten. Die obere verdeckt die untere, wobei letztere nur im infraroten Bereich sichtbar ist, da Saturn Wärme aus seinem Inneren abstrahlt. Die obere Wolkenschicht des Saturn reflektiert das Licht der Sonne, wodurch sie gut beobachtet werden kann, außerdem weist sie gröbere Strukturen auf als die untere Schicht. Der Nordpol ist der Mittelpunkt eines Polarwirbels und einer stabilen Struktur in der Form eines nahezu regelmäßigen Sechsecks mit einem Durchmesser von fast 25.000 Kilometern. Das anscheinend mehrere 100 Kilometer tiefe Hexagon wurde bereits 1980 und 1981 von den Voyager-Sonden aufgenommen; es ist auch auf den von der Saturnsonde Cassini übermittelten Bildern von 2006 wieder zu sehen. Das Hexagon rotiert alle 10 Stunden 39 Minuten und 24 Sekunden einmal um sich selbst. Das ist die gleiche Zeitspanne, die auch die Radioemissionen von Saturn für eine Umdrehung benötigen. Zur Entstehung dieses Effekts existieren mehrere Hypothesen. Am Südpol befindet sich ein ortsfester, hurrikanähnlicher Sturm mit einem Durchmesser von etwa 8000 Kilometern. Auf Saturn wurden weitere Stürme beobachtet, wie zum Beispiel der „Große Weiße Fleck“, ein Effekt, der alle 29 Jahre auf der nördlichen Hemisphäre beobachtet werden kann und mit dem „Großen Roten Fleck“ auf dem Jupiter vergleichbar ist.Wissenschaftler entdeckten 2005 durch Beobachtungen mit dem Keck-Teleskop auf Hawaii einen „Hot Spot“ (eine im Vergleich zur Umgebung warme Stelle) am Südpol des Saturn. Damit unterscheidet sich Saturn von allen anderen Planeten, bei denen die kältesten Orte in den Polargebieten liegen. Mithilfe des Orbiters Cassini spürten im Januar 2008 Astronomen am Nordpol gleichfalls einen „Hot Spot“ auf, obwohl es dort schon jahrelang dunkel ist. Diese „Hot Spots“ entstehen durch Atmosphärengas, das sich in Richtung der Pole bewegt. Dabei wird es komprimiert und aufgeheizt; schließlich sinkt es am Pol in Form eines Wirbels in die Tiefen der Saturnatmosphäre ab. Es scheint sich bei beiden Wirbeln um langlebige Strukturen zu handeln, deren Existenz nicht von der Sonneneinstrahlung abhängt. === Magnetfeld === Der Saturn besitzt ein eigenes Magnetfeld, dessen Form der einfachen, symmetrischen Form eines magnetischen Dipols entspricht. Die Feldstärke am Äquator beträgt etwa 20 µT und ist damit etwa 20-mal schwächer als das äquatoriale Feld Jupiters (420 µT) und etwas schwächer als das äquatoriale Erdfeld (30 µT). Das magnetische Dipolmoment, das ein Maß für die Stärke des Magnetfeldes bei vorgegebenem Abstand vom Zentrum des Planeten ist, ist mit 4,6 · 1018 T·m3 580-mal stärker als das Magnetfeld der Erde (7,9 · 1015 T·m3). Das Dipolmoment Jupiters ist allerdings mit 1,55 · 1020 T·m3 trotz des ähnlich großen Planetendurchmessers etwa 34-mal so groß. Daher ist die Magnetosphäre des Saturn deutlich kleiner als die des Jupiters und erstreckt sich nur zeitweise knapp über die Umlaufbahn des Mondes Titan hinaus. Einzigartig im Sonnensystem ist die fast exakt parallele Ausrichtung der Magnetfeldachse und der Rotationsachse. Während z. B. bei Erde und Jupiter diese Achsen etwa 10° gegeneinander geneigt sind, sind sie bei Saturn parallel (Messfehler zurzeit (2017) kleiner als 0.06°). Sehr wahrscheinlich wird das Magnetfeld durch einen Mechanismus erzeugt, der dem Dynamo im Inneren Jupiters entspricht und eventuell von Strömen im metallischen Wasserstoff angetrieben wird. Es gibt aber auch konkurrierende Theorien, die die Ursache des Magnetismus in anderen Materialien und Schichten des Gasplaneten suchen.Genau wie bei anderen Planeten mit ausgeprägtem Magnetfeld wirkt die Magnetosphäre des Saturn als effizienter Schutzschild gegen das Weltraumwetter. Da der Sonnenwind mit Überschallgeschwindigkeit auf die Magnetosphäre trifft, bildet sich auf der sonnenzugewandten Seite eine Stoßwelle aus, die zur Bildung einer Magnetopause führt. Auf der sonnenabgewandten Seite bildet sich, wie bei Erde und Jupiter, ein langer Magnetschweif. Der große Mond Titan, dessen Umlaufbahn noch im Inneren der Magnetosphäre liegt, trägt durch seine ionisierten oberen Atmosphärenschichten (Ionosphäre) zum Plasma der Magnetosphäre bei. Die genaue Struktur der Magnetosphäre ist äußerst komplex, da sowohl die Ringe des Saturn als auch die großen inneren Monde mit dem Plasma wechselwirken. == Ringsystem == Den Saturn umgibt in seiner Äquatorebene ein auffälliges Ringsystem, das bereits in einem kleinen Teleskop problemlos zu sehen ist. Das Ringsystem wurde 1610 von Galileo Galilei entdeckt, der es aber als „Henkel“ deutete. Christiaan Huygens beschrieb die Ringe 45 Jahre später korrekt als Ringsystem. Giovanni Domenico Cassini vermutete als Erster, dass die Ringe aus kleinen Partikeln bestehen und entdeckte 1675 die Cassinische Teilung.Die Ringe werfen einen sichtbaren Schatten auf den Saturn – wie auch umgekehrt der Saturn auf seine Ringe. Der Schattenwurf auf die Saturnoberfläche ist umso ausgeprägter, je mehr die recht dünne Hauptebene des Ringsystems im Laufe eines Saturnjahres gegenüber der Sonne geneigt ist. Es gibt mehr als 100.000 einzelne Ringe mit unterschiedlichen Zusammensetzungen und Farbtönen, welche durch scharf umrissene Lücken voneinander abgegrenzt sind. Der innerste beginnt bereits etwa 7.000 km über der Oberfläche des Saturn und hat einen Durchmesser von 134.000 km, der äußerste hat einen Durchmesser von 960.000 km. Die größten Ringe werden nach der Reihenfolge ihrer Entdeckung von innen nach außen als D-, C-, B-, A-, F-, G- und E-Ring bezeichnet. Die Lücken zwischen den Ringen beruhen auf der gravitativen Wechselwirkung mit den zahlreichen Monden des Saturn sowie der Ringe untereinander. Dabei spielen auch Resonanzphänomene eine Rolle, die auftreten, wenn die Umlaufszeiten im Verhältnis kleiner ganzer Zahlen stehen. So wird die Cassinische Teilung durch den Mond Mimas verursacht. Einige kleinere Monde, sogenannte Hirten- oder auch Schäfermonde, kreisen direkt in den Lücken und an den Rändern des Ringsystems und stabilisieren dessen Struktur. Neue Messungen und Aufnahmen der Raumsonde Cassini haben ergeben, dass die Ringkanten und damit die Abtrennung der Ringe noch schärfer sind als bisher angenommen. So hatte man vermutet, dass sich in den Lücken ebenfalls einige Eisbrocken befinden, was aber nicht der Fall ist. Die Ringteilchen umkreisen den Saturn rechtläufig in dessen Äquatorebene; somit ist das Ringsystem ebenso wie die Äquatorebene um 27° gegen die Bahnebene geneigt. Alle 14,8 Jahre befindet sich das Ringsystem in der sogenannten „Kantenstellung“, in der der dünne Rand der Ringe genau der Erde zugewandt ist, so dass das Ringsystem nahezu unsichtbar wird. Das war zuletzt im Jahre 2009 der Fall. Mit dem Spitzer-Weltraumteleskop wurde am 6. Oktober 2009 ein wesentlich weiter außen liegender, vom Hauptringsystem unabhängiger Ring anhand seiner Infrarotstrahlung entdeckt, der mit dem Mond Phoebe den Saturn rückläufig umkreist. Visuell ist er auf Grund seiner sehr geringen Materiedichte nicht sichtbar. Der Ring befindet sich im Radius von 6 bis 12 Millionen Kilometern um den Saturn und seine Ringebene ist gegenüber den schon länger bekannten Ringen um 27° geneigt. Er verrät sich nur durch seine Wärmestrahlung mit ca. 80 Kelvin. Sein Material soll vom Saturnmond Phoebe stammen. Inzwischen (2015) wurde mit dem Weltraumteleskop WISE festgestellt, dass der Ring sogar von 6 Mio. – 16 Mio. km Saturnabstand reicht. Er besteht überraschend hauptsächlich aus sehr kleinem, dunklem Staub, der extrem dünn verteilt ist. Ein weiteres Phänomen sind radiale, speichenartige Strukturen, die sich von innen nach außen über die Ringe erstrecken und hierbei enorme Ausmaße annehmen: bei einer Breite von rund 100 Kilometern können sie bis zu 20.000 Kilometer lang werden. Diese „Speichen“ wurden erstmals von der Sonde Voyager 2 bei ihrer Passage im Jahr 1981 entdeckt, später konnte die Beobachtung unter anderem vom Weltraumteleskop Hubble bestätigt werden. Rätselhafterweise verschwanden diese Strukturen ab 1998 allmählich und konnten dann erst wieder ab September 2005 auf Aufnahmen der Raumsonde Cassini nachgewiesen werden. Als Ursache für die Streifenbildung wurde zunächst eine kurzlebige Wechselwirkung mit dem Magnetfeld des Saturn vermutet. US-amerikanische Astronomen fanden 2006 jedoch eine andere Erklärung für das Rätsel um die Speichenstrukturen: demnach bestehen die Speichen aus mikrometergroßen, durch die Ultraviolettstrahlung der Sonne bzw. den äußeren Fotoeffekt geladenen Staubpartikeln, die sich durch elektrostatische Kräfte aus den Ringen angehoben werden. Je nach Position des Saturn auf seiner Umlaufbahn ändert sich der Winkel zwischen den Saturnringen und der Sonne und somit auch der Einfallswinkel der Ultraviolettstrahlung. Die dunklen Streifen entstehen in periodischen Abständen immer, wenn die Sonne in der Ringebene des Saturn steht und bestehen dann für etwa acht Jahre. Eine streifenlose Phase hält dagegen sechs bis sieben Jahre lang an. Der Grund für die elektrostatische Aufladung der Ringe wird weiter kontrovers diskutiert. Eine andere Erklärung sei, dass Blitze in der oberen Atmosphäre des Saturn auftreten, welche Elektronenstrahlen erzeugen, die die Ringe treffen. Zur Entstehung der Saturnringe gibt es verschiedene Theorien. Nach der von Édouard Albert Roche bereits im 19. Jahrhundert vorgeschlagenen Theorie entstanden die Ringe durch einen Mond, der sich dem Saturn so weit genähert hat, dass er durch Gezeitenkräfte auseinandergebrochen ist. Der kritische Abstand wird als Roche-Grenze bezeichnet. Der Unterschied der Anziehungskräfte durch den Saturn auf beiden Seiten des Mondes überstieg in diesem Fall die mondinternen Gravitationskräfte, so dass der Mond nur noch durch seine materielle Struktur zusammengehalten worden wäre. Nach einer Abwandlung dieser Theorie zerbrach der Mond durch eine Kollision mit einem Kometen oder Asteroiden. Nach einer anderen Theorie sind die Ringe gemeinsam mit dem Saturn selbst aus derselben Materialwolke entstanden. Diese Theorie spielte lange Zeit keine große Rolle, denn es wurde vermutet, dass die Ringe ein nach astronomischen Maßstäben eher kurzlebiges Phänomen von höchstens einigen 100 Millionen Jahren darstellen. Dies hat sich jedoch im September 2008 relativiert. Larry Esposito, der US-Astronom, der Anfang der 1980er-Jahre Alter und Gewicht der Saturnringe vermessen hatte, korrigiert seine Schätzungen von damals. Neuen Forschungsergebnissen nach könnte das Alter des Ringsystems mehrere Milliarden Jahre betragen, womit von einem kurzlebigen Phänomen keine Rede mehr sein könnte. Die bisherigen Erkenntnisse über das Alter des Ringsystems wurden aus der Menge an Sternenlicht gewonnen, das durch die Ringe hindurchtritt. Esposito und seine Kollegen haben aber nun das Verhalten von mehr als 100.000 Teilchen in den Saturnringen simuliert. Dies war aufgrund neuer Daten der Raumsonde Cassini, die 2004 den Saturn erreichte, möglich. Diese Daten waren genauer als die jener Sonden, die den Saturn in den 1970er- und 1980er-Jahren besuchten. Die anhand der neuen Messdaten vorgenommenen Kalkulationen haben gezeigt, dass innerhalb der Ringe dynamische Prozesse ablaufen, die eine Kalkulation der Masse anhand des einfallenden Sternenlichts viel schwieriger gestalten als bislang gedacht. Den neu errechneten Daten zufolge könnten die Ringe mehr als dreimal so schwer sein. == Monde == Von den heute 145 bekannten Monden des Saturn ist Titan der größte mit einem Durchmesser von 5150 km. Die vier Monde Rhea, Dione, Tethys und Iapetus besitzen Durchmesser zwischen 1050 km und 1530 km. Telesto, Tethys und Calypso bewegen sich mit jeweils 60 Grad Versatz auf derselben Bahn um den Saturn. Ein zweites Gespann von „Trojaner-Monden“ sind Helene (Saturn XII – S/1980 S 6) und Polydeuces, die sich unter je 60 Grad Versatz eine Bahn mit Dione teilen.Eine weitere Besonderheit stellen die Monde Janus und Epimetheus dar, welche auf zwei fast gleichen Umlaufbahnen den Saturn umlaufen. Alle vier Jahre kommen sie einander sehr nahe und tauschen durch die gegenseitige Anziehungskraft ihre Umlaufbahnen um den Saturn. 1905 gab William Henry Pickering bekannt, einen weiteren Mond entdeckt zu haben. Pickering schätzte den Durchmesser auf 61 km. Der Mond wurde Themis genannt, da er aber nie wieder gesichtet wurde, gilt er als nicht existent. Anfang Mai 2005 wurde ein weiterer Mond entdeckt, provisorisch S/2005 S 1 genannt, der mittlerweile den offiziellen Namen Daphnis trägt. Er ist der zweite Mond neben Pan, der innerhalb der Hauptringe des Saturn kreist.Im Juni 2006 wurden mit dem Teleskop auf dem Mauna Kea, auf Hawaii, neun weitere Monde entdeckt, die auf stark elliptischen Bahnen zwischen 17,5 und 23 Millionen Kilometern den Saturn entgegen dessen Rotationsrichtung umkreisen. Daraus lässt sich schließen, dass es sich um eingefangene Überreste von Kometen oder Kleinplaneten handeln muss. Der 2009 vom Cassini Imaging Science Team entdeckte Mond S/2009 S 1 ist mit einem Durchmesser von ungefähr 300 Metern der bislang kleinste entdeckte Mond des Saturn. Zum Zeitpunkt des Eintritts der Raumsonde Cassini in den Saturnorbit wurden kleinere Körper mit nur etwa 100 m Durchmesser gefunden, vermutlich Überreste eines ehemals größeren Körpers, die kleine „Möndchen“ beziehungsweise die Saturnringe bilden. Die Forscher schätzen etwa eine Zahl von 10 Millionen solcher kleinen Gebilde in den Saturnringen. Sie erhoffen sich nun, mithilfe dieser Überreste eine eindeutige Erklärung für die Entstehung der Saturnringe zu finden. 2019 verkündete ein Team um Scott S. Sheppard von der Carnegie Institution for Science die Entdeckung von 20 neuen Monden mithilfe des Subaru-Teleskop des Mauna-Kea-Observatoriums auf Hawaii. 17 dieser Monde umkreisen Saturn entgegen dem Planetendrehsinn, so dass die Zahl rückläufiger Monde, die bisher schon die Mehrheit ausmachte, auf nun 63 steigt. Die Namen der Monde sollen aus den Vorschlägen eines bis 6. Dezember 2019 laufenden Wettbewerbs bestimmt werden und müssen aus der skandinavischen, gallischen oder Inuit-Mythologie stammen. == Beobachtung == Wie alle oberen Planeten ist der Saturn am besten in den Wochen um seine Opposition zu beobachten, wenn er der Erde am nächsten sowie der Sonne gegenüber steht und um Mitternacht kulminiert – vgl. die Liste der Saturnpositionen. Die Größe seiner im Fernrohr ab 20-facher Vergrößerung gut sichtbaren „Scheibe“ schwankt allerdings übers Jahr nur um ±10 Prozent, nicht wie bei Jupiter um fast 20 Prozent. Den Saturnring und den größten Mond Titan erkennt man bereits im Feldstecher, die Äquatorstreifen ab etwa 40-facher Vergrößerung, und alle nächstkleineren 4–5 Monde im Achtzöller (Standardfernrohr mit 20-cm-Objektiv). Einen Monat nach der Opposition kulminiert der Saturn bereits gegen 22 Uhr (bzw. 23 h MESZ) und ist dann am südwestlichen Abendhimmel als Stern 1. Größe zu sehen, bis er nach weiteren 3–4 Monaten für das freie Auge im Licht der untergehenden Sonne verschwindet. Im Unterschied zu den vier sonnennäheren Planeten sind Tagbeobachtungen des Saturn im Fernrohr kaum möglich, da er sich vom Himmelsblau nur knapp abhebt. Soweit dies dennoch gelingt, ist auch der Ring tagsüber bei geringer Vergrößerung erkennbar. Ungefähr alle 20 Jahre kommt es von der Erde aus gesehen zwischen den Planeten Jupiter und Saturn zu einer großen Konjunktion. == Erforschung == === Vor dem Raumfahrtzeitalter === Saturn ist seit alters her bekannt. In der Antike war er der entfernteste der fünf (nach damaliger Auffassung sieben, da Sonne und Mond ebenfalls als Planeten galten) bekannten Planeten des Sternhimmels. Im Jahre 1610 schickte der italienische Mathematiker, Physiker und Astronom Galileo Galilei an Johannes Kepler das Anagramm Smaismrmilmepoetaleumibunenvgttavrias, um sich die Priorität einer Entdeckung zu sichern, ohne sie bereits preisgeben zu müssen. Als Galilei sich seiner Beobachtungen sicher war, verriet er auch die Lösung. Sie lautet: Altissimum planetam tergeminum observavi – Den obersten Planeten habe ich dreigestaltig gesehen.Galilei hatte kurz zuvor erstmals den Saturn durch eines der ersten Fernrohre beobachtet und geglaubt, zu beiden Seiten der Saturnscheibe rundliche Ausbuchtungen zu erkennen. Im Jahre 1612 konnte Galilei allerdings nur noch die Saturnscheibe selbst erkennen, glaubte sich in seinen früheren Beobachtungen getäuscht zu haben und verfolgte die merkwürdige Angelegenheit nicht weiter. Da sich in jenem Jahre der Ring in Kantenstellung befand, war er in der Tat für die damaligen Fernrohre nicht erkennbar. Auch andere Astronomen wie Fontana, Gassendi, Hevelius, Riccioli oder Grimaldi vermochten in den folgenden Jahrzehnten lediglich das Vorhandensein der Anhängsel festzustellen, ohne die Erscheinung und ihr gelegentliches Verschwinden aber erklären zu können. Erst nachdem Christiaan Huygens am 25. März 1655 dank verbesserter selbstgebauter Fernrohre einen Mond (Titan) entdeckt und über mehrere Monate hinweg verfolgt hatte, brachte ihn die damit verbundene systematische Beobachtung des Planeten zur 1659 veröffentlichten Überzeugung, dass Saturn von einem freischwebenden Ring umgeben sei, und dass dessen stets verschieden wahrgenommene Gestalt sich aus den unterschiedlichen Neigungen erklärt, mit denen er sich während eines Saturnumlaufs dem Betrachter darbietet. Huygens bestimmte die Neigung des Rings gegen die Ekliptik zu 31° und die Knotenlänge zu 169½°.Giovanni Domenico Cassini entdeckte 1671 den Saturnmond Iapetus, 1672 Rhea, 1684 Dione und Tethys. Cassini beschrieb 1675 auch die nach ihm benannte Teilung in den Saturnringen.Die merkliche Abplattung des Saturn war bereits von Grimaldi als 1/12 gemessen worden, aber erst William Herschel gelang es 1790, die Rotationsdauer zu bestimmen; er erhielt 10h 16m, was mit der Abplattung gut übereinstimmte.Herschel hatte 1789 auch die beiden Monde Mimas und Enceladus entdeckt. Der achte Mond, Hyperion, wurde 1848 etwa gleichzeitig von Bond und Lassell gefunden.Die Monde sowie die von Saturn auf die anderen Planeten ausgeübten Störungen erlaubten es, die Masse von Saturn zu bestimmen. Newton fand 1/3021 Sonnenmassen (1726, aus der Umlaufzeit von Titan), Bouvard 1/3512 (1821, aus den Störungen), Leverrier 1/3530 (1876, aus den Störungen), Hall 1/3500 (1889, Umlaufzeit von Titan).1850 wiesen Bond und Lassell den schon von früheren Beobachtern gelegentlich beschriebenen inneren, durchscheinenden Krepp-Ring nach. Die von D. Lamey ab 1868 gesehenen vier äußeren Nebelringe konnten allerdings nicht bestätigt werden. William Henry Pickering entdeckte 1898 den weit außen kreisenden Mond Phoebe. === Pioneer 11 === Als erste Sonde überhaupt flog Pioneer 11 am 1. September 1979 in 21.000 km Entfernung am Saturn vorbei. Dabei flog die Sonde zwischen dem A-Ring und dem F-Ring, der erst durch die Sonde entdeckt wurde. 17 Stunden vor dem Vorbeiflug wurde der Mond Epimetheus entdeckt, an dem die Sonde in 2500 km Abstand vorbeiflog. Es wurden 220 Bilder von Saturn und eines von Titan gemacht, die aber keine Einzelheiten unter einer Auflösung von 500 km zeigten. Man fand heraus, dass die schwarzen Lücken in den Ringen hell waren, wenn sie in Richtung der Sonne beobachtet wurden. Dies bedeutet, dass diese Spalten nicht frei von Materie sind. Außerdem wurde das Magnetfeld von Saturn untersucht, über das man vorher noch nichts wusste. Weitere Ergebnisse waren, dass Saturn Energie abgibt, der Wasserstoff-Anteil von Saturn größer als der des Jupiter ist und dass Titan eine dichte Wolkendecke besitzt. === Voyager 1 === Am 12. November 1980 besuchte die Raumsonde Voyager 1 den Saturn. Sie lieferte die ersten hochauflösenden Bilder des Planeten, der Ringe und Satelliten. Dabei wurden erstmals Oberflächendetails verschiedener Monde sichtbar. Zudem wurden mehrere Monde neu entdeckt. Der Vorbeiflug an Titan war anfangs außergewöhnlich schlecht verlaufen, da die dichte Smogschicht über Titan keine Aufnahmen ermöglichte. Daraufhin wurden die Kameras umprogrammiert und man analysierte die Atmosphäre des Titan. Dabei fand man heraus, dass diese aus Stickstoff, Methan, Ethylen und Cyankohlenwasserstoffen besteht. Die Datenrate, mit der die Sonde Bilder übertragen konnte, betrug 44.800 Bit/s. Daher musste die Voyager-Sonde schon früh damit beginnen, Bilder aufzunehmen, um genügend Daten zu erhalten. Das Fly-by-Manöver veränderte die Richtung der Raumsonde und sie verließ die Ebene des Sonnensystems. === Voyager 2 === Knapp ein Jahr nach Voyager 1, am 25. August 1981, kam die Schwestersonde Voyager 2 beim Ringplaneten an. Man bekam noch mehr hochauflösende Bilder von den Monden des Saturn. Durch Vergleich mit den Voyager-1-Bildern stellte man Änderungen der Atmosphäre und der Saturn-Ringe fest. Da die schwenkbare Plattform der Kamera für ein paar Tage stecken blieb, konnten einige geplante Bilder jedoch nicht gemacht werden. Bei der Atmosphäre wurden Temperatur- und Druckmessungen durchgeführt. Durch die Sonde wurden einige Monde bestätigt und man fand mehrere neue Monde nahe oder innerhalb der Ringe. Die kleine Maxwell-Lücke im C-Ring und die 42 km breite Keeler-Lücke im A-Ring wurden entdeckt. Die Schwerkraft des Saturn wurde genutzt, um die Sonde in Richtung Uranus zu lenken. === Cassini-Huygens === Nach siebenjährigem Flug passierte die Raumsonde Cassini-Huygens am 11. Juni 2004 den Saturnmond Phoebe mit einem Abstand von nur 2068 km und untersuchte diesen aus der Nähe. Am 1. Juli 2004 steuerte die Sonde in eine Umlaufbahn um den Saturn. Anfang 2005 beobachteten Wissenschaftler mithilfe von Cassini Gewitter auf dem Saturn, deren Blitze vermutlich etwa 1000-mal mehr Energie als die der Erde freisetzten. Dieser Sturm wurde 2007 als der stärkste jemals beobachtete beschrieben.Am 20. September 2006 entdeckte man anhand einer Aufnahme von Cassini einen bisher unbekannten planetarischen Ring, der sich außerhalb der helleren Hauptringe befindet, aber innerhalb des G- und E-Rings. Vermutlich stammt das Material dieses Ringes von Zusammenstößen von Meteoriten mit zwei Saturnmonden.Im Oktober 2006 spürte die Sonde einen Hurrikan mit einem Durchmesser von 8000 km auf, dessen Auge am Südpol von Saturn liegt.Der Orbiter „Cassini“ führte zusätzlich die Landungssonde „Huygens“ mit sich, die am 14. Januar 2005 auf dem Mond Titan landete und dabei Aufnahmen von Methanseen auf der Mondoberfläche schoss. Durch einen Bedienfehler an Cassini, der als Relaisstation zur Kommunikation mit der Erde diente, wurde aber nur jedes zweite Bild der Sonde zurück zur Erde übertragen. Am 26. Oktober 2004 machte Cassini aus einer Höhe von 1200 km außerdem Radarfotos der Oberfläche von Titan. Am 10. März 2006 berichtete die NASA, dass Cassini unterirdische Wasserreservoirs dicht unter der Oberfläche des Mondes Enceladus gefunden habe.Das längste jemals beobachtete Gewitter, mit einer Dauer von 11 Monaten, wurde im Jahr 2009 von der Cassini-Sonde aufgezeichnet. Am 15. September wurde beim European Planetary Science Congress bekanntgegeben, dass dieses Mitte Januar des Jahres begonnen hatte und immer noch anhielt. Dieses neunte von der Sonde gemessene Gewitter übertraf das zwischen November 2007 und Juli 2008. Die aufgezeichneten Radiowellen sollen etwa 10.000-mal stärker, als die von Gewittern auf der Erde sein und einen Durchmesser von bis zu 3000 km haben. Das Gewitter hielt von Mitte Januar bis Mitte Dezember 2009 an.Die Sonde entdeckte außerdem vier weitere Monde des Saturn. Am 15. September 2017 ließ man die Sonde nach Aufbrauchen des Treibstoffs absichtlich in der Saturnatmosphäre verglühen, um auszuschließen, dass die nicht mehr kontrollierbare Sonde mit einem Saturnmond kollidiert und diesen biologisch kontaminiert. Bis zum Tag davor hatte sie Untersuchungen durchgeführt und Bildmaterial zur Erde gesendet. == Kulturgeschichte == Da der Saturn mit bloßem Auge gut sichtbar ist und als Wandelstern auffällt, wurde er schon im Altertum mit mythologischen Deutungen belegt. Im Alten Ägypten symbolisierte er als Hor-ka-pet („Himmelsstier“) die Gottheit Horus. Die Sumerer nannten ihn Lubat-saguš („Stern der Sonne“), während die Babylonier Saturn bezüglich seiner Umlaufgeschwindigkeit Kajamanu („der Beständige“) nannten. Im antiken Griechenland galt er als Planet des Gottes Kronos, bei den Römern erhielt er daher den Namen des entsprechenden Gottes Saturnus. In der hinduistischen Astrologie bezeichnet Navagraha den Saturn als Shani. In der mittelalterlichen Astrologie stand Saturn, der traditionell mit einer Sichel oder Sense dargestellt wird, u. a. für Unglück – Sorgen, Melancholie, Krankheiten und harte Arbeit –, doch auch für Ordnung und Maß. Daran anknüpfend ist Saturn in der Bildenden Kunst (u. a. Albrecht Dürer: Melencolia I) und in der Literatur (u. a. Georg Trakl: Trübsinn) ein Symbol für die Melancholie geblieben. In der chinesischen und japanischen Kultur steht der Saturn für die Erde. Dies basiert auf der Fünf-Elemente-Lehre. Die osmanische und indonesische Sprache bezeichnet Saturn, abgeleitet vom arabischen زحل, als Zuhal. Im hebräischen wird Saturn als Shabbathai bezeichnet. Konradin Ferrari d’Occhieppo vermutete 1965, dass der Stern von Betlehem eine sehr seltene und enge dreifache Saturn-Jupiter-Konjunktion im Sternzeichen Fische war. in der Tat trafen sich die beiden Gasriesen im Laufe des Jahres 7 vor Christus dreimal, am 27. Mai, 6. Oktober und 1. Dezember. Dieses Jahr scheint gut in den ungefähren Zeitraum der Geburt Jesu zu passen. Babylonische Astronomen könnten das Treffen der Planeten Saturn und Jupiter als wichtigen Hinweis gedeutet haben. Der englische Tagesname Saturday bezieht sich noch deutlich auf den Planeten Saturn, der als einer der sieben Wandelsterne des geozentrischen Weltbilds unter den sieben babylonischen Wochentagen zum ursprünglichen Namensgeber des Samstags wurde. Dem Saturn wurde in der Antike das Metall Blei zugeordnet; die Bleivergiftung nennt man daher Saturnismus. == Siehe auch == Liste der Planeten des Sonnensystems Liste der besuchten Körper im Sonnensystem == Literatur == Thorsten Dambeck: Saturnmond in Fetzen: Die Saturnringe könnten die Trümmer eines zerborstenen Mondes sein. Bild der Wissenschaft, 9/2006, S. 60–63, ISSN 0006-2375 Reinhard Oberschelp: Giuseppe Campani und der Ring des Planeten Saturn. Ein Dokument in der Gottfried Wilhelm Leibniz Bibliothek. Reihe Lesesaal, 35. C. W. Niemeyer, Hameln 2011, ISBN 3-8271-8835-0 (u. a. mit Abb. von 1666) Ronald Weinberger: Präzise Bestimmung der Rotation des Saturn. Naturwissenschaftliche Rundschau 59 (12), S. 664–665 (2006), ISSN 0028-1050 Harro Zimmer: Saturn – Aufbruch zum Herrn der Ringe, Primus, Darmstadt, 2006, ISBN 978-3-89678-281-6 == Dokumentarfilme == Die Planeten: Saturn. TV-Dokumentationsreihe von Nic Stacey, BBC Studios 2019, deutsche Bearbeitung ZDF; zuletzt gesendet auf ZDFinfo 27. April 2022. == Weblinks == RPIF-Bestandsverzeichnis: Saturn Der Planet Saturn: Wissenswertes und Flash-Film Solar System Exploration: Saturn. In: NASA.gov. Abgerufen am 15. Mai 2020 (englisch). NASA-Seite zum Saturn (englisch) Liste der Saturnmonde (englisch) Hochaufgelöste Aufnahme mit einem semiprofessionellen Amateurteleskop (englisch) (Memento vom 21. Dezember 2013 im Internet Archive) A View of Earth from Saturn NASA Earth Observatory, Image of the Day, 16. Januar 2007 Polarlichter sind einzigartig. Auf: wissenschaft.de vom 19. Februar 2005. Über einen Artikel in Nature (Band 433, 2005, S. 717, S. 720 und S. 722).Medien Warum hat der Saturn Ringe? aus der Fernseh-Sendereihe alpha-Centauri (ca. 15 Minuten). Erstmals ausgestrahlt am 30. Juli 2000. == Einzelnachweise ==
https://de.wikipedia.org/wiki/Saturn_(Planet)
São Paulo
= São Paulo = São Paulo [ˈsɐ̃w ˈpawlu] (port. für Sankt Paulus) ist die Hauptstadt des gleichnamigen Bundesstaates und größte Stadt Brasiliens. Die Stadt ist das wichtigste Wirtschafts-, Finanz- und Kulturzentrum des Landes sowie ein wichtiger Verkehrsknotenpunkt. Im administrativen Stadtgebiet von São Paulo leben rund 12,396 Millionen Menschen (2021). São Paulo ist zudem der größte industrielle Ballungsraum in Lateinamerika und bildet mit Nachbarstädten eine der größten Metropolregionen der Erde und die zweitgrößte der Südhalbkugel. Die Stadt ist durch zahlreiche Einwanderer aus aller Welt multikulturell geprägt mit wesentlichen portugiesischen, italienischen, deutschen, libanesischen und japanischen sowie afrobrasilianischen Einflüssen. Die Einwohner der Stadt São Paulo heißen „paulistanos“, während mit „Paulistas“ eigentlich die Einwohner des Bundesstaats gemeint sind. Man verwendet diesen Begriff auch häufig verallgemeinernd für die Bewohner der Metropole. == Geographie == === Geographische Lage === Die Stadt liegt im Südosten Brasiliens 80 Kilometer vom Atlantischen Ozean entfernt im Hochbecken der Flüsse Rio Tietê und Rio Pinheiros, durchschnittlich 795 Meter über dem Meeresspiegel. Das Stadtgebiet hat eine Fläche von 1523 Quadratkilometern und erstreckt sich ungefähr 60 Kilometer in Nord-Süd-Richtung und 80 Kilometer in Ost-West-Richtung. Die Metropolregion Grande São Paulo umfasst außer der Stadt São Paulo als Kernzone 38 weitere Städte mit einer Gesamtfläche von 7947 Quadratkilometern. Das überbaute Stadtgebiet der Region mit einer Fläche von 2209 Quadratkilometern nahm von 1962 bis 2002 um 874 Quadratkilometer zu.Zwanzig Kilometer hinter der Hafenstadt Santos steigt die im Brasilianischen Bergland gelegene Serra do Mar schnell bis auf durchschnittlich 1200 Meter an und fällt dann auf die Hochebene von São Paulo ab. Santos und São Paulo verbindet ein natürlicher Pass über die Serra do Mar. Die Hochebene von São Paulo ist aber nicht flach, sondern ein Hügelland, so dass sich auch die Stadt São Paulo über zahlreiche Hügel erstreckt. Nur etwa die Hälfte des Wassers im Rio Tietê ist natürlichen Ursprungs, und auch die für die städtische Wasserversorgung wichtigen Stauseen im Süden São Paulos sind durch die Einleitung nicht geklärter Abwässer ungeplanter Wohnsiedlungen und Favelas kaum noch für die Gewinnung von Trinkwasser nutzbar. Die Folgen sind Geruchsbelästigung der Bevölkerung, Eutrophierung und ein unzumutbarer Geschmack des Leitungswassers sowie hohe Kosten für das Erreichen von Trinkwasserqualität. === Geologie === Das östliche Bergland, in dem die Stadt São Paulo liegt, erstreckt sich vom nördlichen Bahia über die Bundesstaaten Minas Gerais, Espírito Santo und São Paulo bis in den Südteil des Bundesstaates Paraná. Die großen Höhenunterschiede und der engräumige Wechsel von hochaufragenden Gebirgsschollen und tiefeingesenkten Tälern und Becken bringen eine große Vielfalt hervor. Im Allgemeinen treten die Gesteine der alten Brasilianischen Masse an die Oberfläche, also kristalline Schiefer, saure und basische Plutonite sowie Quarzite. Im Landesinneren flacht sich die alte Rumpffläche ab, und die auflagernden Schichten haben sich erhalten können. Unter ihnen sind die permokarbonischen Konglomerate im Süden, die die als Tillite bezeichneten verfestigten Moränenablagerungen enthalten. In altpaläozoischen Gesteinsserien finden sich die für die Landesgeschichte so bedeutsamen Gold- und Diamantenlager. Landschaftlich treten vor allem durch ihre Schichtstufen devone Sandsteine im südlichen Teil und kreidezeitliche Sandsteine im nördlichen Teil hervor. Die nach Osten gerichteten Steilabfälle dieser Schichtstufen begrenzen vielfach das östliche Bergland. === Stadtgliederung === São Paulo gliedert sich nach den Himmelsrichtungen in 9 Verwaltungszonen (zonas): Nordost, Nordwest, West, Zentrum-Süd, Zentrum, Südosten, Süd, Ost 01 und Ost 02. Sie werden in 32 Unterpräfekturen (subprefeituras) bzw. insgesamt in 96 Distrikte (distritos) gegliedert; letztere werden in Stadtviertel (bairros) unterteilt. Die Unterpräfekturen der Stadt sind: Aricanduva/Vila Formosa, Butantã, Campo Limpo, Capela do Socorro, Casa Verde, Cidade Ademar, Cidade Tiradentes, Ermelino Matarazzo, Freguesia do Ó, Guaianazes, Ipiranga, Itaim Paulista, Itaquera, Jabaquara, Jaçanã/Tremembé, Lapa, M’Boi Mirim, Mooca, Parelheiros, Penha, Perus, Pinheiros, Pirituba/Jaraguá, Santana/Tucuruvi, Santo Amaro, São Mateus, São Miguel Paulista, Sé, Vila Maria/Vila Guilherme, Vila Mariana und Vila Prudente. === Klima === São Paulo befindet sich in der subtropischen Klimazone. Die Temperaturen erreichen im Sommer Werte von 25 bis 28 Grad Celsius mit Spitzenwerten von über 30 Grad Celsius, während sie im Winter selten unter 10 Grad Celsius sinken. Frost tritt auch im Winter fast nie auf. Die höchste Temperatur wurde offiziell am 15. November 1985 mit 35,3 Grad Celsius gemessen, die tiefste am 2. August 1955 mit −2,1 Grad Celsius (beide an der nationalen Wetterstation „Mirante de Santana“ in der Nordregion). In den umliegenden Bergen (Horto Florestal) sank das Thermometer am 2. August 1955 auf −3,9 Grad Celsius (Messung inoffiziell).Über Schneefall wird in der Geschichte der Stadt nur vom 25. Juni 1918 berichtet. Niederschlag ist besonders in den wärmeren Monaten reichlich vorhanden, aber selten zwischen Juni und August. Weder São Paulo noch die nahe gelegene Küste sind je durch einen tropischen Wirbelsturm heimgesucht worden, auch Tornados sind selten. Der Wintermonat August war in den ersten Jahren des 21. Jahrhunderts meist trocken und vergleichsweise warm. Die Temperaturen stiegen bis auf 24 Grad Celsius. Dieses Phänomen wird auf Portugiesisch „Veranico“ genannt („kleiner Sommer“). Die Jahresdurchschnittstemperatur beträgt in São Paulo 18,5 Grad Celsius, die jährliche Niederschlagsmenge 1455 Millimeter im Mittel. Die wärmsten Monate sind Januar und Februar mit durchschnittlich 21,0 bis 21,3 Grad Celsius, der kälteste Monat ist der Juli mit 14,7 Grad Celsius im Mittel. Der meiste Niederschlag fällt in den Monaten Januar und Februar mit 201 bis 239 Millimetern im Durchschnitt, der wenigste im Juli und August mit 39 bis 44 Millimetern im Mittel. === Umweltprobleme === Das Wachstum der Stadt, die hohe Industriedichte und Verkehrskonzentration führen in São Paulo zu zahlreichen Umweltproblemen. Die Verschmutzung der Luft, die Belastung der Gewässer, die Belästigung durch Lärm und Emissionen durch den Verkehr sowie Entsorgungsprobleme bei Müll und Abwasser sind die gravierendsten Probleme São Paulos. Die Verschmutzung des Wassers des Rio Tietê und des Rio Pinheiros durch industrielle und häusliche Abwässer hat dazu geführt, dass diese beiden Hauptflüsse im Stadtgebiet biologisch tot und zu reinen Abwasserkanälen mit hohen Konzentrationen an Schwermetallen geworden sind. Im Frühjahr 2015 war die Versorgung der Stadt mit Trinkwasser akut gefährdet, nachdem die Reserven aus dem Sistema Cantareira-Reservoir wegen der anhaltenden Dürreperiode auf 6 % des Normalstandes gefallen waren.Die Versiegelung der Flächen engt nicht nur die Möglichkeiten zur Erholung der Bevölkerung auf wenige gut erreichbare Parks in der Stadt stark ein, sondern behindert auch den Abfluss der Niederschläge. So kommt es in São Paulo besonders während der Sommermonate (Dezember bis März) immer wieder zu Überschwemmungen von Teilen der Stadt, oft auch mit einigen Todesopfern. Die Ver- und Entsorgung variiert sehr stark je nach dem sozialen Status eines Stadtteiles. Vom Citybereich und den innenstadtnahen gehobenen Wohnbereichen des Übergangsgebiets nimmt die Qualität dieser Dienstleistungen und infrastrukturellen Einrichtungen zum Stadtrand hin schnell ab. Die Qualität von Luft und Wasser ist im metropolitanen Kerngebiet allerdings schlechter als in zahlreichen peripheren Bezirken. So hat die Schadstoffbelastung der Luft trotz eines leichten Rückgangs bei einzelnen Stoffen immer noch alarmierende Ausmaße, die durch Industriebetriebe (vor allem Schwebstäube, Stickstoffdioxid, Schwefeldioxid) und den Straßenverkehr (Kohlenmonoxid) verursacht werden. Rund 90 Prozent der schlechten Luftqualität werden durch den Straßenverkehr bewirkt. Durch die Beckenlage São Paulos mit fehlendem Luftaustausch und häufigen thermischen Inversionen im Winter (Juni bis August) sind Atemwegserkrankungen bei der Bevölkerung sehr weit verbreitet. Eine städtische Weisheit besagt, dass Krankheiten mit dem Regen kommen. Das lässt sich darauf zurückführen, dass die Niederschläge Schadstoffe aus der Luft auswaschen und zurück in Bodennähe transportieren. == Geschichte == === Ursprung === São Paulo wurde am 25. Januar 1554, dem Fest der Bekehrung des Apostels Paulus, von den Padres Manuel da Nobrega und José de Anchieta, zwei jesuitischen Missionaren, bei ihrem – nach dem örtlichen Fluss benannten – Missionsstützpunkt Piratininga gegründet.Für lange Zeit blieb das Gebiet isoliert, da die Produktivität der dortigen Zuckerrohrplantagen nicht besonders hoch war; die Bewohner betrieben Subsistenzwirtschaft. Erst im 17. Jahrhundert wurde in der Gegend Weizen für den Export angebaut. Die Siedlung wurde nacheinander Hauptstadt des Kapitanats São Vicente (1681) und des Kapitanats São Paulo (1710). Die Jesuiten hatten von dem an der Küste des mittleren Brasiliens auf dem südlichen Wendekreis gelegenen portugiesischen Stützpunkt São Vicente aus – beim heutigen Santos – den von tropischen Regenwäldern überzogenen, zum Teil über 1000 Meter hohen Steilabfall des Küstengebirges (Serra do Mar) überwunden und in einem Hochbecken in ungefähr 800 Metern über dem Meeresspiegel die erste europäische Siedlungsgründung auf dem Hochland vorgenommen. 1711 ist São Paulo aufgrund der strategisch günstigen Lage in der Nähe eines Passes über die Serra do Mar das Stadtrecht verliehen worden. Am 7. September 1822 wurde in São Paulo die Unabhängigkeit Brasiliens von Portugal erklärt. Trotzdem blieb São Paulo bis in die 1870er Jahre relativ unbedeutend. Allerdings durchstreiften die portugiesischen Einwanderer, teilweise vermischt mit der indianischen Hochlandbevölkerung, im 16. und 17. Jahrhundert von São Paulo aus als Bandeirantes („Bannerträger“) weite Gebiete im zentralen Teil von Brasilien. Vor allem unternahmen sie als Sklavenjäger die berüchtigten Raubzüge zum Fang der Indianer, die den Besitzern der Plantagen im Küstentiefland die beim Zuckerrohranbau benötigten Arbeitssklaven beschafften. === Kaffeeanbau und Industrialisierung === Die wirtschaftliche Bedeutung São Paulos änderte sich rasch, als der Anbau von Kaffee, der um 1850 über das Rio-Paraíba-Tal die Stadt erreichte, sich im Hochland von São Paulo unter günstigen Klima- und Bodenbedingungen und steigender Kaufkraft in Europa ab den 1880er Jahren flächenhaft in nördliche und nordwestliche Richtung ausdehnte. Hervorragende infrastrukturelle Voraussetzungen für den Kaffeeboom schufen die systematische Verkehrserschließung des Binnenlandes im Staate São Paulo durch strahlenförmige, von São Paulo auf den Hochebenen zwischen den Zuflüssen des Río Paraná vorgetriebene Eisenbahnlinien und die günstige Verkehrslage zum nahen Exporthafen Santos. Eine gezielt betriebene Einwanderungspolitik, die überwiegend Italiener ins Land brachte, trug dazu bei, dass trotz der Befreiung der Sklaven 1888 die auf den Kaffeeplantagen benötigten Arbeitskräfte zur Verfügung standen. Mehrere Hunderttausend Europäer, überwiegend Italiener, aber auch zahlreiche Deutsche, Japaner und Libanesen wanderten zwischen 1886 und 1905 ein und verdingten sich vorwiegend auf den Paulistaner Kaffeeplantagen. Einige der Deutschen wurden auch im Inneren des Bundesstaates São Paulo in Kolonien angesiedelt (Rio Claro, Monte Mor und andere). In dieser Phase betrugen die jährlichen Wachstumsraten der Bevölkerung bis zu 14 Prozent. Dies alles verhalf São Paulo zu erstem Reichtum. Aber erst die Industrialisierung am Ende des 19. Jahrhunderts führte zu dem beeindruckenden Wachstum zur größten Metropole Südamerikas. === Industrieller Ballungsraum === In den 1920er Jahren wurde São Paulo die führende Industrieregion des Landes. Die Bevölkerung der Stadt überschritt bereits 1934 die Millionengrenze und verdoppelte sich bis 1950. Anfang der 1960er Jahre führte die hohe Inflation gemeinsam mit der politischen Mobilisierung der Arbeiter, Bauern und Studenten, die begannen, ihre politischen Rechte einzufordern, zur Übernahme der Macht durch die Militärs im Jahre 1964. Deren Regierung, die bis 1985 dauerte, war einerseits von Intoleranz gegenüber der politischen Opposition geprägt, andererseits aber auch von Modernisierung und ökonomischer Entwicklung, mit jährlichen Wachstumsraten von rund zwölf Prozent Anfang der 1970er Jahre. Es wurde begonnen, eine neue Infrastruktur aufzubauen sowie nationale Gesundheits- und Sozialfürsorge einzuführen. Die nahe Hafenstadt Santos (schnelle Transportwege), die Vergabe staatlicher Kredite und der sich durch umfangreiche ausländische, vor allem auch deutsche Investitionen verstärkende industrielle Aufschwung verhalfen São Paulo zu neuerem Reichtum. Diese ökonomische Entwicklung basierend auf einer hohen Auslandsverschuldung geschah aber ohne die politische Partizipation der Bevölkerung und ohne eine gerechte Verteilung des Reichtums. Das Ergebnis dieser Veränderung war, dass eine zahlenmäßig kleine Schicht über eine sehr große Kaufkraft verfügte und mit ihrem Einfluss in Politik und Wirtschaft die elitären und autoritären Strukturen in der Gesellschaft verstärkte. Die zu dieser Zeit fehlende demokratische Kontrolle des Staates führte zu großen Mängeln, Niedriglöhnen und Korruption in der Qualität und Verteilung staatlicher Sozialleistungen, in den Bildungseinrichtungen, im öffentlichen Wohnungsbau, im Verkehr und den sanitären Anlagen. São Paulo war in dieser Zeit auch Gründungsort der Arbeiterpartei PT (1980) und des sehr aktiven Gewerkschaftsdachverbandes CUT (1983). Ihre Entstehung und ihr schnelles Erstarken sind Ergebnis der machtvollen Streiks und Demonstrationen der Arbeiter, die Brasilien am Ende der 1970er und Anfang der 1980er Jahre erschütterten. Diese Kämpfe brachten die Militärdiktatur zum Wanken und bildeten den Anfang einer Entwicklung, die wenige Jahre später zu ihrem Ende führte. Heute ist die Region um São Paulo der größte industrielle Ballungsraum Lateinamerikas und der bedeutendste Industriestandort der Dritten Welt. Die rund 1000 deutschen Unternehmen im Großraum São Paulo bilden die weltweit größte Konzentration deutscher Industrie-Unternehmen. Durch die Globalisierung, erhöhte Wechselkurse und die aufstrebende Industrie im gesamten Land verliert São Paulo aber immer mehr an Bedeutung. Die Industrie wird mehr und mehr vom Dienstleistungsgewerbe abgelöst. Dieser Sektor kann die Arbeitslosen aus der Industrie aber nicht auffangen. Die Folge davon sind Arbeitslosigkeit und Niedriglöhne. Wie viele Großstädte in Entwicklungsländern ist auch São Paulo von einem Armutsgürtel mit Marginalsiedlungen, den sogenannten Favelas, umgeben und hat besonders dort eine hohe Kriminalitätsrate. São Paulo wird heute in Brasilien aber auch als die führende Stadt im Hinblick auf Konzerte, Theater, Modenschauen, internationale Sportveranstaltungen, Konferenzen und Wirtschaftsmessen angesehen; viele Veranstaltungen finden zuerst oder nur dort statt. == Bevölkerung == === Einwohnerentwicklung === In den ersten 300 Jahren seit der Gründung der Stadt im 16. Jahrhundert kamen überwiegend portugiesische Einwanderer und Sklaven vom afrikanischen Kontinent nach São Paulo. Seit Mitte des 19. Jahrhunderts waren es aufgrund des beginnenden Kaffeeanbaus und der Befreiung der Sklaven 1888 (Lei Áurea) durch eine gezielte Einwanderungspolitik bis Anfang des 20. Jahrhunderts vor allem Italiener und Portugiesen, aber auch Deutsche, Spanier, Libanesen, Türken und Japaner, die sich in der Stadt, teilweise in eigenen Vierteln, niederließen. Deren Nachkommen leben noch heute in eigenen Stadtteilen, in „Liberdade“ die Japaner, in „Bela Vista“ die Italiener, in „Bom Retiro“ die Libanesen und im Viertel „Brooklin Paulista“ die Deutschen. Bedeutende Ethnien in der Stadt sind des Weiteren die Chinesen, Juden, Koreaner, Armenier, Bolivianer, Litauer, Russen, Ukrainer, Polen und Syrer. Zu zwei weiteren Einwanderungswellen von Menschen aus Europa, Japan und dem Nahen Osten kam es wegen der politischen und wirtschaftlichen Wirren nach den beiden Weltkriegen. Seit Mitte des 20. Jahrhunderts war São Paulo überwiegend das Ziel von Zuwanderern aus dem Nordosten Brasiliens, später auch aus dem Südosten. Wunschziel der Migranten war es, im schnell expandierenden Industriebereich oder in der blühenden Baubranche eine Beschäftigung zu finden. Seit den 1980er Jahren trägt das natürliche Wachstum erheblich mehr zum Bevölkerungszuwachs bei als die Zuwanderung. Diese Veränderung ist trotz abnehmender Geburtenraten durch den hohen Anteil jüngerer Stadtbevölkerung bedingt, den die jetzt zurückgehende Einwanderung mit sich gebracht hatte. Seit den 1990er Jahren ist die jährliche Zuwachsrate der Bevölkerung der Agglomeration São Paulo, die seit 1973 als Grande São Paulo institutionell verankert ist, sprunghaft zurückgegangen. Grande São Paulo beherbergte im Jahre 2007 mit 19,2 Millionen Menschen, von denen 10,9 Millionen (56,8 Prozent) in der Stadt São Paulo leben, eine größere Bevölkerung als das Bundesland Nordrhein-Westfalen mit 18 Millionen. Da das Ballungsgebiet Grande São Paulo bald mit weiteren sechs Städten über 100.000 Einwohnern zusammenwächst – darunter die Millionenstadt Campinas – die alle in einem Umkreis von weniger als 150 Kilometern um Grande São Paulo liegen, wird heute schon von einer erweiterten Metropolregion (Complexo Metropolitano Expandido, CME) gesprochen, der die Funktion einer Makro-Metropole zukommt. Wobei bei der Einführung einer Schnellzugstrecke damit gerechnet wird, dass Rio de Janeiro/São Paulo zu einer Megalopolis verwachsen. Die Metropolregion Grande São Paulo ist flächenmäßig um circa 60 Prozent größer als die Stadtregion Rhein-Ruhr, übertrifft deren Bevölkerungszahl aber um das Vierfache. Während die durchschnittliche Bevölkerungsdichte im Ruhrgebiet bei 1.080 Einwohnern je Quadratkilometer liegt, beträgt sie in der Metropolregion von São Paulo 2.419 Einwohner je Quadratkilometer. Sie erreicht in der Stadt São Paulo mit 7.148 und in der Stadt Diadema mit 12.537 Einwohnern je Quadratkilometer (2010) einen Höchstwert im Bundesstaat. Die folgende Übersicht zeigt die Einwohnerzahlen nach dem jeweiligen Gebietsstand. Bis 1929 handelt es sich meist um Schätzungen, von 1940 bis 2010 um Volkszählungsergebnisse und 2016 bis 2020 um die jährlichen Schätzungen des Brasilianischen Bundesamtes für Statistik und Geographie (IBGE). Dabei kommt das Wachstum in der Stadt selbst allmählich zum Erliegen, da innerhalb der Stadtfläche kaum noch Möglichkeiten für Expansion bestehen. Die durchschnittliche Kinderzahl je Frau (Fertilitätsrate) lag 1991 bei 2,04 (Brasilien 2,88), 2000 bei 1,88 (Brasilien 2,37) und 2010 bei 1,52 (Brasilien 1,89). Die Kindersterblichkeit lag 1991 bei 24,19 (Brasilien 44,68), 2000 bei 18,44 (Brasilien 30,57) und verringerte sich im Jahr 2010 auf 13,15. Bevölkerungsentwicklung der Metropolregion Von 1950 bis 2017 wuchs die Einwohnerzahl der Metropolregion São Paulo von 2,3 auf 21,4 Millionen Einwohner und verzehnfachte sich damit nahezu. War 1950 noch Rio de Janeiro die größte Agglomeration des Landes, ist es inzwischen mit weitem Abstand São Paulo. Bis zum Jahr 2035 wird eine weitere Steigerung der Einwohnerzahl auf 24,5 Millionen erwartet. === Ethnische Zusammensetzung === Menschen aus rund 100 verschiedenen Ethnien nennen die Stadt ihr Zuhause. Laut Schätzung des IBGE vom 1. Juli 2003 lebten in der Stadt 10.677.019 Personen. Die ethnische Zusammensetzung ergab im Einzelnen folgende Statistik: 69,9 % – ≈ 8,0 Millionen Menschen mit europäischen Vorfahren 24,0 % – ≈ 2,0 Millionen – Pardo/Mischlinge 04,0 % – ≈ 0,527.000 – Afrobrasilianer/Schwarze 02,0 % – ≈ 0,456.000 – Asiaten 00,1 % – ≈ 0,018.000 – Angehörige der indigenen BevölkerungDie meisten Einwohner von São Paulo sind italienischer Abstammung, das entspricht in etwa sechs Millionen Menschen. Die portugiesischstämmige Bevölkerung liegt mit drei Millionen Personen auf Rang zwei. An dritter Stelle stehen japanische Brasilianer mit rund 326.000. Zudem gibt es etwa 120.000 Juden in São Paulo. === Religionen === Die Religionsverteilung der Bevölkerung laut Volkszählung 2010: Quelle: IBGE === Entwicklung der Wohnsituation === Das Stadtzentrum von São Paulo hat sich seit den 1960er Jahren gewaltig ausgedehnt und zeigt heute eine imposante Hochhauskulisse. In diesem Bereich haben sich jüngere, äußerst dynamische Zonen entwickelt, während das alte Zentrum seit Anfang der 1970er Jahre zahlreiche seiner zentralen Funktionen verloren hat, die an den Rand der Stadtmitte oder in nahe neue Subzentren abgewandert sind. Zur Abwertung der alten Stadtmitte um die Praça da Sé hat ein Verfall der Bausubstanz durch geringe Investitionen, Immobilienspekulation und zahlreiche nur teilweise genutzte oder leerstehende Gebäude, Lärm, Schmutz, hohe Kriminalität, starke Konzentration sozial an den Rand gedrängter Bevölkerungsgruppen zusammen mit unzureichender Präsenz staatlicher Organisation geführt. Die öffentlichen und privaten Investitionen konzentrieren sich überwiegend auf neue Standorte und Entwicklungsachsen im Randbereich des Stadtzentrums. So hat sich die Avenida Paulista, die älteste Prachtstraße der Stadt, an der sich der Paulistaner Geldadel, die Großindustriellen und Kaffeebarone ihre Paläste errichten ließen, seit den 1970er Jahren zu einer Hochhausschlucht entwickelt, entlang der Banken und Versicherungen sowie Industrie- und Handelskonzerne mit Bürotürmen die Appartementhochhäuser in die nahegelegenen hochrangigen Wohnquartiere abgedrängt haben. Nachdem die letzten Baulücken im innerstädtischen und innenstadtnahen Bereich geschlossen wurden, ist São Paulo heute im Umkreis von mehr als 25 Kilometern um das Zentrum durch Wohnquartiere, Gewerbeflächen und Verkehrswege versiegelt, so dass die wenigen innerstädtischen Möglichkeiten zur Erholung – wie zum Beispiel der Ibirapuera-Park – an den Wochenenden von der Bevölkerung intensiv genutzt werden. Die Dynamik durch den immensen Bevölkerungsdruck seit Mitte des 20. Jahrhunderts bewirkte insgesamt eine explosive unkontrollierte Expansion São Paulos. Die Planung konnte mit diesen Veränderungen nicht mithalten. Aufgrund fehlender Stadtplanung entstanden an der Peripherie irreguläre Siedlungen („Loteamentos irregulares“) und Favelas. Ein Viertel der Menschen in der Stadt lebt in diesen Elendsquartieren. Ein Beispiel für eine gelungene Verbesserung der Lebensverhältnisse ist die deutsch-brasilianische Nichtregierungsorganisation Associação Comunitária Monte Azul. Heute erstrecken sich rund um ein hochverdichtetes Stadtzentrum weitläufige zersiedelte Peripherien mit geringer städtischer Infrastruktur. Die informelle Bautätigkeit ist für einen überwiegenden Teil der Einwohner São Paulos die einzige Möglichkeit an Wohnraum zu kommen. Die inadäquate Wohnsituation der Bevölkerung und die zahlreichen ökologischen Probleme haben die Regierenden in die Verantwortung gezogen, über eine neue Stadtplanungspolitik nachzudenken. === Kriminalität === Unter 556 Städten und Gemeinden Brasiliens nahm São Paulo auf der „Gewalttatenkarte 2008“ mit einer Mordrate von 31,1 pro 100.000 Einwohner den 492. Platz ein. Auf der Karte von 2006 lag die Stadt mit einer Mordrate von 48,2 pro 100.000 Einwohner noch auf dem 182. Rang. Die „Mapa da Violência dos Municípios Brasileiros“ wurde vom lateinamerikanischen Netzwerk RITLA (Rede de Informação Tecnológica Latino Americana) erstellt. Mit Stand 2011 ist São Paulos Mordrate auf 11,9 gefallen, was einen Rückgang von über 80 % innerhalb von 10 Jahren bedeutet. Damit hat São Paulo die mit Abstand niedrigste Mordrate unter den 27 Hauptstädten der brasilianischen Bundesstaaten. Der Rückgang der Morde begann 1999 und wird auf eine verbesserte Ermittlungsarbeit der Polizei zurückgeführt, die zu einer höheren Anzahl von Festnahmen und Verurteilungen führte. Auch eine stärkere Zusammenarbeit zwischen der Bevölkerung und der Polizei sowie die Verminderung der sich in Umlauf befindlichen Handfeuerwaffen ließen die Anzahl der Tötungsdelikte zurückgehen. Die Kriminalitätsrate in São Paulo sank allgemein seit Ende des 20. Jahrhunderts. Sie ist im Vergleich zu anderen brasilianischen Großstädten relativ niedrig. Unter den Hauptstädten der brasilianischen Bundesstaaten haben nur Palmas, Boa Vista und Natal eine niedrigere Kriminalität. Trotzdem bereiten Diebstahl, Gewalt, Raub, Mord und Drogenkonsum weiter Probleme. Im Bereich der Prostitution sind Zuhälter besonders in Verbindung mit Menschenhandel und Zwangsprostitution oft Teil organisierter Kriminalität oder werden von entsprechenden Organisationen (Mafia) kontrolliert. Der bewaffnete Konflikt mit der Mafia-Organisation PCC (Erstes Hauptstadtkommando) erreichte 2006 beinahe bürgerkriegsähnliche Zustände, man sprach vom sogenannten „Guerra Urbana“. Im Mai 2006 kam es in der Region in einer konzertierten Aktion der PCC zu mehreren hundert Angriffen auf staatliche Sicherheitskräfte, Busse, Wohnhäuser von Polizisten, Banken und Geldautomaten sowie zu Gefängnisrevolten. Grund war die Verlegung von 765 inhaftierten Mafia-Mitgliedern in Hochsicherheitsgefängnisse. Bei den Angriffen und den Gegenmaßnahmen der Polizei starben 170 Menschen, darunter 41 Polizisten und Gefängniswärter. == Politik == === Stadtregierung === Zwei Parteien bestimmten zwischen 1989 und 2004 die Regierungspolitik der Stadt, der sozialistische PT (Partido dos Trabalhadores) und der rechte PP/PPB (Partido Progressista, früher Partido Popular und Partido Populista Brasileiro). Die Oberbürgermeister São Paulos waren: Luiza Erundina (PT) (1989–1992), Paulo Maluf, einer der führenden Politiker während der Militärdiktatur (PPB) (1993–1996), Celso Pitta (PPB) (1997–2000) und Marta Suplicy (PT) (2001–2004), mit 58,5 Prozent gegen Maluf gewählt. Gegen Erundina, Maluf und Pitta laufen Verfahren wegen Misswirtschaft, Korruption, Geldwäsche und illegale Geldtransfers ins Ausland. Maluf wurden beispielsweise von der Justiz 446 Millionen US-Dollar auf Konten im Ausland nachgewiesen. Seine illegalen Einnahmen und Unterschlagungen betrugen 344 Millionen US-Dollar. Bis September 2005 war Maluf in mehr als 150 Prozesse verwickelt. Das brasilianische System der „Impunidade“ (eine Person wird nicht bestraft, obwohl sie eine im rechtlichen Sinn strafbare Handlung begangen hat) führten bisher zu keiner Verurteilung.Ab 1. April 2006 war Gilberto Kassab des 2011 neugegründeten Partido Social Democrático (PSD), früher Mitglied der Partido da Frente Liberal (PFL), Bürgermeister von São Paulo. Er war Vizebürgermeister unter dem seit 1. Januar 2005 regierenden José Serra von der Sozialdemokratischen Partei (Partido da Social Democracia Brasileira, PSDB). Serra trat von seinem Amt zurück, um bei den Gouverneurswahlen im Oktober 2006 zu kandidieren. Er war Gesundheitsminister unter Präsident Fernando Henrique Cardoso und Gegenkandidat von Lula da Silva bei der Präsidentschaftswahl 2002. Die frühere Amtsinhaberin Marta Suplicy hatte im Jahre 2001 eine abgewirtschaftete und tief in Korruptionsskandale verstrickte Stadtverwaltung übernommen. Sie verlor bei den Kommunalwahlen im Oktober 2004 mit 35,9 Prozent gegen Serra, der 43,5 Prozent der abgegebenen Stimmen erhielt.Die Kommunalpolitik hat neben der Bundes- und Landesebene einen zunehmenden Einfluss auf das Leben der Bürger São Paulos. Die Bürgermeister werden in allgemeinen, direkten Wahlen für vier Jahre im Amt gewählt. Der Wahlkampf auf kommunaler Ebene wird weitgehend von Personen und lokalen Themen beeinflusst. Die Wahlbeteiligung im Jahre 2004 war wegen der allgemeinen Wahlpflicht im Land sehr hoch, aber Nichtwähler konnten ihre Abwesenheit ohne Probleme und unbürokratisch rechtfertigen. Insgesamt gingen nur 14 Prozent der Wahlberechtigten nicht zur Wahl, weitere sechs Prozent gaben entweder ungültige oder bewusst weiße Stimmzettel ab. Seit dem 6. April 2018 war der am 16. Mai 2021 verstorbene Bruno Covas des PSDB amtierender Stadtpräfekt, nachdem João Doria Júnior zurückgetreten war, um erfolgreich als Gouverneur zu kandidieren. Seit dem 16. Mai 2021 ist Ricardo Nunes des Movimento Democrático Brasileiro (MDB), zuvor Vizestadtpräfekt, amtierender Stadtpräfekt. === Städtepartnerschaften === São Paulo unterhält mit folgenden Städten Partnerschaften. In Klammern das Jahr der Etablierung. == Kultur und Sehenswürdigkeiten == === Theater === Eines der bekanntesten Theater in São Paulo ist das Theatro Municipal. Ganz in der Nähe des Anhangabaú gelegen, ist dieses alte Gebäude eines der wenigen Überbleibsel vom Beginn des 20. Jahrhunderts, die dem Bauboom noch nicht zum Opfer gefallen sind. Mit dem Bau wurde 1903 begonnen, inspiriert von der Italienischen Oper, hauptsächlich der Mailänder Scala. Eröffnet wurde das Haus am 12. September 1911 mit einer Aufführung der Oper Hamlet von Ambroise Thomas. Im Theater sind im 20. Jahrhundert eine Reihe der berühmtesten Künstler der Weltgeschichte aufgetreten, wie zum Beispiel Maria Callas, Enrico Caruso, Isadora Duncan, Beniamino Gigli, Vaslav Nijinsky, Anna Pawlowa, Arthur Rubinstein, Magda Tagliaferro, Arturo Toscanini und viele andere. Das Theater besitzt edle Glasfenster und zahlreiche Kunstwerke. Seine Inneneinrichtung ist in sechs Ränge unterteilt, deren Balkon-Fronten mit Blattgold verkleidet sind, und seine Kuppel präsentiert die verschiedenen Phasen des menschlichen Lebens. Der zentrale Lüster besitzt 260 Lampen und circa 6000 Kristallteile. Im Anschluss an das Gebäude liegt das Theater-Museum. === Museen === Erwähnenswert sind das Kunstmuseum São Paulo (Museu de Arte de São Paulo, MASP), das die bedeutendste Kunstsammlung Südamerikas besitzt, und das Museu Paulista mit seiner Ausstellung über brasilianische Geschichte. Auch die Pinacoteca do Estado de São Paulo und das Museu da Imagem e do Som de São Paulo sind sehenswert. Das Museu de Arte Sacra de São Paulo beherbergt eine der besten Sammlungen sakraler Kunst in Brasilien, mit 4000 Stücken, von denen etwa 1000 ausgestellt sind – Altäre, Gemälde, Möbel, Kelche, Kreuze und Skulpturen aus dem 16. bis 20. Jahrhundert. Das Gebäude ist im Kolonialstil errichtet und stammt aus dem Jahre 1774. Nahebei befindet sich die alte Igreja de Nossa Senhora da Lúz, mit den sterblichen Überresten des heiligen Frei Galvão, und daneben das Presépio Napolitano, mit den mehr als 1600 Einzelteilen eines italienischen Dorfes aus dem 18. Jahrhundert. Im Parque do Ibirapuera befinden sich das Museu de Arte Contemporânea, mit einer sehenswerten Sammlung westlicher und südamerikanischer Moderner Kunst, mit etwa 3.000 Werken, darunter von Pablo Picasso und Amedeo Modigliani, das Gebäude der Biennale von São Paulo, in dem alle zwei Jahre die größte Weltausstellung moderner Kunst stattfindet, das Museu de Arte Moderna, das Museu da Aeronáutica (Luftfahrtmuseum) und das Museu do Folclore (Folklore-Museum). In der durch Oscar Niemeyer erbauten „Oca“, einer Ausstellungshalle in Form einer liegenden Halbkugel, werden temporäre Ausstellungen gezeigt, so beispielsweise die große Picasso-Ausstellung anlässlich der 450-Jahr-Feiern der Stadt São Paulo. Das Museu da Imigração do Estado de São Paulo in der Rua Visconde de Parnaíba wurde 1993 in dem ehemaligen Immigrantenwohnheim Hospedaria dos Imigrantes gegründet. Dort wird hauptsächlich die Einwanderung nach Brasilien dargestellt. Ebenfalls die Thematik Einwanderung behandelt das 2016 eröffnete Jüdische Einwanderungs- und Holocaustmuseum (Memorial da Imigração Judaica e do Holocausto). Es ist das erste Museum der jüdischen Immigration in Brasilien und enthält eine Holocaustgedenkstätte. === Bauwerke === Anders als das wohlbekannte Rio de Janeiro wird São Paulo üblicherweise nicht als Touristenort betrachtet. Seine Attraktionen bleiben häufig unter dem städtischen Chaos verborgen. Das Stadtbild von São Paulo wird von vielen Hochhäusern geprägt, die aber bei weitem nicht so hoch sind wie in Manhattan. Das höchste Hochhaus in São Paulo ist das 170 Meter hohe Mirante do Vale (bis 1988 Palacio Zarzur Kogan genannt), das zweithöchste mit 168 Meter das Edifício Itália, welches auch über ein Panoramarestaurant verfügt. Das größte Wohnhaus der Welt ist das Copan von Oscar Niemeyer mit ca. 5000 Bewohnern in 1160 Wohneinheiten (26 bis 350 m²) in 36 Stockwerken in sechs eigenständigen Blocks. Ein weiterer Aussichtspunkt befindet sich auf dem Edifício do Banespa. Mindestens zwei große Brandkatastrophen ereigneten sich in diesen Hochhäusern, und zwar 1972 im Andraus-Hochhaus und 1974 im Joelma-Hochhaus. Viele Immigrantengruppen aus aller Welt haben die Stadt geprägt und einzelnen Stadtteilen ihre Charakteristik gegeben. São Paulo wird von manchen daher in ihrem multikulturellen Charakter mit New York City verglichen. Es gibt wesentliche portugiesische, italienische, deutsche, japanische und libanesische Einflüsse. Die größte Kirche der Stadt ist die im neogotischen Stil errichtete Catedral da Sé, mit deren Bau 1913 begonnen wurde und die erst 1954 eingeweiht wurde. Sie hat ein Fassungsvermögen von 8000 Personen, eine Länge von 110 Metern und eine durchschnittliche Breite von 46 Metern. Ihr Mittelschiff wölbt sich mehr als 30 Meter in die Höhe und ihre beiden Türme sind 92 Meter hoch. Die italienische Orgel ist die größte Südamerikas. In der Krypta sind die sterblichen Überreste des Indianerhäuptlings Tibiriçá und die des Paters Diogo Antônio Feijó, des „Regente Feijó“ (1784–1843), untergebracht. Das „Solar da Marquesa de Santos“ wird als das letzte Exemplar einer urbanen Wohngebäude-Architektur aus dem 18. Jahrhundert im Zentrum von São Paulo angesehen. Das alte Gebäude aus Taipa (Holzgerüst, verkleidet mit von Häcksel durchsetztem Lehm) ist 1843 von der Gräfin gekauft und in eine der aristokratischsten Residenzen von São Paulo umgebaut worden – es war auch unter dem Namen „Palacete do Carmo“ bekannt. Gegenwärtig beherbergt es die Sammlung des „Museu da Cidade“. Nahe dem Stadtzentrum liegt der „Mercado Municipal“, die alten Markthallen von São Paulo, auch unter dem Namen „Mercado Central“ bekannt. Die kürzlich vollständig renovierten überdachten Hallen sind 1933 eröffnet worden. Sie haben eine Innenraumhöhe von zehn Metern, runde Stützsäulen und schöne, aus Deutschland eingeführte Glasfenster mit landwirtschaftlichen Motiven. Die Markthallen sind ein wichtiges Zentrum zum Einkaufen und Zeitvertreib, mit einer großen Auswahl an Produkten, von Gemüsen und Früchten bis zu Gewürzen und exotischen Delikatessen, die in ganz São Paulo nur dort käuflich zu erwerben sind. Er ist außerdem der einzige Markt, auf dem man bestimmte Früchte stets auch außerhalb der Saison kaufen kann. Im Stadtteil Ipiranga liegt das „Museu Paulista“, auch „Museu do Ipiranga“ genannt, inmitten des „Parque Independência“ (Unabhängigkeitspark), einer an die Gärten von Versailles angelehnten Gartenanlage mit dem Monument der Unabhängigkeit und der „Casa do grito“, dem Haus, nahe dem 1822 die Unabhängigkeit ausgerufen wurde. In der Umgebung der Stadt ist die 1866 eröffnete „Schienenseilbahn Paranapiacaba“ (Serra Incline) in Paranapiacaba an der durch das Küstengebirge „Serra do Mar“ führenden Bahnstrecke Santos–Jundiaí eine viel besuchte Sehenswürdigkeit. Diese 10 Kilometer lange Anlage war bis 1982 betriebsfähig. Am oberen Ende besteht heute ein Eisenbahnmuseum. Die Steigung wird heute durch eine Zahnradbahn überwunden, auf der aber kein Personenverkehr besteht. Derzeit werden im Süden der Stadt die Company Business Towers errichtet, die das höchste Gebäude Brasiliens sein werden. === Parks === Der Parque do Ibirapuera ist der interessanteste Park der Stadt. Er bietet auf einer Fläche von 1,584 Quadratkilometern neben gestalteten Gärten und Seen auch Kultur, zum Beispiel das Planetário, ausgerüstet mit den modernsten Geräten der Weltraumforschung. Ibirapuera ist zweifellos eine der wichtigsten Grünanlagen São Paulos, sie wurde im Jahre 1954, anlässlich der 400-Jahr-Feier der Stadtgründung, eingeweiht. Vom Landschaftsarchitekten Roberto Burle Marx angelegt, sind im Park die wichtigsten, einheimischen Gewächse Brasiliens versammelt. Bei der Gestaltung der Pflanzungen wurde explizit darauf geachtet, indigene Pflanzen anstelle von importierten Arten zu verwenden. Der Park wird oft auch als São Paulos „Central Park“ bezeichnet und ist sonntags eines der Hauptausflugsziele der Paulistanos. Auf dem Gelände befinden sich neben einer Anzahl Museen der „Velódromo“, ein Parcours für Fahrrad- und Motorrad-Rennen, ein mit Aluminium überdachtes Stadion für Hallensport, mit Platz für 20.000 Zuschauer, der Pavilhão Japonês, ein japanischer Pavillon, original aus Japan importiert, mit einem Salon für die Tee-Zeremonie und viele Fuß- und Radwege. Der Zoo São Paulo besteht seit 1958. === Sport === Fußball ist in Brasilien Nationalsport und São Paulo ist eine der Fußballhochburgen des Landes. In der Stadt befindet sich das Morumbi-Stadion, das mit einer Kapazität von ca. 67.000 Zuschauern der Spielort des Fußballvereins FC São Paulo, des sechsmaligen Landesmeisters von Brasilien ist. Die Anhänger des FC São Paulo nennt man gemeinhin „são-paulinos“ oder, wegen der einfacheren Aussprache, auch „sanpaulinos“. Weitere bekannte Fußballmannschaften der Stadt sind der zehnfache Landesmeister SE Palmeiras, Spielort Allianz Parque (Kapazität 43.600 Zuschauer) sowie der siebenfache Landesmeister SC Corinthians Paulista, Spielort Arena Corinthians (Kapazität 48.000 Zuschauer). Ein weiterer Fußballverein aus São Paulo ist Portuguesa São Paulo. Die Mannschaft spielt im Caninde-Stadion mit einer Kapazität von 27.500 Zuschauern. Daneben gibt es noch eine Reihe von kleineren Vereinen, von welchen mit Sicherheit der CA Juventus der kurioseste ist. Da sich die italienischen Einwandererbrüder Crespi nicht auf einen gemeinsamen Nenner für den von ihnen gegründeten Klub einigen konnten, nahmen sie kurzerhand den Namen von Juventus Turin und die Farben des Stadtrivalen FC Turin. Clube Atletico Juventus spielt im traditionsreichen Rua Javari Stadion (Kapazität 9.061 Zuschauer). Neben Fußball sind auch Volleyball, Tennis und Autorennsport in São Paulo sehr beliebt. Seit 1990 gastiert jährlich die Formel 1 auf dem Autódromo José Carlos Pace. So stammen mit Chico Landi (1907–1989), Ayrton Senna (1960–1994), Rubens Barrichello und Felipe Massa einige der ehemals besten Formel-1-Rennfahrer aus der Stadt. Neue Aktivsportarten wie beispielsweise Surfen, Windsurfen und Drachenfliegen finden in São Paulo, wo die nicht weit entfernte lange Küste und das günstige Klima hervorragende Bedingungen bieten, einen ständig wachsenden Zuspruch. Für Aerobic, Bodybuilding und Gerätegymnastik stehen zahlreiche Fitnessstudios zur Verfügung. In São Paulo findet seit 1925 mit dem Corrida Internacional de São Silvestre einer der weltweit bekanntesten Silvesterläufe statt. === Regelmäßige Veranstaltungen === Der Karneval in São Paulo beginnt offiziell am Freitag vor Aschermittwoch und ist eine der Hauptattraktionen der Stadt. Die vielfarbige Parade der Sambaschulen gehört zu den größten Paraden der Welt. Die meisten der prächtig kostümierten Teilnehmer haben das ganze Jahr über hart gearbeitet, um sich die Kostüme leisten zu können, die sie hier für nur wenige Stunden tragen. Organisiert wird der Karneval von sogenannten Samba-Schulen – den „Escolas de Samba“. Jede „Escola de Samba“ wählt jährlich ein bestimmtes Thema, entsprechend werden dann die Festwagen dekoriert, und die Kostüme darauf abgestimmt. Danach werden Einzelheiten, wie Rhythmus, Choreografie, Präsentation und Zusammenspiel der Gruppe festgelegt, diese Elemente werden dann auch von Preisrichtern beurteilt. Die Paraden beginnen am Abend und dauern pro Festtag etwa zwölf Stunden. Das bedeutet, dass die letzten zwei Paraden bereits am nächsten Morgen durchgeführt werden. Im Frühjahr findet mit der Parada do orgulho GLBT in São Paulo die größte Homosexuellenparade der Welt statt. Bis zu zwei Millionen Menschen, unter ihnen viele Heterosexuelle, nehmen jedes Jahr an der farbenfrohen Veranstaltung mit Lautsprecherwagen, Techno- und Sambarhythmen teil. Regelmäßige Teilnehmer an der Veranstaltung sind auch der Bürgermeister der Stadt sowie Politiker verschiedener Parteien. Ein weiteres Großereignis ist im Herbst der „Große Preis von Brasilien“ im Formel-1-Rennsport. Jedes Jahr treffen sich im Autódromo José Carlos Pace bei hohen Temperaturen und hoher Luftfeuchtigkeit die besten Rennfahrer der Welt. Die am 12. Mai 1942 fertiggestellte kurvenreiche Rennstrecke ist extrem uneben und gehört für die Fahrer zu den anspruchsvollsten Strecken der Welt. Benannt ist der in Interlagos, einem Vorort von São Paulo, gelegene Kurs nach dem am 18. März 1977 bei einem Flugzeugabsturz getöteten Rennfahrer José Carlos Pace. In der Stadt findet seit 1951 die Weltkunstmesse „Biennale von São Paulo“ statt, die zweitgrößte Kunstbiennale, ab 1973 auch die „Internationale Architekturbiennale von São Paulo“ (BIA). Andere typische Festivals und Events sind: Januar The São Paulo Fashion Week (SPFW) – Das größte Event der Mode in Lateinamerika. März É Tudo Verdade – Dokumentarfilm-Festival. April X-Games – Brasilien – Extremsport-Wettbewerb. Mai Skol Beats – Musikfestival. Grande Prêmio São Paulo de Turfe – Reitsport-Wettbewerb. Juni Sankt Vitus Festival (Festival de São Vito) – Italienisches Festival. São Paulo's International Marathon. Juli Anima Mundi – International Animation Film Festival. Japan Festival. August Achiropita Festival – Italienisches Festival (Stadtteil: Bixiga). Oktober Brooklinfest – Brasilianisches Oktoberfest (Stadtteil: Brooklin Paulista). Unterschiedlich Streets of São Paulo als das Eröffnungsrennen der IndyCar Series. Feicorte – Internationale Messe für die Fleischproduktion. FIEPAG – Internationale Fachmesse für die Papier- und Grafikindustrie. CIOSP – Internationale Fachmesse für Zahntechnik. Expomusic – Musikfachmesse. Feira do Circuito das Malhas – Winterkleidungsbasar. In-Edit Brasil – International Music Documentary Festival. Batuka! – Trommlerfestival, mit Workshops und nationalem Wettbewerb. Brasil Pack – Internationale Verpackungsfachmesse. Festa de Vila Zelina – Russisches, ukrainisches und osteuropäisches Festival (Stadtteil: Vila Zelina). Bolivian Arts and Culture Festival. Silvesterabend auf der Paulista-Allee. === Gastronomie === São Paulo trägt zusammen mit Paris, New York und Tokio den Titel „Internationale Hauptstadt der Gastronomie“. In der Stadt befinden sich Restaurants erster Kategorie, die sowohl internationale als auch regionale Gerichte anbieten. Die internationale Küche wird, in den meisten Fällen, mit brasilianischer Eigenart zubereitet. Zu den mehr als tausend Gaststätten gehören deutsche, arabische, französische, japanische, thailändische, griechische, polnische, indische, skandinavische, spanische, jüdische, italienische, portugiesische, vietnamesische und vegetarische Restaurants, wie auch Pizzerias, Churrascarias und andere. Das Nachtleben ist sehr angeregt und hat mit zahlreichen Cafés, Scotch-Bars, Discotheken, Pubs und Bierhallen eine große Auswahl an Alternativen anzubieten. Es konzentriert sich um die vornehmen Stadtviertel Vila Olímpia, Morumbi, Moema und Jardins, das Consulado da Cerveja in Santana ist bekannt für seine Pagode-Shows namhafter Künstler und Gruppen wie Netinho de Paula oder beispielsweise Grupo Revelação. Das ganze Jahr über gibt es gute Kulturprogramme. Die Einwohner São Paulos sind sehr große Rindfleischliebhaber. Es gibt zwei Grundarten der Bedienung: in Einzelportionen oder als Rodízio, bei dem der Gast kontinuierlich unterschiedliche Fleischsorten serviert bekommt, vorwiegend Rindfleisch. In São Paulo gibt es zahlreiche Lokale mit regionalen brasilianischen Spezialitäten, wo Gerichte aus dem Landesinneren des Bundesstaates Minas Gerais serviert werden, einzigartig in ganz Brasilien. Ausgezeichnet schmecken das „Tutu de Feijão“ (Bohnentopf), der „Torresmo“ (Schweinefleisch), die „Linguiça de Porco“ (Schweinswurst) und verschiedene Süßspeisen aus tropischen Früchten. == Wirtschaft == São Paulo war bereits seit den 1920er Jahren die führende Industrieregion des Landes. Es hatte diese Position aufgrund seiner industriellen Standortvorteile und im Rahmen der importsubstituierenden Industrialisierung bis Anfang der 1960er Jahre noch erheblich ausgebaut. Damals erfolgte 74 Prozent der nationalen industriellen Wertschöpfung in der Metropole São Paulo. Der Fahrzeugbau war dort sogar zu 82 Prozent angesiedelt. In den 1970er-Jahren hat das sogenannte brasilianische Wirtschaftswunder mit dem wachstumsorientierten ökonomischen Entwicklungsmodell einen Verstärkungs- und Konsolidierungseffekt hervorgebracht. Inzwischen sind diese hohen Anteile durch die seit den 1970er Jahren erfolgte Entwicklung anderer Industriestandorte, die industrielle Dezentralisierung in São Paulo und die allgemeine Verbesserung der Infrastruktur im Südosten und Süden Brasiliens deutlich abgesunken. Grande São Paulo ist aber weiterhin mit großem Abstand der bedeutendste Industriestandort Brasiliens. Die Metropolregion São Paulo ist nicht nur das führende Wirtschaftszentrum des Landes, sondern auch das größte industrielle Ballungsgebiet Lateinamerikas und einer der wichtigsten Industriestandorte der Welt. Fahrzeug- und Maschinenbau, Textil-, Metall- und Nahrungsmittelindustrie sind nur einige der Industrien, die sich in der Region angesiedelt haben. Die landwirtschaftlichen Erzeugnisse (besonders Kaffee) aus dem Landesinneren werden über den nahe gelegenen Hafen Santos exportiert. In der Stadt befindet sich die einzige Börse Brasiliens, die Bovespa (Bolsa de Valores de São Paulo). Sie wurde am 23. August 1890 an der Rua 15 de Novembro gegründet und 1966 privatisiert. Die Bovespa ist mit einem Marktanteil von 70 Prozent der größte Handelsplatz für Aktien in Lateinamerika. In São Paulo sind zahlreiche internationale Konzerne vertreten. Nahezu alle bedeutenden deutschen Großunternehmen haben eine brasilianische Niederlassung in der Stadt. Wegen der Präsenz von rund 1000 deutschen Unternehmen mit 230.000 Mitarbeitern wird São Paulo nach der Anzahl der Beschäftigten dieser Betriebe als die „größte deutsche Industriestadt“ bezeichnet. Volkswagen do Brasil (20.000 Beschäftigte und 8,1 Milliarden US-Dollar Umsatz) und Mercedes-Benz do Brasil (13.000 Beschäftigte und 4,5 Milliarden US-Dollar Umsatz) waren 2006 unter den größten industriellen Arbeitgebern Brasiliens. Im benachbarten São Bernardo do Campo produziert Scania, mehrheitlich im Besitz des Volkswagen-Konzerns, Motoren, Achsen, Getriebe sowie Lkw und Busse auch für den Export. Dort ist auch das zum Geschäftsfeld Daimler Trucks gehörende Werk der Daimler AG, das leichte und mittelschwere Mercedes-Benz-Lkw und Busse fertigt. Laut einer Studie aus dem Jahr 2014 erwirtschafte der Großraum São Paulo ein Bruttoinlandsprodukt von 430,5 Milliarden US-Dollar (KKB). In der Rangliste der wirtschaftsstärksten Metropolregionen weltweit belegte er damit den 15. Platz. Das BIP pro Kopf betrug 20.650 US-Dollar. Der Ballungsraum São Paulo stellt 30 Prozent des industriellen Produktionswerts des Landes und etwa ein Drittel aller Beschäftigten in der Industrie Brasiliens. In der Umgebung der Stadt werden heute etwa 50 Prozent aller Baumwolle des Landes, 62 Prozent seines Zuckers, 50 Prozent aller Fruchtexporte und 30 Prozent des Kaffees produziert. São Paulo liefert rund 90 Prozent von Brasiliens Kraftfahrzeugen, 65 Prozent an Papier und Zellulose sowie 60 Prozent aller Maschinen und Werkzeuge. Die Stadt ist aber auch für 60 Prozent des gesamten Energieverbrauchs des Landes verantwortlich und Hauptsitz vieler Unternehmen der brasilianischen Solarindustrie. In São Paulo werden 33 Prozent aller Exporte Brasiliens und 40 Prozent aller Importe abgewickelt – die meisten dieser Güter werden über den Hafen in Santos verschifft. == Infrastruktur == === Fernverkehr === São Paulo ist ein wichtiger Verkehrsknotenpunkt mit Flughäfen, Eisenbahnstrecken und Autobahnen. Die Stadt besitzt zwei große Flughäfen, den Aeroporto Internacional de São Paulo/Guarulhos (GRU) und den Aeroporto Internacional de Congonhas/São Paulo (CGH). Letzterer wird ausschließlich für Inlandsverkehr genutzt, unter anderem für die „Luftbrücke“ Rio de Janeiro – São Paulo, die teilweise im 10-Minuten-Takt bedient wird. Ebenfalls zum Einzugsgebiet von São Paulo zählt der rund 100 Kilometer nordwestlich gelegene internationale Flughafen Viracopos. Der Flughafen Guarulhos ist der größte internationale Flughafen in Lateinamerika. 39 Fluggesellschaften aus 28 verschiedenen Ländern bieten 500 Flüge täglich an. Insgesamt 370 Unternehmen, darunter 60 Geschäfte, verteilen sich auf einer Fläche von 14 Quadratkilometern. Die beiden Terminals haben eine Kapazität von 29 Millionen Fluggästen pro Jahr. Im Jahr 2007 hat der Flughafen 18,5 Millionen Fluggäste und 230.995 Flugzeuge abgefertigt. Der Flughafen soll im Rahmen des Erweiterungsprojektes direkt ans Metronetz angeschlossen werden. Der Flughafen Congonhas befindet sich südlich des eigentlichen Stadtzentrums in der Nähe des Ibirapuera-Parks. Hier wird der größte Teil des Inlandverkehrs abgewickelt. Außerdem gibt es noch den Flughafen Campo de Marte, unmittelbar nördlich des Rio Tietê, auf den Billigfluggesellschaften und Charterlinien ausweichen um Kosten zu sparen. São Paulo soll gegenwärtig den größten Hubschrauberverkehr weltweit haben. Verlässliche Quellen hierzu gibt es jedoch nicht. Wer es sich leisten kann, umgeht die prekäre Verkehrssituation und die hohe Kriminalität per Hubschrauber. In der Stadt befinden sich über 200 Helikopter-Landeplätze. Am 1. Januar 1867 bekam São Paulo Anschluss an die Eisenbahn. Die Strecke Santos–Jundiaí verbindet die Stadt heute, die bis dahin durch Flüsse und Gebirgszüge isoliert war, mit der Küste. Hierbei hat sie große Steigungen zu überwinden, wofür früher die Schienenseilbahn Paranapiacaba und heute eine Zahnradbahn verwendet wird. Dadurch ist die Integration einer der ganz wenigen größeren Städte Lateinamerikas, die nicht an der Küste liegen, in die atlantischen Handelsrouten möglich geworden. Die Eisenbahn ist heute wegen geringer Investitionen in die Infrastruktur relativ langsam und wird nur von wenigen Menschen genutzt. So dauert die Fahrt auf der wichtigen 373 Kilometer langen Strecke nach Rio de Janeiro etwas weniger als zehn Stunden; der Bahnbetrieb für den Personenverkehr (trem de prata) ist inzwischen eingestellt worden. Das Projekt Trem Intercidades sieht den Ausbau von zwei Strecken für Regionalexpress-Züge vor. Der erste zu bauende Abschnitt ist São Paulo–Campinas. === Privater Nahverkehr === Vor schwierigste Probleme ist São Paulo durch die Situation im Straßenverkehr gestellt. Staus und chaotische Verkehrsverhältnisse, die bei Starkregen zum völligen Zusammenbruch des Straßenverkehrs führen können, sind trotz einer Ringstraße um den alten Stadtkern, großen Straßendurchbrüchen, Straßentunnels und dem Ausbau der großen Ausfallstraßen an der Tagesordnung. Der Kraftfahrzeugbestand (PKW, LKW, Omnibus) hatte sich im Jahr 2011 seit 1970 auf 7 Millionen mehr als versiebenfacht. Das Netz an befestigten Straßen hat in diesem Zeitraum von 14.000 km auf 17.000 km zugenommen. Stoßstange an Stoßstange würde der Kraftfahrzeugbestand São Paulos eine Kette von 26.000 Kilometern ergeben. Im Jahre 2007 zirkulierten in der Metropole täglich 15.000 Omnibusse und Kleinbusse, 35.000 Taxis sowie 500.000 Motorräder mit hohem Schadstoffausstoß. Etwa 2½ Stunden täglich beträgt im Normalfall die durchschnittliche Wegezeit der Beschäftigten in Grande São Paulo. Bei der heutigen Verkehrsdichte und einem hohen Anteil von Schwerlastverkehr brachte auch die Einrichtung großer Ring- und Umgehungsstraßen entlang des Rio Tietê im Norden und des Rio Pinheiros im Westen der Stadt mit der völligen Versiegelung der überschwemmungsgefährdeten Uferbereiche keine spürbare Entlastung mehr. [veraltet] Eine Verbesserung der Verkehrssituation soll der Rodoanel bringen. Die Fertigstellung der neuen Ringstraße, die etwa 30 Kilometer vom Zentrum entfernt liegt, war für 2016 geplant. Der Rodoanel wird dann alle Fernverkehrsstraßen miteinander verbinden, um eine Entlastung der inneren Ringstraßen (Marginal Pinheiros und Marginal Tietê) vom Schwerlastfernverkehr zu erreichen. Der erste 32 Kilometer lange Bauabschnitt im Westen São Paulos (Westring) wurde am 11. Oktober 2002 fertiggestellt. Die Einweihung des zweiten 61 Kilometer langen Bauabschnitts im Süden der Stadt (Südring) erfolgte am 1. April 2010, der dritte Abschnitt (Ostring) erfolgte 2015, der Nordring ist noch in der Konstruktion (Stand 2020).Unter besten Bedingungen dauert die Fahrt mit dem Taxi vom Flughafen São Paulo–Guarulhos zum Stadtzentrum etwa eine Stunde, in der Hauptverkehrszeit kann die Fahrt leicht über zwei Stunden dauern. 1997 wurde der „Wechsel der Kraftfahrzeuge“ (rodízio municipal de veículos de São Paulo) zur Verringerung des Kfz-Aufkommens in den Hauptverkehrszeiten in den zentralen Stadtteilen eingeführt. Zwischen 7 und 10 Uhr sowie zwischen 17 und 20 Uhr an allen Werktagen dürfen alle Kraftfahrzeuge mit zwei bestimmten Endnummern des Kennzeichens nicht das erweiterte Stadtzentrum befahren (montags beispielsweise betrifft dieses Verbot alle Fahrzeuge mit den Endziffern 1 und 2). Dadurch wird das Fahrzeugaufkommen etwas reduziert. Vermögende Bürger fliegen oft mit dem Hubschrauber, um dem Stau auf den Straßen zu entgehen. 450 Helikopter sind offiziell zugelassen, zahlreiche Hochhäuser besitzen einen Landeplatz. Nach Angaben der Stadtverwaltung liegt São Paulo beim Hubschrauberverkehr weltweit auf Platz zwei. === Öffentlicher Nahverkehr === Am 24. März 1872 eröffnete die erste Maultier-Straßenbahn. Die ersten elektrische Straßenbahn in der Stadt wurde am 17. Februar 1900 in Betrieb genommen. Der Betrieb wurde am 18. September 1968 eingestellt. Am 22. April 1949 wurde der Trolleybusbetrieb eingerichtet. Aus Deutschland wurden in den 1950er Jahren auch 50 Trolleybusse des Typs ÜHIIIs beschafft. Das Omnibusnetz ist wegen der Größe São Paulos und der Anzahl der Fahrgäste ständig überlastet. Weite Teile der Stadt sind noch nicht ausreichend erschlossen. Die Omnibusse bewegen sich überwiegend auf Vorzugsspuren mit großem zeitlichen Vorteil im Vergleich zum Autoverkehr. Sie sind allerdings in der Hauptverkehrszeit überfüllt. Insgesamt benutzen pro Tag mehr als drei Millionen Passagiere einen Omnibus und etwa 2,5 Millionen die U-Bahn. 37 % der Bevölkerung fahren mit öffentlichen Verkehrsmitteln. 42 % benutzen einen PKW, um zur Arbeit zu gelangen. Die Busse befördern 73 % der Passagiere des öffentlichen Personennahverkehrs (ÖPNV). Die am 14. September 1974 eröffnete Metrô São Paulo – sechs Linien mit einer Gesamtstreckenlänge von 96 Kilometern – transportiert etwa 22 Prozent, die Vorortbahnen etwa fünf Prozent der Passagiere im ÖPNV. Die Region hat ein umfassendes Programm zur Erweiterung des Angebotes aufgelegt. So sind zwei Linien sowie die Verlängerung der Linie 4 zurzeit in Bau. Die U-Bahn ist technisch auf hervorragendem Stand und gilt als sicher. Teilweise fahren die Züge im Abstand von 100 Sekunden. Damit nimmt die Metro in São Paulo nach Paris und Moskau, wo teilweise im 90 und 95 Sekundenabstand gefahren wird, in diesem technischen Bereich weltweit eine Spitzenstellung ein. Die CPTM bietet einen der S-Bahn ähnlichen Personennahverkehr auf sechs Linien mit zahlreichen Umsteigemöglichkeiten zur Metrô an. In den kommenden Jahren sollen 160 km Bahnstrecken, die bisher fast ausschließlich für den Güterverkehr benutzt werden, für den S-Bahn-Verkehr eröffnet werden. 2014 soll der erste Abschnitt der neuen Einschienenbahn eröffnet werden. Im Endausbau soll 2015 eine Streckenlänge von 27 km im automatisierten Betrieb befahren werden. 54 Fahrzeuge werden 18 Stationen bedienen. === Medien === Die Medien in São Paulo und landesweit sind im Besitz einiger weniger Organisationen. Die Konzerne, denen die beiden größten Fernsehsender gehören, O Globo und Manchete, kontrollieren auch einige der bedeutendsten Tageszeitungen und Zeitschriften São Paulos. O Globo, das weltweit viertgrößte private Fernsehunternehmen – nach CBS, NBC und ABC in den USA – gehörte, bis zu seinem Tod am 6. August 2003, dem Dollar-Milliardär Roberto Marinho, einer Person mit großem politischen Einfluss. 90 Prozent der Einwohner São Paulos verfügen über einen Fernseher. Die Fernsehsender orientieren sich am nordamerikanischen Vorbild und bevorzugen überwiegend Unterhaltungssendungen und Spielfilme, die hohe Einschaltquoten und Werbeeinnahmen versprechen. Fernsehgebühren werden nicht erhoben. Das Kabelfernsehen setzt sich in der Stadt immer weiter durch und enthält alle großen nationalen Fernsehsender (Globo, Record, Bandeirantes, Rede TV, TV Cultura) aber auch die Programme von ESPN (Sportkanal), CNN (Nachrichtensender), RAI (Radiotelevisione Italiana), Deutsche Welle, TV5 Monde (französischsprachiger Fernsehsender), NHK (Nippon Hōsō Kyōkai, „Japanische Rundfunkgesellschaft“), TVE (Televisión Española) und MTV sowie alle wichtigen Rundfunkstationen. Dazu gehören unter anderem Rádio CBN (Central Brasileira de Noticias), Jovem Pan, Radiobrás, Rádio Eldorado, Nove de Julho und Rádio Católica. Eine große Bedeutung in São Paulo haben auch die Printmedien. Deren Niveau ist verhältnismäßig hoch, da sich die Presse vorwiegend an die oberen und mittleren Einkommensschichten richtet. Zeitungen wie der „O Estado de S. Paulo“, „Folha de São Paulo“ und das „Jornal do Brasil“ sowie die politischen Magazine „Istoé“ und „Veja“ brauchen den internationalen Vergleich nicht zu scheuen. Daneben kann man in der Stadt auch zahllose Zeitschriften, die der Regenbogenpresse zugerechnet werden, kaufen. Brasilien hat natürlich ein großes Boulevardblatt, die Zeitung „O Povo na Rua“ (Das Volk auf der Straße), die vorwiegend von den Menschen der unteren Einkommensschichten São Paulos gelesen wird. Seit 2007 gilt in São Paulo ein Werbeverbot in der Öffentlichkeit. Bürgermeister Gilberto Kassab verbot fast alle Werbeschilder per Gesetz. Erlaubt sind auf einer Fassade von bis zu zehn Metern Höhe 1,5 Quadratmeter Werbung, auf einer Fläche bis zu 100 Quadratmetern darf sie höchstens vier Quadratmeter ausmachen. Für jeden illegalen Quadratmeter werden umgerechnet 370 Euro Bußgeld fällig. Von dem Verbot sind auch Hinweisschilder auf Geschäfte, Hotels und Restaurants betroffen. === SOS-Kinderdörfer === In der Nähe von São Paulo befinden sich drei SOS-Kinderdörfer: SOS-Kinderdorf Poá (35 Kilometer, 1968 eröffnet) Kapazität: Heim für bis zu 140 Kinder, Einrichtung für bis zu 18 Jugendliche, Ganztagsbetreuung für bis zu 200 Vorschulkinder SOS-Kinderdorf São Bernardo do Campo (35 Kilometer, Riacho Grande, 1970 eröffnet) Kapazität: Heim für bis zu 81 Kinder, Einrichtung für bis zu 24 Jugendliche, Ganztagsbetreuung für bis zu 165 Vorschulkinder SOS-Kinderdorf Rio Bonito (1980 eröffnet) Kapazität: Heim für bis zu 108 Kinder, Ganztagsbetreuung für bis zu 440 Vorschulkinder, Grundschule === Bildung === São Paulo beherbergt zahlreiche wichtige Bildungsinstitutionen, darunter auch die 1934 gegründete Universität von São Paulo (Universidade de São Paulo), die größte Universität des Landes, und die zweitgrößte und gleichzeitig beste Universität in Lateinamerika. Außerdem befinden sich dort die renommierte Päpstliche Katholische Universität von São Paulo (Pontifícia Universidade Católica de São Paulo, eröffnet 1946) und die Mackenzie-Universität (eröffnet 1952). Im Stadtteil Butantan ist im Jahre 1901 ein Seruminstitut gegründet worden, das weltweit bekannt ist für seine Schlangenforschung sowie die Herstellung von Impfstoffen und Heilseren. Dem Instituto Butantan sind drei Museen angeschlossen, in denen unter anderem lebende Schlangen zu sehen sind. Das Schuljahr in São Paulo und ganz Brasilien beginnt Anfang Februar und endet Mitte Dezember. Im ganzen Monat Juli sind Winterferien. Die Grundschulausbildung ist kostenfrei und obligatorisch. Schulpflicht besteht zwischen dem siebenten und fünfzehnten Lebensjahr. Viele der Schüler beenden ihre Ausbildung nicht, da sie schon vorher arbeiten müssen, um sich mit dem erworbenen Geld ihren Lebensunterhalt zu verdienen. So können über zehn Prozent der Erwachsenen in São Paulo weder Lesen noch Schreiben. Durch Abendschulen für die arbeitenden Kinder und Fernkurse über Rundfunk und Fernsehen konnten einige Erfolge in der Alphabetisierung erzielt werden. Die Bildung wird über öffentliche wie auch über private Institutionen vermittelt. Sie gliedern sich in die Bereiche der Vor- und Grundschule, Sekundarschule (Mittel- und höhere Schule) sowie die Universität (mit der Möglichkeit von Studiengängen für Postgraduierte). Aufgrund der hohen Zahl an Studienplatzbewerbern verlangen öffentliche wie auch private Hochschulen eine Aufnahmeprüfung („Vestibular“). Nach dem erfolgreichen Abschluss des Studiums wird dem Absolventen der akademische Grad eines Bachelor verliehen. Viele Bildungseinrichtungen bieten Kurse vormittags, nachmittags und abends an. Dadurch können die Studierenden entweder halbtags oder ganztags arbeiten. In São Paulo gibt es derzeit mehr als 80 Hochschulen, die vom MEC (Ministerium für Bildung) anerkannt sind. == Söhne und Töchter der Stadt == São Paulo ist Geburtsort zahlreicher prominenter Persönlichkeiten. == Literatur == Jürg Müller: Brasilien. Klett, Stuttgart 1984, ISBN 3-12-928881-3. Rainer Wehrhahn: São Paulo. Umweltprobleme einer Megastadt. In: Geographische Rundschau. Braunschweig 46.1994,6, ISSN 0016-7460, S. 359–366. Dietrich Briesemeister, Gerd Kohlhepp, Ray-Güde Mertin, Hartmut Sangmeister, Achim Schrader (Hrsg.): Brasilien heute. Vervuert, Frankfurt am Main 1994, ISBN 3-89354-553-0. Rafael Sevilla, Darcy Ribeiro (Hrsg.): Brasilien – Land der Zukunft? Horlemann, Bad Honnef 1995, ISBN 3-89502-031-1. Reinhardt W. Wagner: Deutsche als Ersatz für Sklaven: Arbeitsmigranten aus Deutschland in der brasilianischen Provinz São Paulo 1847–1914. Vervuert 1995, ISBN 3-89354-155-1. Paula dos Santos: Stadtplanung von unten. Die Landbesetzung Filhos da Terra in São Paulo. Technische Universität, Berlin 1999, ISBN 3-7983-1799-2. Florian Dünckmann: Kaffee in Brasilien. In: Geographische Rundschau. Braunschweig 54.2002,11, ISSN 0016-7460, S. 36–42. Elisabeth Blum, Peter Neitzke: FavelaMetropolis. Berichte und Projekte aus Rio de Janeiro und São Paulo. Birkhäuser, Basel/Boston/Berlin 2004, ISBN 3-7643-7063-7. Michael Roschmann: Die Entwicklung des Bankenzentrums São Paulo in den Jahren von 1930 bis 1988. Tectum, Marburg 2004, ISBN 3-8288-8663-9. Ronald Grätz (Hrsg.): MINHASP. Mein São Paulo (= Edition Esefeld & Traub. Band 9). Hrsg. von Ronald Grätz. Texte verschiedener Autorinnen/Autoren, Photos von Iatã Cannabrava und Britta Radike. edition esefeld & traub, Stuttgart 2013, ISBN 978-3-9809887-9-7 (deutsch, englisch, portugiesisch). Manfred von Conta, Fotos: Timm Rautert: São Paulo: Mammon und Macumba. In: Geo-Magazin. Hamburg 1979,5, ISSN 0342-8311, S. 8–34 (Informativer Erlebnisbericht: „Der urbane Riese platzt aus allen Nähten. Jedes Jahr wächst seine Bevölkerung um eine dreiviertel Million. Ein chaotischer Bau-Boom bei fehlender Infrastruktur und wild wuchernde Kriminalität überfordern die Behörden.“). == Weblinks == Website der Stadtpräfektur (portugiesisch) Website der Câmara Municipal (portugiesisch) São Paulo Convention & Visitors Bureau (englisch, spanisch, portugiesisch) Goethe-Institut São Paulo Suche nach São Paulo im Online-Katalog der Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz (Achtung: Die Datenbasis hat sich geändert; bitte Ergebnis überprüfen und SBB=1 setzen) Linkkatalog zum Thema São Paulo bei curlie.org (ehemals DMOZ) == Einzelnachweise ==
https://de.wikipedia.org/wiki/S%C3%A3o_Paulo
Mexiko-Stadt
= Mexiko-Stadt = Mexiko-Stadt (spanisch Ciudad de México [sjuˈða(ð) ðe ˈmexiko], kurz: CDMX; bis 2016 México D.F.) ist die Hauptstadt von Mexiko. Sie gehört zu keinem Gliedstaat, sondern bildet eine eigene Gebietskörperschaft, in der 9,2 Millionen Menschen (2020) leben. Die Metropolregion Zona Metropolitana del Valle de México (ZMVM), zu der Mexiko-Stadt, der östliche Teil des Bundesstaates México und eine Gemeinde aus dem Bundesstaat Hidalgo gehören, ist mit über 21 Millionen Einwohnern eine der größten der Erde. Die Stadt ist politischer, wirtschaftlicher, sozialer und kultureller Mittelpunkt sowie größter Verkehrsknotenpunkt des Landes. Sie ist Sitz des Erzbistums Mexiko sowie zahlreicher Universitäten und Fachschulen. Die UNESCO hat ihr historisches Zentrum mit den Überresten der Azteken­hauptstadt Tenochtitlan sowie die Wassergärten im Stadtteil Xochimilco 1987 und den zentralen Universitätscampus der Universidad Nacional Autónoma de México im Jahr 2007 zum Weltkulturerbe erklärt. == Der Name der Stadt == Die Mexikaner nennen ihre Hauptstadt meist el D.F. („el De-Efe“, Abkürzung von Distrito Federal, „Bundesbezirk“). Wenn also von México die Rede ist, ist normalerweise der Staat gemeint. Weniger häufig und meist in offiziellem Zusammenhang ist von La Ciudad de México die Rede. Das Land Mexiko erhielt wiederum seinen Namen von der jetzigen Hauptstadt. Einwohner der Stadt werden als capitalinos („Hauptstädter“), defeños (abgeleitet von D.F.) oder chilangos bezeichnet, das Wort mexicano bezieht sich wiederum vorwiegend auf die Republik. Der Name México geht ursprünglich auf die Azteken zurück, die sich selbst als „Mexica“ bezeichneten. Teilweise wird im deutschsprachigen Raum für „Mexiko-Stadt“ auch die englischsprachige Bezeichnung Mexico City verwendet. Am 29. Januar 2016 wurde der spanische Name der Stadt auch offiziell in Ciudad de México (= Mexiko-Stadt), abgekürzt „CDMX“, geändert. == Geographie == === Geographische Lage === Mexiko-Stadt liegt am südlichen Ende des 60 Kilometer langen und 100 Kilometer breiten Tals von Mexiko auf einer Höhe von durchschnittlich 2.310 Metern über dem Meeresspiegel und ist auf drei Seiten von Bergen umgeben – unter anderem von den berühmten Zwillingsvulkanen Popocatépetl und Iztaccíhuatl sowie der Sierra Nevada. Die Kombination dieser Lage und einer Metropole mit ihren Emissionen insbesondere des motorisierten Verkehrs lässt oft Smog entstehen. Seit Jahrhunderten ist dieses Becken der Mittelpunkt des Landes, lange bevor von einer mexikanischen Nation die Rede sein konnte. Die Stadt hat eine Fläche von 1.499,03 Quadratkilometern. Sie grenzt im Norden, Osten und Westen an den Bundesstaat México und im Süden an den Bundesstaat Morelos. Zur Metropolregion von Mexiko-Stadt gibt es drei verschiedene Definitionen: „Megalópolis del Centro de México“ (MCM) Dazu gehören neben Mexiko-Stadt weitere 249 Gemeinden in der Umgebung der Hauptstadt, einschließlich der Zonas Metropolitanas von Cuernavaca-Cuautla, Pachuca, Puebla-Tlaxcala und Toluca. Die Gemeinden in der MCM verteilen sich auf die Bundesstaaten wie folgt: México (99), Tlaxcala (52), Puebla (36), Hidalgo (31) und Morelos (31). Das Gebiet erstreckt sich über eine Fläche von 9.763 Quadratkilometer. „Zona Metropolitana de la Ciudad de México“ (ZMCM) Zu ihr gehören die 16 Stadtbezirke (Delegaciones) der Hauptstadt, 40 Gemeinden (Municipios) des Bundesstaates México und eine Gemeinde des Bundesstaates Hidalgo. Sie hat eine Bodenfläche von 4.986 Quadratkilometer. „Zona Metropolitana del Valle de México“ (ZMVM) Zu dieser Region zählen neben Mexiko-Stadt 58 Gemeinden des Bundesstaates México und eine Gemeinde des Bundesstaates Hidalgo. Sie hat eine Fläche von 7.815 Quadratkilometer. === Hydrologie === Das präkolumbische Ökosystem, wie es die Azteken vorfanden, als sie nach Zentralmexiko vordrangen, lässt sich aufgrund von Grabungen recht genau rekonstruieren: Sie deuten auf eine Landschaft, die durch zahlreiche Seen mit dazwischen liegenden Sümpfen geprägt war. Von den umliegenden Gebirgen, die vorwiegend mit Kiefern- und Eichenwäldern bedeckt waren, strömten zahlreiche Bäche und Flüsse, deren größte in den nördlichen Zumpango-See mündeten. Während die kleineren nördlichen und südlichen Seen Süßwasser enthielten, war das Wasser des tiefer gelegenen Texcoco-Sees wegen des salpeterhaltigen Untergrunds, des fehlenden Abflusses und der hohen Verdunstung stark salzhaltig. Auffälligerweise ist in Mexiko-Stadt kein Fluss. Als die Azteken im Tal von Mexiko eintrafen, fanden sie eine hoch entwickelte Hydrokultur vor: Mais, Bohnen, Tomaten, Kürbis und andere Lebensmittel wurden auf bewässertem Land und schwimmenden Gärten, sogenannten Chinampas, angebaut; auch Eindeichungen, Flussumleitungen und Trinkwasserleitungen waren im Valle de México üblich. Im 15. Jahrhundert begannen die Azteken, selbst Deiche zu bauen, welche die Insel mit dem Festland verbanden. Sie dienten gleichzeitig als Aquädukte. Ein 16 Kilometer langer Deich, unterbrochen nur von einigen Schleusen, war östlich von Tenochtitlán durch den Texcoco-See gebaut worden, um die Stadt vor Überschwemmungen zu schützen. In den ersten Jahren ihrer Herrschaft verkannten die Spanier die Wichtigkeit der Anlagen und ließen sie verfallen. Als es aber ab 1540 zu immer verheerenderen Überschwemmungen kam, entschloss man sich zu ihrer Rekonstruktion. Die Abholzung der Hänge in Verbindung mit dem Waldweidegang des Viehs hatte aber die steilen Hänge schon stark erodiert. Die Erde konnte die Niederschläge nicht mehr aufnehmen und war in den Texcocosee geschwemmt worden (der zur Zeit der Eroberung 14 Meter tiefer war als heute). Die alten Anlagen waren den nun zu bewältigenden Wassermassen nicht mehr gewachsen. So starben beispielsweise während der großen Überschwemmungen zwischen 1629 und 1633 circa 50.000 Menschen. 1789 war schließlich ein Kanal durch die Randgebirge vollendet, mit dem man das Tal nach außen entwässerte. Die Erosion führte dazu, dass die Quellen, die die Stadt früher mit Trinkwasser versorgt hatten, versiegten. Die Trinkwasserversorgung erfolgte nun aus Tiefbrunnen (1886 bereits über 1000). Da nun aber das Abwasser (ungeklärt) aus dem Tal herausgebracht wurde, sank der Grundwasserspiegel immer weiter. Die vielen Seen, die das Tal einst füllten, fielen trocken. Den feinkörnigen, bentonitischen Tonen im Untergrund der Stadt wurde das Wasser entzogen, so dass sie schrumpften. In der Folge senkten sich einige Gebiete der Innenstadt zwischen 1891 und 1970 um bis zu 8,50 Meter, bis 1998 um bis zu 9,10 m. Im Zeitraum Oktober 2014 bis Mai 2015 wurden Sinkraten von typisch bis zu 12,70 bis 22,86 cm/Jahr in weiten Gebieten der Stadt vermessen. Neben den Auswirkungen auf die Bausubstanz beeinträchtigt das auch die Kanalisation: Die Anlagen sind zum Teil zerrissen, Gefälle haben sich umgekehrt. Abwasser dringt mitunter in die ebenfalls undichten Leitungen für Trinkwasser ein und macht dieses infektiös. Der neue Abwassertunnel Túnel Emisor Oriente (Bauzeit 2008 bis 2019) hilft mit seinem Innendurchmesser von sieben Metern und einem Durchfluss von bis zu 150 m³ Abwasser pro Sekunde, die Situation zu verbessern. Der Leiter von Mexikos Wasserversorgung, Ramón Aguirre Díaz rechnet 2017 damit, dass die Wasserquellen unter der Stadt in 40–50 Jahren versiegen werden. Das große Cutzamala-System versorgt mehrere Bezirke und Gemeinden im Bundesstaat Mexiko mit rund 485 Millionen Kubikmeter Trinkwasser pro Jahr. 20 % der Stadtbevölkerung werden nur unzuverlässig und mit krankmachendem Wasser aus der Leitung versorgt; Lieferungen mit Tankwagen sind teuer. 41,4 % des Trinkwassers versickert aus undichten Leitungen. Klimaerwärmung und eine allfällige Abnahme der Niederschläge belasten die Versorgungssicherheit. Ein nachhaltiger Umbau der Wasserversorgung und -entsorgung würde 200 Milliarden Pesos (ca. 9,5 Milliarden Euro) kosten, weshalb die aktuelle Regierung im Jahr 2017 zur Privatisierung der Wasserversorgung tendierte. === Geologie === Mexiko-Stadt befindet sich in einer durch Erdbeben gefährdeten Region, die regelmäßig von Erdstößen geringer bis mittlerer Intensität erschüttert wird. Am 19. September 1985 tötete ein verheerendes Erdbeben der Stärke 8,0 auf der Momenten-Magnituden-Skala mit Epizentrum im 350 Kilometer entfernten Bundesstaat Michoacán offiziell 10.000 Menschen, rund 250.000 wurden obdachlos. Nach Angaben der Rettungsmannschaften starben bis zu 45.000 Menschen. Insgesamt kam es an 2.800 Gebäuden zu Schäden, 880 von ihnen brachen zusammen. Die große Zahl der Opfer war unter anderem durch die mangelhafte Bauweise vieler Gebäude bedingt, zudem verstärkte der größtenteils weiche Untergrund der Hauptstadt die Stoßwellen. Am 19. September 2017 richtete ein Beben mit der Stärke 7,1 in der Stadt große Schäden an. Im Mittelpunkt eines ursprünglich abflusslosen Beckens liegt die Landeshauptstadt, die heute durch einen Entwässerungskanal mit dem Flusssystem des Pánuco in Verbindung steht. Das Tal befindet sich im südlichen Teil des Mexikanischen Hochlandes, das als Mesa Central bezeichnet wird. Es ist auch orografisch vom nördlichen sehr verschieden. Im Landschaftsbild überwiegt Gebirgscharakter. Waldbedeckte Vulkankegel, riesige Krater erloschener Vulkane, jähe Felsabstürze, die die Erosion in die Flanken des Gebirges gerissen hat, wechseln mit fruchtbaren, von vulkanischem Schutt erfüllten Hochebenen und Tälern. Dort liegt das Zentrum des Ackerbaus, dessen wichtigste Anbaufrüchte infolge der Lage in der Tierra Templada Bohnen, Mais, Weizen, Gemüse und Obst sind. Das gesamte Mexikanische Hochland birgt große Reichtümer an Blei, Kupfer, Zinn, Zinnober, Schwefel, Gold und Silber. Aus den Edelmetallen schufen die Azteken prächtigen Schmuck und andere Kunstgegenstände. Die Bitumenkohle, die in der Fortsetzung der Lignite von Texas und Coahuila auftritt, deckt den gesamten Kohlebedarf Mexikos. === Stadtgliederung === Mexiko-Stadt gliedert sich in 16 Stadtbezirke (delegaciones), die ihrerseits weiter in Stadtteile (colonias) untergliedert sind, sowie auf der untersten Regionalebene in barrios. In der folgenden Tabelle sind die Bezirke, deren Einwohnerzahl und Bevölkerungsdichte nach der Volkszählung des Jahres 2010 aufgeführt. === Klima === Die Stadt befindet sich in den Tropen, genauer gesagt in den Kalttropen wegen ihrer hohen Lage. Tagsüber ist es im Winter mit 20 bis 25 °C recht warm, nachts jedoch deutlich kühler, teils sogar frostig. Im Sommer zwischen April und Juni wird es um die Mittagszeit mit 25 bis 30 °C sehr warm. Von Oktober bis Mai ist Trockenzeit und von Juni bis September Regenzeit, in der es meist nachmittags und abends, manchmal aber bis in den Morgen hinein, zu heftigen Schauern kommt. Dann ist es sehr schwül. Die durchschnittliche Jahrestemperatur beträgt 15,9 °C, die jährliche Niederschlagsmenge 816,2 Millimeter im Mittel. Der wärmste Monat ist der Mai mit durchschnittlich 18,9 °C, die kältesten Monate sind Dezember und Januar mit 12,5 °C und 12,2 °C im Mittel. Der meiste Niederschlag fällt im Monat Juli mit durchschnittlich 175,1 Millimetern, der wenigste im Februar mit 4,3 Millimetern im Mittel. === Umweltprobleme === Die größte mexikanische Metropole hat mit zahlreichen Umweltproblemen zu kämpfen. Dazu gehören die hohe Luftverschmutzung, Probleme bei der Trinkwasserversorgung, unzureichende Strukturen in der Abfallbeseitigung, Defizite im öffentlichen Personennahverkehr (ÖPNV) und eine übermäßige Verkehrsbelastung. Etwa 1,3 Millionen Menschen in Mexiko-Stadt leben (Stand 2020) ohne direkten Trinkwasserzugang. Das Wasser für Mexiko-Stadt kommt aus anderen Teilen des Landes oder aus unterirdischen Wasserspeichern, die oft ausgetrocknet sind – die Stadt muss immer tiefer bohren, um Grundwasser zu erreichen. Die Leitungen sind rissig, so dass viel versickert; Abwasser und Industrieabfälle verunreinigen das Wasser. Dennoch haben Bewohner, die Zugang zu Trinkwasser haben, einen hohen Verbrauch. So lag dort der durchschnittliche Pro-Kopf-Verbrauch im Jahr 2018 bei 314 Litern täglich.Die Luftqualität von Mexiko-Stadt galt nach Angaben der Weltgesundheitsorganisation (WHO) lange als eine der schlechtesten der Welt. Bei den Parametern Schwefeldioxid, Feinstaub, Kohlenstoffmonoxid und Ozon werden die empfohlenen Grenzwerte der WHO deutlich überschritten. Ursache sind vor allem die mehr als vier Millionen Personenkraftwagen, 120.000 Taxen, 28.000 Omnibusse und mehrere zehntausend Lastkraftwagen, die täglich in der Metropolregion verkehren. Bedingt durch die schnelle Verstädterung, das stark gestiegene Verkehrsaufkommen und die Industriekonzentration im Ballungsraum stellen die übermäßige Emissionsbelastung und der Smog eine ernsthafte Bedrohung für die öffentliche Gesundheit dar. Der International Council on Clean Transportation (ICCT) schätzten für das Jahr 2007, dass jedes Jahr im Großraum Mexiko-Stadt rund 4000 Menschen an der Luftverschmutzung sterben.Die Stadt liegt im Tal von Mexiko, einer abflusslosen Hochebene in etwa 2000 Metern Höhe, die von Westen, Süden und Osten von Bergen eingeschlossen wird. Während Inversionswetterlagen nehmen besonders Atemwegserkrankungen unter der Bevölkerung der Hauptstadt zu. Warme Luftmassen in einigen hundert Metern Höhe und der fehlende Wind über dem Erdboden verhindern dann die Luftzirkulation. Die Regierung verstärkte seit Jahren den Kampf gegen die Umweltverschmutzung. So wurden Fahrverbote für Privatfahrzeuge mit zu hohen Emissionen erlassen, nachdem tageweise nur Fahrzeuge mit geraden oder ungeraden Nummern fahren durften. Der Einsatz von blei- und schwefelarmen Kraftstoffen wurde gefördert sowie die Industrie und Privathaushalte zum Einbau von Katalysatoren verpflichtet. Auch mussten viele alte Industriebetriebe schließen und die bestehenden Werke verschärfte Umweltschutzmaßnahmen umsetzen. == Geschichte == === Präkolumbianische Zeit === Die ältesten Spuren menschlicher Besiedlung auf dem Gebiet von Mexiko-Stadt sind die der „Frau von Peñón“ und anderer Funde in San Bartolo Atepehuacan (Gustavo A. Madero). Man geht davon aus, dass sie dem unteren Zänolithikum (9500–7000 v. Chr.) zuzuordnen sind. 2003 wurde das Alter der Frau von Peñón jedoch auf 12 700 Jahre (Kalenderalter) festgelegt, eine der ältesten menschlichen Überreste, die in Amerika entdeckt wurden. Die Untersuchung ihrer mitochondrialen DNA legt nahe, dass sie asiatischer oder europäischer. Herkunft war. In den ersten drei Jahrtausenden v. Chr. entwickelten sich hier unter dem Einfluss oder im Schatten der Olmekenkultur mehrere bedeutende Völker wie Cuicuilco. Gegen Ende der vorklassischen Periode wich die Vorherrschaft von Cuicuilco dem Aufstieg von Teotihuacan, das nordöstlich des Texcoco-Sees liegt. Während der klassischen Periode war diese Stadt ein Zentrum, in dem sich die meisten Bewohner des Seebeckens konzentrierten, während Azcapotzalco als einer ihrer Trabanten am Westufer von Völkern der Otomí bewohnt wurde. Im Osten des Sees befand sich auf dem Hügel Cerro de la Estrella ein kleines Dorf von Teotihuacan. Der Niedergang Teotihuacans begann um das 8. Jahrhundert. Ein Teil der Bewohner zog an die Ufer des Texcoco-Sees, wo sie Städte wie Culhuacan, Coyoacán und Copilco gründeten. Zwischen dem 8. und 13. Jahrhundert war die Region Schauplatz der Teochichichimek-Migrationen, aus denen die toltekische und die aztekische Kultur hervorgingen. Letztere kamen um das 14. Jahrhundert und ließen sich zunächst an den Ufern des Sees nieder. Aufgrund ihrer mythologischen Ursprünge gibt es keinen wissenschaftlichen Konsens darüber, wann die Stadt Mexiko-Tenochtitlan gegründet wurde, aber es ist möglich, dass dies im frühen. Quellen aus dem sechzehnten Jahrhundert, die antike und westliche Kalender miteinander in Beziehung setzen, datieren ihn auf das Jahr 1325. -2 Häuser im mexikanischen Kalender - oder auf das Jahr 1345, auf einer kleinen Insel in der Mitte der Seezone. Einige Jahre später soll ein Teil der aus dem Norden des Landes einwandernden Mexica die Stadt Mexiko-Tlatelolco auf einer anderen Insel im Nordwesten gegründet haben. Später, im Jahr 1428, gründeten Tenochtitlan, Tetzcoco und Tlacopan den von den Mexica dominierten Dreibund und schufen ein Reich mit einer Fläche von etwa 300 000 Quadratkilometern. Im Rahmen dieser Expansion eroberte Tenochtitlan 1473 die andere mexikanische Stadt Tlatelolco, die aufgrund ihrer Nähe zu einem einzigen Stadtgebiet zusammengefasst wurde. Zur Zeit der Ankunft der Spanier war Mexiko-Tenochtitlan eine der größten Städte der antiken Welt und hatte nach modernen Schätzungen 300.000 Einwohner. Die Gründung der Stadt unter dem Namen Tenochtitlan geht aztekischen Aufzeichnungen zufolge auf das Jahr 1345 zurück, als sich eine Schar von Nomaden aus dem Norden auf einer Insel im Texcoco-See ansiedelte. Die Azteken (eigentlich Méxica) ließen sich dort nach langen Jahren des Umherziehens nieder, während derer sie sich von dem ernährt hatten, was in festen Siedlungen freiwillig oder unfreiwillig zu bekommen gewesen war. Ihrer Überlieferung zufolge hatten sie von ihrem Gott Huitzilopochtli den Auftrag erhalten, an der Stelle eine Stadt zu gründen, wo sie einen Adler fänden, der auf einem Kaktus sitzend eine Schlange verspeiste. Sie fanden ihn – auf einer Insel mitten im See. Adler, Schlange und Kaktus bilden das Zentralmotiv der heutigen mexikanischen Flagge. Die tatsächliche Siedlungsgeschichte verlief jedoch vermutlich anders. Für die von Ort zu Ort getriebenen Méxica bedeuteten die kleinen Inseln inmitten des flachen Sees in erster Linie einen guten strategischen Rückzugspunkt. Die Stelle war gut gewählt, denn der See versorgte sie mit Fisch, und der Boden der Chinampas, der schwimmenden Gärten, die sie angelegt hatten, war überaus fruchtbar. Das wenige vorhandene Land hätte nicht ausgereicht, um die große Stadt zu ernähren, also wurden große Flöße gebaut und mit Erde beladen. Auf diesen im See gelegenen Nutzflächen züchtete man Blumen und Gemüse. Zwischen den Inseln und dem Festland wurden Dämme errichtet, die den Wasserstand des Sees regelten und so gebaut waren, dass die durch Brücken und Kanäle miteinander verbundenen Inseln im Notfall überflutet werden konnten. Zugbrücken schützten vor Angriffen (und verhinderten die Flucht). Die Stadt auf der Insel erstreckte sich bald über mehr als 13 Quadratkilometer. Die Azteken gingen daran, ihren Machtbereich auszudehnen. Zuerst unterwarfen sie mit Waffengewalt, Intrigen und mit Hilfe wechselnder Verbündeter das Hochtal. Hundert Jahre vor der Conquista geboten die Azteken bereits über ein riesiges Reich, in dem ein reger Warenaustausch herrschte und dem selbst einige der entlegensten Gebiete des Landes tributpflichtig waren. === Die Conquista === Im Jahr 1519 gründete der spanische Konquistador Hernán Cortés im Auftrag des Gouverneurs von Kuba, Diego Velázquez de Cuéllar, die Stadt Veracruz und marschierte mit 300 Spaniern und 800 Totonaken in Richtung Mexiko-Tenochtitlan, um Mexiko zu erkunden und Kontakte zu knüpfen. Mehrere Umstände kamen ihm zugute: der Besitz von Feuerwaffen, die Unterstützung durch Stämme, die mit den Azteken im Krieg lagen oder von diesen unterdrückt wurden, und das Zögern ihres Herrschers Moctezuma II., offenen Widerstand zu leisten. Im Juli 1519 erreichten die Spanier über Iztapalapan das Gebiet des heutigen Mexiko-Stadt. Sie setzten ihre Reise über den Damm von Iztapalapan zur Hauptstadt Tenochca fort. Er kam am 9. November in der Hauptstadt an und wurde von Moctezuma II. gut empfangen. Moctezuma hieß die Spanier willkommen; sie tauschten Geschenke aus, aber die Kameradschaft hielt nicht lange an. Cortés stellte Moctezuma unter Hausarrest, in der Hoffnung, durch ihn regieren zu können. Doch in den folgenden Monaten wurden die Beziehungen schwierig, und nach der Ermordung aztekischer Würdenträger im Mai 1520 erhob sich die Stadt und belagerte die Spanier in dem ihnen vom Kaiser zugewiesenen Palast. Im Jahr 1520 griff Pedro de Alvarado (in Abwesenheit von Cortés) die Azteken beim Massaker von Toxcatl an. Zu diesem Zeitpunkt begannen die Azteken mit den Feindseligkeiten gegen die europäischen Eindringlinge. Nachdem ein Feldherr Moctezumas mehrere Spanier in seine Gewalt gebracht hatte und deren abgeschnittene Köpfe überall herumschickte, nahm Cortés Moctezuma am 17. November 1519 in seinem eigenen Palast gefangen und ließ ihn im spanischen Lager festhalten. Doch wenn man den spanischen Berichten glauben will, hat ihn letztlich sein eigenes Volk zu Tode gesteinigt, als er einen Aufstand wegen der ungebetenen Gäste zu verhindern suchte. In der Folge wurden die Spanier unter großen Verlusten aus der Stadt vertrieben. Cortés und einige seiner Männer entkamen und fanden bei ihren engsten Verbündeten unter den Einheimischen in Tlaxcala Schutz. Dort bauten sie neue Schiffe und konnten ihre Truppe neu formieren. Mit Unterstützung ihrer indianischen Partner hielten sie Tenochtitlán drei Monate lang belagert, bis sie schließlich am 13. August 1521 den verzweifelten Widerstand der Azteken brachen und die Stadt einnehmen konnten. Während der Eroberung hatte Hernán Cortés Malintzin, bekannt als La Malinche, als Assistentin und Übersetzerin, die ihm bei der Kommunikation mit den Azteken half. Anstelle von Montezuma, der von seinem Volk gelyncht wurde, nachdem er von den Spaniern zur Einstellung der Feindseligkeiten gezwungen worden war, wurde Cuitláhuac zum tlatoani von Mexiko-Tenochtitlan gewählt. Er führte den Widerstand gegen die spanische Besatzung an und besiegte die Eindringlinge und ihre einheimischen Verbündeten am 30. Juni, 1520 besiegte er die Eindringlinge und ihre einheimischen Verbündeten in der als „La Noche Triste“ (Die traurige Nacht) bekannten Episode - die Azteken erhoben sich gegen das spanische Eindringen und schafften es, die Europäer und ihre tlaxcaltekischen Verbündeten gefangen zu nehmen oder zu vertreiben, was am 7. Juli durch den Sieg bei Otompan ausgeglichen wurde. Cortés sammelt sich wieder in Tlaxcala. Die Azteken glauben, dass die Spanier für immer verschwunden sind. Im Mai 1521 begann Cortés mit der Belagerung von Tenochtitlan. Drei Monate lang litt die Stadt unter Nahrungs- und Wassermangel sowie unter der Verbreitung der von den Europäern eingeschleppten Pocken. Cortés und seine Verbündeten landeten ihre Truppen im Süden der Insel und arbeiteten sich langsam durch die Stadt vor. Zu dieser Zeit brach auch eine verheerende Pockenepidemie aus, die Tausende von Opfern forderte, darunter auch Cuitláhuac selbst. Cuitláhuacs Nachfolger wurde Cuauhtémoc, der von den mit den Eingeborenen des Puebla-Tlaxcala-Tals verbündeten Spaniern belagert wurde. Nachdem er seine Streitkräfte mit Unterstützung seiner indianischen Verbündeten (Totonaken und Tlaxcalteken), wieder aufgebaut hatte, kehrte Cortés im Mai 1521 zurück, um die Stadt zu belagern, die am 13. August 1521 fiel: Die aztekische Hauptstadt wurde weitgehend zerstört, wobei Zehntausende getötet wurden. Cuauhtémoc kapitulierte nach mehreren Niederlagen der Azteken und Tlatelolcas durch Pocken und Hungersnot am 13. August 1521, als er in Tlatelolco gefangen genommen wurde. === Koloniale Epoche === Die Stadt wurde zur Hauptstadt Neuspaniens und während dieser Zeit zur bevölkerungsreichsten Stadt des amerikanischen Kontinents. Alle Gebäude der Azteken wurden zerstört, außer den Palästen des Kaisers Moctezuma, den Cortés zu seiner Residenz machte. 1521 beschloss Cortés, Tenochtitlan zur Hauptstadt Neuspaniens zu machen, und ordnete den Wiederaufbau an, da die Stadt während des Eroberungskriegs zerstört worden war. Während des Wiederaufbaus siedelte er die spanische Regierung in der Stadt Coyoacán südlich des Texcoco-Sees an. Von dort aus regierte er vorübergehend mit dem Titel Generalkapitän, der von Kaiser Karl V. (HRR). ratifiziert wurde. Von Coyoacán aus machten sich die Eroberungsexpeditionen des ehemaligen Aztekenreichs daran, die indigenen Völker in den verschiedenen Regionen des späteren Vizekönigreichs Neuspanien zu unterwerfen. Im Jahr 1528 wurde die erste Audiencia de México mit Nuño de Guzmán an der Spitze gegründet, und 1535 wurde das Vizekönigreich Neuspanien mit seinem ersten Vizekönig Antonio de Mendoza gegründet, der die territoriale Expansion der spanischen Eroberung fortsetzte. Die Städte rund um den See (wie Tacuba und Xochimilco) erhielten im 16. Jahrhundert häufig Encomiendas, waren aber allmählich nur noch von den Beamten des Königs abhängig. Mexiko-Stadt wurde in Barrios unterteilt (die sich auf den territorialen Strukturen der calpultin mexicas niederließen). Diese indianischen Barrios befanden sich ursprünglich in den Außenbezirken, aber mit dem Wachstum der Stadt und der Arbeitsmigration wurden die Grenzen immer unklarer, und die Indianer lebten schließlich im Zentrum der Stadt. Gleichzeitig fand ein Prozess der kulturellen Assimilierung und Erziehung der Eingeborenen in Schulen statt, die in Klöstern und Pfarreien untergebracht waren. Die Ausbildung der Indianer war Gegenstand einer intensiven Kampagne, die vor allem von den Franziskanern geleitet wurde, die neben der Lehre auch Kunst und Handwerk unterrichteten. Die Franziskaner gründeten auch das Kolleg vom Heiligen Kreuz in Tlatelolco für die Kinder des einheimischen Adels, wo die Schüler neben anderen Sprachen auch Latein lernten. Gegen Ende des 16. Jahrhunderts wurde diese Schule nicht mehr genutzt. Unter dem Vizekönigreich war Mexiko-Stadt voll von prächtigen Bauten, sei es für religiöse Kulte, Verwaltungsgebäude oder die Residenzen der Elite, umgeben von armen Vierteln. Die Vorstellung von zwei Republiken -der indianischen und der spanischen- wird von der Realität einer Mestizenbevölkerung überholt, bei der die Kategorien Spanisch oder Indio nicht allein von der ethnischen Herkunft abhängen. Wir können also nicht von einer reichen „Stadt der Spanier“ und einer armen „Stadt der Indianer“ sprechen. Die vizekönigliche Stadt wurde mehrfach von Überschwemmungen heimgesucht, vor allem in den Jahren 1555, 1580, 1607, 1629, 1707, 1714 und 1806. Beeindruckend ist, dass Tenochtitlan im Durchschnitt alle 64 Jahre überflutet wurde, während die Hauptstadt des Vizekönigreichs alle 14 Jahre überflutet wurde. Aus diesem Grund beschlossen die Spanier, das Seebecken des Mexikotals durch den Bau eines Entwässerungskanals und einer Schleuse zu entwässern und das Wasser über den Fluss Tula abzuführen, wobei sie die aztekische Methode der Dämme, Deiche und Schleusen außer Acht ließen. Der Vizekönig von Mexiko oder Vizekönig wohnte im Vizekönigspalast auf dem Hauptplatz oder Zócalo. Die Metropolitankathedrale von Mexiko-Stadt, Sitz der Erzdiözese Neuspanien, wurde auf der anderen Seite des Zócalo erbaut, ebenso wie der Erzbischofspalast und das gegenüberliegende Gebäude der Stadtverwaltung (ayuntamiento). Ein Gemälde des Zócalo aus dem späten 17. Jahrhundert von Cristóbal de Villalpando zeigt den Hauptplatz als das alte aztekische Zeremonialzentrum. Der bestehende aztekische Hauptplatz wurde während der Kolonialzeit tatsächlich und dauerhaft in ein zeremonielles Zentrum und einen Sitz der Macht umgewandelt und ist bis heute im modernen Mexiko der zentrale Platz des Landes. Der Wiederaufbau der Stadt nach der Belagerung von Tenochtitlan wurde durch die zahlreichen einheimischen Arbeitskräfte ermöglicht. Der Franziskanermönch Toribio de Benavente Motolinia, einer der Zwölf Apostel Mexikos, der 1524 in Neuspanien eintraf, beschrieb den Wiederaufbau der Stadt als eine der Plagen der ersten Periode: 1551 eröffnete in der Hauptstadt die erste Universität des Landes (UNAM). 1737 wurde die „Jungfrau von Guadalupe“ von der katholischen Kirche zur Schutzpatronin von Mexiko-Stadt erklärt. Im 18. Jahrhundert baute man zahlreiche Kirchen und Gebäude im Stil des Barock, woraus sich später der mexikanische Churriguera-Stil entwickelte. Vor der Eroberung wurde Tenochtitlan im Zentrum des Binnenseesystems errichtet, das mit dem Kanu und über breite Dammwege zum Festland erreichbar war. Die Dämme wurden unter spanischer Herrschaft mit Hilfe indigener Arbeitskräfte wiederaufgebaut. Die spanischen Kolonialstädte wurden nach einem Rasterplan gebaut, sofern keine geografischen Hindernisse im Weg waren. In Mexiko-Stadt war der Zócalo (Hauptplatz) der zentrale Platz, von dem aus das Raster dann nach außen hin erweitert wurde. Die Spanier lebten in dem Bereich, der dem Hauptplatz am nächsten lag, in der so genannten traza, in geordneten, gut angelegten Straßen. Die Wohnsitze der Einheimischen lagen außerhalb dieser exklusiven Zone, und die Häuser waren willkürlich angeordnet. Die Spanier versuchten, die Eingeborenen auszusondern, aber da der Zócalo ein Handelszentrum für die Indianer war, hielten sie sich ständig in der zentralen Zone auf, so dass eine strikte Trennung nie durchgesetzt wurde. In regelmäßigen Abständen war der Zócalo Schauplatz großer Feierlichkeiten und Hinrichtungen. Er war auch Schauplatz zweier großer Unruhen im 17. Jahrhundert, eine im Jahr 1624, die andere im Jahr 1692. Mit dem Anwachsen der Bevölkerung wuchs auch die Größe der Stadt, und sie stieß an das Wasser des Sees. Da die Tiefe des Sees schwankte, wurde Mexiko-Stadt periodisch überflutet. Während der Kolonialzeit wurden Tausende von Ureinwohnern gezwungen, an der Infrastruktur zu arbeiten, um Überschwemmungen zu verhindern, und zwar im Rahmen eines großen Arbeitsprojekts, das als desagüe bekannt ist. Überschwemmungen waren nicht nur lästig, sondern auch gesundheitsgefährdend, da während der Überschwemmungsperioden menschliche Abfälle die Straßen der Stadt verschmutzten. Durch die Trockenlegung des Gebiets wurden die Mückenpopulation und die Häufigkeit der von ihnen übertragenen Krankheiten reduziert. Die Trockenlegung der Sümpfe veränderte jedoch auch den Lebensraum von Fischen und Vögeln sowie die Anbauflächen für einheimische Pflanzen in der Nähe der Hauptstadt. Im 16. Jahrhundert entstanden zahlreiche Kirchen, von denen viele noch heute im historischen Zentrum zu sehen sind. Wirtschaftlich florierte Mexiko-Stadt dank des Handels. Anders als Brasilien und Peru hatte Mexiko einen einfachen Zugang zum Atlantik und zum Pazifik. Obwohl die spanische Krone versuchte, den Handel in der Stadt vollständig zu regulieren, war sie nur teilweise erfolgreich. Das Konzept des Adels entwickelte sich in Neuspanien in einer Weise, die in anderen Teilen Amerikas unbekannt war. Die Spanier trafen auf eine Gesellschaft, in der sich das Konzept des Adels mit ihrem eigenen deckte. Die Spanier respektierten und ergänzten den einheimischen Adelsstand. In den folgenden Jahrhunderten bedeutete der Besitz eines Adelstitels in Mexiko nicht die Ausübung großer politischer Macht, da diese Macht begrenzt war, auch wenn die Anhäufung von Reichtum dies nicht war. Das Konzept des Adels in Mexiko war nicht politisch, sondern eher ein sehr konservatives spanisches Gesellschaftskonzept, das auf dem Nachweis des Familienwerts beruhte. Die meisten dieser Familien bewiesen ihren Wert, indem sie in Neuspanien außerhalb der Stadt selbst ein Vermögen erwarben und den Erlös dann in der Hauptstadt ausgaben, indem sie Kirchen bauten, Wohltätigkeitsorganisationen unterstützten und extravagante Paläste errichteten. Die Begeisterung für den Bau möglichst opulenter Residenzen erreichte in der letzten Hälfte des 18. Jahrhunderts ihren Höhepunkt. Viele dieser Paläste sind noch heute zu sehen und brachten Mexiko-Stadt den Spitznamen „Stadt der Paläste“ von Alexander von Humboldt ein. === Unabhängigkeit === Nach der Besetzung der Halbinsel durch die Franzosen sprach sich der mexikanische Stadtrat für die Schaffung einer souveränen Junta aus, die Neuspanien für die Dauer der Besetzung regieren sollte. Die radikalsten Mitglieder, wie Francisco Primo de Verdad und Melchor de Talamantes, vertraten die Ansicht, dass die Unabhängigkeit endgültig sein sollte. Die mexikanische Junta wurde vom Vizekönig José de Iturrigaray unterstützt. Eine reaktionäre Bewegung verhaftete jedoch 1808 Mitglieder des Stadtrats, was zur Absetzung des Vizekönigs führte. Nach dem Beginn der Unabhängigkeitsrevolution in Dolores, Guanajuato, war es das Ziel der aufständischen Truppen, die Hauptstadt zu erobern. Ihr Weg führte sie in die Außenbezirke von Mexiko-Stadt. Hidalgo und seine Armee erreichten San Pedro Cuajimalpa kurz nach der Ausrufung der Unabhängigkeit in Dolores. Sie besiegten die Royalisten in der Schlacht von Monte de las Cruces und trotzdem beschlossen die Aufständischen, ohne die Hauptstadt einzunehmen, in den Bajío zurückzukehren. Von da an war das Mexiko-Tal kein militärisches Ziel mehr für die Unabhängigkeitskämpfer und wurde zur Hochburg der royalistischen Armee. Im Jahr 1820, als die Volksrevolution fast erloschen war, kam es in Mexiko-Stadt zu neuen Bewegungen gegen die vizekönigliche Regierung. Diesmal waren die Verschwörer dieselben, denen es gelungen war, Iturrigaray zu stürzen, dessen Privilegien nach der Verabschiedung der Verfassung von Cádiz bedroht waren. Unter ihnen schloss Agustín de Iturbide einen Pakt (Plan von Iguala) mit Vicente Guerrero (Anführer der Revolution in Südmexiko) und zwang Juan O’Donojú zur Unterzeichnung der Verträge von Córdoba, in denen die Unabhängigkeit Mexikos erklärt wurde. Am 27. September 1821 zog die Armee der drei Garantien im Triumph in Mexiko-Stadt ein, woraufhin Agustín de Iturbide vom Kongress zum Kaiser des Ersten Mexikanischen Reiches ausgerufen und in der Kathedrale von Mexiko-Stadt gekrönt wurde. === 19. Jahrhundert === Nach der Unabhängigkeit wurde Mexiko-Stadt die Hauptstadt des gleichnamigen Bundesstaates. Am 18. November 1824 beschloss der Kongress die Schaffung eines Bundesdistrikts, in dem die Bundesbehörden angesiedelt werden sollten. Das Gebiet des Bundesdistrikts bestand aus Mexiko-Stadt und sechs weiteren Gemeinden: Tacuba, Tacubaya, Azcapotzalco und Mixcoac, am 20. Februar 1837. Diese Zeit war geprägt von internen Kämpfen, zwei ausländischen Invasionen (französisch und amerikanisch) und einem Bürgerkrieg, der mit dem Triumph der Liberalen und der Regierung von Benito Juárez endete. Unter seinem Regime wurden die Reformgesetze umgesetzt, die eine Überprüfung der historischen und philosophischen Grundlagen der mexikanischen Gesellschaft vorsahen. Sie leugneten die indigene Vergangenheit und den europäischen Katholizismus und förderten die Auflösung der religiösen Vereinigungen und des indigenen Gemeinschaftseigentums; sie schlugen die Trennung von Kirche und Staat, die Aufhebung des kirchlichen Eigentums und die Freiheit des Bildungswesens (durch Auflösung der religiösen Orden, die dieses monopolisiert hatten) vor. Im 19. Jahrhundert stand der Föderationskreis im Mittelpunkt aller politischen Auseinandersetzungen des Landes. Zweimal war er kaiserliche Hauptstadt (1821–1823 und 1864–1867), und zwei föderalistische und zwei zentralistische Staaten lösten sich nach zahlreichen Staatsstreichen innerhalb eines halben Jahrhunderts ab, bevor die Liberalen nach dem Reformationskrieg triumphierten. Es war auch das Ziel einer der beiden französischen Invasionen in Mexiko (1861–1867) und wurde im Rahmen des amerikanischen Interventionskriegs (1847–1848) ein Jahr lang von amerikanischen Truppen besetzt. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts beschloss die mexikanische Regierung im Rahmen des Porfirieren eine Reihe von Stadtentwicklungsprojekten, die sich zwar auf Mexiko-Stadt konzentrierten, aber schließlich das gesamte Gebiet des Bundesdistrikts betreffen sollten. Dazu gehörte der Bau des Großen Entwässerungskanals, der um 1878 begonnen und 1900 abgeschlossen wurde. Durch diese Arbeiten wurden die Seen, die einen großen Teil des Hauptstadtgebiets bedeckten, fast vollständig beseitigt. Für den Transport auf den Kanälen in den Tälern wurden Dampfschiffe und für den Überlandverkehr Straßenbahnen eingeführt. === Die Porfirische Ära (1876–1911) === Ereignisse wie der Mexikanisch-Amerikanische Krieg, die französische Intervention und der Reformkrieg ließen die Stadt relativ unberührt und sie entwickelte sich weiter, vor allem unter der Herrschaft von Präsident Porfirio Díaz. In dieser Zeit wurde die Stadt mit moderner Infrastruktur wie Straßen, Schulen, Transportsystemen und Kommunikationssystemen. Allerdings konzentrierte das Regime die Ressourcen und den Reichtum in der Stadt, während der Rest des Landes in Armut schmachtete. Unter der Herrschaft von Porfirio Díaz wurde Mexiko-Stadt massiv umgestaltet. Díaz' Ziel war es, eine Stadt zu schaffen, die mit den großen europäischen Städten konkurrieren konnte. Er und seine Regierung kamen zu dem Schluss, dass sie Paris als Vorbild nehmen würden, wobei ein Großteil der indianischen und spanischen Gebäude erhalten bleiben sollte. Dieser mexikanisch-französische Fusionsarchitekturstil wurde umgangssprachlich als Porfirianische Architektur bekannt. Die Porfirian-Architektur wurde stark von der Haussmannisierung von Paris beeinflusst. In dieser Zeit wurde die Stadt umfassend modernisiert. Einige Gebäude im spanischen Kolonialstil wurden abgerissen und durch neue, viel größere porfirische Einrichtungen ersetzt, und viele abgelegene ländliche Gebiete wurden in städtische oder industrialisierte Bezirke umgewandelt, von denen die meisten bis 1908 mit Elektrizität, Gas und Kanalisation versorgt wurden. Während anfangs der Schwerpunkt auf der Entwicklung von Krankenhäusern, Schulen, Fabriken und massiven öffentlichen Bauvorhaben lag, waren die nachhaltigsten Auswirkungen der Modernisierung in Porfiria zweifellos die Schaffung des Viertels Colonia Roma und die Entwicklung des Paseo de la Reforma. Französische Architektur aus der Zeit des Porfiriato, deren architektonisches Erbe noch heute in den Stadtvierteln Condesa, Roma, Benito Juárez, Zona Rosa und Chapultepec zu sehen ist.Eines der besten Beispiele ist das Monument der mexikanischen Revolution. Ursprünglich war es als Hauptkuppel von Diaz' neuem Senatssaal gedacht, doch als die mexikanische Revolution ausbrach, wurden nur die Kuppel des Senatssaals und ihre Stützpfeiler fertiggestellt. Dies wurde von vielen Mexikanern als Symbol für das endgültige Ende der porfirianischen Ära gesehen und daher in ein Denkmal für den Sieg über Diaz umgewandelt. Im Jahr 1910 begann die mexikanische Revolution mit dem Triumph von Francisco Madero und der Verbannung von Präsident Porfirio Díaz nach Paris. Während der kurzen Amtszeit Maderos erlebte die Stadt das als „Tragisches Jahrzehnt“ bekannte Ereignis, eine zehntägige Periode von Kämpfen, die die Stadt im Februar 1913 erschütterte, als eine Gruppe von Rebellen unter der Führung von Bernardo Reyes, Félix Díaz und Manuel Mondragón -und einem Teil der mexikanischen Armee-Präsident Madero stürzte und ermordete. === Die neuzeitliche Stadt === Über das Gebiet des trockengelegten Sees hinaus dehnte sich die Stadt allmählich aus. Für eine moderne Stadt war die Lage in vieler Hinsicht ungünstig. In den unzureichend trockengelegten Sümpfen breiteten sich Krankheitserreger aus. Viele Gebäude sackten über die Jahrzehnte wegen des gesunkenen Grundwasserspiegels ab. Im Zentrum stößt man auf alte, z. T. mehrere Meter abgesackte Kirchen und Wohnhäuser (vgl. oben unter Hydrologie). Außerdem gibt es häufig Erdbeben, so zuletzt am 18. April 2014 und am 19. September 2017. Während der Revolution verloren fast zwei Millionen Mexikaner ihr Leben und eine noch viel größere Zahl ihr Eigentum und ihre Existenzgrundlage. Tausende Verzweifelter flüchteten in die schnell wachsende Hauptstadt auf der Suche nach Arbeit und besseren Lebensbedingungen. Zwischen 1920 und 1940 verdoppelte sich die Einwohnerzahl der Stadt auf 1,8 Millionen, in der Infrastruktur klafften riesige Löcher und die sozialen Probleme verschärften sich. An der Plaza de las Tres Culturas zeigte sich am 2. Oktober 1968 der Staat von seiner grausamsten Seite. Truppen und Panzer gingen gegen fast 250.000 demonstrierende Studenten vor. Es war der Höhepunkt monatelanger Studentenproteste gegen die schlechten sozialen Verhältnisse, miserablen Unterrichtsbedingungen und demokratischen Defizite der de facto diktatorischen Regierung der Einheitspartei PRI (Partido Revolucionario Institucional). Da zehn Tage später die Olympischen Sommerspiele in Mexiko-Stadt eröffnet werden sollten, wurde der Aufruhr mit brutaler Gewalt unterdrückt. Die Zahl der Todesopfer belief sich nach offiziellen Verlautbarungen auf 30, nach Aussagen der Studenten auf über 500. Das Ereignis ging als „Massaker von Tlatelolco“ in die Geschichte ein. 1968 hatte die Stadt eine Einwohnerzahl von sechs Millionen erreicht. Der Bau von Häusern konnte nicht mit dem jährlichen Bevölkerungswachstum von sieben Prozent mithalten. Da sich zudem viele Menschen keine Häuser leisten konnten, entstanden riesige Slums mit selbst gezimmerten Elendshütten. Die meisten hatten weder Wasser noch ausreichende Sanitäranlagen. Auch konnte das öffentliche Verkehrsnetz mit dem Wachstum der Stadt nicht Schritt halten, obwohl Ende der 1960er Jahre mit dem Bau einer U-Bahn begonnen wurde. Im Jahre 2000 wurde der 175. U-Bahnhof eingeweiht. Weitere U-Bahn-Stationen sind geplant. Das Wachstum hält an: Laut Schätzungen kommen jeden Tag tausend Zuzügler in die Metropole, deren Grenzen inzwischen die des offiziellen Stadtgebiets gesprengt haben und weit in den Bundesstaat México hineinreichen. Als eine der am dichtesten besiedelten Metropolregionen der Welt wird sie von zahlreichen sozialen und strukturellen Problemen geplagt. === Einwohnerentwicklung === Mexiko-Stadt ist mit 8,9 Millionen Einwohnern (2015) nach São Paulo die zweitgrößte Stadt Lateinamerikas und mit 21,6 Millionen Menschen (2019) in der Agglomeration eine der zehn größten Metropolregionen der Welt. 2015 betrug die Bevölkerungsdichte in der Stadt 5.967 Einwohner pro Quadratkilometer, im Ballungsraum 2.683. Mexiko-Stadt war seit der Stadtgründung im Jahre 1521 der Sitz der spanischen Vizekönige und erhielt dadurch ihre Stellung als Primatstadt: Sie ist noch heute gleichzeitig Hauptstadt und Knotenpunkt für die bedeutendsten politischen und wirtschaftlichen Ereignisse des Landes. Doch erst durch eine bessere Versorgung der Menschen (zum Beispiel im Gesundheitswesen) und die Ansiedlung zahlreicher Industriebetriebe seit den 1930er-Jahren begann der Zustrom von Menschen aus dem Umland in die Stadt. Noch 1950 hatte die Stadt 3,1 Millionen Einwohner. 1970 waren es schon 6,9 Millionen Menschen und die Zuwachsrate des Ballungsgebietes lag bei etwa einer Million Menschen pro Jahr. Bevölkerungsentwicklung der Stadt Die folgende Übersicht zeigt die Einwohnerzahlen nach dem jeweiligen Gebietsstand. Bis 1889 handelt es sich meist um Schätzungen, von 1895 bis 2010 um Volkszählungsergebnisse. Die Einwohnerzahlen beziehen sich auf die eigentliche Stadt ohne den Vorortgürtel. Bevölkerungsentwicklung der Metropolregion Der Ballungsraum Mexiko-Stadt erlebte in den letzten Jahrzehnten eine enorme Expansion der Einwohnerzahl. In den letzten Jahren war allerdings auch hier eine Abschwächung festzustellen. Für das Jahr 2035 wird eine Bevölkerung von 25,4 Millionen erwartet. === Entwicklung der Wohnsituation === Im Jahre 1824 unterteilte man Mexiko-Stadt in die eigentliche Stadt und den darum liegenden Bezirk, genannt „Zona Metropolitana de la Ciudad de México“ (ZMCM). Dieser Bezirk hatte zum damaligen Zeitpunkt eine Größe von 1.479 Quadratkilometer, über dessen Grenzen die Stadt aber schon längst wieder hinaus gewachsen ist. Mexiko-Stadt selbst umfasst die im Stadtkern dicht besiedelten Gebiete mit einem Wachstum von 1,8 Prozent pro Jahr. Die ZMCM beinhaltet die Randgebiete, hauptsächlich im Staat México, in die zahlreiche Menschen aus dem Stadtkern abwandern. Das jährliche Wachstum in diesen Stadtbezirken liegt bei unter vier Prozent pro Jahr. Sehr deutlich fällt in Mexiko-Stadt die Verteilung der Bevölkerung in wohlhabende und sozial schwache Stadtviertel auf: Schon früh siedelten sich im Westen und Süden der Stadt die Menschen der Oberschicht an. Der Süden, erst die Colonia Roma und später Coyoacán und San Ángel waren beliebt beim mexikanischen Adel. Heute ist der Süden eine beliebte Wohngegend. Der Westen wurde zum bevorzugten Wohngebiet für Wohlhabende durch Kaiser Maximilian, der im 400 Hektar großen Park von Chapultepec 1864 ein Schloss baute. Viele Hotels, Banken und Versicherungen haben sich in der Gegend um den Chapultepec Park niedergelassen. Der Norden zählt als großes Industriegebiet: zahlreiche Industriebetriebe und mehrere Arbeiterviertel sind hier zu finden. Nordwestlich entstand nach dem Zweiten Weltkrieg das gutbürgerliche Wohnviertel Ciudad Satélite. Es gehört politisch zur Stadt Naucalpán, einer direkten Nachbargemeinde von Mexiko-Stadt mit 844.000 Einwohnern (Volkszählung 2015). Im Osten leben vor allem Menschen aus der Mittelschicht. Die östlichen Vororte sind das Wohngebiet der sozial schwachen Bevölkerung bis zu den Pepenadores, welche den Müll nach verwertbaren Resten durchsuchen. Die Unterschicht lebt auf dem Boden des trockengefallenen Texcoco-Sees, von dem oft durch den ungünstigen Wind sehr viel Staub in die armen Wohnviertel getragen wird. Städtebaulich handelt es sich dabei um informelle Siedlungen, wobei sich viele der älteren Siedlungen trotz fehlender wichtiger Infrastrukturen (zum Beispiel Leitungswasser) gegenwärtig in einem Prozess der allmählichen Konsolidierung befinden. Die dort lebenden Menschen sind durch verschiedene Infektionserkrankungen gefährdet, die durch unzureichende hygienische Bedingungen verbreitet werden. In dieser Gegend liegt die Stadt Nezahualcóyotl, in der 1,1 Millionen Menschen leben (Volkszählung 2010). Die politisch selbständige Gemeinde zählt zu den ärmsten Großstädten Mexikos. == Politik == === Stadtregierung === Regierungschefin von Mexiko-Stadt ist seit dem 5. Dezember 2018 Claudia Sheinbaum Pardo vom Movimiento Regeneración Nacional (MORENA). Sie wurde am 1. Juli 2018 als Teil der Juntos Haremos Historia Koalition gewählt und ist die erste Frau in diesem Amt. Ihr Vorgänger war seit dem 5. Dezember 2012 Miguel Ángel Mancera von der Movimiento Progresista (PRD, PT, Convergencia). Er gewann die Wahlen am 1. Juli 2012 mit 46,37 Prozent der abgegebenen Stimmen. Regierungschef von Mexiko-Stadt war seit 5. Dezember 2006 gewesen Marcelo Ebrard von der Coalición Por el Bien de Todos (PRD, PT, Convergencia). Dieser hatte die Wahlen am 2. Juli 2006 mit 46,37 Prozent der abgegebenen Stimmen gewonnen, vor Demetrio Sodi (PAN) mit 27,26 Prozent und Beatriz Paredes Rangel von der Unidos por la Ciudad (PRI, PVEM) mit 21,59 Prozent. Ebrard übernahm das Amt von seinem Vorgänger Alejandro Encinas (PRD), der seit Juli 2005 regiert hatte. Das Stadtoberhaupt wird seit der Änderung der Verfassung im Jahre 1996 von der Bevölkerung frei gewählt. Seit 1. Januar 1929 gibt es einen Regierungschef. Vorher wurde Mexiko-Stadt seit der Schaffung des Bundesdistrikts am 18. November 1824 von einem Gouverneur regiert, zwischen 1837 und 1848, als die Stadt administrativ zum Bundesstaat México gehörte, von einem Präfekten. Im Jahre 1903 umfasste der Bundesbezirk neben Mexiko-Stadt noch 22 weitere Gemeinden, diese wurden 1928 zu anfänglich zwölf, aktuell 16 Verwaltungsbezirken „Delegaciones“ aufgeteilt. Die Bezirke sind die eigentlichen Verwaltungskörper in Mexiko-Stadt. Sie werden durch gewählte „Jefes Delegacionales“ repräsentiert und geführt. Ihre Einrichtung geht auf eine Verwaltungsreform aus dem Jahre 1982 zurück, deren Ziel es war, durch Dezentralisierung eine effizientere Verwaltung zu erreichen. Die Verwaltungsbezirke integrieren die historischen Gemeindezentren des Distrito Federal. Die oberste Regierungsgewalt im Bundesbezirk lag bis in die 1990er Jahre in den Händen des „Departamento del Distrito Federal“ (DDF), eines durch die mexikanische Bundesregierung kontrollierten Amtes. Seit 1997 gibt es jedoch einen direkt gewählten „Jefe del Gobierno del Distrito Federal“ (Regierungschef des Bundesdistrikts, umgangssprachlich auch als Bürgermeister von Mexiko-Stadt bezeichnet, seit 2016 „Jefe del Gobierno de la Ciudad de México“) und ein „Asamblea Legislativa del Distrito Federal“ (Parlament des Bundesdistrikts, seit 2016 „Asamblea Legislativa de la Ciudad de México“). Die Hauptstadt ist damit den mexikanischen Bundesstaaten gleichgesetzt. Sollte eine andere Stadt Hauptstadt der Vereinigten Mexikanischen Staaten werden, würde Mexiko-Stadt zu einem Bundesstaat mit dem Namen Valle de México umgewandelt werden. Der erste frei gewählte Regierungschef von Mexiko-Stadt war Cuauhtémoc Cárdenas von der PRD. Er übernahm das Amt am 5. Dezember 1997 von seinem Vorgänger Óscar Espinosa Villarreal von der Partei der Institutionalisierten Revolution (PRI). Nachfolger Cárdenas wurde am 29. September 1999 Rosario Robles Berlanga (PRD). Die Partei der Demokratischen Revolution regiert seit 1997 die Hauptstadt des Landes. Cárdenas trieb während seiner Regierung die Demokratisierung voran und erzielte Erfolge in der Bekämpfung der Korruption. Seit 5. Dezember 2000 war Andrés Manuel López Obrador Regierungschef des Bundesdistrikts. Von diesem Posten trat er am 29. Juli 2005 zurück, um im Jahr 2006 für das Amt des Präsidenten von Mexiko zu kandidieren. Die Bürgermeisterwahlen in Mexiko-Stadt gewann er nur sehr knapp. Hohes Ansehen unter den Bürgern verschaffte er sich aber mit umfassenden sozialen Maßnahmen, die in vielen Bereichen die größte Not lindern sollten und ihn zum beliebtesten Politiker Mexikos machten. Weniger erfolgreich waren die Politiker in der Bekämpfung der allgemeinen Kriminalität: Eigentumsdelikte wie beispielsweise Überfälle auf Fußgänger, Benutzer öffentlicher Verkehrsmittel und Autofahrer, Diebstahl von Personenkraftwagen, Einbrüche in Wohnungen/Gebäude und Betrugsfälle, sowie Gewaltkriminalität wie beispielsweise Raubüberfälle, Raubmorde, Totschlag, Drogenkriminalität, Entführung, Erpressung, Bedrohung und Vergewaltigung gehören zum Alltag in Mexiko-Stadt. === Städtepartnerschaften === Mexiko-Stadt unterhält mit folgenden Städten Partnerschaften: Berlin, Deutschland (seit 1. September 1993) Cuzco, Peru (seit 7. Juli 1987) Dolores Hidalgo, Mexiko (seit 1. September 2008) Havanna, Kuba (seit 25. September 1997) Los Angeles, USA (seit 11. Dezember 1969) Madrid, Spanien (seit 17. November 1983) Nagoya, Japan (seit 15. Februar 1978) San Salvador, El Salvador (seit 14. September 1979) São Paulo, Brasilien (2011) Seoul, Südkorea (seit 30. August 1993) == Kultur und Sehenswürdigkeiten == === Theater === Mexiko-Stadt besitzt eine der reichsten Theaterszenen weltweit. Das mexikanische Theater übernimmt eine aufklärerische und gesellschaftspolitische Funktion, die durch ein breites Spektrum von zeitgenössischen Dramatikern repräsentiert wird. Eines der bekanntesten Theater der Stadt ist der „Palacio de Bellas Artes“ (Palast der Schönen Künste), erbaut zwischen 1904 und 1934 an der Ostseite des Parks „Alameda Central“. Der mit Bronzeschmuck verzierte klassische Kuppelbau aus Carrara-Marmor und Art-déco-Inneneinrichtung ist das wichtigste Kulturzentrum im Herzen der Stadt (Theater, Tanz, Konzert, Oper, Kunstausstellungen). Im Palast sind Wandmalereien (Murales) von Diego Rivera, José Clemente Orozco, David Alfaro Siqueiros, Rufino Tamayo und Jorge González Camarenazu zu sehen. Die dortigen Darbietungen des von Nellie Campobello gegründeten nationalen Folkloreballetts (Ballett Nacional Folklórico) sind ein wichtiger Bestandteil des Kulturlebens der Stadt. Das Ballett hat bereits weltweiten Ruhm erlangt. Es besteht aus Tänzern aus allen Landesteilen, und seine hervorragende Choreografie ist durchsetzt mit mexikanischen Tänzen, Musik und Gesang. Zum Programm gehören einige der bekanntesten traditionellen Tänze. Auf dem Paseo de la Reforma am Chapultepec Park befindet sich das „Auditorio Nacional“ (Nationales Auditorium). Eröffnet 1952, wurde es erst als Ausstellungsraum benutzt, später gab es auch Ballettaufführungen, Darbietungen klassischer Musik und Popkonzerte. Monatlich treten hier zahlreiche nationale und internationale Künstler auf. === Museen === Mexiko-Stadt hat zahlreiche Museen, darunter das Museo Nacional de Antropología (Anthropologisches Nationalmuseum), das Museo Nacional de Arte (Nationales Kunstmuseum), das Museo Rufino Tamayo und das Museo de Arte Moderno (Museum für Moderne Kunst) und das Museo Frida Kahlo. ==== Museo de Arte Moderno ==== Das Museo de Arte Moderno (MAM) wurde 1964 nach Plänen der Architekten Rafael Mijares Alcérreca und Pedro Ramírez Vázquez fertiggestellt. Es beherbergt neben wechselnden Ausstellungen eine Sammlung moderner mexikanischer Malerei mit Werken von David Alfaro Siqueiros, José Clemente Orozco, José María Velasco Gómez, Diego Rivera und Juan O’Gorman. Dieses Museum beherbergt auch die besondere surrealistische Kollektion von Remedios Varo. ==== Museo Nacional de Antropología ==== Das Anthropologische Nationalmuseum befindet sich im Chapultepec-Park und beherbergt die wichtigste Sammlung des präkolumbischen Erbes Mexikos und zählt zu den bedeutendsten archäologischen Sammlungen weltweit. Das 1964 eröffnete Gebäude entwarfen die Architekten Pedro Ramírez Vázquez und Jorge Campuzano. Die Ausstellungshallen sind rings um einen Innenhof angelegt, der zur Hälfte von einem gewaltigen, rechteckigen „Regenschirm“ aus Leichtmetall überdacht wird. Eine einzige Betonsäule inmitten eines künstlichen Wasserfalls bildet die Stütze des Daches. Die Hallen sind von Gärten umgeben, die als Ausstellungsfläche unter freiem Himmel ins Museumsgeschehen einbezogen sind. ==== Museo Nacional de Arte ==== Das Museo Nacional de Arte wurde 1982 mit Beständen verschiedener Museen gegründet, um an einem einzigen Ort einen Überblick über die mexikanische Kunst vom 16. Jahrhundert bis in die 1950er Jahre zu vermitteln. Es liegt an einer kleinen Plaza, dort, wo auch das bekannteste Standbild der Stadt aufgestellt ist: El Caballito, die Darstellung Karls IV. von Spanien, das Werk von Manuel Tolsá. Ursprünglich (die Figur entstand 1803) zierte die wuchtige Bronzestatue den Zócalo, danach wechselte sie mehrmals den Standort. ==== Museo Rufino Tamayo ==== Das Museo de Arte Contemporáneo Internacional Rufino Tamayo eröffnete 1981 mit mehr als 300 Werken einer Schenkung des Malers Rufino Tamayo (1899–1991) aus Oaxaca. Sie enthielt eigene Werke und Arbeiten anderer berühmter Künstler des 20. Jahrhunderts. Zu sehen sind beispielsweise Werke von Francis Bacon, Salvador Dalí, Giovanni Giacometti, René Magritte, Joan Miró und Pablo Picasso. Im Museum finden Wechselausstellungen internationaler und mexikanischer Kunst, Vorträge, Theater- und Tanzdarbietungen sowie Konzerte statt. Es enthält ein auf Rufino Tamayo spezialisiertes Dokumentationszentrum. Für den Entwurf des Gebäudes erhielten Teodoro González de León und Abraham Zabludovsky im Jahre 1981 den Nationalen Architekturpreis. ==== Museo Frida Kahlo ==== Das Haus von Frida Kahlo steht in der Vorstadt Coyoacán. Das farbenfrohe Gebäude, das wegen seiner in Blautönen gehaltenen Außenwände Casa Azul („Blaues Haus“) genannt wurde, ist als Museum hergerichtet. Im typischen kolonialen Stil erbaut, beherbergt das Museum außer einer besonderen Auswahl von Frida Kahlos Bildern, ihre Möbel, Kleider und Bücher. Sie lebte dort zusammen mit ihrem Mann Diego Rivera von 1929 bis 1954. Ein Haus ganz in der Nähe bewohnte während seines Exils Leo Trotzki (1879–1940), dort wurde er auch in seinem Arbeitszimmer ermordet. Es ist als Museum eingerichtet und wird von vielen Menschen gemeinsam mit dem Haus von Frida Kahlo besucht. Etwas weiter vom Museo Frida Kahlo entfernt, in San Angel, befindet sich das „Casa Museo Estudio de Diego Rivera y Frida Kahlo“, wo auch beide Künstler gewohnt haben. Es sind zwei Häuser, eines in rosa und eines in blau, ein Haus für jede Person mit der eigenen Persönlichkeit, entworfen und gebaut 1927 vom Maler Juan O’Gorman. Für Mexiko war es der Anfang der modernen Architektur. ==== Weitere Museen ==== Auf einem Hügel in der Altstadt steht das 1540 fertiggestellte „Convento de San Francisco“, ein früheres Franziskanerkloster, das heute das historische Regionalmuseum („Museo Regional de Querétaro“) beherbergt. In der dazugehörigen Kirche San Francisco taufte Hernán Cortés die ersten Aztekenherrscher. Das Gebäude wurde in typisch churriguereskem Stil erbaut. In der Avenida Madero, am Westrand des Zócalo, befindet sich der barocke „Palacio de Iturbide“, in dem Kunstausstellungen stattfinden. Dort befindet sich auch „Antiguo Colegio de San Ildefonso“, ein noch gut erhaltenes koloniales Gebäude, wo außer Wechselausstellungen auch die Wandmalerei von Diego Rivera, David Alfaro Siqueiros und José Clemente Orozco gezeigt wird. Südlich des Zócalo liegt das „Museo de la Ciudad de México“ mit Ausstellungsstücken zur Stadtgeschichte und des Hochtales. Im Westen des 1592 angelegten Parks „Alameda Central“, beim Hotel Cortés, ist in einer früheren Klosterkirche die „Pinacoteca Virreynal“ (Vizekönigliche Gemäldesammlung) mit Bildern der wichtigsten Künstler der spanischen Kolonialzeit untergebracht. In der Umgebung des Parks „Alameda Central“ befinden sich weitere Museen: das Museo Franz Mayer, mit einer Sammlung verschiedener Möbel, Silberwaren und mexikanischer Malerei; das „Museo de Artes e Industrias Populares“ (Nationalmuseum für Volkskunst und Handwerk) und das „Museo Mural Diego Rivera“ mit einer Ausstellung der zahlreichen Werke des Malers, darunter auch eines seiner berühmtesten Kunstwerke: „Traum an einem Sonntagnachmittag im Alameda-Park“. Zwei weitere Kunstmuseen in der Gegend von San Ángel sind das „Museo de Arte Carrillo Gil“, wo hauptsächlich mexikanische Gegenwartskunst zu sehen ist, darunter Wechselausstellungen moderner Kunst und das erst 1994 eröffnete „Museo Soumaya“ in der „Plaza Loreto“. Das Museo Soumaya ist bekannt unter anderem wegen der Ausstellung der 100 Skulpturen Rodins und ist das einzige Museum in Mexiko-Stadt, wo permanent die Werke europäischer Künstler, darunter einige Impressionisten, aber auch Werke von Pablo Picasso, Joan Miró und Salvador Dalí, zu sehen sind. Die in Xochimilco gelegene ehemalige Hacienda La Noria aus dem 16. Jahrhundert ist seit 1994 als Museo Dolores Olmedo der Öffentlichkeit zugänglich. Hier sind unter anderem Werke von Diego Rivera, Frida Kahlo und Angelina Beloff ausgestellt. Besonders zum Tag der Toten ist das Museum ein Anziehungspunkt in diesem Stadtbezirk. In der ehemaligen Bischofsresidenz befindet sich heute das Museo de la Secretaría de Hacienda y Crédito Público. === Musik === In der Hauptstadt finden täglich zahlreiche Konzerte unterschiedlicher musikalischer Richtungen statt. Die Veranstaltungsorte liegen im Süden, in den Stadtteilen Coyoacán und San Ángel, aber auch die Zona Rosa und Condesa haben musikalisch einiges zu bieten. Wer sich unter die Oberschicht der Stadt mischen möchte, kann das in Del Valle und Polanco tun. Manchmal finden die interessantesten Konzerte auch an abgelegenen Orten statt. Rock und Latin sowie die neuesten Hits aus den USA sind häufig vertreten, Europop wird immer beliebter, auch kubanische Klänge und sogar Live-Jazz sind zu hören. Bekannte ortsansässige Bands sind beispielsweise Café Tacuba, weniger bekannte La Vieja Estacion (Blues), Señoritas de Aviñon (Jazz, Blues) oder Work in Progress (WiP) (Rock, Blues, Pop). Eine besondere Veranstaltung findet auf der Plaza Garibaldi statt. Dort versammeln sich jeden Abend hunderte von um die Wette musizierenden Mariachi-Gruppen. Eine Kapelle besteht in der Regel aus vier Geigern, drei sich etwas abseits haltenden Trompetern, drei bis vier Gitarristen und einem Sänger. Ein echter Caballero mietet jedoch nur die Musiker und singt selbst. Ihren Namen haben die Mariachis vermutlich aus der Zeit der französischen Invasion im 19. Jahrhundert, als es üblich wurde, für Hochzeiten – mariage – eine Musikgruppe zu engagieren. Auf der Plaza hört man auch Norteño-Gruppen, die eine Tex-Mex-Country-Mischung darbieten, oder die weicheren Marimbaklänge aus dem Süden Mexikos. Es gibt auch Musikgruppen, wie z. B. Mexican Institute of Sound, die die klassischen und traditionellen lateinamerikanischen Musikstile mit modernen Musikrichtungen wie Electro mischen. === Bauwerke === ==== Mexiko-Stadt ==== Die Straßen der Hauptstadt sind schachbrettartig angelegt. Das Muster wird unterbrochen von einigen breiten Boulevards, an denen moderne Geschäftsgebäude und Appartementhochhäuser liegen, sowie von mehreren Parkanlagen und großen Plätzen, die beliebte Treffpunkte der Stadtbewohner sind. ===== Zócalo ===== Das historische Zentrum von Mexiko-Stadt ist der Platz der Verfassung oder Zócalo. Er befindet sich an dem Ort, wo einst der Palast des Aztekenherrschers Moctezuma II. (1465–1520) stand. Der Platz wird umrahmt von der monumentalen Kathedrale von Mexiko-Stadt, dem „Palacio Municipal“ (Stadtpalast) von 1720 und dem „Palacio Nacional“ (Nationalpalast) von 1792, dem Sitz des Präsidenten. Im „Palacio Nacional“ sind Wandmalereien (Murales) von Diego Rivera zu sehen. Die barocke Kathedrale wurde von 1573 bis 1667 erbaut und gehört zu den amerikaweit ältesten und größten Sakralbauten. Die Fassade hat drei Portale. Im Inneren befindet sich der reich geschnitzte Altar de los Reyes (‚Altar der Könige‘). Wie zahlreiche andere Gebäude der Stadt versinkt auch die Kathedrale langsam im sumpfigen Boden. Der im churrigueresken Stil errichtete Mittelteil der Fassade des Sagrario (Pfarrkirche) wird von seitlichen Wandflächen aus rötlichem Tezontle-Gestein begleitet. Nördlich des Zócalo befindet sich die Ausgrabungsstätte „Templo Mayor“, wo Reste des früheren Tempelbezirkes von Tenochtitlán gefunden wurden. Das Kolonialgebäude im Westen beherbergt seit dem 19. Jahrhundert die Monte de Piedad (Pfandleihe). Nahe dem Zócalo liegt auch die von Kolonialgebäuden und Palästen aus Tezontle gesäumte Calle Moneda mit der im churrigueresken Stil erbauten Kirche La Santísima und dem barocken Erzbischöflichen Palais. In Richtung des Palacio de Bellas Artes befindet sich ein kleiner Park, die Alameda Central. Hier steht ein Denkmal des mexikanischen Präsidenten Benito Juárez (1806–1872). ===== Paseo de la Reforma ===== Eine der Hauptschlagadern der Stadt, der Paseo de la Reforma, wurde unter Kaiser Maximilian gebaut. Sie fand ihren Anfang am Rande der Altstadt, an der nordwestlichen Ecke des Alamedaparks, und führte zur Sommerresidenz des mexikanischen Kaisers, Schloss Chapultepec. Sie wurde nach europäischem Vorbild als breiter Boulevard angelegt. Einige der villenartigen Gebäude aus dem 19. Jahrhundert sind erhalten geblieben. In dem historischen Mittelteil dominieren allerdings immer mehr Wolkenkratzer, darunter das höchste Gebäude Lateinamerikas, der Torre Mayor und typische Geschäftsbauten. Die Straße wurde sowohl in nordöstliche als auch westliche Richtung verlängert und ist eine der längsten Straßen der Welt. In nordöstlicher Richtung reicht die transversal angelegte Prachtstraße „Paseo de la Reforma“ bis zum Platz der drei Kulturen, dem Hauptplatz der im Jahre 1963 freigelegten präkolumbischen Stadt Tlatelolco. Dort vereinigen sich Zeugnisse aus drei Epochen: Neben freigelegten aztekischen Bauwerken und der Barockkirche Santiago de Tlatelolco aus der spanischen Kolonialzeit befinden sich hier auch moderne Gebäude. Am Denkmal des letzten Aztekenherrschers Cuauhtemoc kreuzt sie die Nord-Süd-Verbindung der Hauptstadt, die Avenida de los Insurgentes. In südlicher Richtung erstreckt sich der Chapultepec-Park mit verschiedenen Museen, einem Zoo, dem Schloss Chapultepec, das früher Amtssitz des Präsidenten war und auch Kaiser Maximilian als Residenz diente und das Stadtviertel „Zona Rosa“, wo sich zahlreiche Gaststätten, Bars und Einkaufszentren befinden. Auf dieser Höhe befindet sich das Unabhängigkeitsdenkmal, eine 45 Meter hohe Säule mit dem Siegesengel auf der Spitze (El Ángel de la Independencia). Mexiko war das einzige Land, das 1938 den Überfall auf Österreich politisch nicht anerkannte und als Mitglied des Völkerbundes Einspruch erhob. Als Erinnerung daran steht am „Paseo de la Reforma“ heute ein von der österreichischen Regierung unter Bruno Kreisky aufgestelltes kleines Denkmal. In Wien erinnert daran der Mexikoplatz, der 1956 von Erzherzog-Karl-Platz umbenannt wurde. ===== Weitere Bauwerke ===== Sehenswert ist auch der aus Kalkstein erbaute monumentale Palacio Postal (Hauptpostamt). Das neugotisch dekorierte Gebäude an der Calle Tacuba liegt gegenüber vom „Palacio de Bellas Artes“ und wurde zwischen 1902 und 1907 nach Plänen des Architekten Adamo Boari errichtet. Das Treppenhaus ist im Jugendstil erbaut und mit Glas- und Eisenschmuck ausgestattet. Im ersten Stock befindet sich ein kleines Postmuseum. In der Nähe befindet sich auf der Avenida Madero auch die „Casa de los Azulejos“ (Haus der Kacheln). Im barocken Stil erbaut ist die Außenseite mit tausenden von Kacheln aus Puebla dekoriert. Das Haus beherbergt das bekannte Restaurant und Geschäft „Sanborns“. In den 1940er Jahren wurde die Synagoge Nidjei Israel erbaut. An der Avenida Madero und gegenüber vom Palacio de Bellas Artes steht auch die „Torre Latinoamericana“. Das ehemals höchste Gebäude Lateinamerikas (182 Meter) wurde zwischen 1948 und 1956 erbaut. Der 45-stöckige Wolkenkratzer entstand nach Plänen des Architekten Augusto H. Álvarez. An mehreren Plätzen der Stadt befinden sich Wandgemälde von Diego Rivera, Monumentalfresken sind im Nationalpalast unter dem Thema „Mexiko im Laufe der Jahrhunderte“ ausgestellt. Auch bekannt sind die Wandgemälde von José Clemente Orozco, darunter das Gemälde „Omnisciencia“, zu sehen in der Casa de los Azulejos. Zahlreiche Vorstädte und die verschiedenartigsten Nachbarschaftsgefüge sind durch die Ausdehnung der Stadt entstanden: vom eleganten Wohnviertel Pedregal mit seiner modernen Architektur bis zum bevölkerungsreichen Netzahualcóyotl, einem einfachen Wohnviertel, das im trockenen Tal des Texcoco-Sees liegt. Zum Weltkulturerbe seit 2004 gehört die Casa Barragán, das Haus und Atelier des Architekten Luis Barragán. Es wurde 1947/1948 im Vorort von Mexiko-Stadt, Tacubaya, gebaut und stellt ein hervorragendes Beispiel eines Bauwerks nach dem Zweiten Weltkrieg dar. Das Betongebäude besteht aus einem Erdgeschoss und zwei oberen Geschossen, die wie ein kleiner Privatgarten aussehen. In dem nördlichen Vorort Villa de Guadalupe steht auf dem Berg Tepeyac die Basilika Unserer Lieben Frau von Guadalupe (Basilica de Nuestra Señora Guadalupe). Sie ist das wichtigste Heiligtum Mexikos und eines der bedeutendsten Marienheiligtümer der Welt und mit 20 Millionen jährlichen Pilgern größter Wallfahrtsort der Welt. 1531 soll dem getauften Azteken Juan Diego auf dem Berg Tepeyac die Jungfrau Maria erschienen sein. An der Stelle der Erscheinung wurde dann eine Kirche errichtet. Da der Untergrund absank, musste die Basilika für Besucher und Pilger gesperrt werden. Die neue Basilika, entworfen vom mexikanischen Architekt Pedro Ramírez Vázquez, die 1974 geweiht und 1975 eröffnet wurde, ist von ihrer Größe und ihrer offenen Architektur sehr beeindruckend. Sie hat 10.000 Sitzplätze und kann insgesamt bis zu 40.000 Besuchern Platz bieten. Somit ist sie eine der größten Kirchen weltweit. Das ist auch deshalb von Bedeutung, da es in Mexiko zu dieser Zeit noch verboten war, Messen unter freiem Himmel abzuhalten. ==== Teotihuacán ==== Teotihuacán, die Ruinenstadt mit den mächtigen Pyramiden, etwa 50 Kilometer nordöstlich von Mexiko-Stadt, war die beherrschende Kultur der „klassischen“ Periode und der eigentliche Vorgänger des Aztekenreiches. Dort wohnten circa 300.000 Menschen, deren Einfluss sich über das ganze Land und weit nach Süden bis in das Gebiet der Maya auf der Halbinsel Yucatán und bis nach Guatemala erstreckte. Zu ihrer Glanzzeit war Teotihuacán mit etwa 75 Tempeln und 600 Werkstätten vermutlich die gewaltigste präkolumbische Ansiedlung von ganz Amerika. Um 200 v. Chr. bis zum Beginn der christlichen Zeitrechnung erhielt die Stadt ihre wichtigsten Merkmale: die gewaltige Pyramide der Sonne und die Pyramide des Mondes wurden erbaut sowie die Calzada de los Muertos (Straße der Toten) angelegt. Die Ausdehnung der Stadt umfasst 23 Quadratkilometer, wovon allein das Zeremonialzentrum vier Quadratkilometer einnimmt. Die Pyramiden sind so gigantisch, dass man sie vor ihrer Freilegung für Berge hielt. Die wuchtige „Pirámide del Sol“ (Sonnenpyramide) ist das alles überragende Wahrzeichen von Teotihuacán. Ihre Höhe von 70 Meter wurde, was die antiken Bauwerke Mexikos angeht, nur noch von Cholula übertroffen. Zweieinhalb Millionen Tonnen Steine wurden für ihre Errichtung bewegt, ohne Radwagen oder Lasttiere und ohne dass Metallwerkzeuge verwendet werden konnten – beides war den alten Kulturen Mexikos unbekannt. Ihre Grundfläche reicht an die der Cheops-Pyramide heran, aber wegen ihrer terrassenförmigen Bauweise und der flacheren Seitenpartien ist sie bei weitem nicht so hoch. Am Ende der Straße der Toten erhebt sich die „Pirámide de la Luna“ (Mondpyramide). Sie ist kleiner und wurde etwas später, jedoch noch während der Periode von Teotihuacán I., erbaut und ist damit eine der ältesten des Landes. Die Bauweise ist ähnlich: vier schräge Stockwerke, die man über eine gewaltige Rampe betritt. Die Ruinen von Teotihuacán stehen seit 1987 auf der UNESCO-Liste des Weltkulturerbes. === Parks === ==== Xochimilco-Park ==== Zum UNESCO-Weltkulturerbe gehören seit 1987 die sogenannten „schwimmenden Gärten“ von Xochimilco (auf Nahuatl „Ort, wo die Blumen wachsen“). Im Jahre 1990 wurden die Wassergärten zum städtischen Ökologie-Park (Parque Ecológico de Xochimilco) ausgerufen. Kein anderes Stadtviertel erinnert so stark an die alte Stadt (wenn auch in idealisierter Form) wie Xochimilco mit seinen schwimmenden Kaufläden, Märkten und Farben. Blumengeschmückte Boote mit Ausflüglern fahren durch die Kanäle. Frauen verkaufen von winzigen Kanus aus Blumen, Obst und warme Speisen, und ab und zu kommen auch größere Boote mit Marimba-Musikern und ganzen Mariachi-Gruppen vorbei, um gegen einen kleinen Obolus längsseits festzumachen und ein kleines Ständchen zu bringen. In den letzten Jahren wurden erhebliche Anstrengungen zur Reinigung der Kanäle und zur Aufrechterhaltung des sinkenden Wasserspiegels unternommen. Somit bleiben die Kanäle auch in Zukunft jedes Wochenende ein beliebtes Ausflugsziel für tausende Hauptstädter. Der Markt – „mercado de xochimilco“ – ist wohl einer der buntesten, dichtesten und lautesten der Welt. Täglich entsteht ein Verkehrsstillstand durch Busse – „peseros“ – für die Xochimilco die Endstation unzähliger Routen ist. Seit Mitte der 1990er Jahre ist die Puppeninsel touristisch erschlossen. In den Bäumen der Insel sind tausende teils verstümmelte Puppen aufgehängt worden. ==== Chapultepec-Park ==== Der Chapultepec-Park oder Bosque de Chapultepec umfasst eine Grünfläche von vier Quadratkilometern und ist die „grüne Lunge“ der Hauptstadt. Er besteht aus drei Abschnitten. Im größten und am weitesten östlich Gelegenen befinden sich die interessantesten Einrichtungen, darunter das „Museo Nacional de Antropologia“, das „Museo de Arte Moderno“, das „Museo Rufino Tamayo“ und der Zoo. An der Südseite der Reforma, gegenüber dem „Museo de Antropologia“, liegt der Lago Chapultepec. Am Hügel von Chapultepec befindet sich das Schloss Chapultepec („Castillo de Chapultepec“). Davor steht das „Monumento a los Niños Héroes“, ein Ehrenmal für die Kadetten, die das Schloss gegen die US-Armee im Mexikanisch-Amerikanischen Krieg 1847 zu verteidigen suchten. Der Legende nach haben sich die letzten sechs Überlebenden in die Nationalflagge gehüllt von den Klippen zu Tode gestürzt, um nicht den feindlichen Truppen in die Hände zu fallen. Das Castillo selbst wurde 1785 als Sommerresidenz des spanischen Vizekönigs erbaut. Bis dahin war es eine Einsiedelei, die nach dem Verschwinden des Aztekenherrschers errichtet worden war. Als Militärakademie wurde es bis zur Unabhängigkeit genutzt, die heutige Gestalt erhielt das Schloss auf Wunsch von Kaiser Maximilian, der es nach dem Muster seiner italienischen Villa umbauen ließ. Jetzt beherbergt es auf zwei Stockwerken das „Museo Nacional de Historía“ (Geschichtsmuseum). Am westlichen Seeufer befindet sich der Haupteingang zum Zoo der Stadt, dem Zoológico de Chapultepec, der einen Großteil des Parkinneren einnimmt und in verschiedene Klimazonen aufgeteilt ist, darunter Wüste, Tropen, gemäßigte Mischwaldzone. Die meisten Käfige sind relativ geräumig und tiergerecht. Am interessantesten sind die Zooabteilungen, in denen die in Mexiko heimischen Tiere untergebracht sind, und das Gelände, das den Xoloitzcuintle, den unbehaarten und einzigen Nachkommen der vier präkolumbischen Hundearten, vorbehalten ist. Daneben sind weitere Tierarten aus aller Welt vertreten: Tiger, Bären, Löwen, Elefanten und Pandabären. Der Parque Zoológico war der erste Zoo der Welt, in dem Große Pandas Nachwuchs bekamen. Im Laufe der Jahre kam am Westrand des ursprünglichen „Bosque de Chapultepec“ neue Parkabschnitte hinzu. Diese wurden manchmal noch als „Nuevo Bosques de Chapultepec“ bezeichnet, üblicherweise jedoch meistens als Segunda Sección, das heißt zweiter Abschnitt und Tercera Sección, das heißt dritter Abschnitt. In der Segunda Sección befinden sich das „Museo Tecnológico“, das „Papalote Museo del Niño“, das „Museo de Historía Natural de la Ciudad de México“, und „La Feria Chapultepec Mágico“ (größter Vergnügungspark der Stadt) und ein weiterer Vergnügungspark namens „Planeta Azul“. Vom Museum für Naturgeschichte fährt der „Tren Escénio“ ab, eine Parkeisenbahn, die eine kurze Runde durch den Park dreht, vorbei an einigen Breiapfelbäumen und der Zeremonialstätte „Fuente Xochipilli“. In der Tercera Sección befindet sich der Panteón Civil de Dolores mit den Gräbern von Diego Rivera, José Clemente Orozco und anderen Persönlichkeiten. Auch befindet sich in diesem Abschnitt „El Rollo“ (ein Wasserpark mit Rutschen und Wellenbad) sowie „Atlantis“ (eine Art Zoo-Zirkus mit Meeressäugetieren und Seevögeln, von denen manche Dressurakte vorführen). === Naturdenkmäler === Südöstlich von Mexiko-Stadt befinden sich die beiden schneebedeckten Vulkane Popocatépetl (5.452 Meter) und Iztaccíhuatl (5.285 Meter). Seit Beginn der vulkanischen Aktivität am 21. Dezember 1994 herrschte in der Region immer wieder Alarmstufe Gelb, und in den Orten der Umgebung wurden Verhaltensmaßregeln für den Fall einer Evakuierung angeschlagen. Am 19. Dezember 2000 kam es dann zum größten Ausbruch des Popocatépetl seit 1802. Glühende Gesteinsbrocken wurden aus dem Krater geschleudert, Staubwolken senkten sich auf die Hauptstadt nieder und einige Male musste der über 60 Kilometer entfernte Flughafen von Mexiko-Stadt für einige Stunden geschlossen werden. Lavaströme rückten nicht weit vor, und so hatten nur die Bauern unter der Situation zu leiden, deren Gehöfte für mehrere Wochen evakuiert werden mussten, während das Vieh sich selbst überlassen blieb. Das Gebiet um den Popocatépetl bleibt zwar in einem Radius von zwei Kilometer für die Öffentlichkeit gesperrt, doch der „Parque Nacional de Volcanes“, der die beiden Vulkane umgibt, hat wieder geöffnet. Die 14 Klöster an den Hängen des Popocatépetl, von den spanischen Conquistadoren im 16. Jahrhundert errichtet, wurden 1994 zum UNESCO-Weltkulturerbe erklärt. Die Namen der beiden Vulkane gehen auf eine aztekische Liebesgeschichte zurück: Popocatépetl („rauchender Berg“) war ein Krieger, Iztaccíhuatl („weiße Dame“) seine Geliebte, die Tochter des Kaisers. Als sie Popocatépetl im Kampf getötet glaubte, starb sie vor Kummer. Ihr Liebster kam aber unversehrt zurück; er legte ihren Leichnam auf einen Berg und blieb dort, um mit einer brennenden Fackel bis in alle Ewigkeit Wache zu halten. === Sport === Fußball (fútbol) ist die beliebteste mexikanische Sportart. Die wichtigsten Spiele werden im Aztekenstadion („Estadio Azteca“) mit 87.000 Plätzen ausgetragen, dem Heimatstadion des erfolgreichsten mexikanischen Teams América („Las Aguilas“). Auch der Universitätsklub UNAM („Los Pumas“) kann mit zahlreichen Zuschauern rechnen, wenn er im 72.000 Zuschauer fassenden Olympiastadion („Estadio Olimpico“) gegenüber der Universität spielt. Cruz Azul (seit vielen Jahren von einer Zementfabrik gesponsert, daher „Los Cementeros“ genannt) spielt im „Estadio Azul“ mit 39.000 Plätzen. Es werden jährlich zwei Meisterschaften ausgespielt, da es, im Unterschied zur Bundesliga, keine Hin- und Rückrunde, sondern zwei Turniere (Apertura und Clausura) mit Play-offs (Liguilla) gibt. Dabei entspricht die Apertura der Hinrunde und die Clausura der Rückrunde der Bundesliga. Die Apertura wird zwischen August und Dezember und die Clausura zwischen Januar und Ende Mai/Anfang Juni ausgespielt, so dass, in der Regel (und vor den Play-offs), jedes Wochenende zwei Spiele in Mexiko-Stadt ausgetragen werden. Zu den ganz großen Spielen gehört das Aufeinandertreffen von América aus Mexiko-Stadt und Chivas aus Guadalajara, der zweitgrößten Stadt des Landes. Lucha libre, die mexikanische Form des Wrestling, zählt immer noch zu den begehrtesten Zuschauersportarten. An mehreren Abenden in der Woche finden allein in der Hauptstadt in über einem Dutzend Arenen vor einem fanatischen Publikum Ringkämpfe statt. Die größten Wettkampfstätten sind die „Arena Coliseo“ und die „Arena México“. Der Stierkampf ist integraler Bestandteil des mexikanischen Lebens, und keine andere Veranstaltung schafft es, die Barrieren innerhalb der mexikanischen Gesellschaft so aufzuheben wie eine corrida de toros. Während der Stierkampfsaison (Ende Oktober bis Anfang April) finden jeden Sonntag in der riesigen Plaza México, mit 48.000 Plätzen die größte Stierkampfarena der Welt, Corridas statt. 1981 fand hier die Dreiband-Weltmeisterschaft für Nationalmannschaften statt, Sieger wurde Japan mit den Spielern Nobuaki Kobayashi und Jun’ichi Komori. === Gastronomie === Für die Küche der Hauptstadtregion typisch sind „Antojitos Mexicanos“, kleine Häppchen, die überwiegend aus Masa – dem Teig für Tortillas, einem dem Pfannkuchen ähnlichen Brotersatz aus Mais – hergestellt werden. Dazu gehören beispielsweise Tacos, kleine Tortillas mit Füllungen in allen möglichen Variationen, aber auch „Tortas“ (gefüllte Weizenbrötchen) und „Tostadas“ (frittierte, flache Tortillas mit Belag). Dazu werden dem Gast verschiedene Saucen wie Salsa Verde, Salsa Mexicana und Salsa Ranchera oder auch Guacamole gereicht. Verkauft werden die Antojitos in vielen Straßen der Hauptstadt an kleinen Ständen, wo es meistens Tacos in zahlreichen Variationen gibt. Besondere Tacofüllungen sind „Carne al Pastor“, Schweinefleisch, das wie Gyros oder Döner Kebab an einem Drehspieß zubereitet wird, und „Carnitas“, gebratenes und in Milch gekochtes Schweinefleisch, sowie „Chicharrón“, frittierte Schweineschwarte. Gern gegessen werden auch „Tamales“. Diese sind eine Mischung aus Masa, die meist mit Rindfleisch oder Huhn gefüllt und zum Teil auch mit verschiedenen pikanten Saucen begossen wird, um sie schließlich in Mais- oder Bananenblätter gewickelt zu garen. Statt eines frühen Frühstücks, bei dem typischerweise nur Kaffee getrunken wird, essen Mexikaner meist zum „Almuerzo“, dem reichhaltigeren zweiten Frühstück, entweder Eiergerichte oder Chilaquiles, getrocknete und frittierte, meist dreieckige Tortillastücke („Totopos“) in einer milden roten oder grünen Chilisauce, zubereitet mit Zwiebeln, Sahne und Käse. Typisch ist mittags die „Comida corrida“, bestehend aus Suppe, Reis, Hauptspeise und gewöhnlich einem kleinen Dessert. Es ist ein preiswertes Mittagessen, das von Arbeitern und Angestellten genutzt wird. Das Abendessen ist dann einfach, meist nur ein Taco oder ein „Pan Dulce“ (süße Backware) mit einem Glas Milch oder Kaffee. In der Stadt ist Essen aus allen Regionen des Landes erhältlich. Schmackhaft sind die berühmten „Chiles en Nogada“ aus der Gegend von Puebla, mit Rinder- und Schweinehackfleisch und Trockenfrüchten gefüllte große Pfefferschoten (chile poblano), die in einer Sauce aus Sahne und gehäuteten Walnüssen serviert und mit Granatapfelkernen bestreut werden. Aus Puebla und Oaxaca kommt „Mole“, eine reichhaltige Sauce, die meist mit Huhn serviert wird. Auch beliebt ist aus Jalisco der „Pozole“, ein eintopfartiges Gericht, mit Huhn oder Schweinefleisch und großen nixtamalisierten Maiskörnern. Neben den zahlreichen einheimischen Restaurants beherbergt Mexiko-Stadt auch Lokale mit chinesischer, US-amerikanischer, argentinischer, französischer und italienischer Küche. Preiswerte Restaurants, Cafés, Taquerias und Stände, an denen auch Getränke verkauft werden, befinden sich an fast jeder Straßenecke. Eine Spezialität stellen die mexikanischen Süßwaren dar, die seit über 140 Jahren in der Dulcería de Celaya angeboten werden. === Handel === In der Hauptstadt findet sich alles, was im Land angeboten wird, darunter Märkte für Kunsthandwerk und traditionelle Gegenstände sowie Läden für Kunsthandwerk („Artesanía“). Eine Eigenart der Stadt sind die „Zunftgassen“: ganze Häuserblocks, die einem bestimmten Gewerbe vorbehalten sind. Diese Anordnung ist ein Beispiel für das aztekische Erbe – ihre Märkte waren nach Waren sortiert, und die Kolonialherren folgten diesem Beispiel. Der „Bazar Sábado“ ist ein Kunsthandwerksmarkt in einer alten Hacienda in San Ángel. Hier kann besonderes Kunsthandwerk erstanden werden. Unmittelbar dabei, an der Plaza San Jacinto und der Plaza del Carmen, ist auch eine Malereiausstellung unter freiem Himmel zu sehen. Markt und Ausstellung werden fast den ganzen Sonnabend hindurch abgehalten. Am Sonntag ziehen die Maler und Künstler in den Parque Sullivan, unmittelbar nördlich der Zona Rosa. Interessant sind auch die „Coyoacán-Märkte“. Von den beiden Märkten findet ein Markt – mit vor allem Lebensmitteln im Angebot – täglich drei Querstraßen oberhalb der Plaza Hidalgo statt; auf dem anderen Markt wird Kunsthandwerk verkauft. Er wird sonntags direkt um den Zócalo aufgebaut und ist ein Treffpunkt der einheimischen Jugend. Unter anderem werden typisch mexikanische Kleidungsstücke und Silberschmuck angeboten. „La Merced“, Izazaga San Pablo, ist der größte Markt der Stadt. Er besteht aus verschiedenen modernen Gebäuden, die trotz ihrer Größe dem Ansturm der Händler nicht gewachsen sind, die einen Stand aufstellen möchten. Den meisten Raum nehmen Lebensmittel ein, aber auch alles andere, was ein mexikanischer Markt anzubieten hat, ist dort zu finden. „Mercado de Sonora“, drei Querstraßen vom La Merced, ist bekannt für pflanzliche, magische Heil- und Wundermittel und die Curanderos (Schamanen), die dorthin kommen und ihre Dienste anbieten. Auf dem „Mercado San Juan“ werden kulinarische Spezialitäten aus aller Welt verkauft. Einer der größten Märkte in Mexiko-Stadt ist der Markt „Tepito“, der sich im Norden des Stadtzentrums befindet. Das Angebot an Waren ist außergewöhnlich groß und reicht von Textilien über Elektrogeräte bis zu Plagiaten und Schwarzkopien aller Art. Allerdings ist die Kriminalitätsrate im Stadtteil Tepito mit seiner meist ärmeren Bevölkerung sehr hoch und alle paar Tage finden Großeinsätze der Polizei statt, die oft nur in Mannschaftsstärke in Tepito einrückt. Im Sommer 2002 starb auf dem Markt beispielsweise bei Schießereien rivalisierender Händler eine Besucherin und im Frühjahr 2003 kamen bei Bandenkämpfen 35 Menschen ums Leben. Im Mai 2003 kam es bei dem Versuch der Polizei, ein Labor für Produktpiraterie auszuheben, in Tepito zu blutigen Straßenschlachten zwischen den Sondereinheiten der mexikanischen Polizei und meist jugendlichen Händlern des Marktes. Nordöstlich der Plaza Garibaldi liegt der Markt „La Lagunilla“. Er bietet hauptsächlich Antiquitäten, Kleidungsstücke und Süßwaren („chucherias“). Ein weiterer Markt, der sowohl von Einheimischen als auch von Touristen besucht wird, findet sich in der Nähe zur Zona Rosa. Dieser „Mercado de la Ciudadela“ verkauft nicht nur Kunsthandwerk aus ganz Mexiko, sondern auch „Artesanias“. Diese sind teilweise aus Oaxaca (beispielsweise Lehmkrüge) und zum Teil aus den anderen Regionen Mexikos. Ebenfalls im Stadtzentrum befindet sich der sogenannte „Chopo“. Hier treffen sich jeden Sonnabend Punks, Hippies, Goths und Angehörige weiterer Jugendsubkulturen, um Bücher, Accessoires, Musik, Kunst und Kleidung einzukaufen. Auf dem Chopo finden regelmäßig kleinere Punkkonzerte statt, der Eintritt ist frei. Ende des 20. Jahrhunderts entstanden auch die typischen Einkaufszentren aus den USA („Malls“) mit Kaufhäusern und Boutiquen (Avenida Presidente Masaryk, Polanco) sowie einem Warenangebot aus aller Welt. Beispiele sind Plaza Satélite im Norden, Perisur im Süden und Centro Comercial Santa Fé im Westen der Stadt. == Wirtschaft und Infrastruktur == === Wirtschaft === Laut einer Studie aus dem Jahr 2014 erwirtschafte die weitere Region Mexiko-Stadt ein Bruttoinlandsprodukt von 404 Milliarden US-Dollar (KKP). In der Rangliste der leistungsstärksten Metropolregionen weltweit belegte sie damit den 19. Platz.Mehr als die Hälfte der Industrieproduktion des Landes entsteht in Mexiko-Stadt selbst oder in der näheren Umgebung. Arzneimittel, Chemikalien, Textilien und Elektronikartikel, Stahl und Transportausrüstungen werden hier hergestellt sowie die verschiedensten Nahrungsmittel und Verbrauchsgüter der Leichtindustrie. Mexiko-Stadt ist das Zentrum eines sich herausbildenden Industriegürtels, der sich von Guadalajara im Westen bis nach Veracruz an der Küste des Golfs von Mexiko im Osten erstreckt. Die Börse der Stadt ist eine der größten in Lateinamerika. Sie wurde 1886 als „Bolsa Mercantil de México“ gegründet, 2001 erhielt sie ihren heutigen Namen Bolsa Mexicana de Valores.Etwa 8,4 Prozent der Bevölkerung Mexikos lebte 2005 in der Hauptstadt und erzeugte 21,1 Prozent des nationalen Bruttoinlandsproduktes (BIP). Das Wirtschaftswachstum der Stadt betrug 2,0 Prozent (Mexiko = 3,0 Prozent). Das BIP pro Kopf lag bei 18.381 US-Dollar (Mexiko = 7.348 US-Dollar). Von den in Mexiko registrierten 7.754 Großunternehmen hatten 1.393 (18,0 Prozent) ihren Sitz in der Hauptstadt. Die Wirtschaft wurde in den letzten Jahren stark dereguliert und privatisiert. Die Dominanz privater Firmen wächst ständig und die Privatisierung von Eisenbahn, Flughäfen und Banken geht ihrem Ende entgegen. Die Liberalisierung des Energiesektors schreitet weiter voran. In den Bereichen Telekommunikation und Petrochemie stehen noch Reformen aus. Die Haushaltslage ist fast ausgeglichen und die Verschuldung konstant. Die offizielle Arbeitslosenquote lag 2008 im Jahresdurchschnitt bei 5,8 Prozent und damit deutlich über dem nationalen Durchschnitt von 3,8 Prozent. Die Entwicklung in der Hauptstadt verlief in den letzten Jahren folgendermaßen: 2001 (3,8 Prozent); 2002 (3,9 Prozent); 2003 (4,6 Prozent); 2004 (5,9 Prozent); 2005 (5,6 Prozent); 2006 (5,5 Prozent), 2007 (6,0 Prozent) und 2008 (5,8 Prozent). Es besteht eine starke Unausgewogenheit in der Reallohnverteilung. So lebt etwa ein Drittel der Bevölkerung unter der Armutsgrenze. Das schnelle Wachstum von Mexiko-Stadt hat zahlreiche Schwierigkeiten hervorgerufen, wie unter anderem eine bedrohliche Luftverschmutzung, bedingt durch die große Anzahl der Autos und Industriebetriebe sowie eine immer unzureichendere Wasserversorgung. Die Stadt steht seit Jahren vor dem großen Problem der Befriedigung der exorbitanten Wassernachfrage von 300 Liter pro Tag und Kopf. Durch die übermäßige Entnahme von Grundwasser unterhalb der Stadt senkte sich der Boden um teilweise bis zu zehn Meter. Das führte zu Schäden an Gebäuden und an Wasser- und Abflussleitungen, aber auch zu einer erhöhten Überschwemmungsgefahr. Des Weiteren verliert die Stadt etwa 40 Prozent ihres Wassers durch das völlig marode Röhrennetz. Mexiko-Stadt wird heute von weit entfernt liegenden Quellen außerhalb des Hochtales zusätzlich mit Wasser versorgt. Moderne mehrstöckige Gebäude werden gegenwärtig auf riesigen Stahl- und Betonpfeilern erbaut, um ihr Absinken zu verhindern. === Verkehr === ==== Fernverkehr ==== ===== Autobahnen ===== Die Hauptstadt ist über Autobahnen (Autopista) mit allen großen Städten des Landes verbunden. Die Trassen führen nach Santiago de Querétaro (211 Kilometer) im Nordwesten, Toluca (65 Kilometer) im Westen, sowie Cuernavaca (85 Kilometer), Cuautla (120 Kilometer) und Oaxtepec (80 Kilometer) im Süden. Weitere Strecken verbinden Mexiko-Stadt mit Puebla (127 Kilometer) im Osten, sowie Texcoco (15 Kilometer), Tulancingo (100 Kilometer) und Pachuca de Soto (91 Kilometer) im Nordosten. Die Autobahnen sind meistens gebührenpflichtig (de cuota) und werden von privaten Investoren zusammen mit dem Staat gebaut und betrieben. Da die Maut sehr hoch ist, sollen in Zukunft neue Projekte, darunter die Nordumgehung von Mexiko-Stadt, generell mit niedrigerer Maut betrieben werden. Das Autobahnnetz der Hauptstadt ist seit Mitte des 20. Jahrhunderts erheblich erweitert worden. Bereits in den 1950er Jahren war der westliche Teil des Anillo Periférico, einer Ringautobahn, in Betrieb, die inzwischen völlig fertiggestellt wurde. Über einem Teil des westlichen Abschnitts des Periférico wurde ein zweites Stockwerk errichtet. Die Agglomeration ist mittlerweile über den früher außerhalb der Stadt gelegenen Periférico hinausgewachsen und hat die teilweise achtspurige Autobahn vereinnahmt. Im Stadtgebiet wurden ferner noch vorhandene Wasserläufe in unterirdische Röhren verlegt, die Flussbetten in Schnellstraßen (Circuito Interior, Viaducto) umgewandelt. Große Straßenzüge im Stadtgebiet wurden zu Einbahnstraßen erklärt und werden als Achsen (Ejes) bezeichnet, die nach Richtung und einer Nummer unterschieden werden. Sie weisen zwischen 6 und 8 Fahrbahnen auf. ===== Eisenbahnverkehr ===== Infolge der Privatisierung der mexikanischen Bahngesellschaft Ferrocarriles Nacionales de México haben alle Reisezüge von und nach Mexiko-Stadt ihren Dienst eingestellt. Den einzigen Hinweis darauf, dass sie jemals verkehrten, gibt eine Dampflokomotive vor dem ehemaligen Bahnhof in der Buenavista. Dem Eisenbahngüterverkehr dient der Rangierbahnhof Terminal Valle de México (TVM) im Norden der Stadt. ===== Flugverkehr ===== Der internationale Flughafen Mexiko-Stadt ist der geschäftigste in Lateinamerika und zählt weltweit zu den bedeutendsten nach Flugbewegungen und Frachtumsatz. In Bezug auf den Passagierdurchsatz belegte er 2006 weltweit Platz 44. Obwohl er keinen offiziellen Namen hat, wird er umgangssprachlich nach Benito Juárez benannt, dem Staatsmann und Präsidenten Mexikos von 1861 bis 1872. Inzwischen hat der Flughafen die Grenzen seiner Kapazität erreicht. Er liegt fünf Kilometer östlich des Zócalo, weit innerhalb der Stadtgrenzen und ist mit Abstand der größte Flughafen des Landes. Zu seiner Entlastung war der Bau eines weiteren Flughafens im Einzugsgebiet der Stadt vorgesehen. Im Juli 2002 wurde nach heftigen Protesten durch die Bewohner betroffener Siedlungen dieser Plan fallen gelassen. Ende 2014 wurde der Plan neu aufgenommen, der Bau des neuen Flughafen Mexikos wurde im Lago de Texcoco begonnen. Die Bauarbeiten wurden im Jahr 2018 jedoch überraschend eingestellt und nicht weiter verfolgt. Als Ausweichflughafen ist der Flughafen von Puebla in der Nähe von Huejotzingo vorgesehen, der jedoch kaum eigenen Flugverkehr aufweist. Der Flughafen Felipe Ángeles ist der zweite Flughafen von Mexiko-Stadt. Der Flughafen eröffnete 2022, auf dem Gebiet des ehemaligen Militärflughafens Santa Lucía. Beim Flugunfall einer Boeing C-97 Stratofreighter 1987 stürzte diese im Stadtgebiet ab. Fünf Insassen kamen ums Leben, am Boden gab es 44 Todesopfer. ===== Überlandbusverkehr ===== Mexiko-Stadt besitzt vier große Überlandbusbahnhöfe, einen für jede Himmelsrichtung. Zahllose konkurrierende Busgesellschaften fahren die Busbahnhöfe an. Der größte Busbahnhof ist der „Terminal del Norte“, im Norden der Stadt, der die Grenze zu den USA und alles, was nur ungefähr in nördlicher Richtung liegt, einschließlich Guadalajara und Morelia, bedient. Vom „Terminal de Autobuses de Pasajeros de Oriente“, kurz TAPO, im Osten, fährt man nach Puebla, an die Golfküste im Staat Veracruz, aber auch nach Oaxaca, Chiapas und zur Halbinsel Yucatán; sogar nach Guatemala gelangt man von dort. Der Busbahnhof „Central de Autobuses del Sur“ liegt im Süden. Von dort fahren die Überlandbusse Richtung Pazifikküste – insbesondere nach Cuernavaca, Taxco de Alarcón, Acapulco und Ixtapa Zihuatanejo – ab. Der westliche Busbahnhof, der „Terminal Central Poniente“ ist der kleinste von allen und verbindet Mexiko-Stadt in erster Linie mit Toluca. Weitere langsamere Busse verkehren via Toluca nach Morelia, Guadalajara, und zu anderen Zielen in Jalisco und Michoacán. Auch nach Pátzcuaro, Uruapán, Valle de Bravo und Querétaro. Alle Busbahnhöfe haben eine U-Bahn-Station in unmittelbarer Nähe. Bei längeren Fahrten ins Umland der Stadt oder weiter weg halten die Busse am Stadtrand und werden von bewaffneten Organen (Armee, Polizei, private Firmen) kontrolliert. Dabei laufen Beamte durch den Bus und filmen jeden Fahrgast, fordern dazu auf, dass jeder in die Kamera sieht. Die großen Busbahnhöfe sind mit Sicherheitskontrollen wie Flugplätze ausgestattet, die Kontrollen sind jedoch etwas weniger streng. Personen, die offensichtlich Touristen sind, werden auch bei piependen Detektoren durchgewinkt. ==== Nahverkehr ==== ===== Schienenverkehr ===== Die erste Pferdestraßenbahn in Mexiko-Stadt fuhr am 12. Dezember 1857 und die erste elektrische Straßenbahn am 15. Januar 1900. Das früher umfangreiche Netz wurde auf einen 18 Kilometer langen Streckenabschnitt reduziert. Die Straßenbahn Tren Ligero („leichter Zug“) fährt zwischen dem U-Bahnhof Tasqueña (der südlichsten Endhaltestelle der Linie 2) hinweg über der Erde Richtung Süden bis Xochimilco. Die Bahn wird von einer anderen Gesellschaft als die Metro betrieben und darf nicht mit einem U-Bahnfahrschein benutzt werden.Der Verkehr in der Stadt ist vor allem in der Hauptverkehrszeit oft blockiert – teilweise bedingt durch die engen Straßen. Um den Straßenverkehr zu entlasten, wurde am 5. September 1969 der erste Streckenabschnitt der U-Bahn in Betrieb genommen. Der Bau sorgte nur anfangs für eine Besserung der Verkehrsprobleme. Die Metro verkehrt heute auf elf Linien und einem Gesamtnetz von 201,7 Kilometern und wurde einst zu einem der größten und leistungsfähigsten U-Bahnsysteme der Welt entwickelt. Heutigen Standards kann das U-Bahnsystem jedoch nicht im Ansatz genügen. Die Nahverkehrsdichte ist in den letzten 20 Jahren nicht proportional mit der Bevölkerung gewachsen, was als Ergebnis ein vollkommen überfordertes Metronetz hervorbrachte. Dennoch stellt die U-Bahn – bei Einhaltung gewisser Vorsichtsmaßnahmen – auch für Touristen das effizienteste Fortbewegungsmittel dar. Mit einer Fahrkarte kann unter Benutzung mehrerer Linien die komplette Stadt in etwa einer Stunde durchquert werden, was in Anbetracht des starken Autoverkehrs und den enormen Ausdehnungen der Metropole sehr schnell ist. Einzigartig ist das System der Zuordnung von aussagekräftigen farbigen Symbolbildern zu jeder der 175 U-Bahn-Stationen, das ursprünglich der hohen Rate an Analphabetismus in Mexiko-Stadt Rechnung tragen sollte. Präsentationen archäologischer Ausgrabungsfunde sind in den Bahnhöfen teilweise zu besichtigen.Da das Metro-System die Grenzen der politischen Einheit Mexiko-Stadt nicht überschreitet, fehlten lange Zeit jegliche schnelle und leistungsfähige Massenverkehrsmittel in die anschließende Metropolregion. Zum 1. Juni 2008 wurde ein erster Teil eines Schnellbahnnetzes „Ferrocarril Suburbano de la Zona Metropolitana del Valle de México“ eröffnet, der den aufgegebenen Hauptbahnhof Buenavista mit Cuauhtitlan verbindet und eine Länge von 27 Kilometern hat. Die Bahn verkehrt auf der Trasse der seit 1978 in Bau befindlichen ersten doppelgleisigen, elektrifizierten Bahnstrecke nach Santiago de Querétaro, die aber nie wirklich effektiv betrieben wurde. Nach der Aufgabe des Personenverkehrs in Mexiko im Zusammenhang mit der Privatisierung der Eisenbahnen 1996 kam es zu zahlreichen Projekten, die diese Strecke nutzen wollten, aber alle nicht realisiert wurden. Am 3. Mai 2021 kam es zu einem schweren U-Bahn-Unglück, bei dem mindestens 23 Menschen ums Leben kamen und rund 70 Menschen verletzt wurden. Beim Einsturz einer U-Bahnbrücke fielen mehrere Waggons auf eine befahrene Straße. ===== Straßenverkehr ===== Im Stadtgebiet verkehren zahlreiche große Omnibusse, darunter auch moderne Elektrobusse. Auf der „Avenida Insurgentes“ verkehrt der staatlich geförderte Metrobus und auf der Lázaro Cárdenas, zwischen der Terminal del Norte und der Central del Sur, verkehren auch in beiden Richtungen Trolleybusse. Der Obusbetrieb in der Stadt wurde am 6. April 1952 eröffnet, nachdem es schon 1948 und 1951 Versuchsbetriebe gegeben hatte. Ein großer städtischer Busbahnhof befindet sich zwischen dem U-Bahnhof Chapultepec und dem Eingang zum Park. Von dort fahren Busse in alle Teile der Stadt. Des Weiteren verkehren zahlreiche Peseros (Colectivos), Busse mit 30 Sitzplätzen oder VW-Busse für circa acht bis zehn Passagiere in der Stadt. Sie sind oft hellgrün mit einem weißen Dach, die Fahrziele stehen auf der Windschutzscheibe. Die Peseros besitzen zwar auch Liniennummern, doch nicht jedes Fahrzeug befährt die gesamte Route, sondern kehrt vielleicht auf halbem Wege wieder um, daher sind die Aufschriften die besten Orientierungspunkte. Peseros sind schneller und etwas teurer als die Stadtbusse, aber viel preiswerter als die zahlreichen Taxen, und lassen Passagiere an jedem Punkt ihrer festen Route ein- und aussteigen. Da viele Straßennamen mehrfach vergeben wurden, sollte der Fahrgast vor einer Fahrt mit dem Taxi dem Fahrer die Adresse mit Stadtbezirk (Delegacion), Stadtteil (Colonia) und Straßenname nennen sowie auf den nächstgelegenen Platz, Straße, Denkmal oder ähnliches hinweisen. Herzstück der innerstädtischen Verkehrsreformen ist der Aufbau eines Schnellbusnetzes. Ein Busnetz ist schneller und billiger aufzubauen, als eine U-Bahn. 70 Kilometer sind bereits in Betrieb, 200 Kilometer sollen es werden; die roten Gelenkbusse bedienen auf eigenen Spuren die Hauptrouten. Die Stadt hat den Ausbau des Schnellbusnetzes trotz vieler Widerstände aus Kreisen der Privatbusbesitzer vorangetrieben. So hat sie durchgesetzt, dass Volvo und Mercedes den Mexikanern ihre modernsten Busse mit Abgaswerten der Euro-4-Norm liefern – normalerweise übernehmen Firmen in Schwellenländern aus der ersten Welt nur alte Fahrzeuge. Zudem wird das Netz der Oberleitungsbusse ausgebaut und mit fast 300 Bussen von Yutong modernisiert.In der Innenstadt bzw. dem historischen Zentrum sowie an anderen besonders verkehrsreichen Punkten der Stadt wird der Straßenverkehr üblicherweise von Polizisten geregelt, der Policía de Tránsito. Insbesondere im morgendlichen Berufs- und im abendlichen Feierabend- und Einkaufsverkehr werden die circa 2500 Verkehrspolizisten eingesetzt. Mit ihrer nicht ganz ungefährlichen Arbeit, jeden Tag werden zehn bis zwölf von ihnen von Autofahrern angegriffen, versuchen sie, den trotz des schon seit 25 Jahren geltenden Fahrverbots für Privatfahrzeuge „hoy no circula“ extrem ausgeprägten Individualverkehr zu bändigen. Im Dezember 2015 ist eine neue Straßenverkehrsordnung in Kraft getreten, mit der die Höchstgeschwindigkeit in der Stadt von 70 km/h auf 50 km/h reduziert wird, Tempo-30-Zonen vorsieht und die Führerscheinpflicht zurückkehren lässt. Das Führerscheingebot gilt allerdings nicht rückwirkend und es ist davon auszugehen, dass die Mehrheit der Hauptstadtbewohner die Führerscheinprüfung nicht bestehen würde. === Medien === In Mexiko-Stadt sind das Fernsehen und der Rundfunk, bedingt durch den hohen Analphabetismus, die am meisten genutzten Medien. Zeitungen und Magazine werden überwiegend von den Menschen der Mittel- und Oberschicht gelesen. Rund 80 Prozent der zahlreichen Rundfunk- und Fernsehsender gehören dem Konzern Televisa, der größte private Anbieter von Fernsehprogrammen in spanischer Sprache. Der größte private Mitbewerber ist Televisión Azteca. 45 Prozent der Bewohner informieren sich über das Fernsehen, ebenfalls 45 Prozent über das Radio und nur zehn Prozent über die Printmedien. In der Hauptstadt werden gegenwärtig 32 Tageszeitungen herausgegeben. Die größte und einflussreichste ist die während der Mexikanischen Revolution (1910–1929) gegründete El Universal. Sie steht wie die Excelsior der ehemaligen Regierungspartei PRI (Partido Revolucionario Institucional) nahe. Die zweitgrößte Tageszeitung in der Hauptstadt ist die 1993 gegründete Reforma. Sie ist eher der amtierenden rechtsliberalen Regierungspartei PAN (Partido Acción Nacional) zugeneigt. Weitere wichtige Tageszeitungen sind die 1984 gegründete linksgerichtete und der Oppositionspartei PRD (Partido de la Revolución Democrática) nahestehende La Jornada und der ihr entgegengesetzte rechtskatholische El Heraldo. Die dominierenden Wirtschaftszeitungen sind El Financiero und die 1988 gegründete El Economista. Das bedeutendste politische Magazin ist das seit 1976 herausgegebene Proceso. In der Metropole gibt es auch deutschsprachige Medien, darunter das Monatsmagazin mitt. (abgeleitet von „Mitteilungsblatt“) und das Internetportal treff3.net. Das seit 1932 erscheinende mitt. gehört zu den ältesten Publikationen der Stadt. === Bildung === Die Hauptstadtregion beherbergt zahlreiche Universitäten, Hoch- und Fachschulen, Forschungsinstitute und Bibliotheken. Das Studium in Mexiko-Stadt und im ganzen Land wird von der riesigen, im Jahre 1551 gegründeten „Universidad Nacional Autónoma de México“ (UNAM) mit 286.484 Studierenden bestimmt. Sie ist mit Abstand sowohl die älteste als auch größte Universität des amerikanischen Kontinents. Die Bibliothek auf dem Universitätscampus ist mit Mosaikdarstellungen aus der Geschichte und Kultur des Landes – dem größten Natursteinmosaik der Welt – geschmückt und ein Musterbeispiel für moderne Architektur eines Landes, das sich wieder seiner Historie bewusst wird. Der zentrale Universitätscampus steht seit 2007 auf der UNESCO-Liste des Weltkulturerbes.Private Universitäten in Mexiko-Stadt sind die Universidad Tecnológica de México, die Universidad del Valle de México, die Universidad Iberoamericana (U.I.A.), die Universidad La Salle A.C., die Universidad Intercontinental, die Universidad del Claustro de Sor Juana, die Universidad Anáhuac México und die Universidad Panamericana. Weitere bedeutende Bildungseinrichtungen in der Region sind die Universidad Autónoma Metropolitana (UAM), das Instituto Politécnico Nacional (IPN), die Universidad Pedagógica Nacional (UPN), das Instituto Tecnológico y de Estudios Superiores de Monterrey (I.T.E.S.M.), Instituto Tecnológico Autónomo de México (I.T.A.M.), die Escuela Bancaria y Comercial, das Centro Universitario Grupo Sol S.C., die Escuela Nacional de Artes Plásticas, das Instituto de Estudios Superiores del Colegio Holandés, das Instituto Nacional de Antropología e Historia, das Centro Cultural Universitario Justo Sierra und die Grupo Cultural I.C.E.L. In Mexiko-Stadt gibt es mehrere deutsche Grundschulen und Gymnasien, die zum deutschen und zum mexikanischen Abitur führen. Die größte deutsche Auslandsschule weltweit ist das Colegio Alemán Alexander von Humboldt. Es wurde 1894 von deutschen Einwanderern gegründet. Namensgeber ist der deutsche Naturforscher Alexander von Humboldt. == Persönlichkeiten == === Söhne und Töchter der Stadt === === Bischöfe und Erzbischöfe der Stadt === == Literatur == Juan Villoro: Horizontal Vertigo: A City Called Mexico. Ballantine, New York 2021, ISBN 978-1-5247-4888-3 (aus dem Spanischen von Alfred MacAdam). Ana Álvarez (Hrsg.), Citámbulos (Mexiko), DAZ (Berlin): Citámbulos – Mexico City: Reise in die mexikanische Megacity. Jovis Verlag, Berlin 2008, ISBN 978-3-939633-76-1. Christof Parnreiter: Historische Geographien, verräumlichte Geschichte. Mexico City und das mexikanische Städtenetz von der Industrialisierung bis zur Globalisierung. Franz Steiner Verlag, Stuttgart 2007, ISBN 978-3-515-09066-7. York Lohse: Mexiko-Stadt im 18. Jahrhundert. Das Bild einer kolonialen Metropole aus zeitgenössischer Perspektive. Peter Lang, Frankfurt 2005, ISBN 3-631-53603-8. Hans G. Hofmeister: Mexico-City – Eine Metropole des Südens im globalen Restrukturierungsprozess. Kassel University Press, Kassel 2002, ISBN 3-89958-016-8. Eckhart Ribbeck: Die informelle Moderne – Spontanes Bauen in Mexiko-Stadt „Informal Modernism – Spontaneous Building in Mexico-City“. AWF, Bensheim 2002, ISBN 3-933093-25-2. Martin Heintel, Heinz Nissel, Christof Parnreiter, Günter Spreitzhofer, Karl Husa, Helmut Wohlschlägl (Hrsg.): Megastädte der Dritten Welt im Globalisierungsprozess. Mexico City, Jakarta, Bombay – Vergleichende Fallstudien in ausgewählten Kulturkreisen. Institut für Geographie, Wien 2000, ISBN 3-900830-40-1. Oscar Lewis: Die Kinder von Sanchez. Selbstporträt einer mexikanischen Familie. Lamuv, Göttingen 1992, ISBN 3-921521-62-9. Uwe Schmengler: Umweltprobleme in Mexiko-Stadt. Schmengler, Berlin 1992, ISBN 3-9801643-0-6. (Kopie der ursprünglichen Examensarbeit: S. 1–37 (Memento vom 30. September 2007 im Internet Archive), S. 38–67 (Memento vom 30. September 2007 im Internet Archive), S. 68–95 (Memento vom 27. September 2007 im Internet Archive), S. 96–120 (Memento vom 30. September 2007 im Internet Archive), Literatur (Memento vom 27. September 2007 im Internet Archive).) Dieter Klaus, Wilhelm Lauer, Ernesto Jauregui: Schadstoffbelastung und Stadtklima in Mexiko-Stadt. F. Steiner, Stuttgart 1988, ISBN 3-515-05410-3. Anne Becker, Olga Burkert, Anne Doose, Alexander Jachnow, Marianna Poppitz (Hrsg.): Verhandlungssache Mexiko-Stadt. Umkämpfte Räume, Stadtaneignungen, imaginarios urbanos. b-books, Berlin 2008, ISBN 978-3-933557-89-6. == Weblinks == Internetpräsenz der Stadt (spanisch) Tourismusbüro der Stadt (spanisch und englisch) Goethe-Institut Mexiko-Stadt Stadtführer (englisch) Routenplaner des öffentlichen Verkehrs in Mexiko-Stadt Luftaufnahmen der Hauptstadt (Memento vom 16. Juni 2007 im Webarchiv archive.today) Welten der Kunst: Mexiko Bilder von Mexiko-Stadt (spanisch und englisch) Mexiko-Stadt Werden und Transformation einer Megastadt == Einzelnachweise ==
https://de.wikipedia.org/wiki/Mexiko-Stadt
Winston Churchill
= Winston Churchill = Sir Winston Leonard Spencer-Churchill KG OM CH PCc RA (* 30. November 1874 in Blenheim Palace, Oxfordshire; † 24. Januar 1965 in London) gilt als bedeutendster britischer Staatsmann des 20. Jahrhunderts. Er war zweimal Premierminister – von 1940 bis 1945 sowie von 1951 bis 1955 – und führte Großbritannien durch den Zweiten Weltkrieg. Zuvor hatte er bereits mehrere Regierungsämter bekleidet, unter anderem das des Innenministers, des Ersten Lords der Admiralität und des Schatzkanzlers. Darüber hinaus trat er als Autor politischer und historischer Werke hervor und erhielt 1953 den Nobelpreis für Literatur. Churchill entstammte der britischen Hocharistokratie und war der Sohn eines führenden Politikers der Konservativen Partei. Nach einer Laufbahn als Offizier und Kriegsberichterstatter zog er 1901 als Abgeordneter ins Unterhaus ein, dem er über 60 Jahre lang angehören sollte. Nach seinem 1904 erfolgten Wechsel von den Konservativen zu den Liberalen übernahm er nacheinander verschiedene Regierungsämter. Als Erster Lord der Admiralität betrieb Churchill ab 1911 die Modernisierung der Royal Navy. Im Ersten Weltkrieg musste er wegen der ihm zur Last gelegten Niederlage bei Gallipoli 1915 zurücktreten. David Lloyd George holte ihn aber schon 1916 als Rüstungsminister ins Kriegskabinett zurück. Im Jahr 1924 wechselte Churchill wieder zu den Konservativen, die ihn zum Schatzkanzler (1924–1929) machten. Während der 1930er Jahre, in denen Churchills politische Karriere beendet schien, betätigte er sich vornehmlich als Publizist und Schriftsteller. Als einer von wenigen Politikern warnte er Regierung, Parlament und Öffentlichkeit vor der aggressiven, revisionistischen Politik Nazi-Deutschlands, fand damit aber kaum Gehör. Erst bei Ausbruch des Zweiten Weltkriegs 1939 erhielt der erklärte Gegner Adolf Hitlers wieder ein Regierungsamt und wurde zunächst erneut Erster Lord der Admiralität. Als Premierminister Neville Chamberlain infolge der glücklosen alliierten Kriegführung zurücktreten musste, übernahm Winston Churchill am 10. Mai 1940 das Amt des Regierungschefs. Mit seiner Weigerung, in Verhandlungen mit Hitler einzutreten, und mit seinen Reden stärkte er in den kritischen Monaten des Frühjahrs und Sommers 1940 den Widerstandswillen und die Bereitschaft der Briten, den Krieg gegen das nationalsozialistische Deutschland fortzuführen. Außenpolitisch hatte er maßgeblichen Anteil am Zustandekommen der Anti-Hitler-Koalition zwischen Großbritannien, den USA und der Sowjetunion, die schließlich den Sieg über Deutschland und Japan errang. Trotz dieses militärischen Triumphs verlor er mit den Tories die Unterhauswahlen des Jahres 1945. Nach Kriegsende wurde Winston Churchill zum Vordenker der Europäischen Einigung. Im Jahr 1951 erneut zum Premierminister gewählt, trat er 1955 zurück. Seinen Wahlkreis Woodford im Nordosten Londons vertrat er bis 1964, ein Jahr vor seinem Tod, im Unterhaus. == Leben == === Herkunft, Schule, Militär === Geboren wurde Winston Churchill in Blenheim Palace, dem Schloss seines Großvaters John Spencer-Churchill, 7. Duke of Marlborough. Seine Eltern waren der britische Politiker Lord Randolph Churchill und die amerikanische Millionärstochter Jennie Jerome. Der Vater gehörte zu den Mitbegründern der modernen Konservativen Partei, war deren Vorsitzender, bekleidete verschiedene Ministerämter und galt zeitweilig als aussichtsreicher Anwärter auf das Amt des Premierministers. Churchills Großvater väterlicherseits gehörte als Duke of Marlborough dem britischen Hochadel an. Wie für den britischen Erbadel üblich, erbte nur der älteste Sohn des Herzogs diesen Titel, nicht aber dessen jüngerer Bruder, Churchills Vater Randolph. Als dessen Sohn wiederum galt Winston Churchill als untitulierter Adeliger (Gentleman). In den 1950er Jahren lehnte er die erbliche Peerswürde ab, er wurde jedoch 1953 als Knight Companion in den Hosenbandorden aufgenommen und damit als „Sir Winston Churchill“ in den Ritterstand erhoben. Seine Herkunft aus der britischen Hocharistokratie sicherte ihm in seiner Jugend die Aufnahme in renommierte Internate und eine Laufbahn als Armeeoffizier, obwohl seine Leistungen als Schüler eher dürftig waren. Von 1881 bis 1892 besuchte Churchill Eliteschulen in Ascot, Brighton und Harrow. Das autoritäre Erziehungssystem dort widerstrebte ihm, und er blieb mehrfach sitzen. Nach der Schulzeit bewarb er sich beim Militär, fiel jedoch zweimal durch die Aufnahmeprüfung. 1893 kam er doch noch als Kadett nach Sandhurst und mit 21 Jahren als Leutnant zum 4. Husarenregiment. Auf der Militärakademie und in der Armee fühlte sich Churchill zum ersten Mal am richtigen Platz. Ohne schulischen Druck erwarb er sich nun auch eine profunde literarische Bildung und begann kurz darauf, selbst zu schreiben. Bis zu seinem Lebensende sollte er als Journalist und Buchautor einen geschliffenen Stil pflegen, der ihm den Nobelpreis für Literatur einbrachte. Als seine größte Freude in Sandhurst bezeichnete Churchill in seiner 1930 erschienenen Autobiographie jedoch das Reiten. Sportliche Betätigung war stets Teil seines Lebens, und für die ihm zugeschriebene Empfehlung „No Sports“ gibt es keinen Beleg.Zwischen 1895 und 1901 nahm Churchill als aktiver Soldat und Kriegsberichterstatter an fünf verschiedenen Kolonialkriegen teil, unter anderem in Kuba auf Seiten der Spanier während des dortigen Unabhängigkeitskrieges und in verschiedenen Teilen des Empire, etwa beim Aufstand in Malakand in der Nordwestlichen Grenzprovinz Britisch-Indiens. 1898 nahm er, da sein Husarenregiment in Großbritannien blieb, in den Reihen des 21. Ulanenregiments am Feldzug zur Niederschlagung des Mahdi-Aufstandes im Sudan teil. Dabei ritt er in der Schlacht von Omdurman eine der letzten großen Kavallerieattacken der britischen Militärgeschichte mit. Über diesen Feldzug verfasste er das Buch The River War. An Historical Account of the Reconquest of the Sudan. Den Zweiten Burenkrieg erlebte er als Kriegsberichterstatter der Morning Post. Seinem Biographen Martin Gilbert zufolge war der Vertrag, den Churchill mit der Zeitung aushandelte, „wahrscheinlich der günstigste Vertrag, den überhaupt ein Kriegsberichterstatter bis dahin abgeschlossen hatte“. Außerdem habe er „allgemein dazu […] geführt, die Bezahlung von Journalisten zu verbessern“. Nachdem Churchill bei einem Eisenbahnüberfall der Buren gefangen genommen worden war, gelang ihm eine spektakuläre Flucht von Pretoria zur fast 500 Kilometer entfernten Delagoa-Bucht in der portugiesischen Kolonie Mosambik. Zwei Bücher über seine südafrikanischen Abenteuer, seine Kriegsberichte und seine abenteuerliche Flucht machten ihn bekannt und in den Augen vieler Landsleute zu einem Nationalhelden. Dies kam ihm bei der Unterhauswahl des Jahres 1900 zugute. === Politischer Aufstieg === Bereits 1899 hatte sich Churchill bei einer Nachwahl vergeblich um einen Sitz im britischen Unterhaus bemüht. Nach seiner Rückkehr aus dem Burenkrieg kandidierte er erfolgreich bei den Unterhauswahlen des Jahres 1900 und zog im März 1901 als frisch gewählter Konservativer für den Wahlkreis Oldham ins Parlament ein. Seinen ersten bedeutenden Auftritt im Parlament hatte er am 31. Mai 1904 mit dem demonstrativen Übertritt von den Konservativen zu den Liberalen. Als Grund dafür gab er an, dass er in der Frage „Freihandel oder Schutzzoll“ die Haltung der Liberalen teile, die für den Freihandel eintraten. Da Churchill aber weder damals noch später großes Interesse für Wirtschaftsfragen zeigte, vermutet sein Biograph Sebastian Haffner, das wahre Motiv für den Parteiwechsel sei der Wunsch gewesen, einem jahrelangen Hinterbänkler-Dasein bei den Konservativen zu entkommen. Bei den Liberalen dagegen habe der sendungsbewusste junge Abgeordnete wegen seines spektakulären Übertritts sofort eine wichtige Rolle spielen können. Bei den meisten Konservativen war er nach diesem Schritt verhasst. Das bezeugen viele Zeitgenossen in ihren Memoiren, so Violet Bonham Carter oder Eduard von der Heydt. Ein zeitgenössischer Beleg ist auch die Schlagzeile „Winston Churchill is out, OUT, OUT!“, mit der die konservative Tageszeitung The Daily Telegraph 1908 Churchills Niederlage gegen William Joynson-Hicks bei einer Nachwahl in Manchester feierte. Dennoch ließ Churchill den Draht zu seiner alten Partei nie völlig abreißen und pflegte Kontakte zu einflussreichen Konservativen. So blieb ihm Arthur Balfour im Ganzen wohlgesinnt, Hugh Cecil war 1908 sein Trauzeuge, und der junge F. E. Smith, mit dem Churchill einen politischen Klub, The Other Club, gründete, wurde damals sein engster persönlicher Freund. In der Liberalen Partei wanderte Churchill auf der politischen Skala immer weiter nach links. Er gehörte zum sozialreformerischen Parteiflügel, und wie sein Förderer David Lloyd George galt er in der Öffentlichkeit bald als draufgängerischer, aber auch bewunderter Radikaler. Schon früh zeigte sich sein Ehrgeiz, einmal Premierminister zu werden. So äußerte er sich 1907 selbstbewusst, er werde zum Zeitpunkt seines 43. Geburtstages Regierungschef sein. Politische Verantwortung nahm er bereits früh als Unterstaatssekretär für die Kolonien (1905–1908) unter Lord Elgin sowie als Handels- (1908–1910) und Innenminister (1910–1911) wahr. Insbesondere wegen seiner armenfreundlichen Sozialpolitik stieß er bei den Tories auf heftige Ablehnung. Als skandalös, weil seiner Stellung nicht angemessen, bewerteten sie sein persönliches Eingreifen in eine Schießerei der Londoner Polizei mit Anarchisten, die als Belagerung der Sidney Street bekannt wurde. Das Misstrauen vieler Arbeiter dagegen weckte im November 1910 die Entscheidung des Innenministers Churchill, Soldaten nach Südwales zu entsenden, um die Lage nach dem niedergeschlagenen Tonypandy-Aufstand zu beruhigen. Diese politische Hypothek sollte ihn auf Jahrzehnte belasten. Während sich der deutsch-britische Flottenkonflikt zuspitzte, machte Premierminister Herbert Henry Asquith Churchill 1911 als Nachfolger von Reginald McKenna zum Ersten Lord der Admiralität (Marineminister). Seine wichtigste Entscheidung in diesem Amt vor Beginn des Ersten Weltkriegs war die Umrüstung der britischen Kriegsflotte von Kohle- auf Ölfeuerung, was ihren Aktionsradius deutlich erhöhte. === Familiengründung === Den damaligen Konventionen entsprechend benötigte ein Politiker wie Churchill eine Ehefrau, um weiter Karriere machen zu können. Zwei Frauen, denen er einen Heiratsantrag machte, lehnten ab. Die amerikanische Schauspielerin Ethel Barrymore begründete dies damit, dass sie dem anstrengenden Leben eines Politikers nicht gewachsen sei. Im Jahr 1906, als Churchill der für die Kolonien zuständige Unterstaatssekretär war, lernte er die zehn Jahre jüngere Clementine Hozier kennen. Beide begegneten sich erneut 1908 und vertieften die Beziehung. Churchill war inzwischen Handelsminister, hatte also nach dem Schatzkanzler das zweitwichtigste Wirtschaftsamt in der britischen Regierung inne. Am 12. September 1908 heirateten sie in der St Margaret’s Church in Westminster.Aus der Ehe gingen vier Töchter und ein Sohn hervor: Diana (* 11. Juli 1909; † 20. Oktober 1963) Randolph (* 28. Mai 1911; † 6. Juni 1968) Sarah (* 7. Oktober 1914; † 24. September 1982) Marigold (* 15. November 1918; † 23. August 1921) Mary (* 15. September 1922; † 31. Mai 2014) === Erster Weltkrieg === Als Kabinettsmitglied bestimmte Churchill Großbritanniens Politik und Strategie im Ersten Weltkrieg an entscheidender Stelle mit – zunächst als Erster Lord der Admiralität, später, nach dem vorübergehenden Ausscheiden aus der Regierung, als Minister of Munitions. ==== Im Marineministerium ==== Mitunter überschritt Churchill seine Kompetenzen als Erster Lord der Admiralität erheblich, etwa als er sich im Spätsommer 1914 in die Operationen der britischen Expeditionsstreitkräfte in Belgien einmischte und auf eigene Faust die Verteidigung Antwerpens zu organisieren versuchte. Im Rahmen des Seekriegs entsandte er im Oktober 1914 einen starken Flottenverband in den Südatlantik, der das deutsche Ostasiengeschwader der Kaiserlichen Marine unter Vizeadmiral Graf Spee im Südatlantik aufspürte und im Seegefecht bei den Falklandinseln vernichtete. Die von Churchill initiierten, von seiner Royal Navy unterstützen Landungsoperationen britischer, französischer, indischer, vor allem aber australischer und neuseeländischer Truppen bei Gallipoli und beim Kap Helles auf der türkischen Halbinsel Gelibolu am Südausgang der Dardanellen im Spätwinter 1915 erwiesen sich als schwerwiegende Fehlschläge. Ziel der Operation war es, die Mittelmächte Deutschland und Österreich-Ungarn im Süden über das mit ihnen verbündete Osmanische Reich anzugreifen. Dieses galt als der „Kranke Mann am Bosporus“ und stellte den schwächsten Punkt des gegnerischen Bündnisses dar. Nach Anfangserfolgen gelang den alliierten Truppen jedoch nicht der Ausbruch aus den beiden Landungsbrückenköpfen. Zudem trat Bulgarien auf Seiten der Mittelmächte in den Krieg ein, so dass sich die Aussicht für eine rasche Entscheidung auf dem Balkan deutlich verschlechterten. Churchills Flottenchef John Fisher, der seine Pläne von Beginn an kritisiert hatte, trat daraufhin zurück. ==== Ausscheiden und Wiedereintritt in die Regierung ==== Um eine Vertrauenskrise in die Kriegsführung der Regierung Asquith abzuwenden, wurde nun der Eintritt der Konservativen ins Kabinett unausweichlich. Unter ihrem Parteichef Andrew Bonar Law knüpften sie daran jedoch die Bedingung, dass Churchill als Verantwortlicher für die sich abzeichnende Niederlage an den Dardanellen als Marineminister zurücktreten müsse. Ein weiterer Grund für diese Forderung war, dass Churchill den Konservativen seit seinem Parteiwechsel als „Verräter“ galt. So legte er am 18. Mai 1915 sein Amt als Erster Lord der Admiralität nieder. Der Truppenrückzug von den Dardanellen dauerte vom 19. Dezember 1915 bis zum 9. Januar 1916. Bei den Kämpfen verlor die Entente über 140.000 Mann an Toten, Verwundeten, Vermissten und Gefangenen, während die Mittelmächte über 210.000 Mann verloren. Churchill verblieb vom 23. Mai bis zum 16. November 1915 in der unbedeutenden Position des Kanzlers des Herzogtums Lancaster in der erweiterten Regierung Asquith. Da er aber keinen nennenswerten Einfluss mehr auf die Regierungsarbeit nehmen konnte, meldete er sich schließlich freiwillig zur Armee und ging an die Front in Flandern und Nordfrankreich. Vom 20. November 1915 an diente er zunächst als Major im 2. Bataillon der Grenadier Guards. Vom 1. Januar bis zum 6. Mai 1916 befehligte er, nun zum Oberstleutnant befördert, das 6. Bataillon der Royal Scots Fusiliers.Auch während seines Militärdienstes nahm Churchill sein Parlamentsmandat weiter wahr. Im März 1916 forderte er in einer Rede vor dem Unterhaus kaum verhüllt seine Wiederernennung zum Marineminister, erntete damit aber nur Spott. Erst David Lloyd George, der Asquith im Dezember 1916 als Premierminister ablöste, nahm Churchill, den Konservativen zum Trotz, am 16. Juli 1917 als Minister of Munitions wieder ins Kabinett auf. ==== Entwicklung moderner Waffensysteme ==== Bereits Ende 1914 war Churchill als Marineminister neben Maurice Hankey, dem Sekretär des Committee of Imperial Defence, für den Bau der damals so genannten „Landschlachtschiffe“ eingetreten. Die neuartige Panzerwaffe sollte die erstarrten Fronten wieder in Bewegung bringen. Unter Churchills Ägide wurde das Landships Committee eingesetzt. Dieses trieb seit Anfang 1915 die Entwicklung der Panzer voran, die in der Endphase des Krieges eine entscheidende Rolle spielen sollten. Nach dem Krieg erklärte eine königliche Prüfungskommission, die mit der Aufgabe betraut war, die Verantwortlichkeit für bahnbrechende militärische Neuerungen und bedeutende strategische Initiativen der Kriegszeit zu klären, dass die Möglichkeit, über die Tanks zu verfügen, vor allen Dingen Churchill zu verdanken gewesen sei: Churchill gehörte auch zu den ersten, die das militärische Potenzial von Flugzeugen voll erfassten. Ihm war klar, dass die Maschinen, die im Weltkrieg noch vorwiegend zu Aufklärungszwecken und in Einzelkämpfen eingesetzt worden waren, die Kriegführung revolutionieren würden. Mit ihnen ließen sich künftig Angriffe direkt ins Hinterland des Gegners tragen, um dessen militärische und industrielle Ressourcen zu treffen. Auch Großbritannien würde sich nicht länger auf seine Insellage verlassen können. Als Luftfahrtminister förderte er daher seit 1919 den Aufbau einer Luftwaffe, die auch 1920 im Irak zum Abwurf von Bomben gegen Aufständische eingesetzt wurde. Der Gefahren des modernen Krieges war sich Churchill vollauf bewusst. In seinem Werk The Aftermath blickte er 1928 auf den Ersten Weltkrieg zurück, zog eine Bilanz aus den Erfahrungen der Vergangenheit und beschrieb damit schon den Krieg der Zukunft: === Nach- und Zwischenkriegszeit === ==== In der Nachkriegsregierung ==== Nach dem Krieg übernahm Churchill in Lloyd Georges Koalitionskabinett nacheinander die Ämter des Kriegs-, des Luftfahrt- und des Kolonialministers (Secretary of State for the Colonies). Ab 1919 Kriegsminister, befürwortete er die Intervention der Westalliierten im Russischen Bürgerkrieg auf Seiten der Weißen Armee. Die deutsche Reichsleitung hatte 1917 Lenin aus seinem Schweizer Exil nach Russland reisen lassen, um dessen Regierung zu destabilisieren und das Land aus der Kriegskoalition hinauszudrängen. Daher unterstützten britische und französische Truppen seit dem Frühjahr 1918 von Archangelsk und Murmansk aus die antibolschewistischen Kräfte. Bereits ab Juli 1919 zogen sich die erfolglosen britischen Truppen jedoch aus Russland zurück. Churchill war zwar der Meinung gewesen, der Bolschewismus müsse „bereits in der Wiege erwürgt werden“, konnte sich aber mit seinen Bestrebungen nach einem weitergehenden militärischen Engagement in der eigenen Partei nicht durchsetzen. Im Oktober 1922 verließen die Konservativen nach einer Hinterbänkler-Revolte das Kabinett und Lloyd George erklärte seinen Rücktritt. Mit ihm stürzte der letzte liberale Premier Großbritanniens. Die zwischen Anhängern von Asquith und Lloyd George gespaltenen Liberalen verloren die folgende Wahl; Churchill selbst unterlag in seinem Wahlkreis in Dundee deutlich. Nach zwei Jahren politischer Abstinenz und zwanzig Jahre nach seinem ersten Parteiwechsel trat Churchill 1924 erneut der Konservativen Partei bei. ==== Schatzkanzler im konservativen Kabinett ==== Noch im November jenes Jahres wurde er Schatzkanzler, also Finanz- und Wirtschaftsminister, in der konservativen Regierung des neuen Premiers Stanley Baldwin und blieb es bis zu dessen Abwahl 1929. Mit seinem französischen Amtskollegen Joseph Caillaux schloss er 1926 ein Fundierungsabkommen über die Kriegsschulden, die die französische Regierung bis 1918 bei der britischen Regierung aufgenommen hatte. Seine wichtigste Entscheidung in diesem Amt war jedoch die Wiedereinführung des Goldstandards, die er 1925 durchsetzte. Diese konservative Finanzpolitik führte zur Überbewertung des Pfund Sterling und damit zur Verteuerung britischer Waren, zu einem Einbruch des Exports und schließlich zu einem Anstieg der Arbeitslosigkeit auf rund 20 Prozent. Die Unzufriedenheit der Arbeiter gipfelte im großen Generalstreik von 1926. Churchill forderte, den mehr als sechs Monate dauernden Arbeitskampf gewaltsam zu beenden. Er war der Meinung: „Entweder das Land bricht den Generalstreik, oder der Generalstreik zerbricht das Land.“ Premierminister Baldwin verfolgte dagegen einen behutsameren Kurs und konnte den Generalstreik schnell entschärfen. 1931, zwei Jahre nach Churchills Ablösung als Schatzkanzler, wurde der Goldstandard wegen seiner verheerenden wirtschaftlichen Auswirkungen wieder abgeschafft. Die krisengeschüttelte Regierung Baldwin wurde nach der Unterhauswahl von 1929 durch ein Labour-Kabinett unter Ramsay MacDonald abgelöst. Noch im selben Jahr wurde Churchill Kanzler der Universität Bristol, behielt aber auch seinen Parlamentssitz und blieb in der Oppositionszeit zunächst Mitglied des Schattenkabinetts. ==== Rückzug aus dem Schattenkabinett ==== Ende 1929 unternahm Churchill eine Vortragsreise nach Amerika. Infolge des New Yorker Börsencrashs im Oktober, den er am Rande miterlebte, verlor auch er viel Geld, das er in Aktien angelegt hatte. Nur seine Einnahmen als Schriftsteller und eine verstärkte Tätigkeit als Kolumnist bewahrten ihn vor dem zeitweise drohenden Ruin. Im folgenden Jahr überwarf sich Churchill mit Baldwin wegen dessen angeblich zu nachgiebiger Haltung gegenüber der indischen Unabhängigkeitsbewegung. Als überzeugter Imperialist war er deren erklärter Gegner und sah in ihrem Anführer Mahatma Gandhi nur einen „halbnackten Fakir“. Die „Irwin-Deklaration“ von Edward Wood, 1. Earl of Halifax (seit 1926 auf Vorschlag von Baldwin hin Vizekönig von Indien) für ein Indien als selbstständig verwaltetes Dominion lehnte Churchill ebenfalls ab und trat 1931 aus Baldwins Schattenkabinett aus. 1935 forderte er die indischen Fürsten explizit zum Widerstand gegen den Government of India Act auf, und diese verweigerten mit großer Mehrheit den Beitritt zu der von dem Gesetz vorgesehenen Föderation. Einige Biographen machen Churchill daher mit dafür verantwortlich, dass eine konstruktive Einbindung der probritischen indischen Fürstenstaaten in die Selbstverwaltung Indiens verhindert wurde. Schwerer noch wiegt der Vorwurf, während des Zweiten Weltkriegs habe Churchills Regierung gleichgültig auf die Hungersnot in Bengalen reagiert und damit den Tod von etwa 3 Millionen Menschen in Kauf genommen.Im Januar 1931 trat Churchill wegen der Unstimmigkeiten über Indien aus Baldwins Schattenkabinett aus. Im Dezember desselben Jahres wurde er in New York von einem Taxi angefahren. Die Verletzungen zwangen ihn zu einer einjährigen Erholungsphase, die er zum großen Teil auf Reisen verbrachte. So unternahm er 1932, um für die geplante Biographie seines Ahnherrn Marlborough zu recherchieren, auch eine Fahrt durch Deutschland. Die Reise zu den Schlachtfeldern des Spanischen Erbfolgekriegs führte ihn auch nach München. In seinem dortigen Hotel traf er Ernst Hanfstaengl, damals Auslands-Pressechef der NSDAP, der sich bereit erklärte, eine Begegnung zwischen ihm und Hitler zu arrangieren. Das schon vereinbarte Treffen wurde aber kurzfristig wieder abgesagt, nachdem Churchill kritische Fragen zum Antisemitismus Hitlers gestellt hatte. So kam es nie zu einem persönlichen Zusammentreffen der späteren Kriegsgegner. Aufgrund seiner häufigen Abwesenheit von Westminster verlor Churchill Anfang der 1930er Jahre zunehmend an Einfluss im parteiinternen Richtungsstreit. Ganz anders als zu Beginn seiner politischen Karriere galt er damals nahezu als Reaktionär. Wie die meisten konservativen Politiker dieser Zeit unterschätzte er Adolf Hitler zunächst und glaubte, in dessen und in Mussolinis Politik positive Ansätze erkennen zu können. In manchen Punkten gab es sogar gewisse Übereinstimmungen. So befürwortete Churchill beispielsweise die Eugenik, da er in „Geistesschwachen“ und „Verrückten“ eine Bedrohung für Wohlstand, Vitalität und Kraft der britischen Gesellschaft sah. Er trat für ihre Segregation und Sterilisierung ein, damit der „Fluch mit diesen Menschen ausstirbt und nicht an nachfolgende Generationen weitergegeben wird“.Churchills Einstellung gegenüber dem Faschismus änderte sich aber, als er erkannte, dass Hitlers Politik auf einen neuen Krieg hinauslief. Seine Warnungen und die scharfe Ablehnung der Appeasement-Politik, der Beschwichtigung und des Nachgebens gegenüber der Aggression des nationalsozialistischen Deutschland, brachten ihm in weiten Teilen der britischen Bevölkerung den Ruf eines Kriegstreibers ein. Hatte er bei seinem Aufenthalt in München noch vergeblich das Gespräch mit Hitler gesucht, so wies er nun Annäherungsversuche der deutschen Reichsregierung, darunter zwei Einladungen Hitlers nach Berchtesgaden, zurück. Langfristig verbesserte er mit dieser Haltung zwar sein Verhältnis zu einigen seiner innenpolitischen Gegner, den antifaschistischen linken Sozialisten und zur Labour Party, der großen Mehrheit der britischen Öffentlichkeit erschien Churchill in den 1930er Jahren jedoch als ein Mann, der seine Zukunft hinter sich hatte. In der konservativen Parlamentsfraktion beschränkte sich seine Anhängerschaft auf zwei damals noch sehr unbedeutende Abgeordnete: Harold Macmillan und Brendan Bracken. ==== Betätigung als Maler und Schriftsteller ==== Er zog sich auf seinen Landsitz Chartwell in Kent zurück, wo er sich seinem Hobby, der Malerei, vor allem aber seiner journalistischen und schriftstellerischen Arbeit widmete. Ende 1933 veröffentlichte er seine Marlborough-Biographie, und 1937 nahm er seine vierbändige Geschichte der englischsprachigen Völker in Angriff, die er jedoch erst 20 Jahre später, nach seinem endgültigen Ausscheiden als Premierminister, abschließen konnte. Seine publizistische Tätigkeit war so umfangreich, dass er eigene Rechercheure beschäftigte sowie Schreibkräfte, denen er seine Arbeiten bis spät in der Nacht diktierte. Seinem Biographen William Raymond Manchester zufolge war Churchill in den 1930er Jahren der bestbezahlte Schriftsteller und Kolumnist der Welt.Die Malerei hatte Churchill bereits 1915, kurz nach seinem damaligen Ausscheiden aus der Regierung, dank seiner Schwägerin Gwendeline für sich entdeckt. Später schulte er seine Technik mit Unterstützung von John Lavery und John Nicholson und behielt die Freizeitbeschäftigung fast bis an sein Lebensende bei. Seine Bilder, die meist in Chartwell entstanden, signierte er mit „WSC“ oder „W.S.C.“. Sie zeigen bevorzugt Landschafts- und Architekturmotive und befanden sich bis zum Tod von Churchills jüngster Tochter Mary Soames überwiegend in deren Besitz. Als bedeutendstes Werk dieser Sammlung gilt das Ölgemälde The Goldfish Pool at Chartwell (1932), das 1948 in der Sommerausstellung der Royal Academy of Arts gezeigt wurde. 2021 erzielte das Bild Tower of the Koutoubia Mosque (1943) bei Christie’s einen Versteigerungserlös von 9,5 Mill. Euro.Churchill ging in diesen Wilderness Years – den Jahren in der Wildnis, wie er die Zeit seines inneren Exils später bezeichnete – aber nicht nur seinen künstlerischen Ambitionen nach. Er pflegte weiterhin intensive politische und gesellschaftliche Kontakte, um den Anschluss an die Entwicklungen seiner Zeit zu behalten. Zu den Gästen seiner berühmten Abendgesellschaften in Chartwell zählten u. a. Heinrich Brüning, Frederick Lindemann und Charlie Chaplin. === Rückkehr in die Regierung === Die Warnungen vor Hitler wurden so lange nicht ernst genommen, bis dessen eigene Politik dem britischen Volk und der politischen Klasse in Großbritannien klarmachte, wie berechtigt Churchills Misstrauen gewesen war. Im März 1938 erzwang das nationalsozialistische Deutschland zunächst den „Anschluss“ Österreichs. Im September löste es die Sudetenkrise aus, die zum Münchner Abkommen und zur erzwungenen Abtretung des Sudetenlandes von der Tschecho-Slowakischen Republik führte. Kein halbes Jahr später brach Hitler dieses Abkommen wieder: Im März 1939 kam es zu der von der NS-Propaganda euphemistisch so bezeichneten „Zerschlagung der Rest-Tschechei“ und zur Errichtung des Protektorats Böhmen und Mähren. Und schließlich, am 21. März, nur sechs Tage nach der Besetzung Prags durch die Wehrmacht, erpresste Hitler unter Kriegsandrohung die Abtretung des Memellands von Litauen. Damit war die Appeasement-Politik für jedermann sichtbar gescheitert. Am 31. März 1939 sahen sich Großbritannien und Frankreich daher veranlasst, eine Garantieerklärung zugunsten der Polnischen Republik abzugeben. Churchill, der diese Entwicklung vorausgesagt hatte, fand nun zunehmend Gehör. Zwei Tage nach dem deutschen Überfall auf Polen, mit dem am 1. September 1939 der Zweite Weltkrieg begann, berief Premierminister Neville Chamberlain ihn in sein Kriegskabinett. Am 3. September übernahm Churchill, wie bereits 1911, das Amt des Ersten Lords der Admiralität, d. h. des Marineministers. Die Kriegserklärung an das Deutsche Reich folgte am selben Tag, doch die Großmächte vermieden noch ein halbes Jahr lang die direkte Konfrontation im großen Maßstab, so dass Hitler und Stalin, wie im geheimen Zusatzprotokoll des Deutsch-sowjetischen Nichtangriffspaktes vom 24. August 1939 beschlossen, das polnische Staatsgebiet ungehindert unter sich aufteilen konnten. Die darauffolgenden Monate bis zum Frühjahr 1940 gingen als „Sitzkrieg“ (französisch Drôle de guerre – „komischer, seltsamer Krieg“; englisch Phoney War) in die Geschichte ein. Churchill wusste, welche kriegsentscheidende Bedeutung die Lieferungen von Eisenerz aus dem Bergwerk Kiruna in Schweden über den eisfreien norwegischen Hafen Narvik für das Deutsche Reich hatten. Er drängte daher ab Dezember 1939 darauf, auf der Schifffahrtsroute entlang der Küste des neutralen Norwegen Seeminen zu verlegen. Diese Operation Wilfred hätte deutsche Erzfrachter zum Ausweichen in internationale Gewässer gezwungen, wo sie dann von der Royal Navy hätten versenkt werden können. Ein weiterer Plan sah vor, im Rahmen der Operation Royal Marine im Rhein an der französisch-deutschen Grenze Treibminen zu verlegen. Beide Pläne wurden jedoch bis April 1940 von der französischen Regierung blockiert, um keinen deutschen Angriff zu provozieren. Zudem wären mit Operation Wilfred britisch-französische Waffenlieferungen an Finnland im Winterkrieg gegen die Sowjetunion behindert worden. Erst im Mai 1940 wurden in Rhein, Mosel und Maas mehrere tausend Treibminen verlegt, die den Schiffsverkehr zwischen Karlsruhe und Mainz behinderten.Als Alternative zu diesen Vorhaben favorisierte Churchill den Plan R 4, die Besetzung der norwegischen Häfen durch britische Truppen. Diesem Plan kamen die Deutschen jedoch um wenige Stunden zuvor. Unter höchster Geheimhaltung hatten sie das Unternehmen Weserübung vorbereitet, das am 7. April 1940 begann und am 9. April zur Besetzung erster Ziele in Dänemark und Norwegen führte. Die Royal Navy konnte Narvik daher nicht mehr kampflos erreichen. In der anschließenden Schlacht um Narvik hätte das unerfahrene britisch-französische Expeditionskorps, das ab dem 24. April durch norwegische Truppen verstärkt worden war, die deutschen Gebirgsjäger beinahe besiegt. Letztlich scheiterte das Unternehmen der Alliierten am fehlenden Nachschub, und nach Beginn des deutschen Westfeldzuges am 10. Mai 1940 zogen sich die letzten britisch-französischen Einheiten aus Norwegen zurück. === Der Kriegspremier === Briten und Franzosen hatten die deutsche Besetzung Polens und Dänemarks sowie den Angriff auf Norwegen nicht verhindern können. Mit dem Scheitern des Plans R 4 verlor Premier Chamberlain den politischen Rückhalt in Bevölkerung und Parlament. Nach der Norwegendebatte sah sich der frühere Verfechter der Appeasement-Politik zum Rücktritt gezwungen.Obwohl Churchill von Teilen der Presse für den Fehlschlag in Norwegen verantwortlich gemacht wurde, kamen als Nachfolger Chamberlains nur er oder Lord Halifax in Frage. Letzterer genoss bei den Konservativen weitaus mehr Unterstützung als Churchill, war als Appeasementpolitiker jedoch bei der Opposition weitgehend diskreditiert. Die Labour Party machte ihren Eintritt in eine Allparteienregierung davon abhängig, dass Churchill deren Führung übernehmen würde. Am 9. Mai erklärte Chamberlain seinen Rücktritt. Am 10. Mai trat Winston Churchill an die Spitze einer Regierung der Nationalen Koalition. Seine Kriegsregierung vereinte Konservative, Labour-Mitglieder und Liberale. Er selbst übernahm neben dem Amt des Premiers auch das des Ministers für Verteidigung. Chamberlain wurde Lord President und arbeitet loyal mit Churchill zusammen, der ihn als seinen Stellvertreter betrachtete, obwohl eigentlich Labour-Chef Clement Attlee diese Funktion innehatte. Noch am Tag der Regierungsbildung begann der deutsche Westfeldzug mit dem Angriff auf Luxemburg, Belgien und die Niederlande. Ab dem 24. Mai wurden die alliierten Truppen von Norwegen nach Frankreich zurückverlegt. Am 8. Juni fiel Narvik in deutsche Hand, und mit dem Angriff der Wehrmacht auf die französische Front südlich der Somme begann die entscheidende zweite Phase der Westoffensive. ==== Frühjahr und Sommer 1940 ==== Aufgrund des unerwartet schnellen Vormarschs der Wehrmacht im Westfeldzug wurde Churchill schon in den ersten Tagen seiner Amtszeit mit dem völligen Scheitern der alliierten Kriegsstrategie konfrontiert. Am 21. Mai erreichten deutsche Panzerverbände die Kanalküste bei Abbeville, so dass das britische Expeditionskorps bei Dunkerque eingeschlossen wurde. Als sich bereits in den ersten Juni-Wochen die militärische Niederlage Frankreichs abzeichnete, versuchte Churchill, eine Kapitulation des Verbündeten unter allen Umständen zu verhindern. Aus diesem Grund schlug er der französischen Regierung eine französisch-britische Union vor, die Vereinigung beider Länder. Dem gemeinsamen Oberkommando hätten damit die französische Flotte und die außerhalb Europas stationierten französischen Truppen weiterhin zur Verfügung gestanden. In Frankreich setzten sich jedoch die Befürworter einer Kapitulation durch, die unter Marschall Philippe Pétain eine neue Regierung bildeten. Diese unterzeichnete am 22. Juni in Compiègne einen Waffenstillstand mit Deutschland. Frankreich schied aus dem Krieg aus. Die meisten Historiker stimmen darin überein, dass Hitler einem Sieg nie so nahegekommen ist wie im Frühjahr und Sommer 1940: Die Sowjetunion unterstützte Deutschland, Frankreich war geschlagen, und Großbritannien stand allein und ohne ausreichend gerüstete Armee der deutschen Kriegsmaschinerie gegenüber, die bereits halb Europa überrannt hatte. Wie John Colville vermerkte, gab Außenminister Lord Halifax Ende Mai 1940 den Krieg verloren und sah den Moment gekommen, Mussolini um die Vermittlung von Friedensgesprächen mit Hitler zu bitten. Darüber kam es zu heftigen Diskussionen im War Council, der aus Churchill, Chamberlain und Halifax sowie den Labour-Politikern Clement Attlee und Arthur Greenwood bestand und zu dem der Premier auch Archibald Sinclair von den Liberalen einlud. In diesen Auseinandersetzungen, die in der letzten Maiwoche 1940 kulminierten, sieht der Historiker John Lukacs die entscheidende Wende im Krieg gegen Hitler. Churchills Kriegsstrategie habe dessen Sieg verhindert und damit den der Alliierten später erst möglich gemacht. Halifax sah keinen Nachteil in unverbindlichen Sondierungen, um einen möglichen Friedensvertrag mit Deutschland auszuhandeln. Churchill und Greenwood dagegen lehnten Verhandlungen strikt ab, da diese sich verheerend auf die Moral der Bevölkerung auswirken müssten. Zu einem Frieden, der die Rückgabe ehemaliger deutscher Kolonien und eine gewisse Vorherrschaft Deutschland in Zentraleuropa beinhaltet hätte, erklärte Churchill sich zwar bereit. Er bezweifelte jedoch, dass Hitler sich damit zufriedengeben würde. Vielmehr werde dieser auch die Übergabe der Royal Navy und diverser Flottenstützpunkte verlangen, dies als Abrüstung bezeichnen und eine Marionettenregierung unter einem Faschisten wie Oswald Mosley installieren wollen. Ein kompromittiertes Großbritannien werde zu einem Sklavenstaat herabsinken.Hitlers Sieg hätte nach Churchills eigenen Worten bedeutet, dass „die ganze Welt, einschließlich der Vereinigten Staaten, einschließlich all dessen, was wir gekannt und geliebt haben, im Abgrund eines neuen dunklen Zeitalters versinken“ müsste. Daher kam er zum Schluss, dass Großbritannien keinerlei Zugeständnisse an Deutschland machen und den Krieg notfalls von Übersee aus weitergeführen sollte. Im War Council wurde er von den Labour-Vertretern Attlee und Greenwood ebenso unterstützt wie vom liberalen Sinclair. Auch Chamberlain neigte nach den internen Diskussionen zu Churchills Position, so dass Halifax isoliert war.Schon am 13. Mai, in seiner ersten Rede als Premierminister, hatte Churchill seinen Landsleuten „nichts als Blut, Mühsal, Tränen und Schweiß“ angekündigt und festgestellt, dass der „Krieg gegen eine monströse Tyrannei, wie sie nie übertroffen worden ist im finsteren Katalog der Verbrechen der Menschheit“, nur mit einem „Sieg um jeden Preis“ beendet werden dürfe. Selbst nach der Niederlage Frankreichs, als viele den Krieg für England verloren gaben, beharrte Churchill auf Zielen, die praktisch damals schon auf die bedingungslose Kapitulation Deutschlands hinausliefen. Am 18. Juni sagte er vor dem Unterhaus: Mit einer weiteren Rede (We Shall Fight on the Beaches) stimmte er am 4. Juni das Parlament und wenig später in einer Rundfunkansprache das britische Volk auf den Widerstand gegen Hitler-Deutschland ein. Er machte – auch an dessen Adresse gerichtet – unmissverständlich klar: Infolge dieser kompromisslosen Haltung ignorierte Churchill auch das „Friedensangebot“ Hitlers an Großbritannien in der Reichstagsrede vom 19. Juli 1940. Hatte sich die deutsche Führung bis dahin noch der Hoffnung hingegeben, angesichts der Kriegslage könnten kompromissbereitere britische Politiker Churchill ablösen, so wurde diese am 22. Juli zunichtegemacht. Churchill veranlasste ausgerechnet den als früheren Verfechter des Appeasement bekannten Lord Halifax zu einer Antwort auf Hitlers Rede: „Deutschland wird den Frieden erhalten, wenn es die von ihm besetzten Gebiete geräumt, alle von ihm unterdrückten Freiheiten wiederhergestellt und Garantien für die Zukunft gegeben hat.“ ==== Invasionsgefahr und Luftkrieg ==== Churchill bestand erfolgreich seine ersten großen Herausforderungen im Amt: Seiner Regierung gelang es, das geschlagene britische Expeditionskorps zum größten Teil aus Dünkirchen abzuziehen und eine deutsche Invasion zu verhindern. Die Grundlage dafür hatte der Premier unmittelbar nach seinem Regierungseintritt gelegt, indem er der Flugzeugproduktion oberste Priorität eingeräumt und Lord Beaverbrook die Verantwortung dafür übertragen hatte. Als die Luftschlacht um England im August 1940 ihren Höhepunkt erreichte, war es maßgeblich dessen Leistungen und denen des Luftmarschalls Hugh Dowding zu verdanken, dass die Royal Air Force (RAF) der deutschen Luftwaffe ein militärisches Patt abtrotzen konnte. Hitler gelang es zum ersten Mal nicht, einem Land seinen Willen aufzuzwingen. Churchills Entschluss weiterzukämpfen, der endgültig in den Tagen von Dünkirchen gefallen war, zwang Hitler schließlich dazu, den von Anfang an geplanten Krieg gegen die Sowjetunion zu wagen, ohne den Krieg im Westen beendet zu haben. Historiker wie Ian Kershaw sehen darin den Anfang vom Ende der Kriegsstrategie Hitlers.Der Abwehr einer deutschen Invasion diente auch Churchills Befehl, das Gros der französischen Mittelmeerflotte zu versenken. Denn nach dem Waffenstillstand verfolgte die Regierung von Marschall Pétain in Vichy eine Politik der Kollaboration mit Deutschland: Damit drohte die Marine des bisherigen Verbündeten in Hitlers Hände zu fallen. In einer Präventivaktion, der Operation Catapult, zerstörte die Royal Navy daher am 3. Juli 1940 mehrere französische Schlachtschiffe und Zerstörer, die vor dem algerischen Hafen Mers-el-Kébir ankerten. Dabei starben 1267 französische Marinesoldaten. Das Vichy-Regime brach daraufhin die diplomatischen Beziehungen zu Großbritannien ab. Ein weiterer Grund dafür dürfte gewesen sein, dass Churchill dem Brigadegeneral und Staatssekretär im französischen Kriegsministerium Charles de Gaulle am 18. Juni 1940 ermöglicht hatte, über BBC seinen berühmt gewordenen Appell an seine Landsleute zu senden, in dem er sie zur Fortsetzung des Kampfes aufforderte. Am 8. August unterzeichneten Churchill und de Gaulle die Übereinkunft von Chequers, in der sich Großbritannien verpflichtete, die Integrität aller französischen Besitzungen sowie die „integrale Restauration und Unabhängigkeit und die Größe Frankreichs“ zu respektieren. Trotz starker persönlicher Vorbehalte gegen de Gaulle erkannte Churchill ihn als legitimen Repräsentanten des Freien Frankreich an. Der deutsche Invasionsplan („Unternehmen Seelöwe“) wurde im Herbst 1940 immer wieder verschoben, bis er im Frühjahr 1941 schließlich aufgegeben wurde. In dieser Zeit flogen deutsche Bomber ständig Luftangriffe auf London und viele andere Städte in England, die – wie beispielsweise Coventry – schwere Zerstörungen erlitten. Vom 25. August 1940 an ging auf Befehl Churchills auch die Royal Air Force dazu über, gezielt Wohngebiete deutscher Städte zu bombardieren, nachdem bereits zuvor Luftangriffe gegen Industrieanlagen im Ruhrgebiet geflogen worden waren. Die britische Bevölkerung sah in den Aktionen der Royal Air Force damals eine legitime Antwort auf die deutsche Kriegführung, die mit den Bombardierungen Guernicas, Warschaus, Rotterdams und der südenglischen Städte erstmals in der Geschichte schwere Luftangriffe auf zivile Ziele unternommen hatte. Am 14. Februar 1942 erließ das Luftfahrtministerium die Area Bombing Directive. Sie ermächtigte Arthur Harris, den kurz zuvor ernannten neuen Oberbefehlshaber des britischen Bomber Command, zu Flächenbombardements, die die Kampfmoral des Feindes brechen sollten. Spätestens Mitte 1944, als Briten und Amerikaner die uneingeschränkte Luftherrschaft über dem Reichsgebiet errungen hatten, erreichten diese Flächenbombardierungen eine Eigendynamik, die auch Churchill nicht mehr stoppen konnte oder wollte. Während dieser Zeit wurden zahlreiche deutsche Städte in Schutt und Asche gelegt. Erst die hohe Opferzahl der Luftangriffe auf Dresden veranlasste Churchill, die Bombardements deutscher Städte zu hinterfragen, ohne allerdings die bisher eingeschlagene Linie zu verlassen. Ganz am Ende des Kriegs distanzierte er sich von Luftmarschall Harris, der zu den Verfechtern des morale bombing gehört und dieses stets als Auftrag seiner Regierung verstanden hatte. ==== Die Großen Drei ==== Solange Großbritannien im Kampf gegen das nationalsozialistische Deutschland allein stand, konnte Churchill nur dafür sorgen, dass Großbritannien den Krieg nicht verlor. Ein Sieg jedoch, das war ihm bewusst, war nur im Bündnis mit den USA möglich. Er setzte daher auf ein gutes Verhältnis zu Franklin D. Roosevelt. Der US-Präsident aber konnte es vor seiner Wiederwahl im November 1940 nicht wagen, sein Land direkt in den Krieg zu verwickeln. Dennoch erreichte Churchill, dass Großbritannien über den Nordatlantik mit lebens- und kriegswichtigen Gütern aus den USA versorgt wurde. Das Leih- und Pachtgesetz, das Roosevelt am 11. März 1941 durch den Kongress brachte, ging auf eine direkte Initiative Churchills vom Mai 1940 zurück. Es erlaubte der US-Regierung unter anderem, Kriegsschiffe an Großbritannien auszuleihen. Am 14. August 1941 trafen sich Roosevelt und Churchill vor Neufundland auf dem Schlachtschiff HMS Prince of Wales. Dort unterzeichneten sie die Atlantik-Charta, die mit ihren „Acht Freiheiten“ zur Grundlage der Nachkriegsordnung und der Vereinten Nationen werden sollte. Bis dahin hatte sich Großbritanniens Lage bereits entscheidend verbessert. Schon Hitlers Ausgreifen auf den Balkan und Nordafrika hatte die Zahl deutscher Luftangriffe auf Ziele in Großbritannien verringert. Nach dem Überfall der Wehrmacht auf die Sowjetunion am 22. Juni 1941 stand das Vereinigte Königreich nicht mehr allein im Krieg. Obwohl er Josef Stalin wegen dessen Pakt mit Hitler misstraute, bot Churchill ihm nun sofort Unterstützung an. So kam es trotz der prekären Lage, in der sich Großbritannien befand, ab Oktober 1941 zur Lieferung von britischen und US-amerikanischen Hilfsgütern an die Sowjetunion. Am 7. Dezember 1941 erfolgte Japans Angriff auf die US-Pazifikflotte in Pearl Harbor, und am 11. Dezember erklärte auch Hitler den USA den Krieg. Damit hatte Churchill endlich den gewünschten Verbündeten an seiner Seite. Unter den „Großen Drei“ – Roosevelt, Stalin und Churchill – sollte ihm am Ende zwar nur noch die Rolle des Juniorpartners der Amerikaner bleiben. Dennoch übte er weiter großen Einfluss auf die Kriegführung aus, nun schon mit Blick auf die Zeit nach Hitlers Niederlage. Denn klarer als Roosevelt erkannte er die Gefahr, dass dem von den Nazis beherrschten ein sowjetisch dominiertes Europa folgen könnte. Ausdruck dieser Befürchtung war Churchills Mittelmeerplan. Wie schon in der Schlacht von Gallipoli im Ersten Weltkrieg wollte er die Kriegsgegner an ihrer schwächsten Stelle im Süden – diesmal in Italien – angreifen, dann die Alpen östlich umgehen, nach Österreich und ins Zentrum Deutschlands vorstoßen und zugleich die deutschen Truppen auf dem Balkan abschneiden. Damit wollte er die Chance wahren, den Krieg noch vor dem Vorstoß der Roten Armee bis weit nach Mitteleuropa hinein zu entscheiden. Ein erster Schritt zu diesem Plan war die Operation Torch, die Landung der Briten und Amerikaner in Nordafrika am 8. November 1942. Auf der Casablanca-Konferenz vom 14. bis 26. Januar 1943 legten Churchill und Roosevelt die gemeinsame Kriegsstrategie fest. Sie einigten sich dabei auf den Grundsatz Germany first, wonach die Niederwerfung Hitler-Deutschlands Vorrang vor dem Krieg gegen Japan haben sollte. Roosevelt setzte gegen Bedenken Churchills, der dies psychologisch nicht für klug hielt, die Forderung nach der bedingungslosen Kapitulation Deutschlands durch. ==== Sieg über Hitler-Deutschland ==== Am 10. Juli 1943 begann mit der Landung britischer und amerikanischer Truppen auf Sizilien der Italienfeldzug. Am 25. Juli erfolgte der Sturz Mussolinis. Doch die alliierte Invasion in Italien über die Apenninhalbinsel kam sehr viel langsamer voran, als Churchill es erhofft hatte. Auf der Teheran-Konferenz vom 28. November bis 1. Dezember 1943 trafen er und Roosevelt erstmals mit Stalin zusammen: Dieser drängte nun auf die Eröffnung einer zweiten Front in Frankreich. Dabei wurde auch die Westverschiebung Polens beschlossen: Nach dem Kriegsende sollte die Sowjetunion die schon im Hitler-Stalin-Pakt gewonnenen ostpolnischen Gebiete behalten, dafür sollte Polen mit ostdeutschen Gebieten entschädigt werden. Auf der Potsdamer Konferenz einigte man sich 1945 auf die Oder-Neiße-Linie als neue polnische Westgrenze. Auf dem Weg zur Teheran-Konferenz hatte Churchill in Ägypten Station gemacht. Auf der Kairo-Konferenz besprach er am 1. November 1943 mit Roosevelt und Chiang Kai-shek, dem Staatschef Chinas, das weitere militärische Vorgehen gegen Japan in Ostasien. Auf der zweiten Kairoer Konferenz am 26. Dezember setzte Churchill bei Roosevelt durch, dass die Verbündeten am Prinzip „Deutschland zuerst“ festhielten. Danach sollten die Kriegsanstrengungen im Pazifik erst nach dem Kriegsende in Europa forciert werden. Am D-Day, dem 6. Juni 1944, begann mit der Operation Neptune schließlich die von Stalin lange geforderte alliierte Landung in der Normandie unter dem Codenamen „Operation Overlord“. In Frankreich kamen die Alliierten rasch voran und befreiten bereits im August Paris. Im Oktober erreichten ihre Truppen die Reichsgrenze bei Aachen. Um die weitere Zusammenarbeit der Alliierten in Europa und im Pazifik zu besprechen, traf sich Churchill vom 11. bis 16. September 1944 mit Roosevelt im kanadischen Québec. Mit seinem Außenminister Anthony Eden besuchte er vom 9. bis 19. Oktober 1944 Moskau. Trotz der Erfolge der britischen und amerikanischen Truppen fürchtete er weiterhin, dass die Rote Armee schneller und weiter nach Mitteleuropa vorstoßen könnte als die Westalliierten. Daher verabredete er mit Stalin eine Aufteilung Mittel-, Ost- und Südosteuropas in Interessensphären. Rumänien, Bulgarien und Ungarn wurden dem sowjetischen Einflussbereich zugeordnet, Griechenland dem britischen. In Jugoslawien wollten beide Mächte ihren Einfluss teilen. Die Ardennenoffensive der deutschen Wehrmacht (16. Dezember 1944 bis Januar 1945) verstärkte seine Bedenken noch, so dass er auf der Konferenz von Jalta vom 4. bis 11. Februar 1945 zu weiteren Zugeständnissen an Stalin bereit war. Dort wurde nicht nur Deutschlands Aufteilung in vier Besatzungszonen beschlossen, sondern auch Europas Teilung in eine westliche und eine sowjetische Einflusssphäre, wie sie bis 1989 Bestand hatte. Churchill musste sich dabei nicht nur mit Stalin, sondern auch mit Roosevelt auseinandersetzen: Dieser war den Sowjets gegenüber sehr viel weniger misstrauisch und glaubte, sie nach dem Krieg in eine wirkliche Friedensordnung einbinden zu können. Der Krieg ging nun rasch dem Ende zu. Im März, als die britischen Truppen am Rhein standen, stattete Churchill seinem Oberbefehlshaber, Feldmarschall Bernard Montgomery, einen Besuch ab und setzte mit ihm bei Wesel über den Strom. Am 8. Mai 1945 konnte er vor dem britischen Unterhaus die bedingungslose Kapitulation der Wehrmacht und damit den Sieg in Europa (VE-Day) bekannt geben. Nachdem Roosevelt am 12. April 1945 gestorben war, traf sich Churchill mit dessen Nachfolger Harry S. Truman und mit Stalin am 17. Juli auf der Potsdamer Konferenz, um über das weitere Vorgehen in Deutschland und gegen das noch kämpfende Japan zu beraten. === Erneut in der Opposition === Mitten in der Potsdamer Konferenz wurde Churchill als Premier von seinem bisherigen Stellvertreter Clement Attlee abgelöst. Die Unterhauswahl vom Juli 1945 hatte dessen Labour Party gewonnen, weil sie den Briten bessere Schulen, bessere Wohnungen und ein staatliches Gesundheitswesen versprach. Churchills Wahlkampfprogramm – die Fortsetzung des Krieges gegen Japan und die Warnung vor einer Finanz-„Gestapo“ – schien den Wählern dagegen wenig zukunftsorientiert zu sein. Während der folgenden sechs Jahre war er Oppositionsführer im Unterhaus. Er nutzte diese Zeit auch, um als weltweit geachteter Staatsmann auf aktuelle Chancen und Gefahren aufmerksam zu machen. Als einer der ersten hatte er schon im Krieg die Folgen der Gewaltpolitik Stalins erkannt. Bereits im Mai 1945 hatte er aus Furcht vor einem weiteren Vormarsch der Roten Armee nach Westeuropa den britischen Generalstab mit der Ausarbeitung von Operation Unthinkable beauftragt, einem Geheimplan für einen Angriff auf die Sowjetunion. Aufgrund militärischer und politischer Erwägungen wurde der Plan jedoch fallengelassen. Nun, nach dem Krieg, unterstützte Churchill Präsident Trumans Eindämmungspolitik gegenüber der Sowjetunion und prägte den Begriff „Eiserner Vorhang“ (s. u.) für die Grenze zwischen Ost- und Westeuropa. Er bestärkte die USA auch darin, ihr anfängliches Monopol und ihre bis 1953 bestehende, erdrückende Überlegenheit in puncto Kernwaffen für offensive, gegen die Sowjetunion gerichtete politische Ziele zu nutzen. Andererseits waren seine berühmten Reden vor der akademischen Jugend in Zürich 1946 und dem Europarat in Straßburg 1949 zukunftsweisend: Darin schlug er die Schaffung der „Vereinigten Staaten von Europa“ vor, deren „erster Schritt eine Partnerschaft zwischen Frankreich und Deutschland“ sein müsse. „Es kann kein Wiederaufleben Europas geben ohne ein geistig großes Frankreich und ein geistig großes Deutschland“, sagte er und sprach weiter von der Notwendigkeit, der europäischen Völkerfamilie „[…] eine Struktur zu geben, unter der sie in Frieden, Sicherheit und Freiheit leben kann. Wir müssen eine Art Vereinigte Staaten von Europa schaffen. Nur so können Hunderte Millionen von Werktätigen wieder einfache Freuden und Hoffnungen erlangen, die das Leben lebenswert machen.“ Begeistert von den Ideen des französischen Außenministers Aristide Briand, hatte er sich erstmals schon 1930 in der Saturday Evening Post zu dieser Konzeption geäußert. Jetzt sah er darin einen pragmatischen Weg, den Hass zwischen den europäischen Völkern abzubauen und den Kontinent zu befrieden. Damit verband er das Kalkül, das infolge zweier Weltkriege verringerte politische Gewicht der europäischen Staaten gegenüber den USA und der Sowjetunion zu stärken. Großbritannien sollte nach seiner Vorstellung jedoch nicht in die neu zu schaffenden europäischen Strukturen eingebunden sein: „Wir haben unsere eigenen Träume. Wir sind bei Europa, aber nicht von ihm. Wir sind verbunden, aber nicht eingeschlossen.“ Offenbar hoffte er, Großbritannien, das damals noch über ein ausgedehntes Kolonialreich verfügte, könne durch einen unabhängigen Kurs mit seinem atlantischen Partner USA auf Augenhöhe bleiben. Grundkonstante seiner Pläne blieb die Idee einer föderalen Union von Nationalstaaten, die in Freiheit und Wohlstand zusammenleben sollten. === Zweite Amtszeit === Mit Churchill als Spitzenkandidat errangen die Konservativen im Oktober 1951 einen knappen Wahlsieg, weil er diesmal die Wahlkampfthemen der Labour Party übernommen und den Briten eine Fortführung des staatlichen Wohnungsbauprogramms versprochen hatte. Innenpolitisch verlief seine zweite Amtszeit in 10 Downing Street weitgehend unspektakulär. In der Außen- und Kolonialpolitik dagegen musste er mit mehreren von der Vorgängerregierung geerbten Konfliktherden zurechtkommen. Er tat dies als weiterhin überzeugter Verfechter des Britischen Empire und des Kolonialismus. In der Abadan-Krise beispielsweise forderte und unterstützte Churchill die Maßnahmen des amerikanischen Geheimdienstes CIA, die schließlich zum Sturz des demokratisch gewählten iranischen Premierministers Mohammad Mossadegh führten. Die Krise war entstanden, als das iranische Parlament auf Betreiben Mossadeghs Anfang 1951 die Verstaatlichung der Erdölindustrie des Landes beschloss, die unter britischer Kontrolle stand. In Malaya war bereits 1948 eine Rebellion gegen die britische Herrschaft ausgebrochen. Auch in der Kolonie Kenia schwelten Unruhen, die 1952 im Mau-Mau-Krieg mündeten. In beiden Fällen trat Churchill dafür ein, die Aufstände militärisch niederzuschlagen. Anschließend versuchte er aber, für alle Seiten politisch tragbare Lösungen zu finden. Die von ihm initiierten Friedensgespräche mit den Aufständischen in Kenia scheiterten allerdings kurz nach seinem Ausscheiden aus dem Amt. Für die malaiischen Sultanate in Malaya, dem heutigen Malaysia, und für Singapur ließ er 1953 Pläne für die Unabhängigkeit ausarbeiten, die 1957 realisiert wurden. Nach Stalins Tod am 5. März 1953 wollte Churchill ein Treffen mit Stalins Nachfolgern realisieren und bot der Sowjetunion überraschend die Auflösung der Blöcke und die Schaffung eines gesamteuropäischen Sicherheitssystems an. Hierüber kam es zu Differenzen mit Außenminister Anthony Eden, der andere Vorstellungen hatte; Churchills Alleingänge lehnte er unter Verweis der gemeinsamen Kabinettsdisziplin ab. Auch möglichen weiteren Gipfelkonferenzen der ehemaligen Alliierten stand er kritisch gegenüber. Drei Monate nach Stalin erlitt Churchill selbst zum wiederholten Mal einen Schlaganfall, der ihn für längere Zeit arbeitsunfähig machte. Er erholte sich zwar, seine Amtsführung war jedoch dauerhaft beeinträchtigt. Im Juli 1954, als beide auf der Queen Elizabeth von einem Besuch in Washington, D.C. zurückkehrten, hatte Churchill mit Eden eine erneute heftige Konfrontation: Eden lehnte weiterhin Churchills Idee einer Reise nach Moskau rundweg ab, wo Churchill Gespräche mit Georgi Malenkow führen wollte. Wiederum stand auch die Frage der Nachfolge im Raum. Eden, Churchills designierter Nachfolger, hatte bereits im Frühling 1946 zum ersten Mal versucht, Churchill einen Rücktritt nahezulegen.Seine Parteifreunde drängten Churchill 1955 zum vorzeitigen Amtsverzicht. Churchill trat am 5. April dieses Jahres zurück. Die Tory-Mehrheit im Unterhaus wählte Anthony Eden zum neuen Premierminister. === Ehrungen und letzte Jahre === Königin Elisabeth II. schlug Winston Churchill 1953 zum Ritter des Hosenbandordens. Im gleichen Jahr wurde ihm der Nobelpreis für Literatur zugesprochen – nicht nur für seine große Marlborough-Biographie und seine Kriegserinnerungen, „Der Zweite Weltkrieg“, sondern generell für seine „… meisterhafte Kunst historischer und biographischer Darstellung sowie für seine brillante Rhetorik im Zusammenhang mit der Verteidigung nobler menschlicher Werte“. Da er nach dem Schlaganfall noch bettlägerig war, nahm seine Frau Clementine den Preis stellvertretend für ihn entgegen. Eine weitere, besondere Ehrung hatte die Königin Churchill nach seinem Amtsverzicht zugedacht. Sie bot ihm 1955 den neu zu schaffenden Titel eines Duke of London und damit die erbliche Peerswürde an. Dies schlug Churchill jedoch aus, um weiterhin Mitglied des Unterhauses bleiben zu können, aber auch um seinem Sohn Randolph eine politische Karriere dort zu ermöglichen. Denn nach damaliger Gesetzeslage hätte Randolph Churchill nach dem Tod seines Vaters den Herzogstitel geerbt und dann seinerseits ins Oberhaus wechseln müssen. Die zuvor akzeptierte Aufnahme in den Hosenbandorden war dagegen nur mit dem persönlichen Adelsstand verbunden, der einer weiteren Mitgliedschaft im House of Commons nicht im Wege stand. So ließ sich Sir Winston, wie er sich seit 1953 nennen durfte, 1955 und 1959 zwei weitere Male ins Unterhaus wählen, dem er am Ende mehr als 60 Jahre angehört hatte. Er trat jedoch nicht mehr als Redner in Erscheinung. Nach dem Rücktritt lebte Churchill zurückgezogen noch weitere zehn Jahre. Im Juli 1959 machte er mit dem Reeder Aristoteles Onassis und Maria Callas eine Mittelmeerkreuzfahrt auf dessen Jacht Christina. Er starb in seinem 91. Lebensjahr am 24. Januar 1965 – auf den Tag genau 70 Jahre nach dem Tod seines Vaters. Er wurde drei Tage lang in der Westminster Hall aufgebahrt und anschließend mit einem Staatsakt in der St Paul’s Cathedral geehrt. An der Trauerfeier nahmen 112 Staatsoberhäupter teil. Beigesetzt wurde Churchill in der Grabstätte seiner Familie auf dem Saint Martin’s Churchyard in Bladon, Oxfordshire, in der Nähe seines Geburtsorts Woodstock. Der 50. Jahrestag der Bestattung wurde 2015 als offizieller Gedenktag mit Gottesdiensten begangen. == Persönlichkeit == Churchill bewunderte Männer wie Napoleon und seinen eigenen Ahnherren Marlborough und war nach Meinung mehrerer Biographen von Jugend an überzeugt, ebenfalls zu Großem berufen zu sein. Laut Andrew Roberts verlieh ihm die aristokratische Herkunft ein enormes Selbstbewusstsein. So habe er mit 16 gegenüber einem Freund geäußert, er werde Großbritannien einmal vor einer feindlichen Invasion bewahren. Wie Roy Jenkins schreibt, sah er sich als ein vom Schicksal Auserwählter an. So sagte Churchill zu seiner späteren Vertrauten Violet Bonham Carter schon bei der ersten Begegnung im Jahr 1906: „Wir sind alle nur Würmer. Aber ich glaube, ein Glühwurm zu sein.“ Auch Sebastian Haffner befindet, Churchill sei schicksalsgläubig gewesen. Peter de Mendelssohn urteilte über Churchill und David Lloyd George: „Die Britische Politik hat die beiden fundamentalen Triebkräfte, die einen Mann unaufhaltsam auf die höchste Stelle in Staat und Gemeinschaft, auf Machtbefugnis, Autorität und Verantwortung drängen, nie deutlicher herausgestellt als in diesen beiden Männern. Lloyd George sah eine Aufgabe und erwartete von sich, daß er für die Bewältigung groß genug sein werde. Churchill sah sich selbst und erwartete von der Aufgabe, daß sie für ihn groß genug sein werde.“Für Robert Rhodes James war er unfähig zu Intrigen, sondern erfrischend unschuldig und aufrichtig. Der vielfach kolportierten Behauptung, Churchill sei Alkoholiker gewesen, widerspricht sein Biograph Roy Jenkins. Churchill konsumierte zeitlebens Tabak und Alkohol, war aber nie abhängig davon. Periodisch litt er jedoch an Depressionen, die im Alter zunahmen. == Churchill als Publizist == === Karriere als Schriftsteller === Bereits als junger Leutnant bei den 4th Queen’s Own Hussars besserte Churchill sein Gehalt dadurch auf, dass er Kriegsberichte in verschiedenen britischen Blättern veröffentlichte. Während seiner gesamten militärischen und politischen Laufbahn blieb die publizistische Tätigkeit seine wichtigste Einnahmequelle. Im Laufe seines Lebens veröffentlichte er mehr als 40 Bücher und Tausende von Zeitungsartikeln.Churchills erstes Buch, The Story of the Malakand Field Force, erschien 1898 und bestand aus einer Sammlung von Kriegsberichten. 1899 veröffentlichte er sein erstes als Monographie konzipiertes Werk, The River War, das die Niederschlagung des Mahdi-Aufstands zum Thema hat. Zur Entspannung schrieb Churchill seinen einzigen Roman: Savrola erschien im Jahr 1900 und schildert die blutige Revolution in einer fiktiven europäischen Militärdiktatur. 1906 folgte die zweibändige Biographie seines Vaters. Ab 1923 publizierte er The World Crisis, eine mehrbändige Geschichte des Ersten Weltkrieges.Nach seinem vorläufigen Karriereende 1929 intensivierte Churchill seine schriftstellerische Tätigkeit. Im Jahr 1930 erschien My Early Life, in dem er seine Jugend und frühen Jahre schilderte. Es ist sein persönlichstes Werk und wird vielfach als sein bestes angesehen. Von 1933 bis 1938 widmete er sich der Veröffentlichung einer großen, vierbändigen Biographie seines Ahnherren Marlborough. Dazwischen brachte er Great Contemporaries heraus, eine Essaysammlung mit Porträts bedeutender Zeitgenossen wie John Morley, H. H. Asquith, George Nathaniel Curzon, Arthur Balfour sowie des Earl of Rosebery. Nach dem Zweiten Weltkrieg brachte er seine sechsbändige Geschichte The Second World War heraus, für das er 1953 mit dem Nobelpreis geehrt wurde. Von 1956 bis 1958 folgte sein letztes Hauptwerk: A History of the English-Speaking Peoples, eine Geschichte der englischsprachigen Völker, mit der er bereits 1937 begonnen hatte, zeigte nach Sebastian Haffner jedoch seine Grenzen als Historiker auf. === Churchills Einfluss auf die Geschichtsschreibung === Churchill übte als Autor enormen Einfluss auf die Geschichtsschreibung und auf die gängige mehrheitliche Sicht aus, sowohl was den Ersten Weltkrieg als auch was die 1930er Jahre betraf. Mehrere Publikationen der 1920er Jahre machten der breiten Öffentlichkeit erstmals die Realität des Stellungskriegs von 1914 bis 1918 bewusst. David Lloyd George mit seinen Kriegserinnerungen und Churchill mit The World Crisis prägten damals maßgeblich die kritische Sichtweise der britischen Öffentlichkeit auf das Geschehen an der Westfront. Beide urteilten äußerst negativ über die Strategie immer neuer Massenschlachten an dieser Front. Sie setzten damit einen grundlegenden Disput aus den Kriegsjahren fort, als sich in der britische Kriegspolitik „Westerners“ und „Easterners“ gegenüberstanden. Erstere hatten auf einen entscheidenden Sieg gegen das deutsche Heer an der Westfront gesetzt. Die Letzteren, zu denen Lloyd George und Churchill gehörten, wollten zunächst die Verbündeten Deutschlands ausschalten und richteten deshalb ihr Hauptaugenmerk auf die anderen, vor allem östlichen Kriegsschauplätze. Beide prägten mit ihren Publikationen erfolgreich das gängige Geschichtsbild. Churchill versuchte damit auch, seine Initiative für die gescheiterte Dardanellenoffensive nachträglich zu rechtfertigen. Ähnliches gelang Churchill auch nach dem Zweiten Weltkrieg, als er die allgemeine Sichtweise auf die britische Politik der 1930er Jahre nachhaltig beeinflusste. Vor allem attackierte er Stanley Baldwin, dem er eine Mitschuld an der Krise dieser Jahre und am Ausbruch des Krieges gab. Im 1948 veröffentlichten ersten Band seiner Darstellung über den Zweiten Weltkrieg führte Churchill aus, dass Baldwin als Kopf „der katastrophalsten Administration der britischen Geschichte“ in den 1930ern konstant die eigene Partei über das Interesse des Landes gestellt habe. Mit einem selektiven Zitat des ehemaligen Premiers aus einer Unterhausdebatte im Jahr 1933 versuchte er zu beweisen, dass Baldwin anstatt die Bedrohung durch Nazi-Deutschland klar anzusprechen, sich Hitler entgegenzustellen und Großbritannien entschieden aufzurüsten, die Außenpolitik habe treiben lassen. Er habe nur das Abschneiden der Konservativen bei der jeweils nächsten Wahl im Blick gehabt. Churchill konzentrierte sich so sehr auf die Person Baldwins, dass er äußere Umstände weitgehend außer Betracht ließ, etwa Frankreichs schnellen Zusammenbruch 1940. Kernargument seiner Kritik war seine These, dass der Weltkrieg noch bis 1936 hätte verhindert werden können, wenn Baldwin damals zumindest die Parität der Luftstreitkräfte beibehalten hätte. Das Buch des zum Kriegshelden avancierten Churchill hatte eine enorme Wirkung. Baldwins Ruf, der 1937 noch der meistgeachtete Politiker des Landes gewesen war, wurde für viele Jahre nachhaltig geschädigt. == Churchill im Urteil von Zeitgenossen und Nachwelt == Hitler wollte in seinem Gegenspieler nur „diesen Schwätzer und Trunkenbold Churchill“ entdecken, der ihn daran gehindert habe, „große Werke des Friedens“ zu vollbringen. Ein 1993 in Oxford erschienenes Werk mit Beiträgen von 29 Historikern und Politikern würdigt Churchill dagegen als „vielleicht die größte Gestalt im 20. Jahrhundert“.Seine schillernde Persönlichkeit irritierte bereits seine Zeitgenossen und entzieht sich jeder eindimensionalen Beurteilung. Churchill verkörperte in seinem politischen Dasein den radikalen Sozialreformer, aber auch den reaktionären Imperialisten. Einerseits war er der viel beschworene Krieger, der mit seiner Härte und Skrupellosigkeit eher ins 18. Jahrhundert Marlboroughs zu passen schien, andererseits der Politiker, der half, die UN und die Europäische Union mitzubegründen, und mit seiner Idee der „Vereinigten Staaten von Europa“ den Weg ins 21. Jahrhundert wies. Keiner Partei, schon gar keiner Parteidoktrin verpflichtet, wechselte er die politischen Lager, wann immer es ihm nötig und opportun erschien. Er war daher als unzuverlässig verschrien und wurde wegen seiner Ideen sogar von Freunden gefürchtet. Lloyd George beschrieb Churchills Verstand als eine „mächtige Maschine, doch […] wenn der Mechanismus versagte oder falsch lief, waren die Folgen verheerend“.In der britischen Öffentlichkeit galt Churchill laut Sebastian Haffner noch bis zum Zweiten Weltkrieg als „brillant, aber unsolide“. Seine Zeitgenossen sahen es als unseriös und gefährlich an, dass Churchill eine Neigung dazu hatte, sich persönlich in riskante Situationen zu begeben, wie bei der Belagerung der Sidney Street 1911 oder bei der Antwerpen-Expedition 1914. Weit ausgreifende aber letztlich gescheiterte Vorhaben Churchills – wie der Dardanellen-Plan und die Intervention im nachrevolutionären Russland – schienen ihr Urteil zu bestätigen. Der Schriftsteller H. G. Wells sprach für viele, als er den frühen Churchill mit einem „schwer zu behandelnden kleinen Jungen“ verglich, „der es verdient, übers Knie gelegt zu werden“. Wells dürfte der britischen Mehrheitsmeinung aber auch Jahrzehnte später Ausdruck verliehen haben, als er kurz vor dem Zweiten Weltkrieg seine Ansichten zu Churchill revidierte: „Ich wage zu behaupten, dass wir zu Churchill halten werden, der so viele Fehler gemacht hat, dass er keine weiteren mehr machen kann, und der immerhin ziemlich gerissen ist.“ Ganz ähnlich wandelte sich das Churchill-Bild im Werk des Karikaturisten David Low: Verspottete er Churchill bis in die 1930er Jahre noch als „Reaktionär“ und „politischen Abenteurer“, so solidarisierte er sich ab Mai 1940 mit dem gerade ernannten Kriegspremier in dem Cartoon All Behind You Winston. Nach dem Sieg über Hitler 1945 zollte Low seinem einstigen Lieblingsfeind in der Karikatur The Two Churchills als „leader of humanity“ seinen Respekt. Churchill machte es Kritikern insofern leicht, als er höchst eitel sein konnte, stets auf seine Wirkung und den großen Auftritt bedacht. Aber er war auch fähig, eine große Rolle auszufüllen. So meinte General de Gaulle, der nicht zu seinen besten Freunden gehörte: „Churchill erschien mir (im Juni 1940) als ein Mann, der der gröbsten Arbeit gewachsen war – vorausgesetzt, sie war gleichzeitig grandios.“ In seiner Außenpolitik ließ Churchill sich, wie er selbst es formulierte, von dem Prinzip der „Weltverantwortlichkeit“ leiten. Aufgrund der Erfahrung des Ersten Weltkriegs sah er die westlichen Demokratien – vor allem Großbritannien und die USA – in der Pflicht, eine ähnliche Katastrophe in Zukunft zu verhindern. Als Hauptgegner des Weltfriedens sah er nach 1918 zunächst die Sowjetunion, seit Mitte der 1930er Jahre aber in zunehmendem und wegen seiner expansiven Politik gefährlicherem Maße Deutschland. Er bekämpfte die Appeasement-Politik seines Vorgängers Chamberlain, weil sie den Krieg, den sie vermeiden sollte, in seinen Augen nur umso wahrscheinlicher machte. Um das nationalsozialistische Deutschland zu schlagen, schreckte er auch nicht vor dem kriegsbedingten Bündnis mit Stalin zurück, das aus seiner Sicht das kleinere von zwei Übeln darstellte. Aber er betrachtete seine Arbeit 1945 erst als halb getan und gehörte zu den ersten, die eine Eindämmung der sowjetischen Expansionspolitik forderten. Der britische Luftkrieg gegen deutsche Städte und die Zivilbevölkerung wird Churchill bis heute zum Vorwurf gemacht. Der deutsche Publizist Jörg Friedrich bezeichnete ihn deshalb als Massenmörder. Er kritisiert, dass im Rahmen des sogenannten morale bombing gezielt Wohngebiete angegriffen wurden, auch noch gegen Kriegsende, als dies keine militärische Bedeutung mehr gehabt habe. Der Historiker Frederick Taylor betont dagegen, dass Großbritannien nach dem Rückzug seiner Landstreitkräfte vom Kontinent Deutschland nur noch mit Hilfe der Royal Air Force angreifen konnte. Punktgenaue Angriffe auf rein militärische und industrielle Ziele seien zumindest in der Anfangsphase – zumal bei Nachtangriffen – technisch nicht möglich gewesen. Worum man überhaupt kämpfe, wurde Churchill während des Zweiten Weltkrieges gefragt. Seine Antwort: „Wenn wir aufhörten zu kämpfen, würdet ihr es bald herausfinden.“ Kurz und bündig befand Willy Bretscher, Chefredakteur der Neuen Zürcher Zeitung: „Churchill rettete im Sommer 1940 Europa.“ Churchills Landsmann Alan Moorehead meinte, dass man Churchill aufgrund dieser Leistung als den „größten Briten seit Wellington“ ansehen müsse. Diesen Standpunkt teilen heute britische wie deutsche Historiker und Biographen. Trotz der Toten des Bombenkriegs, für den der Premier mit verantwortlich war, sind laut Christian Graf von Krockow „dank Churchills Unbeugsamkeit Abermillionen von Menschen gerettet worden“. Arnold J. Toynbee urteilte Jahre nach dem Krieg: „Ohne Churchill läge die Welt heute in Ketten.“ Sein schwedischer Biograph Knut Hagberg äußerte sich bereits 1945 ähnlich: „Wenn es Winston Churchill nicht gelungen wäre, England zum Kampfe zu wecken, dann würde es bald kein freies Land mehr in Europa gegeben haben.“ Und Peter de Mendelssohn schrieb: „Andere mochten und mussten die Zukunft bewältigen. Er hatte bewirkt, dass es überhaupt eine Gegenwart gab.“Aus diesen und vielen ähnlichen Äußerungen seiner Zeitgenossen geht hervor, was auch nach heutigem Forschungsstand als Churchills historische Lebensleistung gilt: dass er Hitlers Sieg verhindert hat. Er überzeugte die Briten in der scheinbar aussichtslosen Lage des Sommers 1940 davon, den Krieg noch nicht verloren zu geben, stärkte ihren Durchhaltewillen und legte die Grundlagen für die kommende Anti-Hitler-Koalition mit den USA und der Sowjetunion. Aus diesen Gründen sehen auch viele deutsche Churchill-Biographen wie Hans-Peter Schwarz, Christian Graf von Krockow und Sebastian Haffner in Churchill, nicht in Roosevelt oder Stalin, den entscheidenden Gegenspieler Hitlers. John Lukacs drückte es so aus: „Churchill und Großbritannien hätten den Zweiten Weltkrieg nicht gewinnen können, das taten am Ende Amerika und Russland. Im Mai 1940 war Churchill aber derjenige, der ihn nicht verlor.“Als Winston Churchill geboren wurde, stand das Britische Empire in seinem Zenit. Als er starb, war Großbritannien zu einer Macht zweiten Ranges geworden. Er selbst mag dies als Scheitern und als Tragödie empfunden haben. Aber: „Merkmal der Größe kann nicht nur sein, was einer hienieden an Bedeutendem schafft“, schrieb sein Biograph Peter de Mendelssohn. „Vielmehr vermag echte Größe auch dem Weitblick, der Entschlossenheit und der unerschütterlichen Tatkraft innezuwohnen, mit denen einer sich der verderblichen Schöpfung in den Weg stellt und die Kräfte aufzurufen, zu versammeln und zu äußerster Leistung anzuspornen vermag, die dem Unheil die Straße versperren. Ein solcher war Winston Churchill.“ == Auszeichnungen, Ehrungen, Mitgliedschaften == 1901 wurde Winston Churchill in die Londoner Freimaurerloge „United Studholme Lodge No. 1591“ aufgenommen und 1902 in der „Rosemary Lodge No. 2851“ zum Meister erhoben. Nach Angaben des Großsekretärs der Großloge von England, Sir Sidney White, war er jedoch ein eher passives Mitglied, das viele Jahre lang nicht an den Logensitzungen teilnahm. 1908 trat er der Albion Lodge des Ancient Order of Druids bei. Darüber hinaus war Churchill Mitglied in mehreren renommierten Gentlemen’s Clubs: als Liberaler im Reform Club, als Konservativer seit 1924 im Carlton und im Athenaeum Club. Seit 1922 war Churchill Träger des Order of the Companions of Honour. 1924 erhielt er die Territorial Decoration. 1936 wurde er Präsident der British Section of the New Commonwealth Society. Der ab 1940 gebaute schwere Sturmpanzer Churchill wurde nach ihm benannt. 1941 erhielt Churchill den Ehrentitel eines Lord Warden of the Cinque Ports und wurde als Fellow in die Royal Society aufgenommen. 1946 erhielt Churchill den Order of Merit und wurde in den USA in die American Academy of Arts and Sciences gewählt. 1950 verlieh ihm die Universität Kopenhagen den Sonderpreis des Sonning-Preises. 1951 wurde er gewähltes Mitglied der American Philosophical Society. 1952 wurde er Ehrenmitglied (Honorary Fellow) der British Academy. 1953 wurde Churchill in den Hosenbandorden aufgenommen. 1953 erhielt er den Nobelpreis für Literatur 1956 verlieh ihm die Stadt Aachen den Karlspreis für 1955 als „Hüter menschlicher Freiheit – Mahner der europäischen Jugend“. 1958 erhielt das Churchill College, Cambridge, seinen Namen. 1963 wurde Churchill zum ersten Ehrenbürger der USA ernannt. 1965 erhielten die kanadischen Churchill Falls seinen Namen. 1965 wurde in Großbritannien eine Gedenkmünze im Nennwert von einer Crown mit seinem Porträt ausgegeben. 1965 benannte das Advisory Committee on Antarctic Names die Churchill Mountains nach ihm. 1968–1970 ließ die Royal Navy drei atombetriebene Jagd-U-Boote der Churchill-Klasse vom Stapel. 1969 erhielt er postum die Congressional Gold Medal der Vereinigten Staaten. 1973 wurde am Londoner Parliament Square, vor dem Unterhaus, eine Bronzestatue Churchills errichtet. 2001 stellte die United States Navy die USS Winston S. Churchill (DDG-81) in Dienst, das einzige aktive Kriegsschiff (Stand 2019), das den Namen eines ausländischen Staatsbürgers trägt, und erst das vierte in der Geschichte der USA, das nach einem Briten benannt wurde. 2002 wurde Churchill in einer telefonischen Abstimmung der BBC zum bedeutendsten Briten aller Zeiten gewählt. Die Abstimmung war zwar nicht repräsentativ, jedoch hatten sich 450.000 Bewohner des Vereinigten Königreiches daran beteiligt. Seit 2003 wird der Churchill Cup, ein Rugbyturnier, ausgetragen. == Churchill im Film == Churchills Leben ist Gegenstand Hunderter von TV-Dokumentationen sowie Fernseh- und Kinofilmen. Dazu gehören etwa: The Finest Hours von Peter Baylis (1964); für den Oscar nominierter Dokumentarfilm Der junge Löwe von Richard Attenborough (1972); Kinofilm mit Simon Ward über Churchills Anfänge als Politiker Ein Sturm zieht auf (Churchill – The Gathering Storm) von Richard Loncraine (2002); amerikanischer mehrfach prämierter, dokumentarischer Fernsehfilm mit Albert Finney und Vanessa Redgrave über Churchills Jahre vor dem Zweiten Weltkrieg Winston Churchill: The Wilderness Years von Ferdinand Fairfax (2005); Fernsehserie Inglourious Basterds von Quentin Tarantino (2009); Kinofilm mit Rod Taylor als Churchill Paradox – Die Parallelwelt von Brenton Spencer (2010); Kinofilm mit Alan C. Peterson als Churchill The King’s Speech von Tom Hooper (2010); Kinofilm mit Timothy Spall als Churchill The Crown (2016); Netflix-Serie mit John Lithgow als Churchill Peaky Blinders – Gangs of Birmingham; BBC-Serie mit Andy Nyman als Churchill Churchill von Jonathan Teplitzky (2017); Kinofilm mit Brian Cox als Churchill Die dunkelste Stunde von Joe Wright (2017); Kinofilm mit Gary Oldman als Churchill über dessen Rolle zu Beginn des Zweiten Weltkriegs einzelne Folgen der britischen Fernsehserie Doctor Who == Veröffentlichungen (Auswahl) == Ronald I. Cohen: Bibliography of the Writings of Sir Winston Churchill. Thoemmes Continuum, London 2006, 3 Bände, ISBN 0-8264-7235-4. The Story of the Malakand Field Force. An Episode of Frontier War. 1898. The River War. An Historical Account of the Reconquest of the Sudan. 1899 (dt. Kreuzzug gegen das Reich des Mahdi, Eichborn Verlag, Frankfurt 2008, Reihe Die Andere Bibliothek, ISBN 978-3-8218-4765-8; Projekt Gutenberg). Savrola. 1900 (Roman). From London to Ladysmith via Pretoria. 1900. Ian Hamiltons’s March. London 1900. Lord Randolph Churchill. 1906. My African Journey. 1908. The World Crisis. 4 Bände, 1923 bis 1929. My Early Life. 1930 (dt. Meine frühen Jahre, List Taschenbuch Nr. 293/294, Paul List Verlag, 4. Auflage, München 1965). Marlborough. His Life and Times. 1933 bis 1938, 4 Bände (dt. Marlborough, 2 Bände, Zürich 1990, Manesse Bibliothek der Weltgeschichte). Great Contemporaries. 1937 (dt. Grosse Zeitgenossen, Fischer Bücherei, Frankfurt/Hamburg 1959), Sammlung von Zeitschriftenessays, u. a. über George B. Shaw, Alfons XIII., Georg V., Georges Clemenceau, Wilhelm II., Lawrence von Arabien. (Digitalisat) The Second World War. 6 Bände, erschienen 1948 bis 1954, ISBN 3-502-19132-8.Ins Deutsche übersetzt: Der Zweite Weltkrieg. Mit einem Epilog über die Nachkriegsjahre. Übersetzer u. a. Eduard Thorsch, gekürzte Auswahl des englischen Werks, Scherz Verlag 1985. Mehrere Taschenbuchausgaben, z. B. Fischer Taschenbuch, 4. Auflage, Frankfurt am Main 2003, ISBN 978-3-596-16113-3. A History of the English-Speaking Peoples. 1956 bis 1958, 4 Bände (dt. Geschichte der englischsprachigen Völker, 5 Bände, Augsburg 1990). Reden in Zeiten des Krieges. Übersetzt Walther Weibel, Ausgewählt, eingeleitet und erläutert von Klaus Körner, Hamburg/Wien 2002, ISBN 978-3-905811-93-3. Aufzeichnungen zur europäischen Geschichte (= Knaur-Taschenbücher. Band 177). == Literatur == Peter Alter: Winston Churchill (1874–1965). Kohlhammer, Stuttgart 2006, ISBN 3-17-018786-4. Peter Alter: Der Kriegspremier im Frieden. Winston Churchill 1945-1951. In: Michael Epkenhans, Ewald Frie (Hrsg.): Politiker ohne Amt. Von Metternich bis Helmut Schmidt (= Otto-von-Bismarck Stiftung Wissenschaftliche Reihe, Band 28). Schöningh, Paderborn 2020, ISBN 978-3-506-70264-7, S. 203–222. Robert Blake, Roger Louis (Hrsg.): Churchill. A Major New Assessment of His Life in Peace and War. Oxford 1993, ISBN 0-19-820317-9 (Aufsatzsammlung der renommiertesten zeitgenössischen Churchill-Kenner). David Cannadine: Winston Churchill. Abenteurer, Monarchist, Staatsmann. Berenberg, Berlin 2005, ISBN 3-937834-05-2. John Charmley: Churchill. Das Ende einer Legende. Ullstein, Berlin 1997, ISBN 3-548-26502-2. John Colville: Downing Street Tagebücher 1939–1945. Siedler, Berlin 1988, ISBN 3-88680-241-8 (Tagebuchaufzeichnungen eines der engsten Mitarbeiter Churchills während der Kriegsjahre). Virginia Cowles: Winston Churchill. Der Mann und seine Zeit. Wien 1954. Joachim Fest: Unzeitgemäßer Held seiner Zeit. Winston Churchill. In: Aufgehobene Vergangenheit. Portraits und Betrachtungen. München 1983, S. 215–238. Martin Gilbert, Randolph Churchill: Winston S. Churchill. 8 Bände mit Begleitbänden. Thornton Butterworth, London 1966/1988, ISBN 0-434-13017-6. Walter Graebner: Churchill – der Mensch. Rainer Wunderlich, Tübingen 1965 (engl. Original My dear Mr. Churchill. In: W. Graebner: Literary Trust. 1965). Sebastian Haffner: Winston Churchill. Kindler Verlag, Berlin 2001, ISBN 3-463-40413-3. Knut Hagberg: Winston Churchill. Stockholm 1945. Roy Jenkins: Churchill. Macmillan, London/Basingstoke/Oxford 2001, ISBN 0-333-78290-9. John Keegan: Churchill. Weidenfeld & Nicolson, London 2002, ISBN 0-297-60776-6. Thomas Kielinger: Winston Churchill. Der späte Held. Eine Biographie. C. H. Beck, München 2014, ISBN 978-3-406-66889-0. Christian Graf von Krockow: Churchill. Eine Biographie des 20. Jahrhunderts. Hoffmann und Campe, Hamburg 1999, ISBN 3-455-11270-6. Franz Lehnhoff: Winston Churchill. Engländer und Europäer. Köln 1949. Elizabeth Longford: Winston Churchill. London 1974. John Lukacs: Fünf Tage in London. England und Deutschland im Mai 1940. Siedler, Berlin 2000, ISBN 3-88680-707-X (Darstellung der entscheidenden Tage, in denen Churchill in seinem Kabinett die Fortführung des Kriegs gegen Deutschland durchsetzte). William Raymond Manchester: Winston Churchill. Bertelsmann. 2 Bände: Der Traum vom Ruhm 1874–1932. München 1989, ISBN 3-570-03298-1. Allein gegen Hitler 1932–1940. München 1990, ISBN 3-570-01900-4. Peter de Mendelssohn: Churchill. Sein Weg und seine Welt. Band 1: Erbe und Abenteuer. Die Jugend Winston Churchills 1874–1914. Lemm, Freiburg 1957. Alan Moorehead: Churchill. Eine Bildbiographie. Kindler, München 1961. Robert Payne: The Great Man. A Portrait of Winston Churchill. New York 1974. John Ramsden: Man of the Century. Winston Churchill and His Legend Since 1945. London 2003. Andrew Roberts: Churchill und seine Zeit. Dtv, München 1998, ISBN 3-423-24132-2. Andrew Roberts: Churchill. Walking with Destiny. Allen Lane, London 2018, ISBN 978-0-241-20563-1. David Stafford: Churchill & Secret Service. Abacus, London 1997, ISBN 0-349-11279-7. Max Silberschmidt: Churchill – Leader der freien Welt In: Schweizer Monatshefte: Zeitschrift für Politik, Wirtschaft, Kultur. 44 (1965), S. 1–23.Belletristik Michael Köhlmeier: Zwei Herren am Strand. Hanser Verlag, München 2014, ISBN 978-3-446-24603-4. == Weblinks == Literatur von und über Winston Churchill im Katalog der Deutschen Nationalbibliothek (wegen Tippfehler im OPAC zusätzlich unter: Churchill, Winston Spencer suchen: das wichtige Werk World Crisis auf Deutsch, insges. 4 Bände, hier nur 2 Bände aufgeführt) Werke von und über Winston Churchill in der Deutschen Digitalen Bibliothek Winston Churchill. Tabellarischer Lebenslauf im LeMO (DHM und HdG) The International Churchill Society Churchill and the Great Republic / Ausstellung zu Churchill Interactive exhibition of Library of Congress Zeitungsartikel über Winston Churchill in den Historischen Pressearchiven der ZBW Mr Winston Churchill im Hansard (englisch) Winston Churchill - der Retter Grossbritanniens im Weltkrieg In: Zeitblende von Schweizer Radio und Fernsehen vom 14. Februar 2015 (Audio) == Anmerkungen ==
https://de.wikipedia.org/wiki/Winston_Churchill
Friedrich Nietzsche
= Friedrich Nietzsche = Friedrich Wilhelm Nietzsche ([ˈniːtʃə] oder [ˈniːtsʃə]; * 15. Oktober 1844 in Röcken; † 25. August 1900 in Weimar) war ein deutscher klassischer Philologe und Philosoph. Nietzsche, der im Nebenwerk auch Dichtungen und musikalische Kompositionen schuf, sprengte mit seinem eigenwilligen Stil bis dahin gängige Muster und ließ sich kaum einer klassischen Disziplin zuordnen. Er gilt manchen als Begründer einer neuen philosophischen Schule, der Lebensphilosophie. Er war zunächst preußischer Staatsbürger, ab seiner Übersiedlung nach Basel 1869 wurde er auf eigenen Wunsch hin staatenlos. Im Alter von 24 Jahren wurde Nietzsche im Anschluss an sein Studium als außerordentlicher Professor für klassische Philologie an die Universität Basel berufen. Bereits zehn Jahre später legte er 1879 aus gesundheitlichen Gründen die Professur nieder. Von nun an bereiste er – auf der Suche nach Orten, deren Klima sich günstig auf seine diversen Leiden auswirken sollte – vor allem Italien und die Schweiz. Ab seinem 45. Lebensjahr (1889) litt er unter zunehmenden psychischen Störungen, die ihn arbeits- und geschäftsunfähig machten. Seinen Anfang der 1890er Jahre einsetzenden Ruhm erlebte er nicht mehr bewusst. Den Rest seines Lebens verbrachte er als Pflegefall in der Obhut zunächst seiner Mutter, dann seiner Schwester, und starb 1900 im Alter von 55 Jahren. Die Vermutung, die Spätfolgen einer Syphilis könnten beim Krankheitsverlauf eine Rolle gespielt haben, hielt sich gut 100 Jahre. Später kamen in Fachkreisen jedoch zunehmend Zweifel an dieser Verdachtsdiagnose auf. Neuere Auswertungen von Nietzsches Krankenakte kommen zum Ergebnis, dass eine Erkrankung wie CADASIL ebenso zu seiner geistigen Verwirrung am Lebensende geführt haben könnte.Den jungen Nietzsche beeindruckte besonders die Philosophie Schopenhauers. Später wandte er sich von dessen Pessimismus ab. Sein Werk enthält scharfe Kritiken an Moral, Religion, Philosophie, Wissenschaft und Formen der Kunst. Die zeitgenössische Kultur war in seinen Augen lebensschwächer als die des antiken Griechenlands. Wiederkehrendes Ziel von Nietzsches Angriffen sind vor allem die christliche Moral sowie die christliche und platonistische Metaphysik. Er stellte den Wert der Wahrheit überhaupt in Frage und wurde damit Wegbereiter postmoderner philosophischer Ansätze. Auch Nietzsches Konzepte des „Übermenschen“, des „Willens zur Macht“ oder der „ewigen Wiederkunft“ geben Anlass zu Deutungen und Diskussionen. Nietzsche schuf keine systematische Philosophie. Oft wählte er den Aphorismus als Ausdrucksform seiner Gedanken. Seine Prosa, seine Gedichte und der pathetisch-lyrische Stil von Also sprach Zarathustra verschafften ihm Anerkennung auch als Schriftsteller. == Leben == === Jugend (1844–1869) === Friedrich Nietzsche wurde am 15. Oktober 1844 in Röcken, einem Dorf nahe Lützen im Kreis Merseburg in der preußischen Provinz Sachsen (heute Sachsen-Anhalt), geboren. Seine Eltern waren der lutherische Pfarrer Carl Ludwig Nietzsche und dessen Frau Franziska, Tochter des Pfarrers David Ernst Oehler von Pobles. Seit der Reformation im 16. Jahrhundert ist die Familie Nietzsche in Sachsen als evangelisch dokumentiert. In den Familien beider Elternteile gab es einen hohen Anteil protestantischer Pfarrer. Seinen Vornamen gab ihm sein Vater zu Ehren des preußischen Königs Friedrich Wilhelm IV., an dessen 49. Geburtstag er geboren wurde. Nietzsche selbst behauptete in seinen späten Jahren, in väterlicher Linie von polnischen Edelleuten abzustammen, was jedoch nicht bestätigt werden konnte. Die Schwester Elisabeth kam 1846 zur Welt. Nach dem Tod des Vaters 1849 und des jüngeren Bruders Ludwig Joseph (1848–1850) zog die Familie nach Naumburg. Der spätere Justizrat Bernhard Dächsel wurde formal zum Vormund der Geschwister Friedrich und Elisabeth bestellt. Von 1850 bis 1856 lebte Nietzsche im „Naumburger Frauenhaushalt“, das heißt zusammen mit Mutter, Schwester, Großmutter, zwei unverheirateten Tanten väterlicherseits und dem Dienstmädchen. Erst die Hinterlassenschaft der 1856 verstorbenen Großmutter erlaubte der Mutter, für sich und ihre Kinder eine eigene Wohnung zu mieten. Der junge Nietzsche besuchte zunächst die allgemeine Knabenschule, fühlte sich dort allerdings so isoliert, dass man ihn auf eine Privatschule schickte, wo er erste Jugendfreundschaften mit Gustav Krug und Wilhelm Pinder, beide aus angesehenen Häusern, knüpfte. Ab 1854 besuchte er das Domgymnasium Naumburg und fiel bereits dort durch seine besondere musische und sprachliche Begabung auf. 1857 bereitete Pastor Gustav Adolf Oßwald, ein enger Freund seines Vaters, ihn in Kirchscheidungen für die Aufnahmeprüfung in Schulpforta vor. Am 5. Oktober 1858 wurde Nietzsche als Stipendiat in die Landesschule Pforta aufgenommen, wo er als bleibende Freunde Paul Deussen und Carl Freiherr von Gersdorff kennenlernte. Seine schulischen Leistungen waren sehr gut, in seiner Freizeit dichtete und komponierte er. In Schulpforta entwickelte sich zum ersten Mal seine eigene Vorstellung von der Antike und, damit einhergehend, eine Distanz zur kleinbürgerlich-christlichen Welt seiner Familie. In dieser Zeit lernte Nietzsche den älteren, einstmals politisch engagierten Dichter Ernst Ortlepp kennen, dessen Persönlichkeit den vaterlosen Knaben beeindruckte. Von Nietzsche besonders geschätzte Lehrer, mit denen er nach seiner Schulzeit noch in Verbindung blieb, waren Wilhelm Corssen, der spätere Rektor Diederich Volkmann und Max Heinze, der 1897, als Nietzsche entmündigt war, zu dessen Vormund bestellt wurde. Corssen hatte sich auch vor dem Kollegium dafür eingesetzt, dass Nietzsche, trotz einer schlechten Note in Mathematik, sein Abitur erhielt, indem er auf dessen besondere Begabung in den alten Sprachen und Deutsch verwies.Gemeinsam mit seinen Freunden Pinder und Krug traf sich Nietzsche ab 1860 auf der Burgruine Schönburg, wo er mit ihnen über Literatur, Philosophie, Musik und Sprache diskutierte. Mit ihnen gründete er dort die künstlerisch-literarische Vereinigung „Germania“. Die Gründungsfeier fand am 25. Juli 1860 statt: „… bei Naumburger Rotwein (die Flasche zu 75 Pfennige) leisteten die drei sechzehnjährigen Vereinsmitglieder ihren Bundesschwur. Gedichte, Kompositionen, Abhandlungen mußten regelmäßig geliefert werden. Man wollte dann gemeinsam darüber diskutieren.“ Die Versammlungen fanden vierteljährlich statt. Auf ihnen wurden Vorträge gehalten. Es gab eine Gemeinschaftskasse, aus der Bücher beschafft wurden. Bereits in dieser Zeit entwickelte Nietzsche seine Leidenschaft für die Musik Richard Wagners. Zu Nietzsches frühen Werken, die vor dem Hintergrund der Schönburger Germania entstanden sind, zählen die Synodenvorträge, Kindheit der Völker, Fatum und Geschichte sowie Über das Dämonische in der Musik. 1863 wurde die Germania aufgelöst, nachdem Pinder und Krug ihr Interesse daran verloren hatten. Im Wintersemester 1864/65 begann Nietzsche an der Universität Bonn das Studium der klassischen Philologie und der evangelischen Theologie unter anderem bei Wilhelm Ludwig Krafft. Zusammen mit Deussen wurde er Mitglied der Bonner Burschenschaft Frankonia. Er bestritt freiwillig eine Mensur, von welcher er einen Schmiss auf dem Nasenrücken zurückbehielt. Nach einem Jahr verließ er die Burschenschaft, weil ihm das Verbindungsleben missfiel. Neben seinem Studium vertiefte er sich in die Werke der Junghegelianer, darunter Das Leben Jesu von David Friedrich Strauß, Das Wesen des Christentums von Ludwig Feuerbach und Bruno Bauers Evangelienkritiken. Diese bestärkten ihn (zur großen Enttäuschung seiner Mutter) in dem Entschluss, das Theologiestudium nach einem Semester abzubrechen. Nietzsche wollte sich nun ganz auf die klassische Philologie konzentrieren, war jedoch mit seiner Lage in Bonn unzufrieden. Daher nahm er den Wechsel des Philologieprofessors Friedrich Ritschl nach Leipzig (in Folge des Bonner Philologenstreits) zum Anlass, zusammen mit seinem Freund Gersdorff ebenfalls nach Leipzig zu ziehen. In den folgenden Jahren sollte Nietzsche zu Ritschls philologischem Musterschüler werden, obwohl er in Bonn noch dessen Konkurrenten Otto Jahn zugeneigt war. Ritschl war für Nietzsche zeitweise eine Vaterfigur, ehe später Richard Wagner diese Stelle einnahm. Im Oktober 1865, kurz bevor Nietzsche das Studium in Leipzig aufnahm, verbrachte er zwei Wochen in Berlin bei der Familie seines Studienfreundes Hermann Mushacke. Dessen Vater hatte in den 1840er Jahren zu einem Debattierzirkel um Bruno Bauer und Max Stirner gehört. Dass Nietzsche bei diesem Besuch mit Stirners 1845 erschienenem Buch Der Einzige und sein Eigentum konfrontiert wurde, liegt nahe, lässt sich aber nicht belegen. Jedenfalls wandte Nietzsche sich unmittelbar danach einem Philosophen zu, der Stirner und dem Junghegelianismus denkbar fernstand: Arthur Schopenhauer. Ein weiterer Philosoph, den er in seiner Leipziger Zeit für sich entdeckte, war Friedrich Albert Lange, dessen Geschichte des Materialismus 1866 erschien. In erster Linie setzte Nietzsche jedoch zunächst sein philologisches Studium fort. In dieser Zeit knüpfte er eine enge Freundschaft mit seinem Kommilitonen Erwin Rohde. Mit diesem zusammen beteiligte er sich 1866 an der Gründung des Klassisch-philologischen Vereins an der Universität Leipzig. Hatte er im Deutschen Krieg zwischen Preußen und Österreich, in dem das Königreich Sachsen auf österreichischer Seite stand und Leipzig preußisch besetzt wurde, als Student eine militärische Einberufung noch vermeiden können, musste Nietzsche 1867 seinen Wehrdienst bei der preußischen Armee ableisten und trat als Einjährig-Freiwilliger beim Feldartillerie-Regiment Nr. 55 in Naumburg ein. Als er nach einem schweren Reitunfall im März 1868 dienstunfähig geworden war, nutzte er die Zeit seiner Kur zu weiteren philologischen Arbeiten, die er in seinem letzten Studienjahr fortsetzte. Von großer Bedeutung wurde sein erstes Zusammentreffen mit Richard Wagner im Jahre 1868. === Professor an der Universität Basel (1869–1879) === Auf Empfehlung seines Lehrers Friedrich Ritschl und auf Betreiben Wilhelm Vischer-Bilfingers wurde Nietzsche 1869 als besonderes altsprachliches Talent, jedoch ohne Promotion, zum außerordentlichen Professor für klassische Philologie an die kleine, damals finanzschwache Universität Basel berufen. Zu seiner Tätigkeit gehörte auch der Unterricht am traditionsreichen Basler Gymnasium am Münsterplatz. Als seine wichtigste Erkenntnis auf dem Gebiet der Philologie wird die Entdeckung des quantitierenden Prinzips angesehen, also die Erkenntnis, dass die antike Metrik, im Gegensatz zur modernen Metrik, ausschließlich auf der Länge von Silben basierte.Auf eigenen Wunsch wurde Nietzsche nach seiner Übersiedlung nach Basel aus der preußischen Staatsbürgerschaft entlassen und blieb für den Rest seines Lebens staatenlos. Allerdings diente er im Deutsch-Französischen Krieg für kurze Zeit als Sanitäter auf deutscher Seite. In dieser Zeit zog er sich eine schwere Dysenterie- und Diphtherieerkrankung zu, deren Rekonvaleszenz von längerer Dauer war. Die Gründung des Deutschen Reichs und die anschließende Ära Otto von Bismarcks nahm er mit einer Portion Skepsis zur Kenntnis. Wegen seiner schlechten gesundheitlichen Verfassung sah sich Nietzsche gezwungen, sich für den Rest des Wintersemesters 1875/1876 beurlauben zu lassen, was bald darauf zur Beendigung seiner Lehrtätigkeit führen sollte. In Basel begann 1870 die bis in die Zeit von Nietzsches geistiger Umnachtung andauernde Freundschaft zu Franz Overbeck, einem Theologieprofessor und späterem Rektor der Universität Basel. Nietzsche schätzte auch den älteren Kollegen Jacob Burckhardt, der ihm gegenüber jedoch distanziert blieb. Bereits im Jahre 1868 hatte Nietzsche in Leipzig Richard Wagner und dessen spätere Frau Cosima kennengelernt. Er verehrte beide zutiefst und war seit Beginn seiner Zeit in Basel häufig Gast im Haus des „Meisters“ in Tribschen bei Luzern. Dieser nahm ihn zwar zeitweise mit in seinen Freundeskreis auf, sah in ihm aber vor allem einen Propagandisten für die Gründung seines Bayreuther Festspielhauses. 1872 veröffentlichte Nietzsche sein erstes größeres Werk, Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik, eine Untersuchung über den Ursprung der Tragödie, in der er die traditionelle philologische Methode durch philosophische Spekulation ersetzte. Er entwickelte darin eine Art Kunstpsychologie, indem er die griechische Tragödie aus dem Begriffspaar apollinisch-dionysisch zu erklären versuchte. Die Schrift wurde von den meisten seiner Kollegen – unter anderem von Friedrich Ritschl – abgelehnt bzw. mit Schweigen übergangen. Aufgrund der Kritik Ulrich von Wilamowitz-Moellendorffs, der Nietzsche in seiner Streitschrift Zukunftsphilologie! unsauberes wissenschaftliches Arbeiten vorwarf, kam es zu einer kurzen öffentlichen Kontroverse, in der sein ehemaliger Studienkollege Erwin Rohde, inzwischen außerordentlicher Professor in Kiel, und Richard Wagner für Nietzsche Partei ergriffen. Nietzsche wurde sich seiner Sonderstellung in der Philologie zunehmend bewusst, weswegen er sich bereits 1871, allerdings vergeblich, um den freiwerdenden Basler philosophischen Lehrstuhl Gustav Teichmüllers bemüht hatte. Im Jahre 1873 lernte Nietzsche Bertha Rohr (1848–1940) in Flims kennen und lieben.Auch die vier Unzeitgemäßen Betrachtungen (1873–1876), in denen er eine von Schopenhauer und Wagner beeinflusste Kulturkritik übte, fanden nicht die erhoffte Resonanz. Im Umkreis Wagners hatte Nietzsche inzwischen Malwida von Meysenbug und Hans von Bülow kennengelernt, und auch begann die Freundschaft mit Paul Rée, dessen Einfluss ihn vom Kulturpessimismus seiner ersten Schriften abbrachte. Seine Enttäuschung über die ersten Bayreuther Festspiele von 1876, wo er sich von der Banalität des Schauspiels und der Niveaulosigkeit des Publikums abgestoßen fühlte, nahm Nietzsche zum Anlass, sich von Wagner zu entfernen. Seine frühere Leidenschaft schlug in Ablehnung und schließlich radikale Gegnerschaft um. Derselbe Prozess fand mit Schopenhauer statt. Nietzsche begann am 6. Dezember Philipp Mainländers 200 Seiten lange Kritik der Philosophie Schopenhauers zu lesen – wenige Tage später schrieb er, mit Schopenhauer gebrochen zu haben. Mit der Publikation von Menschliches, Allzumenschliches (1878) wurde die Entfremdung von Wagner und von der Schopenhauerschen Philosophie offenbar. Auch die Freundschaften zu Deussen und Rohde hatten sich inzwischen merklich abgekühlt. In dieser Zeit unternahm Nietzsche mehrere vergebliche Versuche, eine junge und vermögende Ehefrau für sich zu finden, worin er vor allem von der mütterlichen Gönnerin Malwida von Meysenbug unterstützt wurde. Außerdem nahmen die seit seiner Kindheit auftretenden Krankheiten (Migräneanfälle und Magenstörungen sowie eine starke Kurzsichtigkeit, die letztlich praktisch bis zur Blindheit führte) zu und zwangen ihn zu immer längeren Freistellungsphasen von seiner Lehrtätigkeit. 1879 ließ er sich deswegen schließlich vorzeitig pensionieren. === Freier Philosoph (1879–1889) === Getrieben von seinen Krankheiten auf der ständigen Suche nach für ihn optimalen Klimabedingungen, reiste er nun viel und lebte bis 1889 als freier Autor an verschiedenen Orten. Dabei lebte er vor allem von der ihm gewährten Pension; zudem erhielt er mitunter Zuwendungen von Freunden. Im Sommer hielt er sich meist in Sils-Maria, im Winter vorwiegend in Italien (Genua, Rapallo, Turin) und in Nizza auf. Hin und wieder besuchte er die Familie in Naumburg, wobei es mehrfach zu Zerwürfnissen und Versöhnungen mit seiner Schwester kam. Sein früherer Schüler Peter Gast (eigtl. Heinrich Köselitz) wurde zeitweilig zu einer Art Privatsekretär. Köselitz und Overbeck waren Nietzsches beständigste Vertraute. Aus dem Wagnerkreis war ihm vor allem Meysenbug als mütterliche Gönnerin erhalten geblieben. Kontakt hielt er außerdem mit dem Musikkritiker Carl Fuchs und zunächst auch mit Paul Rée. Anfang der 1880er erschienen mit Morgenröte und Die fröhliche Wissenschaft weitere Werke im aphoristischen Stil von Menschliches, Allzumenschliches. 1882 lernte er durch Vermittlung von Meysenbug und Rée in Rom Lou von Salomé kennen. Nietzsche fasste schnell weitreichende Pläne für die „Dreieinigkeit“ mit Rée und Salomé. Die Annäherung an die junge Frau gipfelte in einem mehrwöchigen gemeinsamen Aufenthalt in Tautenburg, mit Nietzsches Schwester Elisabeth als Anstandsdame. Nietzsche sah in Salomé bei aller Wertschätzung weniger eine gleichwertige Partnerin als eine begabte Schülerin. Er verliebte sich in sie, hielt über den gemeinsamen Freund Rée um ihre Hand an, doch Salomé lehnte ab. Unter anderem aufgrund von Intrigen Elisabeths zerbrach die Beziehung zu Rée und Salomé im Winter 1882/1883. Nietzsche, der angesichts neuer Krankheitsschübe und seiner nunmehr beinahe vollständigen Isolation – mit Mutter und Schwester hatte er sich wegen Salomé überworfen – von Suizidgedanken geplagt wurde, flüchtete nach Rapallo, wo er in nur zehn Tagen den ersten Teil von Also sprach Zarathustra zu Papier brachte. Die Gedanken zum dritten Teil entwickelte er bei seinem Aufenthalt im Bergdorf Èze in der Nähe von Nizza. Eine Straße und eine Gedenktafel erinnern an Nietzsches Tage in Èze. Waren ihm schon nach dem Bruch mit Wagner und der Philosophie Schopenhauers nur wenige Freunde erhalten geblieben, so stieß der völlig neue Stil im Zarathustra selbst im engsten Freundeskreis auf Unverständnis, das allenfalls durch Höflichkeit überdeckt wurde. Nietzsche war sich dessen durchaus bewusst und pflegte seine Einsamkeit geradezu, wenn er auch oft darüber klagte. Den kurzzeitig gehegten Plan, als Dichter an die Öffentlichkeit zu treten, gab er auf. Daneben plagten ihn Geldsorgen, denn seine Bücher wurden so gut wie nicht gekauft. Den vierten Teil des Zarathustra gab er 1885 nur noch als Privatdruck mit einer Auflage von 40 Exemplaren heraus, die als Geschenk für „solche, die sich um ihn verdient machten“, gedacht waren und von denen Nietzsche letztlich lediglich sieben verschenkte. 1886 ließ er Jenseits von Gut und Böse auf eigene Kosten drucken. Mit diesem Buch und den 1886/87 erscheinenden Zweitauflagen von Geburt, Menschliches, Morgenröte und Fröhlicher Wissenschaft sah er sein Werk als vorerst abgeschlossen an und hoffte, dass sich bald eine Leserschaft entwickeln würde. Tatsächlich stieg das Interesse an Nietzsche, wenn auch sehr langsam und von ihm selbst kaum bemerkt. Neue Bekanntschaften Nietzsches in diesen Jahren waren Meta von Salis und Carl Spitteler, auch ein Treffen mit Gottfried Keller war zustande gekommen. 1886 war seine Schwester, inzwischen verheiratet mit dem Antisemiten Bernhard Förster, nach Paraguay abgereist, um die „germanische“ Kolonie Nueva Germania zu gründen – ein Vorhaben, das Nietzsche lächerlich fand. Im brieflichen Kontakt setzte sich die Abfolge von Streit und Versöhnung fort, persönlich sollten sich die Geschwister aber erst nach Friedrichs Zusammenbruch wiedersehen. Nietzsche hatte weiterhin mit wiederkehrenden schmerzhaften Anfällen zu kämpfen, die ein konstantes Arbeiten unmöglich machten. 1887 schrieb er in kurzer Zeit die Streitschrift Zur Genealogie der Moral. Er wechselte Briefe mit Hippolyte Taine, dann auch mit Georg Brandes, der Anfang 1888 in Kopenhagen die ersten Vorträge über Nietzsches Philosophie hielt. Im selben Jahr schrieb Nietzsche fünf Bücher, teilweise aus umfangreichen Aufzeichnungen für das zeitweise geplante Werk Der Wille zur Macht. Sein Gesundheitszustand hatte sich vorübergehend gebessert, im Sommer war er in regelrechter Hochstimmung. Seine Schriften und Briefe ab Herbst 1888 jedoch lassen bereits auf seinen beginnenden Größenwahn schließen. Die Reaktionen auf seine Schriften, vor allem auf die Polemik Der Fall Wagner vom Frühjahr, wurden von ihm maßlos überbewertet. An seinem 44. Geburtstag entschloss er sich, nach der Vollendung der Götzen-Dämmerung und des zunächst zurückgehaltenen Antichrist, die Autobiographie Ecce homo zu schreiben. Im Dezember begann ein Briefwechsel mit August Strindberg. Nietzsche glaubte, kurz vor dem internationalen Durchbruch zu stehen, und versuchte, seine alten Schriften vom ersten Verleger zurückzukaufen. Er plante Übersetzungen in die wichtigsten europäischen Sprachen. Überdies beabsichtigte er die Veröffentlichung der Kompilation Nietzsche contra Wagner und der Gedichte Dionysos-Dithyramben. === In geistiger Umnachtung (1889–1900) === Am 3. Januar 1889 erlitt er in Turin einen geistigen Zusammenbruch. Kleine Schriftstücke, sogenannte „Wahnzettel“ bzw. „Wahnbriefe“, die er an enge Freunde, aber zum Beispiel auch an Cosima Wagner oder Jacob Burckhardt und sogar Umberto I. von Italien sandte, waren von einer psychischen Erkrankung gezeichnet. Die Ursache für den Zusammenbruch wird seitdem immer wieder kontrovers diskutiert. Eine wichtige Frage ist, ob bereits vor diesem Zusammenbruch intermittierende Symptome auftraten und sich stilistisch niederschlugen oder ob der Zusammenbruch abrupt auftrat und von Vorerkrankungen wie Migräne und Asthenopie bei hochgradiger Myopie isoliert zu betrachten ist. Medizinhistorische Recherchen in Originalbefunden kamen früher in der Regel zum Ergebnis, dass Nietzsches Zusammenbruch sich am ehesten mit dem Quartärstadium einer Nervensyphilis erklären ließe. Erneute Auswertungen relativieren diese Verdachtsdiagnose gleich mehrfach. Einerseits wurden die Krankheitsbilder Gonorrhoe und Syphilis damals noch nicht gegeneinander abgegrenzt und beide als Lues bezeichnet. Darüber hinaus wurden Demenz und auch Alzheimer erst nach Nietzsches Tod medizinisch definiert, daher stand diese Diagnosemöglichkeit zu seinen Lebzeiten nicht zur Verfügung. Die Krankheitssymptome decken sich aus heutiger Sicht auch mit der Diagnose der genetisch bedingten Erkrankung CADASIL, während die Zuschreibung einer Syphilis, basierend auf der Krankengeschichte, nicht bestätigt werden kann. Der durch die Wahnzettel an Burckhardt und ihn selbst alarmierte Overbeck brachte Nietzsche zunächst in die von Ludwig Wille geleitete Irrenanstalt Friedmatt in Basel. Von dort wurde der inzwischen geistig vollständig Umnachtete von seiner Mutter in die Psychiatrische Universitätsklinik in Jena unter Leitung Otto Binswangers gebracht. Ein Heilungsversuch Julius Langbehns, der von sich aus Kontakt zur Mutter aufgenommen hatte, scheiterte. 1890 durfte die Mutter ihn schließlich bei sich in ihrem Haus in Naumburg aufnehmen. Zu dieser Zeit konnte er zwar gelegentlich kurze Gespräche führen, Erinnerungsfetzen hervorbringen und unter einige Briefe von der Mutter diktierte Grüße setzen, verfiel jedoch schnell und plötzlich in Wahnvorstellungen oder Apathie und erkannte auch alte Freunde nicht wieder. Über das weitere Verfahren mit den teilweise noch ungedruckten Werken berieten zunächst Overbeck und Köselitz. Letzterer begann eine erste Gesamtausgabe. Gleichzeitig setzte eine erste Welle der Nietzsche-Rezeption ein. Elisabeth Förster-Nietzsche kehrte nach dem Suizid ihres Mannes 1893 aus Paraguay zurück, ließ die bereits gedruckten Bände der Köselitzschen Ausgabe einstampfen, gründete das Nietzsche-Archiv und übernahm von der betagten Mutter Zug um Zug die Kontrolle sowohl über den pflegebedürftigen Bruder als auch über dessen Nachlass und die Herausgabe seiner Werke. Mit Overbeck zerstritt sie sich, während sie Köselitz für eine weitere Zusammenarbeit gewinnen konnte. Nietzsche selbst, dessen Verfall sich fortsetzte, bekam von alldem nichts mehr mit. Nach dem Tod seiner Mutter 1897, nachdem seine Schwester das Haus in Naumburg verkauft hatte, lebte er in der Villa Silberblick in Weimar, wo Elisabeth ihn pflegte. Ausgewählten Besuchern – etwa Rudolf Steiner – gewährte sie das Privileg, zu dem dementen Philosophen vorgelassen zu werden. So berichtete das Jenaer Volksblatt unter Berufung auf eine Naumburger Zeitung: „Seine Lebensweise vergeht ganz nach ärztlicher Vorschrift, die seine Kost und Bedienung geregelt hat. Im Uebrigen sitzt er still in sich versunken da; nur wenn Straßen- oder Kinderlärm an sein Ohr dringt, äußert er unverständliche Laute, beruhigt sich aber wieder, wenn man ihm vorliest, ohne daß er freilich das Gelesene versteht. Sein Aussehen ist keineswegs ungesund, nur ist es etwas beschwerlich, ihn an- und auszukleiden, weil sich in letzter Zeit eine gewisse Ungelenkigkeit der Glieder bemerklich macht.“Von Steiner stammt eine weitere, ausführliche Schilderung des umnachteten Nietzsche. Nach mehreren Schlaganfällen, die ebenfalls mit der Diagnose einer Nervensyphilis vereinbar sind (siehe oben), war Nietzsche teilweise gelähmt und konnte weder stehen noch sprechen. Am 25. August 1900, im Alter von 55 Jahren, starb er an Pneumonie und einem weiteren Schlaganfall in Weimar. Er wurde an der Röckener Dorfkirche im Familiengrab beigesetzt. == Denken und Werk == Nietzsche begann sein Werk als Philologe, begriff sich selbst aber zunehmend als Philosoph oder als „freier Denker“. Er gilt als Meister der aphoristischen Kurzform und des mitreißenden Prosa-Stils. Die Werke sind zuweilen mit einer Rahmenhandlung, Vor- und Nachwort, Gedichten und einem „Vorspiel“ versehen. Einige Interpreten halten selbst die scheinbar wenig strukturierten Aphorismenbücher für geschickt „komponiert“. Nietzsche hat wie kaum ein zweiter Denker die Freiheit der Methode und der Betrachtung gewählt. Eine definitive Einordnung seiner Philosophie in eine bestimmte Disziplin ist daher schwierig. Nietzsches Herangehensweise an die Probleme der Philosophie ist teils die des Künstlers, teils die des Wissenschaftlers und teils die des Philosophen. Viele Stellen seines Werks können auch als psychologisch bezeichnet werden, wobei dieser Begriff erst später seine heutige Bedeutung bekam. Zahlreiche Deuter sehen einen engen Zusammenhang zwischen seinem Leben und seinem denkerischen Werk, sodass über Nietzsches Leben und Persönlichkeit weit mehr geforscht und geschrieben wird, als dies bei anderen Philosophen der Fall ist. === Übersicht zum Werk === Oft wird Nietzsches Denken und Werk in bestimmte Perioden eingeteilt. Die folgende Aufteilung geht in Grundzügen auf Nietzsche selbst zurück und ist seit dem Nietzschebuch Lou Andreas-Salomés (1894) in ähnlicher Form von fast allen Interpreten verwendet worden. Die Wagnerianisch-Schopenhauerische Zeit (1872–1876), die vor allem im Zeichen dieser beiden Männer steht und romantische Einflüsse zeigt. Sie umfasst die Werke: Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik Unzeitgemäße Betrachtungen in vier Teilen: David Strauß, der Bekenner und der Schriftsteller Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben Schopenhauer als Erzieher Richard Wagner in Bayreuth Die „freigeistige“ Zeit (1876–1882). Nietzsche löst sich zunehmend vom persönlichen Einfluss Wagners und von der philosophischen Prägung durch Schopenhauer. Vor allem zu Beginn dieser Periode steht die wissenschaftlich-empirische Erkenntnis im Vordergrund. Daher wird diese Phase in Nietzsches Werk auch oft als „positivistisch“ bezeichnet. An Stelle der früheren zusammenhängenden Abhandlungen treten jetzt Aphorismensammlungen, worin sich unter anderem der Einfluss der von Nietzsche sehr geschätzten französischen Moralisten widerspiegelt: Menschliches, Allzumenschliches (mit zwei Fortsetzungen) Morgenröte. Gedanken über die moralischen Vorurteile Die fröhliche Wissenschaft. Das zentrale Werk Also sprach Zarathustra (1883–1885), in dem neue Lehren in symbolisch-dichterischer Sprache formuliert werden. Oft werden Also sprach Zarathustra und die Spätschriften zusammengefasst. Die späten Werke (1886–1888), in denen die bisherigen Ansätze weiter ausgeführt und zunehmend in polemische Schärfe gebracht werden. Neben Aphorismen und Sentenzen finden sich nun wieder längere Abhandlungen. Zu dieser Periode zählen: Jenseits von Gut und Böse Zur Genealogie der Moral Der Fall Wagner und Nietzsche contra Wagner Götzen-Dämmerung oder Wie man mit dem Hammer philosophirt Der Antichrist Ecce homo (Autobiographie, kann demselben Kreis zugerechnet werden). Den Abschluss seines Gesamtwerkes bilden 1889 die Dionysos-Dithyramben, die 1891 als Anhang des vierten Teils von Also sprach Zarathustra erschienen.Es gibt allerdings einige Überschneidungen und Brüche in diesem Schema. So fügte Nietzsche den Zweitauflagen der Geburt der Tragödie und der Fröhlichen Wissenschaft von 1887 ein selbstkritisches Vorwort beziehungsweise ein fünftes Buch hinzu. Bedeutsam ist auch die erst 1896 erschienene Schrift Über Wahrheit und Lüge im außermoralischen Sinne aus dem Sommer 1873, in der Nietzsche viele seiner späteren Gedanken vorwegnimmt. Einige Themen – etwa das Verhältnis von Kunst und Wissenschaft – behandelt Nietzsche in allen Zeiträumen, wenn auch aus unterschiedlichen Perspektiven und mit entsprechend unterschiedlichen Antworten. Neben seinen philosophischen Betrachtungen veröffentlichte Nietzsche Gedichte, in denen seine philosophischen Gedanken bald heiter, bald dunkel und schwermütig ausgedrückt werden. Sie hängen mit den Prosawerken zusammen: Die Idyllen aus Messina (1882) gingen in die zweite Auflage der Fröhlichen Wissenschaft ein, während einige der Dionysos-Dithyramben (1888/89) Überarbeitungen von Stücken aus Also sprach Zarathustra sind. Lange Zeit umstritten war die Bedeutung von Nietzsches Nachlass, dessen Rezeption zudem von der fragwürdigen Publikation durch das Nietzsche-Archiv erschwert wurde (vergleiche Nietzsche-Ausgabe). Extrempositionen bezogen hier einerseits Karl Schlechta, der zumindest im vom Archiv publizierten Nachlass nichts fand, was nicht auch in Nietzsches veröffentlichten Werken zu finden sei; und andererseits etwa Alfred Baeumler und Martin Heidegger, die Nietzsches veröffentlichtes Werk nur als „Vorhalle“ sahen, während sich die „eigentliche Philosophie“ im Nachlass befinde. Inzwischen herrscht eine mittlere Position vor, die den Nachlass als Ergänzung der veröffentlichten Werke begreift und darin ein Mittel sieht, Nietzsches Denkwege und Entwicklungen besser nachzuvollziehen. Nietzsches Denken ist auf viele unterschiedliche Weisen interpretiert worden. Es enthält Brüche, verschiedene Ebenen und fiktive Standpunkte lyrischer Personen („Ein Fälscher ist, wer Nietzsche interpretiert, indem er Zitate aus ihm benutzt. […] Im Bergwerk dieses Denkers ist jedes Metall zu finden: Nietzsche hat alles gesagt und das Gegenteil von allem.“, Giorgio Colli). Eine kanonische Wiedergabe ist sehr schwierig, erschwert besonders durch das Medium der gewählten Wiedergabe, den Aphorismus. Mithilfe dieser Textform vermochte Nietzsche die Verschiedenartigkeit der aufgeworfenen Aspekte und Einsichten von gängigen Voraussetzungen abzukoppeln und ineinander zu verschränken, jeden Moment gleichsam neu zu gestalten, dabei aber seinem Postulat treu zu bleiben, allen sokratischen Ordnungsansätzen sein „Mißtrauen hinsichtlich der Ergiebigkeit von Beweisketten“, auszusprechen. Die Frage, ob das weitgehende Fehlen einer Systematik von Nietzsche beabsichtigt war, somit Ausdruck seiner Weltsicht ist, hat man in der Rezeption ausführlich diskutiert. Seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts wird sie vorwiegend bejaht. Vergleiche hierzu unten den Abschnitt Kritik an Religion, Metaphysik und Erkenntnistheorie. === Kritik der Moral === Eines der wichtigsten Objekte von Nietzsches Kritik spätestens seit Menschliches, Allzumenschliches ist die Moral im Allgemeinen und die christliche Moral im Besonderen. Nietzsche wirft der bisherigen Philosophie und Wissenschaft vor, herrschende Moralvorstellungen unkritisch übernommen zu haben; wahrhaftig freies und aufgeklärtes Denken habe sich dagegen, wie der Titel eines Buchs sagt, Jenseits von Gut und Böse zu stellen. Dies hätten alle abendländischen Philosophen seit Platon, insbesondere Kant, versäumt. Nietzsche untersucht oft Werturteile nicht auf ihre vermeintliche Gültigkeit hin, sondern beschreibt Zusammenhänge zwischen der Erschaffung von Werten durch einen Denker oder eine Gruppe von Menschen und deren biologisch-psychologischer Verfassung. Es geht ihm also um die Frage des Werts von moralischen Systemen überhaupt: Diese Form der Kritik auf einer Meta-Ebene ist ein typisches Kennzeichen von Nietzsches Philosophie. Vergleiche: Metaethik. Er selbst führt diese Kritik mit Methoden der Geschichts-, Kultur- und Sprachwissenschaft exzessiv aus und legt dabei ein besonderes Augenmerk auf die Herkunft und Entstehung moralischer Denkweisen, etwa in Zur Genealogie der Moral. Wichtige Begriffe seiner Moralkritik sind: Herren- und Sklavenmoral Herrenmoral sei die Haltung der Herrschenden, die zu sich selbst und ihrem Leben Ja sagen könnten, während sie die anderen als „schlecht“ (Wortstamm: „schlicht“) abschätzig betrachteten. Sklavenmoral sei die Haltung der „Elenden […], Armen, Ohnmächtigen, Niedrigen […], Leidenden, Entbehrenden, Kranken, Hässlichen“, die zuerst ihr Gegenüber – die Herrschenden, Glücklichen, Ja-Sagenden – als „böse“ bewerteten und sich selbst dann als deren „guten“ Gegensatz ausmachten. Es sei vor allem die Moral des Christentums gewesen, die eine solche Sklavenmoral zum Teil selbst hervorgerufen, in jedem Fall aber begünstigt und dadurch zur herrschenden Moral gemacht habe. Ressentiment Dies sei das Grundempfinden der Sklavenmoral. Aus Missgunst, Neid und Schwäche schüfen sich die „Missratenen“ eine imaginäre Welt (zum Beispiel das christliche Jenseits), in der sie selbst die Herrschenden sein und ihren Hass auf die „Vornehmen“ ausleben könnten. Mitleid und Mitfreude Während der Pessimist Schopenhauer Mitleid ins Zentrum seiner Ethik gestellt hat, um seine Philosophie der Verneinung des Lebens umzusetzen, drehte Nietzsche die These vom Mitleiden nach seinem Bruch mit der Schopenhauerschen Philosophie um: Weil das Leben zu bejahen sei, gelte das Mitleid – als Mittel zur Verneinung – als Gefahr. Es vermehre das Leiden in der Welt und stehe dem schöpferischen Willen entgegen, der immer auch vernichten und überwinden müsse – andere oder auch sich selbst. Aktive Mitfreude (im Gegensatz zum passiven Mitleid) oder eine grundsätzliche Lebensbejahung (amor fati) seien die höheren und wichtigeren Werte.Solche Gedankengänge werden von Nietzsche zu einer immer radikaleren Kritik am Christentum, etwa in Der Antichrist, gebündelt. Dieses sei nicht nur nihilistisch in dem Sinne, dass es der sinnlich wahrnehmbaren Welt jeden Wert abspreche – eine Kritik, die in Nietzsches Verständnis auch den Buddhismus treffe –, sondern im Gegensatz zum Buddhismus auch aus Ressentiment geboren. Das Christentum habe jede höhere Art Mensch und jede höhere Kultur und Wissenschaft behindert. Carl Albrecht Bernoulli hebt hervor, dass Nietzsches Anti-Christentum vornehmlich antisemitisch bestimmt sei und dass, wo er ehrlich spricht, „seine Urteile über die Juden allen Antisemitismus an Schärfe weit hinter sich lassen.“ In den späteren Schriften steigert Nietzsche die Kritik an allen bestehenden Normen und Werten: Sowohl in der bürgerlichen Moral als auch im Sozialismus und Anarchismus sieht er Nachwirkungen der christlichen Lehren am Werk. Die ganze Moderne leide an décadence. Dagegen sei nun eine „Umwertung aller Werte“ nötig. Wie genau allerdings die neuen Werte ausgesehen hätten, wird aus Nietzsches Werk nicht eindeutig klar. Diese Frage und ihr Zusammenhang mit den Aspekten des Dionysischen, des Willens zur Macht, des Übermenschen und der Ewigen Wiederkunft werden bis heute diskutiert. Die extremsten Aussagen Nietzsches zur Energie der Größe und zum Anti-Humanismus finden sich in einem Nachlass-Fragment von 1884: „Jene ungeheure Energie der Größe zu gewinnen, um, durch Züchtung und anderseits durch Vernichtung von Millionen Mißrathener, den zukünftigen Menschen zu gestalten und nicht zu Grunde zu gehen an dem Leid, das man schafft, und dessen Gleichen noch nie da war!“ === „Gott ist tot“ – Der europäische Nihilismus === Mit dem Stichwort „Gott ist tot“ wird oft die Vorstellung verbunden, dass Nietzsche den Tod Gottes beschworen oder herbeigewünscht habe. Tatsächlich verstand sich Nietzsche eher als Beobachter. Er analysierte seine Zeit, vor allem die seiner Auffassung nach inzwischen marode gewordene (christliche) Zivilisation. Er war zudem nicht der erste, der die Frage nach dem „Tod Gottes“ stellte. Bereits der junge Hegel äußerte diesen Gedanken und sprach von dem „unendlichen Schmerz“ als einem Gefühl, „worauf die Religion der neuen Zeit beruht – das Gefühl: Gott selbst ist tot“.Die bedeutendste und meistbeachtete Stelle zu diesem Thema ist der Aphorismus 125 aus der Fröhlichen Wissenschaft mit dem Titel „Der tolle Mensch“. Der stilistisch dichte Aphorismus enthält Anspielungen auf klassische Werke der Philosophie und Tragödie. Dieser Text lässt den Tod Gottes als bedrohliches Ereignis erscheinen. Dem Sprecher darin graut vor der Schreckensvision, dass die zivilisierte Welt ihr bisheriges geistiges Fundament weitgehend zerstört habe: Dieser unfassbare Vorgang werde gerade wegen der großen Dimension lange brauchen, um in seiner Tragweite erkannt zu werden: „Ich komme zu früh, sagte er dann, ich bin noch nicht an der Zeit. Diess ungeheure Ereigniss ist noch unterwegs und wandert, – es ist noch nicht bis zu den Ohren der Menschen gedrungen.“ Und es wird gefragt: „Ist nicht die Grösse dieser That [Gott getötet zu haben] zu gross für uns? Müssen wir nicht selber zu Göttern werden, um nur ihrer würdig zu erscheinen?“ Unter anderem aus diesem Gedanken heraus erscheint später die Idee des „Übermenschen“, wie sie vor allem im Zarathustra dargestellt wird: „Todt sind alle Götter: nun wollen wir, dass der Übermensch lebe.“Das Wort vom Tod Gottes findet sich auch in den Aphorismen 108 und 343 der Fröhlichen Wissenschaft, und es taucht auch mehrmals in Also sprach Zarathustra auf. Danach verwendete Nietzsche es nicht mehr, befasste sich aber weiter intensiv mit dem Thema. Beachtenswert ist hier etwa das nachgelassene Fragment Der europäische Nihilismus (datiert 10. Juni 1887), in dem es heißt: „,Gott‘ ist eine viel zu extreme Hypothese.“Nietzsche kommt zu dem Schluss, dass mehrere mächtige Strömungen, vor allem das Aufkommen der Naturwissenschaften und der Geschichtswissenschaft, daran mitgewirkt haben, die christliche Weltanschauung unglaubwürdig zu machen und damit die christliche Zivilisation zu Fall zu bringen. Durch die Kritik der bestehenden Moral, wie Nietzsche selbst sie betreibt, werde die Moral hohl und unglaubwürdig und breche schließlich zusammen. Mit dieser radikalisierten Kritik steht Nietzsche einerseits in der Tradition der französischen Moralisten, wie etwa Montaigne oder La Rochefoucauld, die die Moral ihrer Zeit kritisieren, um zu einer besseren zu gelangen; andererseits betont er mehrfach, er bekämpfe nicht nur die Heuchelei von Moral, sondern die herrschenden „Moralen“ selbst – im Wesentlichen immer die christliche. In diesem Sinne bezeichnet er sich selbst als „Immoralisten“. Es besteht weitgehende Übereinstimmung, dass Nietzsche sich nicht als Befürworter des Nihilismus verstand, sondern ihn als Möglichkeit in der [nach]christlichen Moral, vielleicht auch als eine geschichtliche Notwendigkeit sah. Über den Atheismus Nietzsches im Sinne des Nichtglaubens an einen metaphysischen Gott sagen diese Stellen wenig aus. (Siehe hierzu den Abschnitt Kritik an Religion, Metaphysik und Erkenntnistheorie.) Bezüglich Nietzsches Denkentwicklung ist in der Forschung angemerkt worden, dass er sich ab 1869 zwar mit „nihilistischen“ Themen beschäftigte („Pessimismus, mit dem Nirvana und mit dem Nichts und Nichtsein“), aber eine begriffliche Verwendung von Nihilismus erstmalig in handschriftlichen Notizen Mitte 1880 stattfand. In diese Zeit fällt ein damals populärwissenschaftliches Werk (Nicolai Karlowitsch: Die Entwicklung des Nihilismus. Berlin 1880), welches anhand russischer Zeitungsberichte den sogenannten „Russischen Nihilismus“ rekonstruierte und für Nietzsches Terminologie bedeutend ist. === Kunst und Wissenschaft === Das Begriffspaar „apollinisch-dionysisch“ wurde zwar schon von Schelling verwendet, fand aber erst durch Nietzsche Eingang in die Philosophie der Kunst. Mit den Namen der griechischen Götter Apollon und Dionysos bezeichnet Nietzsche in seiner frühen Schrift Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik zwei gegensätzliche Prinzipien der Ästhetik. Apollinisch ist demnach der Traum, der schöne Schein, das Helle, die Vision, die Erhabenheit; dionysisch ist der Rausch, die grausame Enthemmung, das Ausbrechen einer dunklen Urkraft. In der attischen Tragödie ist Nietzsche zufolge die Vereinigung dieser Kräfte gelungen. Das „Ur-Eine“ offenbare sich dem Dichter dabei in der Form von dionysischer Musik und werde mittels apollinischer Träume in Bilder umgesetzt. Auf der Bühne sei die Tragödie durch den Chor geboren, der dem Dionysischen Raum gibt. Als apollinisches Element komme der Dialog im Vordergrund und der tragische Held hinzu. Die griechische Tragödie sei durch Euripides und den Einfluss des Sokratismus zugrunde gegangen. Hierdurch sei vor allem das Dionysische, aber auch das Apollinische aus der Tragödie getrieben worden, sie selbst sei zu einem bloß dramatisierten Epos herabgesunken. Die Kunst habe sich in den Dienst des Wissens und sokratischer Klugheit gestellt und sei zur reinen Nachahmung geworden. Erst im Musikdrama Richard Wagners sei die Vereinigung der gegensätzlichen Prinzipien wieder gelungen. In späteren Schriften rückt Nietzsche von dieser Position ab; insbesondere sieht er in den Werken Wagners jetzt keinen Neuanfang mehr, sondern ein Zeichen des Verfalls. In dessen letztem Werk Parsifal sieht er Wagner zurückfallen in den überwunden geglaubten christlichen Erlösungszustand. Auch seine grundsätzlichen ästhetischen Betrachtungen variiert er: In den Schriften der „positivistischen“ Periode tritt die Kunst deutlich hinter die Wissenschaft zurück. Nunmehr ist für Nietzsche „der wissenschaftliche Mensch die Weiterentwickelung des künstlerischen“ (Menschliches, Allzumenschliches), ja sogar „[d]as Leben ein Mittel der Erkenntnis“ (Die fröhliche Wissenschaft). Erst nach Also sprach Zarathustra greift Nietzsche wieder deutlicher auf seine frühen ästhetischen Ansichten zurück. In einem Notizbuch von 1888 heißt es: In den späten Schriften entwickelt er auch den Begriff des Dionysischen weiter. Die Gottheit Dionysos dient zur Projektion mehrerer wichtiger Lehren, und Ecce homo schließt mit dem Ausruf: „Dionysos gegen den Gekreuzigten!“ Das Thema des Dionysos ist eine der entscheidenden Konstanten im Leben und Werk Nietzsches, von seiner Geburt der Tragödie bis in den Wahnsinn hinein, wo er mit Dionysos unterschreibt und Cosima Wagner zu seiner Ariadne wird. === Kritik an Religion, Metaphysik und Erkenntnistheorie === Mit der Kritik der Moral hängt eine Kritik bisheriger Philosophien zusammen. Gegen metaphysische und religiöse Konzepte ist Nietzsche grundsätzlich skeptisch. Die Möglichkeit einer metaphysischen Welt sei zwar nicht widerlegbar, aber sie gehe uns auch nichts an: Alle metaphysischen und religiösen Spekulationen seien dagegen psychologisch erklärbar; sie hätten vor allem der Legitimation bestimmter Moralen gedient. Die jeweilige Art zu denken, die Philosophien der Philosophen sind nach Nietzsche aus deren körperlicher und geistiger Verfassung sowie ihren individuellen Erfahrungen abzuleiten. Nietzsche wendet diese These auch in seinen Selbstanalysen an und weist wiederholt darauf hin, dass wir die Welt notwendigerweise stets perspektivisch wahrnehmen und auslegen. Schon die Notwendigkeit, sich in Sprache auszudrücken und damit Subjekte und Prädikate anzusetzen, sei eine vorurteilsbehaftete Auslegung des Geschehens (Über Wahrheit und Lüge im außermoralischen Sinne). Damit behandelte Nietzsche Fragen, die in Ansätzen von der modernen Sprachphilosophie wieder aufgenommen wurden. Er würdigt die Skeptiker als den einzigen „anständigen Typus in der Geschichte der Philosophie“ (Der Antichrist) und äußert grundsätzliche Vorbehalte gegen jede Art von philosophischem System. Es sei unredlich zu meinen, die Welt lasse sich in eine Ordnung einpassen: In seiner Autobiographie Ecce homo beschreibt er ein letztes Mal sein Verhältnis zu Religion und Metaphysik: === Weitere Gedanken === Genealogie In den Werken Nietzsches lässt sich zeigen, dass er schon in jungen Jahren einen Zugang zu den Themen der Metaphysik, der Religion und der Moral, später auch des Ästhetischen, aus einem historisch-kritischen Blickwinkel forderte. Alle Erklärungsmuster, die auf etwas Transzendentes, Unbedingtes, Universales abzielen, seien nichts als Mythen, die in der Geschichte der Erkenntnisentwicklung jeweils auf der Grundlage des Wissens ihrer Zeit entstanden seien. Dieses aufzudecken sei Aufgabe der modernen Wissenschaft und Philosophie. In diesem Sinne verstand sich Nietzsche als Verfechter eines radikalen Aufklärungsgedankens. „[…] erst nachdem wir die historische Betrachtungsart, welche die Zeit der Aufklärung mit sich brachte, in einem so wesentlichen Puncte corrigirt haben, dürfen wir die Fahne der Aufklärung — die Fahne mit den drei Namen: Petrarca, Erasmus, Voltaire — von Neuem weiter tragen. Wir haben aus der Reaction einen Fortschritt gemacht.“ Den Begriff der Genealogie verwendete er erstmals im Titel der Genealogie der Moral. Die Methodik wird dort insbesondere in der zweiten Abhandlung in den Abschnitten 12 bis 14 ausgeführt. Die dahinter stehende Methode beschrieb und praktizierte er bereits in Menschliches, Allzumenschliches (Aphorismen 1 und 2), und bereits in der Zweiten Unzeitgemäßen Betrachtung reflektierte er den Wert des Historischen kritisch, zeigte dessen Grenzen, aber auch seine Unhintergehbarkeit. Genealogie bedeutet für Nietzsche nicht historische Forschung, sondern kritische Erklärung von Gegenwartsphänomenen anhand von (spekulativen) theoretischen Ableitungen aus der Geschichte. Im Mittelpunkt steht eine „Deplausibilisierung“ bisheriger Narrative in Philosophie, Theologie und den kulturwissenschaftlichen Fragen durch historisch gestützte psychologische Thesen. Großen Einfluss hat dieses Konzept Nietzsches auf Michel Foucault. Josef Simon setzte die Methode mit der modernen Dekonstruktion gleich.Perspektivismus Aus seiner Kritik von Metaphysik, Erkenntnistheorie, Moralphilosophie und Religion heraus entwickelte Nietzsche selbst ein pluralistisches Weltbild. Indem er die Welt und auch den Menschen als einen im ständigen Werden befindlichen Organismus auffasste, in dem eine Vielzahl von Elementen im ständigen Gegeneinander ihrer Kräfte danach ringt, sich durchzusetzen, löste er sich vom traditionellen Substanzdenken und von jeglichen kausal-mechanistischen sowie teleologischen Erklärungen. „Alle Einheit ist nur als Organisation und Zusammenspiel Einheit: nicht anders als wie ein menschliches Gemeinwesen eine Einheit ist: also Gegensatz der atomistischen Anarchie; somit ein Herrschafts-Gebilde, das Eins bedeutet, aber nicht eins ist.“ In diesem Organismus als Totalität wirken die verschiedensten Kräfte im Kampf gegeneinander; sie folgen ihrem jeweiligen Willen zur Macht (s. u.). „Leben wäre zu definiren als eine dauernde Form von Prozeß der Kraftfeststellungen, wo die verschiedenen Kämpfenden ihrerseits ungleich wachsen.“ Jeder Organismus führt seinen Kampf aus seiner eigenen Perspektive. Die subjektive Sicht, die zur Perspektive führt, bedeutet nun weder Willkür noch Relativismus. Die jeweils eingenommene Perspektive führt vielmehr dazu, dass der Mensch die Welt, wie sie ihm erscheint, zu einem Bild, zu einer Interpretation zusammenfügt. Wille zur Macht Der „Wille zur Macht“ ist erstens ein Konzept, das zum ersten Mal in Also sprach Zarathustra vorgestellt und in allen nachfolgenden Büchern zumindest am Rande erwähnt wird. Seine Anfänge liegen in den psychologischen Analysen des menschlichen Machtwillens in der Morgenröte. Umfassender führte es Nietzsche in seinen nachgelassenen Notizbüchern ab etwa 1885 aus. Zweitens ist es der Titel eines von Nietzsche auch als Umwertung aller Werte geplanten Werks, das nie zustande kam. Aufzeichnungen dazu gingen vor allem in die Werke Götzen-Dämmerung und Der Antichrist ein. Drittens ist es der Titel einer Nachlasskompilation von Elisabeth Förster-Nietzsche und Peter Gast, die nach Ansicht dieser Herausgeber dem unter Punkt zwei geplanten „Hauptwerk“ entsprechen soll. Die Deutung des Konzepts „Wille zur Macht“ ist stark umstritten. Für Martin Heidegger war es Nietzsches Antwort auf die metaphysische Frage nach dem „Grund alles Seienden“: Laut Nietzsche sei alles „Wille zur Macht“ im Sinne eines inneren, metaphysischen Prinzips, so wie dies bei Schopenhauer der „Wille (zum Leben)“ ist. Die entgegengesetzte Meinung vertrat Wolfgang Müller-Lauter: Danach habe Nietzsche mit dem „Willen zur Macht“ keineswegs eine Metaphysik im Sinne Heideggers wiederhergestellt – Nietzsche war ja gerade Kritiker jeder Metaphysik –, sondern den Versuch unternommen, eine in sich konsistente Deutung allen Geschehens zu geben, die die nach Nietzsche irrtümlichen Annahmen sowohl metaphysischer „Sinngebungen“ als auch eines atomistisch-materialistischen Weltbildes vermeide. Um Nietzsches Konzept zu begreifen, sei es angemessener, von den (vielen) „Willen zur Macht“ zu sprechen, die im dauernden Widerstreit miteinander stehen, sich gegenseitig bezwingen und einverleiben, zeitweilige Organisationen (beispielsweise den menschlichen Leib), aber keinerlei „Ganzes“ bilden, denn die Welt sei ewiges Chaos. Zwischen diesen beiden Interpretationen bewegen sich die meisten anderen, wobei die heutige Nietzscheforschung derjenigen Müller-Lauters deutlich näher steht. Gerade der Begriff Macht weist jedoch bei Nietzsche (mit seiner stets auf das gesunde Individuum ausgerichteten Weltanschauung) auf neuere positive Verständnisformen voraus, wie wir sie bei Hannah Arendt finden – hier jedoch bezogen auf den Menschen in der Gesellschaft: die grundsätzliche Möglichkeit aus sich heraus gestaltend „etwas zu machen“. Ewige Wiederkunft Nietzsches zuerst in Die fröhliche Wissenschaft auftretender und in Also sprach Zarathustra als Höhepunkt vorgeführter „tiefster Gedanke“, der ihm auf einer Wanderung im Engadin nahe Sils-Maria kam, ist die Vorstellung, dass alles Geschehende schon unendlich oft geschah und unendlich oft wiederkehren wird. Man solle deshalb so leben, dass man die immerwährende Wiederholung eines jeden Augenblickes nicht nur ertrage, sondern sogar begrüße. „Doch alle Lust will Ewigkeit – will tiefe, tiefe Ewigkeit“ lautet folglich ein zentraler Satz in Also sprach Zarathustra. Eng mit der „Ewigen Wiederkunft“, für die Nietzsche trotz seiner nur sehr oberflächlichen naturwissenschaftlichen Bildung auch wissenschaftliche Begründungen zu geben versuchte, hängt wohl der Amor fati (lat. „Liebe zum Schicksal“) zusammen. Dies ist für Nietzsche eine Formel zur Bezeichnung des höchsten Zustands, den ein Philosoph erreichen kann, die Form der höchstgesteigerten Lebensbejahung.Über die „ewige Wiederkunft“, ihre Bedeutung und Stellung in Nietzsches Gedanken herrscht keine Einigkeit. Während einige Deuter sie als Zentrum seines gesamten Denkens ausmachten, sahen andere sie bloß als fixe Idee und störenden „Fremdkörper“ in Nietzsches Lehren. Übermensch An einen Fortschritt in der Geschichte der Menschheit – oder in der Welt überhaupt – glaubt Nietzsche nicht. Für ihn ist folglich das Ziel der Menschheit nicht an ihrem (zeitlichen) Ende zu finden, sondern in ihren immer wieder auftretenden höchsten Individuen, den Übermenschen. Die Gattung Mensch als Ganzes sieht er nur als einen Versuch, eine Art Grundmasse, aus der heraus er „Schaffende“ fordert, die „hart“ und mitleidlos mit anderen und vor allem mit sich selbst sind, um aus der Menschheit und sich selbst ein wertvolles Kunstwerk zu schaffen. Als negatives Gegenstück zum Übermenschen wird in Also sprach Zarathustra der letzte Mensch vorgestellt. Dieser steht für das schwächliche Bestreben nach Angleichung der Menschen untereinander, nach einem möglichst risikolosen, langen und „glücklichen“ Leben ohne Härten und Konflikte. Das Präfix „Über“ in der Wortschöpfung „Übermensch“ kann nicht nur für eine höhere Stufe relativ zu einer anderen stehen, sondern auch im Sinne von „hinüber“ verstanden werden, kann also eine Bewegung ausdrücken. Der Übermensch ist daher nicht unbedingt als Herrenmensch über dem letzten Menschen zu sehen. Eine rein politische Deutung gilt der heutigen Nietzscheforschung als irreführend. Der „Wille zur Macht“, der sich im Übermenschen konkretisieren soll, ist demnach nicht etwa der Wille zur Herrschaft über andere, sondern ist als Wille zum Können, zur Selbstbereicherung, zur Selbstüberwindung zu verstehen. == Einflüsse == Aus seiner Jugend im Pfarrhaus und im kleinbürgerlich-frommen „Frauenhaushalt“ ergaben sich Nietzsches erste praktische Erfahrungen mit dem Christentum. Schon sehr bald entwickelte er hier einen kritischen Standpunkt und las Schriften von Ludwig Feuerbach und David Friedrich Strauß. Wann genau diese Entfremdung von der Familie begann und welchen Einfluss sie auf Nietzsches weiteren Denk- und Lebensweg hatte, ist Gegenstand einer andauernden Debatte in der Nietzsche-Forschung. Der frühe Tod des Vaters dürfte Nietzsche beeinflusst haben, jedenfalls wies er selbst oft auf dessen Bedeutung für ihn hin. Dabei ist zu beachten, dass er ihn selbst kaum kannte, sondern sich aus Familienerzählungen ein wohl idealisiertes Bild des Vaters machte. Als freundlicher und beliebter, andererseits körperlich schwacher und kranker Landpfarrer taucht er in Nietzsches Selbstanalysen immer wieder auf. Schon in seiner Jugend war Nietzsche von den Schriften Ralph Waldo Emersons und Lord Byrons beeindruckt, den seinerzeit tabuisierten Hölderlin erkor er zu seinem Lieblingsdichter. Machiavellis Werk Der Fürst las er bereits privat in der Schulzeit. Wie stark der Einfluss des Dichters Ernst Ortlepp oder die Ideen Max Stirners beziehungsweise des ganzen Junghegelianismus auf Nietzsche waren, ist umstritten. Der Einfluss Ortlepps ist vor allem von Hermann Josef Schmidt hervorgehoben worden. Über den Einfluss Stirners auf Nietzsche wird bereits seit den 1890ern debattiert. Einige Interpreten sahen hier höchstens eine flüchtige Kenntnisnahme, andere dagegen, allen voran Eduard von Hartmann, erhoben einen Plagiatsvorwurf. Bernd A. Laska vertritt die Außenseiter-These, Nietzsche habe infolge der Begegnung mit dem Werk Stirners, das ihm vom Junghegelianer Eduard Mushacke vermittelt worden sei, eine „initiale Krise“ durchgemacht, die ihn zu Schopenhauer führte.Im Philologiestudium bei Ritschl lernte Nietzsche neben den klassischen Werken selbst vor allem philologisch-wissenschaftliche Methoden kennen. Dies dürfte einerseits die Methodik seiner Schriften beeinflusst haben, was insbesondere in der Genealogie der Moral deutlich wird, andererseits aber auch sein Bild von der strengen Wissenschaft als mühselige Arbeit für mittelmäßige Geister. Seine eher negative Haltung zum Wissenschaftsbetrieb an den Universitäten beruhte zweifellos auf eigenen Erfahrungen sowohl als Student als auch als Professor. An der Universität versuchte Nietzsche den von ihm geschätzten Jacob Burckhardt zu Gesprächen zu gewinnen, las einige von dessen Büchern und hörte sich Vorlesungen des Kollegen an. Mit dem Freund Franz Overbeck hatte er in der Basler Zeit einen regen Gedankenaustausch, auch später half ihm Overbeck in theologischen und kirchengeschichtlichen Fragen weiter. Werke bekannter Schriftsteller wie Stendhal, Tolstoi und Dostojewski machte Nietzsche sich für sein eigenes Denken ebenso zunutze wie solche eher unbekannter Autoren wie William Edward Hartpole Lecky oder Fachgelehrter wie Julius Wellhausen. Zu seinen Ansichten über die moderne décadence las und bewertete er etwa George Sand, Gustave Flaubert und die Brüder Goncourt. Schließlich lässt sich Nietzsches Interesse an Wissenschaften von der Physik (besonders Roger Joseph Boscovichs System) bis zur Nationalökonomie belegen. Auf die besondere Bedeutung der kritischen Auseinandersetzung mit dem Buch Der Ursprung der moralischen Empfindungen (1877) von Paul Rée verwies Nietzsche in der Vorrede zur Genealogie der Moral. Für sein Wissen über die Physiologie, auch in der kritischen Auseinandersetzung mit dem Darwinismus, stützte sich Nietzsche stark auf das Werk Der Kampf der Theile im Organismus. Ein Beitrag zur Vervollständigung der mechanischen Zweckmäßigkeitslehre des Anatomen Wilhelm Roux. Er meinte auch, durch seine Krankheiten ein besseres Wissen über Medizin, Physiologie und Diätetik erlangt zu haben als manche seiner Ärzte. === Wagner und Schopenhauer === Ab Mitte der 1860er übten die Werke Arthur Schopenhauers großen Einfluss auf Nietzsche aus; dabei bewunderte Nietzsche aber schon zu Beginn weniger den Kern der Schopenhauerschen Lehre als die Person und den „Typus“ Schopenhauer, das heißt in seiner Vorstellung den wahrheitssuchenden und „unzeitgemäßen“ Philosophen. Eine weitere wesentliche Inspiration waren dann die Person und die Musik Richard Wagners. Die Schriften Richard Wagner in Bayreuth (Vierte Unzeitgemäße Betrachtung) und vor allem die Geburt der Tragödie feiern dessen Musikdrama als Überwindung des Nihilismus ebenso wie eines platten Rationalismus. Diese Verehrung schlug spätestens 1879 nach Wagners vermeintlicher Hinwendung zum Christentum (in Parsifal) in Feindschaft um. Nietzsche rechtfertigte seinen radikalen Sinneswandel später in Der Fall Wagner und in Nietzsche contra Wagner. Dass Nietzsche sich lange nach Wagners Tod 1883 beinahe zwanghaft mit dem einstigen „Meister“ beschäftigte, hat einige Aufmerksamkeit gefunden: Über das komplizierte Verhältnis zwischen Nietzsche und Wagner (sowie Wagners Frau Cosima) gibt es viele Untersuchungen mit teilweise unterschiedlichen Ergebnissen. Neben den von Nietzsche genannten weltanschaulichen und kunstphilosophischen Differenzen haben sicherlich auch persönliche Gründe eine Rolle bei Nietzsches „Abfall“ von Wagner gespielt. Schopenhauer sah er nun kritischer und meinte, gerade in dessen Pessimismus und Nihilismus ein zeittypisches und daher rückwärtsgewandtes Phänomen zu erkennen. Freilich fand er auch 1887 noch lobende Worte für Schopenhauer, der „als Philosoph der erste eingeständliche und unbeugsame Atheist [war], den wir Deutschen gehabt haben“: === Nietzsches Rezeption anderer Philosophien === Sein Wissen über Philosophie und Philosophiegeschichte hat Nietzsche sich nicht systematisch aus den Quellen angeeignet. Er hat es vornehmlich aus Sekundärliteratur entnommen: vor allem aus Friedrich Albert Langes Geschichte des Materialismus sowie Kuno Fischers Geschichte der neuern Philosophie zu späteren Autoren. Platon und Aristoteles waren ihm aus der Philologie bekannt und auch Gegenstand einiger seiner philologischen Vorlesungen, aber besonders Letzteren kannte er nur lückenhaft. Mit den Vorsokratikern befasste er sich zu Anfang der 1870er Jahre intensiv, vor allem auf Heraklit kam er noch später zurück. Für die Ethik Spinozas, die Nietzsche zeitweise anregte, war ihm Fischers Werk die Hauptquelle. Kant lernte er ebenfalls durch Fischer (und Schopenhauer, s. oben) kennen; im Original las er vermutlich nur die Kritik der Urteilskraft. Zum deutschen Idealismus um Hegel übernahm er für einige Zeit die scharfe Kritik Schopenhauers. Später ignorierte er die Richtung. Bedenkenswert ist, dass sich bei Nietzsche zu den Junghegelianern (Feuerbach, Bauer und Stirner) keine nennenswerten Äußerungen finden, obwohl er sie als Denker einer „geistesregen Zeit“ ansah, auch keine zu Karl Marx, obwohl er sich verschiedentlich über den politischen Sozialismus äußerte. Weitere von Nietzsche rezipierte Quellen waren die französischen Moralisten wie La Rochefoucauld, Montaigne, Vauvenargues, Chamfort, Voltaire und Stendhal. Die Lektüre Blaise Pascals vermittelte ihm einige neue Einsichten zum Christentum. Hin und wieder setzte sich Nietzsche polemisch mit den seinerzeit populären Philosophen Eugen Dühring, Eduard von Hartmann und Herbert Spencer auseinander. Vor allem von Letzterem und den deutschen Vertretern der Evolutionstheorie um Ernst Haeckel bezog er sein Wissen um die Lehren Charles Darwins. Die intensive Quellenforschung der letzten Jahrzehnte hat zahlreiche Bezüge in Nietzsches Werken ermittelt, unter anderem zu seinen Zeitgenossen Afrikan Spir und Gustav Gerber, deren Sprach- und Erkenntnistheorie überraschende Ähnlichkeiten mit der Nietzsches aufweisen. Vereinzelt ist in der Nietzsche-Forschung darauf hingewiesen worden, dass Nietzsches Kritik an anderen Philosophien und Lehren auf Missverständnissen beruhe, eben weil er sie nur durch entstellende Sekundärliteratur kannte. Dies betreffe insbesondere Nietzsches Aussagen zu Kant und der Evolutionslehre. Aber auch dieses Thema ist umstritten. == Wirkung == == Werke und Ausgaben == Eingeklammerte Jahreszahlen geben das Jahr der Entstehung, mit Kommata abgetrennte das Jahr der Erstveröffentlichung an. === Philologische Werke === Zur Geschichte der Theognideischen Spruchsammlung. 1867. De Laertii Diogenis fontibus. 1868/69. Homer und die klassische Philologie. 1869. Analecta Laertiana. 1870. Der florentinische Tractat über Homer und Hesiod. 1870 (siehe: Certamen Homeri et Hesiodi). Das griechische Musikdrama. 1870 (Kritische Studienausgabe (KSA) I, 513–549) === Philosophische Werke, Dichtungen und Autobiografisches === Fünf Vorreden zu fünf ungeschriebenen Büchern. 1872 KSA 1: I. Über das Pathos der Wahrheit. II. Gedanken über die Zukunft unserer Bildungsanstalten. III. Der griechische Staat. IV. Das Verhältnis der Schopenhauerischen Philosophie zu einer deutschen Cultur. V. Homers Wettkampf. Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik. 1872 KSA 1. Über Wahrheit und Lüge im außermoralischen Sinne. 1873 KSA 1. Die Philosophie im tragischen Zeitalter der Griechen. 1873 KSA 1. Unzeitgemäße Betrachtungen. 1873–1876 KSA 1. David Strauß, der Bekenner und der Schriftsteller. 1873. Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben. 1874. Schopenhauer als Erzieher. 1874. Richard Wagner in Bayreuth. 1876. Menschliches, Allzumenschliches – Ein Buch für freie Geister. (mit zwei Fortsetzungen), 1878–1880 KSA 2 Der Wanderer und sein Schatten 1880 Morgenröte. Gedanken über die moralischen Vorurteile. 1881 KSA 3. Idyllen aus Messina. 1882 KSA 3. Die fröhliche Wissenschaft („la gaya scienza“). 1882 KSA 3. Also sprach Zarathustra – Ein Buch für Alle und Keinen. 1883–1885 KSA 4. Jenseits von Gut und Böse – Vorspiel einer Philosophie der Zukunft. 1886 KSA 5. Zur Genealogie der Moral – Eine Streitschrift. 1887 KSA 5. Der Fall Wagner – Ein Musikanten-Problem. 1888 KSA 6. Dionysos-Dithyramben. 1889 KSA 6. Götzen-Dämmerung oder Wie man mit dem Hammer philosophiert. 1889 KSA 6. Der Antichrist – Fluch auf das Christentum. 1895 KSA 6. Nietzsche contra Wagner. 1895 KSA 6. Ecce homo – Wie man wird, was man ist. (1888) 1908 KSA 6. === Lyrik (Auswahl) === Ecce homo (Ja, ich weiß, woher ich stamme). „Mein Glück!“ Die Tauben von San Marco seh ich wieder. Vereinsamt (Die Krähen schrein und ziehen schwirren Flugs zur Stadt). Der geheimnisvolle Nachen (Gestern nachts, als alles schlief). Das trunkene Lied (O Mensch! Gib acht!). Venedig (An der Brücke stand jüngst ich in brauner Nacht). === Musik === Seit seiner Jugend musizierte Nietzsche und komponierte zahlreiche kleinere Stücke. Bedeutend sind: Sämtliche Werke für Klavier solo eingespielt von Michael Krücker für das Label NCA, SACD (Super-Audio-CD), Order No.: 60189, ISBN 978-3-86735-717-3. Manfred-Meditation, 1872. Zum Manfred von Lord Byron. Nach der vernichtenden Kritik Hans von Bülows gab Nietzsche das Komponieren größtenteils auf. mp3-Datei Hymnus an die Freundschaft, 1874. Hörprobe (wav-Format; 421 kB) Gebet an das Leben, NWV 41, 1882, und Hymnus an das Leben, Chor und Orchester, 1887: Nietzsche vertonte 1882 ein Gedicht von Lou von Salomé. Peter Gast arbeitete dies zu einer Komposition für gemischten Chor und Orchester um, die 1887 unter Nietzsches Namen veröffentlicht wurde. mp3-Datei === Ausgaben === Gesamtausgaben: vollständige, ausführlich kommentierte Ausgaben: Werke. Kritische Gesamtausgabe Sigle: KGW [auch: KGA (Verlag)], hrsg. von Giorgio Colli und Mazzino Montinari. Berlin und New York 1967ff. Briefe. Kritische Gesamtausgabe Sigle: KGB, hrsg. von Giorgio Colli und Mazzino Montinari. Berlin und New York 1975–2004. Karl Schlechta (Hrsg.): Friedrich Nietzsche, Werke in drei Bänden (mit Index-Band). 8. Auflage. Hannover/München 1966 (Vgl. dazu Nietzsche-Ausgabe#Die Schlechta-Ausgabe und Kritik daran).Studienausgaben: Taschenbuchausgaben: Sämtliche Werke, Kritische Studienausgabe in 15 Bänden Sigle: KSA, hrsg. von Giorgio Colli und Mazzino Montinari. München und New York 1980, ISBN 3-423-59065-3. Sämtliche Briefe. Kritische Studienausgabe Sigle: KSB, hrsg. von Giorgio Colli und Mazzino Montinari. München und New York 1986, ISBN 3-423-59063-7.Nietzsche Online: 70 Bände Editionen der Werke (KGW) und Briefe (KGB) Friedrich Nietzsches von Giorgio Colli und Mazzino Montinari: über 80 Monographien und Referenzwerke wie das Nietzsche-Wörterbuch sowie alle 38 Jahrgänge der Nietzsche-Studien – insgesamt über 100.000 Buchseiten bei De Gruyter (10/2010). Laut Weimarer Klassik Stiftung hat die Deutsche Forschungsgemeinschaft rund 350.000 Euro bewilligt für eine digitale Aufbereitung des kompletten Nachlasses von Nietzsche. Eine adäquate Internet-Plattform und eine Archivdatenbank soll innerhalb von drei Jahren zur Verfügung stehen. == Literatur == Philosophiebibliographie: Friedrich Nietzsche – Zusätzliche Literaturhinweise zum Thema (Nähere bibliographische Angaben finden sich in den meisten der aufgeführten Bücher und Titel, siehe auch die Bibliographien bei den Weblinks.) === Zur Biografie === Charles Andler: Nietzsche, sa vie et sa pensée. 6 Bände. Brossard, Paris 1920–1931, spätere Auflagen (3 Bände, jeweils zwei zusammengefasst) bei Gallimard, Paris, ISBN 2-07-020127-9, ISBN 2-07-020128-7, ISBN 2-07-020129-5 (detaillierte Gesamtdarstellung, Rezeptionsgrundlage vieler französischer Autoren). Sabine Appel: Friedrich Nietzsche: Wanderer und freier Geist. Eine Biographie. Beck, München 2011, ISBN 978-3-406-61368-5. Raymond J. Benders, Stephan Oettermann: Friedrich Nietzsche: Chronik in Bildern und Texten. Hanser, München 2000, ISBN 3-446-19877-6. 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De Gruyter, Berlin/Boston 2012, ISBN 978-3-11-028683-0. Barbara Neymeyr: Kommentar zu Nietzsches Unzeitgemässen Betrachtungen. I. David Strauss der Bekenner und der Schriftsteller. II. Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben (= Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken. Bd. 1/2). De Gruyter, Berlin/Boston 2020, ISBN 978-3-11-028682-3. Sarah Scheibenberger: Kommentar zu Nietzsches Ueber Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne (= Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken. Bd. 1/3). De Gruyter, Berlin/Boston 2016, ISBN 978-3-11-045873-2. Barbara Neymeyr: Kommentar zu Nietzsches Unzeitgemässen Betrachtungen. III. Schopenhauer als Erzieher. IV. Richard Wagner in Bayreuth (= Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken. Bd. 1/4). De Gruyter, Berlin/Boston 2020, ISBN 978-3-11-067789-8. Jochen Schmidt, Sebastian Kaufmann: Kommentar zu Nietzsches Morgenröthe. Idyllen aus Messina (= Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken. Bd. 3/1). De Gruyter, Berlin / Boston 2015, ISBN 978-3-11-029303-6. Andreas Urs Sommer: Kommentar zu Nietzsches Jenseits von Gut und Böse (= Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken. Bd. 5/1). De Gruyter, Berlin/Boston 2016, ISBN 978-3-11-029307-4. Andreas Urs Sommer: Kommentar zu Nietzsches Zur Genealogie der Moral (= Heidelberger Akademie der Wissenschaften: Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken. Bd. 5/2). De Gruyter, Berlin/Boston 2019, ISBN 978-3-11-029308-1. Andreas Urs Sommer: Kommentar zu Nietzsches Der Fall Wagner. Götzen-Dämmerung (= Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken. Bd. 6/1). De Gruyter, Berlin/Boston 2012, ISBN 978-3-11-028683-0. Andreas Urs Sommer: Kommentar zu Nietzsches Der Antichrist. Ecce homo. Dionysos-Dithyramben. Nietzsche contra Wagner (= Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken. Bd. 6/2). De Gruyter, Berlin/Boston 2013, ISBN 978-3-11-029277-0.Zur Rezeptionsgeschichte Richard Krummel: Nietzsche und der deutsche Geist. De Gruyter, Berlin/New York 1974–2006. Klemens Dieckhöfer: Gerhart Hauptmann (1862–1946) und Nietzsche. Nietzsches Einfluß auf Gerhart Hauptmann und dessen Erlebnis der Natur. In: Medizinhistorische Mitteilungen. Zeitschrift für Wissenschaftsgeschichte und Fachprosaforschung. Band 34, 2015, S. 123–128.Jahrbücher Nietzsche-Studien: Internationales Jahrbuch für die Nietzsche-Forschung. De Gruyter, Berlin, ISSN 0342-1422. Nietzscheforschung: Jahrbuch der Nietzsche-Gesellschaft. Hrsg. im Auftrag der Förder- und Forschungsgemeinschaft Friedrich Nietzsche e. V. Akademie-Verlag, Berlin. New Nietzsche Studies. The Journal of the Nietzsche Society. ISSN 1091-0239. === Ein Kuriosum: My Sister and I === Im Jahr 1951 erschien in den USA ein Buch mit dem Titel My Sister and I, als dessen Autor Friedrich Nietzsche angegeben wurde. Nietzsche soll diese angeblich autobiographische Schrift 1889–1890 während seines Aufenthalts in der Jenaer Nervenklinik verfasst haben. Ein Originalmanuskript ist jedoch nicht überliefert. Als Übersetzer ins Englische ist Oscar Levy genannt, der Herausgeber der ersten englischsprachigen Ausgabe von Nietzsches Werken. Levy war aber schon 1946 gestorben, und seine Erben bestritten, dass er etwas mit dem Werk zu tun habe. Da keine Belege für die behauptete Urheberschaft Nietzsches oder Levys vorlagen, wurde die Schrift von der Fachwelt überwiegend als Fälschung zurückgewiesen oder ignoriert. In den 1980er-Jahren stellten einzelne Stimmen diese Zurückweisung infrage. Teile der Kontroverse um die Autorschaft sind in Neuauflagen des Buches abgedruckt, etwa in: Friedrich Nietzsche, Oscar Levy (Übers.): My Sister and I. Amok Books, Los Angeles 1990, ISBN 1-878923-01-3. == Belletristik == Andrea und Dirk Liesemer: Tage in Sorrent. Mareverlag, Hamburg 2022, ISBN 978-3-86648-601-0. Alexander Peer: Bis dass der Tod uns meidet. Limbus, Innsbruck 2013, ISBN 978-3-902534-75-0. Christian Schärf: Ein Winter in Nizza. Eichborn, Frankfurt 2014, ISBN 978-3-8479-0580-6. Bernhard Setzwein: Nicht kalt genug. Haymon, Innsbruck 2000, ISBN 3-85218-320-0. Irvin D. Yalom: Und Nietzsche weinte. Ernst Kabel Verlag, Hamburg 1994, ISBN 3-8225-0294-4. == Filme == Friedrich Nietzsche. Kriminalgeschichte einer Verfälschung. Deutschland/ZDF 1999, 60 Min. Buch und Regie: Reinhold Jaretzky == Weblinks == === Faksimile, Texte und Zitate === Digitale Faksimile Gesamtausgabe (DFGA) – Digitale Reproduktion des gesamten Nietzschenachlasses, hg. von P. D'Iorio, Paris, Nietzsche Source, 2009–. Digitale Kritische Gesamtausgabe Werke und Briefe (eKGWB) – sämtliche Werke gemäß der Kritischen Gesamtausgabe, hrsg. von Colli/Montinari, hg. von P. D'Iorio, Paris, Nietzsche Source, 2009–. Werke von Friedrich Nietzsche bei Zeno.org. – Diese Seite folgt der Schlechta-Ausgabe, die bei den Spätwerken und beim Nachlass nicht fehlerfrei ist. Werke von Friedrich Nietzsche im Projekt Gutenberg-DE Werke von Friedrich Nietzsche im Project Gutenberg Friedrich Nietzsche: Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik. Fritzsch, Leipzig 1872. (Digitalisat und Volltext im Deutschen Textarchiv). Friedrich Nietzsche: Also sprach Zarathustra. [Bd. 1]. Schmeitzner, Chemnitz 1883 (Digitalisat und Volltext im Deutschen Textarchiv). Bd. 2. Schmeitzner, Chemnitz 1883. (Digitalisat und Volltext im Deutschen Textarchiv). Bd. 3. Schmeitzner, Chemnitz 1884. (Digitalisat und Volltext im Deutschen Textarchiv). Bd. 4. Naumann, Leipzig 1891. (Digitalisat und Volltext im Deutschen Textarchiv). www.friedrichnietzsche.de u. a. Volltextsuche (Anmeldung erforderlich) Nietzsche-Briefwechsel der Klassik Stiftung Weimar/Goethe- und Schiller-Archiv – vollständiges Briefverzeichnis, Hunderte Faksimiles === Linksammlungen, Bibliografie und Untersuchungen === Literatur von und über Friedrich Nietzsche im Katalog der Deutschen Nationalbibliothek Werke von und über Friedrich Nietzsche in der Deutschen Digitalen Bibliothek Friedrich Nietzsche im Internet Archive Friedrich Nietzsche Gesammelte Briefe vorgelesen bei Anchor Publikationen von und über Friedrich Nietzsche im Katalog Helveticat der Schweizerischen Nationalbibliothek Zeitungsartikel über Friedrich Nietzsche in den Historischen Pressearchiven der ZBW Malcolm Brown: Nietzsche Chronicle – engl. chronologische Biographie Friedrich Nemec: Friedrich Nietzsche. In: Neue Deutsche Biographie (NDB). Band 19, Duncker & Humblot, Berlin 1999, ISBN 3-428-00200-8, S. 249–253 (Digitalisat). R. Lanier Anderson: Friedrich Nietzsche. In: Edward N. Zalta (Hrsg.): Stanford Encyclopedia of Philosophy. Brian Leiter: Nietzsche’s Moral and Political Philosophy. In: Edward N. Zalta (Hrsg.): Stanford Encyclopedia of Philosophy. Weimarer Nietzsche-Bibliographie der Klassik Stiftung Weimar/Herzogin Anna Amalia Bibliothek – Bibliographie, Stand: August 2008. www.f-nietzsche.de – private Website mit vielen weiterführenden und aktuellen Informationen Eintrag im philolex – Website mit Betonung von Nietzsches negativem, faschistoiden Nachleben Johann Kreuzer: Artikel „Friedrich Nietzsche“ im UTB-Online-Wörterbuch Philosophie Nietzsche von Michel Onfray und Maximilien Le Roy Rezension zum Graphic Novel-Portrait Eduard His: Friedrich Nietzsches Heimatlosigkeit. In: Basler Zeitschrift für Geschichte und Altertumskunde. Bd. 40, 1941, doi:10.5169/seals-115271#163, S. 159–186. Andreas Urs Sommer: Friedrich Nietzsche. In: Historisches Lexikon der Schweiz. 24. Januar 2018. Nietzsche-Haus in Sils Maria === Kompositionen === Noten und Audiodateien von Friedrich Nietzsche im International Music Score Library Project == Varia == MDR Figaro sendete am 30. Mai 2015 ein fast einstündiges Feature von Katrin Schumacher mit dem Titel Musikalische Stille – Von einem Philosophen, einem Hotel und der Musik am Ende der Welt, das auch Nietzsche und seine Zeit in Sils Maria im Engadin zum Thema hatte. Kurz vor dem 100. Todesjahr Nietzsches wurde 1999 für Weimar, die Kulturhauptstadt Europas, das Projekt "Rosebud Red – Songs of Goethe and Nietzsche" realisiert. Die Doppel-CD besteht aus einer Compilation oft rapartiger Vertonungen von Goethe- und Nietzsche-Texten. Darunter beispielsweise die Titel "Jetzt und ehedem", "Vereinsamt", "Mädchen-Lied" und "Also sprach Zarathustra". Zum 100. Todesjahr Nietzsches gab die Deutsche Post im Jahr 2000 ein Sonderpostwertzeichen mit seinem Porträt zum Nennwert 110 Pfennigen heraus (Michel-Nr. 2131). Westdeutscher Rundfunk sendet seit 2014 die Zeichentrickserie Knietzsche – Der kleinste Philosoph der Welt, die Kindern philosophische Fragestellungen näherbringen soll. Historisches Museum Basel, Barfüsserkirche: Übermensch. Friedrich Nietzsche und die Folgen. Bis 22. März 2020 Rezension, NZZ, 16. November 2019 == Anmerkungen ==
https://de.wikipedia.org/wiki/Friedrich_Nietzsche
Eisen
= Eisen = Eisen ist ein chemisches Element mit dem Symbol Fe (lateinisch ferrum ‚Eisen‘) und der Ordnungszahl 26. Es gehört zu den Übergangsmetallen, die im Periodensystem die 8. Nebengruppe (Eisen-Platin-Gruppe), nach der neuen Zählung die Gruppe 8 (Eisengruppe) bilden. Eisen ist, auf den Massenanteil (ppmw) bezogen, nach Sauerstoff, Silicium und Aluminium das vierthäufigste Element in der Erdkruste und nach Aluminium das häufigste Metall. Auf der Erde kommt es, außer in verschiedenen Erzen und Eisenmineralien, in Form einer Legierung in Eisenmeteoriten vor. Aus diesen wurden schon vor der eigentlichen Eisenzeit, teilweise schon 3000 Jahre vor unserer Zeitrechnung, Kultgegenstände, Werkzeuge oder Waffen hergestellt. Heute werden vor allem die Eisenerze Magnetit, Hämatit und Siderit abgebaut. Chemisch reines Eisen ist ein silberweißes, verhältnismäßig weiches, dehnbares, recht reaktionsfreudiges Metall. Es wird als ferromagnetisches Material von Magneten angezogen und kann eigene Magnetfelder ausbilden. Reines Eisen wird in der Praxis relativ selten verwendet, aber es geht mit etwa 80 anderen Elementen Legierungen ein, deren wichtigste Stahl und Gusseisen sind. Diese besitzen für viele Industriezweige wie die Automobilindustrie, den Maschinenbau, das Bau- und Transportwesen und die Energieerzeugung eine unersetzliche wirtschaftliche und technische Bedeutung. Eisen ist ein essentielles Spurenelement für fast alle Lebewesen. Bei Tieren ist es ein Bestandteil des Blutes in Form von Hämoglobin in den roten Blutkörperchen und auch für die Bildung von Proteinen und Enzymen von Bedeutung. == Begriffsverwendung und Wortherkunft == Neben dem chemischen Element als Reineisen wurden früher auch die praktisch viel bedeutsameren Eisenlegierungen meist als „Eisen“ bezeichnet (z. B. Schmiedeeisen). Im 20. Jahrhundert setzte sich für schmiedbare Eisenlegierungen mit einem Kohlenstoffanteil unter 2 Massenprozent die Bezeichnung „Stahl“ durch. Bei größerem Kohlenstoffanteil gilt weiterhin die Bezeichnung „Gusseisen“. Bis in das 21. Jahrhundert wurde von Sprachwissenschaftlern (wie zum Beispiel Rudolf Thurneysen oder Stefan Schumacher) angenommen, das keltische und germanische Wort für Eisen (keltisch *isarnon, germanisch *isarna) sei aus dem Illyrischen entlehnt worden. Auch wurde wegen des Gegensatzes zur weicheren Bronze eine Verwandtschaft von *isarnon zu lateinisch ira „Zorn, Heftigkeit“ vertreten. Das neuhochdeutsche Wort Eisen (von mittelhochdeutsch īsen, und zu īsīn „eisern“) wird über althochdeutsch īsa(r)n, aus urgermanisch *īsarnan oder *eisarna-, und dieses aus gallisch *īsarnon hergeleitet;. *isarnan und isarnon setzen sich außer im deutschen Eisen auch in den übrigen germanischen Sprachen (englisch iron, nordfriesisch joorn, westfriesisch izer, niederländisch IJzer) sowie in keltischen Sprachen fort (bretonisch houarn, kymr. haearn, irisches und schottisches Gälisch iarann, Manx yiarn). Deswegen werden seit Ende des 20. Jahrhunderts auch andere Entlehnungswege als möglich angenommen. == Geschichte == Die ältere Kulturperiode der Bronzezeit ging nur sehr allmählich in die jüngere Eisenzeit über. Bei manchen Völkern, wie zum Beispiel aus dem Gebiet des heutigen Indiens, denen leicht verhüttbare Eisenerze zur Verfügung standen, ist eine zeitliche Trennung kaum vorhanden. Archäologen und Wissenschaftler für Technikgeschichte nehmen an, dass sich die Metallurgie von Eisen nur langsam gegen Bronze durchsetzte. So sind die als Nebenprodukt der Kupfer- und Bronzeherstellung in einfachen Rennöfen zufällig entstehenden Eisenschlacken durch den hohen Kohlenstoff- und Schwefelanteil spröde. Das direkt in solchen Öfen aus Eisenerzen ab etwa 2000 v. Chr. erzeugte Eisen ist recht weich, rostet leicht und ist damit Zinnbronze in den Eigenschaften unterlegen. Die Vorteile des Eisens gegenüber der Bronze lagen vor allem in der einfacheren Verarbeitung, weil nur ein Rohstoff benötigt wird. Erst mit der Verbreitung des Aufkohlens zum Stahl (zum Beispiel um 1000 v. Chr. in Zypern) wurde es zum überlegenen Werkstoff. Belege für die Nutzung von Eisen in den verschiedenen Kulturen durch archäologische Funde sind gegenüber den Funden von Bronze relativ selten. Zum einen wurde Eisen in den ältesten Perioden der Geschichte nur in geringem Umfang genutzt, zum anderen neigt Eisen an feuchter Luft, im Wasser und in der nassen Erde zur Korrosion, wodurch viele Gegenstände nicht erhalten blieben oder stark korrodierte Werkzeuge häufig wieder eingeschmolzen wurden. Nur besondere Umstände oder große Abmessungen des Gegenstandes verhinderten den Verlust solcher Stücke, so dass aus der Bronzezeit nur etwa 150 Eisenartefakte erhalten geblieben sind. === Früheste Nutzung von Meteoriteneisen === Bevor Menschen in diversen Kulturkreisen lernten, Eisen aus Erz zu gewinnen, nutzten sie das bereits vor der eigentlichen „Eisenzeit“ bekannte und an seinem spezifischen Nickelgehalt von etwa 5 bis 18 % erkennbare Meteoreisen oder auch Meteoriteneisen. Wegen seiner Seltenheit war dieses „Himmelseisen“ (altägyptisch: bj-n-pt = „Eisen des Himmels“) wertvoll und wurde vorwiegend zu Kultgegenständen und Schmuck verarbeitet. So wurden im Alten Ägypten in zwei Gräbern aus vordynastischer Zeit Schmuckperlen aus Meteoreisen mit einem Nickelgehalt von etwa 7,5 % gefunden, die auf etwa 3200 v. Chr. datiert sind. Ebenso konnte die schon früh geäußerte Vermutung bestätigt werden, dass ein als Grabbeigabe bei der Mumie des Pharao Tutanchamun gefundener Dolch von etwa 1350 v. Chr. aus Meteoreisen gefertigt worden war. Die ältesten bekannten Funde aus Meteoreisen stammen aus Mesopotamien, das von den dort lebenden Sumerern als „urudu-an-bar“ (= Kupfer des Himmels) bezeichnet wurde. Unter anderem wurde in der Stadt Ur ein Dolch mit einer Klinge aus Meteoreisen (10,8 % Nickel) und goldbelegtem Griff entdeckt, dessen Herstellung auf eine Zeit um 3100 v. Chr. datiert ist. === Eisenerzeugung aus Erz === Zu den Anfängen der Eisenverhüttung siehe ==== Mittelmeerraum und Kleinasien ==== Die Nutzung von nickelfreiem (also terrestrischem) Eisen muss in Mesopotamien ebenfalls schon früh erfolgt sein. Als Beleg dafür dient ein nickelfreier Eisendolch mit Bronzegriff aus der Zeit zwischen 3000 und 2700 v. Chr., der in den Ruinen von Ešnunna bei Tell Asmar im heutigen Irak gefunden wurde. Aus den Aufzeichnungen der Hethiter im Archiv von Boğazkale (ehemals Boğazköy) in Zentralanatolien geht hervor, dass Eisen bereits zur Zeit von König Anitta (etwa 1800 v. Chr.) bekannt war und die Verhüttung von Eisen mindestens seit etwa 1300 v. Chr. erfolgte. Zwischen 1600 und 1200 v. Chr. spielte die Eisentechnologie des Hethitischen Reiches eine Pionierrolle und gilt als ein wichtiger Faktor für dessen Aufstieg. Die Hethiter stellten aus dem Eisen, das anfänglich mit bis zum achtfachen Gewicht in Gold aufgewogen wurde, zunächst vorwiegend Schmuck her. In der späten Hethiterzeit war Eisen schon so weit verbreitet, dass es in Inventarlisten nicht mehr mit den Edelmetallen, sondern zusammen mit Kupfer geführt wurde. Einzelstücke aus terrestrischem Eisen aus der Mittleren und Späten Bronzezeit fanden sich aber nicht nur bei den Hethitern, sondern auch in Griechenland und Zypern, in Jordanien, Libanon, Israel und Ägypten. Ab 1200 v. Chr. wurde in der Levante Stahl produziert, das heißt Eisen mit erhöhtem Kohlenstoffanteil.Der Beginn der Eisenzeit wird für den Nahen Osten im Allgemeinen auf das Jahr 1200 v. Chr. festgesetzt – nicht weil Eisen ab diesem Zeitpunkt eine nennenswerte Rolle spielte, sondern weil innerhalb kürzester Zeit die Kulturen der Bronzezeit kollabierten. Die ersten Jahrhunderte der Eisenzeit sind in dieser Region ein „dunkles Zeitalter“, in dem viele Städte zerstört wurden, der Fernhandel zusammenbrach und die Metallproduktion nahezu zum Erliegen kam. Erst ab etwa 700 v. Chr., als sich die Kulturen wieder vom Zusammenbruch zu erholen begannen, kam Eisen wieder häufiger zum Einsatz. Seit 1200 v. Chr. ist in dieser Region der nach der Stadt Damaskus genannte Damaszener Stahl oder Schmelzdamast bekannt, der einen sehr hohen Kohlenstoffgehalt von etwa 1,5 % und beim Polieren ein charakteristisches Muster aufweist. Dieser Werkstoff ist jedoch nicht nur im Nahen Osten, sondern bereits früher in anderen Regionen bekannt, so zum Beispiel in Südindien, wo er spätestens seit 300 v. Chr. hergestellt wird.Im alten Ägypten ist die Verhüttung von Eisen erst seit dem 6. Jahrhundert v. Chr. nachgewiesen. Gleichwohl wurde bereits im Alten Reich Meteoriteneisen vor allem zur Herstellung von Amuletten und Modellwerkzeugen für das Mundöffnungsritual verwendet. Ein Eisenfund in einem Grab bei Abydos aus der 6. Dynastie (2347–2216 v. Chr.) ließ sich zwar als nickelfrei und damit terrestrischen Ursprungs bestimmen; sein früherer Verwendungszweck konnte jedoch nicht ermittelt werden, da das Stück völlig verrostet war. Ein 1837 in den Fugen der Cheops-Pyramide gefundenes Eisenmesser, das zunächst in die 4. Dynastie datiert wurde, erwies sich hingegen als modernes Stück.Auch die Chalyber zählten zu den Völkern des Mittelmeerraums und Kleinasiens, die gute Kenntnisse über die Nutzung des Eisens als Hüttenwerkstoff gewonnen hatten. Ihr Name lebte in dem griechischen Wort für Stahl (chalybs) weiter, im Gegensatz zum gewöhnlichen Eisen (sideros). Früheste Spuren von Eisenverhüttung auf griechischem Gebiet fanden sich in Form von Eisenschlacke aus der Zeit um 2000 v. Chr. in Agia Triada auf Kreta.In Gerar (Palästina) war die Eisenverhüttung etwa ab 1000 v. Chr. bekannt (belegt durch Eisenschmelzöfen und örtlich hergestellte Ackerbaugeräte.) ==== Europa ==== Zu den ältesten europäischen Stücken gehören die eisernen Zelte und Speere, die Graf Gozzadini 1853 in etruskischen Gräbern bei Bologna entdeckt hat. Sie stammen aus dem 9. bis 10. Jahrhundert vor Christus. In Mitteleuropa allgemein wird die vorrömische Eisenzeit üblicherweise in Hallstattzeit (800–450 v. Chr.) und Latènezeit (ab 450 v. Chr.) unterteilt, wobei erste Eisenobjekte in der späten Bronzezeit aufgetaucht waren.Einer der ältesten bekannten Eisenfunde in Deutschland ist ein eiserner Niet als Verbindung zwischen bronzener Lanzenspitze und hölzernem Schaft, der in Helle (Ostprignitz) gefunden wurde und etwa aus der Zeit um 800 v. Chr. stammt. Im deutschsprachigen Raum markiert die erst etwa 300 Jahre später im gesamten keltischen Kulturkreis beginnende La-Tène-Zeit eine erste Hochkultur mit zahlreichen Eisenverhüttungsplätzen und Eisenfunden (zum Beispiel im Siegerland und in Teltow). In Norddeutschland blieben in der Hallstattzeit die bronzezeitlichen Kulturen bestehen. Südlich der Alpen gab es hingegen mit den Etruskern eine Hochkultur, die große Mengen an Bronze und Eisen herstellte und deren Produkte bis nach Mitteleuropa kamen. Sie bauten unter anderem einen Eisenskarn auf Elba ab.Vom frühen zweiten Jahrtausend vor Christus bis ins 18. Jahrhundert waren Rennöfen beziehungsweise Rennwerke mit angeschlossenen Schmieden in Europa weit verbreitet. Dies waren einfache, häufig in den Boden eingelassene mit Holzkohle betriebene Herde von einigen Dezimetern Durchmesser und ebensolcher Höhe. Flüssiges Roheisen entstand mit diesem Verfahren nicht, da ein Rennofen nur Temperaturen zwischen 1000 und 1200 °C erreichen konnte, der Schmelzpunkt von reinem Eisen jedoch bei 1538 °C liegt (Schmelzpunkt von reinem Zementit, Fe3C: 1250 °C). Die Rennöfen waren bis ins späte Mittelalter die einzige Methode, um schmiedbares Eisen herzustellen. Bereits in der Zeit um die Geburt Christi erreichte die Eisenproduktion teilweise industrielle Ausmaße. So wird zum Beispiel die Gesamtzahl von vorhandenen Öfen, der in mehreren Zentren im Weichselbogen errichteten Eisenhütten, auf eine Größenordnung von 100.000 bis 200.000 geschätzt. Das Gebiet erstreckt sich von wenigen Kilometern westlich von Warschau bis in das Bergland östlich Kielce. Eine systematische Erforschung des Gebietes ergab, dass die Eisenherstellung zwischen 150 vor und 150 nach Christus ihre höchste Betriebsintensität gehabt haben muss. In Katalonien wurden ab dem 8. Jahrhundert und im Hochmittelalter in vielen Gegenden von Mitteleuropa zunehmend Rennöfen mit von Wasserrädern betriebenen Blasebälgen gebaut, die die Glut mit Sauerstoff versorgten. Diese weiterentwickelten und größeren Öfen wurden „Stücköfen“ oder „Wolfsöfen“ genannt und mussten daher an Wasserläufen gebaut werden. Sie erreichten auch deutlich höhere Temperaturen, die in einem Teil des Ofens den Schmelzpunkt von Eisen überschreiten konnten. Ab diesem Zeitpunkt erlaubte das „Frischen“ eine Verringerung des Kohlenstoffgehalts im Roh- oder Gusseisen. Die frühesten Gusseisenstücke aus ersten einfachen Hochöfen wurden in Schweden (Lapphyttan und Vinarhyttan) entdeckt und auf 1150 bis 1300 datiert. Die ab dem 13. Jahrhundert eingesetzten Floßöfen erlaubten ein kontinuierliches Schmelzen. Mit der gegossenen Kanonenkugel (ab 1400) verbreitete sich die Gusseisenverarbeitung schnell wie die Feldzüge über ganz Europa. Da die schwindenden Wälder in Europa den wachsenden Bedarf an Holzkohle für die Eisenerzeugung nicht mehr decken konnten, wurde nach Alternativen gesucht. Als Erstem gelang 1709 Abraham Darby in Großbritannien der Einsatz von Kohle (genauer dem Kohleprodukt Koks) als Alternative. In Deutschland wurde erst 1796 ein rein auf Koks ausgelegter Hochofen in Betrieb genommen. Diese Umstellung, zusammen mit der Erfindung der Dampfmaschine, gilt als Beginn der industriellen Revolution. Die Hüttenwerke produzierten Gusseisen und Schmiedeeisen. Mit der Einführung des Puddelverfahrens um 1784 konnte die bisher übliche Holzkohle durch die günstigere Steinkohle ersetzt werden. ==== Eisennutzung und Funde außerhalb Europas und Kleinasiens ==== Auch in Afrika gab es eine sehr alte Tradition der Eisenproduktion, die vor etwa 3000 Jahren begann. Die afrikanischen Metallurgen waren sehr experimentierfreudig und innovativ, die Konstruktionsweisen und Formen der Öfen weisen eine Vielfalt auf, die auf anderen Kontinenten nicht zu finden ist. Bis auf wenige Ausnahmen – nämlich Mauretanien und Niger – gab es an den meisten Fundorten südlich der Sahara keine Kupfer- oder Bronzezeit, die der Eisenverhüttung vorausging: Auf das Neolithikum folgte direkt die Eisenzeit. Den ältesten bekannten Schmelzofen in Afrika, der im Termit-Massiv im Niger entdeckt wurde, datierten Archäologen auf 800 v. Chr. Weitere Fundstätten für die Eisenverarbeitung wurden zum Beispiel in Walalde im Senegal, in der Zentralafrikanischen Republik, in Ruanda, in Taruga, der Region um Nsukka und am Nordrand des Mandaragebirges im Grenzgebiet zwischen Nigeria und Kamerun entdeckt.Ab dem 7. Jahrhundert v. Chr. war Eisen außer bei den Kulturen im Nahen Osten und Teilen Europas auch in vielen weiteren Regionen bekannt: so in Indien und Sri Lanka, in China, in Osteuropa bei den Skythen und auch südlich der Sahara in Afrika. In Kolchis, das heutige westliche Georgien, war im 7. Jahrhundert ein wichtiger Eisenproduzent. Dort wurden etwa 400 Öfen gefunden, in denen Hämatit und Magnetit verhüttet wurden.In China wurden die ersten Erfahrungen mit Eisen an Meteoriteneisen gewonnen. Erste archäologische Spuren von Schmiedeeisen finden sich im Nordwesten, nahe Xinjiang, aus dem 8. vorchristlichen Jahrhundert. Es wird vermutet, dass diese Produkte, die mit den Methoden des Nahen Ostens erstellt wurden, durch Handel nach China gelangt sind. Das änderte sich in der späten Zhou-Zeit im 5. Jahrhundert v. Chr. mit einer massenhaften Produktion von Gusseisen in Hochöfen im Staat Wu, der im Südosten Chinas lag. Die Verhüttung von Eisen in Zentralchina ist mindestens seit der Han-Dynastie (206 v. Chr. bis 222 n. Chr.) belegt. China entwickelte die Technologie kontinuierlich weiter und blieb ein sehr innovatives Zentrum der Metallurgie.In den Gräbern von Turan, einer Region, die sich über den Osten Irans, den Süden Afghanistans und den Südwesten Pakistans zog, fanden sich eiserne Gegenstände und größere Eisenlager in den Ruinen von Khorsabad, welches 612 v. Chr. zerstört wurde. Entdeckt wurden von Victor Place Ringe und Kettenteile zusammen mit etwa 160.000 kg Eisenbarren. Layard stieß bei seinen Ausgrabungen in Nimrud auf eiserne Waffen wie Helme, Speere und Dolche. Berühmt ist die Eiserne Säule in Delhi, ein sieben Meter hoher schmiedeeiserner Pfeiler aus dem 4./5. Jahrhundert.In Australien und den umliegenden besiedelten Inseln Polynesiens war dagegen die Nutzung von Eisen bis zur Entdeckung durch europäische Forscher unbekannt. Die ansonsten hohe Kultur der Inkas und Aztekens in Mittel- und Südamerika verarbeitete ebenfalls Gold, Silber, Kupfer und Bronze in guter Qualität und mit großem Geschick, Eisen jedoch nur in geringen Mengen und nur Meteoreisen. In Nordamerika wurde 1621 in North Carolina mit dem Bau der ersten Eisenhütte begonnen. === Spätere Entwicklung === Die Mitte des 18. Jahrhunderts beginnende industrielle Revolution zog eine rasche Erfindung von Maschinen und deren Einsatz nach sich. Dadurch stieg nicht nur die Nachfrage nach Rohstoffen wie Eisen rapide, auch der Einsatz von Maschinen im Bergbau, in der Verhüttung und weiteren Bereichen nahm zu. Wenige Jahrzehnte später gab es die ersten Spinnmaschinen, Eisenbahnen und Schiffe aus Eisen. Noch Ende des 18. Jahrhunderts entstanden die ersten Brücken aus Gusseisen. Im 19. Jahrhundert wurde eine Reihe neuer Stahlherstellungs- und Verarbeitungsverfahren entwickelt und eingesetzt. 1810 wurde die Konservendose aus Blech patentiert. 1814 nahm Berzelius das Eisen als Ferrum in seine Atomgewichtstabelle mit auf. 1834 erfand in Clausthal Julius Albert das Drahtseil, das Hanfseile und Eisenketten ersetzte. 1845 wurde im Saarland das erste Walzwerk zur Herstellung von Eisenbahnschienen in Betrieb genommen. Im Jahr 1855 wurden zur Stahlherstellung das Bessemer-, 1864 das Siemens-Martin- und 1879 das Thomas-Verfahren entwickelt. In London wurde für die erste Weltausstellung im Jahr 1851 der Kristallpalast gebaut, ein riesiges Ausstellungsgebäude aus Gusseisen und Glas. 1859 produzierte Alfred Krupp erstmals Geschütze aus Stahl. Generell besitzen Firmen der Stahlindustrie, wie in Deutschland Krupp, Thyssen und Gutehoffnungshütte (heute MAN), seit dieser Zeit eine große wirtschaftliche Bedeutung. Für die Weltausstellung 1889 in Paris wurde der Eiffelturm und für die Weltausstellung 1958 wurde mit dem Atomium die milliardenfache Vergrößerung der kristallinen Elementarzelle des Eisens errichtet. Bereits 1912 erlangte Eisen im Gemisch mit anderen Metallen als Katalysator bei der Synthese von Ammoniak im Haber-Bosch-Verfahren eine große industrielle Bedeutung. Auch bei der 1921 entwickelten Fischer-Tropsch-Synthese von Kohlenwasserstoffen aus Synthesegas spielen Eisenkatalysatoren eine wichtige Rolle. Bis 1925 stieg die jährliche Welterzeugung von Stahl auf rund 100 Millionen Tonnen und in den folgenden 50 Jahren auf rund 700 Millionen Tonnen. Nach 2010 überschritt sie den Wert von 1,5 Milliarden Tonnen. In Deutschland betrug die Produktion von Rohstahl im Jahr 2020 etwa 35 Millionen Tonnen.Der Preis für Stahl variiert je nach Art des Stahls und den Marktbedingungen, Angebot und Nachfrage stark. So stieg der reale Preis im Ersten Weltkrieg von rund 300 $/t auf 941 $/t im Juli 1917 und fiel gegen Ende des Krieges auf etwa 450 $/t. Nach einem Anstieg durch die beiden Ölpreiskrisen in den 1970er Jahren sank der Preis um 1982 wieder auf dieses Niveau. Infolge einer steigenden Stahlnachfrage stieg der Preis in der Folgezeit wieder, erreichte 1990 etwa 600 $/t und im Juli 2008 einen Rekordwert von fast 1.280 $/t. Als Folge der Weltfinanzkrise und deren Auswirkung in Europa sank der Preis im März 2009 erneut auf einen Wert unter 450 $/t, stieg jedoch schnell wieder auf über 720 $/t im Juli 2011. Nach einem Rückgang der Preise infolge der COVID-19-Pandemie stieg der Preis 2022 teilweise auf 1500 $/t. === Eisenverbindungen === Neben Eisen selbst sind auch seine Verbindungen von historischer Bedeutung. Schwefelkies (Pyrit und Markasit, Eisen(II)-disulfid) wurde zum Funkenschlagen in steinzeitlichen Schlagfeuerzeugen verwendet, die in Europa vor etwa 40.000 Jahren aufkamen. Natürliche Eisenoxidpigmente sind aufgrund ihrer Farbechtheit in Höhlenmalereien von 35.000 v. Chr. nachweisbar. Mit einer Weltjahresproduktion von über 500.000 t an synthetischen und 100.000 t an natürlichen Produkten in den 2010er Jahren stellen sie die mit Abstand wichtigste Gruppe der Buntpigmente dar. Sie sind preisgünstige anorganische Farbstoffe und finden breite Anwendung vor allem in Baustoffen und Beschichtungsmitteln. Auch der Einsatz von Eisenpräparaten als Arzneistoff ist schon seit der Antike (zum Beispiel zur Heilung von Iphiklos) beschrieben. Neben Eisenoxidpigmenten hatten auch Eisenblaupigmente als Metallkomplexe eine wirtschaftliche Bedeutung. Diese weisen hohe Färbekraft und hohe Licht- und Wetterbeständigkeit auf und waren Bestandteil blauer Lacke und Anstrichfarben. Eisenblau wurde um 1700 in Berlin von Johann Jacob Diesbach als Niederschlag bei einer Fällungsreaktion beobachtet und von A. Milori im frühen 19. Jahrhundert industriell hergestellt. Pigmente dieser Gruppe gewannen rasch an Bedeutung, bevor sie diese ab etwa 1970 an Phthalocyanin-Blau verloren haben. Auch das erstmals 1752 von Pierre-Joseph Macquer aus Berliner Blau und Kalilauge hergestellte gelbe Blutlaugensalz hatte bis zum Ende des 19. Jahrhunderts eine große wirtschaftliche Bedeutung. Auch das 1851 entdeckte Eisenpentacarbonyl erlangte kurzfristig eine wichtige Rolle. Nachdem es sich als sehr wirksames Antiklopfmittel für Ottomotoren erwiesen hatte, baute BASF 1925 eine große Produktionsanlage. Als die Verbindung kurz darauf durch Bleialkyle als Antiklopfmittel ersetzt wurde, verlor sie an Bedeutung und wurde nur noch zur Herstellung von Eisenpulver zum Beispiel für die Pulvermetallurgie eingesetzt. Das Mitte des 20. Jahrhunderts entdeckte Ferrocen und seine Derivate wurden aufgrund ihrer Eigenschaften in der Grundlagenforschung untersucht und in der Katalyse, der Sensorik und der Medizin eingesetzt. == Vorkommen == Eisen steht in der Reihe der relativen Elementhäufigkeit bezogen auf Silicium im Universum mit 8,7 · 105 Atomen je 1 · 106 Siliciumatomen an 9. Stelle. Die Fusion von Elementen in Sternen endet beim Eisen (genauer bei 56Fe), da bei der Fusion höherer Elemente keine Energie mehr frei wird (siehe Nukleosynthese), die Elementisotope instabil sind oder kein einfacher Syntheseprozess existiert. Eisen selbst entsteht vor allem beim Siliciumbrennen in schweren Sternen. Massereiche Sterne mit einer Masse größer als dem Achtfachen der Sonnenmasse fusionieren in ihrem Kern fast alle leichteren Elemente zu Eisen. Schwerere Elemente entstehen endotherm bei Supernovaexplosionen, die auch für das Verstreuen der im Stern entstandenen Materie verantwortlich sind. Die Kruste von Neutronensternen besteht hauptsächlich aus Eisenkernen. In der Photosphäre unserer Sonne sind 0,16 % Eisen enthalten.Viele Planeten, darunter die Gesteinsplaneten und die Metallosilikatplaneten (wie zum Beispiel Merkur, Venus und die Erde) besitzen einen Eisenkern. Bei den hypothetischen Eisenplaneten fehlt der darüber liegende Erdmantel zum großen Teil oder vollständig, wodurch Eisen einen hohen Anteil an der Gesamtmasse des Planeten hat. Auch bei anderen astronomischen Objekten, wie zum Beispiel Monden, einigen Asteroiden und Eisenmeteoriten, ist ein hoher Eisenanteil normal. So wird beim Erdmond davon ausgegangen, dass dessen Kern vorwiegend aus Eisen besteht. Auch das weite Areale der Mondoberfläche bedeckende Regolith enthält im geringen Prozentbereich Eisen in Form von Eisen(II)-oxid.Auf der Erde steht Eisen in der Reihe der Elementhäufigkeit nach dem Massenanteil an 2. Stelle in der gesamten Erde (28,8 %), an 4. Stelle in der Erdhülle (4,70 %) und an 4. Stelle in der kontinentalen Erdkruste (5,63 %); im Meerwasser ist es nur zu 0,002 mg/L enthalten. Eisen ist zusammen mit Nickel wahrscheinlich der Hauptbestandteil des Erdkerns. Vermutlich angetrieben von thermischen Kräften erzeugen Konvektionsströmungen von flüssigem Eisen im äußeren Kern das Erdmagnetfeld.Das meiste Eisen in der Erdkruste ist mit verschiedenen anderen Elementen verbunden und bildet mehrere hundert verschiedene Eisenmineralien. Eine wichtige und wirtschaftlich bedeutsame Klasse sind die Eisenoxidmineralien wie Hämatit (Fe2O3), Magnetit (Fe3O4) und Siderit (FeCO3), Limonit (Fe2O3·n H2O) und Goethit (FeO·OH), die die Haupterze des Eisens sind. Viele magmatische Gesteine enthalten auch das Sulfidmineral Pyrrhotin und das mit ihm verwachsene Nickel-Eisen-Mineral Pentlandit. Während der Verwitterung neigt Eisen dazu, aus Sulfidablagerungen als Sulfat und aus Silicatablagerungen als Hydrogencarbonat herauszulösen. Beide werden in wässriger Lösung oxidiert und fallen in Form von Eisen(III)-oxid bei leicht erhöhtem pH-Wert aus.Große Eisenvorkommen sind Bändererze, eine Art Gestein, das aus wiederholten dünnen Schichten von Eisenoxiden besteht, die sich mit Bändern aus eisenarmem Schiefer und Kieselgestein (Chert) abwechseln. Die Bändererze wurden hauptsächlich in der Zeit zwischen vor 3700 Millionen Jahren und vor 1800 Millionen Jahren abgelagert (die jüngsten entstanden vor 350 Millionen Jahren), durch Reaktion von Eisen mit dem durch cyanobakterielle Photosynthese entstehenden Sauerstoff.Materialien, die fein gemahlene Eisen(III)-oxide oder -oxidhydroxide wie Ocker enthalten, werden seit vorgeschichtlicher Zeit als gelbe (Ocker), rote (Hämatit), braune (Umbra) und schwarze (Magnetit) Pigmente verwendet. Sie tragen auch zur Farbe verschiedener Gesteine und Tone bei, einschließlich ganzer geologischer Formationen wie der Painted Hills in Oregon und des Buntsandsteins. Durch Eisensandstein in Deutschland und Bath Stone in Großbritannien sind Eisenverbindungen für die gelbliche Farbe vieler historischer Gebäude und Skulpturen verantwortlich. Die sprichwörtliche rote Farbe der Marsoberfläche stammt von einem eisenoxidreichen Regolith.Im Eisensulfidmineral Pyrit (FeS2) sind erhebliche Eisenmengen enthalten. Es dient jedoch hauptsächlich zur Produktion von Schwefelsäure, wobei die bei der Produktion entstehenden Kiesabbrände einen hohen Eisengehalt besitzen. Es ist nur mit modernen Verfahren, möglich diese zur Eisengewinnung zu nutzen, da hierzu Reste des Schwefels entfernt werden müssen, die das Eisen brüchig werden lassen. Aus diesem Grund und weil Eisenerze so verbreitet sind, konzentriert sich die Eisenproduktion anstelle von Pyrit auf Erze mit sehr hohem Eisengehalt.Das langlebige Eisenisotop Fe60 kann unter anderem in Tiefseesedimenten nachgewiesen werden. Wissenschaftler erklären dies mit dem Eintrag des durch Supernovas entstandenen Isotops durch Mikrometeorite auf die Erde. Die Verteilung und Häufigkeit der Isotope kann zur Datierung der Sedimente und indirekt der kosmischen Ereignisse verwendet werden. === Eisen in Erzen === Die ersten Vorkommen, die abgebaut wurden, waren Raseneisenstein und offenliegende Erze. Heute werden vor allem Magnetit (Fe3O4), Hämatit und Siderit abgebaut. Die größten Eisenerzvorkommen finden sich in den sogenannten Banded Iron Formations (BIF, gebändertes Eisenerz oder Bändererz), die auch als Takonit oder Itabirit bezeichnet werden und Eisen hauptsächlich in den Mineralen Hämatit und Magnetit (durch sekundäre Prozesse entstanden) enthalten. === Eisen als Mineral === Selten kommt Eisen in der Natur auch gediegen vor, meist in Form kleiner Bläschen oder Verdickungen im umgebenden Gestein, aber auch als massige Mineral-Aggregate mit bis zu 25 t Gewicht, und ist deshalb als Mineral anerkannt. Die International Mineralogical Association (IMA) führt es gemäß der Systematik der Minerale nach Strunz (9. Auflage) unter der System-Nr. „1.AE.05“ (Elemente – Metalle und intermetallische Verbindungen – Eisen-Chrom-Familie) (8. Auflage: I/A.04a bzw. nachfolgende Lapis-Systematik nach Weiß: I/A.07). Die im englischsprachigen Raum ebenfalls geläufige Systematik der Minerale nach Dana führt das Element-Mineral unter der System-Nr. „01.01.11.00“. Weltweit sind bisher rund 2000 Fundorte für gediegen Eisen dokumentiert (Stand: 2022), wobei die überwiegende Mehrheit aus meteoritischen Eisenfunden der Varietät Kamacit besteht. Eisen kristallisiert im kubischen Kristallsystem, hat je nach Bildungsbedingungen und Reinheitsgrad eine Mohshärte zwischen 4 und 5 und eine stahlgraue bis schwarze Farbe (Eisenschwarz). Auch die Strichfarbe ist grau. Wegen der Reaktion mit Wasser und Sauerstoff (Rosten) ist gediegen Eisen nicht stabil. Es tritt daher in Legierung mit Nickel entweder als Kamacit (4 bis 7,5 % Ni) oder Taenit (20 bis 50 % Ni) nur in Eisenmeteoriten auf sowie in Basalten, in denen es manchmal zu einer Reduktion von eisenhaltigen Mineralen kommt. Eisen mit geringeren Nickelanteilen gelten als Varietät desselben und sind unter der Bezeichnung Josephinit bekannt, diese Bezeichnung ist auch ein Synonym des Minerals Awaruit (Ni3Fe). Eisenerze hingegen sind vergleichsweise häufig zu finden; wichtige Beispiele sind die Minerale Magnetit (Magneteisenstein, Fe3O4), Hämatit (Roteisenstein, Fe2O3), Pyrrhotin (Magnetkies, FeS), Pyrit (Eisenkies, FeS2), Siderit (Eisenspat, FeCO3) und das als Gestein geltende Limonit (Brauneisenstein, Fe2O3·n H2O). Das Sedimentgestein Eisen-Oolith, manchmal als Eisenstein bezeichnet, besteht aus Eisenhydroxidmineralien, verkittet mit tonigen oder kalkigen Bindemitteln. Industriell weniger von Interesse, doch in der Natur ziemlich häufig anzutreffen sind die Minerale Chlorit, Glaukonit und Pyrit. Im Jahr 2023 waren insgesamt 1424 Eisenminerale bekannt. === Eisen in Lebensmitteln === Viele Lebensmittel enthalten Eisen in Spuren. So enthält Hafer (entspelzt) 58 mg/kg, Gerste (entspelzt) und Roggen 28 mg/kg, Weizen 33 mg/kg, Kakao (schwach entölt) 125 mg/kg, Spinat 38 mg/kg, Kartoffel 5 mg/kg, Petersilie 55 mg/kg, Rote Bete 9 mg/kg, Apfel 2 bis 9 mg/kg, Rindfleisch 21 mg/kg, Rinderleber 70 mg/kg, Rinderniere 11 mg/kg, Schweineleber 154 mg/kg, Schweinefleisch 18 mg/kg, Schweinenieren 100 mg/kg, Schweineblut 550 mg/l, Rinderblut 500 mg/l, Kuhmilch 0,5 mg/l und Eigelb 60 bis 120 mg/l. == Förderung == Die Volksrepublik China ist mit 888 Millionen Tonnen (67,8 %) das im Jahr 2020 bei weitem bedeutendste Herstellerland für Roheisen, gefolgt von Indien mit 68 Millionen Tonnen (5,2 %), Japan mit 62 Millionen Tonnen (4,7 %) und Russland mit 52 Millionen Tonnen (4,0 %). Die vier Staaten hatten zusammen einen Anteil von 81,7 % an der Weltproduktion von 1310 Millionen Tonnen. In Europa waren weitere wichtige Produzenten die Ukraine, Deutschland und Frankreich.Weltweit wurden 2020 etwa 2,5 Milliarden Tonnen Eisenerz abgebaut. Bedeutende Eisenerzlieferanten waren Australien, gefolgt von Brasilien, der Volksrepublik China, Indien und Russland. Zusammen hatten sie einen Anteil von 79,5 % an der Weltförderung. Zusätzlich wird aus Schrott noch neues Eisen hergestellt. == Gewinnung und Darstellung == === Erzgewinnung und -verarbeitung === Eisenerz wird hauptsächlich im Tagebau und seltener im Tiefbau (Untertagebau, wie im Eisenerzbergwerk Kiruna) gewonnen. Dort, wo die als abbauwürdig erkannten Eisenerzlagerstätten offen zutage treten, kann das Erz im weniger aufwändigen Tagebau gewonnen werden. Der Großteil des Eisenerzes wird in Brasilien, Australien, China, Indien, den USA und Russland abgebaut.Diese Länder verdrängten die ursprünglich bedeutendsten Eisenerz-Förderländer wie Frankreich, Schweden und Deutschland, dessen letzte Eisenerzgrube in der Oberpfalz 1987 geschlossen wurde.Aus technologisch-wirtschaftlichen Gründen sollten die zur Verarbeitung in Hochöfen eingesetzten Erze in chemischer und physikalischer Sicht gleichmäßige Eigenschaften besitzen. Demnach müssen die beim Abbau gewonnenen groben Erze gebrochen, gemahlen und gesiebt und die zu feinen Erze stückig gemacht werden. Das wird als Erzvorbereitung bezeichnet. Ungleichmäßigkeiten der Erze eines Abbauortes oder verschiedener Abbauorte werden durch Mischen der Erze auf sogenannten Mischbetten ausgeglichen. Nur ein kleiner Teil der Erze kann als Stückerz direkt im Hochofen eingesetzt werden. Der Hauptanteil der Eisenerze liegt als Feinerz vor und muss für den Einsatz im Hochofen stückig gemacht werden, da das feine Erz die Luftzufuhr (Wind) im Hochofen sehr beeinträchtigen oder verhindern würde. Die wichtigsten Verfahren dafür sind Sinterung und Pelletierung. In Deutschland werden die Erze vorwiegend durch Sintern stückig gemacht. In anderen Ländern, beispielsweise in den USA, wird mehr pelletiert, wobei die bei der Aufbereitung anfallende Korngröße entscheidend für die Auswahl des Verfahrens ist. Das Sintern erfordert eine Korngröße von mehr als 2 mm, während noch feiner aufgemahlene Erze pelletiert werden.In den Sinteranlagen werden gröbere Erzkörner nach ihrer Größe sortiert und gesintert. Kleine Erzkörner müssen dazu gemeinsam mit Kalkzuschlagsstoffen auf mit Gas unterfeuerte, motorisch angetriebene Wanderroste (Rost-Förderbänder) aufgebracht und durch starke Erhitzung angeschmolzen und dadurch „zusammengebacken“ (gesintert) werden. Sehr feines Erz wird pulverfein aufgemahlen, was oft bereits zur Abtrennung von Gangart nötig ist. Dann wird es mit Kalkstein, feinkörnigem Koks (Koksgrus) und Wasser intensiv vermischt und auf einen motorisch angetriebenen Wanderrost aufgegeben. Durch den Wanderrost werden von unten Gase abgesaugt. Von oben wird angezündet und eine Brennfront wandert von oben nach unten durch die Mischung, die dabei kurz angeschmolzen (gesintert) wird. Beim Pelletieren wird mit Bindemitteln, Zuschlägen und Wasser eine Mischung erzeugt, die auf Pelletiertellern zu Kügelchen (Grünpellets) von 8 bis 18 mm Durchmesser gerollt wird. Diese werden mit Gasbefeuerung bei 1000 °C auf einem Wanderrost, in Schachtöfen oder Drehrohröfen zu Pellets gebrannt. Sinter ist nicht gut transportierbar und wird deshalb im Hüttenwerk erzeugt, Pelletanlagen werden meist in der Nähe der Erzgruben betrieben. === Eisenherstellung === Zur Herstellung von Eisen müssen die in Form von Eisenoxide oder -Sulfide vorliegenden Erze chemisch reduziert werden. Zur Herstellung von Roheisen in Hochöfen werden diesen aufbereiteten Erze (Sinter oder Pellets) mit einer Beimischung von Zuschlägen zugeführt. Daneben wird eine hohe Menge Energie benötigt, die meist durch Koks oder alternativ auch Erdgas oder Wasserstoff bereitgestellt wird. Zu Beginn der Eisenverhüttung mit Steinkohlenkoks waren zur Gewinnung einer Tonne Roheisen etwa 8 t Koks oder etwa 5 t Holzkohle erforderlich. Durch das um 1830 eingeführte Vorwärmen der Luft konnte der Koksverbrauch auf etwa 5 t pro Tonne Roheisen gesenkt werden. Um 1950 wurden in der Bundesrepublik Deutschland noch etwa 950 kg Koks pro Tonne Roheisen benötigt, was bis 1975 auf etwa 450 kg sank. In Japan wurde zu dieser Zeit der theoretische Mindestbedarf von 350–400 kg pro Tonne Roheisen fast erreicht. Bei den Direktreduktionverfahren werden die Eisenerze, im Gegensatz zur Hochofenroute, „direkt“, also ohne Schmelzprozess und damit bei geringeren Temperaturen, zu festem Eisenschwamm reduziert, in dem die Begleitelemente der Erze noch enthalten sind. Im Verbund mit dem Einschmelzen des Eisenschwamms im Lichtbogenofen stellt die Direktreduktion eine energiesparendere Verfahrensalternative zur Hochofenroute dar. ==== Eisenerzeugung im Hochofen ==== Das Eisen wird durch chemische Reduktion des Eisenoxids der oxidischen Eisenerze (oder sulfidischer Eisenerze nach ihrer Röstung mit Luftsauerstoff) und Kohlenstoff (Koks) gewonnen. Die Roheisenerzeugung erfolgt nahezu ausschließlich in hohen Gebläse-Schachtöfen (Hochöfen). Lediglich in Ländern mit billigen Wasserkraftwerken und teurer Kohle spielt die Erzeugung in elektrischen Öfen eine begrenzte Rolle. Koks und Erz werden im Hochofen abwechselnd in Lagen oben in den Ofen hineingeschüttet. Dazu sind oberhalb des Ofengefäßes in der Regel zwei Bunker angeordnet, die als Gasschleusen zwischen dem Ofengefäß und der Umgebung dienen. Ganz oben befindet sich innerhalb des Ofengefäßes eine Drehschurre, mit der das Material spiralförmig flächig auf der Beschickungsoberfläche verteilt wird. Die Kokslagen halten im unteren Bereich des Ofens, wenn das Erz plastisch wird, die Durchströmbarkeit der Schüttung mit Prozessgas aufrecht (Koksfenster).Der Einsatz sinkt im Ofenschacht ab und wird dabei durch das etwa 1600 bis 2200 °C (an der Einblasstelle) heiße, aus Kohlenstoffmonoxid und Stickstoff bestehende aufsteigende Prozessgas getrocknet, aufgeheizt, die Eisenoxide reduziert und schließlich geschmolzen (Redoxreaktion). Das Prozessgas wird erzeugt, indem unten in den Ofen durch Blasformen (wassergekühlte Kupferdüsen) auf etwa 900 bis 1300 °C vorgeheizte Luft eingeblasen wird. Der Sauerstoff der Luft verbrennt mit Koks zu Kohlenstoffmonoxid. Der gesamte Vorgang dauert etwa acht Stunden.In der Temperaturzone zwischen 500 und 900 °C findet die so genannte „Indirekte Reduktion“ statt. Über drei Stufen reagieren die verschiedenen Eisenoxide jeweils mit Kohlenstoffmonoxid oder Wasserstoff, bis schließlich metallisches Eisen vorliegt: 3 Fe 2 O 3 + CO ⟶ 2 Fe 3 O 4 + CO 2 {\displaystyle {\ce {3Fe2O3 + CO -> 2Fe3O4 + CO2}}} oder 3 Fe 2 O 3 + H 2 ⟶ 2 Fe 3 O 4 + H 2 O {\displaystyle {\ce {3Fe2O3 + H2 -> 2Fe3O4 + H2O}}} Aus Hämatit entsteht der stärker eisenhaltige Magnetit. Fe 3 O 4 + CO ⟶ 3 FeO + CO 2 {\displaystyle {\ce {Fe3O4 + CO -> 3FeO + CO2}}} oder Fe 3 O 4 + H 2 ⟶ 3 FeO + H 2 O {\displaystyle {\ce {Fe3O4 + H2 -> 3FeO + H2O}}} Aus Magnetit entsteht Wüstit. FeO + CO ⟶ Fe + CO 2 {\displaystyle {\ce {FeO + CO -> Fe + CO2}}} oder FeO + H 2 ⟶ Fe + H 2 O {\displaystyle {\ce {FeO + H2 -> Fe + H2O}}} Aus Wüstit entsteht metallisches Eisen, das sich unten im Hochofen ansammelt. Im Temperaturbereich von 900 bis 1600 °C findet zusätzlich eine „direkte Reduktion“ mit Kohlenstoff statt: 3 Fe 2 O 3 + C ⟶ 2 Fe 3 O 4 + CO {\displaystyle {\ce {3Fe2O3 + C -> 2Fe3O4 + CO}}} Fe 3 O 4 + C ⟶ 3 FeO + CO {\displaystyle {\ce {Fe3O4 + C -> 3FeO + CO}}} FeO + C ⟶ Fe + CO {\displaystyle {\ce {FeO + C -> Fe + CO}}} Das aus dem Hochofen kommende Gichtgas wird vom mitgeführten Staub befreit und dient zum Betrieb der für das Hochofenverfahren erforderlichen Winderhitzer, Gebläse, Pumpen, Beleuchtungs-, Gasreinigungs- und Transportvorrichtungen. Der Überschuss wird für den Stahlwerksbetrieb oder sonstige industrielle Zwecke verwendet.Der Ofen erzeugt neben dem flüssigen Eisen auch flüssige Schlacke. Da der Schmelzpunkt eines Gemisches von SiO2 und Al2O3 zu hoch ist, um eine bei 1450 °C flüssige Schlacke zu bilden, dienen Zuschläge der Erzeugung von leichter schmelzbaren Calcium-aluminium-silicate zur Schmelzpunktserniedrigung. Handelt es sich zum Beispiel um Tonerde- und Kieselsäure-haltige Gangarten, was meist der Fall ist, so werden dementsprechend kalkhaltige, das heißt basische Bestandteile (zum Beispiel Kalkstein, Dolomit) zugeschlagen. Im Falle kalkhaltiger Gangarten werden umgekehrt Tonerde- und Kieselsäure-haltige, das heißt saure Zuschläge (zum Beispiel Feldspat, Tonschiefer) zugegeben. Das Eisen und die Schlacke ist im Hochofen miteinander vermischt, hat eine Temperatur von etwa 1450 °C und wird durch ein Stichloch abgezogen, das etwa alle zwei Stunden durch Anbohren geöffnet und jeweils nach etwa einer Stunde durch Verstopfen mit einer keramischen Masse verschlossen wird. Eisen und Schlacke werden außerhalb des Ofens getrennt. Das Eisen wird in Transportpfannen gefüllt und ins Stahlwerk gebracht.Das Eisen ist bei 1450 °C flüssig, da durch den im Eisen gelösten Kohlenstoff eine Schmelzpunktserniedrigung erfolgt. Die Schlacke wird mit Wasser verdüst. Dabei erstarrt sie durch das Abschrecken als feinkörniges Glas (Schlackensand). Dieser Schlackensand wird fein gemahlen und als Betonzusatzstoff (Füller) verwendet. Im gesamten Herstellungsprozess entsteht je nach Verfahren im Hochofen pro Tonne Eisen zwischen 300 und 1000 kg Schlacke. Erz und Koks enthalten als Hauptverunreinigung Siliciumdioxid (Quarzsand, Silicate) SiO2 und Aluminiumoxid Al2O3. Ein kleiner Teil des Siliciumdioxids wird zu Silicium reduziert, das im Eisen gelöst wird. Der Rest bildet zusammen mit dem Aluminiumoxid die Schlacke (Calcium-Aluminiumsilikate). Das Eisen des Hochofens (Roheisen) hat nur einen Eisengehalt von etwa 95 %. Es enthält 0,5 bis 6 % Mangan, sowie für die meisten Anwendungen zu viel Kohlenstoff (2,5 bis 4 %), Schwefel (0,01 bis 0,05 %), Silicium (0,5 bis 3 %) und Phosphor (0 bis 2 %). Üblicherweise wird daher im Stahlwerk zunächst durch Einblasen von Calciumcarbid, Magnesium oder Calciumoxid reduzierend entschwefelt, wobei eine optimale Entschwefelung vor allem eine Voraussetzung für die Herstellung von Gusseisen mit Kugelgraphit ist. Kühlt Roheisen sehr langsam ab, zum Beispiel in Sandformen („Masselbetten“), so scheidet sich der gelöste Kohlenstoff als Graphit aus und „graues Roheisen“ (graue Bruchfläche, Schmelztemperatur etwa 1200 °C) wird erhalten. Mitbedingung dafür ist auch ein Überwiegen des Siliciumgehalts gegenüber dem Mangangehalt (> 2 % Si; <0,2 % Mn). Bei rascherer Abkühlung, zum Beispiel in Eisenschalen („Kokillen“), verbleibt der Kohlenstoff als Eisencarbid im Roheisen, so dass ein „weißes Roheisen“ (weißer Bruchfläche, Schmelztemperatur etwa 1100 °C, dient überwiegend zur Herstellung von Stahl) entsteht. Hier ist ein Überwiegen des Mangangehalts (< 0,5 % Si; > 4 % Mn) mitbedingend, der der Graphitausscheidung entgegenwirkt. ==== Eisenerzeugung ohne Hochofen ==== Hochöfen haben einen großen Material- und Energiebedarf, der bei ungünstigen Rohstoff- und Energiebedingungen nicht immer bereitgestellt werden kann. Aufgrund dessen und wegen Umweltbelangen wurden alternative Verfahren zur Verarbeitung von Eisen entwickelt. Bei diesen sollen die vorhandenen Eisenerze ohne oder nur mit geringem Einsatz von Koks oder alternativ mit Steinkohle, Braunkohle, Erdöl oder Erdgas reduziert werden. Bei der überwiegenden Anzahl der als „Direkte Eisenreduktion“ bezeichneten Verfahren fällt das erzeugte Roheisen in fester, poriger Form an, das als Eisenschwamm oder „direktes“ Eisen bezeichnet wird und für die Stahlerzeugung geeignet ist. Zwei Hauptreaktionen umfassen den direkten Reduktionsprozess: Bei der Verwendung von Methan (Erdgas) und Sauerstoff (alternativ Wasserdampf oder Kohlenstoffdioxid) wird dieses teilweise oxidiert (mit Wärme und einem Katalysator): 2 CH 4 + O 2 ⟶ 2 CO + 4 H 2 {\displaystyle {\ce {2CH4 + O2 -> 2CO + 4H2}}} Das Eisenerz wird dann in einem Ofen mit diesen Gasen behandelt, wobei fester Eisenschwamm entsteht: Fe 2 O 3 + CO + 2 H 2 ⟶ 2 Fe + CO 2 + 2 H 2 O {\displaystyle {\ce {Fe2O3 + CO + 2H2 -> 2Fe + CO2 + 2H2O}}} Siliciumdioxid wird wie oben beschrieben durch Zugabe eines Kalksteinflussmittels entfernt.Es gibt eine Reihe von bekannten Direktreduktionsverfahren. Diese unterscheiden sich unter anderem nach dem jeweiligen Reduktionsgefäß.Bei der Eisenerzeugung im Schachtofen wurde zuerst das Wiberg-Verfahren um 1918 in Schweden entwickelt. Später folgten das in den 1970er Jahren entwickelte Purofer-Verfahren in Oberhausen und das Midland-Ross-Verfahren/Midrex-Verfahren, das von der Midland-Ross-Corporation in Cleveland, Ohio entwickelt wurde. Allen drei Verfahren nutzen einen mehr oder weniger kurzen Schachtofen und als Einsatzstoffe eisenreiche Stückerze, Sinter oder Pellets, die vorgewärmt und am Ofenkopf eingebracht werden. Am Ofengrund wird ein 1000 °C heißes Reduktionsgasgemisch aus Kohlenstoffmonoxid (CO), Wasserstoff (H2), Kohlenstoffdioxid (CO2), Wasser (H2O) und ggf. Methan (CH4) eingeblasen. Das Midrex-Verfahren ist auf einen externen Reformer angewiesen, in dem Methan in Wasserstoff und Kohlenstoffmonoxid umgewandelt wird. Das moderne Energiron-Verfahren (eine Weiterentwicklung vom HYL-Verfahren) ist eine Gemeinschaftsentwicklung der italienischen Anlagenhersteller Tenova und Danieli. Bei Energiron-Verfahren gibt es keinen eigenen Reformer, sondern einen Prozessgaserhitzer. Die eigentliche Umwandlung des Erdgases findet nicht extern, sondern unter Druck (6–8 Bar) autokatalytisch direkt am Eisenerz im Schachtofen statt. Der dafür nötige Sauerstoff stammt aus dem Eisenerz. Der erzeugte Eisenschwamm hat eine Reinheit von 85 bis 95 %. Eine leicht veränderte Variante ist das ab 1981 verwendete Corex-Verfahren.Für die Eisenerzeugung in der Retorte wurde 1908 von Sven Emil Sieurin in Höganäs Schweden das Höganäs-Verfahren und 1957 das HyL-Verfahren bei der Gesellschaft Hojalata-y-Lamina S.A. in Monterry, Mexiko entwickelt. Bei diesen werden sehr reiche Eisenerzkonzentrate in keramischen Retorten oder Muffeln eingebracht und entweder mit feinkörniger Kohle, Koksgrus und Kalkstein oder mit Erdgas reduziert. Der erzeugte Eisenschwamm hat eine Reinheit von 80 bis 95 % und wird entweder zur Herstellung von Sonderstählen oder als Eisenpulver für die Pulvermetallurgie genutzt.Bei der Eisenerzeugung in Drehgefäßen oder im Drehrohrofen kommen Verfahren wie das 1930 entwickelte Krupp-Rennverfahren oder Weiterentwicklungen wie das Krupp-Eisenschwammverfahren, das 1964 von der Republic Steel Corporation und der National Lead Corporation gemeinsam mit der Steel Company of Canada und der Lurgi Gesellschaft für Chemie und Hüttenwesen entwickelte SL/RN-Verfahren zum Einsatz. Eingebracht werden hier Stückerz oder Pellets zusammen mit Kalkstein oder Dolomit in bis zu 110 m lange Drehrohröfen, die mit Braunkohle, Koksofengas oder Heizöl auf bis zu 1050 °C aufgeheizt werden. Erzeugt wird Eisenschwamm mit einer Reinheit von 85 bis über 90 %. Eine Variante davon ist das bei der Stora Kopparbergs bergslag in Schweden entwickelte Dored-Verfahren (Domnarf-Reduktions-Verfahren). Bei diesem wird vorgewärmtes Eisenerz wird mit Kohle oder Koks auf einem Roheisensumpf in einen Drehrohrofen eingebracht. Durch Einblasen von reinem Sauerstoff wird das im Reduktionsgas enthaltene Kohlenstoffmonoxid zu Kohlenstoffdioxid verbrannt und der Drehrohrofen auf etwa 1300 bis 1350 °C aufgeheizt und so flüssiges Roheisen erzeugt.Bei der Eisenerzeugung im Wirbelschichtreaktor wird Eisenschwamm aus feinkörnigen Eisenerzen erzeugt, das entweder mit eingeblasenem Wasserstoff, Erdgas oder Raffinerierestgas aufgewirbelt und reduziert wird. Dafür kommen zum Beispiel das Finex-Verfahren, das von der Hydrocarbon Research Inc. (USA) entwickelte H-Iron-Verfahren oder das ab 1955 von der Esso Research & Engineering Company (einer Tochterfirma der Standard Oil Company), New York entwickelte FIOR-Verfahren (Fluid Iron Ore Reduction) zum Einsatz.Zur Eisenerzeugung im Elektroofen ohne Vorwärmung und Vorreduktion der Einsatzstoffe im Niederschachtofen kommen das 1925 entwickelte Tysland-Hole-Verfahren und das Demag-Verfahren zum Einsatz. Das Elektrokemisk-Verfahren und Strategic-Udy-Verfahren benötigen dagegen die Vorwärmung und Vorreduktion des Erzes durch Drehrohröfen. Die Eisenerzeugung in Elektroöfen lohnt nur, wenn Strom in ausreichender Menge und kostengünstig bereitgestellt werden kann. Je nach Güte von Eisenerz und Kohlenstoffträger liegt der Energieverbrauch zwischen 2000 und 2500 kWh pro Tonne Roheisen.Weltweit sind nach dem Jahr 2000 nur das Midrex und Energiron-Direktreduktionverfahren von wirtschaftlicher Bedeutung. ==== Thermitreaktion ==== Die Zündung eines Gemisches aus Aluminiumpulver und Eisen(III)-oxid liefert über die Thermitreaktion flüssiges metallisches Eisen: Fe 2 O 3 + 2 Al ⟶ 2 Fe + Al 2 O 3 {\displaystyle {\ce {Fe2O3 + 2Al -> 2Fe + Al2O3}}} Die Reaktion hat zur Eisengewinnung aus Erz keine Bedeutung, unter anderem, weil das erforderliche Aluminium eine erhebliche Menge an Elektroenergie für seine Herstellung benötigt. Das aluminothermische Schweißen nutzt die bei der Reduktion des Eisenoxids mittels Aluminium übrigbleibende Energie des flüssigen Eisens zum Schmelzschweißen unter anderem von Eisenbahnschienen. === Stahlproduktion === Im γ-Eisen ist Kohlenstoff bis maximal 2,06 % löslich, Stahl enthält 0 bis 2 % Kohlenstoff, er ist schmied- und walzbar, jedoch erst ab 0,5 % Kohlenstoff ist er härtbar. Liegt der Wert darunter, handelt es sich um nicht härtbaren Stahl oder Schmiedeeisen.Zur Stahlerzeugung wurden verschiedene Verfahren entwickelt, darunter Pfützenöfen, Bessemer-Konverter, Öfen mit offener Feuerstelle, Sauerstoffbasisöfen und Lichtbogenöfen. In allen Fällen besteht das Ziel darin, einen Teil oder den gesamten Kohlenstoff zusammen mit anderen Verunreinigungen zu oxidieren. Andererseits können andere Metalle zugesetzt werden, um legierte Stähle herzustellen.Je nach Verfahren wird dabei die eventuell entstandene Entschwefelungsschlacke abgezogen oder abgestochen und das Roheisen dann zur Herstellung von Stahl in einem Konverter (Sauerstoffblasverfahren, Windfrischverfahren wie das Thomas-Verfahren, Herdfrischverfahren wie das Siemens-Martin-Verfahren) unter Zusatz von Branntkalk und einblasen von Luft oder Sauerstoff oxidierend verblasen. Dabei wird Silicium zu Siliciumdioxid und Kohlenstoff zu Kohlenstoffdioxid verbrannt. Der Phosphor wird als Calciumphosphat gebunden. Das flüssige Eisen hat danach eine Temperatur von etwa 1600 °C. Es enthält soviel Sauerstoff, dass beim Erstarren aus verbliebenem Kohlenstoff Kohlenstoffmonoxidblasen entstehen. Beim heute meist verwendeten Stranggießen ist dies unerwünscht. Beim Abstechen des Stahls aus dem Konverter in die Gießpfanne wird daher Aluminium zugegeben, um den Sauerstoff als Aluminiumoxid zu binden. Bei hohen Anforderungen an die Qualität des Stahls folgen auf den Konverterprozess noch weitere Verfahrensschritte, wie zum Beispiel eine Vakuumbehandlung (Sekundärmetallurgie).Alternativ kann Roheisen auch mit anderen Verfahren wie dem Puddelprozess oder Tempern sowie Schmiedeeisen (handelsübliches reines Eisen) durch Zementation zu Stahl (mit bis zu 2 % Kohlenstoff) verarbeitet werden. == Eigenschaften == === Physikalische Eigenschaften === Chemisch reines Eisen ist ein silberweißes, verhältnismäßig weiches, dehnbares, recht reaktionsfreudiges Metall mit einer Dichte von 7,873 g/cm³, welches bei 1539 ± 1 °C schmilzt (hochreines Eisen in Helium bei Atmosphärendruck) und bei 3070 °C siedet. Technisch reines Eisen schmilzt bei 1534 ± 2 °C. Der aus dem Dampfdruck berechnete Siedepunkt von hochreinem Eisen wird bei technisch reinem Eisen mit 2860 °C deutlich niedriger angegeben, wobei die in der Literatur angegebenen Werte teilweise deutlich voneinander abweichen. Im Vakuum unterhalb eines Druckes von 10–5 mmHg sublimiert Eisen zwischen 1100 und 1200 °C.Das durchschnittliche Eisenatom hat etwa die 55-fache Masse eines Wasserstoffatoms. Der Atomkern des Eisenisotops 56Fe weist einen der größten Massendefekte und damit eine der höchsten Bindungsenergien pro Nukleon aller Atomkerne auf. Deshalb wird es als Endstufe bei der Energieerzeugung durch Kernfusion in den Sternen betrachtet. Den absolut höchsten Massendefekt hat jedoch 62Ni, gefolgt von 58Fe, und erst auf dem dritten Platz folgt 56Fe.Bei Raumtemperatur ist die einzig stabile allotrope Modifikation des reinen Eisens das Ferrit oder α-Eisen. Diese Modifikation kristallisiert in einer kubisch-raumzentrierten Kristallstruktur (Wolfram-Typ) in der Raumgruppe Im3m (Raumgruppen-Nr. 229)Vorlage:Raumgruppe/229 mit dem Gitterparameter a = 286,6 pm sowie zwei Formeleinheiten pro Elementarzelle. Diese Modifikation ist unterhalb von 910 °C stabil. Oberhalb dieser Temperatur wandelt es sich in die γ-Modifikation oder Austenit um. Diese besitzt eine kubisch-flächenzentrierte Struktur (Kupfer-Typ) mit der Raumgruppe Fm3m (Nr. 225)Vorlage:Raumgruppe/225 und dem Gitterparameter a = 364,7 pm. Sie weißt auch eine geringfügig höhere Dichte als α-Eisen auf. Eine dritte Strukturänderung erfolgt bei 1390 °C, oberhalb dieser Temperatur bis zum Schmelzpunkt bei 1539 °C ist wieder das kubisch-raumzentrierte δ-Ferrit stabil. Bei hohem Druck finden ebenfalls Phasenübergänge statt: bei Drücken von mehr als etwa 10 bis 15 GPa und Temperaturen von höchstens einigen hundert Grad Celsius wandelt sich α-Eisen in ε-Eisen, dessen Kristallgitter eine hexagonal dichteste Kugelpackung (hcp) ist, um; bei höheren Temperaturen bis hin zum Schmelzpunkt findet eine entsprechende Umwandlung von γ-Eisen zu ε-Eisen statt, wobei der Druck des Phasenübergangs mit der Temperatur steigt. Darüber hinaus gibt es möglicherweise einen weiteren Phasenübergang von ε-Eisen nach β-Eisen, der bei etwa 50 GPa und mehr als 1500 K liegt; die Existenz dieser β-Phase ist umstritten, und auch zu ihrer Kristallstruktur gibt es verschiedene Befunde, unter anderem eine orthorhombische oder eine doppelte hcp-Struktur. Diese Umwandlungen wird die „Polymorphie des Eisens“ genannt.Das Fehlen einer β-Phase in der Standard-Nomenklatur der Eisenallotrope rührt daher, dass früher angenommen wurde, dass die Änderung des Magnetismus am Curiepunkt bei 766 °C von Ferro- auf Paramagnetismus mit einer Strukturänderung einhergeht und somit eine weitere Modifikation zwischen 766 und 910 °C existiert, die als β-Modifikation oder β-Eisen bezeichnet wurde. Dies stellte sich jedoch nach genaueren Messungen als falsch heraus.Die Löslichkeit von Kohlenstoff in α-Eisen ist sehr gering und beträgt maximal 0,018 % bei 738 °C, wie aus dem Eisen-Kohlenstoff-Diagramm hervorgeht. Wesentlich mehr Kohlenstoff (bis zu 2,1 % bei 1153 °C) vermag sich in γ-Eisen zu lösen. In geschmolzenem Eisen beträgt die Löslichkeit von Kohlenstoff bei 1153 °C etwa 4,3 %, wobei diese mit steigender Temperatur noch zunimmt. Kühlt eine solche Eisenschmelze mit einem Kohlenstoffgehalt von über 4,3 % ab, scheidet sich aus ihr der überschüssige Kohlenstoff je nach Abkühlgeschwindigkeit als Graphit oder Zementit aus.Der Schmelzpunkt des Eisens ist experimentell nur für Drücke von bis zu etwa 50 GPa gut bestimmt. Bei höheren Drücken liefern verschiedene experimentelle Techniken stark unterschiedliche Ergebnisse. So lokalisieren verschiedene Studien den γ-ε-Tripelpunkt bei Drücken, die sich um mehrere Dutzend Gigapascal unterscheiden, und liegen bei den Schmelztemperaturen unter hohem Druck um 1000 K und mehr auseinander. Im Allgemeinen ergeben molekulardynamische Modellrechnungen und Schockexperimente höhere Temperaturen und steilere Schmelzkurven als statische Experimente in Diamantstempelzellen.Das Spektrum von Eisen zeigt Spektrallinien in allen Spektralbereichen. In der Astronomie, genauer in der Röntgenastronomie, sind die im Röntgenbereich liegenden starken Emissionslinien von neutralem Eisen von großem Interesse. Astronomen beobachten sie in aktiven galaktischen Kernen, Röntgendoppelsternen, Supernovae und Schwarzen Löchern. === Magnetische Eigenschaften === Als Übergangsmetall besitzt Eisen in jedem Atom ein permanentes magnetisches Moment. Unterhalb seines Curie-Punktes von 770 °C wechselt α-Eisen von paramagnetisch zu ferromagnetisch: Die Spins der beiden ungepaarten Elektronen in jedem Atom richten sich im Allgemeinen nach den Spins seiner Nachbarn aus, wodurch ein magnetisches Gesamtfeld entsteht. Dies geschieht, weil die Orbitale dieser beiden Elektronen (dz2 und dx2 − y2) nicht auf benachbarte Atome im Gitter zeigen und daher nicht an der Metallbindung beteiligt sind.In Abwesenheit einer externen Magnetfeldquelle werden die Atome spontan in magnetische Domänen mit einem Durchmesser von etwa 10 Mikrometern aufgeteilt. Dies sind durch Blochwände begrenzte Kristallbereichen (Weissschen Bezirken). Wegen der regellosen Orientierung dieser magnetischen Domänen ist äußerlich kein Moment spürbar. Somit hat ein makroskopisches Stück reinen α-Eisens ein Gesamtmagnetfeld von nahezu Null.Eine andere Möglichkeit stellt die antiparallele Anordnung der Momente in Eisenlegierungen unterhalb der Néel-Temperatur TN dar (Antiferromagnetismus). Hier kompensieren sich die Momente bereits auf atomarer Ebene. Während im para- und antiferromagnetischen Zustand durch technisch übliche äußere Magnetfelder keine nennenswerte Polarisierung zu erreichen ist, gelingt dies im ferromagnetischen Zustand leicht durch Wanderung der Blochwände und Drehung der Polarisationsrichtung der Domänen.Das Anlegen eines externen Magnetfelds bewirkt, dass die Domänen, die in der gleichen allgemeinen Richtung magnetisiert sind, auf Kosten benachbarter Domänen wachsen, die in andere Richtungen weisen, wodurch das externe Feld verstärkt wird. Dieser Effekt wird in Elektrogeräten ausgenutzt, die Magnetfelder kanalisieren müssen, wie zum Beispiel elektrischen Transformatoren, Magnetaufzeichnungsköpfen und Elektromotoren. Verunreinigungen, Gitterfehler oder Korn- und Partikelgrenzen können die Domänen an den neuen Positionen „fixieren“, so dass der Effekt auch nach dem Entfernen des äußeren Feldes bestehen bleibt und das Eisenobjekt somit zu einem Dauermagneten wird. Dieser Magnetismus verliert sich bei reinem α-Eisens bei Entfernung des äußeren magnetischen Feldes wieder, ist also nur temporär. Dagegen besitzt kohlenstoffhaltiges Eisen, besonders Stahl, einen permanenten Magnetismus, der nach Entfernung des magnetischen Feldes erhalten bleibt.Ein ähnliches Verhalten zeigen einige Eisenverbindungen wie die Ferrite und das Mineral Magnetit, eine kristalline Form des gemischten Eisen(II,III)-oxids (obwohl der atomare Mechanismus, der Ferrimagnetismus, etwas anders ist). Magnetitstücke mit natürlicher Dauermagnetisierung (Magneteisensteine) waren die frühesten Kompasse für die Navigation. Magnetitteilchen wurden ausgiebig in magnetischen Aufzeichnungsmedien wie Kernspeichern, Magnetbändern, Disketten und Platten verwendet, bis sie durch Material auf Kobaltbasis ersetzt wurden. === Chemische Eigenschaften === Eisen ist beständig an trockener Luft, in luft- und kohlenstoffdioxidfreiem Wasser, in Laugen, in trockenem Chlor sowie in konzentrierter Schwefelsäure, konzentrierter Salpetersäure und basischen Agenzien (außer heißer Natronlauge) mit einem pH-Wert größer als 9. Diese Beständigkeit rührt von der Anwesenheit einer zusammenhängenden Oxid-Schutzhaut her. An Luft entsteht bei Raumtemperatur auf frisch poliertem Eisen in wenigen Minuten eine etwa 2 nm dicke Oxidschicht, die nach fünf Tagen auf etwa 6 nm angewachsen ist. Das Wachstum dieser Schichten erfolgt bei einigen Legierungen, wie auf chromhaltigen Stählen, sehr viel langsamer. In nichtoxidierenden Säuren wie Salzsäure sowie verdünnter Schwefel- oder Salpetersäure löst sich Eisen rasch unter Entwicklung von Wasserstoff. Fe + 2 HCl ⟶ FeCl 2 + H 2 {\displaystyle {\ce {Fe + 2HCl -> FeCl2 + H2}}} Auch von Wasser wird es oberhalb von 500 °C, ebenso von heißen Laugen in umkehrbarer Reaktion zersetzt: 3 Fe + 4 H 2 O ⟷ Fe 3 O 4 + 4 H 2 {\displaystyle {\ce {3Fe + 4H2O <-> Fe3O4 + 4H2}}} Fe + 4 OH − + 2 H 2 O ⟷ [ Fe ( OH ) 6 ] 4 − + H 2 {\displaystyle {\ce {Fe + 4OH^- +2H2O <-> [Fe(OH)_6]^{4-}{}+ H2}}} Konzentrierte Natronlauge greift Eisen auch unter Luftabschluss an, dieses geht dabei unter Hydroxoferrat(II)-Bildung in Lösung. An feuchter Luft und in Wasser, das Sauerstoff oder Kohlenstoffdioxid enthält, wird Eisen leicht unter Bildung von Eisenoxidhydrat (Rosten) oxidiert. Da die dabei entstehende Oxidschicht weich und porös ist, kann der Rostvorgang ungehindert fortschreiten. Besonders aggressiv verhält sich elektrolythaltiges Meerwasser oder SO2-haltiges Wasser in Industriegebieten. Wird Eisen an trockener Luft erhitzt, so bildet sich eine dünne Schicht von Eisen(II,III)-oxid (Fe3O4, Eisenhammerschlag), die stark gefärbt ist (Anlassen). Sehr fein verteiltes, pyrophores Eisen reagiert schon bei Raumtemperatur mit Sauerstoff aus der Luft unter Feuererscheinung. Brennende Stahlwolle reagiert in feuchtem Chlor-Gas kräftig unter Bildung von braunen Eisen(III)-chlorid-Dämpfen. Wird ein Gemisch aus Eisen- und Schwefelpulver (im Gewichtsverhältnis 7:4) erhitzt, so entsteht vorwiegend Eisen(II)-sulfid. Auch mit weiteren Nichtmetallen wie Phosphor, Silicium, Schwefel und Kohlenstoff bildet Eisen bei erhöhter Temperatur Phosphide, Silicide, Sulfide oder Carbide. Eisen bildet mit Wasserstoff keine unter Normalbedingungen stabilen binären Hydride, wirkt aber als Hydrierungskatalysator. Es bildet jedoch ternäre Hydride oder Donoraddukte. === Geruch des Eisens === Reines Eisen ist geruchlos. Der typische, als metallisch klassifizierte Geruch, wenn Eisengegenstände berührt werden, entsteht durch eine chemische Reaktion von Stoffen des Schweißes und des Fetts der Haut mit den sich dabei bildenden zweiwertigen Eisenionen.Einer der wichtigsten Duftträger ist 1-Octen-3-on, das noch in großer Verdünnung pilzartig-metallisch riecht. Dieser macht etwa ein Drittel des Geruchs aus. Der Rest sind andere Aldehyde und Ketone. Vorstufe der Geruchsstoffe sind Lipidperoxide. Diese entstehen, wenn Hautfette durch bestimmte Enzyme oder nichtenzymatische Prozesse (zum Beispiel UV-Anteil des Lichts) oxidiert werden. Diese Lipidperoxide werden dann durch die zweiwertigen Eisenionen zersetzt, wobei die Duftstoffe gebildet werden. Die zweiwertigen Eisenionen entstehen durch Korrosion des Eisens bei Berührung mit dem Handschweiß, der korrosive organische Säuren und Chloride enthält.Beim Verreiben von Blut auf der Haut entsteht ein ähnlicher Geruch, da Blut ebenfalls Eisen(II)-ionen enthält und diese durch ähnliche Reaktionen Geruchsstoffe bilden.Von stark verrosteten Gegenständen (unter anderem Bildung von Eisen(III)-Verbindungen) geht bei Berührung kein metallischer Geruch aus, wie die Alltagserfahrung lehrt. In Übereinstimmung hiermit steht die Beobachtung, dass die Zersetzung von Lipidperoxiden nicht durch Eisen(III)-Ionen katalysiert wird. === Gefahrstoffkennzeichnung === Während Eisen in massiver Form kein Gefahrstoff ist, können Eisenpulver brennbar, in feinst verteilter Form pyrophor sein. Entsprechend müssen solche Pulver mit einer zusätzlichen Gefahrstoffkennzeichnung versehen werden. == Isotope == Eisen hat 27 Isotope und zwei Kernisomere, von denen vier natürlich vorkommende, stabile Isotope sind. Sie haben die relativen Häufigkeiten: 54Fe (5,8 %), 56Fe (91,7 %), 57Fe (2,2 %) und 58Fe (0,3 %). Das Isotop 60Fe hat eine Halbwertszeit von 2,62 Millionen Jahren, 55Fe von 2,737 Jahren und das Isotop 59Fe eine von 44,495 Tagen. Die restlichen Isotope und die beiden Kernisomere haben Halbwertszeiten zwischen weniger als 150 ns und 8,275 Stunden. Die Existenz von 60Fe zu Beginn der Entstehung des Planetensystems konnte durch den Nachweis einer Korrelation zwischen den Häufigkeiten von 60Ni, dem Zerfallsprodukt von 60Fe, und den Häufigkeiten der stabilen Fe-Isotope in einigen Phasen mancher Meteorite (beispielsweise in den Meteoriten Semarkona und Chervony Kut) nachgewiesen werden. Möglicherweise spielte die freigesetzte Energie beim radioaktiven Zerfall von 60Fe, neben der atomaren Zerfallsenergie des ebenfalls vorhandenen radioaktiven 26Al, eine Rolle beim Aufschmelzen und der Differenzierung der Asteroiden direkt nach ihrer Bildung vor etwa 4,6 Milliarden Jahren. Heute ist das ursprünglich vorhanden gewesene 60Fe in 60Ni zerfallen. Die Verteilung von Nickel- und Eisenisotopen in Meteoriten erlaubt es, die Isotopen- und Elementehäufigkeit bei der Bildung des Sonnensystems zu messen und die vor und während der Bildung des Sonnensystems vorherrschenden Bedingungen zu erschließen.Von den stabilen Eisenisotopen besitzt nur 57Fe einen von null verschiedenen Kernspin. Es ist damit für die Mößbauerspektroskopie geeignet. == Verwendung == Eisen ist mit 95 % Gewichtsanteil an genutzten Metallen das weltweit meistverwendete. Der Grund dafür liegt in seiner weiten Verfügbarkeit, welche es recht preiswert macht, und der hervorragenden Eigenschaften seiner Legierungen, die sie für viele Bereiche in der Technik zu einem Grundwerkstoff machen.Der größte Teil des aus Roheisen produzierten Eisens ist der Hauptbestandteil von Stahl und Gusseisen. Roheisen enthält vier bis fünf Prozent Kohlenstoff sowie unterschiedliche Anteile an Schwefel, Phosphor und Silicium. Es ist ein Zwischenprodukt in der Herstellung von Gusseisen und Stahl. Gusseisen enthält über 2,06 % Kohlenstoff und weitere Legierungselemente, wie beispielsweise Silicium und Mangan, die die Gießbarkeit verbessern. Gusseisen ist sehr hart und spröde. Es lässt sich gewöhnlich nicht plastisch verformen (schmieden), aber sehr gut gießen wegen des vergleichsweise niedrigen Schmelzpunktes und der dünnflüssigen Schmelze. Stahl enthält maximal 2,06 % Kohlenstoff. Im Gegensatz zu Gusseisen ist er schmiedbar. Durch Legieren, sowie eine geeignete Kombination von thermischer Behandlung (siehe Härten) und plastischer Formung (Kaltwalzen) können die mechanischen Eigenschaften des Stahls in weiten Grenzen variiert werden. Stahl besitzt eine hervorragende Festigkeit und Zähigkeit beim Eingehen von Legierungen mit anderen Metallen wie Chrom, Molybdän und Nickel. Es wird bei der Herstellung von Landfahrzeugen, Schiffen und im gesamten Baubereich (Stahlbetonbau, Stahlbau) eingesetzt. Weitere Einsatzgebiete sind Verpackungen (Dosen, Gebinde, Behälter, Eimer, Band), Rohrleitungen, Druckbehälter, Gasflaschen und Federn. Industriell sind verschiedene Stähle verbreitet; in Deutschland sind etwa 7.500 Sorten genormt.Chemisch reines Eisen besitzt im Gegensatz zum kohlenstoffhaltigen Eisen nur eine untergeordnete technische Bedeutung. Es wird etwa als Material für Katalysatoren, wie dem Haber-Bosch-Verfahren in der Ammoniak-Synthese oder der Fischer-Tropsch-Synthese, genutzt.Eisen ist (neben Cobalt und Nickel) eines jener drei ferromagnetischen Metalle, die mit ihrer Eigenschaft den großtechnischen Einsatz des Elektromagnetismus unter anderem in Generatoren, Transformatoren, Drosseln, Relais und Elektromotoren ermöglichen. Es wird rein oder unter anderem mit Silicium, Aluminium, Kobalt oder Nickel (siehe Mu-Metall) legiert und dient als weichmagnetisches Kernmaterial zur Führung von Magnetfeldern, zur Abschirmung von Magnetfeldern oder zur Erhöhung der Induktivität. Es wird hierzu massiv und in Form von Pulver (Pulverkerne), vor allem aber als Elektroblech produziert.Eisenpulver wird in der Chemie (zum Beispiel als Katalysator) verwendet und dient in entsprechenden Tonband-Typen zur magnetischen Datenaufzeichnung. Eisendraht diente zur Datenaufzeichnung im Drahttongerät und wird unter anderem zur Herstellung von Drahtseilen verwendet. In der Medizin werden eisenhaltige Präparate als Antianämika eingesetzt, kausal in der Behandlung von Eisenmangelanämien und additiv in der Behandlung von durch andere Ursachen hervorgerufenen Anämien. Viele Verbindungen des Eisens dienen als chemische Reagenzien und Pigmente (zum Beispiel Eisenoxidpigmente).Die Eigenschaft feiner Eisenspäne leicht Feuer zu fangen, wurde seit der Eisenzeit zum Schlagen von Funken mit dem Schlagfeuerzeug genutzt. Solche Feuerzeuge aus Feuerstahl, Feuerstein und Zunder waren in Europa und vielen anderen Regionen bis zur Einführung der Streichhölzer ab ca. 1830 die übliche Methode Feuer zu machen. Auch die steinzeitlichen Pyrit-Feuerzeuge verwenden eine Eisenverbindung, die sich unter Schlag entzündet: Eisen(II)-disulfid.Eisen wurde in der Alchemie verwendet, wo es mit dem Zeichen „♂“ für den Planeten Mars und für Männlichkeit assoziiert wurde. == Biologische Bedeutung == === Bestandteil von Lebewesen === Eisen ist ein essentielles Spurenelement für fast alle Lebewesen, bei Tieren vor allem für die Blutbildung. In pflanzlichen Organismen beeinflusst es die Photosynthese sowie die Bildung von Chlorophyllen und Kohlenhydraten, da in Pflanzen eisenhaltige Enzyme an der Photosynthese, der Chlorophyll- und Kohlenhydratbildung beteiligt sind. In Pflanzen kommt Eisen fast ausschließlich in Form von freien anorganischen Eisenionen vor. In der Nitrogenase (Stickstofffixierung) ist Eisen neben Molybdän ebenfalls enthalten. Es gibt Pflanzen, die aus kalkhaltigen Böden Eisenionen durch Phyto-Siderophore (eisenkomplexierende Verbindung) in Kombination mit lokaler Freisetzung von Wasserstoffionen bioverfügbar machen, dabei wird Fe3+ zu Fe2+ reduziert und anschließend komplexiert. In Pflanzen wird das Eisen, ähnlich wie in der Leber, an Phytoferritine gebunden. Bei Pflanzen ist es für die Chlorophyllsynthese unbedingt notwendig. Das Absinken des Eisen-Gehaltes in Pflanzen unter ein kritisches Minimum führt zum Erbleichen und Gelbwerden der grünen Pflanzenteile (Chlorose).Auch in Pilzen (zum Beispiel als Ferrichrom, ein Siderophor mit wachstumsfördernden Eigenschaften), Bakterien (in Streptomyces wird das Ferrioxamin B gebildet) und Meereswürmern (in ihnen und in Lingula kommt das Nichthäm-Eisenprotein Hämerythrin vor) spielen Eisenverbindungen eine wichtige Rolle.Im Körper von Menschen und Tieren liegt es oxidiert als Eisen2+ und Eisen3+ vor. Als Zentralatom des Kofaktors Häm b in Hämoglobin, Myoglobin und Cytochromen ist es bei vielen Tieren und beim Menschen für Sauerstofftransport und -speicherung sowie für die Elektronenübertragung verantwortlich. In diesen Proteinen ist es von einem planaren Porphyrinring umgeben.Weiter ist Eisen Bestandteil von Eisen-Schwefel-Komplexen (so genannte Eisen-Schwefel-Cluster) in vielen Enzymen, beispielsweise Nitrogenasen, Hydrogenasen oder den Komplexen der Atmungskette. Als dritte wichtige Klasse der Eisenenzyme sind die so genannten Nicht-Häm-Eisenenzyme zu nennen, beispielsweise die Methan-Monooxygenase, Ribonukleotidreduktase und das Hämerythrin. Diese Proteine nehmen in verschiedenen Organismen Aufgaben wahr: Sauerstoffaktivierung, Sauerstofftransport, Redoxreaktionen und Hydrolysen. Ebenso wichtig ist dreiwertiges Eisen als Zentralion im Enzym Katalase, das in den Peroxisomen der Zellen das im Stoffwechsel entstehende Zellgift Wasserstoffperoxid abbaut. Eisenionen sind auch ein Katalysator bei der Oxidation organischer Verbindungen unter speziellen Bedingungen. Diese Fenton-Reaktion wird bei einem Überangebot an Eisen als eine der wesentlichen Quellen reaktiver Sauerstoffspezies in Zellen angesehen, welche eine Rolle bei verschiedenen Krankheiten und beim Altern spielen.Die Speicherung des Eisens erfolgt intrazellulär in dem Enzym Ferritin (20 % Eisenanteil) und dessen Abbauprodukt Hämosiderin (37 % Eisenanteil). Transportiert wird Eisen durch Transferrin.Der Mensch enthält 2,5 bis 4 g Eisen, davon finden sich 60 % (2,0 bis 2,5 g) im Hämoglobin der Erythrocyten, etwa 1 g in Leber und Knochenmark (Speicherproteine Ferritin und Hämosiderin), etwa 10 % bis 15 % im Myoglobin (etwa 400 mg Eisen), 250 mg in Enzymsystemen 0,1 bis 0,2 % Eisen in Transportproteine (zum Beispiel Schwefel-, Eisenproteine, Cytochrome) (Cytochrom: 0,1 % des Gesamteisens). === Externer Elektronendonor und -akzeptor === Einige Bakterien nutzen Fe(III) als Elektronenakzeptor für die Atmungskette. Sie reduzieren es damit zu Fe(II), was eine Mobilisierung von Eisen bedeutet, da die meisten Fe(III)-Verbindungen schwer wasserlöslich sind, die meisten Fe(II)-Verbindungen aber gut wasserlöslich. Einige phototrophe Bakterien nutzen Fe(II) als Elektronendonator für die Reduktion von CO2. == Medizinische Bedeutung == === Eisenbedarf und Eisenmangel === Eisen ist in der Oxidationsstufe Fe2+ und Fe3+ essenziell für alle Organismen. Der tägliche Bedarf beträgt für Männer 1 mg, für Frauen 2 mg. Aufgrund der ineffizienten Resorption muss die Zufuhr über die Nahrung bei Männern etwa 5 bis 9 mg und bei Frauen 14 bis 18 mg betragen. Ein Eisenmangel kann bei Schwangeren und Sportlern am ehesten auftreten. Aus der Muttermilch kann ein Säugling etwa 50 % des Eisens resorbieren, aus der Kuhmilch nur 20 %.Vor allem Frauen vor den Wechseljahren können einen Eisenmangel aufweisen, wobei ein Grund dafür der erhöhte Bedarf aufgrund der Menstruation ist. In Deutschland ist eine Unterversorgung auf 2 % bei erwachsenen Männern beziehungsweise und 5 % der Frauen geschätzt worden. Frauen sollten circa 15 Milligramm Eisen pro Tag zuführen, während der Tagesbedarf eines erwachsenen Mannes nur etwa 10 Milligramm beträgt. Außerdem verlieren Frauen zusätzlich bei der Geburt eines Kindes circa 1000 Milligramm Eisen. Durch die gleichzeitige Einnahme von Vitamin C wird die Resorptionsquote von Eisen deutlich erhöht. Besonders reichhaltig ist Eisen in Blutwurst, Leber, Hülsenfrüchten und Vollkornbrot enthalten und nur gering in (Muskel-)Fleisch. Gleichzeitiger Verzehr von Milchprodukten, Kaffee oder schwarzem Tee hemmt jedoch die Eisenaufnahme. === Toxizität und Eisenüberladung === ==== Menschen ==== Eisen ist ein wichtiges Spurenelement für den Menschen, kann jedoch bei Überdosierung schädlich wirken. Davon sind vor allem Menschen betroffen, die an Hämochromatose, einer Regulationsstörung der Eisenaufnahme im Darm, leiden. Das Eisen reichert sich im Verlauf der Krankheit in der Leber an und führt dort zu einer Siderose und weiteren Organschäden.Weiterhin steht Eisen im Verdacht, Infektionskrankheiten, zum Beispiel Tuberkulose zu fördern, da die Erreger zur Vermehrung ebenfalls Eisen benötigen. Eine Überversorgung an Eisen führt zur erhöhten Anfälligkeit gegenüber Infektionskrankheiten (Tuberkulose, Salmonellose, AIDS, Yersiniose). Außerdem kommt es bei einigen neurodegenerativen Erkrankungen wie beispielsweise der Parkinson- oder der Alzheimer-Krankheit zu Eisenablagerungen in bestimmten Bereichen des Gehirns. Im Jahr 2014 war noch unklar, ob dies eine Ursache oder eine Folge der Erkrankung ist.Daher sind Eisenpräparate oder andere eisenhaltige Nahrungsergänzungsmittel nur zu empfehlen, wenn ein ärztlich diagnostizierter Eisenmangel vorliegt. ==== Pflanzen ==== Auch in pflanzlichen Organismen ist Eisen ein essentielles Spurenelement. Es beeinflusst die Photosynthese sowie die Bildung von Chlorophyll und Kohlenhydraten. Eisenüberladung kann sich jedoch in Form von Eisentoxizität bemerkbar machen. In Böden liegt es bei normalen pH-Werten als Fe(OH)3 vor. Bei geringem Sauerstoffgehalt des Bodens wird Eisen(III) durch Reduktion zum Eisen(II) reduziert. Dadurch wird das Eisen in eine lösliche, für Pflanzen verfügbare Form gebracht. Nimmt diese Verfügbarkeit unter anaeroben Bedingungen, zum Beispiel durch Bodenverdichtung, zu stark zu, können Pflanzenschäden durch Eisentoxizität auftreten, eine Erscheinung, die besonders in Reisanbaugebieten bekannt ist. == Nachweis == Für Eisen existieren eine Reihe von Nachweismethoden. Neben spektralanalytischen Verfahren (Eisen liefert ein linienreiches Spektrum) sind vielfältige chemische Nachweisverfahren bekannt. Bei der Nachweisreaktion für Eisen-Ionen werden zunächst die beiden Kationen Fe2+ und Fe3+ unterschieden. === Eisennachweis mit Thioglycolsäure === Mit Thioglycolsäure lassen sich Fe2+- und Fe3+-Ionen nachweisen: 2 Fe 3 + + 2 HS − CH 2 − COOH ⟶ 2 Fe 2 + + ( SCH 2 COOH ) 2 + 2 H + {\displaystyle {\ce {2 Fe^3+ + 2 HS-CH2-COOH -> 2 Fe^2+ + (SCH2COOH)2 + 2 H^+}}} Fe 2 + + 2 HS − CH 2 − COOH ⟶ [ Fe ( SCH 2 COO ) 2 ] 2 − + 4 H + {\displaystyle {\ce {Fe^2+ + 2 HS-CH2-COOH -> [Fe(SCH2COO)2]^2- + 4 H^+}}} Die erste Reaktion findet nur bei Anwesenheit von Fe3+-Ionen statt. Bei Anwesenheit von Fe2+- oder Fe3+-Ionen entsteht eine intensive Rotfärbung. === Eisennachweis mit Hexacyanoferraten === Die Fe2+-Ionen lassen sich mit rotem Blutlaugensalz nachweisen: 3 F e 2 + + 2 K 3 [ F e ( C N ) 6 ] ⟶ F e 3 [ F e ( C N ) 6 ] 2 + 6 K + {\displaystyle \mathrm {3\ Fe^{2+}+2\ K_{3}[Fe(CN)_{6}]\longrightarrow Fe_{3}[Fe(CN)_{6}]_{2}+6\ K^{+}} } Fe3+-Ionen lassen sich mit gelbem Blutlaugensalz nachweisen: 4 F e 3 + + 3 K 4 [ F e ( C N ) 6 ] ⟶ F e 4 [ F e ( C N ) 6 ] 3 + 12 K + {\displaystyle \mathrm {4\ Fe^{3+}+3\ K_{4}[Fe(CN)_{6}]\longrightarrow Fe_{4}[Fe(CN)_{6}]_{3}+12\ K^{+}} } Bei beiden Nachweisreaktionen entsteht tiefblaues Berliner Blau, ein wichtiger Farbstoff. Es läuft keine Komplexbildungsreaktion ab, sondern lediglich ein Kationenaustausch. Beide Pigmente sind weitgehend identisch, da zwischen ihnen ein chemisches Gleichgewicht besteht. Dabei geht Fe3+ in Fe2+ über und umgekehrt: F e 2 + + [ F e ( C N ) 6 ] 3 − ⇌ F e 3 + + [ F e ( C N ) 6 ] 4 − {\displaystyle \mathrm {Fe^{2+}+[Fe(CN)_{6}]^{3-}\ \rightleftharpoons \ Fe^{3+}+[Fe(CN)_{6}]^{4-}} } Die besonders intensive blaue Farbe des Komplexes entsteht durch Metall-Metall-Charge-Transfers zwischen den Eisen-Ionen. Es ist bemerkenswert, dass dieses bekannte Eisennachweisreagenz selbst Eisen enthält, welches durch die Cyanidionen chemisch gut maskiert wird (Innerorbitalkomplex) und somit die Grenzen der chemischen Analytik aufzeigt. === Eisennachweis mit Thiocyanaten === Alternativ kann Eisen(III)-salze mit Thiocyanaten (Rhodaniden) nachgewiesen werden. Diese reagieren mit Eisen(III)-Ionen zu Eisen(III)-thiocyanat: F e 3 + + 3 S C N − ⟶ F e ( S C N ) 3 {\displaystyle \mathrm {Fe^{3+}+3\ SCN^{-}\longrightarrow Fe(SCN)_{3}} } Es bildet sich das tiefrote Eisen(III)-thiocyanat (Fe(SCN)3), welches in Lösung bleibt. Einige Begleitionen stören diesen Nachweis (zum Beispiel Co2+, Mo3+, Hg2+, Überschuss an Mineralsäuren), so dass unter Umständen ein Kationentrennungsgang durchgeführt werden muss. === Eisennachweis mit Dimethylglyoxim === Eisen(II)-Ionen bilden mit Dimethylglyoxim einen planaren Komplex. Dazu wird zu einer (mit Weinsäure versetzte, ammoniakalisch gemachten) zu prüfenden Lösung einige Tropfen einer 1 %igen alkoholischen Dimethylglyoximlösung zugesetzt. Es bildet sich der intensiv rote Eisen(II)-Komplex. Die zugesetzte Weinsäure verhindert die Fällung von Eisenhydroxiden, sodass der sehr empfindliche Nachweis auch bei Anwesenheit von Fe(III)-Ionen ausführbar ist. === Eisennachweis mit 2,2′-Bipyridin- oder 1,10-Phenanthrolin === Eisen(II)-Ionen bilden mit 2,2′-Bipyridin oder 1,10-Phenanthrolin in schwach saurer, neutraler oder ammoniakalischer Lösung rote Chelatkomplexe. Zum Nachweis von Eisen(III)-Ionen müssen diese vorher (zum Beispiel mit Hydroxylaminhydrochlorid) zu Eisen(II)-Ionen reduziert werden. == Verbindungen == In seinen chemischen Verbindungen tritt Eisen hauptsächlich mit den Oxidationsstufen +2 (zum Beispiel Eisen(II)-chlorid), +3 (zum Beispiel Eisen(III)-fluorid), ferner +6 (zum Beispiel Bariumferrat(VI)) auf, doch existieren auch Verbindungen mit den Oxidationsstufen -2, -1 und 0 (zum Beispiel Eisenpentacarbonyl) sowie +1, +4 und +5. In keiner Verbindung tritt das Eisen in der seiner Nebengruppennummer VIII entsprechenden Oxidationsstufe auf. Seit 2016 sind Eisenverbindungen in der Oxidationsstufe +7 bekannt. === Oxide === Eisen bildet mit Sauerstoff zweiwertige und dreiwertige Oxide. Da diese keine feste Schutzschicht bilden, oxidiert ein der Atmosphäre ausgesetzter Eisenkörper vollständig. Die poröse Oxidschicht verlangsamt den Oxidationsvorgang, kann ihn jedoch nicht verhindern, weshalb das Brünieren als schwacher Schutz vor Korrosion dient. Wenn Eisenkörper vor dem endgültigen Verrosten eingesammelt und dem Recycling zugeführt werden, sind verrostetes Eisen und verrosteter Stahl bei der Stahlerzeugung im Elektro-Schmelzofen ein begehrter und wertvoller Sauerstoffträger. Dieser Sauerstoff im Eisenschrott wirkt beim „Stahlkochen“ als Oxidationsmittel, um ungewünschte qualitätsmindernde Beimengungen (zum Beispiel Leichtmetalle) zu oxidieren. Eisen(III)-oxid (Fe2O3) ist eine rote bis braune Substanz und entsteht durch Oxidation von Eisen im Sauerstoffüberschuss. In der Natur tritt es in Form der Minerale Hämatit und Maghemit auf. Eisen(II,III)-oxid (Fe3O4) entsteht auf natürlichem Wege durch vulkanische Vorgänge oder beim direkten Verbrennen von Eisen, zum Beispiel mit dem Schneidbrenner als Eisenhammerschlag und wird als Mineral als Magnetit bezeichnet. Eisen(II)-oxid (FeO) entsteht bei der Zersetzung von Eisen(II)-oxalat FeC2O4 bei 850 °C im Vakuum. Es ist schwarz und bis 560 °C instabil. Als Mineral Wüstit entsteht es meist aus der Umwandlung von Magnetit bei hohen Temperaturen. Daneben ist mit FeO2 noch ein weiteres Eisenoxid bekannt.Eisen(III)-hydroxidoxid (FeO(OH)) gehört zur Gruppe der Eisenhydroxide oder Eisen(III)-oxidhydrate, die sich im Grad ihrer Hydratation unterscheiden. Beim Erwärmen geht Eisen(III)-hydroxidoxid in Eisen(III)-oxid über. Die α-Form kommt in der Natur als Nadeleisenerz oder Goethit vor. Die y-Form kommt in der Natur als Rubinglimmer oder Lepidokrokit vor. In der α-Form hat es eine orthorhombische Kristallstruktur, Raumgruppe Pbnm (Raumgruppen-Nr. 62, Stellung 3)Vorlage:Raumgruppe/62.3.Eisenoxide und Eisenhydroxide werden als Lebensmittelzusatzstoffe verwendet (E 172). === Salze === Eisen bildet zweiwertige und dreiwertige Salze. Eisen(II)-chlorid (FeCl2 · 6 H2O) wird zum Ausfällen von Sulfiden, Faulgasentschwefelung, Biogasentschwefelung, Chromatreduzierung und Phosphorelimination verwendet; dazu gehört die Simultanfällung. Es besitzt eine Kristallstruktur vom Cadmium(II)-chlorid-Typ mit der Raumgruppe R3m (Raumgruppen-Nr. 166)Vorlage:Raumgruppe/166. Eisen(II)-fluorid ist in reinem Zustand ein weißer Feststoff, welcher in Wasser wenig löslich ist. Es besitzt eine Kristallstruktur vom Rutil-Typ, Raumgruppe P42/mnm (Raumgruppen-Nr. 136)Vorlage:Raumgruppe/136. Eisen(II)-bromid und Eisen(II)-iodid sind kristalline, hygroskopische Feststoffe, die eine trigonale Kristallstruktur vom Cadmium(II)-hydroxid-Typ mit der Raumgruppe P3m1 (Raumgruppen-Nr. 164)Vorlage:Raumgruppe/164 haben. Eisen(II)-sulfat (FeSO4 · 7 H2O) wird wegen seiner Farbe auch Grünsalz genannt, als Mineral Melanterit. Es wird wie Eisen(II)-chlorid verwendet, sowie bei getrocknetem Eisen(II)-sulfat als Chromatreduzierer speziell im Zement gegen die Chromatallergie. Wasserfreies Eisen(III)-chlorid (FeCl3 · 6 H2O) ist eine schwarze, leicht stechend nach Salzsäure riechende Substanz. Als wasserfreie Verbindung ist es extrem hygroskopisch, entzieht also der Luft Wasser. Mit steigendem Wassergehalt nimmt die hygroskopische Natur ab und die Farbe verändert sich über rot-bräunlich bis hin zu gelblich. Eisen(III)-chlorid hat eine trigonale Kristallstruktur mit der Raumgruppe R3 (Raumgruppen-Nr. 148)Vorlage:Raumgruppe/148. Es kann Kupfer oxidieren und lösen. Deshalb können wässrige Eisen(III)-chlorid-Lösungen zum schonenden Ätzen von Leiterplatten verwendet werden. C u + 2 F e C l 3 ⟶ C u C l 2 + 2 F e C l 2 {\displaystyle \mathrm {Cu+2\ FeCl_{3}\longrightarrow CuCl_{2}+2\ FeCl_{2}} } Eisen(III)-nitrat wird zum Gerben verwendet. In der Textilindustrie wird es als Beize für Baumwollstoffe und zum Schwarzfärben von Seide durch Abscheiden von Eisen(III)-hydroxid verwendet. Weiterhin wird es seit langem als Korrosionsinhibitor verwendet. In neuerer Zeit wird es, nicht immer erfolgreich, zur Reduktion der Schwefelwasserstoffkonzentration in druckführenden Abwasserleitungen verwendet. Eisen(III)-sulfat wird in Großkläranlagen zur Desodorierung und zur Ausfällung von Phosphaten (unter anderem bei der Wasseraufbereitung und der Industriewasserentsorgung) sowie in der Metallurgie als Beizmittel (zum Beispiel für Aluminium und Stahl) eingesetzt. In der Medizin ist eine blutstillende und adstringierende Wirkung bekannt. Viele Eisensalze, wie zum Beispiel Eisen(III)-chloridsulfat (FeClSO4), werden unter anderem als Flockungsmittel und zur Phosphorelimination verwendet. Dazu gehören die Vorfällung, Simultanfällung, Nachfällung und Flockenfiltration sowie das Ausfällen von Sulfiden, Faulgasentschwefelung und Biogasentschwefelung. === Weitere Eisenverbindungen === Daneben sind viel weitere Eisenverbindungen bekannt. So tritt das auch Zementit genannte Eisencarbid (Fe3C) als metastabile Phase in Stahl und weißem Gusseisen auf. Eisenpentacarbonyl (Fe(CO)5), auch IPC (von en: iron pentacarbonyl) genannt, entsteht unter Druck aus Eisen und Kohlenstoffmonoxid und bildet nach seiner Zersetzung neben Kohlenstoffmonoxid ein besonders reines Eisenpulver, das Carbonyleisen. Weitere Eisencarbonyle sind Dieisennonacarbonyl Fe2(CO)9 und Trieisendodecacarbonyl Fe3(CO)12. Ferrocen (Fe(C5H5)2) ist eine (Sandwichverbindung) aus der Stoffgruppe der Metallocene, dessen Derivate vielseitige Anwendungen im Bereich der Sensorik, der Katalyse und der Medizin finden. Berliner Blau (Fe4[Fe(CN)6]3) ist ein lichtechtes, tiefblaues, anorganisches Pigment. Es wird aus einer Lösung von Eisen(III)-Salz und gelbem Blutlaugensalz hergestellt und findet Verwendung als Anstrichmittel und zum Tapetendruck sowie als Gegenmittel bei Vergiftungen mit radioaktivem Caesium oder Thallium. Es wird aufgrund seines feinen Korns und der daraus resultierenden Lasierfähigkeit sowie seiner großen Farbstärke bis heute für Aquarell-, Öl- und Druckfarben verwendet. == Literatur == Wilhelm Baer: Das Eisen : Seine Geschichte, Gewinnung und Verarbeitung. Handbuch für Eisengießer, Maschinenbauen, Gewerbtreibende, Fabrikanten und Bauherren. Leipzig 1862 (Digitalisat) Ludwig Beck: Die Geschichte des Eisens in technischer und kulturgeschichtlicher Beziehung. Band 1–5, Vieweg, Braunschweig 1884–1903. Digitalisat: Teil 1 Teil 2 Teil 3 Teil 4 Harry H. Binder: Lexikon der chemischen Elemente – das Periodensystem in Fakten, Zahlen und Daten. S. Hirzel Verlag, Stuttgart 1999, ISBN 3-7776-0736-3. Vagn Fabritius Buchwald: Iron and steel in ancient times. Kong. Danske Videnskab. Selskab, Kopenhagen 2005, ISBN 87-7304-308-7. A. F. Holleman, E. Wiberg, N. Wiberg: Lehrbuch der Anorganischen Chemie. 102. Auflage. Walter de Gruyter, Berlin 2007, ISBN 978-3-11-017770-1, S. 1636–1666. Otto Johannsen (im Auftrag des Vereins Deutscher Eisenhüttenleute): Geschichte des Eisens. 3. Auflage. Verlag Stahleisen, Düsseldorf, 1953. Otto Johannsen: Geschichte des Eisens. Düsseldorf 1925 (Digitalisat) Hans Schoppa: Was der Hochöfner von seiner Arbeit wissen muss. Verlag Stahleisen, Düsseldorf 1992, ISBN 3-514-00443-9. Verein Deutscher Eisenhüttenleute: Gemeinfassliche Darstellung des Eisenhüttenwesens. 17. Auflage. Stahleisen, Düsseldorf 1970/71. == Weblinks == Literatur von und über Eisen im Katalog der Deutschen Nationalbibliothek Mineralienatlas:Eisen im Mineralienatlas Mineralienatlas:Mineralienportrait/Eisen im Mineralienatlas Eisenherstellung in der Römerzeit bei die-roemer-online.de Eisengewinnung in vorgeschichtlicher Zeit auf der Internetpräsenz vom Landschaftsmuseum Obermain == Einzelnachweise ==
https://de.wikipedia.org/wiki/Eisen
Seoul
= Seoul = Seoul (koreanisch [sʌ.ul/sɔʊl]; siehe auch Namen Seouls) ist die Hauptstadt Südkoreas. Der amtliche koreanische Name lautet „Besondere Stadt Seoul“ (서울특별시 Seoul Teukbyeolsi). Diese Bezeichnung weist auf den Status als Hauptstadt und auf die verwaltungspolitische Gleichstellung gegenüber den Provinzen hin (siehe auch Verwaltungsgliederung Südkoreas). Die Einwohnerzahl von Seoul beträgt etwa 9,8 Millionen (2019). Die Stadt ist das Zentrum der Metropolregion Sudogwon (수도권, 首都圈), in der etwa 25,4 Millionen Menschen (2015) leben und damit etwa ein Drittel der gesamten Koreanischen Halbinsel. Sudogwon gilt als einer der fünf größten Ballungsräume der Welt und ist der viertgrößte Wirtschaftsraum der Welt.Neben ihrem Status als Hauptstadt ist Seoul zudem das Finanz-, Kultur- und Bildungszentrum Südkoreas. 15 der Fortune-Global-500-Unternehmen haben ihren Hauptsitz in Seoul, darunter Samsung, LG und Hyundai. Weiterhin richtete die Stadt die Olympischen Sommerspiele 1988 aus und war einer der Austragungsorte der Fußball-Weltmeisterschaft 2002. Als historisches Zentrum Südkoreas und Ursprungsort der Koreanischen Welle und des K-Pop verzeichnete Seoul im Jahr 2018 über 9,5 Millionen Touristen und war damit die zehntmeist besuchte Stadt der Welt.Bereits 18 v. Chr. bis 475 war Seoul die Hauptstadt des Königreichs Baekje. Von 1394 bis 1910 war sie die Hauptstadt der Reiche Joseon und des Koreanischen Kaiserreichs. Zur Hauptstadt der Republik Korea wurde sie im Jahr 1945 erhoben. Auch Nordkoreas Verfassung sah Seoul als rechtmäßige Hauptstadt vor, bis eine Verfassungsänderung von 1972 Pjöngjang zur Hauptstadt der Volksrepublik erhob, wo die nordkoreanische Führung seit Ende des Zweiten Weltkrieges einen provisorischen Regierungssitz eingerichtet hatte. == Geografie == === Geografische Lage === Die Stadt liegt im nordwestlichen Teil des Landes in Grenznähe zu Nordkorea durchschnittlich 87 Meter über dem Meeresspiegel am Unterlauf des Flusses Hangang (한강, 漢江 ‚Han-Fluss‘), dessen Oberläufe Bukhangang ‚Nord-Han-Fluss‘ und Namhangang ‚Süd-Han-Fluss‘ östlich der Stadt bei Yangsu-ri zusammenfließen. Die Stadtmitte ist von zahlreichen Bergen umgeben. In der Stadtmitte erhebt sich der Namsan (남산, 南山 ‚Südberg‘) mit Fernsehturm und Seilbahn. Der Berg Bukhansan ‚Berg nördlich des Han[gang]‘ befindet sich im Norden der Stadt, die Festung Namhansanseong im Südosten. In den umliegenden Tälern liegen viele kleine Dörfer und alte buddhistische Klöster. Südlich Seouls befindet sich der Berg Gwanaksan als wichtiges Naherholungsgebiet. 56 Kilometer nördlich von Seoul liegt auf dem 38. Breitengrad, der seit dem Koreakrieg die innerkoreanische Grenze bildet, der Ort Panmunjeom. Dort wurde am 27. Juli 1953 das Waffenstillstandsabkommen zwischen Nord- und Südkorea unterzeichnet. Im Stadtgebiet Seouls umfließt der Hangang einige Inseln, deren wichtigste Yeouido ist. Ein Arm des Flusses wurde zur Landgewinnung trockengelegt. Der historische Kern Seouls liegt in geomantisch günstiger Lage etwas nördlich des Flusses, der hier leicht w-förmig und nach seinem Austritt aus dem Stadtgebiet in nordwestlicher Richtung nach der Insel Ganghwado und dem Gelben Meer weiterfließt, während nach Südwesten Seoul nahtlos in seine Hafenstadt Incheon übergeht. Die geografischen Koordinaten Seouls sind 37° 34′ N, 126° 59′ O. Damit liegt es etwa auf der Breite Athens (37° 54′ N) und Lissabons (38° 43′ N). === Stadtgliederung === Obwohl Seoul als „Besondere Stadt“ in der Verwaltungsgliederung Südkoreas einer Provinz gleichgestellt ist, entspricht die Untergliederung derjenigen aller anderen Städte – in Stadtbezirke (구, 區 Gu) und Stadtviertel (동, 洞 Dong). Seoul gliedert sich in 25 Stadtbezirke, deren erste sieben im Jahr 1943 eingerichtet wurden. Die Bezirke sind in 522 Dong unterteilt, diese wiederum in 13.787 Tong und diese schließlich in 102.796 Ban. Letztere werden im Alltag aber kaum genutzt. Die Stadtbezirke Seouls sind: === Klima === Seoul befindet sich in der gemäßigten Zone, die Jahresdurchschnittstemperatur beträgt 12,5 °C. Das Klima ist von starken Gegensätzen geprägt, so beträgt die Jahreshöchsttemperatur im Durchschnitt 29,6 °C im August, die niedrigste Durchschnittstemperatur liegt im Januar bei −5,9 °C. In den Vorstädten Seouls ist es in der Regel kühler als in der Seouler Innenstadt aufgrund des Effekts der Städtischen Wärmeinsel (urban heat island effect).Die Sommer sind während der Monsun-Zeit (im Koreanischen 장마 Jangma genannt) von Juni bis September sehr warm und feucht, insbesondere im August. Die Tageshöchsttemperaturen liegen oft jenseits von 30 °C. Die höchste in Seoul gemessene Temperatur liegt bei 39,6 °C im August 2018. Der August ist durchschnittlich der heißeste Monat in Seoul; die Temperatur beträgt im Durchschnitt 25,7 °C. 70 % des jährlichen Niederschlags, der durchschnittlich 1450,6 Millimeter beträgt, fallen während der Monsun-Zeit, 394,7 Millimeter davon allein im regenreichsten Monat Juli. In Seoul herrscht Ostseitenklima. Die Winter sind stark von kalten Winden aus Sibirien beeinflusst und daher sehr kalt, aber trocken. Üblicherweise wechseln sich durch eine bestimmte Hochdruckkonstellation drei sehr kalte Tage und vier wärmere Tage ab. Der kälteste Monat ist der Januar mit einer Durchschnittstemperatur von −2,4 °C, in dem mit durchschnittlich 20,8 Millimetern auch am wenigsten Niederschläge fallen. Die niedrigste Temperatur in Seoul wurde am 31. Dezember 1972 gemessen und betrug −23,1 °C. Auch wenn die kältesten Temperaturen aus den Anfangszeiten der Klimaaufzeichnungen stammen, sind Temperaturen von −10 °C keine Seltenheit. === Luftqualität === In den vergangenen Jahren sind Luftverschmutzung und Feinstaub ein immer größeres politisches Thema geworden. Nach Daten der Weltgesundheitsorganisation lag der Jahresdurchschnitt der Konzentration von PM2,5 in Seoul bei 24 Mikrogramm pro Kubikmeter im Jahr 2014 und damit 2,4-mal höher als der empfohlene Maximalwert der WHO-Luftqualitätsrichtlinien. Der „Yellow-Dust“-Wüstenstaub, Emissionen aus China sowie Emissionen aus Korea und Seoul tragen zur Luftverschmutzung Seouls bei. == Geschichte == === Name === Seoul war in der Vergangenheit als Wiryeseong (Hangeul: 위례성; Hanja: 慰禮城, zur Zeit des Reichs Baekje), Hanyang (한양; 漢陽, zur Zeit Sillas), Namgyeong (남경; 南京) und Hanseong (한성; 漢城, zur Zeit Joseons) bekannt. Während der japanischen Besatzung hatte Seoul den Namen Keijō (경성; 京城; RR: Gyeongseong).Seoul ist rein koreanisch und bedeutet „Hauptstadt“. Bis 2005 war der offizielle chinesische Name für Seoul chinesisch 漢城 / 汉城, Pinyin Hànchéng, bedeutungsgleich mit dem offiziellen Namen der Stadt während der Joseon-Dynastie, Hanseong. Am 18. Januar 2005 änderte die chinesische Regierung den Namen allerdings zur chinesischen Aussprache für Seoul zu chinesisch 首爾 / 首尔, Pinyin Shǒu’ěr. === Ursprung === Archäologische Untersuchungen zeigen, dass sich bereits seit etwa 4000 v. Chr. Menschen am Han-Fluss ansiedelten, wo sich heute Seoul befindet. Die ersten historischen Aufzeichnungen über Seoul gehen zurück bis ins erste Jahrhundert vor Christus. Zur Zeit der Drei Reiche befand sich die Hauptstadt des Königreichs Baekje, Wiryeseong, im nordöstlichen Teil des heutigen Seouls. Aus dieser Zeit gibt es noch immer Überreste der Stadtmauer. 475 wurde die Hauptstadt nach Gongju verlegt und das Königreich Goguryeo übernahm die Kontrolle über das Gebiet. Weniger als hundert Jahre später erkämpfte sich das Silla-Reich die Kontrolle über das Gebiet. Während der Sillazeit war Seoul vermutlich nur ein kleines Dorf namens Hansanju. === Regierung der Goryeo-Dynastie === In der späteren Phase des vereinten koreanischen Reichs Goryeo wuchs die Bedeutung von Seoul. 1068 ließ König Munjong auf dem Gebiet des heutigen Seouls einen Sommerpalast errichten und die sich zur Stadt entwickelnde Siedlung wurde Verwaltungssitz für die umliegenden Gebiete. Die Stadt wurde Namgyeong („südliche Hauptstadt“) genannt. Die eigentliche Hauptstadt war aber, abgesehen von sehr kurzen Abschnitten, das ungefähr 60 km weiter nordwestlich liegende heutige Kaesŏng. === Herrschaft der Joseon-Dynastie === Yi Seong-gye beendete 1392 die Herrschaft Goryeos, gründete die Joseon-Dynastie und beschloss, die Hauptstadt zu verlegen. Einer Gründungsgeschichte nach galt unter Pungsu-Geomanten (Experten des Feng Shui) die Kraft der damaligen Hauptstadt Gaegyeong als aufgebraucht. Deshalb sollte am Fuße des Gyeryongsan eine neue Stadt gebaut werden. Dieser sei allerdings aus Sicht des Feng Shui nicht gut geeignet. Stattdessen sei der Ort Hanyang für die Hauptstadt einer zukünftigen Dynastie bestimmt. Der Stadt wurde im Norden durch einen Berg und im Süden durch einen Fluss Schutz geboten. Daher wurde 1394 Hanyang zur Hauptstadt Koreas ernannt und mit dem Bau eines neuen Palastes, des Gyeongbokgung, Tempeln und Stadtmauern begonnen. Die Mauer war 18 km lang und verband die vier Berge Bugaksan, Inwangsan, Namsan und Naksan, die die Stadt umgeben. Dort steht sie teilweise noch heute. Auch die wichtigsten Stadttore sind erhalten geblieben. Zwei der Tore, Sungnyemun (häufig Namdaemun genannt) und Dongdaemun, sind weitläufig bekannt. Die Tore wurden täglich geöffnet und geschlossen. Eine laute Glocke wurde geläutet, um dies zu signalisieren. Weitere Palastbauten folgten. Von 1405 bis 1412 wurde der Changdeokgung errichtet, 1616 der Gyeonghuigung. Der Name der Stadt wurde später in Hanseong (한성, 漢城) geändert. Obwohl die Stadt durch ihre Lage gut zu verteidigen war und durch starke Mauern geschützt war, wurde sie im Imjin-Krieg 1592 nach der Schlacht von Chungju von den Japanern erobert, 1635 wurde sie von den Mandschuren eingenommen. Erst unter der Herrschaft König Yeongjos (1724–1776) blühte die Stadt wieder auf, da sie ihre gute Position am Hangang ausspielen konnte. Sie wuchs zu dem wichtigsten Handelszentrum heran. 1872 zog der König zurück in den Gyeongbokgung. Dieser Palast war nach der Zerstörung im Imjin-Krieg lange verfallen und war erst 1865 wiederaufgebaut worden. In der Zwischenzeit hatte der ursprünglich nicht dafür gedachte Changdeokgung als Regierungssitz fungiert. === Einführung des Christentums in Seoul === 1784 errichteten Yi Pyeok, Kweon Il-shin und Yi Seung-hun eine erste Kirche in Seoul in der Absicht, eine katholische Glaubensgemeinschaft zu gründen. Diese war von Anfang an schweren Verfolgungen ausgesetzt. Die Herrscher sahen in den Katholiken Verbündete der europäischen Kolonialmächte. Das Land sollte konfuzianisch bleiben. Als König Sunjo seinem Vorgänger Jeongjo auf den Thron folgte, setzte eine massive Verfolgung des Katholizismus ein. In den Jahren 1801, 1839–1846 und 1866–1876 kam es zu Christenverfolgungen in Seoul, die in Wellen das ganze Land erfassten. Trotzdem wuchs die Zahl der zum katholischen Glauben konvertierten Koreaner. An die Zeit der Verfolgung und die Märtyrer erinnert das Heiligtum der koreanischen Märtyrer auf dem Jeoldusan („Enthauptungsberg“) am Ufer des Hangang. Von den Missionaren wurde das inzwischen fast vergessene koreanische Alphabet (한글 Hangeul) benutzt und propagiert, das leichter zu erlernen war als die chinesischen Zeichen (Hanja). Im Laufe des 19. Jahrhunderts wurde das Hangeul zunehmend in der Volksbildung benutzt und setzte sich als nationale Schrift Koreas durch. Diese Entwicklung förderte die Verbreitung des christlichen Glaubens, dessen Schriften alle in Hangeul veröffentlicht waren. Mit der 1882 durch die USA erzwungenen „Öffnung“ Koreas wurde Korea verpflichtet, missionarische Aktivitäten zu dulden. 1885 kamen die methodistischen Missionare Horace Underwood und Henry Appenzellar nach Seoul, die 1886 mit presbyterianischen Missionaren die noch heute existierende Seoul Union Church gründeten, im selben Jahr gab es auch die ersten geheimen Taufen von Einheimischen. Nach Korea waren schon vorher protestantische Missionare gekommen, beispielsweise Robert Jermain Thomas, der Bibeln nach Korea schmuggelte und 1866 in Pjöngjang hingerichtet wurde. Als Korea 1910 Japans Kolonie wurde, forderten die Japaner die Verehrung des Tennō. Dies wurde von den koreanischen Christen (anders als von japanischen Christen) als Götzendienst abgelehnt. Dadurch kam es zu Christenverfolgungen durch die Japaner, aber auch dazu, dass viele Christen in der nationalen Unabhängigkeitsbewegung mitarbeiteten. Dies und die Standhaftigkeit der Christen in der Verfolgung führte zu zahlreichen Konversionen. === Japanische Kolonialzeit === Auf Druck Japans öffnete sich Korea am 24. Februar 1876 gegenüber dem Ausland. In der Folgezeit wurden Botschaften Japans und westlicher Staaten eröffnet, auch ein deutsch-koreanisches Freundschafts- und Handelsabkommen wurde im Juni 1882 beschlossen. Ausländische Firmen siedelten sich in Seoul an und der Handel blühte weiter auf. 1888 wurden Telegrafenleitungen nach Incheon, Ŭiju und Busan eröffnet, 1899 mit der Gyeongin-Strecke ins nahe Incheon die erste Eisenbahnverbindung Seouls. Im selben Jahr nahm die elektrische Straßenbahn Seoul den Betrieb auf. Am 1. Januar 1905 wurde die wichtige Gyeongbu-Strecke nach Busan eröffnet, im November 1905 auch für den allgemeinen Verkehr. Die Einwohnerzahl, die über zwei Jahrhunderte bei 200.000 gelegen hatte, begann stetig zu wachsen, 1936 lag sie bei 730.000, 1949 bei 1.418.000 Einwohnern. 1910 wurde Korea von Japan annektiert und in das Japanische Kaiserreich mit dem Provinznamen Chōsen eingegliedert. Hanseong wurde zur Kolonialhauptstadt ernannt; Der amtliche Name der Stadt lautete während dieser Zeit Keijō (japanisch 京城; 경성 Gyeongseong, „Hauptstadt“), Hauptstadt der gleichnamigen Präfektur (京城府, Keijō-fu; Gyeongseong-bu). Die Japaner bauten die Stadt zum Zentrum der Provinz aus, vergrößerten das Stadtgebiet stark und sorgten mit großangelegten Strukturmaßnahmen für ein Aufblühen der Industrie und anderer Wirtschaftszweige. Der Baustil der Gebäude wurde gegenüber früher moderner. Gegenüber der Bevölkerung wurde aber insbesondere während des Zweiten Weltkriegs, ähnlich wie in anderen japanisch besetzten Ländern, eine repressive Kolonialpolitik betrieben: Die koreanische Kultur wurde unterdrückt, Männer wurden in die japanische Armee genötigt oder zwangsrekrutiert und Frauen in Kriegsgebiete verschleppt und dort als sogenannte Trostfrauen in Kriegsbordellen teilweise jahrelang festgehalten. Koreanische Bauern mussten ihr Land aufgeben und Koreaner wurden gezwungen, japanische Namen anzunehmen. In Schulen wurde in japanischer Sprache unterrichtet. Nach der Kapitulation Japans am 15. August 1945 ging dieser Teil des japanischen Kolonialreichs in die amerikanische Besatzungszone über, und Seoul wurde Sitz der US-Militärregierung (USAMGIK). Genau ein Jahr nach der Unabhängigkeit von Japan wurde die Stadt zu Seoul umbenannt. Damit trug sie nun zum ersten Mal auch offiziell diesen Namen. Mit der Gründung der Republik Korea (Südkorea) am 15. August 1948 wurde Seoul zu deren Hauptstadt. Nachdem sie unter japanischer Herrschaft mit der sie umgebenden Provinz Gyeonggi-do zusammengelegt worden war, wurde sie nun administrativ wieder aus dieser herausgelöst und bekam den Status einer besonderen Stadt, der dem einer Provinz entspricht. === Koreakrieg === Am 25. Juni 1950 überschritten die Nordkoreaner die Demarkationslinie und eroberten bereits drei Tage später Seoul. Die Südkoreaner wurden bis auf einen schmalen Streifen um Busan zurückgedrängt. Erst durch die Landung von UN-Truppen (davon ca. 90 % US-Truppen) bei Incheon (28 km westlich von Seoul) wurden die Nordkoreaner empfindlich getroffen. Diese verschanzten sich in Seoul und mussten im Häuserkampf verlustreich aus der Stadt vertrieben werden. Nach dreitägigem Kampf erklärte der Befehlshaber der US-Truppen Seoul am 25. September – drei Monate nach Ausbruch des Krieges – als befreit, auch wenn in den nördlichen Vororten noch Schüsse und Artillerie zu hören waren. Am 3. Januar 1951 mussten die Südkoreaner und Amerikaner die Stadt erneut räumen, da sie der Übermacht der mit einer chinesischen „Freiwilligen-Armee“ verbündeten Nordkoreaner nicht standhalten konnten. Am folgenden Tag wurde die Stadt von Nordkoreanern besetzt. Als Seoul am 14. März zurückerobert werden konnte, hatten die Nordkoreaner einen großen Teil der Bevölkerung entführt. Zudem war die Stadt fast vollständig zerstört. Augenzeugen berichten von einer schlimmeren Zerstörung als die von Berlin während des Zweiten Weltkrieges. Vom Ausbruch des Krieges bis zum 1. August 1953 war Busan Regierungssitz. Seoul wurde der Status der Hauptstadt Südkoreas aber nie abgesprochen. === Neuere Entwicklung === Nach dem Ende des Koreakriegs begann man mit dem Wiederaufbau und Seoul wuchs sehr rasch. War die Bevölkerungszahl während des Koreakriegs wieder deutlich eingebrochen, stieg sie in den Folgejahren rasant an. 1963 wurde die 3-Millionen-Grenze überschritten. Zusammen mit den Fünf-Jahresplänen, mit denen die Militärregierung von Park Chung-hee den wirtschaftlichen Aufschwung Südkoreas begründete, wurde auch ein Plan für die Entwicklung und Modernisierung Seouls entworfen. Die Verwaltung der Stadt wurde direkt dem Premierminister unterstellt. Das Stadtbild änderte sich massiv und es wurde wenig Rücksicht auf Traditionelles genommen. Neben Baudenkmälern wie Palästen und Tempeln finden sich kaum noch ältere Bauten als aus den 1960er-Jahren. Aufgrund der Nähe zur nordkoreanischen Grenze konnte sich Seoul nicht in den Norden ausdehnen. Das Bevölkerungswachstum wurde zunächst auf Gebiete südlich des Hangangs konzentriert. Seoul wuchs zum politischen, kulturellen und wirtschaftlichen Zentrum Südkoreas. 1968 wurde der Betrieb der Seouler Straßenbahn eingestellt, bevor am 15. August 1974 die erste U-Bahn-Linie eröffnet wurde. Das Streckennetz wird stetig erweitert, bedient auch die umliegenden Städte und ist im Westen mit der U-Bahn Incheons verbunden. Es ist eines der größten U-Bahnsysteme der Welt. 1986 war Seoul Gastgeber der 10. Asienspiele, bevor es zwei Jahre später Austragungsort der Olympischen Sommerspiele wurde. Bis 1991 wurde der Bürgermeister vom Präsidenten ernannt, seither werden er und der Stadtrat von der Bevölkerung direkt gewählt. 1994 feierte die Stadt ihren 600. Geburtstag, dabei wurde eine Zeitkapsel mit 600 Gegenständen, die das moderne Leben der Stadt repräsentieren, am Nordhang des Namsan vergraben. Das Jahr 1995 versetzte Einwohner in Besorgnis, weil verschiedene Baulichkeiten in der Stadt durch Baumängel und unwirksame behördliche Bauüberwachung zerstört wurden. Es begann mit dem Einsturz der Seongsu-Brücke über den Han-Fluss im Oktober 1994 (32 Todesopfer), setzte sich über zwei Gasexplosionen in Häusern (zusammen 113 Tote) fort und hatte einen tragischen Höhepunkt im Einsturz des Sampoong-Gebäudes. Diese schwerste, von Menschen zu verantwortende, Katastrophe in Südkorea kostete 501 Menschen das Leben, forderte 937 Verletzte und sorgte für sechs Vermisste. Während der gemeinsam in Südkorea und Japan ausgetragenen Fußball-Weltmeisterschaft 2002 fanden in Seoul das Eröffnungsspiel, ein Vorrundenspiel sowie ein Halbfinalspiel statt. Pläne des südkoreanischen Präsidenten Roh Moo-hyun, den Regierungssitz des Landes in die 120 Kilometer südlich von Seoul gelegene Provinz Chungcheongnam-do ins Gebiet der Stadt Gongju oder des benachbarten Landkreises Yeongi zu verlegen, sind nach massiven Protesten und der am 21. Oktober 2004 erfolgten negativen Entscheidung des koreanischen Verfassungsgerichts größtenteils gescheitert. Die Verlegung war ein Versprechen von Roh Moo-hyun während des Präsidentschaftswahlkampfes 2002, der damit eine Dezentralisierung der Verwaltung erreichen wollte. Die Stadt Sejong wurde 2007 gegründet und einige Ministerien und Behörden wurden dorthin verlegt, während viele Staatsorgane in Seoul verblieben. 2009 wurde vor dem Gyeongbokgung der Gwanghwamun-Platz eröffnet. Das Haupttor des Palastes ist das Gwanghwamun, wonach der Platz benannt ist. Auf dem Platz finden sich Statuen von König Sejong und Yi Sun-sin. König Sejong entwickelte das koreanische Alphabet und benannte das Sajeongmun in Gwanghwamun um. Der Ort entwickelte sich schnell zum zentralen Platz Seouls. 2016 versammelten sich entlang des Platzes Millionen von Menschen, um gegen die damalige Präsidentin Park Geun-hye zu demonstrieren. Direkt hinter dem Palast befinden sich das Präsidentenhaus und der Berg Bugak. ==== Massengedränge im Jahr 2022 ==== Bei einem Massengedränge im Verlauf von Halloween-Feierlichkeiten im Ausgehviertel Itaewon-dong kamen in der Nacht vom 29. auf den 30. Oktober 2022 mindestens 156 Menschen ums Leben; mindestens 152 wurden verletzt. == Bevölkerung == Die Stadt Seoul hat eine sehr hohe Bevölkerungsdichte, die fast doppelt so hoch ist wie die von New York City. Die Metropolregion weist die höchste Bevölkerungsdichte der OECD in Asien auf und die zweithöchste weltweit, nach Paris.Mit Stand 2016 lebten 404.037 ausländische Einwohner in Seoul. Knapp 60 % aller Ausländer in Südkorea leben in Seoul und der umliegenden Provinz Gyeonggi-do.In einer Rangliste der Städte nach ihrer Lebensqualität belegte Seoul 2018 den 79. Platz unter 231 untersuchten Städten weltweit. === Einwohnerentwicklung === Durch seine politische, ökonomische und kulturelle Vorrangstellung erlebte Seoul nach dem Zweiten Weltkrieg und dem Abzug der japanischen Kolonialmacht ein unkontrolliertes Bevölkerungswachstum. Der starke Zustrom vor allem ländlicher Bevölkerung, die großflächige Zerstörung im Koreakrieg (1950–1953) und chaotische politische und wirtschaftliche Verhältnisse führten zu einem Auseinanderklaffen zwischen Einwohnerzahl und städtischer Infrastruktur. Nachdem die Bevölkerungszahl während des Koreakrieges von 1,4 Millionen auf 650.000 zurückgegangen war, stieg sie 1953 wieder auf eine Million und bis Ende der 1980er-Jahre auf zehn Millionen. 2019 beträgt die Zahl der Einwohner rund 9,8 Millionen.Seit Anfang der 1970er-Jahre wird versucht die Bevölkerung südlich des Hangangs anzusiedeln. Lebten 1975 nur 30 Prozent der Einwohner dort, sind es heute 60 Prozent. Auch die Anstrengungen, die Bevölkerung vermehrt in den Satellitenstädten anzusiedeln, waren erfolgreich. Seit den 1980ern stagniert das Bevölkerungswachstum im eigentlichen Stadtgebiet. Diese Städte sind mit Seoul durch ein dichtes Netz von Autobahnen, Buslinien und U-Bahnen verbunden. Die Agglomeration mit rund 20 Großstädten einschließlich Seoul beherbergt eine Bevölkerung von 25,4 Millionen und gehört damit zu den größten Metropolregionen der Erde. Die folgende Übersicht zeigt die Einwohnerzahlen des eigentlichen Stadtgebiets nach dem jeweiligen Gebietsstand. Bis 1952 handelt es sich meist um Schätzungen, ab 1955 um Volkszählungsergebnisse. === Entwicklung der Wohnsituation === Die Verstädterung Seouls fand vor allem durch den Bau von Mehrfamilienhäusern statt. Die Bebauung grenzt oft dicht an das landwirtschaftlich geprägte beziehungsweise bewaldete Umland. In den 1960er- und 1970er-Jahren kamen zahlreiche Bauern vom Land nach Seoul, um in den Industriebetrieben der Hauptstadt nach besser bezahlten Arbeitsplätzen zu suchen. Die dichten, meistens ohne Genehmigung auf staatlichem Land errichteten Siedlungen der Landflüchtlinge wuchsen überwiegend in bereits existierenden Vierteln. Die dortigen Behausungen wurden teilweise in massiver Bauweise mit Ziegeldächern errichtet und unterschieden sich kaum von den mit offizieller Genehmigung errichteten Gebäuden in den regulären Bebauungsgebieten. Dennoch wurden die Bewohner der inoffiziellen Siedlungen von der Stadtverwaltung ab Ende der 1970er-Jahre in Gebiete umgesiedelt, die weiter vom Stadtzentrum entfernt lagen. Diese Gebiete waren nur ungenügend an das städtische Wasser-, Abwasser- und Verkehrsnetz angeschlossen, was zu einer Verschlechterung des Lebensstandards der Umsiedler führte. Im Zentrum Seouls entstanden zahlreiche fünf- bis fünfzehn-, teilweise über zwanzigstöckige Apartmenthochhäuser für Familien mit mittlerem bis hohem Einkommen, deren Mieten für die früheren Bewohner mit niedrigem Einkommen nicht bezahlbar waren. Diese werden noch heute gebaut und prägen in vielen Stadtteilen das Ortsbild. Seit den 1980er-Jahren fanden in Seoul umfassende Umbaumaßnahmen statt und die existierende öffentliche Infrastruktur wurde erheblich erweitert. In diesem Zusammenhang kam es beispielsweise zum Bau neuer U-Bahn-Linien und Autobahnen. In der weiteren Umgebung der Hauptstadt, in landschaftlich schöner Lage, wurden die Landhäuser der in Seoul arbeitenden Oberschicht, also überwiegend Künstler, Geschäftsleute in gehobenen Positionen, Hochschullehrer und hoher Militärs, errichtet. Dort besteht ein Bauverbot für Industriebetriebe und Siedlungen mit Mehrfamilienhäusern. Seit den 1990er-Jahren werden in der Umgebung Seouls viele Planstädte neu gebaut, um das Problem des knappen Wohnraumes der überfüllten Hauptstadt zu lösen. Diese neuen Städte, die außerhalb von Seoul in der Provinz Gyeonggi-do gelegen sind, entwickeln sich zu großen Trabantenstädten und bilden mit Seoul und den anderen drei Millionenstädten Incheon, Suwon und Goyang zusammen die Metropolregion Sudogwon. == Politik == === Stadtregierung === Seoul wird durch einen Stadtrat und das Seoul Metropolitan Government verwaltet. Der Stadtrat besteht aus 104 Mitgliedern, die für eine Amtszeit von vier Jahren gewählt werden. Ebenfalls direkt und für vier Jahre wird der Bürgermeister gewählt, der dem Seoul Metropolitan Government vorsteht. Ihm stehen drei Vizebürgermeister zur Seite, zwei für Verwaltungsaufgaben und einer für politische Angelegenheiten. Die 25 Bezirke sind weitgehend autonom, ihre Bürgermeister werden seit 1995 ebenfalls direkt von der Bevölkerung gewählt. Der 33. Bürgermeister von Seoul war Oh Se-hoon von der Hannara-dang (Große Nationalpartei, kurz GNP). Er übernahm das Amt am 1. Juli 2006 von seinem Vorgänger Lee Myung-bak, der die Stadt seit 1. Juli 2002 regierte. Im August 2011 trat er ein Jahr nach seiner Wiederwahl wegen eines gescheiterten Referendums zur Abschaffung der kostenlosen Schulspeisung für alle Schüler zurück. Seit dem 27. Oktober 2011 war Park Won-soon Bürgermeister. Am 10. Juli 2020 kurz nach Mitternacht wurde er tot aufgefunden. Daraufhin übernahm Seo Jung-hyup interimsweise bis zur Wahl im April 2021 das Amt des Bürgermeisters. Bei dieser Wahl wurde Oh Se-hoon nach zehn Jahren ein weiteres Mal zum Bürgermeister gewählt. Probleme bereiten die Luftverschmutzung und der Verkehrslärm. Seoul besitzt die schlechteste Luftqualität aller Hauptstädte in der OECD. So gehörte auch der Abriss einer Schnellstraße über den Cheonggyecheon (übersetzt „Klarwasserstrom“), einem Seitenarm des Han, und die Renaturierung des Flusses zu den größten Projekten der Stadtverwaltung. Der 3670 Meter lange Cheonggyecheon wurde 1961 zubetoniert und 1971 mit einer Hochstraße überdeckt. Am 1. Oktober 2005 wurden der wiederhergestellte Fluss und die dazugehörigen Grünanlagen im Zentrum Seouls offiziell der Öffentlichkeit zugänglich gemacht. === Städtepartnerschaften === Mit dem Bundesstaat New South Wales in Australien hat Seoul eine Provinzpartnerschaft. Außerdem unterhält Seoul mit folgenden Städten Partnerschaften. Bis auf drei Ausnahmen sind alle Partnerstädte ebenfalls die Hauptstadt ihres Staates. == Kultur und Sehenswürdigkeiten == === Bildung === Seoul ist das Bildungszentrum Südkoreas. Hier sind etwa 40 Hochschulen beheimatet. 2018 gehörten 18 dieser Universitäten zu den besten 1000 Universitäten der Welt im QS World University Ranking. Die Seoul National University rangierte in den vergangenen Jahren stets als höchstes. In Seoul befindet sich mit der Sungkyunkwan University zudem die älteste Universität Asiens. Des Weiteren ist die Dongguk University eine der wenigen Universitäten, die dem Buddhismus verbunden ist. Die drei besten Universitäten Südkoreas, die Seoul National University, Korea University und Yonsei University, werden gemeinsam als SKY bezeichnet. Die drei Universitäten des Viertels Sinchon – Yonsei University, Ewha Womans University und Sogang University – werden auch unter der Abkürzung YES zusammengefasst. Alphabetisch sortierte Liste der Universitäten in Seoul: Weiterhin gibt es 9 Vocational Colleges, 318 Oberschulen, 384 Mittelschulen und 601 Grundschulen sowie 879 Kindergärten (Stand: 2016). Darüber hinaus gibt es eine Reihe von Auslandsschulen, darunter auch die Deutsche Schule Seoul. Seit 1974 werden in den meisten Schulbezirken Seouls den Schülern die Oberschulen nach dem Zufallsprinzip zugeordnet. Das heißt, die Schulen lehnen keine Schüler ab, sondern das Los entscheidet, welcher Schüler welche Oberschule besuchen wird. Dadurch sollten Ungleichheiten zwischen Schulen aufgehoben werden und die Schüler entlastet werden. In den vergangenen Jahren haben einige Schulbezirke die Regelung jedoch angepasst und teilweise können Schüler Präferenzen bei der Schulwahl angeben. ==== Museen ==== Als kulturelles Zentrum des Landes beheimatet Seoul über 100 Museen, darunter das Koreanische Nationalmuseum. Die umfangreiche Sammlung mit über 100.000 Exponaten ist im Oktober 2005 in ein neues, deutlich größeres Gebäude im Yongsan-Familien-Park gezogen. Die Bestände an Baekje-Fliesen, Silla-Tonwaren, goldenen Buddhas, Goryeo-Blassgrün und Joseon-Kalligraphien sowie Malereien bieten ein Panorama der koreanischen Kultur. Im Nationalmuseum wird auch die berühmte Bosingak-Glocke, ein bedeutender Kulturschatz Koreas, aufbewahrt, die während der Joseon-Dynastie in Seoul die Zeit anzeigte. Sie wurde morgens um vier Uhr 33-mal geschlagen, und die Stadttore wurden geöffnet, am Abend um 19 Uhr dann 28-mal geschlagen, und die Tore wurden wieder verschlossen. Die erste Glocke wurde 1455 bei einem Feuer zerstört, die zweite Glocke entstand 1468 und wird bis heute im Museum aufbewahrt. Die in Jongno („Glockenstraße“) immer zum Jahreswechsel geschlagene Glocke wurde erst 1985 hergestellt, der Glocken-Pavillon 1979 von der Stadtverwaltung errichtet. Auf dem Gelände des Gyeongbok-Palastes, im hinteren Teil der Anlage, befindet sich das National Folk Museum of Korea. Es zeigt religiöse Rituale (Schamanismus), verschiedene Wohnkulturen, Haushaltsgeräte, Werkzeuge und Gebrauchsgegenstände aus Korea. Insgesamt beherbergt das Museum über 10.000 Objekte. In der Nähe befindet sich zudem das National Palace Museum of Korea. Seit 2013 befindet sich zudem eine Außenstelle des Nationalmuseums für moderne und zeitgenössische Kunst im Seouler Stadtteil Sogyeok-dong, während sich der Hauptstandort in der Stadt Gwacheon befindet. Die Koreanische Kriegsgedenkstätte, ein Monumentalbau in der Stadtmitte mit Museum, informiert über diverse Kriege, an denen Korea beteiligt war, insbesondere den Koreakrieg. Im großen Garten des Museums stehen neben Kriegsgerät Denkmäler, die an den Einsatz des US-Militärs im Koreakrieg und an die südkoreanischen Soldaten im Vietnamkrieg erinnern. Die Nachbildung eines Schildkrötenschiffs steht im Innern. Das Seodaemun-Gefängnis, in dem zur Zeit der japanischen Besetzung der koreanische Widerstand inhaftiert und gefoltert wurde, dient heute als historisches Museum dieser Zeit. Vor dem Gefängnis befindet sich der Unabhängigkeitspark und das Unabhängigkeitstor. Das Leeum, Samsung Museum of Art gilt als eines der größten privaten Museen Seouls. Das Korean Film Archive betreibt das Korean Film Museum und die Cinematheque KOFA in Digital Media City (Sangam-dong). === Theater und Musik === In Seoul finden viele kulturelle Aufführungen statt. Es werden traditionelle Musik, Tanz- und Theateraufführungen in modernisierter oder moderner Form, klassische Musik und mehr geboten. Seoul verfügt über eine Vielzahl kleiner Bühnen, die über die ganze Stadt verstreut und oft experimentell sind. Auch große Bühnen sind in der Stadt angesiedelt. Drei Theater für das Stück Nanta befinden sich in Seoul. Daehangno ist für seine vielen Theater bekannt und wird häufig als Theaterbezirk gesehen. Weiterhin befindet sich in Seoul das New Seoul Philharmonic Orchestra. Das Koreanische Nationaltheater (국립극장) wurde 1973 gegründet und hat seinen Sitz am Namsan. Es ist Heimat des Staatsorchesters, der National Dance Company und der National Drama Company. Der größere der beiden Säle verfügt über 1500 Sitze; hier finden viele der wichtigen kulturellen Veranstaltungen des Landes statt. Weiterhin verfügt das Theater über eine Bühne für experimentelle Theateraufführungen sowie ein Amphitheater für weniger formelle Aufführungen. Das nach König Sejong benannte Sejong Cultural Center (세종문화회관) verfügt über die größte Bühne der Stadt mit 4000 Plätzen. Es ist Sitz der Korea National Opera. Hier findet man Konzerte, Opern und große Produktionen, auch ausländischer Herkunft. Im kleineren Saal treten meist Chöre auf. Auch Vorträge werden gehalten und teilweise finden kostenlose Aufführungen im Innenhof statt. Darüber hinaus gibt es häufig wechselnde Ausstellungen mit Kalligrafie, Malerei und ähnlicher Kunst. Im 21. Jahrhundert entwickelte sich Südkorea zu einer Größe in der internationalen Popmusik. Die großen Unterhaltungsagenturen wie Big Hit Entertainment, JYP Entertainment, SM Entertainment und YG Entertainment haben ihren Sitz in Seoul. Diese Agenturen sind spezialisiert auf die Entwicklung neuer Girl- und Boygroups, aber auch von Solokünstlern. Die Musik der sogenannten Idols ist unter dem Begriff K-Pop bekannt. === Bauwerke === In Seoul befinden sich aufgrund der langen Geschichte der Stadt zahlreiche Kulturgüter, angefangen von Relikten aus der Steinzeit bis hin zu Gräbern, Tempeln, Palästen und Wehranlagen. Seoul vereint die Vergangenheit mit der Moderne. Historische Gebäude stehen zwischen Wolkenkratzern und in den kleinen Gassen sind viele Spuren der Geschichte zu entdecken. Hier werden einige hervorgehoben. ==== Paläste ==== Als Hauptstadt der Joseon-Dynastie verfügte Seoul über sechs Paläste, von denen heute noch fünf erhalten sind. Sehenswert sind vor allem der Gyeongbokgung, der Changdeokgung und der Deoksugung. Der Gyeongbokgung (경복궁 „Palast scheinender Glücklichkeit“) wurde 1394 mit Seouls Ernennung zur Hauptstadt gebaut. Beeindruckend ist vor allem die Thron- und Audienzhalle Geunjeonggung. Der Palast wurde während des Imjin-Kriegs 1592 niedergebrannt, jedoch nicht von den japanischen Truppen, sondern von Sklaven des Palastes, die so Belege ihrer Leibeigenschaft zerstören wollten. Erst 1865 wurde mit dem Wiederaufbau begonnen, was die damals schlechte wirtschaftliche Lage Koreas deutlich verschärfte. Bereits 23 Jahre nach dem Wiederbezug zog der König aber wieder in den im Botschaftsviertel gelegenen und daher vermeintlich sichereren Deoksugung, nachdem seine Frau Königin Min 1895 von Auftragsmördern der japanischen Regierung ermordet worden war. Der Changdeokgung (창덕궁 „Palast illustrer Rechtschaffenheit“) wurde von 1405 bis 1412 als Erweiterung des Gyeongbokgung erbaut. Er wurde ebenfalls während des Imjin-Krieges niedergebrannt, aber direkt danach wiederaufgebaut und diente, obwohl ursprünglich nicht als dazu erbaut, dem Land bis 1872 als Sitz der Regierung. 1907 wurde er erneut vom König Sunjong bezogen, dem letzten König, der auch nach seiner Abdankung 1910 bis zu seinem Tode 1926 hier lebte. Auch die letzten Mitglieder der königlichen Familie lebten hier, bis 1989 der letzte starb. Neben den Palastbauten ist besonders der geheime Garten Biwon sehenswert. Der Palast wurde 1997 dem UNESCO-Weltkulturerbe angefügt. Der Deoksugung (덕수궁 „Palast der rechtschaffenen Langlebigkeit“) wurde im 15. Jahrhundert als Residenz für den Enkel von König Sejo erbaut. Nachdem alle Paläste Seouls im Imjin-Krieg 1592 niedergebrannt worden waren, diente der Deoksugung bis 1623 als Palast und erneut 1897 nach der Ermordung von Königin Min bis 1907. Erhaltene Paläste aus der Zeit der Goryeo-Dynastie sind der Changgyeonggung und der kleine Unhyeongung. An der Stelle, an der einmal der Gyeonghuigung stand, ist heute eine Parkanlage, das Seoul Historical Museum sowie das Seoul Metropolitan Museum of Art zu finden. 1988 wurde das Haupttor Heunghwamun, welches zwischenzeitlich an einer anderen Stelle in Seoul stand, zurückverlegt, in den 1990er-Jahren wurden Nachbauten einiger anderer Gebäude des Palastes errichtet. Dem Besucher werden traditionelle kulturelle Riten der koreanischen Kultur, wie die Einführungsveranstaltungen für Beamte der Joseon-Dynastie an königlichen Palästen, das Wechseln der Königlichen Wachsoldaten oder die Hochzeit zwischen König Gojeon und Königin Min dargeboten. ==== Tempel ==== Der Hauptsitz des buddhistischen Ordens Koreas Jogyejong ist der Jogyesa-Tempel. In der Hauptstraße vor dem Tempel befinden sich viele Geschäfte, die buddhistische Requisiten verkaufen. Einmal im Jahr im Mai (8. Tag des 4. Monats des chinesischen Kalenders) ist der Jogyesa-Tempel das Ziel der großen Laternenparade, mit der Buddhas Geburtstag gefeiert wird. Bis zu 100.000 Menschen in farbenprächtigen Kostümen und Abordnungen aus vielen buddhistisch geprägten Ländern nehmen daran teil. Der Bongeunsa-Tempel (봉은사), im 15. Jahrhundert das Zentrum der Religion des Zen-Buddhismus, wurde 794 in der Silla-Periode neben dem Grab von König Seongjong (성종) errichtet und 1562 nördlich des heutigen World Trade Centers umgesiedelt. Neben dem Haupttempel findet sich eine interessante Sammlung an Holzblockinschriften. Der Tempel brannte mehrmals ab und so sind die meisten Gebäude in der Anlage in neuerer Zeit erbaut worden. Der Bongwonsa-Tempel (봉원사) wurde im Jahre 889, im dritten Jahr der Herrschaft der Silla-Königin Jinseong unter der Anleitung des Mönches To-seon errichtet. Der ursprüngliche Standort des Tempels lag nahe der Yonsei-Universität. 1728 wurde er an den Hintereingang der heutigen Ewha-Frauen-Universität umgesiedelt. An jedem Wochenende findet dort das Yeongsanjae statt. Dabei handelt es sich um ein Ritual, mit dem die Art und Weise, wie Buddha das Lotos-Sutra des Mahayana-Buddhismus lehrte, zelebriert wird. Der Bongwonsa ist der Haupttempel der Taego-Sekte der Buddhisten in der Hauptstadt. Eine Besonderheit dieser Gruppe ist die Möglichkeit der Mönche zu heiraten. ==== Festungsanlagen ==== Die Festung Namhansanseong („Festung des Bergs südlich des Han“) ist eine Bergfestung, die etwa 30 Kilometer südöstlich von Seoul liegt und mit der U-Bahn gut zu erreichen ist. Diese großangelegte Zufluchtsstätte in den Bergen, mit einer etwa acht Kilometer langen und bis zu sieben Meter hohen Mauer entstand vor ungefähr 2000 Jahren unter der Baekje-Dynastie. Die meisten der noch stehenden Gebäudeteile gehen jedoch auf das 17. und 18. Jahrhundert zurück, als die Festung dem Schutz der Joseon-Könige vor den chinesischen Invasionsarmeen diente. 1637 kapitulierte in Namhansanseong König Injo mit 14.000 Soldaten vor einer riesigen Streitmacht der Mandschu, deren Verfügungsgewalt dann auf ganz Korea überging. Die Festung Bukhansanseong, die „Festung des Bergs nördlich des Han“, ist zusammen mit der Feste Namhansanseong die zweite namhafte antike Befestigungsanlage im Umkreis von Seoul. Die Festung liegt im Norden der Stadt, auf dem Rücken des Bukhan-Gebirges gebaut. Auch diese Anlage wurde bereits in der frühen Baekje-Zeit errichtet und war mehrmals heftig umkämpft. Nachdem Armeen der chinesischen Ming-Kaiser im 16. Jahrhundert die Festung bedrohten, ließ der Joseon-König Sukjong (1674–1720) das Mauerwerk der Festung verstärken. Im Verlauf des Koreakriegs teilweise zerstört, wurden die Mauern inzwischen wegen der geschichtlichen Bedeutung der Festung wieder restauriert. ==== Grabstätten ==== In Seoul befinden sich einige Königsgräber der Joseon-Dynastie, die UNESCO-Weltkulturerbe sind. Im südlichen Stadtteil Gangnam befinden sich die Gräber Seolleung und Jeongneung. In Seocho befinden sich Heolleung und Illeung. Im nördlichen Nowon sind Taereung und Gangneung. Im Osten der Stadt liegen Jeongneung und Uireung. Die meisten anderen Gräber liegen in der umliegenden Provinz Gyeonggi-do. Weiterhin befindet sich in Seoul der Schrein Jongmyo. Dieser diente der Ahnenverehrung der Herrscher Joseons. Die traditionellen Rituale in dem Schrein werden bis heute abgehalten. Am ersten Sonntag im Mai nach dem Mondkalender findet in Seoul am Jongmyo-Schrein das „Jongmyo Daeje“ statt. Die Prozession und das Ritual wird zur Verehrung der Königinnen und Könige der Joseon-Dynastie veranstaltet. ==== Höchste Gebäude ==== Die höchsten Gebäude in Südkorea befinden sich in Seoul, Busan und Incheon. 2017 wurde in Gangnam der Lotte World Tower eröffnet, mit 555 m eines der höchsten Gebäude der Welt. 2026 soll das Hyundai Global Business Center fertiggestellt werden, die neue Konzernzentrale von Hyundai. Mit 569 m Höhe würde es der höchste Wolkenkratzer Koreas werden. === Freizeit und Erholung === Wandern und Bergsteigen gehört zu den beliebtesten Freizeitaktivitäten in Südkorea und gilt als Volkssport. Durch die gesamte Halbinsel zieht sich die Gebirgskette Baekdu-daegan. In Seoul gibt es mehrere Berge deren höchster der Bukhansan (Bagundae-Bergspitze) ist. Weitere beliebte Ziele sind der Suraksan, Gwanaksan oder die Festung Namhansanseong. Der 632 Meter hohe Berg Gwanaksan erhebt sich am südlichen Stadtrand. Wegen seiner Schönheit wird der Gwanaksan nach dem als schönster Berg Koreas geltenden Kŭmgangsan oft Sogeumgang (kleiner Kŭmgang-Berg) oder Seogeumgang (Kŭmgang-Berg des Westens) genannt. Zahlreiche Wanderwege führen durch das Bergmassiv mit seinem dichten und alten Baumbestand. Ausgangspunkt für die Ausflüge ist meist die Staatliche Universität Seoul am Fuß des Bergs. Auf dem felsigen Gipfel befinden sich eine Radarstation und mehrere Antennenanlagen. Am Gwanaksan liegen auch der Tempel Wongaksa und die Yeonjuam-Einsiedelei, die König Taejo der Joseon-Dynastie während der Verlegung der koreanischen Hauptstadt ins heutige Seoul im Jahr 1394 bauen ließ. Des Weiteren befinden sich in Seoul mehrere Freizeitparks, wie Lotte World, Seoul Children’s Grand Park und Seoul Land. Beliebter Drehort für Filme, Serien und Musikvideos ist auch der stillgelegte Freizeitpark Yongma Land. Im Mai 2011 wurde die zu diesem Zeitpunkt weltgrößte schwimmende Insel Floating Island (Sebitseom) eröffnet. Sie ist ein schwimmender Freizeitpark mit Restaurants, Tagungshallen und Möglichkeiten zum Wassersport. Rund 63 Millionen Euro wurden in die Floating Island investiert. Einige Szenen des Hollywoodfilms Avengers: Age of Ultron sowie der K-Dramen Athena und She Was Pretty (그녀는 예뻤다) wurden dort gedreht. Die Deutsch-Koreanische Industrie- und Handelskammer veranstaltet dort ihre Preisverleihung der Innovation Awards. ==== Parks ==== In Seoul gibt es zahlreiche Parks und Naherholungsgebiete. Im Vergleich zu Europa verfügen diese über ein dichtes Netz an jeweils öffentlich zugänglichen sowie kostenlosen Toiletten, Trinkwasserspendern und Fitnessgeräten. Die Fußgängerwege haben teilweise weiche Matten als Untergrund. Namsan ist öffentlicher Park einschließlich botanischem Garten, einem achteckigen Pavillon und einem Museumsdorf, in dem wiederhergestellte Hanok (traditionelle Häuser) zu sehen sind. Auf der höchsten Erhebung steht der N Seoul Tower mit sich drehendem Restaurant. Der Turm gilt als Wahrzeichen Seouls. Da sich der Berg im Zentrum Seouls befindet, ist der Turm von fast jedem Punkt der Stadt sichtbar. Hinter dem Changdeok-Palast breitet sich der „Geheime Garten“ aus, der ehemalige Privatpark der Königsfamilie. Fußwege führen durch bewaldetes, hügeliges Gelände, vorbei an Teichen und Pavillons sowie über kleine Brücken. Malerisch angelegt wurde der Bandoji, dessen Umrisse die Koreanische Halbinsel nachzeichnen. Von dem fächerförmig gestalteten Pavillon aus ging im 16. Jahrhundert König Injo seiner großen Angelleidenschaft nach. Der Naksonjae-Komplex ist nur zweimal jährlich, anlässlich der Königszeremonie, der Öffentlichkeit zugänglich. Ein weiterer Park in Seoul ist der Seonyudo. Er befindet sich auf einer kleinen Insel gleichen Namens im Hangang und beherbergt einen Spielplatz, Aussichtspunkte, Teiche und eine interessante Gartenanlage. Früher war diese Insel die zentrale Wasserversorgung von Seoul, die Pumpwerke sind erhalten und zu besichtigen. Der Seoul Forest in Ttukseom ist eine Parkanlage am Hangang. Neben mehreren Grünflächen, einem großen Spielplatz und einer Anzahl Fahrradwege gibt es dort eine Fotoausstellung zum Thema „Wald“ und auch einige Tiere. Ein 1983 eröffneter Park befindet sich um das 1639 errichtete Samjeondo-Denkmal. Der einzige Nationalpark innerhalb des Stadtgebietes von Seoul ist der Bukhansan-Nationalpark. Er ist mit zahlreichen buddhistischen Tempeln und seltenen Tieren, die das Berggebiet bewohnen, ausgestattet. Bei der Daehangno („Universitätsstraße“) findet sich der Naksan-Park, der auch einen Teil der Seouler Stadtmauer beherbergt. Der Park bietet einen guten Blick auf die Stadt. Besonders zur Kirschblütenzeit beliebt ist der See Seokchon und dessen Parkanlage. Von historisch besonderer Bedeutung ist der Tapgol-Park (ehemals Pagoda-Park). In dem Park befindet sich die Wongaksa-Pagode. Am 1. März 1919 wurde in dem Park die Unabhängigkeitserklärung verlesen. Es war die Geburtsstunde des Koreanischen Widerstands gegen Japans Kolonialherrschaft. Zwischen 2007 und 2014 kam es in Dongdaemun-gu zu einer Modernisierung und Restaurierung. Dabei wurde das Dongdaemun-Stadion abgerissen um Teile der historischen Festungsmauer auszugraben. Dadurch entstand der Dongdaemun History & Culture Park. Weiterhin wurde das Tor Dongdaemun restauriert. 2014 wurde zudem das Dongdaemun Design Plaza (DDP) eröffnet. Dieses Wahrzeichen im neufuturistischen Design ist Veranstaltungsort vieler Ausstellung und ist eines von Seouls Modezentren. Ein Park der besonderen Art ist der im Mai 2017 eröffnete Seoullo 7017. Ein aus einer ehemaligen Hochstraße bestehender, rund 1 km langer Abschnitt wurde in Anlehnung eines ähnlichen Projekte in New York City, der High Line, zu einem Fußgängerüberweg und innerstädtischen Park umgebaut und gilt seither als eine Attraktion der Stadt. Des Weiteren ist geplant, die US-Militärbasis im Bezirk Yongsan-gu, dessen Gebiet 2021 an Südkorea zurückgegeben werden soll, in einen Park umzuwandeln. 2004 entschieden die Verantwortlichen Südkoreas und USA, die US-Armee aus Seoul abzuziehen und in umliegende Gebiete zu verlagern. Das Hauptquartier der US-Armee in Südkorea ging dann nach Camp Humphreys in Pyeongtaek. Allerdings gibt es auch Kritik gegen die Planung, die das Land als Park vorsieht, da Seoul auch mehr Wohnraum brauche. Da das Land allerdings seit 1904 unter ausländischer Gewalt steht – bis 1945 als Basis der japanischen Armee als nach dem Zweiten Weltkrieg das US-Militär die Basis übernommen hatte – soll das Gebiet möglichst der Öffentlichkeit zugänglich sein und nicht privatisiert werden. === Sport === Seoul verfügt über 12.000 Sporteinrichtungen, von denen die meisten kommerziell betrieben werden. Etwa 700 der Einrichtungen sind in öffentlicher Hand oder sind firmeninterne Sportstätten. Es gibt 28 von der Stadt betriebene Sporteinrichtungen, inklusive vier Stadien für Fußball, Baseball und Leichtathletik. Weiterhin betreiben zehn der 25 Bezirke eigene Sportzentren, vier weitere Bezirke bauen derzeit solche Einrichtungen. Darüber hinaus gibt es in der Stadt ein dichtes Netz an öffentlich zugänglichen sowie kostenlosen Fitnessgeräten. Am repräsentativsten sind die Sportanlagen des Jamsil Sports Complex im Bezirk Songpa-gu, die sich über eine Fläche von 0,59 Quadratkilometern ausbreiten. Hier wurden unter anderem die Asienspiele 1986, die Olympischen Sommerspiele 1988 sowie die Sommer-Paralympics 1988 abgehalten. Sie umfassen das Olympiastadion mit einer Kapazität für 100.000 Zuschauer, ein Baseballstadion, ein Hallenbad, eine Sporthalle, einen Sportplatz und einen Schülersportplatz. Daneben gibt es einen Komplex von Sportanlagen im Olympic Park Seoul. Eines der größten Fußballstadien in Asien ist das für die Fußball-Weltmeisterschaft 2002 erbaute World-Cup-Stadion im Bezirk Mapo-gu. Es verfügt über 65.000 Sitzplätze, ist siebenstöckig und in der Grundform dem Soban, einem traditionellen koreanischen achteckigen Teetablett aus Holz nachempfunden worden. Im Stadiondach verbindet sich die Ausdrucksform des Bangpaeyeon, ein traditioneller schildförmiger Drachen, der die Hoffnungen der Menschen gen Himmel trägt, mit der Form des Hwangpodotbae, ein traditionelles Segelschiff auf dem Hangang. Die natürliche Linienführung des Stadions entspricht dem Dach sowie auch der Dachtraufe traditioneller Gebäude in Korea. Nach rund dreijährigen Bauarbeiten seit Oktober 1998 wurde das Stadion im November 2001 eröffnet. ==== Einheimische Sportvereine ==== ===== Fußball ===== MännerFrauen ===== Baseball ===== Seoul ist Heimat dreier Baseball-Vereine der KBO League. ==== eSports ==== Seoul gilt als „Mekka“ des eSports. Schon früh haben sich Spartenkanäle auf die Übertragung von eSports-Wettkämpfen fokussiert. Der Sport wurde professionalisiert und die Korean eSports Association ist Mitglied des nationalen Olympischen Komitees. === Regelmäßige Veranstaltungen === Ende März bis Anfang April blühen die Kirschblüten, die zahlreich am See Seokchon als auch in Yeouido zu finden sind. Am 8. April nach dem Mondkalender findet zu Buddhas Geburtstag das Fest der Lotus-Laternen statt. Dabei werden die buddhistischen Klöster mit Laternen geschmückt und eine Laternenparade vom Yeouido Plaza zum Jogyesa-Tempel veranstaltet. Im Oktober oder November findet seit 2000 jährlich das Seoul International Fireworks Festival am Hangang bei Yeouido statt. Veranstaltet wird es durch das Chemiekonglomerat Hanwha und das Seoul Broadcasting System. Mit der „Comic World“ findet in Seoul zudem regelmäßig eine Veranstaltung hinsichtlich Manhwa, Manga und Anime statt. === Kulinarische Spezialitäten === Aufgrund seiner Größe verfügt die Stadt über eine sehr große Auswahl an Restaurants koreanischer und internationaler Küche in verschiedenen Preislagen. Es gibt sehr viele Restaurants, die Ähnlichkeiten mit Kantinen haben, aber 24 Stunden an 7 Tagen in der Woche geöffnet sind. Weiterhin finden sich in Seoul viele bekannte Fastfoodketten. Der Bezirk Myeongdong ist bekannt für das Gericht Kalguksu. Sehr beliebt sind Barbecue-Restaurants, in denen Speisen wie Bulgogi, Samgyeopsal und Galbi am Tisch gebraten werden. Dabei handelt es sich um dünne Fleischstreifen, die nach dem Braten in kleine Stücke geschnitten werden und mit Soßen und Gemüse verzehrt werden. In den vergangenen Jahren hat auch frittiertes Hühnchen koreanischer Art mit Bier (Chimaek) an Popularität gewonnen, gerade für Paare und Freunde. Ein Kimchi-Gericht der Hauptstadtregion ist Chunggak. Hierbei wird Rettich zusammen mit den Blättern des Gewächses eingelegt oder in mehrere Würfel zerschnitten zubereitet. In Daerim-dong befindet sich ein Chinatown, wo man gut sino-koreanisch und chinesisch essen kann. == Wirtschaft und Infrastruktur == Laut einer Studie von 2014 erwirtschaftete der Großraum Seoul ein Bruttoinlandsprodukt von 846 Milliarden US-Dollar (KKB). In der Rangliste der wirtschaftsstärksten Metropolregionen weltweit belegte er damit den 4. Platz. Die technologische Infrastruktur ist hoch entwickelt. Seoul wird als „bestverdrahtete Stadt“ der Welt bezeichnet. Die Stadt landete auf Platz eins in der Kategorie Technologie-Geneigtheit in einer Studie von PwC. An den meisten öffentlichen Orten gibt es freies Wi-Fi. Seit April 2019 stellen SK Telecom und KT landesweit den Mobilfunkstandard 5G bereit. Im Vergleich zu Europa verfügt Seoul zudem über ein dichtes Netz an jeweils öffentlich zugänglichen sowie kostenlosen Toiletten, Trinkwasserspendern und Fitnessgeräten. Die Fußgängerwege haben teilweise weiche Matten als Untergrund. === Wirtschaft === Die Hauptstadt durchlebte nach dem Koreakrieg (1950–1953) bis in die Gegenwart einen raschen Modernisierungsprozess. Hierzu zählen der rasante Wandel von der vormodernen zur industriellen Gesellschaft und das schnelle Wirtschaftswachstum. Zwischen 1989 und 1998 wuchs die Wirtschaft Südkoreas jährlich um durchschnittlich 11,6 %. Die Arbeitslosenquote betrug 1997 nur 2,7 %. Wie allerdings ganz Korea wurde auch Seoul Ende 1997 von der Asienkrise durchgeschüttelt, die Arbeitslosigkeit sprang auf über 9 %, das BIP Südkoreas schrumpfte 1998 um 5,5 %. Seitdem hat sich die Lage aber rasch wieder gebessert. Seoul beherbergt heute eine Vielzahl an Konglomeraten wie Samsung, LG, Hyundai, SK, Hanwha und Versorger wie Korea Electric Power Corporation. Wichtigste Industrieerzeugnisse der Stadt waren lange Zeit chemische Produkte, Textilien und Kleidung, sowie Maschinen und Druckerzeugnisse, wurden aber nach und nach durch IT und elektrische und elektronische Geräte an der Spitze abgelöst. Die meisten Leute sind im Dienstleistungssektor tätig. Wichtigstes Industriegebiet ist das Korea Export Industrial Complex, auch Guro Industrial Complex genannt, wo auf einer Fläche von 1,98 km² etwa 8000 Betriebe angesiedelt sind. Sie beschäftigen über 100.000 Mitarbeiter und sind vor allem in den Feldern Entwicklung, IT, Montage und Papierherstellung tätig. Die meisten Banken haben ihren Hauptsitz in Yeouido wo auch die Börse Korea Exchange ihren Sitz hat.Der Fremdenverkehr ist ebenfalls von wirtschaftlicher Bedeutung. Mit 10,2 Millionen ausländischen Besuchern stand Seoul 2016 auf Platz 10 der meistbesuchten Städte weltweit. Touristen brachten im selben Jahr Einnahmen von 12,3 Milliarden US-Dollar. Die meisten ausländischen Besucher stammten aus der Volksrepublik China.In der landwirtschaftlich genutzten Umgebung von Seoul werden Soja, aber auch Hirse und Weizen angepflanzt. Die Stadt besitzt mit dem nahen Incheon am Gelben Meer einen großen Hafen für die Ein- und Ausfuhr industrieller Güter und einen wichtigen Personen- und Güterflughafen. Seoul profitiert zusehends von der zentralen Lage Südkoreas zwischen der Volksrepublik China und Japan. Diese und Taiwan sind in weniger als zwei Flugstunden zu erreichen, innerhalb von fünf Stunden erreicht man die ebenfalls stark wachsenden Märkte Indonesien, Thailand sowie die Philippinen. Auf Grund erfolgreicher Dezentralisierungspolitik hat Seoul seine schon in japanischer Kolonialzeit herausgebildete Stellung als bedeutendster Industriestandort des Landes eingebüßt, im Dienstleistungssektor seine Vorrangstellung jedoch unverändert beibehalten. So befinden sich fast alle Institutionen mit den höchsten staatlichen und privatwirtschaftlichen Verwaltungs-, Planungs- und Kontrollbefugnissen sowie deren Beschäftigte in der Hauptstadt. Auch fast alle großen Konzerne, Banken, Handelsunternehmen und Versicherungsgesellschaften Südkoreas haben ihren Hauptsitz in Seoul. === Verkehr === ==== Fernverkehr ==== Der 2001 eröffnete Incheon International Airport ist der bedeutendste internationale Flughafen der Hauptstadt. Die Mehrheit der südkoreanischen internationalen Flugverbindungen starten oder enden hier. Er liegt etwa 50 Kilometer westlich der Hauptstadt auf der Insel Yeongjongdo und ist an das Netz der Seoul Metro angebunden. Außerdem hat der Flughafen eine Autobahnanbindung, die auch von einer großen Anzahl an Shuttlebussen genutzt wird. Der Flughafen ersetzt den 18 Kilometer von Seoul entfernten Flughafen Gimpo als internationalen Knotenpunkt des Landes, welcher heute hauptsächlich nationale Strecken und Verbindungen zu anderen ostasiatischen Städten bedient. Seoul verfügt über drei große Bahnstationen: Seoul Station, Yongsan Station und Cheongnyangni Station. Seoul Station wurde ursprünglich von den Japanern erbaut und 1989 bis 1990 erweitert. Trotzdem musste zur Entlastung die 2004 eröffnete Yongsan Station neu errichtet werden. Das südkoreanische Eisenbahnnetz verbindet Seoul mit fast allen größeren Städten, die meistens südlich der Hauptstadt liegen. Am 30. März 2004 fuhr der Korea Train Express (KTX) über die erste Hochgeschwindigkeitsstrecke zwischen Seoul und Busan. Südkorea war damit das erste asiatische Land, das die französische Technologie des TGV (Hochgeschwindigkeitszug) einsetzte und inzwischen in Lizenz selbst produziert. Seoul ist über ein ausgedehntes Autobahnnetz an Express- und Fernbussen an nahezu jede Stadt in Südkorea direkt angebunden. Wichtige Busbahnhöfe für Verbindungen zu anderen Städten sind das Gangnam Express Bus Terminal im Süden der Stadt, das Dong Seoul Bus Terminal im Osten an und das Seoul Sangbong Bus Terminal im Norden der Stadt. Von den etwa 70 Zielen, die mit Expressbussen von Seoul aus erreicht werden können, werden die meisten mindestens im Stundentakt, die wichtigsten im Takt von 10 bis 20 Minuten, angefahren. Neben den üblicherweise von circa 6 bis 21 Uhr verkehrenden Linien gibt es auch einige spezielle Nachtlinien, die bis 2 Uhr morgens betrieben werden. Intercity-Busse sind Linien, die kleinere und nähere Orte anfahren. Sie befahren nicht unbedingt Autobahnen, sondern auch andere Straßen und haben öfter Zwischenstationen. Dafür fahren sie deutlich mehr Ziele an und sind entsprechend günstiger als die Expressbusse. ==== Nahverkehr ==== Seoul besitzt ein dichtes und gut ausgebautes Straßennetz mit sechs Autobahnen. 19 große Stichstraßen führen in alle Richtungen vom Stadtzentrum weg, darüber hinaus gibt es drei Ringautobahnen um das Stadtzentrum. Die Gesamtlänge des Straßennetzes beträgt 7801 Kilometer (Stand 1999). Alle wichtigen Straßen sind mehrspurig ausgebaut, die breiteste ist die Sejongno mit 20 Spuren. Die U-Bahn Seoul gehört zu den größten U-Bahnsystemen der Welt. Der erste Streckenabschnitt der U-Bahn Seoul wurde am 15. August 1974 eröffnet. Heute verkehrt sie auf einem Netz von neun Linien mit einer Länge 352 Kilometern, das ständig erweitert wird. Allerdings ist die Seouler U-Bahn auch an die Linie Incheons und den AREX etc. angebunden, die in die Streckenlänge hier nicht einbezogen sind. Die U-Bahn-Züge verkehren von 5:30 Uhr morgens bis 0:30 Uhr, auf einigen Strecken noch länger, üblicherweise im Abstand von vier bis sechs Minuten, zu Hauptverkehrszeiten alle drei bis vier Minuten. Die U-Bahn wird täglich von bis zu sieben Millionen Menschen benutzt. Einige neue Strecken haben drei Gleise, wobei auf dem mittleren Gleis Züge verkehren, die nur an Umsteigestationen halten, somit schneller sind. Ab dem 1. Mai 1899 gab es eine elektrische Straßenbahn in Seoul, deren Betrieb aber am 29. November 1968 eingestellt wurde. Ebenfalls sehr gut ausgebaut ist das Stadtbussystem. Auf den über 400 Linien werden täglich über sieben Millionen Passagiere befördert. Es gibt vier Arten von Bussen: Hauptverkehrsbusse (blau), Nachbarschaftslinien (grün), Schnellbusse (rot) und Umlaufbusse (gelb). Hauptverkehrslinien werden üblicherweise von 5 Uhr bis Mitternacht bedient, die Busse fahren üblicherweise alle paar Minuten. Fahrzeiten werden meist elektronisch angezeigt. Heute benutzen viele Fahrgäste ihre Smartphone-Anwendungen, um nach den Zeiten oder Verbindungen zu sehen. Die Direktbuslinien werden von komfortabler eingerichteten Bussen bedient und halten seltener. Viele dieser Linien sind Pendlerlinien, die Seoul mit den Satellitenstädten verbinden. Nachbarschaftslinien verbinden ansonsten nicht angeschlossene Wohngebiete mit dem übrigen Busnetz. Sowohl Einzelfahrten mit dem Bus als auch die entfernungsabhängig berechneten Fahrten mit der U-Bahn sind an mitteleuropäischen Preisen gemessen sehr günstig. In der Regel wird zur Bezahlung die Tmoney-Card oder ein Smartphone per NFC verwendet.Das Fahrrad wird als Fortbewegungsmittel immer populärer. Der Hangang ist ein beliebter Ort für kleine Fahrradtouren. Außerhalb Seouls ist meist mehr Platz, so dass in dortigen Parks viele Fahrradfahrer zu finden sind. Das Fahrradverleihsystem Seouls nennt sich Ttareungi (따릉이) und auf Englisch Seoul Bike. === Einkaufen === Der größte Markt in ganz Südkorea ist der Dongdaemun-Markt am alten Osttor, dem Dongdaemun (Dong = Ost; Dae = groß; Mun = Tür). Von Haushaltswaren oder Elektroartikel, Schuhen und Kleidung bis zu Möbeln, kann hier alles erstanden werden. Ein weiterer bedeutender Markt in Seoul ist der Namdaemun-Markt, der sich im Osten des Südtores erstreckt. Dort gibt es auch einen Spezialitätenmarkt. Beliebt ist auch das Viertel Myeongdong, wo es zahlreiche Einkaufs- und Unterhaltungsmöglichkeiten sowie Streetfood gibt. Neben den vielen Märkten bietet Seoul auch die Möglichkeit in den zahlreichen Kaufhäusern und Geschäftsstraßen einzukaufen. An der Namdaemun-ro findet man direkt gegenüber dem Eingang nach Myeongdong rechts AVENUEL und links Lotte Young Plaza. Die Straße hinauf liegt Shinsegae, gegenüber der Bank von Korea. Mit dem Times Square befindet sich eines der größten Kaufhäuser Seouls in Yeongdeungpo. Dort befindet sich auch die zweitgrößte Kinoleinwand der Welt im CGV Starium. Im Times Square finden auch immer wieder Filmpremieren statt. In Yongsan-gu befindet sich der Yongsan Electronics Market, der größte IT-Markt in Asien. Insadong ist ein Markt für Kunst und Kultur und vor allem auf Touristen ausgelegt. Dort können Antiquitäten und traditionelle Mitbringsel wie Bilder, Skulpturen und Kalligraphie erstanden werden. Außerdem befindet sich in Insadong die populäre Ssamzigil. Gangnam ist der reichste Stadtteil Seouls und beherbergt einige populäre Einkaufsstraßen und -häuser. Dazu zählen vor allem Apgujeong-dong, Cheongdam-dong und die dortige Modestraße Garosu-gil sowie die COEX Mall. Ganze Einkaufsstraßen – wie beispielsweise unterhalb der Jongno und Euljiro – wurden in den Untergrund gebaut. Das Sogong Underground Shopping Center ist direkt an den Lotte Department Store, das Young Plaza und Avenuel in Myeongdong angeschlossen und war in den 1980er-Jahren populär; das Hoehyon Underground Shopping Center befindet sich zwischen Myeongdong und Namdaemun und war in den 1980er-Jahren für Langspielplatten ein beliebter Einkaufsort. In diesen und anderen zahlreichen Arkaden findet man ein breit gefächertes Angebot an Kleidung, Schmuck, Schreibwaren, Smartphones, Kameras, Souvenirs und Reproduktionen antiken Porzellans. == Persönlichkeiten == === Söhne und Töchter der Stadt === === Persönlichkeiten, die in Seoul gewirkt haben === Kim Jeon (1458–1523), koreanischer Politiker, neokonfuzianischer Philosoph und Dichter == Literatur == Robert Nilsen: South Korea Handbook. 3. Auflage. Moon, Emeryville Cal 2004, ISBN 1-56691-418-3, S. 157ff. Dirk Bronger: Manila-Bangkok-Seoul. Regionalentwicklung und Raumwirtschaftspolitik in den Philippinen, Thailand und Südkorea. Institut für Asienkunde, Hamburg 1997, ISBN 3-88910-178-X. Beom Chu: An der Tradition orientierter Wohnungs- und Städtebau: Entwicklung eines Konzeptes für die Neuordnung historischer Wohngebiete in Seoul. Vertrieb für Bau- und Planungsliteratur, Dortmund 1999, ISBN 3-929797-53-4. Lothar Coenen (Hrsg.): Der Wind weht aus dem Süden. Zeugnisse aus Seoul. Calwer, Stuttgart 1990, ISBN 3-7668-3109-7. Young-Jun Lee: Luftreinhaltepolitik im städtischen Ballungsraum Seoul. Verlag für Wissenschaft und Forschung, Berlin 1994, ISBN 3-930324-09-1. In-Ju Song: Analyse des Stadtökosystems als ökologische Grundlage für die Stadtplanung. Am Beispiel von Seoul. Verlag Dr. Kovac, Hamburg 1998, ISBN 3-86064-800-4. Martin Robinson: Seoul. Lonely Planet, Melbourne 2003, ISBN 1-74059-218-2. (Englischer Reiseführer) Keith Pratt: Old Seoul. Oxford University Press, Oxford 2002, ISBN 0-19-593087-8. Peter Messingfeld: Abenteuer Seoul Verlag Lydia Messingfeld, 2008, ISBN 978-3-00-024362-2 (Deutscher Kultur- und Reiseführer) == Weblinks == Offizielle Website Seouls auf koreanisch und englisch Seouls Tourismuswebsite (englisch, koreanisch, chinesisch und japanisch) == Einzelnachweise ==
https://de.wikipedia.org/wiki/Seoul
Atom
= Atom = Atome (von altgriechisch ἄτομος átomos „unteilbar“) sind die Bausteine, aus denen alle festen, flüssigen und gasförmigen Stoffe bestehen. Alle Materialeigenschaften dieser Stoffe sowie ihr Verhalten in chemischen Reaktionen werden durch die Eigenschaften und die räumliche Anordnung ihrer Atome festgelegt. Jedes Atom gehört zu einem bestimmten chemischen Element und bildet dessen kleinste Einheit. Zurzeit sind 118 Elemente bekannt, von denen etwa 90 auf der Erde natürlich vorkommen. Atome verschiedener Elemente unterscheiden sich in ihrer Größe und Masse und vor allem in ihrer Fähigkeit, mit anderen Atomen chemisch zu reagieren und sich zu Molekülen oder festen Körpern zu verbinden. Die Durchmesser von Atomen liegen im Bereich von 6 · 10−11 m (Helium) bis 5 · 10−10 m (Cäsium), ihre Massen in einem Bereich von 1,7 · 10−27 kg (Wasserstoff) bis knapp 5 ·10−25 kg (die derzeit schwersten synthetisch hergestellten Kerne). Atome sind nicht unteilbar, wie zum Zeitpunkt der Namensgebung angenommen, sondern zeigen einen wohlbestimmten Aufbau aus noch kleineren Teilchen. Sie bestehen aus einem Atomkern und einer Atomhülle. Der Atomkern hat einen Durchmesser von etwa einem Zehn- bis Hunderttausendstel des gesamten Atomdurchmessers, enthält jedoch über 99,9 Prozent der Atommasse. Er besteht aus positiv geladenen Protonen und einer Anzahl von etwa gleich schweren, elektrisch neutralen Neutronen. Diese Nukleonen sind durch die starke Wechselwirkung aneinander gebunden. Die Hülle besteht aus negativ geladenen Elektronen. Sie trägt mit weniger als 0,06 Prozent zur Masse bei, bestimmt jedoch die Größe des Atoms. Der positive Kern und die negative Hülle sind durch elektrostatische Anziehung aneinander gebunden. In der elektrisch neutralen Grundform des Atoms ist die Anzahl der Elektronen in der Hülle gleich der Anzahl der Protonen im Kern. Diese Zahl legt den genauen Aufbau der Hülle und damit auch das chemische Verhalten des Atoms fest und wird deshalb als chemische Ordnungszahl bezeichnet. Alle Atome desselben Elements haben die gleiche chemische Ordnungszahl. Sind zusätzliche Elektronen vorhanden oder fehlen welche, ist das Atom negativ bzw. positiv geladen und wird als Ion bezeichnet. Die Vorstellung vom atomaren Aufbau der Materie existierte bereits in der Antike, war jedoch bis in die Neuzeit umstritten. Der endgültige Nachweis konnte erst Anfang des 20. Jahrhunderts erbracht werden und gilt als eine der bedeutendsten Entdeckungen in Physik und Chemie. Einzelne Atome sind selbst mit den stärksten Lichtmikroskopen nicht zu erkennen. Eine direkte Beobachtung einzelner Atome ist erst seit Mitte des 20. Jahrhunderts mit Feldionenmikroskopen möglich, seit einigen Jahren auch mit Rastertunnelmikroskopen und hochauflösenden Elektronenmikroskopen. Die Atomphysik, die neben dem Aufbau der Atome auch die Vorgänge in ihrem Inneren und ihre Wechselwirkungen mit anderen Atomen erforscht, hat entscheidend zur Entwicklung der modernen Physik und insbesondere der Quantenmechanik beigetragen. == Erforschungsgeschichte == Die Vorstellung vom atomaren Aufbau der Materie existierte bereits in der Antike, allerdings nur in Form von spekulativen philosophischen Überlegungen. Aufgrund ihrer extrem geringen Größe sind einzelne Atome selbst mit den stärksten Lichtmikroskopen nicht zu erkennen. Dennoch konnte Johann Loschmidt schon Mitte des 19. Jahrhunderts aufgrund makroskopischer Eigenschaften der Gase ungefähr abschätzen, wie groß und schwer ein solches hypothetisches Atom sein müsste. Noch Anfang des 20. Jahrhunderts war umstritten, ob es Atome wirklich gibt. Der endgültige Nachweis ihrer Existenz gilt als eine der bedeutendsten Entdeckungen in Physik und Chemie. Einen entscheidenden Beitrag lieferte Albert Einstein 1905, indem er die bereits seit langem bekannte, im Mikroskop direkt sichtbare Brownsche Bewegung kleiner Körnchen quantitativ dadurch erklärte, dass sie von zufällig gehäuften Stößen von Atomen oder Molekülen aus der Umgebung herrührte. Erst seit wenigen Jahrzehnten erlauben Feldionenmikroskope und Rastertunnelmikroskope, seit einigen Jahren zudem auch Elektronenmikroskope, einzelne Atome direkt zu beobachten. === Philosophische Überlegungen === Das Konzept des Atomismus, nämlich dass Materie aus Grundeinheiten aufgebaut ist – „kleinsten Teilchen“, die nicht immer weiter in kleinere Stücke zerteilt werden können – existiert seit Jahrtausenden, genauso wie das Gegenkonzept, Materie sei ein beliebig teilbares Kontinuum. Doch diese Ideen beruhten zunächst ausschließlich auf philosophischen Überlegungen und nicht auf empirischer experimenteller Untersuchung. Dabei wurden den Atomen verschiedene Eigenschaften zugeschrieben, und zwar je nach Zeitalter, Kultur und philosophischer Schule sehr unterschiedliche. Eine frühe Erwähnung des Atomkonzepts in der Philosophie ist aus Indien bekannt. Die Nyaya- und Vaisheshika-Schulen entwickelten ausgearbeitete Theorien, wie sich Atome zu komplexeren Gebilden zusammenschlössen (erst in Paaren, dann je drei Paare).In der griechischen Philosophie ist die Atomvorstellung erstmals im 5. Jahrhundert v. Chr. bei Leukipp überliefert. Sein Schüler Demokrit systematisierte sie und führte den Begriff átomos (ἄτομος) ein, was etwa „das Unzerschneidbare“ bedeutet, also ein nicht weiter zerteilbares Objekt. Diese Bezeichnung wurde Ende des 18. Jahrhunderts für die damals hypothetischen kleinsten Einheiten der chemischen Elemente der beginnenden modernen Chemie übernommen, denn mit chemischen Methoden lassen sich Atome in der Tat nicht „zerschneiden“. Experimentell arbeitende Naturwissenschaftler machten sich Ende des 18. Jahrhunderts die Hypothese vom Atom zu eigen, weil diese Hypothese im Rahmen eines Teilchenmodells der Materie eine elegante Erklärung für neue Entdeckungen in der Chemie bot. Doch wurde gleichzeitig die gegenteilige Vorstellung, Materie sei ein Kontinuum, von Philosophen und auch unter Naturwissenschaftlern noch bis ins 20. Jahrhundert hinein aufrechterhalten. === Naturwissenschaftliche Erforschung === Im Rahmen der wissenschaftlichen Erforschung konnte die Existenz von Atomen bestätigt werden. Es wurden viele verschiedene Atommodelle entwickelt, um ihren Aufbau zu beschreiben. Insbesondere das Wasserstoffatom als das einfachste aller Atome war dabei wichtig. Einige der Modelle werden heute nicht mehr verwendet und sind nur von wissenschaftsgeschichtlichem Interesse. Andere gelten je nach Anwendungsbereich als noch heute brauchbare Näherung. In der Regel wird das einfachste Modell genommen, welches im gegebenen Zusammenhang noch ausreicht, um die auftretenden Fragen zu klären. Viele der im Folgenden genannten Entdeckungen (sofern nach 1900) wurden mit dem Nobelpreis für Physik oder Chemie ausgezeichnet. ==== Bestätigung der Atomhypothese ==== Robert Boyle vertrat 1661 in seinem Werk The Sceptical Chymist die Meinung, die Materie sei aus diversen Kombinationen verschiedener corpuscules aufgebaut und nicht aus den vier Elementen der Alchemie: Wasser, Erde, Feuer, Luft. Damit bereitete er die Überwindung der Alchemie durch den Element- und Atombegriff der modernen Chemie vor. Daniel Bernoulli zeigte 1740, dass der gleichmäßige Druck von Gasen auf die Behälterwände, insbesondere das Gesetz von Boyle und Mariotte, sich durch zahllose Stöße kleinster Teilchen erklären lässt. Damit wurde seine Forschung zum Vorläufer der kinetischen Gastheorie und statistischen Mechanik. Ab Ende des 18. Jahrhunderts wurde die Vorstellung von Atomen genutzt, um die wohlbestimmten Winkel an den Kanten und Ecken der Edelsteine auf die verschiedenen möglichen Schichtungen von harten Kugeln zurückzuführen.Nachdem Antoine Lavoisier 1789 den heutigen Begriff des chemischen Elements geprägt und die ersten Elemente richtig identifiziert hatte, benutzte 1803 John Dalton das Atomkonzept, um zu erklären, wieso Elemente immer in Mengenverhältnissen kleiner ganzer Zahlen miteinander reagieren (Gesetz der multiplen Proportionen). Er nahm an, dass jedes Element aus gleichartigen Atomen besteht, die sich nach festen Regeln miteinander verbinden können und so Stoffe mit anderen Materialeigenschaften bilden. Außerdem ging er davon aus, dass alle Atome eines Elements die gleiche Masse hätten, und begründete damit den Begriff Atomgewicht.Die Beobachtungen zum chemischen und physikalischen Verhalten von Gasen konnte Amedeo Avogadro 1811 dahingehend zusammenfassen, dass zwei ideale Gase bei gleichen Werten von Volumen, Druck und Temperatur des Gases immer aus gleich vielen identischen Teilchen („Molekülen“) bestehen. Die Moleküle bestehen bei elementaren Gasen wie Wasserstoff, Sauerstoff oder Stickstoff immer aus zwei Atomen des Elements (Avogadrosches Gesetz). 1866 konnte Johann Loschmidt die Größe des einzelnen Luftmoleküls bestimmen, indem er mit einer von James C. Maxwell aus der kinetischen Gastheorie gewonnenen Formel die von George Stokes gemessenen Werte für die innere Reibung in Luft auswertete. Damit konnte er auch das Gewicht bzw. die Masse eines Luftmoleküls bestimmen. Außerdem erhielt er die nach ihm benannte Loschmidtsche Zahl als Anzahl der Luftmoleküle pro Kubikzentimeter (unter Normalbedingungen). Infolge der Arbeiten von Avogadro und Stanislao Cannizzaro wurde angenommen, dass Atome nicht als einzelne Teilchen auftreten, sondern nur als Bestandteile von Molekülen aus mindestens zwei Atomen. Doch 1876 gelang August Kundt und Emil Warburg der erste Nachweis eines einatomigen Gases. Sie bestimmten den Adiabatenexponenten von Quecksilber-Dampf bei hoher Temperatur und erhielten einen Wert, wie er nach der kinetischen Gastheorie nur für Teilchen in Gestalt echter Massepunkte auftreten kann. Ab 1895 kamen entsprechende Beobachtungen an den neu entdeckten Edelgasen hinzu.Nach Erscheinen seiner Dissertation über die Bestimmung von Moleküldimensionen schlug Albert Einstein im selben Jahr 1905 ein Experiment vor, um die Hypothese von der Existenz der Atome anhand der Zitterbewegung kleiner Partikel in Wasser quantitativ zu prüfen. Nach seiner Theorie müssten die Partikel aufgrund der Unregelmäßigkeit der Stöße durch die Wassermoleküle kleine, aber immerhin unter dem Mikroskop sichtbare Bewegungen ausführen. Es war Einstein dabei zunächst nicht bekannt, dass er damit die seit 1827 bekannte Brownsche Bewegung von Pollen quantitativ erklärt hatte, für deren Ursache schon 1863 Christian Wiener erstmals Molekularstöße angenommen hatte. Nach Einsteins Formeln hängt die Stärke der Zitterbewegung von der Masse der stoßenden Moleküle ab, und auf dieser Grundlage bestimmte der französische Physiker Jean Perrin die Molekülmasse experimentell und fand ähnliche Ergebnisse wie Loschmidt. Diese Arbeiten trugen entscheidend zur allgemeinen Anerkennung der bis dahin so genannten „Atomhypothese“ bei. ==== Teilbarkeit und Aufbau der Atome ==== Joseph John Thomson entdeckte 1897, dass die Kathodenstrahlen aus Teilchen bestimmter Ladung und Masse bestehen und dass deren Masse kleiner als ein Tausendstel der Atommasse ist. Diese Teilchen wurden als Elektronen bezeichnet und erwiesen sich als ein Bestandteil aller Materie, was dem Konzept des Atoms als unzerteilbarer Einheit widersprach. Thomson glaubte, dass die Elektronen dem Atom seine Masse verliehen und dass sie im Atom in einem masselosen, positiv geladenen Medium verteilt seien wie „Rosinen in einem Kuchen“ (Thomsonsches Atommodell). Die kurz zuvor von Henri Becquerel entdeckte Radioaktivität wurde von Marie Curie als eine Strahlung direkt aus den einzelnen Atomen angesehen und 1903 von Ernest Rutherford und Frederick Soddy mit Umwandlungen verschiedener Atomsorten ineinander in Verbindung gebracht. Ein solcher Prozess widersprach aber der in der Chemie erfolgreichen Grundannahme, die Atome seien unveränderlich. Rutherford und Soddy konnten 1908 nachweisen, dass aus den α-Teilchen, die die Alphastrahlung bilden, Helium-Atome werden. Zusammen mit seiner Forschergruppe beschoss Ernest Rutherford 1909 eine Goldfolie mit α-Teilchen. Er stellte fest, dass die meisten der Teilchen die Folie fast ungehindert durchdrangen, einige wenige aber um sehr viel größere Winkel abgelenkt wurden als nach Thomsons Modell möglich wäre. Rutherford schloss daraus, dass fast die ganze Masse des Atoms in einem sehr viel kleineren, elektrisch geladenen Volumen in der Mitte des Atoms konzentriert sei und schuf damit die grundlegende Vorstellung vom Aufbau des Atoms aus Atomkern und Atomhülle. Dies Rutherfordsche Atommodell ist seither gültig. Die stark abgelenkten α-Teilchen waren diejenigen, die einem Kern zufällig näher als etwa ein Hundertstel des Atomradius gekommen waren. Die Ladungszahl des Atomkerns entpuppte sich als die chemische Ordnungszahl des betreffenden Elements, und α-Teilchen erwiesen sich als die Atomkerne des Heliums. Der Chemiker Frederick Soddy stellte 1911 fest, dass manche der natürlichen radioaktiven Elemente aus Atomen mit unterschiedlichen Massen und unterschiedlicher Radioaktivität bestehen mussten. Der Begriff Isotop für physikalisch verschiedene Atome desselben chemischen Elements wurde 1913 von Margaret Todd vorgeschlagen. Da die Isotope desselben Elements an ihrem chemischen Verhalten nicht zu unterscheiden waren, entwickelte der Physiker J.J. Thomson ein erstes Massenspektrometer zu ihrer physikalischen Trennung. Damit konnte er 1913 am Beispiel von Neon nachweisen, dass es auch stabile Elemente mit mehreren Isotopen gibt.1918 fand Francis William Aston mit einem Massenspektrometer von erheblich größerer Genauigkeit heraus, dass fast alle Elemente Gemische aus mehreren Isotopen sind, wobei die Massen der einzelnen Isotope immer (nahezu) ganzzahlige Vielfache der Masse des Wasserstoffatoms sind. Rutherford wies 1919 in der ersten beobachteten Kernreaktion nach, dass durch Beschuss mit α-Teilchen aus den Kernen von Stickstoffatomen die Kerne von Wasserstoffatomen herausgeschossen werden können. Diesen gab er den Namen Proton und entwickelte ein Atommodell, in dem die Atome nur aus Protonen und Elektronen bestehen, wobei die Protonen und ein Teil der Elektronen den kleinen, schweren Atomkern bilden, die übrigen Elektronen die große, leichte Atomhülle. Die Vorstellung von Elektronen im Atomkern stellte sich jedoch als problematisch heraus und wurde 1932 endgültig fallengelassen, nachdem von James Chadwick das Neutron als ein neutraler Kernbaustein mit etwa gleicher Masse wie das Proton nachgewiesen wurde. Damit entstand das heutige Atommodell: Der Atomkern ist zusammengesetzt aus so vielen Protonen, wie die Ordnungszahl angibt, und zusätzlich so vielen Neutronen, dass die betreffende Isotopenmasse erreicht wird; die Atomhülle besteht aus so vielen Elektronen, dass das ganze Atom neutral wird. ==== Aufbau der Atomhülle ==== Die beobachteten Eigenschaften (wie Größe, Stabilität, Reaktionsweisen, Absorption und Emission von Licht) der Atomhülle konnten im Rahmen der klassischen Physik keine Erklärung finden. Erst unter Einbeziehung von neuartigen Quantisierungsregeln mithilfe der Planck-Konstante konnte Niels Bohr 1913 erklären, wie es in den optischen Spektren reiner Elemente zu den Spektrallinien kommt, die für das jeweilige Element absolut charakteristisch sind (Spektralanalyse nach Robert Wilhelm Bunsen und Gustav Robert Kirchhoff 1859). Im Franck-Hertz-Versuch konnte die quantisierte Energieaufnahme und -abgabe an Quecksilberatomen experimentell bestätigt werden. Das Bohrsche Atommodell war zwar nur für Systeme mit lediglich einem Elektron (damals nur Wasserstoff und ionisiertes Helium) gültig, bildete jedoch im Laufe des folgenden Jahrzehnts das Fundament für eine Reihe von Verfeinerungen. Sie führten im Schalenmodell zu einem ersten Verständnis des Aufbaus der Elektronenhüllen aller Elemente und damit auch zum physikalischen Verständnis des chemischen Periodensystems. Damit wurde das Bohrsche Atommodell zur Grundlage des populären Bildes vom Atom als einem kleinen Planetensystem. 1925 entwickelte Werner Heisenberg zusammen mit Max Born, Pascual Jordan, Wolfgang Pauli u. a. die Matrizenmechanik. 1926 ersetzte Erwin Schrödinger die Quantisierungsregeln durch seine Wellenmechanik. Sie beschreibt die Elektronen nicht als Massenpunkte auf bestimmten ebenen Bahnen, sondern als in drei Dimensionen ausgedehnte stehende Materiewelle. Beide Formen einer neuen „Quantenmechanik“ konnten das Spektrum des Wasserstoffatoms richtig erklären. Als Folge dieser Beschreibungen ist es unter anderem unzulässig, einem Elektron gleichzeitig genaue Werte für Ort und Impuls zuzuschreiben. Dieser Sachverhalt wurde 1927 von Heisenberg in der Unschärferelation formuliert. Demnach können statt der Bewegung auf bestimmten Bahnen nur Wahrscheinlichkeitsverteilungen für Wertebereiche von Ort und Impuls angegeben werden, eine Vorstellung, die nur schwer zu veranschaulichen ist. Den quantisierten Umlaufbahnen des Bohrschen Modells entsprechen hier „Atomorbitale“. Sie geben unter anderem an, wie sich in der Nähe des Atomkerns die Aufenthaltswahrscheinlichkeit der Elektronen konzentriert, und bestimmen damit die wirkliche Größe des Atoms. Die Beschreibung der Eigenschaften der Atome gelang mit diesen ersten vollständig quantenmechanischen Atommodellen sehr viel besser als mit den Vorläufermodellen. Insbesondere ließen sich auch bei Atomen mit mehreren Elektronen die Spektrallinien und die Struktur der Atomhülle in räumlicher und energetischer Hinsicht darstellen, einschließlich der genauen Möglichkeiten, mit den Atomhüllen anderer Atome gebundene Zustände zu bilden, also die aus der Chemie bekannten stabilen Moleküle. Daher wurde das Bohrsche Atommodell zugunsten des quantenmechanischen Orbitalmodells des Atoms verworfen.Das Orbitalmodell ist bis heute Grundlage und Ausgangspunkt genauer quantenmechanischer Berechnungen fast aller Eigenschaften der Atome. Das Orbitalmodell bei einem Atom mit mehr als einem Elektron ist physikalisch als eine Näherung zu bezeichnen, nämlich als eine Ein-Teilchen-Näherung, die jedem einzelnen Elektron ein bestimmtes Orbital zuschreibt. Ein so gebildeter Zustand des Atoms wird als Konfiguration bezeichnet und gehört in der Quantenmechanik zu der einfachsten Art von Mehrteilchenzuständen. Genauere Modelle berücksichtigen, dass nach den Regeln der Quantenmechanik die Hülle auch in einem Zustand sein kann, der durch Superposition verschiedener Konfigurationen entsteht, wo also mit verschiedenen Wahrscheinlichkeitsamplituden gleichzeitig verschiedene Elektronenkonfigurationen vorliegen (Konfigurationsmischung). Hiermit werden die genauesten Berechnungen von Energieniveaus und Wechselwirkungen der Atome möglich. Wegen des dazu nötigen mathematischen Aufwands werden jedoch, wo es möglich ist, auch weiterhin einfachere Atommodelle genutzt. Zu nennen ist hier neben dem Schalenmodell unter anderen das Thomas-Fermi-Modell, in dem die Elektronenhülle pauschal wie ein im Potentialtopf gebundenes ideales Elektronengas („Fermigas“) behandelt wird, dessen Dichte wiederum zusammen mit der Kernladung die Form des elektrostatischen Potentialtopfs bestimmt. ==== Aufbau des Atomkerns ==== Zur Entdeckung des Atomkerns und seiner Zusammensetzung aus Protonen und Neutronen siehe den Abschnitt „Teilbarkeit und Aufbau der Atome“ oben. Hier folgen Stichworte zur Erforschung weiterer Eigenschaften der Kerne. ===== Bindungsenergie ===== Die Bindungsenergie der Nukleonen ist Ursache der hohen Energie der Quanten der radioaktiven Strahlung. Sie übersteigt die chemische Bindungsenergie von Molekülen um fünf bis sechs Größenordnungen. Ab 1935 war hierbei erstmals eine grobe Modellvorstellung erfolgreich, das Tröpfchenmodell von C.F. von Weizsäcker und Hans Bethe. Damit wurde für Kerne ab etwa 10 Nukleonen die anfängliche Zunahme der mittleren Bindungsenergie bis etwa A = 60 {\displaystyle A=60} durch die wachsende Anzahl erklärt, in der die Nukleonen sich aufgrund der eigentlichen Kernkräfte mit ihren jeweiligen Nachbarn binden, und danach die Abnahme der mittleren Bindungsenergie aufgrund der zunehmenden elektrostatischen Abstoßung, die alle Protonen untereinander betrifft. ===== Kernfusion und Kernspaltung ===== Da das Maximum der mittleren Bindungsenergie bei mittelschweren Kernen liegt, bedeutet es Energiefreisetzung sowohl, wenn sehr leichte Kerne fusionieren, als auch wenn sehr schwere Kerne spalten. Die Fusion von Wasserstoff zu Helium wurde 1938 als Energiequelle der Sterne identifiziert. Die Spaltung nach Neutroneneinfang wurde erstmals 1938 an Urankernen (des Isotops U-235) durch Otto Hahn und Fritz Strassmann nachgewiesen. Danach wurde die Kernforschung erheblich intensiviert und führte 1945 zu den ersten Atombomben, 1952 den Wasserstoffbomben und ab Mitte der 1950er Jahre zur Nutzung der Atomenergie zur Energieversorgung. ===== Schalenmodell und vereinheitlichtes Modell ===== Sehr viel detaillierter als das Tröpfchenmodell ist das 1949 von J.H.D. Jensen und Maria Goeppert-Mayer aufgestellte Schalenmodell der Kerne. Ähnlich wie das Schalenmodell der Atome nimmt es für je ein Nukleon ein bestimmtes Orbital in einem gemeinsamen kugelsymmetrischen Potentialtopf an. Damit kann eine Fülle von Daten über die Grundzustände und angeregten Zustände der Kerne erklärt werden, zum Beispiel ihr Kernspin, ihr magnetisches Dipol- und elektrisches Quadrupolmoment, sowie über ihre Zerfalls- und Reaktionsweisen. Aage Bohr, Ben Mottelson und James Rainwater gelang es Anfang der 1960er Jahre, dies Einzelteilchenmodell mit den Aspekten kollektiver Bewegung zu verbinden, womit auch die Abweichungen von der Kugelgestalt in bestimmten Bereichen der Nukleonenzahlen verständlich wurden. ===== Ursprung der Kernkräfte ===== Die kurzreichweitigen Kernkräfte konnten in den 1970er Jahren auf die Starke Wechselwirkung zwischen Quarks zurückgeführt werden. ===== Aufbau von Proton und Neutron ===== Ab den 1950er Jahren konnten Atome und vor allem die Atomkerne durch die Entwicklung verbesserter Teilchenbeschleuniger und Teilchendetektoren beim Beschuss mit Teilchen sehr hoher Energie untersucht werden. Ende der 1960er Jahre zeigte sich in der „tiefinelastischen Streuung“ von Elektronen an Atomkernen, dass auch Neutronen und Protonen keine unteilbaren Einheiten sind, sondern aus Quarks zusammengesetzt sind. ==== Einige fortgeschrittene Experimente mit Atomen ==== 1951 entwickelte Erwin Müller das Feldionenmikroskop und konnte damit von einer Nadelspitze erstmals ein Abbild erzeugen, das auf direkte Weise so stark vergrößert war, dass einzelne Atome darin sichtbar wurden (wenn auch nur als verschwommene Flecken). 1953 entwickelte Wolfgang Paul die magnetische Ionenfalle (Paulfalle), in der einzelne Ionen gespeichert und mit immer höherer Genauigkeit untersucht werden können. Hier kann ein einzelnes Atom auch durch sein Fluoreszenzlicht direkt visuell sichtbar gemacht und fotografiert werden.1985 entwickelte eine Arbeitsgruppe um Steven Chu die Laserkühlung, ein Verfahren, die Temperatur einer Ansammlung von Atomen mittels Laser­strahlung stark zu verringern. Im selben Jahr gelang es einer Gruppe um William D. Phillips, neutrale Natriumatome in einer magneto-optischen Falle einzuschließen. Durch Kombination dieser Verfahren mit einer Methode, die den Dopplereffekt nutzt, gelang es einer Arbeitsgruppe um Claude Cohen-Tannoudji, geringe Mengen von Atomen auf Temperaturen von einigen Mikrokelvin zu kühlen. Mit diesem Verfahren können Atome mit höchster Genauigkeit untersucht werden; außerdem ermöglichte es auch die experimentelle Realisierung der Bose-Einstein-Kondensation.Anfang der 1980er Jahre wurde von Gerd Binnig und Heinrich Rohrer das Rastertunnelmikroskop entwickelt, in dem eine Nadelspitze eine Oberfläche mittels des Tunneleffekts so fein abtastet, dass einzelne Atome sichtbar werden. Damit wurde es auch möglich, Atome einzeln an bestimmte Plätze zu setzen. In den 1990er Jahren konnten Serge Haroche und David Wineland in Experimenten die Wechselwirkung eines einzelnen Atoms mit einem einzelnen Photon erfolgreich untersuchen. In den 2000er Jahren wurde die Handhabbarkeit einzelner Atome unter anderem genutzt, um einen Transistor aus nur einem Metallatom mit organischen Liganden herzustellen.Seit Ende der 1980er Jahre werden durch Vielfachanregung mit einem Laserimpuls Rydberg-Atome erzeugt. In einem Rydberg-Atom ist ein Elektron in einem so hohen Energiezustand angeregt, dass es den Atomkern, teilweise auch den gesamten Atomrumpf, bestehend aus dem Atomkern und den restlichen Elektronen, in weitem Abstand umkreist und sein Verhalten sich damit dem eines klassischen Teilchens nähert. Rydberg-Atome können über 100.000-mal größer sein als nicht angeregte Atome. Da sie extrem empfindlich auf äußere Felder reagieren, kann man mit ihnen z. B. die Wechselwirkung eines einzelnen Atoms mit einem einzelnen Photon im Detail untersuchen. Sind zwei oder mehr Elektronen in solchen Zuständen angeregt, spricht man von planetarischen Atomen. == Klassifizierung == === Elemente, Isotope, Nuklide === Die Unterscheidung und Bezeichnung verschiedener Atomsorten geht zunächst vom Aufbau des Atomkerns aus, während der Zustand der Hülle gegebenenfalls durch zusätzliche Symbole angegeben wird. Kennzahlen sind die Protonenzahl (Ordnungszahl, Kernladungszahl) Z, die Neutronenzahl N des Kerns, und die daraus gebildete Massenzahl A=Z+N. Je nach ihrer Protonenzahl gehören die Atome zu einem der 118 bekannten chemischen Elemente, von Wasserstoff mit Z=1 bis Oganesson mit Z=118. Davon sind 91 in natürlichen Vorkommen entdeckt worden, 27 nur nach künstlicher Herstellung durch Kernreaktionen. Die Ordnung der Elemente wird im Periodensystem – wichtig für die Chemie – graphisch veranschaulicht. Darin werden die Elemente mit aufsteigender Ordnungszahl in Form einer Tabelle angeordnet. Jede Zeile wird als Periode des Periodensystems bezeichnet und endet, wenn das jeweilige Orbital mit Elektronen voll besetzt ist (Edelgas). In den nächsten Zeilen wiederholt sich aufgrund der schrittweisen Elektronenbesetzung der nächsten Orbitale der chemische Charakter der Elemente. So stehen Elemente mit ähnlichen chemischen Eigenschaften in einer Spalte untereinander; sie bilden eine Gruppe des Periodensystems. Atome eines Elements, die sich in der Neutronenzahl unterscheiden, gehören zu verschiedenen Isotopen des Elements. Insgesamt bestehen die 118 Elemente aus etwa 2800 Isotopen, wovon 2500 künstlich erzeugt wurden. Isotope werden nach dem chemischen Element und der Massenzahl bezeichnet. Für die schwereren Wasserstoffisotope gibt es die speziellen Namen „Deuterium“ und „Tritium“. Das Symbol für ein bestimmtes Isotop des Elements X {\displaystyle X} hat die Form Z A X {\displaystyle _{Z}^{A}\mathrm {X} } , A X {\displaystyle ^{A}\mathrm {X} } oder X-A (Beispiele: 6 12 C {\displaystyle _{\,\,6}^{12}\mathrm {C} } , 58 F e {\displaystyle ^{58}\mathrm {Fe} } , Pb-208). Die Angabe der Protonenzahl Z ist redundant, da sie schon durch die Ordnungszahl des Elements X {\displaystyle X} gegeben ist. Nuklid ist die ganz allgemeine Bezeichnung für Atomarten, unabhängig davon, ob sie zum gleichen Element gehören oder nicht. Die Nuklidkarte oder Isotopenkarte – wichtig für die Kernphysik und ihre Anwendungen – ist eine Tabelle, in der jede Atomart einen eigenen Platz erhält. Dazu wird auf einer Achse die Anzahl der Protonen, auf der anderen die der Neutronen aufgetragen. Häufig wird die Stabilität und bei instabilen Nukliden auch die Art der Umwandlung oder die Größenordnung der Halbwertszeit durch bestimmte Farben und gegebenenfalls auch Teilung des dem Isotop zugewiesenen Platzes dargestellt. === Stabile und instabile (radioaktive) Atome === Der Atomkern eines Nuklids Z A X {\displaystyle _{Z}^{A}\mathrm {X} } kann entweder im energetischen Grundzustand oder in einem der verschiedenen Anregungszustände vorliegen. Wenn darunter relativ langlebige, sogenannte metastabile Zustände sind, werden diese als Isomere bezeichnet und als eigene Nuklide gezählt (Symbol Z A X m {\displaystyle _{Z}^{A}\mathrm {X} ^{m}} , Z A X ∗ {\displaystyle _{Z}^{A}\mathrm {X} ^{*}} o. ä.). Nach dieser Definition sind mit dem Stand von 2003 insgesamt etwa 3200 Nuklide bekannt.In der Kernphysik werden Nuklide mit unterschiedlichen Protonenzahlen, aber gleicher Massenzahl A {\displaystyle A} als Isobare bezeichnet. Seltener werden unter dem Namen Isotone Nuklide mit verschiedenen Protonenzahlen, aber gleicher Neutronenzahl zusammengefasst. Nur etwa 250 Isotope von 80 Elementen haben einen stabilen Kern. Alle anderen Atome sind instabil und wandeln sich über kurz oder lang in Atome eines stabilen Isotops um. Da sie dabei im Allgemeinen ionisierende Strahlung erzeugen, heißen sie auch Radioisotope oder Radionuklide. Auf der Erde wurden in den natürlichen Vorkommen neben allen 250 stabilen Isotopen 30 Radioisotope gefunden, die sich auf 10 radioaktive Elemente verteilen und die natürliche Radioaktivität verursachen. Viele weitere kurzlebige Isotope existieren im Inneren von Sternen, insbesondere während der Supernova-Phase. === Seltene und theoretische Formen === Als Rydberg-Atom wird ein Atom bezeichnet, in dem ein Elektron in einem so hohen Energiezustand angeregt ist, dass es den Atomkern, teilweise auch den gesamten Atomrumpf, bestehend aus dem Atomkern und den restlichen Elektronen, in weitem Abstand umkreist und sein Verhalten damit dem eines klassischen Teilchens ähnelt. Rydberg-Atome können über 100.000-mal größer sein als nicht angeregte Atome. Da sie extrem empfindlich auf äußere Felder reagieren, kann man mit ihnen z. B. die Wechselwirkung mit einem einzelnen Photon im Detail untersuchen. Sind zwei oder mehr Elektronen in solchen Zuständen angeregt, spricht man von planetarischen Atomen. Im teils übertragenen Sinn werden als exotische Atome auch solche Systeme bezeichnet, die in physikalischer Hinsicht gewisse Ähnlichkeiten zu den gewöhnlichen Atomen aufweisen. In ihnen kann z. B. eines der Protonen, Neutronen oder Elektronen durch ein anderes Teilchen derselben Ladung ersetzt worden sein. Wird etwa ein Elektron durch ein schwereres Myon ersetzt, bildet sich ein myonisches Atom. Als Positronium wird ein exotisches Atom bezeichnet, in dem ein Elektron statt an ein Proton an ein Positron, das ist das positiv geladene Antiteilchen des Elektrons, gebunden ist. Auch Atome, die gänzlich aus Antiteilchen zur normalen Materie aufgebaut sind, sind möglich und für sich allein sogar ebenso stabil wie die entsprechenden „normalen“ Atome. So wurden erstmals 1995 am Genfer CERN Antiwasserstoffatome künstlich hergestellt und nachgewiesen. An solchen exotischen Atomen lassen sich unter anderem fundamentale physikalische Theorien über die Symmetrie zwischen Teilchen und Antiteilchen überprüfen. Des Weiteren wird der Name Atom manchmal auch für Zwei-Teilchen-Systeme verwendet, die nicht durch elektromagnetische Wechselwirkung zusammengehalten werden, sondern durch die starke Wechselwirkung. Bei einem solchen Quarkonium handelt es sich um ein kurzlebiges Elementarteilchen vom Typ Meson, das aus einem Quark und einem Antiquark aufgebaut ist. Ein Quarkonium-Atom lässt sich in seinen verschiedenen metastabilen Zuständen so durch Quantenzahlen klassifizieren wie das Wasserstoffatom. == Entstehung == Etwa eine Sekunde nach dem Urknall kamen wegen sinkender Temperatur die ständigen Umwandlungen zwischen den Elementarteilchen zur Ruhe, übrig blieben Elektronen, Protonen und Neutronen. In den darauf folgenden drei Minuten verbanden sich in der primordialen Nukleosynthese die vorhandenen Neutronen mit Protonen zu den einfachsten Kernen: Deuterium, Helium, in geringerem Umfang auch Lithium und möglicherweise in noch kleineren Mengen Beryllium und Bor. Die übrigen Protonen (86 Prozent) blieben erhalten. Die ersten neutralen Atome mit dauerhaft gebundenen Elektronen wurden erst 380.000 Jahre nach dem Urknall in der Rekombinationsphase gebildet, als das Universum durch Expansion so weit abgekühlt war, dass die Atome nicht sogleich wieder ionisiert wurden.Die Kerne aller schwereren Atome wurden und werden durch verschiedene Prozesse der Kernfusion erzeugt. Am wichtigsten ist die stellare Nukleosynthese, durch die in Sternen zunächst Helium, anschließend auch die schwereren Elemente bis zum Eisen gebildet werden. Elemente mit höheren Kernladungszahlen als Eisen entstehen in explosionsartigen Vorgängen wie im r-Prozess in Supernovae und im s-Prozess in AGB-Sternen, die kurz vor dem Ende ihrer Lebensdauer sind. Kleine Mengen verschiedener Elemente und Isotope werden auch dadurch gebildet, dass schwere Kerne wieder geteilt werden. Das geschieht durch radioaktive Zerfälle (siehe Zerfallsreihe), die u. a. für einen Teil des Vorkommens von Helium und Blei verantwortlich sind, und Spallationen, die für die Entstehung von Lithium, Beryllium und Bor wichtig sind. == Vorkommen und Verteilung == Im beobachtbaren Universum liegen die Atome mit einer mittleren Dichte von 0,25 Atome/m³ vor. Nach dem Urknallmodell (Lambda-CDM-Modell) bilden sie etwa 4,9 Prozent der gesamten Energiedichte. Die übrigen 95,1 Prozent, deren Natur noch weitgehend unklar ist, setzen sich aus etwa 27 Prozent dunkler Materie und 68 Prozent dunkler Energie zusammen, sowie kleinen Beiträgen von Neutrinos und elektromagnetischer Strahlung. Im Inneren einer Galaxie wie etwa der Milchstraße ist im interstellaren Medium (ISM) die Dichte der Atome wesentlich höher und liegt zwischen 104 und 1011 Atome/m3. Die Sonne befindet sich in der weitgehend staubfreien lokalen Blase, daher ist die Dichte in der Umgebung des Sonnensystems nur etwa 103 Atome/m3. In festen Himmelskörpern wie der Erde beträgt die Atomdichte etwa 1029 Atome/m3. In der Verteilung der Elemente dominiert im Universum Wasserstoff mit rund drei Viertel der Masse, danach folgt Helium mit etwa einem Viertel. Alle schwereren Elemente sind viel seltener und machen nur einen kleinen Teil der im Universum vorhandenen Atome aus. Ihre Häufigkeiten werden von den verschiedenen Mechanismen der Nukleosynthese bestimmt.Im Sonnensystem sind Wasserstoff und Helium vorwiegend in der Sonne und den Gasplaneten enthalten. Dagegen überwiegen auf der Erde die schweren Elemente. Die häufigsten Elemente sind hier Sauerstoff, Eisen, Silicium und Magnesium. Der Erdkern besteht vorwiegend aus Eisen, während in der Erdkruste Sauerstoff und Silicium vorherrschen. == Bestandteile des Atoms == Die beiden Hauptbestandteile eines Atoms sind der Atomkern und die Atomhülle. Die Hülle besteht aus Elektronen. Sie trägt mit weniger als 0,06 Prozent zur Masse des Atoms bei, bestimmt aber dessen Größe und dessen Verhalten gegenüber anderen Atomen, wenn sie einander nahekommen. Der Kern besteht aus Protonen und Neutronen, ist im Durchmesser zehn- bis hunderttausendmal kleiner als die Hülle, enthält aber mehr als 99,9 Prozent der Masse des Atoms. === Atomkern === ==== Aufbau ==== Die in einem Atom vorhandenen Protonen und Neutronen, zusammen auch als Nukleonen bezeichnet, sind aneinander gebundenen und bilden den Atomkern. Die Nukleonen zählen zu den Hadronen. Das Proton ist positiv geladen, das Neutron ist elektrisch neutral. Proton und Neutron haben einen Durchmesser von etwa 1,6 fm (Femtometer) und sind selber keine Elementarteilchen, sondern nach dem Standardmodell der Elementarteilchenphysik aus den punktförmigen Quarks aufgebaut. Jeweils drei Quarks binden sich durch die starke Wechselwirkung, die durch Gluonen vermittelt wird, zu einem Nukleon. Die starke Wechselwirkung ist darüber hinaus für den Zusammenhalt der Nukleonen im Atomkern verantwortlich, insbesondere ist die Anziehung bis zu etwa 2,5 fm Abstand deutlich stärker als die gegenseitige elektrische Abstoßung der Protonen. Unterhalb von etwa 1,6 fm wird die starke Wechselwirkung der Hadronen jedoch stark abstoßend. Anschaulich gesprochen verhalten sich die Nukleonen im Kern also etwa wie harte Kugeln, die aneinander haften. Daher steigt das Volumen des Kerns proportional zur Nukleonenzahl (Massenzahl) A {\displaystyle A} . Sein Radius beträgt etwa 1 , 3 A 3 {\displaystyle 1{,}3{\sqrt[{3}]{A}}} fm. Der leichteste Atomkern besteht aus nur einem Proton. Mehrere Protonen stoßen sich zwar gemäß der Elektrostatik ab, können zusammen mit einer geeigneten Anzahl von Neutronen aber ein stabiles System bilden. Doch schon bei kleinen Abweichungen von dem energetisch günstigsten Zahlenverhältnis ist der Kern instabil und wandelt sich spontan um, indem aus einem Neutron ein Proton wird oder umgekehrt und die frei werdende Energie und Ladung als Betastrahlung abgegeben wird. Kerne mit bis zu etwa 20 Protonen sind nur bei einem Verhältnis von nahezu 1:1 von Neutronenzahl und Protonenzahl stabil. Darüber steigt in den stabilen Atomkernen das Verhältnis von 1:1 bis auf etwa 1,5:1, weil bei größeren Protonenzahlen wegen ihrer elektrostatischen Abstoßung die Anzahl der Neutronen schneller anwachsen muss als die der Protonen (Details siehe Tröpfchenmodell). Die Bindungsenergie liegt in stabilen Kernen (abgesehen von den leichtesten) oberhalb von 7 MeV pro Nukleon (siehe Abbildung) und übertrifft damit die Bindungsenergie der äußeren Elektronen der Atomhülle oder die chemische Bindungsenergie in stabilen Molekülen um das ca. 106-fache. Kerne mit bestimmten Nukleonenzahlen, die als Magische Zahl bezeichnet werden, beispielsweise Helium-4, Sauerstoff-16 oder Blei-208, sind besonders stabil, was mit dem Schalenmodell des Atomkerns erklärt werden kann. Oberhalb einer Zahl von 82 Protonen (also jenseits von Blei) sind alle Kerne instabil. Sie wandeln sich durch Ausstoßen eines Kerns He-4 in leichtere Kerne um (Alphastrahlung). Dies wiederholt sich, zusammen mit Betastrahlung, so lange, bis ein stabiler Kern erreicht ist; mehrere Zerfallsstufen bilden eine Zerfallsreihe. Auch zu den Protonenzahlen 43 (Technetium) und 61 (Promethium) existiert kein stabiler Kern. Daher kann es insgesamt nur 80 verschiedene stabile chemische Elemente geben, alle weiteren sind radioaktiv. Sie kommen auf der Erde nur dann natürlich vor, wenn sie selber oder eine ihrer Muttersubstanzen eine genügend lange Halbwertzeit haben. ==== Masse ==== Da der Großteil der Atommasse von den Neutronen und Protonen stammt und diese etwa gleich schwer sind, wird die Gesamtzahl dieser Teilchen in einem Atom als Massenzahl bezeichnet. Die genaue Masse eines Atoms wird oft in der atomaren Masseneinheit u angegeben; ihr Zahlenwert ist dann etwa gleich der Massenzahl. Kleinere Abweichungen entstehen durch den Massendefekt der Atomkerne. Die atomare Masseneinheit ergibt sich aus der Definition der SI-Einheit des Mols in der Art und Weise, dass ein Atom des Kohlenstoffisotops 12C (im Grundzustand inklusive seiner Hüllenelektronen) eine Masse von exakt 12 u besitzt. Damit beträgt 1 u gleich 1,66053904 · 10−27 kg. Ein Atom des leichtesten Wasserstoffisotops hat eine Masse von 1,007825 u. Das schwerste stabile Nuklid ist das Bleiisotop 208Pb mit einer Masse von 207,9766521 u.Da makroskopische Stoffmengen so viele Atome enthalten, dass die Angabe ihrer Anzahl als natürliche Zahl unhandlich wäre, erhielt die Stoffmenge eine eigene Einheit, das Mol. Ein Mol sind etwa 6,022 · 1023 Atome (oder auch Moleküle oder andere Teilchen; die betrachtete Teilchenart muss immer mitgenannt werden). Die Masse von 1 Mol Atomen der Atommasse X u ist daher exakt X g. Daher ist es in der Chemie üblich, Atommassen statt in u auch indirekt in g/mol anzugeben. ==== Bildung und Zerfall ==== In welcher Art ein instabiler Atomkern zerfällt, ist für das jeweilige Radionuklid typisch. Bei manchen Nukliden können die (untereinander völlig gleichen) Kerne auch auf verschiedene Arten zerfallen, so dass mehrere Zerfallskanäle mit bestimmten Anteilen beteiligt sind. Die wichtigsten radioaktiven Zerfälle sind Alpha-Zerfall, bei dem sich aus zwei Protonen und zwei Neutronen des Kerns durch die starke Wechselwirkung ein Helium-Atomkern bildet, der ausgestoßen wird, Beta-Zerfall, bei dem mittels der schwachen Wechselwirkung ein Neutron des Kerns in ein Proton oder umgekehrt umgewandelt wird und ein Elektron und ein Antineutrino beziehungsweise ein Positron und ein Neutrino erzeugt und ausgesendet werden, Gamma-Zerfall, bei dem ein angeregter Kern durch elektromagnetische Wechselwirkung Gammastrahlung erzeugt und in ein niedrigeres Energieniveau gelangt, bei gleichbleibender Protonen- und Neutronenzahl. Die Energien der Strahlungen sind für das jeweilige Nuklid charakteristisch, ebenso wie die Halbwertszeit, die angibt, wie lange es dauert, bis die Hälfte einer Probe des Nuklids zerfallen ist. Durch Anlagerung eines Neutrons kann sich ein Kern in das nächstschwerere Isotop desselben Elements verwandeln. Durch den Beschuss mit Neutronen oder anderen Atomkernen kann ein großer Atomkern in mehrere kleinere Kerne gespalten werden. Einige schwere Nuklide können sich auch ohne äußere Einwirkung spontan spalten. Größere Atomkerne können aus kleineren Kernen gebildet werden. Dieser Vorgang wird Kernfusion genannt. Für eine Fusion müssen sich Atomkerne sehr nahekommen. Diesem Annähern steht die elektrostatische Abstoßung beider Kerne, der sogenannte Coulombwall, entgegen. Aus diesem Grund ist eine Kernfusion (außer in bestimmten Experimenten) nur unter sehr hohen Temperaturen von mehreren Millionen Grad und hohen Drücken, wie sie im Inneren von Sternen herrschen, möglich. Die Kernfusion ist bei Nukliden bis zum Nickel-62 eine exotherme Reaktion, so dass sie im Großen selbsterhaltend ablaufen kann. Sie ist die Energiequelle der Sterne. Bei Atomkernen jenseits des Nickels nimmt die Bindungsenergie pro Nukleon ab; die Fusion schwererer Atomkerne ist daher endotherm und damit kein selbsterhaltender Prozess. Die Kernfusion in Sternen kommt daher zum Erliegen, wenn die leichten Atomkerne aufgebraucht sind. === Atomhülle === ==== Aufbau und Bindungsenergie ==== Die Atomhülle besteht aus Elektronen, die aufgrund ihrer negativen Ladung an den positiven Atomkern gebunden sind. Sie wird oft auch als Elektronenhülle bezeichnet. Bei einem neutralen Atom mit Z {\displaystyle Z} Elektronen beträgt die durchschnittliche Bindungsenergie je Elektron etwa 13 , 6 Z 4 / 3 {\displaystyle 13{,}6\;Z^{4/3}} . Sie nimmt daher mit steigender Teilchenzahl erheblich zu, im Gegensatz zur durchschnittlichen Bindungsenergie pro Nukleon im Kern, die ab der Massenzahl A = 62 {\displaystyle A=62} sogar abnimmt. Zur Erklärung wird angeführt, dass zwischen Nukleonen nur Bindungskräfte kurzer Reichweite wirken, die kaum über die benachbarten Teilchen hinausreichen, während die Hülle durch die elektrostatische Anziehungskraft gebunden ist, die vom Z {\displaystyle Z} -fach geladenen Kern aus alle Elektronen erfasst. Abgesehen von der Masse, die zu über 99,95 Prozent im Atomkern konzentriert ist, ist die Atomhülle für praktisch alle äußeren Eigenschaften des Atoms verantwortlich. Der Begriff Atommodell bezieht sich daher im engeren Sinn meist nur auf die Hülle (siehe Liste der Atommodelle). Ein einfaches Atommodell ist das Schalenmodell, nach dem die Elektronen sich in bestimmten Schalen um den Kern anordnen, in denen jeweils für eine bestimmte Anzahl Elektronen Platz ist. Allerdings haben diese Schalen weder einen bestimmten Radius noch eine bestimmte Dicke, sondern überlappen und durchdringen einander teilweise. Besser getrennt sind sie auf der Skala der Bindungsenergie der Elektronen. ==== Interpretation grundlegender Atomeigenschaften im Rahmen des Schalenmodells ==== Die Atomhülle bestimmt die Stärke und Abstandsabhängigkeit der Kräfte zwischen zwei Atomen. Im Abstandsbereich mehrerer Atomdurchmesser polarisieren sich die gesamten Atomhüllen wechselseitig, sodass durch elektrostatische Anziehung anziehende Kräfte, die Van-der-Waals-Kräfte, entstehen. Sie bewirken vor allem die Kondensation der Gase zu Flüssigkeiten, also einen Wechsel der Aggregatzustände. Die (näherungsweise) Inkompressibilität der Flüssigkeiten und Festkörper hingegen beruht darauf, dass alle Atome bei starker Annäherung einander stark abstoßen, sobald sich ihre Hüllen im Raum merklich überschneiden und daher verformen müssen. Außer im Fall zweier Wasserstoff­atome, die jeweils nur ein Elektron in der Hülle haben, spielt die elektrostatische Abstoßung der beiden Atomkerne dabei nur eine geringe Rolle. In einem mittleren Abstandsbereich zwischen dem Vorherrschen der schwach anziehenden Van-der-Waals-Kräfte und der starken Abstoßung kommt es zwischen zwei oder mehr zueinander passenden Atomhüllen zu einer besonders starken Anziehung, der chemischen Bindung. Bei Atomen bestimmter Elemente kann diese Anziehung zu einem stabilen Molekül führen, das aus Atomen in zahlenmäßig genau festgelegter Beteiligung und räumlicher Anordnung aufgebaut ist. Die Moleküle sind die kleinsten Stoffeinheiten der chemischen Verbindungen, also der homogenen Materialien in all ihrer Vielfalt. Vermittelt über die Hüllen ihrer Atome ziehen auch Moleküle einander an. Ein fester Körper entsteht, wenn viele Moleküle sich aneinander binden und dabei, weil es energetisch günstig ist, eine feste Anordnung einhalten. Ist diese Anordnung regelmäßig, bildet sich ein Kristallgitter. Infolge dieser Bindung ist der feste Körper nicht nur weitgehend inkompressibel wie eine Flüssigkeit, sondern im Unterschied zu dieser auch auf Zug belastbar und deutlich weniger leicht verformbar. Verbinden sich Atome metallischer Elemente miteinander, ist ihre Anzahl nicht festgelegt und es können sich nach Größe und Gestalt beliebige Körper bilden. Vor allem chemisch reine Metalle zeigen dann meist auch eine große Verformbarkeit. Verbindungen verschiedener Metalle werden Legierung genannt. Die Art der Bindung von Metallatomen erklärt, warum Elektronen sich fast frei durch das Kristallgitter bewegen können, was die große elektrische Leitfähigkeit und Wärmeleitfähigkeit der Metalle verursacht. Zusammengefasst ergeben sich aus der Wechselwirkung der Atomhüllen miteinander die mechanische Stabilität und viele weitere Eigenschaften der makroskopischen Materialien. Aufgrund des unscharfen Randes der Atomhülle liegt die Größe der Atome nicht eindeutig fest. Die als Atomradien tabellierten Werte sind aus der Bindungslänge gewonnen, das ist der energetisch günstigste Abstand zwischen den Atomkernen in einer chemischen Bindung. Insgesamt zeigt sich mit steigender Ordnungszahl eine in etwa periodische Variation der Atomgröße, die mit der periodischen Variation des chemischen Verhaltens gut übereinstimmt. Im Periodensystem der Elemente gilt allgemein, dass innerhalb einer Periode, also einer Zeile des Systems, eine bestimmte Schale aufgefüllt wird. Von links nach rechts nimmt die Größe der Atome dabei ab, weil die Kernladung anwächst und daher alle Schalen stärker angezogen werden. Wenn eine bestimmte Schale mit den stark gebundenen Elektronen gefüllt ist, gehört das Atom zu den Edelgasen. Mit dem nächsten Elektron beginnt die Besetzung der Schale mit nächstkleinerer Bindungsenergie, was mit einem größeren Radius verbunden ist. Innerhalb einer Gruppe, also einer Spalte des Periodensystems, nimmt die Größe daher von oben nach unten zu. Dementsprechend ist das kleinste Atom das Heliumatom am Ende der ersten Periode mit einem Radius von 32 pm, während eines der größten Atome das Caesium­atom ist, das erste Atom der 5. Periode. Es hat einen Radius von 225 pm. ==== Erklärung der Atomeigenschaften im Rahmen des Orbitalmodells ==== Die dem Schalenmodell zugrundeliegenden Elektronenschalen ergeben sich durch die Quantisierung der Elektronenenergien im Kraftfeld des Atomkerns nach den Regeln der Quantenmechanik. Um den Kern herum bilden sich verschiedene Atomorbitale, das sind unscharf begrenzte Wahrscheinlichkeitsverteilungen für mögliche räumliche Zustände der Elektronen. Jedes Orbital kann aufgrund des Pauli-Prinzips mit maximal zwei Elektronen besetzt werden, dem Elektronenpaar. Die Orbitale, die unter Vernachlässigung der gegenseitigen Abstoßung der Elektronen und der Feinstruktur theoretisch die gleiche Energie hätten, bilden eine Schale. Die Schalen werden mit der Hauptquantenzahl durchnummeriert oder fortlaufend mit den Buchstaben K, L, M,… bezeichnet. Genauere Messungen zeigen, dass ab der zweiten Schale nicht alle Elektronen einer Schale die gleiche Energie besitzen. Falls erforderlich, wird durch die Nebenquantenzahl oder Drehimpulsquantenzahl eine bestimmte Unterschale identifiziert. Sind die Orbitale, angefangen vom energetisch niedrigsten, so weit mit Elektronen besetzt, dass die gesamte Elektronenzahl gleich der Protonenzahl des Kerns ist, ist das Atom neutral und befindet sich im Grundzustand. Werden in einem Atom ein oder mehrere Elektronen in energetisch höherliegende Orbitale versetzt, ist das Atom in einem angeregten Zustand. Die Energien der angeregten Zustände haben für jedes Atom wohlbestimmte Werte, die sein Termschema bilden. Ein angeregtes Atom kann seine Überschussenergie abgeben durch Stöße mit anderen Atomen, durch Emission eines der Elektronen (Auger-Effekt) oder durch Emission eines Photons, also durch Erzeugung von Licht oder Röntgenstrahlung. Bei sehr hoher Temperatur oder in Gasentladungen können die Atome durch Stöße Elektronen verlieren (siehe Ionisationsenergie), es entsteht ein Plasma, so z. B. in einer heißen Flamme oder in einem Stern. Da die Energien der Quanten der emittierten Strahlung je nach Atom bzw. Molekül und den beteiligten Zuständen verschieden sind, lässt sich durch Spektroskopie dieser Strahlung die Quelle im Allgemeinen eindeutig identifizieren. Beispielsweise zeigen die einzelnen Atome ihr elementspezifisches optisches Linienspektrum. Bekannt ist etwa die Natrium-D-Linie, eine Doppellinie im gelben Spektralbereich bei 588,99 nm und 589,59 nm, die auch in nebenstehender Abbildung mit D-1 bezeichnet wird. Ihr Aufleuchten zeigt die Anwesenheit von angeregten Natrium-Atomen an, sei es auf der Sonne oder über der Herdflamme bei Anwesenheit von Natrium oder seinen Salzen. Da diese Strahlung einem Atom auch durch Absorption dieselbe Energie zuführen kann, lassen sich die Spektrallinien der Elemente sowohl in Absorptions- als auch in Emissionsspektren beobachten. Diese Spektrallinien lassen sich auch verwenden, um Frequenzen sehr präzise zu vermessen, beispielsweise für Atomuhren. Obwohl Elektronen sich untereinander elektrostatisch abstoßen, können in einem neutralen Atom zusätzlich bis zu zwei weitere Elektronen gebunden werden, wenn es bei der höchsten vorkommenden Elektronenenergie noch Orbitale mit weiteren freien Plätzen gibt (siehe Elektronenaffinität). Chemische Reaktionen, d. h. die Verbindung mehrerer Atome zu einem Molekül oder sehr vieler Atome zu einem Festkörper, werden dadurch erklärt, dass ein oder zwei Elektronen aus einem der äußeren Orbitale eines Atoms (Valenzelektronen) unter Energiegewinn auf einen freien Platz in einem Orbital eines benachbarten Atoms ganz hinüberwechseln (Ionenbindung) oder sich mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit dort aufhalten (kovalente Bindung durch ein bindendes Elektronenpaar). Dabei bestimmt die Elektronegativität der Elemente, bei welchem Atom sich die Elektronen wahrscheinlicher aufhalten. In der Regel werden chemische Bindungen so gebildet, dass die Atome die Elektronenkonfiguration eines Edelgases erhalten (Edelgasregel). Für das chemische Verhalten des Atoms sind also Form und Besetzung seiner Orbitale entscheidend. Da diese allein von der Protonenzahl bestimmt werden, zeigen alle Atome mit gleicher Protonenzahl, also die Isotope eines Elements, nahezu das gleiche chemische Verhalten. Nähern sich zwei Atome über die chemische Bindung hinaus noch stärker an, müssen die Elektronen eines Atoms wegen des Pauli-Prinzips auf freie, aber energetisch ungünstige Orbitale des anderen Atoms ausweichen, was einen erhöhten Energiebedarf und damit eine abstoßende Kraft nach sich zieht. === Wechselwirkung zwischen Kern und Hülle === Mit großer Genauigkeit wird die Wechselwirkung zwischen Kern und Hülle schon durch den einfachen Ansatz beschrieben, in dem der Kern eine punktförmige Quelle eines elektrostatischen Felds nach dem Coulomb-Gesetz darstellt. Alle genannten Atommodelle beruhen hierauf. Aufgrund zusätzlicher Effekte, die in erweiterten Modellen behandelt werden, sind nur extrem kleine Korrekturen nötig, die unter dem Namen Hyperfeinstruktur zusammengefasst werden. Zu berücksichtigen sind hier drei Effekte: erstens die endliche Ausdehnung, die jeder Kern besitzt, zweitens eine magnetische Dipolwechselwirkung, wenn sowohl Kern als auch Hülle eine Drehimpulsquantenzahl von mindestens ½ haben, und drittens eine elektrische Quadrupolwechselwirkung, wenn beide Drehimpulsquantenzahlen mindestens 1 sind. Die endliche Ausdehnung des Kerns – verglichen mit einer theoretischen Punktladung – bewirkt eine schwächere Anziehung derjenigen Elektronen, deren Aufenthaltswahrscheinlichkeit bis in den Kern hineinreicht. Betroffen sind nur s-Orbitale (Bahndrehimpuls Null). Bei Atomen mittlerer Ordnungszahl liegt die Korrektur der Bindungsenergie in der Größenordnung von 1 Prozent. Die magnetischen Dipol- bzw. elektrischen Quadrupol-Momente von Hülle und Kern bewirken eine Kopplung mit der Folge, dass die Gesamtenergie eines freien Atoms je nach Quantenzahl seines Gesamtdrehimpulses äußerst geringfügig aufgespalten ist. Im H-Atom beträgt die Aufspaltung etwa ein Millionstel der Bindungsenergie des Elektrons (siehe 21-cm-Linie). Anschaulich gesprochen hängt die Energie davon ab, in welchem Winkel die Achsen der beiden magnetischen Dipolmomente bzw. elektrischen Quadrupolmomente von Kern und Hülle zueinander stehen. Auch bei Atomen in Flüssigkeiten und Festkörpern machen sich diese Wechselwirkungen in entsprechend modifizierter Form bemerkbar. Trotz der Kleinheit der dadurch verursachten Effekte haben sie eine große Rolle in der Atom- und Kernforschung gespielt und sind in besonderen Fällen auch bei modernen Anwendungen wichtig. == Beobachtung == === Indirekte Beobachtung === Indirekte Möglichkeiten, Atome zu erkennen, beruhen auf der Beobachtung der von ihnen ausgehenden Strahlung. So kann aus Atomspektren beispielsweise die Elementzusammensetzung entfernter Sterne bestimmt werden. Die verschiedenen Elemente lassen sich durch charakteristische Spektrallinien identifizieren, die auf Emission oder Absorption durch Atome des entsprechenden Elements in der Sternatmosphäre zurückgehen. Gasentladungslampen, die dasselbe Element enthalten, zeigen diese Linien als Emissionslinien. Auf diese Weise wurde z. B. 1868 Helium im Spektrum der Sonne nachgewiesen – über 10 Jahre, bevor es auf der Erde entdeckt wurde.Ein Atom kann ionisiert werden, indem eines seiner Elektronen entfernt wird. Die elektrische Ladung sorgt dafür, dass die Flugbahn eines Ions von einem Magnetfeld abgelenkt wird. Dabei werden leichte Ionen stärker abgelenkt als schwere. Das Massenspektrometer nutzt dieses Prinzip, um das Masse-zu-Ladung-Verhältnis von Ionen und damit die Atommassen zu bestimmen. Die Elektronenenergieverlustspektroskopie misst den Energieverlust eines Elektronenstrahls bei der Wechselwirkung mit einer Probe in einem Transmissionselektronenmikroskop. === Beobachtung einzelner Atome === Eine direkte Abbildung, die einzelne Atome erkennen lässt, wurde erstmals 1951 mit dem Feldionenmikroskop (oder Feldemissionsmikroskop) erzielt. Auf einem kugelförmigen Bildschirm, in dessen Mittelpunkt sich eine extrem feine Nadelspitze befindet, erscheint ein etwa millionenfach vergrößertes Bild. Darin sind die obersten Atome, die die Spitze bilden, nebeneinander als einzelne Lichtpunkte zu erkennen. Dies kann heute auch im Physikunterricht an der Schule vorgeführt werden. Das Bild entsteht in Echtzeit und erlaubt z. B. die Betrachtung der Wärmebewegung einzelner Fremdatome auf der Spitze. Auch das Rastertunnelmikroskop ist ein Gerät, das einzelne Atome an der Oberfläche eines Körpers sichtbar macht. Es verwendet den Tunneleffekt, der es Teilchen erlaubt, eine Energiebarriere zu passieren, die sie nach klassischer Physik nicht überwinden könnten. Bei diesem Gerät tunneln Elektronen durch einen nur Nanometer breiten Spalt zwischen einer elektrisch leitenden Spitze und der elektrisch leitenden Probe. Bei Seitwärtsbewegungen zur Abrasterung der Probe wird die Höhe der Spitze so nachgeregelt, dass immer derselbe Strom fließt. Die Bewegung der Spitze bildet die Topographie und Elektronenstruktur der Probenoberfläche ab. Da der Tunnelstrom sehr stark vom Abstand abhängt, ist die laterale Auflösung viel feiner als der Radius der Spitze, manchmal atomar.Eine tomographische Atomsonde erstellt ein dreidimensionales Bild mit einer Auflösung unterhalb eines Nanometers und kann einzelne Atome ihrem chemischen Element zuordnen.Aufbauend auf einer um 2010 entwickelten Atom-Licht-Schnittstelle ist es 2020 gelungen, Fotos einzelner Atome zu machen, die weniger als einen Tausendstel Millimeter über einer lichtleitenden Glasfaser schweben. Dadurch ist es unter Laborbedingungen nun möglich, Effekte wie die Absorption und Aussendung von Licht kontrollierter als bisher zu untersuchen. Dies kann bei der Entwicklung neuartiger optischer Glasfaser-Netzwerke helfen. == Literatur == Hans-Werner Kirchhoff: Vorstellungen vom Atom 1800–1934. Aulis Verlag Deubner, 2001, ISBN 3-7614-2300-4. Richard Feynman, Robert B. Leighton, Matthew Sands: Vorlesungen über Physik. Band I–III. Oldenbourg, 1991. Wolfgang Demtröder: Atome, Moleküle und Festkörper. 3. Auflage. Springer, 2005, ISBN 3-540-21473-9. Richard Feynman: Six Easy Pieces. The Penguin Group, 1995, ISBN 0-14-027666-1. Oskar Höfling, Pedro Waloschek: Die Welt der kleinsten Teilchen. Rowohlt, 1984, ISBN 3-498-02862-6. Jeremy I. Pfeffer, Shlomo Nir: Modern Physics: An Introductory Text. Imperial College Press, 2000, ISBN 1-86094-250-4 (englisch). Robert Siegfried: From Elements to Atoms: A History of Chemical Composition. In: Transactions of the Americal Philosophical Society. Band 92, Nr. 4. American Philosophical Society, 2002, ISBN 0-87169-924-9. Werner Kutzelnigg: Einführung in die Theoretische Chemie. Wiley Chemie, 2002, ISBN 3-527-30609-9. Dick Teresi: Lost Discoveries: The Ancient Roots of Modern Science-from the Babylonians to the Maya. Simon & Schuster, 2003, ISBN 0-7432-4379-X, S. 213–214. == Weblinks == HydrogenLab: Wie sieht ein Atom aus? Übersicht über die verschiedenen Atommodelle Geschichtlicher Überblick zum Atombegriff aus naturphilosophischer Perspektive von Brigitte Falkenburg im Online-Lexikon naturphilosophischer Grundbegriffe. == Einzelnachweise ==
https://de.wikipedia.org/wiki/Atom
Augustus
= Augustus = Augustus (* 23. September 63 v. Chr. als Gaius Octavius in Rom; † 19. August 14 n. Chr. in Nola bei Neapel) war der erste römische Kaiser. Der Großneffe und Haupterbe Gaius Iulius Caesars gewann die Machtkämpfe, die auf dessen Ermordung im Jahr 44 v. Chr. folgten, und war von 31 v. Chr. bis 14 n. Chr. Alleinherrscher des Römischen Reiches. Unter der Devise der Wiederherstellung der Republik – restitutio rei publicae – betrieb er in Wirklichkeit deren dauerhafte Umwandlung in eine Monarchie in Form des Prinzipats. Damit setzte er dem Jahrhundert der Römischen Bürgerkriege ein Ende und begründete die Julisch-Claudische Kaiserdynastie. Seine Herrschaft, nach außen durch zahlreiche Expansionskriege geprägt, mündete im Inneren in eine lang anhaltende Konsolidierungs- und Friedensphase, die als Pax Augusta verklärt wurde. == Namen und Titel des Augustus == Der Geburtsname des späteren Augustus lautete Gaius Octavius. Laut Sueton trug er ursprünglich das Cognomen Thurinus, das sonst nicht belegt ist. Cassius Dio nennt den Namen Kaipias als weiteres, jedoch wenig beachtetes Cognomen des Augustus. Nach der testamentarischen Adoption durch Caesar im Jahr 44 v. Chr. nahm er dessen Namen offiziell an: C. Iulius Caesar oder in vollständiger Form mit Filiation Gaius Iulius C. f. Caesar. Den Namenszusatz Octavianus, wie er nach einer Adoption eigentlich üblich gewesen wäre, hat er wohl selbst nie geführt, wenngleich andere, darunter Marcus Tullius Cicero, ihn so nannten. Auch die moderne geschichtswissenschaftliche Literatur verwendet für die Zeit seines Aufstiegs meist die Namen Octavian oder Oktavian, um ihn sowohl von Gaius Iulius Caesar als auch von seiner späteren Rolle als Augustus zu unterscheiden. Spätestens nach der offiziellen Apotheose Iulius Caesars im Jahr 42 v. Chr. lautete der neue Name seines Stiefsohns Gaius Iulius Divi filius Caesar. Nach der Annahme des Titels Imperator als Vorname – vielleicht 38 v. Chr., spätestens 31 v. Chr. – verwendete er das ursprüngliche Cognomen Caesar an Stelle des Gentilnamens Iulius (Imperator Caesar Divi filius).Am 16. Januar 27 v. Chr. verlieh ihm der Senat den Ehrennamen Augustus (dt.: „der Erhabene“), so dass sich als vollständige Form Imperator Caesar Divi filius Augustus ergab. Der Name Augustus wurde wie der Name Caesar mit Beginn der Regierungszeit seines Nachfolgers Tiberius zum Bestandteil der römischen Kaisertitulatur. Die Bezeichnung Imperator dagegen wurde von den ersten Nachfolgern des Augustus noch nicht als Praenomen geführt. Zum Zeitpunkt seines Todes lauteten sein Name und seine vollständige Titulatur: Imperator Caesar Divi filius Augustus, Pontifex maximus, Co(n)s(ul) XIII, Imp(erator) XXI, Trib(uniciae) pot(estatis) XXXVII, P(ater) p(atriae) (zu deutsch etwa: „Imperator Caesar, Sohn des Vergöttlichten, der Erhabene, Höchster Oberpriester, 13 Mal Konsul, 21 Mal Imperator, 37 Mal Inhaber der tribunizischen Gewalt, Vater des Vaterlandes“). Nach seiner Konsekration im Jahr 14 n. Chr. wurde sein offizieller Name als Divus Augustus Divi filius weitergeführt. == Leben == Die Lebensgeschichte des Kaisers Augustus handelt von zwei scheinbar gegensätzlichen Persönlichkeiten: einerseits von einem jungen, ehrgeizigen, mitunter grausamen Politiker, der im Kampf um die Macht weder Gesetz noch Skrupel kannte, andererseits von dem Kaiser, der – einmal im Besitz dieser Macht – äußerst klugen Gebrauch von ihr machte und mit dem Prinzipat eine neue, dauerhafte Staatsordnung an die Stelle der in 100 Jahren Bürgerkrieg zerrütteten Republik setzte. === Herkunft und Jugend === Der spätere Augustus und seine Schwester Octavia waren die Kinder des Gaius Octavius und seiner Frau Atia, einer Nichte Gaius Iulius Caesars. Über seinen Großvater Marcus Atius Balbus war Augustus mit Gnaeus Pompeius Magnus verwandt. Dessen Großvater, Gnaeus Pompeius, war zugleich Augustus’ Ururgroßvater. Die Familie der Octavier gehörte den Equites, dem römischen Ritterstand an. Sie war wohlhabend, aber wenig bedeutend. Als Erster seines Familienzweigs seit über 100 Jahren schlug Gaius Octavius den Cursus honorum ein, stieg in den Senat auf und gelangte 61 v. Chr. bis zur Praetur. Nach dem überraschenden Tod des Vaters im Jahr 59 oder 58 v. Chr. heiratete die Mutter Lucius Marcius Philippus, der 56 v. Chr. das Konsulat bekleidete. Der junge Gaius wurde der Erziehung durch seine Großmutter Iulia übergeben, einer älteren Schwester Caesars. Auf ihrem Landgut in Velitrae wuchs er auf, bis sie im Jahr 51 v. Chr. starb. Laut Sueton hielt Gaius die Leichenrede für seine Großmutter. Den Rest seiner Kindheit verbrachte er im Haus seines Stiefvaters Philippus in Rom. Im Jahr 49 v. Chr. legte er die Männertoga (toga virilis) an.Da Caesar keinen gesetzlich anerkannten Sohn hatte, nahm er sich seines Großneffen an. So wurde Octavius dank Caesars Fürsprache 48 v. Chr. in das Kollegium der Pontifices aufgenommen. 47 v. Chr. wurde er für die Dauer des Latinerfestes, an dem sich die Konsuln und die übrigen Magistrate traditionsgemäß außerhalb Roms aufhielten, zum Praefectus urbi, das heißt zum stellvertretenden Oberhaupt der Republik, ernannt. Im Jahr 46 v. Chr. ließ Caesar ihn an seinem Triumphzug anlässlich des Sieges im Bürgerkrieg teilnehmen. Im Jahr darauf begleitete Gaius Octavius seinen Großonkel auf dessen Kriegszug gegen die Söhne des Pompeius nach Spanien, wo er Caesar angeblich durch seine Tapferkeit beeindruckte. Als Reiterführer (magister equitum) sollte er auch an dem geplanten Feldzug gegen die Parther teilnehmen und war mit seinen Freunden Marcus Vipsanius Agrippa und Salvidienus Rufus bereits nach Apollonia im heutigen Albanien vorausgeschickt worden. Dort erreichte ihn im Frühjahr 44 v. Chr. die Nachricht von Caesars Ermordung. Während seiner Rückreise nach Rom erfuhr er, dass der Diktator ihn durch Testamentsverfügung adoptiert und zum Haupterben seines Privatvermögens eingesetzt hatte. Caesar hatte diese Verfügung nach dem Tod seines zunächst als Erbe vorgesehenen Neffen Sextus Iulius Caesar getroffen, mit dem er, anders als mit Octavius, in männlicher Linie verwandt gewesen war. === Aufstieg zur Macht === Die testamentarische Adoption eines Erwachsenen war zwar ungewöhnlich, entsprach aber geltendem Recht. Daher nahm Gaius Octavius, sobald er zurück in Rom war, das Testament sowie alle damit verbundenen Verpflichtungen an und nannte sich fortan nach seinem Adoptivvater Gaius Iulius Caesar. Die moderne Geschichtsschreibung bezeichnet ihn von diesem Zeitpunkt an – wie schon einige Zeitgenossen – als Octavian. In dem Konflikt zwischen Caesars Anhängern – die sich um Marcus Antonius scharten – und den republikanisch gesinnten Caesarmördern um Gaius Cassius Longinus sowie Marcus und Decimus Iunius Brutus spielte er sehr schnell eine wichtige Rolle, da er von Caesars Veteranen, aber auch von den politischen Freunden des toten Diktators unterstützt wurde.Marcus Antonius beanspruchte als Unterfeldherr Caesars und dessen Mitkonsul für das Jahr 44 v. Chr. die Führung der caesarianischen Gefolgsleute für sich. So weigerte er sich zunächst, das Vermögen des Diktators an Octavian herauszugeben. Dieser zahlte dennoch die in Caesars Testament vorgesehenen Legate an dessen Veteranen und die Bevölkerung Roms aus. Dafür nutzte er die in Apollonia beschlagnahmte, für den Partherkrieg vorgesehene Kriegskasse, versteigerte aber auch eigene Güter. Dieses Vorgehen brachte ihm rasch eine große Zahl von Anhängern und damit auch politisches Gewicht ein. Der einflussreiche Senator und Konsular Marcus Tullius Cicero, der nicht zu den Verschwörern gehört hatte, aber mit der republikanischen Sache sympathisierte, unterstützte den scheinbar unerfahrenen jungen Mann, in der Hoffnung, ihn als politisches Gegengewicht zu Marcus Antonius aufbauen zu können. Octavian ging vordergründig darauf ein, verfolgte aber seine eigenen Pläne und stützte sich dabei auf eigene, erfahrene Ratgeber. Dazu gehörten persönliche Freunde wie der wohlhabende Gaius Maecenas, Agrippa und Salvidienus Rufus sowie sein Stiefvater Philippus. Als Lehrer und philosophische Berater zog Octavian Athenodoros von Tarsos und Areios von Alexandria zu Rate. Von besonderer Bedeutung war, dass Octavian sofort zwei der engsten Berater Caesars für sich gewinnen konnte: Gaius Oppius und Lucius Cornelius Balbus. Oppius hatte zuvor Caesars Korrespondenz verwaltet und seinem Nachrichtendienst vorgestanden; Balbus war Caesars Privatsekretär gewesen, hatte als „graue Eminenz“ hinter dem Diktator gegolten und während dessen häufiger Abwesenheit von Rom inoffiziell die Amtsgeschäfte geführt. Oppius und Balbus wurden zu wichtigen Vertrauensmännern Octavians, die starken Einfluss auf seine ersten Schritte als Caesars Erbe nahmen. So stand dem vermeintlich unerfahrenen Octavian vom Beginn seiner politischen Laufbahn an ein umfangreicher Beraterstab zur Verfügung, der ihn nachhaltig unterstützte. ==== Bündnis mit den Republikanern ==== Während Antonius Ende des Jahres 44 v. Chr. in Gallia cisalpina Decimus Brutus angriff, baute Octavian in Italien ein Heer aus Veteranen Caesars auf. Auf Drängen Ciceros, der den Kampf gegen Marcus Antonius forderte und dazu Octavians Truppen benötigte, legitimierte der Senat Anfang 43 v. Chr. dessen angemaßte militärische Befehlsgewalt. Darüber hinaus ernannte er den noch nicht 20-Jährigen zum Senator, verlieh ihm ein proprätorisches Kommando über seine Legionen sowie den Rang eines Konsularen und gestattete ihm die Übernahme aller Ämter zehn Jahre vor dem gesetzlich festgelegten Mindestalter. Octavian ging jetzt sogar ein Bündnis mit den Republikanern ein. Noch im selben Jahr besiegte er Antonius gemeinsam mit einem Senatsheer unter den Konsuln Aulus Hirtius und Gaius Vibius Pansa Caetronianus in der Schlacht bei Forum Gallorum und einer weiteren Schlacht bei Mutina.Beide Oberhäupter der Republik kamen im Mutinensischen Krieg um, und Octavian verlangte nun eines der freigewordenen Konsulate für sich. Als der Senat dies verweigerte, marschierte Octavian mit seinen Truppen auf Rom und bemächtigte sich staatsstreichartig der Stadt. Am 19. August 43 v. Chr. erzwang er seine Wahl zum Konsul sowie die Ächtung der Caesarmörder. Mittlerweile hatte Antonius wieder mehr Legionen unter seinen Befehl gebracht als vor seiner Niederlage. Daher – und weil Octavian auf der politischen Bühne Roms nun als „Rächer“ seines Adoptivvaters auftrat – wechselte er die Seiten und ging ein Bündnis mit den Caesarianern ein: Zusammen mit Marcus Antonius und dem ehemaligen Reiterführer Caesars, Marcus Aemilius Lepidus, bildete er im Oktober 43 v. Chr. das so genannte zweite Triumvirat. Es beruhte, anders als das erste Triumvirat zwischen Caesar, Pompeius und Crassus nicht auf privaten politischen Absprachen, sondern wurde gesetzlich verankert. Zur Bekräftigung des Bündnisses heiratete Octavian Antonius’ Stieftochter Clodia. ==== Zweites Triumvirat ==== Die „Dreimännerherrschaft zur Ordnung des Staates“ (tresviri rei publicae constituendae), wie das Bündnis offiziell hieß, beruhte vor allem auf der militärischen Macht der Triumvirn, also auf ihrer Verfügungsgewalt über die römischen Legionen. Sie ließen sich von der Volksversammlung am 27. November 43 v. Chr. mittels der lex Titia weitgehende Machtbefugnisse auf fünf Jahre übertragen. Zwar erhielten sie quasi-diktatorische Vollmachten, die Bezeichnung Diktatur wurde aber vermieden, da Antonius dieses Amt nach Caesars Ermordung per Gesetz hatte abschaffen lassen. Wie zur Zeit Sullas wurden nun Proskriptionslisten veröffentlicht und alle, die darauf verzeichnet waren, für vogelfrei erklärt. Laut Sueton soll sich Octavian anfangs gegen die Proskriptionen gewehrt, sie dann aber unnachsichtiger durchgeführt haben als seine beiden Kollegen. Von den Proskriptionen waren 300 Senatoren und 2000 Ritter betroffen. Auf Antonius’ Betreiben fiel dem Massaker an den politischen Gegnern der Triumvirn auch Cicero zum Opfer. Die Proskriptionen erfüllten zwar nicht die finanziellen Erwartungen der Triumvirn, doch sie dezimierten die republikanische Führungsschicht im Senat von Rom, dessen Lücken die Machthaber mit loyalen Anhängern füllten. Ähnlich verfuhren sie mit den Magistraten anderer Städte. Diese und andere Maßnahmen verschoben die Gewichte innerhalb der römischen Führungsschicht entscheidend zu Ungunsten der republikanisch gesinnten Kräfte. Es waren diese Umwälzungen, die der Augustus-kritische Althistoriker Ronald Syme als „roman revolution“ bezeichnete.Im Jahr 42 v. Chr. gingen Antonius und Octavian nach Griechenland, wo die Caesarmörder Marcus Iunius Brutus und Gaius Cassius Longinus ihre Streitkräfte gesammelt hatten. Deren Niederlage in der Schlacht bei Philippi in Makedonien im Herbst besiegelte den Untergang der römischen Republik. Da der Sieg im Wesentlichen Antonius zu verdanken war, gewann seine Stimme innerhalb des Triumvirats weiter an Gewicht.Als die Triumvirn nach Philippi ihre Einflusssphären absteckten, erhielt Antonius zusätzlich zu Gallia Comata die Narbonensis und gab dafür die Gallia cisalpina auf, die fortan gemeinsam mit Italien verwaltet wurde. Ferner sollte er die Verhältnisse in den wohlhabenden Ostprovinzen ordnen. Lepidus wurden, nachdem er ursprünglich ganz ausgeschaltet werden sollte, die beiden nordafrikanischen Provinzen zugesprochen – damals die Kornkammer Roms. Octavian erhielt die beiden spanischen Provinzen und die schwierige Aufgabe, die Veteranen in Italien anzusiedeln, das von den Triumvirn gemeinsam verwaltet wurde. Die Versorgung der so genannten Heeresklientel mit Landbesitz wurde seit der marianischen Heeresreform von jedem Feldherrn erwartet, der sich die politische Unterstützung seiner Veteranen sichern und das Vertrauen künftiger Legionäre erwerben wollte. Bei den Landverteilungen kam es zu brutalen Enteignungen und Vertreibungen nicht nur einzelner Landbesitzer, sondern ganzer Stadtbevölkerungen. Octavian war damals allgemein verhasst. Überdies kam es wegen der Landverteilung zu schweren Differenzen mit Antonius’ Ehefrau Fulvia und seinem Bruder Lucius, die Octavian aber im Perusinischen Krieg (41/40 v. Chr.) besiegte. Nach der Eroberung Perusias setzte eine Hinrichtungswelle ein, bei der auch der wichtige vormalige Verbündete Octavians, der Volkstribun des Jahres 44 v. Chr., Tiberius Cannutius, starb. Antonius landete daraufhin mit seinen Truppen in Italien. Die Legionen beider Triumvirn verweigerten aber den Kampf gegeneinander und zwangen sie zu einem erneuten Bündnis. Der Vertrag von Brundisium vom Herbst 40 v. Chr. sah unter anderem die Heirat zwischen Antonius und Octavia vor, der Schwester Octavians.Er selbst ging in jenem Jahr ein weiteres familiäres Zweckbündnis ein: Nach der Trennung von seiner ersten Frau – Clodia – heiratete er Scribonia, eine Verwandte von Pompeius’ Sohn Sextus. Ihre gemeinsame Tochter Iulia sollte sein einziges leibliches Kind bleiben. Aber noch vor Iulias Geburt verstieß er ihre Mutter wieder, um im Jahr 38 v. Chr. Livia Drusilla zu ehelichen. Der Skandal wurde noch dadurch vergrößert, dass er Livia in sein Haus aufnahm, noch bevor sie sich von ihrem bisherigen Mann, dem überzeugten Republikaner Tiberius Claudius Nero, hatte scheiden lassen können. Die Frau, die zu seiner engsten Ratgeberin wurde, brachte die beiden Söhne Tiberius und Drusus mit in die Ehe. Tiberius sollte der Nachfolger seines Stiefvaters als Kaiser werden. ==== Konflikt mit Sextus Pompeius ==== Der letzte politische Gegner der Triumvirn, der noch über nennenswerte militärische Macht verfügte, war Sextus Pompeius mit seiner Flotte. Er kontrollierte unter anderem Sizilien und gefährdete die Kornzufuhr von dort nach Rom, was Octavians Autorität zusätzlich untergrub. Auf Druck des Senats schlossen Octavian und Antonius 39 v. Chr. mit Sextus Pompeius den Vertrag von Misenum, nach dem Sextus Sardinien, Korsika sowie Sizilien behalten durfte und von Antonius zusätzlich die Peloponnes erhalten sollte; ferner mussten die Triumvirn Sextus ein Konsulat für das Jahr 35 v. Chr. zusichern. Das Triumvirat wurde 37 v. Chr. im Vertrag von Tarent um weitere fünf Jahre verlängert.Da die Zugeständnisse im Vertrag von Misenum Octavians Macht erheblich einschränkten, setzte er bereits im folgenden Jahr alles daran, Pompeius’ Einfluss zurückzudrängen. Erst nach mehreren schweren Rückschlägen und Niederlagen gelang es seinem neuen Flottenführer Marcus Vipsanius Agrippa 36 v. Chr., Sextus Pompeius’ Streitmacht in der Seeschlacht von Naulochoi vor der Nordküste Siziliens zu vernichten. Kurz darauf entmachtete Octavian auch Lepidus, indem er dessen Truppen in Sizilien dazu brachte, zu ihm überzulaufen. Er beherrschte nun den gesamten Westen des Reichs und hatte die für die Getreideversorgung wichtigen Provinzen Sicilia und Africa unter seiner Kontrolle. Nach dem Sieg über Pompeius stellte die rasche Befriedung Italiens und die Veteranenversorgung die vordringliche Aufgabe dar. Italien hatte durch die fehlende Getreideversorgung während der Blockade des Pompeius schwer gelitten. Statt wie in den Jahren zuvor geschehen, Güter gewaltsam zu enteignen, wurden die 20.000 Mann, die Octavian nun aus seiner riesigen Armee entlassen konnte, mit Bauernstellen in Italien, Sizilien und Gallien abgefunden. 30.000 entlaufene Sklaven, die im Heer des Pompeius gedient hatten, wurden nach Rom geschickt, um ihren Herren übergeben zu werden. 6.000 herrenlose Sklaven wurden gekreuzigt. ==== Kampf mit Antonius um die Alleinherrschaft ==== Nachdem Octavian Pompeius und Lepidus ausgeschaltet hatte, stand ihm im Kampf um die Alleinherrschaft nur noch Antonius im Wege. Vom Frühjahr 35 bis 33 v. Chr. brachte er bei kleineren Feldzügen in Dalmatien ein schlagkräftiges Heer in Form. Unterdessen führte sein Rivale einen erfolglosen Krieg gegen die Parther, die bereits 40 v. Chr. unter dem Befehl des Quintus Labienus, eines Anhängers der republikanischen Sache, in Syrien eingedrungen waren. Zudem ging Antonius eine dauerhafte Beziehung mit Königin Kleopatra VII. von Ägypten ein, deretwegen er im Jahr 32 v. Chr. die in Rom äußerst populäre Octavia verstieß. Bereits 34 v. Chr. war er darangegangen, Teile des römischen Ostens an Kleopatra und ihre gemeinsamen Kinder zu verschenken, und hatte dadurch in Rom viel Rückhalt verloren. Octavian nutzte Antonius’ Verhalten propagandistisch geschickt aus. Um ihm auch noch seine letzten Anhänger abspenstig zu machen, schreckte er nicht einmal vor einem Sakrileg zurück: Er zwang die Vestalinnen zur Herausgabe des bei ihnen hinterlegten Testaments des Antonius und ließ es in Auszügen vor dem Senat und der Volksversammlung verlesen. Zuvor hatten zwei Zeugen der Testamentsausfertigung, die Senatoren Lucius Munatius Plancus und Marcus Titius, die im Herbst 32 v. Chr. von Antonius abgefallen waren, Octavian über den Inhalt des Dokuments informiert: Danach hatte Antonius Kleopatras Kinder als Erben römischer Gebiete eingesetzt, Caesarion als leiblichen Sohn Caesars anerkannt und bestimmt, dass er neben Kleopatra in Alexandria bestattet werden wolle. Als dies bekannt wurde, enthob der Senat Antonius aller Ämter. Da Octavian die ägyptische Königin als Urheberin von Antonius’ „romfeindlichem“ Verhalten darstellte, erklärte der Senat sie zur Staatsfeindin und Ägypten den Krieg. Mit diesem Schachzug war es Octavian gelungen, den Kampf gegen einen innenpolitischen Gegner in einen Krieg Roms gegen einen äußeren Feind umzumünzen. Wer Antonius von da an noch unterstützte, half damit auch diesem äußeren Feind und musste in den Augen traditionell denkender Römer als Verräter erscheinen. Octavians und Antonius’ triumvirale Befugnisse waren formell schon am 1. Januar 32 v. Chr. abgelaufen und ihre prokonsularischen Kompetenzen bestanden nur noch provisorisch. Daher benötigte Octavian zur Kriegführung die Verleihung einer neuen Amtsgewalt. Er ließ sich zum „Führer Italiens“ (dux Italiae) ausrufen, dem der gesamte Westen den Treueid leisten musste. Zudem übernahm er für das folgende Jahr erneut das Konsulat. Aus dieser rechtlich abgesicherten Position heraus eröffnete Octavian Anfang 31 v. Chr. den – offiziell gegen Kleopatra gerichteten – Ptolemäischen Krieg, indem er mit seinen Truppen nach Griechenland übersetzte, das zu Antonius’ Machtbereich gehörte. Am Ausgang des Ambrakischen Golfs in Epirus gelang es Agrippas Flotte und Octavians Heer, die See- und Landstreitkräfte des Antonius einzuschließen und vom Nachschub abzuschneiden. Die monatelange Blockade zeitigte verheerende Folgen für Antonius’ Armee, so dass er sich schließlich gezwungen sah, mit seinen Schiffen einen Durchbruchsversuch aus dem Golf in das offene Ionische Meer zu wagen. Dabei kam es am 2. September 31 v. Chr. zur alles entscheidenden Seeschlacht bei Actium, in der Antonius und Kleopatra den Streitkräften Octavians und Agrippas unterlagen. Diese nahmen im folgenden Jahr Alexandria ein, woraufhin Antonius und Kleopatra Selbstmord begingen. Ägypten verlor seine Selbstständigkeit und wurde als neue römische Provinz annektiert. Damit endeten der Krieg zweier Männer um die Macht in Rom und zugleich die 100 Jahre währende Epoche der römischen Bürgerkriege. Als Zeichen dafür, dass im ganzen Reich Frieden herrsche, wurden am 12. Januar 29 v. Chr. die Tore des Janustempels auf dem Forum Romanum geschlossen. Dies geschah laut Titus Livius erst zum dritten Mal seit der sagenhaften Gründung Roms 753 v. Chr. Die folgenden Jahre verbrachte Octavian damit, seine im Bürgerkrieg gewaltsam erworbene überragende Machtstellung schrittweise in eine für die Römer akzeptable, legale Form zu überführen. 28 v. Chr. hob er so demonstrativ alle seine „unrechtmäßigen“ Verfügungen aus der Zeit des Triumvirats auf. === Augustus als Princeps === Am 13. Januar des Jahres 27 v. Chr. begann im Senat von Rom ein mehrtägiger Staatsakt, der den Ausnahmezustand des Bürgerkriegs auch offiziell beendete. Formal wurde damit die alte Ordnung der Republik wiederhergestellt, tatsächlich aber eine völlig neue, monarchische Ordnung mit republikanischer Fassade geschaffen: das spätere römische Kaisertum in Gestalt des Prinzipats. Auf Vorschlag des Lucius Munatius Plancus verlieh der Senat Octavian am 16. Januar den neu geschaffenen Ehrennamen Augustus. In den Jahren nach Actium stand der Alleinherrscher vor drei großen Aufgaben: den Staat neu aufzubauen, das Reich nach innen und außen zu sichern und die Nachfolge zu regeln, um seinem Werk auch über seinen Tod hinaus Dauer zu verleihen. Da Augustus all das gelang, markiert der Staatsakt vom Januar 27 v. Chr. nicht nur den Beginn seiner 40-jährigen Regierungszeit als Princeps, sondern auch den einer ganz neuen Epoche der römischen Geschichte. ==== Begründung des Prinzipats ==== ===== Frage der Neuordnung des Staates ===== Als Octavian im Sommer 29 v. Chr. aus dem Osten nach Rom zurückgekehrt war und einen dreifachen Triumphzug abgehalten hatte, stand er vor dem gleichen Problem, an dem Caesar 15 Jahre zuvor gescheitert war: Eine Staatsordnung zu schaffen, die für das in mehr als 400 Jahren gewachsene, republikanische Rechtsverständnis der Römer akzeptabel war und zugleich der Tatsache gerecht wurde, dass sich die tatsächliche Macht seit 70 Jahren mehr und mehr verlagert hatte: weg vom Senat, den Konsuln und den anderen republikanischen Institutionen, hin zu den Befehlshabern der Legionen. Von Marius und Sulla bis zum ersten und zweiten Triumvirat hatten immer wieder militärische Machthaber eine außerordentliche politische Gewalt errungen. Die einfache Wiederherstellung der alten Adelsrepublik kam für ihn aus zwei Gründen nicht in Frage: Zum einen war die staatstragende Bevölkerungsschicht der Republik, der Senatsadel, durch die Bürgerkriege weitgehend vernichtet worden. Zum anderen erforderte die Ausdehnung des Reichs eine große Zahl von Legionen, deren Befehlshaber stets versucht sein konnten, die Macht auf ungesetzliche Weise an sich zu reißen. Da in der Republik die großen Adelsfamilien und politische Gruppierungen wie Optimaten und Popularen permanent um Macht und Einfluss kämpften, war dies in den Jahrzehnten des Bürgerkriegs – von Marius über Sulla bis zu Caesar – immer wieder geschehen. ===== Scheinbare Wiederherstellung der Republik ===== Aus all dem folgte wiederum zweierlei: Octavian musste zum einen bestrebt sein, die außerordentliche politische Gewalt, die Militärdespoten wie er selbst immer wieder errungen hatten, in eine ordnungsgemäße umzuwandeln, sie also rechtlich in das bisherige Staatsgefüge zu integrieren. Zum anderen musste er das imperium, die militärische Befehlsgewalt über die Mehrzahl der Legionen, auf denen die politische Macht nun beruhte, in einer Hand zu vereinen suchen. Kurz: Er musste die Heeresklientel monopolisieren und eine dauerhafte Alleinherrschaft errichten. Sein Vorteil war, dass sich sein persönliches Machtstreben mit der Notwendigkeit und dem allgemeinen Bedürfnis traf, erneute Machtkämpfe und Bürgerkriege zu verhindern. Denn nach den Wirren der vorangegangenen Jahrzehnte waren auch viele traditionell eingestellte Römer, die jede Art von Alleinherrschaft stets abgelehnt hatten, notgedrungen bereit, die militärische und politische Macht in die Hand nur eines Mannes zu legen. Wie schon im Kampf gegen Antonius erwies sich Octavian auch bei dieser Aufgabe als Meister der politischen Propaganda. Dies geht aus seinem Tatenbericht (Res gestae divi Augusti) hervor, in dem er gegen Ende seines Lebens folgendes Bild von seiner Handlungsweise zeichnete: Die Realität hinter diesem Bild sah jedoch anders aus: Octavian war zwar so klug, nicht den allgemein verhassten Königstitel anzustreben, aber er ließ sich von den bestehenden republikanischen Amtsgewalten all jene übertragen, die ihm in ihrer Bündelung faktisch zu einer monarchischen, königsgleichen Stellung verhalfen. Da er aber die republikanische Ordnung formal wiederherstellte, konnte er sich gleichzeitig als Retter und Beschützer der Republik darstellen. Letztlich ging er einen Kompromiss mit der Senatsaristokratie ein, indem er ihre politische Macht zwar massiv beschnitt, sie aber nicht völlig von der Machtausübung ausschloss. Zudem fügte er ihr – anders als Sulla und Caesar – keine Demütigungen zu und erlaubte ihr so, ihre Würde und ihr Sozialprestige (dignitas) zu wahren. ===== Sicherung der Macht ===== Gleich nach seiner Rückkehr aus dem Krieg gegen Antonius suchte Octavian die Unterstützung der alten Adelsgeschlechter und ging daran, das Ansehen der republikanischen Institutionen zu stärken. So ließ er aus dem Senat etwa 190 Mitglieder ausschließen, die offiziell als nicht standesgemäß galten. Gleichzeitig füllte er die gelichteten Reihen des Senatsadels wieder auf, indem er verdiente Personen und Anhänger in den Patrizierstand erhob. Er selbst nannte sich – betont bescheiden – princeps senatus, Erster des Senats, ein Titel, den es früher schon gegeben, der aber lediglich einen primus inter pares bezeichnet hatte, einen Ersten unter Gleichen. Daraus entwickelte sich die Bezeichnung Prinzipat für die augusteische Herrschaftsform, die so viel bedeutet wie „Herrschaft des ersten Bürgers“. Starke propagandistische Wirkung erzielte der Princeps damit, dass er Ende des Jahres 28 v. Chr. alle seine widerrechtlichen Anordnungen aus der Zeit des Triumvirats aufheben ließ.Ob Octavian Anfang 27 außer dem Konsulat weitere Vollmachten innehatte und worin diese gegebenenfalls bestanden, wird in der Forschung bereits seit Theodor Mommsen kontrovers diskutiert. Jedenfalls legte er am 13. Januar 27 v. Chr., am ersten Tag des Staatsakts, seine außerordentliche Allgewalt (potens rerum omnium) über die Provinzen und Legionen demonstrativ in die Hände des „gesäuberten“ Senats. Damit bildete dieser formal wieder das zentrale Herrschaftsorgan. Die Republik war äußerlich wiederhergestellt. Allgemein war von der res publica restituta die Rede. So weit stimmten die Tatsachen mit Augustus’ propagandistischer Version überein. Gleich in seiner nächsten Sitzung aber, nur vier Tage später, übertrug der Senat das militärische Kommando in der Hälfte der Provinzen offiziell an Octavian – und zwar in jener Hälfte, die an den Rändern des Imperiums lagen und in denen daher das Gros der Legionen stand. Vertreten wurde er dort durch Legaten. Der Beschluss wurde damit begründet, dass diese Gebiete besonders gefährdet seien, und dass Octavian nach ihrer Befriedung das Kommando dort niederlegen werde. Auf diese Weise erhielt er eine den Provinzstatthaltern übergeordnete Befehlsgewalt (imperium proconsulare) über den weitaus größten Teil der Armee. Octavian blieb also Militärmachthaber und alleiniger Patron der Heeresklientel, nun aber formal im Rahmen der Gesetze. Das Reich gliederte sich fortan de facto in kaiserliche und senatorische Provinzen. Ein weiteres republikanisches Element der neuen Staatsordnung war die Rückkehr zur jährlichen Neubesetzung der Magistrate. Eines der zwei Konsulate nahm der Princeps in den nächsten Jahren allerdings regelmäßig für sich in Anspruch. Dies änderte sich mit der Revision der Prinzipatsverfassung am 1. Juli 23 v. Chr. Bis auf zwei Jahre verzichtete Augustus von da an auf das Konsulat. Stattdessen ließ er sich auf Lebenszeit die tribunizische Gewalt (tribunicia potestas) übertragen, also nicht das Amt des Volkstribunen, sondern „nur“ dessen Amtsbefugnisse. Damit gewann er das Recht, den Senat und die Volksversammlungen einzuberufen, diesen Gesetze vorzuschlagen, sein Veto gegen Senats- und Volksbeschlüsse einzulegen und sogar den Konsuln Amtshandlungen zu verbieten. Um auch den Magistraten in Rom und Italien Anweisungen geben zu können, wurden der tribunicia potestas des Augustus alle konsularischen Sonderrechte hinzugefügt, die einem Volkstribunen eigentlich nicht zustanden. Damit wurde die tribunizische Gewalt zur Quelle der kaiserlichen Macht in Rom und Italien. Durch die Aufgabe des ständigen Konsulats verlor Augustus jedoch seine Weisungsbefugnis gegenüber den Prokonsuln des Senats und damit auch gegenüber den senatorischen Provinzen. Um diese wiederherzustellen, ließ er sich eine übergeordnete prokonsularische Gewalt (imperium proconsulare maius) übertragen. Außerdem ließ er im Jahr 23 das Volk eine lex de imperio (auch lex Augusti oder lex regia genannt) beschließen: Durch eine Generalklausel galt hinfort alles, was Augustus wünschte, als Gesetz. Dadurch hatte ihm das Volk, so die auch später nie bezweifelte Auslegung, das ihm zustehende imperium übertragen und ihn damit zu außerordentlicher gesetzesvertretender Normsetzung ermächtigt.Mit der Revision der Prinzipatsverfassung legte Augustus zwar formal das Konsulat nieder, behielt aber faktisch alle Befugnisse eines Konsuls. Durch seinen Verzicht auf das Konsulat hatte er jedoch bis auf die Purpurtoga und die Corona triumphalis alle äußeren Rangabzeichen verloren, die auf seine zentrale Stellung hindeuteten. Um auch dies auszugleichen, wurden dem Princeps 19 v. Chr. die konsularischen Ehrenrechte zuerkannt: So wurde er wieder ständig von zwölf Liktoren begleitet und durfte im Senat zwischen den beiden amtierenden Konsuln Platz nehmen. Augustus verzichtete also augenscheinlich auf die absolute Macht, indem er den Senatsadel daran teilhaben ließ, behielt aber in Wirklichkeit alle wichtigen Funktionen in Staat und Militär in seiner Hand. ===== Augustus-Titel und weitere Ehrungen ===== Der Ehrenname Augustus, „der Erhabene“, den der Senat Octavian am letzten Tag des Staatsakts vom Januar 27 v. Chr. verlieh, erinnerte an das augurium, eine Kulthandlung zur Deutung des Willens der Götter, die der Sage nach schon Romulus vorgenommen hatte. Der Name setzte seinen Träger also mit dem legendären Gründer der Stadt Rom gleich und verlieh der obersten politischen Gewalt im Staat eine sakrale Aura, wie sie die Konsuln zu Zeiten der Republik nie besessen hatten. Mit dem neuen Titel verlieh der Senat dem Princeps auch einen Ehrenschild (clipeus virtutis), auf dem Tapferkeit, Milde, Gerechtigkeit sowie Pflichterfüllung gegenüber den Göttern und dem Vaterland als die Tugenden des Augustus gepriesen wurden. Eine weitere Ehrung war die erstmalige Feier der decennalia, des zehnjährigen Regierungsjubiläums des Princeps, im Jahr 17 v. Chr. Das Fest ging darauf zurück, dass Augustus die ihm übertragene Machtstellung formell nur für 10 Jahre akzeptiert hatte. In seinem Verlauf gab er wie schon 27 v. Chr. die Macht in die Hände des Senats zurück, der sie ihm umgehend erneut übertrug. Auch die decennalia dienten also dem Zweck, den Anschein einer fortbestehenden Senatsherrschaft zu erwecken und die tatsächlichen Machtverhältnisse in Rom zu verschleiern. Die sakrale Würde des Princeps wurde weiter gestärkt, als im Jahre 13 oder 12 v. Chr. Marcus Aemilius Lepidus starb. Augustus’ einstiger Kollege im Triumvirat hatte nach seiner Entmachtung lediglich das Amt des Pontifex maximus behalten dürfen. Nun übernahm Augustus auch dieses Amt; als oberster Priester des römischen Staatskultes konnte er nun auch alle Belange der religio Romana in seinem Sinne regeln. Im Jahr 8 v. Chr. beschloss der Senat, den Monat Sextilis in Augustus umzubenennen. Als Grund für die Wahl dieses Monats anstelle von Augustus’ Geburtsmonat September wurde angeführt, dass er im Sextilis erstmals Konsul geworden sei und drei Triumphe gefeiert habe. Außerdem markiere dieser Monat, in dem Ägypten erobert worden war, das Ende der Bürgerkriege. Der eigentliche Grund könnte aber gewesen sein, dass der Sextilis direkt auf den nach Caesar benannten Juli folgte.Am 5. Februar des Jahres 2 v. Chr. verlieh der Senat Augustus schließlich den Titel pater patriae („Vater des Vaterlandes“), auf den er besonders stolz war, denn er war mehr als eine bloße Ehrenbezeichnung. Vielmehr führte er jedermann vor Augen, dass dem Kaiser gegenüber allen Reichsangehörigen die gleiche Autorität zustand wie jedem römischen Familienoberhaupt, dem pater familias, über die Seinen. ===== Akzeptanz der neuen Ordnung ===== Die Neuordnung des Staatswesens wurde von den Römern nicht widerspruchslos hingenommen. Insbesondere die patrizischen Familien des alten Senatsadels, die Augustus als Emporkömmling ansahen, konnten sich mit ihrer Entmachtung nur schwer abfinden. Einige Quellen berichten, dass Augustus sich in der Zeit nach seiner Rückkehr aus dem Osten nur mit einem Brustpanzer unter der Toga in den Senat wagte und Senatoren nur einzeln und nach eingehender Leibesvisitation empfing. Verschwörungen wie die des Fannius Caepio, die im Jahr 23 oder 22 v. Chr. aufgedeckt wurde, zeigen, dass Augustus’ Politik noch lange Zeit erheblichen Widerstand hervorrief. Da der Zeitpunkt der Verschwörung nicht genau datiert werden kann, ist bis heute ungeklärt, ob sie auslösender Faktor oder Folge der im Jahr 23 v. Chr. erfolgten Neujustierung der Prinzipatsordnung war. Dass das neue Herrschaftssystem schließlich doch akzeptiert wurde, lag sicher nur zum Teil daran, dass Augustus den republikanischen Institutionen und den althergebrachten Rechten und Sitten, dem mos maiorum, seinen Respekt erwies. Die Römer konnten sich zwar sagen, dass die alte Republik und ihre Institutionen der Form nach weiterhin bestanden, aber die politisch Interessierten dürften Augustus’ Propaganda durchschaut haben. Ausschlaggebend war am Ende die schlichte Tatsache, dass der Prinzipat funktionierte – im Gegensatz etwa zu den Ordnungsmodellen Sullas oder Caesars – und dass es zu Augustus keine realistische Alternative gab. Darüber hinaus war der Faktor Zeit entscheidend für den Erfolg der neuen Herrschaftsordnung: Augustus regierte nach der Erringung der Alleinherrschaft noch mehr als 40 Jahre, länger als jeder seiner Nachfolger. Die Römer gewöhnten sich in dieser langen Zeit an die Herrschaft des Ersten Bürgers. Als der Kaiser starb, waren kaum noch Römer am Leben, die die alte Republik noch bewusst erlebt hatten. So setzte mit der Errichtung des Prinzipats eine lange Periode des inneren Friedens und des Wohlstands ein. Augustus’ neue Ordnung sollte 300 Jahre – bis zur Herrschaft Diokletians – Bestand haben. Selbst der Geschichtsschreiber Tacitus, einer der schärfsten Kritiker des Prinzipats, erkannte in dieser Konsolidierungspolitik ein klares Verdienst des Augustus. Deren Mustergültigkeit zeigt sich im Begriff der „Augusteischen Schwelle“, mit dem die neuere Politikwissenschaft die gelungene Überführung eines wachsenden aber instabilen Imperiums in einen dauerhaft stabilen Zustand beschreibt. Hinsichtlich der Beurteilung durch antike Historiker ist jedoch zu berücksichtigen, dass unter Augustus die ersten Bücherverbrennungen stattfanden. Betroffen waren Geschichtswerke, die seine Herrschaft kritisch bewerteten. Selbst wenn einzelne Exemplare dieser Werke in Privatbeständen überlebten und später erneut Verbreitung fanden, war der Informationsfluss hierdurch schwer beeinträchtigt. Der spätere Kaiser Claudius soll zudem durch seine Mutter und seine Großmutter davon abgehalten worden sein, in seinem Geschichtswerk die Zeit nach Caesars Ermordung ausführlicher zu thematisieren. ==== Wirtschaftliche und gesellschaftliche Neuordnung ==== Eine ebenso anspruchsvolle Aufgabe wie der Umbau der Staatsverfassung war die innere und äußere Stabilisierung des Reichs, seine wirtschaftliche Erholung, die Wiederherstellung von Recht und Ordnung in Rom und den Provinzen und die Sicherung der Grenzen. Die Voraussetzungen für einen allgemeinen Wirtschaftsaufschwung waren nach Actium besser denn je in den vorangegangenen Jahrzehnten. Augustus konnte mehr als ein Drittel der rund 70 Legionen entlassen, das heißt etwa 80.000 der 230.000 Mann, die 31 v. Chr. noch unter Waffen gestanden hatten. Ein solches Heer wäre für Friedenszeiten nicht nur zu groß und zu kostspielig gewesen; es hätte immer auch eine potenzielle Gefahr dargestellt, so viele Soldaten unter Waffen zu belassen. Anders als 12 Jahre zuvor musste er für die Abfindung der Veteranen nicht auf Konfiskationen zurückgreifen, sondern konnte die ungeheure Beute, die ihm mit dem ägyptischen Staatsschatz in die Hände gefallen war, für Landkäufe nutzen. So entstand in Italien und den Provinzen eine breite Schicht ihm ergebener Bauern. Auch seine Anhänger in Rom – etwa im neuen Senat – wurden mit Geld und Posten bedacht. So schuf Augustus selbst die neuen Gesellschaftsschichten, auf denen die Staatsordnung des Prinzipats ruhen sollte. ===== Neuordnung der Provinzen ===== In die Provinzen, die bis dahin immer wieder von Kontributionen, Truppenaushebungen und durchziehenden Heeren heimgesucht worden waren, kehrte allmählich ein gewisser Wohlstand zurück, denn der Prinzipat stellte Rechtssicherheit her und verhinderte vor allem die bis dahin übliche Ausplünderung durch ehemalige Magistrate der Republik. Diese hatten sich in den Provinzen stets für die Kosten schadlos gehalten, die ihr politisches Engagement in Rom verursachte. Der Geschichtsschreiber Velleius Paterculus fasste die Wirksamkeit von Augustus’ Politik wenige Jahre nach dessen Tod folgendermaßen zusammen: „Die Äcker fanden wieder Pflege, die Heiligtümer wurden geehrt, die Menschen genossen Ruhe und Frieden und waren sicher im Besitz ihres Eigentums.“Anfangs übernahm der Kaiser die Neuordnung der Provinzen noch selbst. Bereits im Sommer des Jahres 27 v. Chr. brach er zu einer mehrjährigen Inspektionsreise durch den Nordwesten des Reiches auf. Gallien war seit der Eroberung durch Caesar sich selbst überlassen geblieben. Nach der Ordnung der Verhältnisse dort eroberte Augustus diejenigen Gebiete im Norden der Iberischen Halbinsel, die bis dahin noch nicht zum Reich gehört hatten, und gliederte sie der Provinz Hispania Tarraconensis ein. In Tarraco trat er sein 8. und 9. Konsulat an. Auf der Rückreise nach Rom im Jahr 23 v. Chr. erkrankte Augustus schwer. Obwohl mit seinem baldigen Ableben gerechnet wurde, designierte Augustus keinen neuen Nachfolger. Agrippa und Marcellus galten als die aussichtsreichsten Kandidaten. Der Princeps überlebte schließlich, entschloss sich aber, seine Legionen künftig nicht mehr persönlich zu führen. ===== Sittenpolitik ===== Zu einem Kennzeichen der Herrschaft des Augustus wurde auch seine Betonung althergebrachter Sitte und Moral. In den Jahren seines Aufstiegs hatte er selbst nicht eben ein Muster altrömischer Tugenden abgegeben. Einmal an der Macht, sah er in ihnen aber ein Mittel, diese Macht zu festigen und die Wunden der Kriegsjahre zu heilen. Der von ihm beklagte „Sittenverfall“, den er aufhalten wollte, war allerdings eher eine Folge der Bürgerkriege gewesen, nicht deren Ursache, wie Augustus, Horaz und viele andere in der Führungsschicht des Reiches dachten.Im Jahr 19 v. Chr. ließ sich der Princeps vom Senat die cura morum übertragen, die Sittenaufsicht. In den im Jahr darauf beschlossenen Leges Iuliae wurden beispielsweise die Strafvorschriften für Ehebruch, Unzucht und Kuppelei verschärft. Für alle Männer zwischen 25 und 60 und alle Frauen zwischen 20 und 50 Jahren wurde eine Pflicht zur Ehe eingeführt. Kinderreiche Familien erhielten Privilegien, Ehepaare mit weniger als drei Kindern mussten dagegen rechtliche Nachteile hinnehmen. Die lex Papia von 9 n. Chr. wiederum verbot bestimmte Ehen, etwa die von Prostituierten und die zwischen Senatoren und Freigelassenen. Die Gesetze stießen bei der Bevölkerung auf Ablehnung und Spott, zumal Augustus’ eigener laxer Umgang mit altrömischer Sitte und Moral allgemein bekannt war. Die erzwungene Scheidung seiner Frau Livia von ihrem früheren Mann und seine zweifelhafte Beziehung zu Terentia, der Frau seines Freundes Maecenas, waren dafür nur die hervorstechendsten Beispiele. Augustus selbst war von den Bestimmungen ausgenommen: lateinisch Princeps legibus solutus, „der Prinzeps ist von den Gesetzen befreit“, wie es in einem Kommentar hieß. Ob diese Befreiung für alle oder nur für die Ehegesetze galt, ist umstritten. Gegen Theodor Mommsen, der letzteres annimmt, argumentiert Okko Behrends, dass dieselbe Formel später ohne Einschränkung in der lex de imperio Vespasiani gebraucht wurde. Dies deute darauf hin, dass bereits Augustus als legibus solutus galt.Würde und Autorität des Princeps erforderten jedoch, dass Augustus und seine Familie ein gutes Beispiel abgaben, auch wenn Anspruch und Wirklichkeit auseinanderklafften. Dies führte schließlich zum Zerwürfnis mit seiner Tochter Iulia, die sich den väterlichen Moralvorschriften nicht unterwerfen wollte. Im Jahr 2 v. Chr. ließ Augustus selbst sie vor dem Senat des Ehebruchs anklagen und auf die kleine Insel Pandateria verbannen. Neun Jahre später, 8 n. Chr., ereilte den Dichter Ovid, den Autor der Ars amatoria („Liebeskunst“), das gleiche Schicksal: Er wurde nach Tomis am Schwarzen Meer verbannt. Das propagandistische Bild vom Princeps als treusorgendem altrömischem Patron, der über das Wohl der Seinen wacht, fand sichtbaren Ausdruck in einem umfangreichen Bauprogramm in Rom (publica magnificentia). Dazu gehörten Zweckbauten wie Aquädukte und eine riesige Sonnenuhr, vor allem aber Repräsentationsbauten wie das Augustusforum, das Marcellustheater und zahlreiche Tempel, die dazu dienten, den Römern Macht und Autorität des Augustus vor Augen zu führen. Der Kaiser spricht in seinem Tatenbericht von 82 Tempeln, die er in einem Jahr habe instand setzen, Vergil in der Aeneis von 300 Tempeln, die er insgesamt habe bauen lassen. ==== Außenpolitik und Grenzsicherung ==== Augustus’ Außenpolitik wurde lange als defensiv beurteilt. Historiker des 19. Jahrhunderts sahen in ihr nur eine Arrondierung und Sicherung der Reichsgrenzen. Zu dieser Sicht trug unter anderem die Tatsache bei, dass Augustus den Plan Caesars zu einem Feldzug gegen das Partherreich nicht wieder aufnahm. Eine militärische Machtdemonstration gegenüber dem Nachbarn im Südosten genügte, um den Partherkönig Phraates IV. im Jahr 20 v. Chr. zu einer vertraglichen Grenzregelung und zur Herausgabe der in der Schlacht bei Carrhae 53 v. Chr. erbeuteten, symbolträchtigen Legionsadler zu veranlassen. In Rom wurde als großer militärischer Sieg propagiert, was in Wirklichkeit eine friedliche Lösung darstellte. Die Eingliederung Ägyptens verlief weitgehend problemlos. Im Jahr 25 v. Chr. gewann Rom die neue Provinz Galatia in Kleinasien aufgrund einer testamentarischen Verfügung des letzten Galater-Königs Amyntas. Zudem geriet eine Reihe neuer Klientelstaaten wie Armenien, Kappadokien und Mauretanien in Abhängigkeit zu Rom.Dennoch ließ sich die These von der prinzipiell friedlichen, defensiven Außenpolitik nicht aufrechterhalten. Kein republikanischer Feldherr und kein Kaiser hat dem Römischen Reich so große Territorien einverleibt wie Augustus – und dies vor allem durch kriegerische Eroberungen. Pläne für eine Eroberung Arabiens scheiterten zwar schon im Ansatz, da der Feldzug des Aelius Gallus 25/24 v. Chr. erfolglos blieb. Im sechsjährigen Kantabrischen Krieg von 25 bis 19 v. Chr. eroberten Augustus’ Truppen jedoch die letzten nichtrömischen Gebiete im Norden der iberischen Halbinsel. Das Land der besiegten Kantabrer wurde als Teil der Provinz Tarraconensis dem Reich eingegliedert. Nachdem 17 v. Chr. bei den Säkularfeiern in Rom noch die Friedensordnung des Prinzipats gefeiert worden war, ging das Reich im darauffolgenden Jahr erneut zur Offensive über. Der Grund dafür ist bis heute ungeklärt. Womöglich fing als kleinere Grenzstreitigkeit mit germanischen Stämmen an, was mit ausgedehnten militärischen Operationen an den nordöstlichen Grenzen und der Eingliederung von nicht weniger als fünf neuen Provinzen endete. Von der Ostgrenze Galliens, den Alpen und dem dalmatinischen Küstengebirge wurde die Reichsgrenze bis zu Donau und Rhein, zeitweise sogar bis zur Elbe vorgeschoben. Südlich der Donau entstanden die neuen Provinzen Raetia - mit der 15 v. Chr. gegründeten und nach dem Princeps benannten Hauptstadt Augusta Vindelicum - Noricum, Pannonia, Illyricum und Moesia. Im Gegensatz zu diesen Erfolgen endeten die augusteischen Germanenkriege in einer Katastrophe. Der Versuch, die rechtsrheinische Germania magna zu erobern, war durch die Feldzüge von Augustus’ Stiefsohn Drusus von 12 bis 9 v. Chr. weit vorangetrieben und nach Drusus’ Tod durch seinen Buder Tiberius fortgeführt. Nach der Niederschlagung des Germanenaufstands der Jahre 1 bis 5 n. Chr. schien die Eroberung abgeschlossen. Auch neuere archäologische Funde wie die einer römischen Siedlung bei Waldgirmes sprechen dafür, dass die Provinzialisierung Germaniens zwischen Rhein und Elbe zu Augustus’ Zeit bereits weit vorangeschritten war. Im Jahr 9 n. Chr. aber vernichtete ein von dem Cheruskerfürsten Arminius initiiertes Bündnis germanischer Stämme im „saltus Teutoburgiensis“ – wahrscheinlich die Region um Kalkriese bei Osnabrück – drei römische Legionen unter dem Befehl des Provinzstatthalters Publius Quinctilius Varus. Nach Bekanntwerden der Niederlage, einer der größten in der Geschichte des Römischen Reichs, soll der Kaiser Aufstände in Rom selbst befürchtet und eine Verstärkung der Stadtwachen veranlasst haben. Auch persönlich zeigte sich Augustus von der Nachricht schwer getroffen, zumal Varus als Ehemann seiner Großnichte Claudia Pulchra zum weiteren Familienkreis gehörte. Sueton überliefert Augustus Ausruf Quinctili Vare, legiones redde! („Quinctilius Varus, gib die Legionen zurück!“). Der Kaiser habe sich als Zeichen der Trauer monatelang Haupthaar und Bart wachsen lassen und den Jahrestag der Varusschlacht stets als Trauertag begangen. Die Ordnungszahlen der drei vernichteten Truppenteile, der XVII., XVIII. und XIX. Legion, wurden nie wieder vergeben. Erst nach Augustus’ Tod, in den Jahren 14 bis 16 n. Chr., unternahm Drusus’ Sohn Germanicus verlustreiche Rückeroberungsversuche. Schließlich aber zogen sich die Römer auf die Rhein-Donau-Linie zurück und errichteten den Limes als befestigte Grenze gegen Germanien. ==== Regelung der Nachfolge ==== Obwohl Augustus in fast allen Quellen zu seinem Leben als gut aussehender Mann geschildert wird, war er seit seiner Kindheit von schwacher Konstitution. Er überlebte mehrere schwere Krankheiten wie die im Jahre 23 v. Chr. nur knapp und konnte nicht damit rechnen, das für die damalige Zeit sehr hohe Alter von fast 76 Jahren zu erreichen. Für sein Bestreben, der neu geschaffenen Herrschaftsordnung Dauer zu verleihen, stellte die Erbfolgeregelung daher eine zentrale Aufgabe dar. Während seine Frau Livia einen ihrer Söhne von Tiberius Claudius Nero auf dem Thron sehen wollte, verfolgte Augustus den Plan, die Nachfolge in der eigenen, julischen Familie zu sichern. Da der Kaiser keine Söhne hatte, zwang er seine Tochter Iulia, nacheinander mehrere Nachfolgekandidaten zu heiraten. Dies war im Jahr 25 v. Chr. zunächst Marcellus, der Sohn seiner Schwester Octavia und ihres ersten Mannes. Die Bevorzugung seines Neffen führte offenbar zeitweise zu Spannungen zwischen Augustus und seinem Feldherrn Agrippa, der sich selbst begründete Hoffnungen auf die Nachfolge machte. Doch Marcellus starb kaum 20-jährig Ende des Jahres 23 v. Chr. und Agrippa galt nun als aussichtsreicher Nachfolgekandidat. Augustus drängte den alten Freund im Jahr 21 v. Chr., sich von seiner Frau scheiden zu lassen und die 25 Jahre jüngere Iulia zu heiraten. Die beiden hatten zwei Töchter und drei Söhne, Gaius Caesar, Lucius Caesar und den nachgeborenen Agrippa Postumus. Spätestens seit Agrippas Tod 12 v. Chr. betrachtete Augustus die beiden älteren Enkel als seine bevorzugten Nachfolger. Aus diesem Grund hatte er sie schon zu Agrippas Lebzeiten als Söhne adoptiert. Beide Enkel waren aber 12 v. Chr. noch so jung, dass sie nach einem vorzeitigen Tod des Augustus nicht sofort die Nachfolge hätten antreten können. Bis sie als Nachfolgekandidaten alt genug sein würden und der römischen Öffentlichkeit vorgestellt werden konnten, benötigte der Princeps einen Stellvertreter. Dieser sollte Augustus bei den Regierungsgeschäften unterstützen und anstatt der zu jungen Enkel beerben. Diese Rolle, die einst Agrippa innegehabt hatte, sollte nun Tiberius ausfüllen. Augustus zwang ihn, sich von seiner Frau Vipsania, einer Tochter Agrippas, zu trennen, Iulia zu heiraten und sich zum Schutz der beiden jungen Prinzen zu verpflichten. Augustus scheint sich damals aber weder Tiberius noch dessen jüngeren Bruder Drusus, zu dem er ein besseres Verhältnis hatte, als Nachfolger gewünscht zu haben. Er machte deutlich, dass Tiberius nur ein „Platzhalter“ für die beiden Enkel war und nur für eine Übergangszeit als Nachfolgekandidat dienen sollte. Dies führte zum Zerwürfnis mit Tiberius, der die erzwungene Ehe mit Iulia zudem als Qual empfand. Der Stiefsohn legte daher 5 v. Chr. alle Ämter nieder und ging nach Rhodos ins Exil. Zu einer Aussöhnung kam es erst, nachdem Lucius und Gaius Caesar kurz hintereinander, 2 und 4 n. Chr., gestorben waren und Iulia wegen ihres Lebenswandels aus Rom verbannt wurde. Da Drusus bereits 9 v. Chr. bei einem Kriegszug in Germanien umgekommen war, blieb nur noch Tiberius als Nachfolger übrig. Augustus adoptierte ihn am 26. Juni des Jahres 4 gemeinsam mit seinem letzten noch lebenden Enkel Agrippa Postumus. Letzteren ließ er jedoch drei Jahre später aus nie ganz geklärten Gründen auf die Insel Planasia bei Elba verbannen, wo er unmittelbar nach Augustus’ Tod ermordet wurde. Tiberius wiederum musste den Sohn seines verstorbenen Bruders Drusus adoptieren: Germanicus. Der Großneffe des Augustus entstammte als Enkel der Octavia zugleich dem julischen und dem claudischen Familienzweig. Da Germanicus 4 n. Chr. noch zu jung war, um Augustus direkt im Amt nachzufolgen, wies der Princeps ihm die Rolle des Nachfolgers von Tiberius zu. Nach dieser familienpolitischen Weichenstellung bis in die dritte Generation übertrug Augustus Tiberius im Jahr 4 n. Chr. die tribunizische Amtsgewalt (tribunicia potestas). Aber erst im Jahr 13 n. Chr., im Jahr vor seinem Tod, verlieh Augustus ihm auch die prokonsularischen Befugnisse (imperium proconsulare maius) und designierte Tiberius damit öffentlich als einzig möglichen Nachfolger. In seinem umfangreichen Testament vermachte Augustus seinem Adoptivsohn und seiner Ehefrau Livia sein materielles Vermögen. Darüber hinaus setzte er Legate für die Bürger Roms und die Prätorianer aus. Ferner regelte er sein Begräbnis und gab Anweisungen für Tiberius und den Staat. ==== Tod und Begräbnis ==== Im Sommer des folgenden Jahres unternahm der Kaiser eine Reise, die ihn über Capri nach Benevent führen sollte. Er erkrankte bereits auf Capri an Diarrhoe, reiste aber noch weiter aufs Festland bei Neapel und ließ sich nach Nola bringen – angeblich in dasselbe Haus, in dem 71 Jahre zuvor sein Vater Gaius Octavius gestorben war. Dort verstarb der Kaiser in Gegenwart seiner Frau Livia und einer Reihe herbeigeeilter Würdenträger am 19. August des Jahres 14, am gleichen Tag, an dem er über 50 Jahre zuvor sein erstes Konsulat angetreten hatte. Laut Sueton soll der Mann, der in seinem Leben so viele Masken getragen hatte, sich mit einer Formel verabschiedet haben, die Komödianten am Ende eines Stückes sprachen: „Hat das Ganze Euch gefallen, nun so klatschet Beifall unserem Spiel, und entlasst uns alle mit Dank.“Augustus’ Leiche wurde auf dem Marsfeld in Rom verbrannt und die Asche in dem prachtvollen Augustusmausoleum beigesetzt, das der Kaiser dort für sich und seine Familie hatte errichten lassen. Zudem wurde er – wie die meisten römischen Caesaren nach ihrem Tod – zum Staatsgott (divus) erklärt. Zwischen Kapitol und Palatin wurde ein Tempel des Divus Augustus geweiht. Der kultische Dienst dort oblag einem Kollegium von 21 Priestern, den Augustales, in das nur die höchsten Mitglieder des Senats und des Kaiserhauses berufen wurden. == Augusteisches Zeitalter == Schon Zeitgenossen des Augustus betrachteten ihre Gegenwart als „apollinische Ära“, geprägt von Apoll, dem Gott des Lichts, der Künste und der Musik, der Weisheit und der Weissagung. Der Kaiser ließ ihm Heiligtümer bei Actium und bei seinem eigenen Wohnhaus auf dem palatinischen Hügel in Rom errichten. Ein Beispiel dafür, welche Verehrung dem Princeps schon zu Lebzeiten zuteilwurde, ist ein Kultlied des Horaz (Übersetzung nach Werner Dahlheim): Vollends verklärt wurde die Regierungszeit des ersten Kaisers nach seinem Tod unter dem Begriff der Pax Augusta, des „augusteischen Friedens“. Im Vergleich zum vorangegangenen Jahrhundert und zur Herrschaft vieler Nachfolger des ersten Kaisers brachte die augusteische Ära – das Saeculum Augustum – Rom, Italien und den meisten Provinzen in der Tat eine lange währende Zeit von innerem Frieden, Stabilität, Sicherheit und Wohlstand. Nach den Verheerungen der Bürgerkriege blühte die Wirtschaft nun ebenso auf wie Kunst und Kultur. Die Zeit brachte Dichter wie Vergil, Horaz, Ovid und Properz, Historiker wie Titus Livius oder Architekten wie Vitruv hervor. Der Kaiser selbst versuchte sich als Tragödienautor, vernichtete aber sein Drama Ajax, dessen Unzulänglichkeit ihm bewusst war, mit dem Kommentar: Mein Ajax ist in den Schwamm gefallen. Rom wandelte sich, wie Augustus meinte, von einer Stadt aus Ziegeln zu einer Stadt aus Marmor. Beeindruckende architektonische Zeugnisse dieser Zeit haben sich bis heute erhalten, etwa das Marcellus-Theater, das von Agrippa erbaute und unter Kaiser Hadrian erneuerte Pantheon und nicht zuletzt Augustus’ Mausoleum und die Ara Pacis, der Friedensaltar aus dem Jahre 9 v. Chr., der auf einem Relief eine Prozession der kaiserlichen Familie zeigt. Das Bild, das der Kaiser mit solchen Bauten den Römern vermitteln wollte, kontrastierte aber spätestens seit dem Jahr 16 v. Chr. wieder mit den unablässigen Kriegen, die an den Grenzen geführt wurden. Das Reich expandierte unter Augustus in einem Maß wie nie zuvor und nie wieder danach. Neben dem reichen Ägypten und Galatia wurden ihm Provinzen an Rhein und Donau hinzugefügt, deren Eroberung nur mit der Galliens durch Caesar vergleichbar war. Von Krieg aber war im Inneren des Reichs und der Provinzen nach dem Jahr 31 v. Chr. nur noch wenig zu spüren. Frieden und Wohlstand nahmen deshalb auch schon die Zeitgenossen als prägendes Kennzeichen der Epoche wahr. Dies war der Grund, warum sie sich letztlich mit der Einführung der Monarchie und dem Ende der Republik abfanden, zumal der Versuch einer Rückkehr zu deren oligarchischer Ordnung neue Bürgerkriege hätte hervorrufen können. Und es war kein Zufall, dass die Anhänger eines neuen Glaubens später einen Zusammenhang herstellten zwischen der Herrschaft des vergöttlichten, als Retter und Friedensfürst gefeierten Augustus und der Geburt ihres Religionsstifters, den sie als Gottessohn, Heiland und Verkünder eines Reichs des Friedens verehrten. == Augustus in Nachwelt und Forschung == Das Bild des Princeps hat sich in den 2000 Jahren seit seinem Tod immer wieder gewandelt. Mit seiner Person und seiner Politik hatten diese Veränderungen meist wenig bis gar nichts zu tun. === Augustusbilder von der Antike bis zur frühen Neuzeit === Augustus hatte alles dafür getan, der Nachwelt ein möglichst positives Bild von sich zu hinterlassen. Seine Selbstbiographie ging zwar verloren, aber sein „Tatenbericht“, die sogenannten Res gestae divi Augusti, vermitteln einen guten Eindruck davon, wie der Herrscher selbst gesehen werden wollte. Auch Nikolaos von Damaskus war in seiner nur fragmentarisch erhaltenen Biografie des Augustus darum bemüht, ihn nur im besten Licht darzustellen. Allerdings finden sich in der antiken Geschichtsschreibung auch Spuren einer anderen, kritischen Beurteilung. Der Geschichtsschreiber Tacitus etwa, ein erklärter Anhänger der früheren, republikanischen Verhältnisse, schrieb im frühen 2. Jahrhundert in seinem Werk Annalen über die Begründung des Principats: Nach einer kritischen Passage über die in seinen Augen übertriebenen postumen Ehrungen des Augustus schrieb Tacitus über den Princeps selbst: Bestimmte Schilderungen Tacitus’ sowie des im frühen 3. Jahrhundert schreibenden Senators Cassius Dio weisen einige Übereinstimmungen auf. Während aber Tacitus ein eher negatives Bild vom ersten Princeps zeichnete, da er den Untergang der Republik bedauerte und die Machtpolitik des Augustus als solche erkannte, war Dios Darstellung positiver. Da sein Werk neben den mit Tacitus übereinstimmenden Passagen zusätzliches Material bietet, ist man sich in der Forschung weitgehend einig, dass Dio nicht Tacitus, sondern dass beide eine heute verlorene, gemeinsame Quelle verwendet haben. Wie die meisten antiken Geschichtsschreiber benannte auch Tacitus nur selten seine Quellen. Aus der senatorischen Geschichtsschreibung sind jedoch mehrere Werke aus der Zeit vor ihm bekannt, darunter das des Aulus Cremutius Cordus, der Brutus und Cassius anscheinend recht positiv dargestellt hat. Auch Aufidius Bassus schilderte wenigstens teilweise die Herrschaft des Augustus; allerdings ist nicht bekannt, ab welchem Zeitpunkt seine Historien einsetzten. Wahrscheinlich schrieb auch Servilius Nonianus über die Herrschaft des Princeps. Sueton verarbeitete Material aus verlorenen Werken dieser Zeit in seinen Kaiserviten. Tacitus mag aber der erste Geschichtsschreiber gewesen sein, dessen Gesamturteil über Augustus negativ gefärbt war.Eine wesentliche Umdeutung erfuhren Augustus und seine Zeit nach der Christianisierung des Römischen Reichs. Seit Spätantike und Mittelalter haben Christen immer wieder versucht, die pax Augusta mit der pax Christiana gleichzusetzen, da Jesus von Nazaret im augusteischen Zeitalter geboren worden war. Im Spätmittelalter nutzten die römisch-deutschen Könige und Kaiser diesen Umstand auch politisch, um ihren Vorrang gegenüber dem Papsttum zu begründen. Während des Weihnachtsdienstes wurde indirekt hervorgehoben, dass es zur Zeit von Jesu Geburt bereits einen römischen Kaiser aber noch keinen Papst gegeben habe. Auch in der Neuzeit wollten Politiker aus jeweils unterschiedlichen Motiven heraus immer wieder Parallelen zwischen der eigenen und der Zeit des Augustus konstruieren. Während der Französischen Revolution wurde z. B. die Errichtung des Direktoriums nach der Schreckensherrschaft der Jakobiner im Jahr 1794 mit der Errichtung des Prinzipats verglichen. Im 20. Jahrhundert wiederum entfachten die italienischen Faschisten ein regelrechtes Augustusfieber. Auch in der Zeit des Nationalsozialismus versuchten zahlreiche Althistoriker, darunter Wilhelm Weber, die Herrschaftsweise des Augustus als Vorbild für die so genannte nationale Erneuerung Deutschlands durch das „Führerprinzip“ darzustellen. === Augustus in der modernen Geschichtswissenschaft === Noch ganz anders hatte im 19. Jahrhundert der Althistoriker Theodor Mommsen geurteilt: Er hatte Augustus’ Prinzipatsordnung nicht als Allein-, sondern als Doppelherrschaft gedeutet, die sich Senat und Princeps geteilt hätten. Gegen dieses Bild wiederum wandte sich Ronald Syme, dessen 1939 erschienenes Werk The Roman Revolution vor allem aufgrund seines reichhaltigen Materials als Ausgangspunkt der modernen Augustus-Forschung gilt. Symes Darstellung war von der Ausbreitung faschistischer Bewegungen im Europa seiner Zeit geprägt. Er wollte in Augustus einen Diktator und in seinem Aufstieg Parallelen zu den Anfängen des Faschismus erkennen. Ähnlich sah dies auch Benito Mussolini selbst, auch wenn er Symes negative Bewertung nicht teilte. Nach Syme ist Augustus’ Regime aus einer Revolution hervorgegangen. Er selbst sei ein Parteimann gewesen, der gestützt auf Geld und Waffen die alte Führungsschicht beseitigt und durch eine neue ersetzt habe. Als kalkulierender Machtmensch habe er die alte, zerfallende Republik zu Grabe getragen, um unter einer scheinbar republikanischen Fassade eine Alleinherrschaft zu begründen. Der Historiker Jochen Bleicken urteilte zwar kritisch, aber nicht abwertend über den Princeps: In der antiken Geschichte gebe es nur Alexander und Caesar, deren Leistungen sich mit denen des Augustus vergleichen ließen. Dennoch könne man ihn nicht mit diesen „Großen“ gleichsetzen, die im Grunde nur zerstörend gewirkt hätten. Augustus hingegen sei vor allem der wegweisende „Baumeister des Römischen Kaiserreichs“ und „Erzieher“ der neuen Eliten des Prinzipats gewesen. Von einer Heuchelei des Augustus oder von einem Fassadencharakter seines Regimes könne keine Rede sein. Dietmar Kienast sah in Augustus gar den selbstlosesten Machthaber der gesamten Geschichte. Auch Klaus Bringmann (2007) zog in seiner Augustus-Biographie eine insgesamt positive Bilanz der Regierungszeit des ersten römischen Kaisers: Anders als Ronald Syme sieht er in dessen Leistungen den Beleg dafür, dass der Besitz der Macht für Augustus kein bloßer Selbstzweck war. Werner Dahlheim (2010) stellt den „mörderischen Winkelzüge[n] der ersten Jahre“ des jungen Octavian das positive Urteil über dessen zweiten Lebenshälfte gegenüber. Ihm erscheint Augustus, gemessen an der Dauerhaftigkeit seiner staatsmännischen Leistung, als „großer Mann“.Aus Anlass des 2000. Todestages des Kaisers wurde in der Scuderie del Quirinale in Rom von Oktober 2013 bis Februar 2014 die Ausstellung „Augusto“ gezeigt. Aus dem gleichen Anlass organisierten Ernst Baltrusch und Christian Wendt an der FU Berlin eine Ringvorlesung mit 12 Beiträgen von Fachkolleginnen und -kollegen zu wichtigen Aspekten der Politik und Kultur der Epoche des ersten Princeps und ihrer Bedeutung für die Nachwelt, die 2016 in einem Sammelband publiziert wurden. == Werke == Res gestae divi Augusti: von Augustus selbst verfasster Tatenbericht, der an Bronzesäulen vor seinem Mausoleum angebracht war. Kopien wurden als Inschriften in mehreren Orten in Kleinasien gefunden, die vollständigste – mit einer griechischen Übersetzung – in einem Tempel in Ankara, nach der das Werk auch als Monumentum Ancyranum bezeichnet wird. Es gibt zahlreiche Ausgaben, unter anderem eine lateinisch-griechisch-deutsche Ausgabe mit Kommentar hrsgg. von Ekkehard Weber, München u. Zürich 1975. Text (lateinisch), Text (lateinisch/griechisch/englisch) De vita sua: eine Autobiografie, die in dreizehn Büchern die Zeit bis zum Cantabrischen Krieg behandelte, aber praktisch vollständig verloren ging. (Moderne „Rekonstruktionen“ von O. K. Gilliam, Philipp Vandenberg und Allan Massie gehören in das Genre des historischen Romans.) Sicilia: verloren gegangenes Epos in Hexametern, nur von Sueton bezeugt Ajax: Tragödie, von Augustus selbst vernichtet == Quellen == Appian, Römische Geschichte. Bd. 2: Bürgerkriege. Übersetzt von Otto Veh, 1988. Text (englisch) bei LacusCurtius Cassius Dio, Römische Geschichte. Übersetzt von Otto Veh, Artemis-Verlag, Zürich 1985, (englische Übersetzung) Nikolaos von Damaskus, Das Leben des Augustus. Oft kritisierte Biografie, die nicht immer zuverlässig ist und nur in byzantinischen Exzerpten erhalten ist. Zweisprachige Übersetzung von Jürgen Malitz, Nikolaos von Damaskus. Das Leben des Kaisers Augustus, Darmstadt 2003. Text (englisch) Text (deutsch) (PDF; 77 kB) Sueton, Divus Augustus. Ausführlichste antike Biografie aus der Sammlung der Kaiserbiografien von Gaius Iulius Caesar bis Domitian. Zahlreiche Ausgaben, beispielsweise in Sämtliche erhaltene Werke, Essen 2004 (deutsche Übersetzung). Text (lateinisch), (englische Übersetzung) Tacitus, Annalen. Das Geschichtswerk setzt erst mit dem Tod des Augustus ein, enthält aber zahlreiche Rückblicke auf seine Herrschaft. Zahlreiche Ausgaben, beispielsweise lateinisch und deutsch hg. von Erich Heller, München u. Zürich 1982. Text (lateinisch/englisch) Klaus Bringmann, Dirk Wiegandt: Augustus. Schriften, Reden und Aussprüche. Texte zur Forschung, Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 2008, ISBN 3-534-19028-9 (umfangreiche Quellensammlung, enthält alle bekannten Anordnungen und Edikte, persönlichen Briefe und amtlichen Dokumente des Octavian/Augustus) == Literatur == === Biographien === Jochen Bleicken: Augustus. Eine Biographie. Alexander Fest, Berlin 1998, ISBN 3-8286-0027-1. Neuauflage mit Nachwort von Uwe Walter, Rowohlt, Reinbek 2010, ISBN 978-3-499-62650-0. Klaus Bringmann: Augustus (= Gestalten der Antike.). Primus, Darmstadt 2007, ISBN 978-3-89678-605-0. Karl Christ: Geschichte der römischen Kaiserzeit. Von Augustus bis zu Konstantin. 4. durchgesehene und aktualisierte Auflage. Beck, München 2002, ISBN 3-406-36316-4, S. 47ff. Werner Dahlheim: Augustus. Aufrührer – Herrscher – Heiland. Eine Biographie. Beck, München 2010, ISBN 978-3-406-60593-2 (Rezension). Werner Dahlheim: Augustus. In: Manfred Clauss (Hrsg.): Die römischen Kaiser. 55 historische Portraits von Caesar bis Iustinian. 4. aktualisierte Auflage. Beck, München 2010, ISBN 978-3-406-60911-4, S. 26–50 (Kurzbiografie). Werner Eck: Augustus und seine Zeit. 6. überarbeitete Auflage. Beck, München 2014, ISBN 978-3-406-41884-6 (knappe Einführung). Karl Galinsky: Augustus. Sein Leben als Kaiser. Aus dem Englischen von Cornelius Hartz, von Zabern, Mainz 2013, ISBN 978-3-8053-4677-1. Dietmar Kienast: Augustus. Prinzeps und Monarch. 4., bibliographisch aktualisierte und um ein Vorwort ergänzte Auflage. Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 2009, ISBN 978-3-534-23023-5 (problemorientierte, aber schwer lesbare Darstellung mit umfassendem wissenschaftlichem Apparat). Anne-Marie Lewis: Celestial inclinations. A life of Augustus. Oxford University Press, New York 2023, ISBN 978-0-19-759967-9. Angela Pabst: Kaiser Augustus. Neugestalter Roms. Reclam, Stuttgart 2014, ISBN 978-3-15-010988-5. Pat Southern: Augustus. Magnus, Essen 2005, ISBN 3-88400-431-X. Heinrich Schlange-Schöningen: Augustus. Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 2005, ISBN 3-534-16512-8 (knappe Darstellung). === Einordnung und wichtige Einzelaspekte === Ernst Baltrusch, Christian Wendt (Hrsg.): Der Erste. Augustus und der Beginn einer neuen Epoche, Zaberns Bildbände zur Archäologie. Sonderbände der Antiken Welt, Wissenschaftliche Buchgesellschaft Darmstadt 2016, ISBN 978-3-8053-5033-4. Jochen Bleicken: Verfassungs- und Sozialgeschichte des Römischen Kaiserreiches. 2 Bände, 3. bzw. 4. Auflage, Schöningh, Paderborn 1981, ISBN 3-8252-0838-9, ISBN 3-8252-0839-7. Alan K. Bowman (Hrsg.): The Cambridge Ancient History. Vol. 10. The Augustan Empire. Cambridge University Press, Cambridge 1996, ISBN 0-521-26430-8 (detaillierte Gesamtdarstellung). Klaus Bringmann, Thomas Schäfer: Augustus und die Begründung des römischen Kaisertums. Akademie-Verlag, Berlin 2002, ISBN 3-05-003054-2 (Studienbuch mit Quellenteil). Maria H. Dettenhofer: Herrschaft und Widerstand im augusteischen Prinzipat. Die Konkurrenz zwischen res publica und domus Augusta (= Historia Einzelschriften. Band 140). Franz Steiner, Stuttgart 2000, ISBN 3-515-07639-5. Jörg Fündling: Das Goldene Zeitalter. Wie Augustus Rom neu erfand. WBG, Darmstadt 2013, ISBN 978-3-86312-035-1. Manuel Flecker, Stefan Krmnicek, Johannes Lipps, Richard Posamentir, Thomas Schäfer (Hrsg.): Augustus ist tot Lang lebe der Kaiser! Internationales Kolloquium anlässlich des 2000. Todesjahres des römischen Kaisers vom 20. 22. November 2014 in Tübingen (= Tübinger archäologische Forschungen. Bd. 24). Verlag Marie Leidorf, Rahden 2017, ISBN 978-3-89646-915-1. Karl Galinsky (Hrsg.): The Cambridge Companion to the Age of Augustus. Cambridge University Press, Cambridge 2005, ISBN 0-521-00393-8 (Aufsatzsammlung). Wolfgang Havener: Imperator Augustus. Die diskursive Konstituierung der militärischen „persona“ des ersten römischen „princeps“ (= Studies in ancient monarchies. Bd. 4). Steiner, Stuttgart 2016, ISBN 978-3-515-11220-8. Linda Simonis, Annette Simonis: Augustus. In: Peter von Möllendorff, Annette Simonis, Linda Simonis (Hrsg.): Historische Gestalten der Antike. Rezeption in Literatur, Kunst und Musik (= Der Neue Pauly. Supplemente. Band 8). 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Fagan: Kurzbiografie (englisch) bei De Imperatoribus Romanis (mit Literaturangaben) Ausführliche Informationen zu Leben und Werk des Augustus Mary Beard: The new Augustus. In: The Times Literary Supplement, Januar 2014, zu den Augustus-Ausstellungen in Rom und Paris 2013–2014 Vinzenz Völkel/Siegfried Höhne: Augustus - Friedenskaiser und Gewaltherrscher Bayern 2 Radiowissen. Ausstrahlung am 29. Juli 2019 (Podcast) == Anmerkungen ==
https://de.wikipedia.org/wiki/Augustus
Wasserstoff
= Wasserstoff = Wasserstoff ist ein chemisches Element mit dem Symbol H (für lateinisch Hydrogenium „Wasserbildner“) und der Ordnungszahl 1. Im Periodensystem steht das Element Wasserstoff in der 1. Periode und in der 1. IUPAC-Gruppe. Wasserstoff ist mit einem Massenanteil von etwa 70 % das häufigste chemische Element im Universum, jedoch nicht auf der Erde, wo sein Massenanteil an der Erdhülle nur 0,87 % beträgt.Der Großteil des Wasserstoffs auf der Erde ist im Wasser gebunden, der Verbindung mit Sauerstoff, deren Masse zu 11 % aus Wasserstoff besteht. Wasserstoff kommt gebunden an andere Elemente in sämtlichen Pflanzen und lebenden Organismen vor und außerdem ist das Element Wasserstoff Bestandteil fast aller chemischen Substanzen, mit denen sich die Organische Chemie und die Biochemie beschäftigen. Wasserstoff ist das chemische Element mit der geringsten Atommasse. Sein häufigstes Isotop enthält kein Neutron, sondern besteht aus nur einem Proton und einem Elektron. Es existieren zwei weitere natürlich vorkommende Wasserstoffisotope, von denen das nicht radioaktive Deuterium 0,0156 % des natürlichen Wasserstoffs ausmacht, während das in den oberen Schichten der Atmosphäre gebildete radioaktive Tritium nur in kleinsten Mengen vorkommt.Unter Bedingungen, die normalerweise auf der Erde herrschen (siehe Normalbedingungen), liegt das gasförmige Element Wasserstoff nicht als atomarer Wasserstoff mit dem Symbol H vor, sondern als molekularer Wasserstoff mit dem Symbol H2, als ein farb- und geruchloses Gas. Wenn z. B bei Redoxreaktionen Wasserstoff neu gebildet wird, tritt das Element vorübergehend atomar als H auf und wird als naszierender Wasserstoff bezeichnet. In dieser reaktiven Form reagiert Wasserstoff besonders gut mit anderen Verbindungen oder Elementen. == Geschichte == Entdeckt wurde Wasserstoff vom englischen Chemiker und Physiker Henry Cavendish im Jahre 1766, als er mit Metallen (Eisen, Zink und Zinn) und Säuren experimentierte. Cavendish nannte das dabei entstandene Gas wegen seiner Brennbarkeit „inflammable air“ („brennbare Luft“). Er untersuchte das Gas eingehend und veröffentlichte seine Erkenntnisse. Auf ähnliche Weise (Einwirkung von Säuren auf Metalle) hatten allerdings schon im 17. Jahrhundert Théodore Turquet de Mayerne (um 1620) und Robert Boyle (um 1670) ein Gas erzeugt, das sie Knallgas genannt hatten. Eine genauere Analyse erfolgte aber erst durch Antoine Laurent de Lavoisier, der erkannte, dass bei der Verbrennung des Gases Wasser entstand und deshalb das brennbare Gas als „hydrogène“ bezeichnete (lateinisch hydrogenium: „Wasser erzeugender Stoff“, davon kurz „Hydrogen“; von altgriechisch ὕδωρ hydōr „Wasser“ und -gen) und ihm damit seinen heutigen Namen gab. Cavendish hatte inzwischen – eine Beobachtung von Joseph Priestley aufgreifend – erkannt, dass bei der Verbrennung von Wasserstoff Wasser entsteht (veröffentlicht erst 1784). Lavoisier erfuhr von den Experimenten von Cavendish beim Besuch von dessen Assistenten Charles Blagden 1783. Cavendish war Anhänger der Phlogistonlehre und sein Wasserstoff war für ihn ein Kandidat für diese hypothetische Substanz. Lavoisier aber zeigte in aufsehenerregenden Experimenten, dass das Gas ein eigenständiges Element war und ein Bestandteil des Wassers, das man damals vielfach noch selbst für elementar hielt, gemäß der alten Vier-Elemente-Lehre. Lavoisier führte seine Experimente quantitativ aus unter Verwendung der von ihm postulierten Massenerhaltung. Er leitete Wasserdampf in einer abgeschlossenen Apparatur über glühende Eisenspäne und ließ die entstandenen Gase an anderer Stelle kondensieren. Dabei stellte er fest, dass die Masse des kondensierten Wassers etwas geringer war als die der ursprünglich eingesetzten Masse. Dafür war ein Gas entstanden, dessen Masse zusammen mit dem Gewichtszuwachs des oxidierten Eisens genau der „verloren gegangenen“ Wassermenge entsprach. Sein eigentliches Experiment war also erfolgreich. Lavoisier untersuchte das entstandene Gas weiter und führte die als Knallgasprobe bekannte Untersuchung durch, wobei das Gas verbrannte. Er nannte es daher zunächst wie Cavendish brennbare Luft (im Französischen in umgekehrter Wortstellung „air inflammable“). Als er in weiteren Experimenten zeigte, dass sich aus dem Gas umgekehrt Wasser erzeugen lässt, taufte er es hydro-gène (griechisch: hydro = Wasser; genes = erzeugend). Das Wort bedeutet demnach: „Wassererzeuger“. Die deutsche Bezeichnung lässt auf die gleiche Begriffsherkunft schließen. Nachdem man gemäß der Schule von Lavoisier lange Sauerstoff für den Säurecharakter verantwortlich gemacht hatte, änderte sich dies, als Humphry Davy 1808 Chlorwasserstoff darstellte und nachwies, dass darin kein Sauerstoff enthalten war. Danach erkannte man, dass statt Sauerstoff Wasserstoff für den Säurecharakter verantwortlich war. == Vorkommen == Wasserstoff ist das häufigste chemische Element in der Sonne und den großen Gasplaneten Jupiter, Saturn, Uranus und Neptun, die über 99,99 % der Masse des Sonnensystems in sich vereinen. Wasserstoff stellt 75 % der gesamten Masse beziehungsweise 93 % aller Atome des Sonnensystems. Im gesamten Weltall wird (unter Nichtbeachtung dunkler Materie) ein noch höherer Anteil an Wasserstoff vermutet. === Vorkommen im Universum === Kurz nach der Entstehung des Universums waren nach der mutmaßlichen Vernichtung der Antimaterie durch ein geringes Übermaß der Materie und der Kondensation eines Quark-Gluon-Plasmas zu Baryonen nur mehr Protonen und Neutronen (nebst Elektronen) vorhanden. Bei den vorherrschenden hohen Temperaturen vereinigten sich diese zu leichten Atomkernen, wie 2H und 4He. Die meisten Protonen blieben unverändert und stellten die zukünftigen 1H-Kerne dar. Nach ungefähr 380.000 Jahren war die Strahlungsdichte des Universums so gering geworden, dass sich Wasserstoff-Atome einfach durch Zusammenschluss der Kerne mit den Elektronen bilden konnten, ohne gleich wieder durch ein Photon auseinandergerissen zu werden. Mit der weitergehenden Abkühlung des Universums formten sich unter dem Einfluss der Gravitation und ausgehend von räumlichen Dichteschwankungen allmählich Wolken aus Wasserstoffgas, die sich zunächst großräumig zu Galaxien und darin zu Protosternen zusammenballten. Unter dem wachsenden Druck der Schwerkraft setzte schließlich die Kernfusion ein, bei der Wasserstoff zu Helium verschmilzt. So entstanden erste Sterne und später die Sonne. Sterne bestehen weit überwiegend aus Wasserstoff-Plasma. Die Kernfusion von Wasserstoff 1H zu Helium 4He erfolgt hauptsächlich über die Zwischenstufen Deuterium 2H und Helium 3He oder über den Bethe-Weizsäcker-Zyklus. Die dabei frei werdende Energie ist die Energiequelle der Sterne. Der in unserer Sonne enthaltene Wasserstoff macht den größten Teil der gesamten Masse unseres Sonnensystems aus. Die Gasplaneten bestehen zu großen Teilen aus Wasserstoff. Unter den extremen Drücken, die in großen Tiefen in den großen Gasplaneten Jupiter und Saturn herrschen, kann er in metallischer Form existieren. Dieser „metallische“ Kern ist elektrisch leitfähig und erzeugt vermutlich das Magnetfeld der Gasplaneten. Außerhalb von Sternensystemen kommt Wasserstoff in Gaswolken vor. In den so genannten H-I-Gebieten liegt das Element atomar und nichtionisiert vor. Diese Gebiete emittieren Strahlung von etwa 1420 MHz, die sogenannte 21-cm-Linie, auch HI- oder Wasserstofflinie genannt, die von Übergängen des Gesamtdrehimpulses herrührt. Sie spielt eine wichtige Rolle in der Astronomie und dient dazu, Wasserstoffvorkommen im All zu lokalisieren und zu untersuchen. Ionisierte Gaswolken mit atomarem Wasserstoff nennt man dagegen H-II-Gebiete. In diesen Gebieten senden Sterne hohe Mengen ionisierender Strahlung aus. Mit Hilfe der H-II-Gebiete lassen sich Rückschlüsse auf die Zusammensetzung der interstellaren Materie ziehen. Wegen ständiger Ionisation und Rekombination der Atome senden sie mitunter sichtbare Strahlung aus, die oft so stark ist, dass man diese Gaswolken mit einem kleinen Fernrohr sehen kann. === Irdische Vorkommen === Auf der Erde ist der Massenanteil wesentlich geringer. Bezogen auf die Erd-Gesamtmasse ist der Anteil etwa 0,03 %. Außerdem liegt der irdische Wasserstoff im Gegensatz zu den Vorkommen im All überwiegend gebunden und nur selten in reiner Form als unvermischtes Gas vor. Die bekannteste Verbindung ist das Wasser. Neben diesem sind Erdgase wie Methan sowie Erdöl wichtige wasserstoffhaltige Verbindungen auf der Erde. In mehr als der Hälfte aller bisher bekannten Minerale ist Wasserstoff (meist als Kristallwasser) enthalten.Der größte Anteil des Wasserstoffs an der Erdoberfläche kommt in der Verbindung Wasser vor. In dieser Form bedeckt er über zwei Drittel der Erdoberfläche. Die gesamten Wasservorkommen der Erde belaufen sich auf circa 1,386 Milliarden km³. Davon entfallen 1,338 Milliarden km³ (96,5 %) auf Salzwasser in den Ozeanen. Die verbliebenen 3,5 % liegen als Süßwasser vor. Davon befindet sich wiederum der größte Teil im festen Aggregatzustand: in Form von Eis in der Arktis und Antarktis sowie in den Permafrostböden vor allem in Sibirien. Der geringe restliche Anteil ist flüssiges Süßwasser und findet sich meist in Seen und Flüssen, aber auch als Grundwasser. In der Erdatmosphäre liegt Wasserstoff hauptsächlich als gasförmiges Wasser (Wasserdampf) vor. Wie viel Wasserdampf eine Volumeneinheit Luft enthält, hängt neben dem Vorhandensein von Wasser von der Lufttemperatur ab. Beispielsweise kann Luft von 30 °C Temperatur bis zu einem Volumenanteil von 4,2 % Wasserdampf aufnehmen. Die relative Luftfeuchtigkeit beträgt dann 100 %, da der Sättigungsdampfdruck des Wassers erreicht ist. Die Häufigkeit von molekularem Wasserstoff in der Atmosphäre beträgt nur 0,55 ppm. Dieser niedrige Anteil kann mit der hohen thermischen Geschwindigkeit der Moleküle und dem hohen Anteil an Sauerstoff in der Atmosphäre erklärt werden. Bei der mittleren Temperatur der Atmosphäre bewegen sich die H2-Teilchen im Durchschnitt mit fast 2 km/s. Das ist rund ein Sechstel der Fluchtgeschwindigkeit auf der Erde. Aufgrund der Maxwell-Boltzmann-Verteilung der Geschwindigkeiten der H2-Moleküle gibt es aber dennoch eine beträchtliche Zahl von Molekülen, welche die Fluchtgeschwindigkeit erreichen. Die Moleküle haben jedoch nur eine extrem geringe freie Weglänge, sodass nur Moleküle in den oberen Schichten der Atmosphäre tatsächlich entweichen. Weitere H2-Moleküle kommen aus darunter liegenden Schichten nach, und es entweicht wieder ein bestimmter Anteil, bis letztlich nur noch Spuren des Elements in der Atmosphäre vorhanden sind. Zudem wird der Wasserstoff in den unteren Schichten der Atmosphäre durch eine photoaktivierte Reaktion mit Sauerstoff zu Wasser verbrannt. Bei einem geringen Anteil stellt sich ein Gleichgewicht zwischen Verbrauch und Neuproduktion (durch Bakterien und photonische Spaltung des Wassers) ein. == Gewinnung == === Molekularer Wasserstoff === Kleinere Mengen Wasserstoff können bei Schauversuchen durch Reaktionen von verdünnten Säuren mit unedlen Metallen wie Zink gewonnen werden. Für die Reaktion gilt schematisch: verdünnte Säure + unedles Metall → H 2 ( g ) + Metallsalz {\displaystyle {\text{verdünnte Säure}}+{\text{unedles Metall}}\ \rightarrow \ H_{2}(g)+{\text{Metallsalz}}} Bei dieser Reaktion handelt es sich um eine Redoxreaktion, in der das Zink als Reduktionsmittel wirkt und die Protonen der Säure durch Abgabe von Elektronen zum elementaren Wasserstoff reduziert, während das Zink nach Abgabe der Elektronen als kationisches Zink mit dem Anion der Säure ein Zinksalz bildet. Wenn bei dieser Reaktion die Temperatur erhöht wird oder wenn gar an Stelle von Zink Alkalimetalle als sehr starke Reduktionsmittel verwendet werden, dann bildet sich Wasserstoff bereits mit Wasser als einer nur sehr schwachen Säure. Das ist der Grund dafür, dass Metallbrände niemals mit Wasser gelöscht werden dürfen, denn gebildeter Wasserstoff würde dann als Brandverstärker wirken.Das wichtigste großtechnische Verfahren zur industriellen Gewinnung von molekularem Wasserstoff ist die um 1920 entwickelte Dampfreformierung. Bei dieser Reaktion werden unter hoher Temperatur und hohem Druck Kohlenwasserstoffe wie Methan und andere als Reduktionsmittel für die Protonen des Wassers eingesetzt. Dabei entsteht zunächst ein sogenanntes Synthesegas, ein Gemisch aus Kohlenstoffmonoxid und Wasserstoff. Das Mengenverhältnis der Reaktionsprodukte kann anschließend mit der sogenannten Wassergas-Shift-Reaktion zu Gunsten von Wasserstoff zwar noch verbessert werden, jedoch entsteht dabei unerwünschtes Kohlendioxid und der Wirkungsgrad (Erdgas zu Wasserstoff) erreicht nur etwa 60 bis 70 %.Derzeit gewinnt im Rahmen der Debatte um die Vermeidung von Kohlendioxid und um die Power-to-Gas-Strategie die Wasserelektrolyse als Methode zur Herstellung von Wasserstoff immer mehr an Bedeutung. Bei der Wasserelektrolyse wird Wasser in einer elektrochemischen Redoxreaktion durch Zufuhr von elektrischer Energie in die Bestandteile Wasserstoff und Sauerstoff zerlegt. 2 H 2 O ( l ) Elektrolyse → 2 H 2 ( g ) + O 2 ( g ) {\displaystyle \mathrm {2\ H_{2}O(l)\ _{\overrightarrow {\text{Elektrolyse}}}\ 2\ H_{2}(g)+O_{2}(g)} } Wasser wird durch elektrischen Strom in Wasserstoff und Sauerstoff gespalten. === Atomarer Wasserstoff === Atomarer Wasserstoff kann durch Zufuhr der Dissoziationsenergie aus dem molekularen Element erzeugt werden. Methodisch wird dieses bewerkstelligt durch Erhitzung auf mehrere tausend Grad, elektrische Entladung bei hoher Stromdichte und niedrigem Druck, Bestrahlung mit Ultraviolettlicht, Beschuss mit Elektronen bei 10 bis 20 Elektronenvolt oder Mikrowellenstrahlung. Allerdings reagiert atomarer Wasserstoff (z. B. an Behälterwänden) sehr schnell wieder zu molekularem Wasserstoff. Es stellt sich somit ein Fließgleichgewicht ein, das in der Regel weit auf der Seite des molekularen Wasserstoffs liegt. H 2 ⇄ 2 H Δ H R 0 = 436 , 0 k J / m o l = 104,204 k c a l / m o l {\displaystyle \mathrm {H_{2}\ \rightleftarrows \ 2\,H} \qquad \Delta H_{R}^{0}=436{,}0\mathrm {\ kJ/mol} =104{,}204\mathrm {\ kcal/mol} } Durch Energiezufuhr dissoziiert molekularer Wasserstoff in die atomare Form. Diese Reaktion beginnt ab 1500 K und ist vollständig bei 3000 K.Zur Darstellung von größeren Mengen atomaren Wasserstoffs sind das Woodsche Darstellungsverfahren (Robert Williams Wood, 1898) und dasjenige von Irving Langmuir, die Langmuir-Fackel besonders geeignet. == Physikalische Eigenschaften == Wasserstoff ist das Element mit der geringsten Dichte. Molekularer Wasserstoff (H2) ist etwa 14,4-mal weniger dicht als Luft. Flüssiger Wasserstoff wiegt 70,8 Gramm pro Liter. Sein Schmelzpunkt liegt bei 14,02 K (−259 °C), der Siedepunkt bei 21,15 K (−252 °C). Wasserstoff ist in Wasser und anderen Lösungsmitteln schlecht löslich. Für Wasser beträgt die Löslichkeit 19,4 ml/l (1,6 mg/l) bei 20 °C und Normaldruck. Dagegen ist die Löslichkeit (genauer: maximale Volumenkonzentration) in Metallen deutlich höher. Einige thermodynamische Eigenschaften (Transportphänomene) sind aufgrund der geringen Molekülmasse und der daraus resultierenden hohen mittleren Geschwindigkeit der Wasserstoffmoleküle (1770 m/s bei 25 °C) von besonderer Bedeutung, wie z. B. beim Oberth-Effekt-Raketentreibstoff. Der Joule-Thomson-Koeffizient von Wasserstoff ist bei Raumtemperatur negativ (Joule-Thomson-Effekt). Das bedeutet, dass sich dieser bei der Entspannung von höheren Drücken bei dieser Temperatur im Gegensatz zu den meisten anderen Gasen nicht abkühlt, sondern erwärmt. Wasserstoff besitzt bei Raumtemperatur das höchste Diffusionsvermögen, die höchste Wärmeleitfähigkeit und die höchste Effusionsgeschwindigkeit aller Gase. Eine geringere Viskosität weisen nur drei- oder mehratomige reale Gase wie Butan auf. Die Mobilität des Wasserstoffs in einer festen Matrix ist, bedingt durch den geringen Molekülquerschnitt, ebenfalls sehr hoch. So diffundiert Wasserstoff durch Materialien wie Polyethylen und glühendes Quarzglas. Ein sehr wichtiges Phänomen ist die außerordentlich hohe Diffusionsgeschwindigkeit in Eisen, Platin und einigen anderen Übergangsmetallen, da es dort dann zur Wasserstoffversprödung kommt. In Kombination mit einer hohen Löslichkeit treten bei einigen Werkstoffen extrem hohe Permeationsraten auf. Hieraus ergeben sich technische Nutzungen zur Wasserstoffanreicherung, aber auch technische Probleme beim Transportieren, Lagern und Verarbeiten von Wasserstoff und Wasserstoffgemischen, da nur Wasserstoff diese räumlichen Begrenzungen durchwandert (siehe Sicherheitshinweise). Wasserstoff hat ein Linienspektrum und je nach Temperatur des Gases im sichtbaren Bereich ein mehr oder weniger ausgeprägtes kontinuierliches Spektrum. Letzteres ist beim Sonnenspektrum besonders ausgeprägt. Die ersten Spektrallinien im sichtbaren Bereich, zusammengefasst in der so genannten Balmer-Serie, liegen bei 656 nm, 486 nm, 434 nm und 410 nm. Daneben gibt es weitere Serien von Spektrallinien im Infrarot- (Paschen-Serie, Brackett-Serie und Pfund-Serie) und eine im Ultraviolettbereich (Lyman-Serie) des elektromagnetischen Spektrums. Eine besondere Bedeutung in der Radioastronomie hat die 21-Zentimeter-Linie (HI-Linie) in der Hyperfeinstruktur. In einem magnetischen Feld verhält sich H2 sehr schwach diamagnetisch. Das bedeutet, die Dichte der Feldlinien eines extern angelegten Magnetfeldes nimmt in der Probe ab. Die magnetische Suszeptibilität ist bei Normdruck χ m {\displaystyle \chi _{m}} = -2.2e-9 und typischerweise einige Größenordnungen unter der von diamagnetischen Festkörpern. Gegenüber elektrischem Strom ist H2 ein Isolator. In einem elektrischen Feld hat er eine Durchschlagsfestigkeit von mehreren Millionen Volt pro Meter. Der empirische Atomradius von (atomarem) Wasserstoff beträgt 25 pm, der kovalente Radius 31 pm und der Van-der-Waals-Radius 120 pm. In höchstangeregten Wasserstoffatomen (Rydberg-Zuständen), wie sie unter den Vakuumbedingungen interstellarer Nebel vorkommen, befinden sich deren Elektronen auf Bahnen mit Atomradien von bis zu 0,339 Millimetern.Wasserstoffgas hat ein Treibhauspotential von 6 (lt. IPCC/Umweltbundesamt, März 2022). In einer detaillierten Studie vom April 2022 wird auf einen Wert des Treibhauspotentials von Wasserstoffgas mit 11 ± 5 verwiesen, bei ebenfalls einem Zeithorizont von 100 Jahren. === Aggregatzustände === Bei Temperaturen unterhalb von 21,15 K (−252 °C) kondensiert Wasserstoff zu einer klaren, farblosen Flüssigkeit. Dieser Zustand wird als LH2 abgekürzt (engl. liquid, „flüssig“). Unterhalb von 14,02 K (−259,2 °C) bildet Wasserstoff einen kristallinen Festkörper mit hexagonal dichtester Kugelpackung (hcp), dort ist jedes Molekül von zwölf weiteren umgeben. Am Gefrierpunkt bildet sich beim Abkühlen ein schlammartiges Zweiphasengemisch, ein sogenannter Slush. Anders als bei Helium tritt beim Verflüssigen von einfachem Wasserstoff ( 1H) keine Suprafluidität auf; prinzipiell kann aber das Isotop Deuterium ( 2H) suprafluid werden. Der Tripelpunkt des Wasserstoffs, bei dem seine drei Aggregatzustände gleichzeitig vorkommen, ist einer der Fixpunkte der Internationalen Temperaturskala. Er liegt bei einer Temperatur von exakt 13,8033 K und einem Druck von 7,042 kPa. Der kritische Punkt liegt bei 33,18 K und 13,0 bar, die kritische Dichte beträgt 0,03012 g/cm³ (die niedrigste kritische Dichte aller Elemente). Unter extremen Drücken, wie sie innerhalb von Gasplaneten herrschen, wird wahrscheinlich metallischer Wasserstoff, d. h. in metallischer Form, ausgebildet. Dabei wird er elektrisch leitend (vgl. Leitungsband). === Atom- und kernphysikalische Eigenschaften === Ein einzelnes Wasserstoffatom besteht aus einem positiv geladenen Kern und einem negativ geladenen Elektron, das über die Coulomb-Wechselwirkung an den Kern gebunden ist. Dieser besteht stets aus einem einzelnen Proton (Hauptisotop 1H) und seltener je nach Isotop einem oder zwei zusätzlichen Neutronen (2H bzw. 3H-Isotop). Das Wasserstoffatom 1H spielte aufgrund seines einfachen Aufbaus in der Entwicklung der Atomphysik als „Modellatom“ eine herausragende Rolle. So entstand 1913 aus Untersuchungsergebnissen am Wasserstoff das bohrsche Atommodell, mit dessen Hilfe eine vergleichsweise einfache Beschreibung vieler Eigenschaften des Wasserstoffatoms möglich ist. Man stellt sich dazu vor, dass das Elektron den Kern auf einer bestimmten Kreisbahn umläuft. Nach Bohr kann das Elektron auch auf andere, im Abstand zum Kern genau definierte Bahnen springen, so auf weiter außen liegende, wenn ihm die dazu nötige Energie zugeführt wird (z. B. durch Stöße im erhitzten Gas oder in der elektrischen Gasentladung). Beim Rücksprung von einer äußeren auf eine innere Bahn wird jeweils eine elektromagnetische Strahlung oder Welle einer bestimmten, der frei werdenden Energie entsprechende Wellenlänge abgegeben. Mit diesem Modell lassen sich die Spektrallinien des H-Atoms erklären, die im sichtbaren Licht bei Wellenlängen von 656 nm, 486 nm, 434 nm und 410 nm liegen (Balmer-Serie); im ultravioletten Bereich liegt die Lyman-Serie mit Wellenlängen von 122 nm, 103 nm, 97 nm und 95 nm. Wichtige Serien im Infraroten sind die Paschen-Serie (1,9 μm; 1,3 μm; 1,1 μm und 1 μm) und die Brackett-Serie (4,1 μm; 2,6 μm; 2,2 μm und 1,9 μm) (in allen Serien sind hier nur die ersten vier Linien angegeben). Das Bohrsche Modell reicht aber bei der Betrachtung von Details und für andere Atome zur Erklärung der dabei beobachteten bzw. gemessenen Phänomene nicht aus. Physikalisch korrekter ist die quantenmechanische Beschreibung, die dem Elektron anstelle der flachen bohrschen Bahnen räumlich ausgedehnte Atomorbitale zuschreibt. Das H-Atom ist das einzige, für das sich das Eigenwertproblem sowohl der nichtrelativistischen Schrödingergleichung als auch der relativistischen Diracgleichung analytisch, das heißt ohne den Einsatz numerischer Verfahren, lösen lässt. Das ist sonst nur für die ebenfalls ausgiebig untersuchten wasserstoffähnlichen Ionen möglich, denen lediglich ein Elektron verblieben ist (He+, Li2+ usw. bis U91+). Andere quantenmechanische Phänomene bewirken weitere Effekte. Die Feinstruktur der Spektrallinien kommt u. a. daher, dass Bahndrehimpuls und Spin des Elektrons miteinander koppeln. Berücksichtigt man darüber hinaus den Kernspin, kommt man zur Hyperfeinstruktur. Eine sehr kleine, aber physikalisch besonders interessante Korrektur ist die Lambverschiebung durch elektromagnetische Vakuumfluktuationen. Durch all diese Korrekturen wird bereits das Spektrum des Wasserstoffs zu einem komplexen Phänomen, dessen Verständnis viel theoretisches Wissen in Quantenmechanik und Quantenelektrodynamik erfordert. === Isotope === Es existieren drei natürlich vorkommende Isotope des Wasserstoffs. Von allen Elementen unterscheiden sich beim Wasserstoff die Isotope in ihren chemischen Reaktionsfähigkeiten am deutlichsten voneinander. Das liegt an dem vergleichsweise großen Unterschied der Atommasse (Deuterium 2H doppelt, Tritium 3H dreimal so schwer wie Wasserstoff 1H). Das einfachste Wasserstoff-Isotop 1H besitzt lediglich ein Proton im Kern und wird daher gelegentlich Protium genannt. Es hat mit einer relativen Häufigkeit von 99,98 % den weitaus größten Anteil am irdisch vorkommenden Wasserstoff. Es ist nicht radioaktiv, also stabil. Das Isotop 2H hat neben dem Proton ein Neutron im Kern. Man bezeichnet es als Deuterium. Für Deuterium gibt es das D als ein eigenes Elementsymbol. Verwendung findet es z. B. als Bestandteil von Lösungsmitteln für die 1H-NMR Spektroskopie, da es dabei kein störendes Nebensignal liefert. Es macht 0,015 % aller Wasserstoffatome aus. Deuterium ist ebenfalls stabil. Das Isotop 3H hat neben dem Proton zwei Neutronen im Kern. Man bezeichnet es als Tritium mit dem Elementsymbol T. Es hat nur einen verschwindenden Anteil am gesamten in der Natur vorkommenden Wasserstoff. Es ist radioaktiv und zerfällt durch Betazerfall (β−) mit einer Halbwertszeit von 12,32 Jahren in 3He. Tritium wird durch Kernreaktionen in der oberen Erdatmosphäre ständig als kosmogenes Radionuklid gebildet. Im Gleichgewicht von natürlicher Produktion und Zerfall befinden sich ca. 3,5 kg Tritium in der Biosphäre. Tritium kann in Oberflächenwassern und in Lebewesen nachgewiesen werden. Die schwereren Isotope 4H, 5H, 6H und 7H haben sehr kurze Lebensdauern in der Größenordnung von 10−22 s bis 10−21 s. === Kernspinzustände im H2-Molekül === Unter normalen Bedingungen ist Wasserstoffgas H2 ein Gemisch von Molekülen, die sich durch die Symmetrie ihrer Kernspins voneinander unterscheiden: ortho- und para-Wasserstoff (kurz o- und p-Wasserstoff). Bei o-Wasserstoff haben die Kernspins symmetrische Konfiguration, daher Gesamtspin S=1 und für die Molekülrotation nur ungerade Quantenzahlen J= 1,3 … . Beim p-Wasserstoff nehmen die Kernspins einen antisymmetrischen Zustand ein, bilden also den Gesamtspin S=0 und haben für die Molekülrotation nur gerade Quantenzahlen J=0,2 … p-Wasserstoff mit J=0 ist die energieärmste Form, also der Grundzustand. Der erste angeregte Zustand ist bei 15,1 meV Energie o-Wasserstoff mit J=1. Nahe dem absoluten Nullpunkt T=0 K findet man im thermodynamischen Gleichgewicht ausschließlich p-Wasserstoff, für nicht zu kaltes Wasserstoffgas ein Gemisch aus der p- und der o-Form. Da es für Gesamtspin S=0 nur einen Spinzustand gibt, bei symmetrischen Kernspins (S=1) aber drei Zustände verschiedener Orientierung im Raum, überwiegen diese ab etwa T>200 K im Gleichgewicht im Verhältnis ortho/para-Wasserstoff von bis zu 3:1. Weiter kann der Anteil der o-Form im thermodynamischen Gleichgewicht nicht gesteigert werden. Im reinen Gas dauert bei tiefen Temperaturen die Einstellung des Gleichgewichts Monate, da die Wechselwirkungen zwischen den Kernen und der Hülle extrem schwach sind. Für diese Zeiten liegt damit praktisch eine Mischung von zwei unterschiedlichen Gasen vor. Trotz gleicher chemischer Zusammensetzung H2 unterscheiden sie sich sogar makroskopisch durch deutlich verschiedenen Temperaturverlauf der spezifischen Wärme. Abgesehen hiervon sind die physikalischen Eigenschaften von o- und p-Wasserstoff aber nur geringfügig verschieden. Beispielsweise liegen der Schmelz- und Siedepunkt der p-Form etwa 0,1 K unter denen der o-Form. Bei der industriellen Herstellung von flüssigem Wasserstoff spielt der Übergang zwischen o- und p-Wasserstoff eine wichtige Rolle, weil bei der Temperatur der Verflüssigung das Gleichgewicht schon stark zur p-Form hin tendiert und sich spätestens im flüssigen Zustand dann schnell einstellt. Damit die dabei frei werdende Wärme nicht gleich einen Teil der gewonnenen Flüssigkeit wieder verdampfen lässt, beschleunigt man die Einstellung des neuen Gleichgewichts schon im gasförmigen Zustand durch den Einsatz von Katalysatoren. == Chemische Eigenschaften == === Besonderheiten === Im Periodensystem steht Wasserstoff in der I. Hauptgruppe, weil er 1 Valenzelektron besitzt. Ähnlich wie die ebenfalls dort stehenden Alkalimetalle hat er in vielen Verbindungen die Oxidationszahl +1. Allerdings ist sein Valenzelektron auf der K-Schale, die nur maximal 2 Elektronen haben kann und somit die Edelgaskonfiguration bereits mit 2 Elektronen und nicht mit 8, wie bei den anderen Schalen, erreicht. Durch Aufnahme eines Elektrons von sehr unedlen Metallen kann Wasserstoff die Edelgaskonfiguration des Heliums erreichen und hat dann die Oxidationszahl −1. Diese Verbindungen haben einen Halogenidcharakter und werden als Hydride bezeichnet. Diese Stellung quasi „in der Mitte“ zwischen zwei Edelgaskonfigurationen, in der er die gleiche Anzahl Elektronen aufnehmen oder abgeben kann, ist eine Eigenschaft, die der IV. Hauptgruppe ähnelt, was seine Elektronegativität erklärt, die eher der des ebenfalls „in der Mitte“ stehenden Kohlenstoffs als der des Lithiums gleicht. Aufgrund dieser „gemäßigten“ Elektronegativität sind die für die I. Hauptgruppe typischen Bindungen des Wasserstoffs in der Oxidationszahl +1 keine Ionenbindungen wie bei den Alkalimetallen, sondern kovalente Molekülbindungen. Zusammenfassend sind die Eigenschaften des Wasserstoffs für die I. Hauptgruppe atypisch, da aufgrund der Tatsache, dass die K-Schale nur 2 Elektronen aufnehmen kann, Eigenschaften anderer Gruppen hinzukommen. === Molekularer Wasserstoff === Bei Zündung reagiert Wasserstoff mit Sauerstoff und Chlor heftig, ist sonst aber vergleichsweise beständig und wenig reaktiv. Bei hohen Temperaturen wird das Gas reaktionsfreudig und geht mit Metallen und Nichtmetallen gleichermaßen Verbindungen ein. Mit Chlor reagiert Wasserstoff exotherm unter Bildung von gasförmigem Chlorwasserstoff, der in Wasser gelöst Salzsäure ergibt. Beide Gase reagieren dabei mit gleichen Stoffmengenanteilen: C l 2 ( g ) + H 2 ( g ) → 2 H C l ( g ) {\displaystyle \mathrm {Cl_{2}(g)+H_{2}(g)\rightarrow 2\;HCl(g)} } je ein Chlor- und Wasserstoffmolekül reagieren zu zwei ChlorwasserstoffmolekülenDiese Reaktion ist unter dem Namen Chlorknallgasreaktion bekannt, die sich schon durch die Bestrahlung mit Licht zünden lässt. Für die Knallgasreaktion (Wasserstoff und Sauerstoff) bedarf es einer Zündung. O 2 ( g ) + 2 H 2 ( g ) → 2 H 2 O ( g ) {\displaystyle \mathrm {O_{2}(g)+2\;H_{2}(g)\rightarrow 2\;H_{2}O(g)} } je ein Sauerstoff- und zwei Wasserstoffmoleküle reagieren zu zwei WassermolekülenDie aggressivste Reaktion bei niedrigen Temperaturen geht jedoch Wasserstoff mit Fluor ein. Wird Wasserstoffgas bei −200 °C auf gefrorenes Fluor geleitet, reagieren die beiden Stoffe sofort explosiv miteinander. F 2 ( s ) + H 2 ( g ) → 2 H F ( g ) {\displaystyle \mathrm {F_{2}(s)+H_{2}(g)\rightarrow 2\;HF(g)} } je ein Fluor- und Wasserstoffmolekül reagieren zu zwei FluorwasserstoffmolekülenWird der molekulare Wasserstoff ionisiert, so spricht man vom Diwasserstoff-Kation. Dieses Teilchen tritt z. B. in Niedertemperatur-Plasmaentladungen in Wasserstoff als häufiges Ion auf. H 2 + e − → H 2 + + 2 e − {\displaystyle \mathrm {H_{2}+e^{-}\rightarrow H_{2}^{+}+2\;e^{-}} } Ionisation durch ein schnelles Elektron im Plasma === Nascierender Wasserstoff === Wasserstoff in statu nascendi, d. h. im Zustand des Entstehens unmittelbar nach einer Wasserstoff erzeugenden Reaktion, existiert für Sekundenbruchteile in Form der einzelnen, sehr reaktiven H-Atome. Je zwei der Atome reagieren dann zum Molekül, das sich aber nach dem Zusammenschluss für kurze Zeit noch in einem angeregten Zustand befindet. Nascierender Wasserstoff kann – abweichend vom „normalen“ chemischen Verhalten – verschiedene Reaktionen bewirken, die mit molekularem Wasserstoff nicht möglich sind. So gelingt es zum Beispiel nicht, mit Hilfe von im Kippschen Apparat erzeugtem Wasserstoffgas in einer angesäuerten, violetten Kaliumpermanganatlösung (KMnO4) oder gelben Kaliumdichromatlösung (K2Cr2O7) den die Reduktion anzeigenden Farbwechsel hervorzurufen. Mit direkt in diesen Lösungen durch Zugabe von Zinkpulver erzeugtem Wasserstoff in statu nascendi gelingt diese reduktive Farbänderung. M n O 4 − + 3 H + + 5 H → M n 2 + + 4 H 2 O {\displaystyle \mathrm {MnO_{4}^{-}+3\ H^{+}+5\ H\rightarrow Mn^{2+}+4\ H_{2}O} } Nascierender Wasserstoff vermag unter sauren Bedingungen violette Permanganatlösung zu entfärben. C r 2 O 7 2 − + 14 H + + 6 H → 2 C r 3 + + 7 H 2 O + 6 H + {\displaystyle \mathrm {Cr_{2}O_{7}^{2-}+14\ H^{+}+6\ H\rightarrow 2\ Cr^{3+}+7\ H_{2}O+6\ H^{+}} } Unter sauren Bedingungen wird gelbe Dichromatlösung grün durch die reduzierende Wirkung des nascierenden Wasserstoffs. === Atomarer Wasserstoff === Um molekularen Wasserstoff in die Atome zu zerlegen, muss Energie von 436,22 kJ/mol (4,52 eV pro Molekül) aufgewendet werden (der Chemiker spricht von Enthalpie); beim Zusammenschluss zu Wasserstoffmolekülen wird diese Energie wieder freigesetzt: 2 H ⇄ H 2 Δ H R 0 = − 436 , 22 k J / m o l {\displaystyle \mathrm {2\ H\ \rightleftarrows H_{2}} \qquad \Delta H_{R}^{0}=-436{,}22\ \mathrm {kJ/mol} } Diese Energie ist unter Standardbedingungen weit höher als die thermische Energie k B ⋅ T ≈ 0 , 24 e V {\textstyle k_{\mathrm {B} }\cdot T\approx 0{,}24\;\mathrm {eV} } , daher liegt das Gleichgewicht vollkommen auf der rechten Seite der dargestellten Gleichung. Eine Anwendung findet diese Reaktion beim Arcatom-Schweißen. Im Weltraum liegt bei niedrigen Temperaturen in der Regel molekularer Wasserstoff vor. In der Nähe heißer Sterne wird molekularer Wasserstoff jedoch von deren Strahlung aufgespalten, so dass dort die atomare Form überwiegt oder auch die Atome ionisiert werden (H-II-Gebiet). Innerhalb von Sternen liegt Wasserstoff infolge der dort herrschenden hohen Temperaturen nicht atomar vor, sondern als Plasma. Die Oberfläche der Sonne hat jedoch „nur“ eine Temperatur von ca. 5500 °C, was einer thermischen Energie von 0,5 eV entspricht, weit unter der Energie von 4,5 eV, die zur Auflösung der molekularen Bindung erforderlich ist. Bei dieser Temperatur ist daher der größte Teil des Wasserstoffes nicht ionisiert und sogar molekular. Im Außenbereich der Sonne, der Korona, herrschen hingegen Temperaturen um eine Million Kelvin. Daher sind im Sonnenlicht die Übergänge der Elektronen im atomaren Wasserstoff erkennbar. === Wasserstoffbrückenbindung === Eine wichtige Eigenschaft des Wasserstoffs ist die so genannte Wasserstoffbrückenbindung, eine anziehende elektrostatische Kraft zwischen zwei Molekülen. Ist Wasserstoff an ein stark elektronegatives Atom, wie Fluor oder Sauerstoff, gebunden, so befindet sich sein Elektron eher in der Nähe des Bindungspartners. Es tritt also eine Ladungsverschiebung auf und das H-Atom wirkt nun positiv polarisiert. Der Bindungspartner wirkt entsprechend negativ. Kommen sich zwei solche Moleküle nahe genug, tritt eine anziehende elektrische Kraft zwischen dem positiven H-Atom des einen Moleküls und des negativen Teils des jeweiligen Partners auf. Das ist eine Wasserstoffbrückenbindung. Da die Wasserstoffbrückenbindung mit nur 17 kJ/mol bis 167 kJ/mol schwächer ist als die Bindungskraft innerhalb eines Moleküls, verbinden sich die Moleküle nicht dauerhaft. Vielmehr bleibt die Wasserstoffbrücke wegen ständiger Bewegung nur Bruchteile einer Sekunde bestehen. Dann lösen sich die Moleküle voneinander, um erneut eine Wasserstoffbrückenbindung mit einem anderen Molekül einzugehen. Dieser Vorgang wiederholt sich ständig. Die Wasserstoffbrückenbindung ist für viele Eigenschaften verschiedener Verbindungen verantwortlich, wie DNA oder Wasser. Bei Letzterem führen diese Bindungen zu den Anomalien des Wassers, insbesondere der Dichteanomalie. == Verwendung == Jedes Jahr werden weltweit mehr als 600 Milliarden Kubikmeter Wasserstoff (rd. 30 Mio. t) für zahllose Anwendungen in Industrie und Technik gewonnen. Wichtige Einsatzgebiete sind: Energieträger: Beim Schweißen, als Raketentreibstoff. Von seiner Verwendung als Kraftstoff für Strahltriebwerke, in Wasserstoffverbrennungsmotoren oder über Brennstoffzellen verspricht man sich, in absehbarer Zeit die Nutzung von Erdölprodukten ablösen zu können (siehe Wasserstoffantrieb), weil bei der Verbrennung vor allem Wasser entsteht, doch kein Ruß und kein Kohlenstoffdioxid. Wasserstoff ist jedoch im Gegensatz zu Erdöl keine Primärenergie. Kohlehydrierung: Durch verschiedene chemische Reaktionen wird Kohle mit H2 in flüssige Kohlenwasserstoffe überführt. So lassen sich Benzin, Diesel und Heizöl künstlich herstellen.Derzeit hat Kohlehydrierung wegen höherer Kosten keine wirtschaftliche Bedeutung. Das kann sich ändern, wenn die Ölvorräte der Erde zur Neige gehen. Kohlehydrierung wird oder wurde in der DDR und in Südafrika erforscht und betrieben, wo es reichlich Kohlevorkommen doch kein Erdöl gibt. Das Reduktionsmittel: H2 kann mit Metalloxiden reagieren und ihnen dabei den Sauerstoff entziehen. Es entsteht Wasser und das reduzierte Metall. Dieses Verfahren der Verhüttung von Erzen und Zwischenprodukten wird genützt um Metalle möglichst rein zu gewinnen, etwa Wolfram. Denn Kohle und Koks bringen Begleitstoffe wie Phosphor und Schwefel ein. Ammoniakherstellung: Mit dem Haber-Bosch-Verfahren wird aus Stickstoff und Wasserstoff Ammoniak hergestellt und daraus wichtige Düngemittel und Sprengstoffe. Fetthärtung: Gehärtete Fette werden aus Pflanzenöl mittels Hydrierung gewonnen. Dabei werden die Doppelbindungen in ungesättigten Fettsäure-Resten der Glyceride mit Wasserstoff abgesättigt. Die entstehenden Fette haben einen höheren Schmelzpunkt, wodurch das Produkt fest wird. Auf diese Weise stellt man Margarine her. Dabei können als Nebenprodukt gesundheitlich bedenkliche trans-Fette entstehen. Lebensmittelzusatzstoff: Wasserstoff ist als E 949 zugelassen und wird (selten) als Treibgas, Packgas u. ä. verwendet. Kühlmittel: Aufgrund seiner hohen Wärmekapazität benutzt man (gasförmigen) Wasserstoff in Kraftwerken und den dort eingesetzten Turbogeneratoren als Kühlmittel. Insbesondere setzt man H2 dort ein, wo eine Flüssigkeitskühlung problematisch werden kann. Die Wärmekapazität kommt dort zum Tragen, wo das Gas nicht oder nur langsam zirkulieren kann. Weil die Wärmeleitfähigkeit ebenfalls hoch ist, verwendet man strömendes H2 zum Abtransport von thermischer Energie in große Reservoire (z. B. Flüsse). In diesen Anwendungen schützt Wasserstoff die Anlagen vor Überhitzung und erhöht die Effizienz. Von Vorteil ist dabei, dass Wasserstoff durch seine geringe Dichte, die in die Reynoldszahl eingeht, bis zu höheren Geschwindigkeiten widerstandsarm laminar strömt als andere Gase. Kryogen: Wegen der hohen Wärmekapazität und des niedrigen Siedepunkts eignet sich flüssiger Wasserstoff als Kryogen, also als Kühlmittel für extrem tiefe Temperaturen. Auch größere Wärmemengen können von flüssigem Wasserstoff gut absorbiert werden, bevor eine merkliche Erhöhung in seiner Temperatur auftritt. So wird die tiefe Temperatur bei äußeren Schwankungen aufrechterhalten. Traggas: In Ballons und Luftschiffen fand Wasserstoff eine seiner ersten Verwendungen. Wegen der leichten Entzündlichkeit von H2-Luft-Gemischen führte dies jedoch wiederholt zu Unfällen. Die größte Katastrophe in diesem Zusammenhang ist wohl das Unglück der „Dixmude“ 1923, am bekanntesten wurde sicherlich die „Hindenburg-Katastrophe“ im Jahr 1937. Wetterballons werden mit Wasserstoff gefüllt, weil dieses Gas zweimal leichter und vielfach kostengünstiger ist als Helium. In der instrumentellen Analytik: so beim Betrieb des Flammenionisationsdetektors (FID) in Gaschromatographen.Die beiden natürlichen Isotope haben spezielle Einsatzgebiete. Deuterium (D = H-2) findet (in Form von schwerem Wasser) in Schwerwasserreaktoren als Moderator Verwendung, d. h. zum Abbremsen der bei der Kernspaltung entstehenden schnellen Neutronen auf thermische Geschwindigkeit. Deuterierte Lösungsmittel werden in der magnetischen Kernresonanzspektroskopie benutzt, da Deuterium einen Kernspin von Eins besitzt und im NMR-Spektrum des normalen Wasserstoff-Isotops nicht sichtbar ist. In der Chemie und Biologie helfen Deuteriumverbindungen bei der Untersuchung von Reaktionsabläufen und Stoffwechselwegen (Isotopenmarkierung), da sich Verbindungen mit Deuterium chemisch und biochemisch meist nahezu identisch verhalten wie die entsprechenden Verbindungen mit Wasserstoff. Die Reaktionen werden von der Markierung nicht gestört, der Verbleib des Deuteriums ist in den Endprodukten dennoch feststellbar. Ferner sorgt der erhebliche Massenunterschied zwischen Wasserstoff und Deuterium für einen deutlichen Isotopeneffekt bei den massenabhängigen Eigenschaften. So hat das schwere Wasser einen messbar höheren Siedepunkt als Wasser. Das radioaktive Isotop Tritium (T = H-3) wird in Kernreaktoren in industriell verwertbaren Mengen hergestellt. Außerdem ist es neben Deuterium ein Ausgangsstoff bei der Kernfusion zu Helium. In der zivilen Nutzung dient es in Biologie und Medizin als radioaktiver Marker. So lassen sich beispielsweise Tumorzellen aufspüren. In der Physik ist es einerseits selbst Forschungsgegenstand, andererseits untersucht man mit hochbeschleunigten Tritiumkernen schwere Kerne oder stellt künstliche Isotope her. Mit Hilfe der Tritiummethode lassen sich Wasserproben sehr genau datieren. Mit einer Halbwertszeit von etwa zwölf Jahren eignet es sich besonders für die Messung relativ kurzer Zeiträume (bis zu einigen hundert Jahren). Unter anderem lässt sich so das Alter eines Weines feststellen. Es findet Verwendung als langlebige, zuverlässige Energiequelle für Leuchtfarben (im Gemisch mit einem Fluoreszenzfarbstoff), vor allem in militärischen Anwendungen, auch in Armbanduhren. Weitere militärische Verwendung findet das Isotop in der Wasserstoffbombe und gewissen Ausführungen von Kernwaffen, deren Wirkung auf Spaltung beruht. === Wasserstoff als Energiespeicher === Wasserstoff gilt als ein Energieträger der Zukunft. ==== Herstellung von Wasserstoff ==== Als Energieträger ist Wasserstoff – wie elektrische Energie – keine Primärenergie, sondern muss wie Strom aus Primärenergie hergestellt werden. Wasserstoff als Energieträger verursacht kein Kohlendioxid, wenn er mit erneuerbaren Energien wie Windenergie oder Sonnenenergie gewonnen wird (sogenannter Grüner Wasserstoff). Biowasserstoff verursacht in der Nettobilanz kein Kohlendioxid, wenn Anbau und Verarbeitung der genutzten Biomasse CO2-neutral erfolgen. Derzeit (2019) erfolgt die Wasserstoff-Herstellung jedoch fast ausschließlich aus fossiler Primärenergie, überwiegend durch Erdgas-Reformierung. Die unter dem Schlagwort „Power-to-Gas“ oft favorisierte Gewinnung durch Wasser-Elektrolyse mit überschüssigem erneuerbaren Strom gilt bei praktisch realisierten Wirkungsgraden von kaum über 60 % als relativ ineffizient und wirtschaftlich nicht konkurrenzfähig gegenüber Reformierung von Erdgas, weil ausreichend billiger Strom-Überschuss tatsächlich nur für einige Stunden im Jahr genutzt werden kann und sich bei so meist geringer Auslastung die erforderliche Anlagen-Technik nur mit hohen Subventionen in Forschungs- und Pilot-Anlagen finanzieren lässt. Das kann sich erst ändern, falls eine künftig überwiegend regenerativ umgestellte Strom-Versorgung noch wesentlich mehr und nicht anderweitig verwertbare Überschüsse abwirft oder aber Erdgas als Rohstoff teurer als regenerative Stromerzeugung werden sollte bzw. mit einer entsprechend hohen CO2-Abgabe belegt wird. ==== Speicherung von Wasserstoff ==== Wasserstoff enthält mehr Energie pro Masse als jeder andere Brennstoff: 141,8 MJ/kg ≈ 39,39 kWh/kg Brennwert. Damit entspricht 1 kg Wasserstoff 3,3 kg Benzin. Der Energiegehalt pro Volumen ist dagegen relativ gering und erreicht selbst in flüssigem Zustand nur 10 MJ/L ≈ 2,79 kWh/L, was nur 31 % der Energie pro Liter Benzin ist. Die technischen Probleme bei der Speicherung von Wasserstoff entstehen vor allem durch dessen hohen Dampfdruck und dessen niedrigen Siedepunkt. Verfahren wie Druck- und Flüssigwasserstoffspeicherung und die Speicherung in Metallhydriden befinden sich im kommerziellen Einsatz. Weitere Verfahren sind noch im Stadium der Entwicklung oder der Grundlagenforschung. Folgende Speichermethoden werden eingesetzt: Speicherung als tiefkalter, flüssiger Wasserstoff in vakuumisolierten Behältern (14,12 L/kg bei 20 K ≈ −253 °C); höchstmögliche Speicherdichte, Verflüssigung energieintensiv. Es entweicht ständig etwas Gas. Speicherung von gasförmigem Wasserstoff in Hochdruck-Behältern (benötigtes Tankvolumen: 55 L/kg bei 200 bar bis 25 L/kg bei 700 bar, 15 °C); keine Kühlung bzw. Wärmeisolation nötig. Einlagerung von Wasserstoff bei geringerem Druck, gebunden in Metallhydriden, Kohlenstoffnanoröhren oder flüssigen organischen Wasserstoff-Trägern (LOHC); höhere Sicherheit, Handhabung vereinfacht. Ein 200 kg schwerer Tank kann nur etwa 2 kg Wasserstoff speichern (entspricht ca. 9 Litern Benzin). Der Wasserstoff muss teilweise durch Wärmezufuhr aus der Bindung gelöst werden, um die volle Kapazität nutzen zu können. ==== Brandlast und Explosionsgefahr ==== Eine lokale Erhitzung eines Drucktanks kann unter der Wirkung des Betriebsdrucks zu einem lokalen mechanischen Versagen, also einer lokalen Perforation der Tankwand führen. Hier ausströmendes Wasserstoffgas kann Ladungstrennung, also elektrostatische Aufladung erzeugen, deren Entladungsfunken ein brennbares Wasserstoff-Luft-Gemisch entzünden kann. Auch andere Zündquellen sind relevant. Die Verbrennung – außerhalb des Tanks – kann explosiv oder als Flamme erfolgen. Durch die gesamtheitliche Erhitzung von Drucktank und Inhalt steigt der Innendruck etwa proportional zur absoluten Temperatur an, bis beim Berstdruck der Tank platzt. Die Arbeitsgemeinschaft der Leiter der Berufsfeuerwehren geht bei wasserstoffbetriebenen Fahrzeugen „[…] davon aus, dass aufgrund der hohen Behältersicherheit ein Feuer gelöscht werden kann, bevor es zum Bersten der Druckgasbehälter kommt.“ Das Platzen eines Tanks aus Metall (Druckgefäß Type 1) kann zum Fragmentieren des Tanks führen, sodass Teile der Tankwand voneinander wegfliegen. Tanks aus Faserverbundwerkstoff (Composites, Type 2 bis 4) werden so konstruiert, dass sie im Fall des Platzens möglichst nur aufreißen, doch zusammenhängend bleiben. Ein Sicherheitsventil soll vor dem Berstdruck ansprechen und Gas ablassen, um den Druck zu reduzieren. Benzin breitet sich im Fall eines Tanklecks am Boden oder auf einer Gewässeroberfläche aus. Benzindampf ist schwerer als Luft, bleibt in Bodennähe konzentrierter und kann in Abflüsse oder tieferliegende Geschosse rinnen. Ausgetretener Wasserstoff hingegen strebt durch den Auftrieb nach oben und kann sich unter der Decke eines geschlossenen Raums ansammeln oder durch Abluftkanäle strömen. Bei einer für Brennstoffzellen-Pkw typischen geringen Speicherkapazität von maximal 5 kg Wasserstoff mit ca. 600 MJ (167 kWh) Heizwert ist die Brandlast geringer als diejenige von 20 Liter Benzin. ==== Energiedichten im Vergleich ==== Auf das Volumen bezogen: Wasserstoff (flüssig, also tiefkalt): 2360 kWh/m³ Benzin: 8760 kWh/m³ Erdgas (20 MPa = 200 bar): 2580 kWh/m³ Wasserstoffgas (20 MPa): 530 kWh/m³ Wasserstoffgas (Normaldruck): 3 kWh/m³ === Kernfusion === ==== Kernfusion in der Sonne und in Sternen ==== Mit Wasserstoffbrennen wird die Kernfusion von Wasserstoff in Helium im Inneren von Sternen bezeichnet. Diese Reaktion stellt in normalen Sternen während des Großteils ihres Lebenszyklus die wesentliche Energiequelle dar. Sie hat trotz ihres historisch bedingten Namens nichts mit einer chemischen Verbrennung zu tun. Der Prozess der Kernfusion kann beim Wasserstoffbrennen auf zwei Arten ablaufen, bei denen auf verschiedenen Wegen jeweils vier Protonen, die Atomkerne des Wasserstoffs, in einen Heliumkern 4He umgewandelt werden: die relativ direkte Proton-Proton-Reaktion der schwere Elemente (Kohlenstoff, Stickstoff, Sauerstoff) nutzende Bethe-Weizsäcker-Zyklus (CNO-Zyklus)Insgesamt wird beim Wasserstoffbrennen etwa 0,73 % der Masse in Energie umgewandelt, was man als Massendefekt bezeichnet. Die aus der Massendifferenz erzeugte Energie ergibt sich aus der einsteinschen Beziehung E = mc². Sie resultiert aus der Kernbindungsenergie der Nukleonen, der Kernbausteine. ==== Fusionswaffen ==== 1952 testeten die Vereinigten Staaten die erste Wasserstoffbombe. Brennstoff war das Isotop Deuterium. In der Bombe liefen vor allem folgende Kernreaktionen ab: D + D → 3 H e + n + 3,268 9 M e V {\displaystyle \mathrm {D+D\rightarrow \,^{3}He+n+3{,}2689\,MeV} } D + D → T + p + 4,032 7 M e V {\displaystyle \mathrm {D+D\rightarrow T+p+4{,}0327\,MeV} } Das entstandene Tritium und Helium-3 können noch weiter reagieren: T + D → 4 H e + n + 17,588 M e V {\displaystyle \mathrm {T+D\rightarrow \,^{4}He+n+17{,}588\,MeV} } 3 H e + D → 4 H e + p + 18,353 M e V {\displaystyle \mathrm {\,^{3}He+D\rightarrow \,^{4}He+p+18{,}353\,MeV} } In Summe entstehen aus drei Deuteronen ein Heliumkern sowie ein Neutron und ein Proton. Da Deuterium wie Wasserstoff schwer zu speichern ist, wird bei den meisten Fusionswaffen inzwischen auf Lithium-Deuterid (LiD) als Brennstoff zurückgegriffen. Durch die bei der Primärreaktion von Deuterium entstehenden Neutronen wird aus dem Lithium Tritium erbrütet: n + 6 L i → 4 H e + T {\displaystyle \mathrm {n+\,^{6}Li\rightarrow \,^{4}He+T} } n + 7 L i → 4 H e + T + n {\displaystyle \mathrm {n+\,^{7}Li\rightarrow \,^{4}He+T+n} } ==== Fusionsreaktoren ==== Physiker forschen an einer friedlichen Nutzung der Kernverschmelzung zur Energiegewinnung in Kernfusionsreaktoren. Am weitesten fortgeschritten sind Versuche, die Reaktion in einem Plasma kontrolliert ablaufen zu lassen. Die dazu nötigen sehr hohen Temperaturen sind schwierig zu realisieren. Anders als Wasserstoffbomben werden Reaktoren voraussichtlich nur die Deuterium-Tritium-Reaktion zur Energiegewinnung nutzen können. == Biologische Bedeutung == Wasserstoff ist in Form verschiedenster Verbindungen essentiell für alle bekannten Lebewesen. An vorderster Stelle zu nennen ist hier Wasser, welches als Medium für alle zellulären Prozesse und für alle Stofftransporte dient. Zusammen mit Kohlenstoff, Sauerstoff, Stickstoff (und seltener auch anderen Elementen) ist er Bestandteil derjenigen Moleküle aus der organischen Chemie, ohne die jegliche uns bekannte Form von Leben schlicht unmöglich ist. Wasserstoff spielt im Organismus aktive Rollen, so bei einigen Koenzymen wie Nicotinamid-Adenin-Dinucleotid (NAD/NADH), die als Reduktionsäquivalente (oder „Protonentransporter“) im Körper dienen und bei Redoxreaktionen mitwirken. In den Mitochondrien, den Kraftwerken der Zelle, dient die Übertragung von Wasserstoffkationen (Protonen) zwischen verschiedenen Molekülen der so genannten Atmungskette dazu, einen Protonengradienten durch chemiosmotisches Membranpotenzial zur Generierung von energiereichen Verbindungen wie Adenosintriphosphat (ATP) bereitzustellen. Bei der Photosynthese in Pflanzen und Bakterien wird der Wasserstoff aus dem Wasser dazu benötigt, das fixierte Kohlendioxid in Kohlenhydrate umzuwandeln. Bezogen auf die Masse ist Wasserstoff im menschlichen Körper das drittwichtigste Element: Bei einer Person mit einem Körpergewicht von 70 kg, sind rund 7 kg (= 10 Gew.-%) auf den enthaltenen Wasserstoff zurückzuführen. Nur Kohlenstoff (ca. 20 Gew.-%) und Sauerstoff (ca. 63 Gew.-%) machen einen noch größeren Gewichtsanteil aus. Bezogen auf die Anzahl der Atome ist der sehr leichte Wasserstoff sogar das mit Abstand häufigste Atom im Körper eines jeden Lebewesens (die 7 kg beim Menschen entsprechen 3,5·103 Mol Wasserstoff mit je 2·6·1023 Atomen, das sind rund 4,2·1027 Wasserstoffatome). == Medizinische Bedeutung == In biologischen Systemen reagiert molekularer Wasserstoff mit reaktiven Sauerstoffspezies und wirkt so als Antioxidans. Im Tierversuch führt die Anreicherung von Trinkwasser mit molekularem Wasserstoff nach Nierentransplantation zu einem besseren Überleben des Transplantates, zu einem verminderten Auftreten einer chronischen Schädigung des Transplantates, zu einer Verminderung der Konzentration an reaktiven Sauerstoffspezies und zu einer Hemmung von Signalwegen, welche die entzündliche Aktivität verstärken (proinflammatorische Signalwege). == Bedeutung im Leistungssport == Aufgrund der Wirkung als Antioxidans hat Wasserstoff eine leistungssteigernde Wirkung bei anaeroben Belastungen. Er kann sowohl niedrig dosiert im Training über einen längeren Zeitraum verwendet werden als auch hochdosiert unmittelbar vor bzw. während des Wettkampfes, z. B. in Halbzeitpausen. Er kann sowohl zum unmittelbaren Gebrauch Getränken beigefügt werden als auch in Gasform ähnlich wie bei Sauerstoff z. B. über eine Maske eingeatmet werden. Nur die intravenöse Verabreichung ist durch die Anti-Doping-Bestimmungen verboten. == Klimaschädlichkeit == Da Wasserstoff ein sehr reaktionsfreudiges Gas ist, können durch Freisetzung von Wasserstoff Kohlenwasserstoff-Verbindungen entstehen, die sich klimaschädlich auswirken. Bei reinem Wasserstoff ist daher darauf zu achten, dass sich dieser in geschlossenen Kreisläufen bewegt, direkt genutzt wird, in Druckkesseln gespeichert oder in geschlossenen Druckkesseln oder Rohrleitungen transportiert wird und nicht direkt in die Erdatmosphäre gelangt. Der Treibhauseffekt soll deutlich gravierender sein als der von CO2. Die Schätzungen reichen vom 1,9 bis zum 44fachen. Wasserstoff absorbiert keine Infrarotstrahlung und ist somit kein direktes Klimagas. Wenn Wasserstoff als Gas in die Atmosphäre gelangt, kann er allerdings mit anderen Gasen und Dämpfen reagieren und so deutliche Erwärmungseffekte produzieren. Laut einer von der britischen Regierung in Auftrag gegebenen Studie soll eine Tonne Wasserstoff über einen Zeitraum von 100 Jahren die Atmosphäre der Erde etwa elf Mal so stark wie eine Tonne CO2 erwärmen. Dennoch seien auch in den pessimistischsten Szenarien die Effekte weit weniger gravierend als diejenigen, die das durch die Maßnahmen eingesparte CO2 haben würde. Trotz der klimaschädlichen Wirkung wird H2 dennoch nicht in der Liste der Klimagase des Pariser Klimaschutzabkommens und den Inventaren der Klimarahmenkonventionen §12 aufgeführt. Es kann deshalb nicht in nationalen Klimabilanzen verrechnet werden. == Sicherheitshinweise == Wasserstoff ist extrem entzündbar (alte Bezeichnung: hochentzündlich). Er brennt mit reinem Sauerstoff oder Luft sowie mit anderen gasförmigen Oxidationsmitteln wie Chlor oder Fluor mit heißer Flamme. Da die Flamme kaum sichtbar ist, kann man unabsichtlich hinein geraten. Gemische mit Chlor oder Fluor sind schon durch Ultraviolettstrahlung entzündbar (siehe Chlorknallgas). Außer der nach GHS vorgeschriebenen Kennzeichnung (siehe Info-Box) müssen H2-Druckgasflaschen nach DIN EN 1089-3 mit roter Flaschenschulter und rotem Flaschenkörper versehen sein. Wasserstoff ist nicht als gesundheitsschädlich oder umweltgefährdend eingestuft. Daher ist kein AGW-Wert festgelegt. Atem- oder Hautschutz sind nicht erforderlich. Erst wenn hohe Konzentrationen eingeatmet werden, können durch den Mangel an Sauerstoff ab etwa 30 Vol.-% Bewegungsstörungen, Bewusstlosigkeit und Ersticken auftreten. Durch rasch austretendes Gas können bei Kontakt mit der Haut Kälteverbrennungen auftreten. Gemische aus Luft mit einem Volumenanteil von 4 % bis 76 % Wasserstoff sind entzündbar. Ab einem Volumenanteil von 18 % in Luft ist das Gemisch explosiv (Knallgas). Aufgrund der hohen Diffusionsneigung und der geringen Dichte verflüchtigt sich Wasserstoff in offener Umgebung häufig, bevor es zur Bildung eines explosiven Gemischs kommt, oder brennt in heißen Umgebungen beim Erreichen der Konzentrationsgrenze von 4 % ab. Die Zündtemperatur in Luft beträgt 560 °C. Bei der Handhabung ist der Wasserstoff von Zündquellen, dazu gehören elektrostatische Entladungen, fernzuhalten. Die Lagerung der Behälter sollte fern von oxidierenden Gasen (Sauerstoff, Chlor) und anderen oxidierenden (brandfördernden) Stoffen erfolgen. Wasserstoff kann wegen seiner geringen Größe durch viele Feststoffe hindurchdiffundieren, das heißt, Gas kann langsam durch ungeeignete Materialien austreten. Die für Gastanks und Leitungen verwendeten Materialien und ‑stärken berücksichtigen dies, sodass keine größeren Risiken bestehen als z. B. bei der Verwendung von Benzin. Wasserstofffahrzeuge mit Drucktanks können problemlos in Parkhäusern und Tiefgaragen geparkt werden. Es existiert keine gesetzliche Bestimmung, die das einschränkt (siehe dazu: Wasserstoffspeicherung). == Nachweis == Molekularen Wasserstoff kann man durch die Knallgasprobe nachweisen. Bei dieser Nachweisreaktion wird eine kleine, beispielsweise während einer Reaktion aufgefangene Menge eines Gases in einem Reagenzglas entzündet. Wenn danach ein dumpfer Knall, ein Pfeifen oder ein Bellen zu hören ist, so ist der Nachweis positiv (das heißt, es war Wasserstoff in dem Reagenzglas). Der Knall kommt durch die Reaktion von Wasserstoffgas mit dem Luftsauerstoff zustande: 2 H 2 + O 2 → 2 H 2 O {\displaystyle \mathrm {2\ H_{2}+O_{2}\rightarrow 2\ H_{2}O} } (exotherme Reaktion) Wasserstoff reagiert mit Sauerstoff zu WasserMit der gleichen Reaktion verbrennt Wasserstoff mit einer schwach bläulichen Flamme, wenn man ihn gleich an der Austrittsstelle entzündet (Pfeifgas). Die Knallgasprobe ist die „klassische“ Methode zum Nachweis und ist besonders in Schulversuchen beliebt. == Verbindungen == Wasserstoff geht mit den meisten chemischen Elementen Verbindungen mit der allgemeinen Summenformel EHn (n = 1, 2, 3, 4) ein. Einige wenige dieser Elementwasserstoffe sind nur in Form so genannter Addukte bekannt, wie Lm · EHn (L steht für einen Liganden). Die Folgende Abbildung bietet eine Übersicht über wichtige Grundreaktionen des Wasserstoffs. Auf genaue Reaktionsbedingungen und Stöchiometrie ist hier nicht geachtet. Wasserstoff kann in Verbindungen sowohl positive als auch negative Ladungsanteile tragen. Das ist abhängig davon, ob der Bindungspartner eine höhere oder eine niedrigere Elektronegativität als Wasserstoff (2,2) besitzt. Zwischen den beiden Verbindungstypen lässt sich im Periodensystem keine scharfe Grenze ziehen, da zum Beispiel das Säure-Base-Verhalten mit berücksichtigt werden muss. Eine mehr oder weniger willkürliche Betrachtung besagt, dass in den Wasserstoffverbindungen der Elemente Bor, Silicium, Germanium, Zinn und Blei sowie allen links davon der Wasserstoff negativ polarisiert ist, in Verbindungen mit Kohlenstoff, Phosphor, Arsen, Antimon, Bismut und allen Elementen rechts davon positiv. Entsprechend lässt sich bei Monosilan (SiH4) die Oxidationszahl für Silicium auf +4 (Wasserstoff dementsprechend −1), in Methan (CH4) für Kohlenstoff auf −4 (Wasserstoff +1) festlegen. Zur Darstellung von Wasserstoffverbindungen EHn werden hauptsächlich drei verschiedene Verfahren genutzt: Die Umsetzung des entsprechenden Elements E mit Wasserstoff (H2; Hydrogenolyse) 1 x E x + n 2 H 2 ⇄ E H n {\displaystyle {\frac {1}{x}}\ \mathrm {E} _{x}+{\frac {n}{2}}\ \mathrm {H} _{2}\ \rightleftarrows \ \mathrm {EH} _{n}} Ein Element reagiert mit Wasserstoff bei Energiezufuhr zum entsprechenden Elementwasserstoff.Die Reaktion von Metallverbindungen des Typs MnE mit Wasserstoffsäuren (H+; Protolyse) M n E + n H A ⇄ n M A + E H n {\displaystyle \mathrm {M} _{n}\mathrm {E} +n\ \mathrm {HA} \ \rightleftarrows \ n\ \mathrm {MA} +\mathrm {EH} _{n}} Eine Metallverbindung des Elements E reagiert mit einer Säure HA zum Elementwasserstoff und einem Metallsalz.Die Umsetzung von Halogenverbindungen (EHaln) mit Hydriden (H−; Hydridolyse) E H a l n + n H − ⇄ n H a l − + E H n {\displaystyle \mathrm {EHal} _{n}+n\ \mathrm {H} ^{-}\ \rightleftarrows \ n\ \mathrm {Hal} ^{-}+\mathrm {EH} _{n}} Hydridionen setzen aus einer Halogenverbindung des Elements E den entsprechenden Elementwasserstoff frei. === Salzartige Verbindungen === In Verbindung mit Metallen kann Wasserstoff jeweils ein Elektron aufnehmen, so dass negativ geladene Wasserstoffionen (Hydridionen, H−) entstehen, die mit Metallkationen Salze bilden. Diese Verbindungen werden Hydride genannt. Salzartige Elementwasserstoffe sind von den Alkali- und, mit Ausnahme von Beryllium, den Erdalkalimetallen bekannt. Außerdem zählt man die Dihydride des Europiums und Ytterbiums (EuH2 und YbH2) dazu. Metallhydride reagieren sehr heftig mit Wasser unter Freisetzung von molekularem Wasserstoff (H2) und können sich an der Luft selbst entzünden, wobei sich Wasser und das Metalloxid bilden. In der Mehrzahl sind sie aber nicht explosiv. Minerale, die (an Sauerstoff gebundenen) Wasserstoff enthalten, sind Hydrate oder Hydroxide. === Metallartige Verbindungen === In metallartigen Wasserstoffverbindungen – mit wenigen Ausnahmen sind das die Übergangsmetallhydride – ist atomarer Wasserstoff in der entsprechenden Metallstruktur eingelagert. Man spricht in diesem Fall auch von Wasserstoff-Einlagerungsverbindungen, obwohl sich bei der Aufnahme des Wasserstoffs die Struktur des Metalls ändert (was eigentlich nicht der Definition für Einlagerungsverbindungen entspricht). Das Element besetzt die oktaedrischen und tetraedrischen Lücken in den kubisch- bzw. hexagonal-dichtesten Metallatompackungen. Die Löslichkeit von Wasserstoff steigt mit zunehmender Temperatur. Man findet jedoch selbst bei Temperaturen über 500 °C selten mehr als einen Stoffmengenanteil von 10 % Wasserstoff im betreffenden Metall. Am meisten Wasserstoff können die Elemente Vanadium, Niob und Tantal aufnehmen. Bei Raumtemperatur sind folgende Stöchiometrien zu beobachten: VH0,05, NbH0,11 und TaH0,22. Ab 200 °C findet man bei diesen Metallen eine 1:1-Stöchiometrie (MH) vor. Das kubisch-raumzentrierte Kristallgitter bleibt dabei unangetastet. === Kovalente Verbindungen === Verbindungen, bei denen Wasserstoff der elektropositivere Partner ist, haben einen hohen kovalenten Anteil. Als Beispiele seien Fluorwasserstoff (HF) oder Chlorwasserstoff (HCl) genannt. In Wasser reagieren diese Stoffe als Säuren, da der Wasserstoff sofort als Proton (H+-Ion) von umgebenden Wassermolekülen abgespalten werden kann. Isolierte H+-Ionen verbinden sich in wässriger Lösung sofort mit Wassermolekülen zu H3O+-Ionen; dieses Ion ist verantwortlich für die saure Eigenschaft von wässrigen Chlorwasserstofflösungen. ==== Säure-Base-Verhalten ==== Die kovalenten Wasserstoffverbindungen der Elemente der IV. bis VII. Hauptgruppe des Periodensystems sowie Borwasserstoffe sind Säuren nach der Definition von Johannes Nicolaus Brønsted, geben also Protonen an andere Verbindungen ab. E H n ⇄ E H n − 1 − + H + {\displaystyle \mathrm {EH} _{n}\ \rightleftarrows \ \mathrm {EH} _{n-1}^{-}+\mathrm {H} ^{+}} Die Säurestärke der Verbindungen nimmt dabei in den Hauptgruppen von oben nach unten und in den Perioden von links nach rechts zu. Ebenso steigt sie mit der Zahl der Element-Element-Bindungen bei Wasserstoffverbindungen eines bestimmten Elements. So ist zum Beispiel Wasser (H2O) eine schwächere Säure als Wasserstoffperoxid (H2O2), Ethan (C2H6) in der Säurestärke schwächer als Ethen (C2H4) und Ethin (C2H2). Umgekehrt können kovalente Elementwasserstoffe als Basen fungieren. Wasserstoffverbindungen der Elemente aus Hauptgruppe V bis VII können Protonen aufnehmen, da sie über freie Elektronenpaare verfügen. E H n + H + ⇄ E H n + 1 + {\displaystyle \mathrm {EH} _{n}+\mathrm {H} ^{+}\ \rightleftarrows \ \mathrm {EH} _{n+1}^{+}} Ursache für die Acidität oder Basizität einer wässrigen Lösung ist die Stoffmengenkonzentration an Protonen (H+-Ionen). Den negativen dekadischen Logarithmus dieser Konzentration nennt man pH-Wert. Zum Beispiel bedeutet eine Konzentration von 0,001 mol H+-Ionen pro Liter Wasser „pH 3,0“. Dieses Beispiel trifft auf eine Säure zu. Wasser ohne jeden Zusatz hat bei Normalbedingungen den pH 7, Basen haben pH-Werte bis 14. ==== Oxide ==== Wasserstoffoxide (auch Hydrogeniumoxide) sind Verbindungen, die nur aus Wasserstoff und Sauerstoff bestehen. Von größter Wichtigkeit ist das Wasser (Wasserstoffoxid); von technischer Bedeutung ist daneben Wasserstoffperoxid, früher Wasserstoffsuperoxid genannt. Ein weiteres, aber selteneres Oxid ist das Dihydrogentrioxid. Von außerordentlicher Bedeutung für alles Leben auf der Erde sind auch Alkohole und Saccharide sowie Carbonsäuren, die (nur) Wasserstoff, Sauerstoff und Kohlenstoff enthalten. ==== Kohlenwasserstoffe ==== Wasserstoff bildet mit Kohlenstoff die kovalenten Kohlenwasserstoffe, deren Studium sich die Kohlenwasserstoffchemie verschrieben hat. == Siehe auch == Grüner Wasserstoff Natürlicher Wasserstoff == Literatur == Chemie Erwin Riedel: Anorganische Chemie. de Gruyter, Berlin 2002, ISBN 3-11-017439-1. A. F. Holleman, E. Wiberg, N. Wiberg: Lehrbuch der Anorganischen Chemie. 102. Auflage. Walter de Gruyter, Berlin 2007, ISBN 978-3-11-017770-1, S. 259–296. Harry H. Binder: Lexikon der chemischen Elemente – das Periodensystem in Fakten, Zahlen und Daten. S. Hirzel Verlag, Stuttgart 1999, ISBN 3-7776-0736-3.Technik Peter Kurzweil: Brennstoffzellentechnik. 1. Auflage. Vieweg Verlag, Wiesbaden 2003, ISBN 3-528-03965-5. Udo Schelling: Brennstoffzellen. In: Richard Zahoransky (Hrsg.): Energietechnik. 5., überarb. u. erw. Auflage. Vieweg+Teubner Verlag, Wiesbaden 2010, ISBN 978-3-8348-1207-0, S. 203ff. Helmut Eichlseder, Manfred Klell: Wasserstoff in der Fahrzeugtechnik. 1. Auflage. Vieweg+Teubner Verlag, Wiesbaden 2008, ISBN 978-3-8348-0478-5. Rex A. Ewing: Hydrogen – A Journey Into a World of Hydrogen Energy and Fuel Cells. Pixyjack Press, Masonville CO 2004, ISBN 0-9658098-6-2.Bedeutung Hoimar von Ditfurth: Im Anfang war der Wasserstoff. dtv, München 2002, ISBN 3-423-33015-5. == Weblinks == Linkkatalog zum Thema Wasserstoff bei curlie.org (ehemals DMOZ) Eine Wasserstoff- und Deuterium-Spektralröhre Betrieb mit 1,8 kV, 18 mA und einer Frequenz von 35 kHz. == Einzelnachweise ==
https://de.wikipedia.org/wiki/Wasserstoff
Blüte
= Blüte = Die Blüte einer Pflanze ist ein nach Eintritt der Blühreife zu beobachtender unverzweigter Kurzspross mit begrenztem Wachstum, dessen Blätter indirekt oder direkt im Dienst der geschlechtlichen Fortpflanzung stehen: indirekt als Schutz- oder Anlockungsorgane (Blütenhülle), direkt durch die Bildung der Fortpflanzungsorgane (Staubblätter und Fruchtblätter). Häufig wird unter Blüte nur die Blüte der Angiospermen verstanden, denn sie sind die Blütenpflanzen im engeren Sinne. Dennoch haben auch die Gymnospermen Blüten bzw. Blütenstände. Eine Angiospermen-Blüte besteht aus folgenden Bestandteilen (die jedoch nicht alle vertreten sein müssen): die Blütenachse (Blütenboden), aus der die Blütenorgane entspringen: eine Blütenhülle (Perianth) als Perigon oder getrennt in eine Kelch- und Kronblatthülle, das Androeceum aus Staubblättern und das Gynoeceum aus Fruchtblättern. Die Staubblätter bilden den Pollen, der bei der Bestäubung auf die Narbe der Fruchtblätter gelangt, dort auskeimt und die im Fruchtblatt gelegenen Samenanlagen befruchtet, genauer die in der Samenanlage befindliche Eizelle (Befruchtung). Die befruchtete Eizelle entwickelt sich zum pflanzlichen Embryo, die Samenanlage entwickelt sich zum Samen und die gesamten verbleibenden Teile der Blüte werden zur Frucht. Blüten, die nur Fruchtblätter enthalten, bezeichnet man umgangssprachlich als „weiblich“, solche, die nur Staubgefäße enthalten, als „männlich“ und Blüten, die sowohl Staubblätter als auch Fruchtblätter haben, als zweigeschlechtliche oder zwittrige Blüten (Siehe unten: Geschlechtigkeit). == Definitionen == Die weit gefasste Definition von Blüte (von mittelhochdeutsch/althochdeutsch bluot mit dem Plural blüete), wie sie häufig in der botanischen Fachliteratur vorkommt, schließt teilweise explizit oder implizit die Blüten der Nacktsamer mit ein. Nur selten wird durch Nennung der Teile in der Definition diese implizit auf die Angiospermen beschränkt. Im Strasburger – Lehrbuch der Botanik wird in Bezug auf alle Samenpflanzen von deren Blüten gesprochen, wenn auch mit Einschränkungen: „Die Sporophylle stehen bei den Spermatophytina fast immer an Kurzsprossen mit begrenztem Wachstum. Solche […] Strukturen können als Blüten bezeichnet werden, auch wenn dieser Begriff meist nur für die primär zwittrigen Sporophyllstände der Angiospermen und möglicherweise eng verwandter fossiler Samenpflanzen verwendet wird.“ Auch das Lexikon der Biologie definiert die Blüte kurz als „ein Kurzsproß mit begrenztem Wachstum, der die Sporophylle trägt“. Fossile Vertreter außerhalb der Samenpflanzen, die Blüten bildeten, sind die Bennettitales und Caytoniales. Der Definition der Blüte entsprechen zwar auch die Sporophyllstände der Bärlappe und Schachtelhalme, diese werden hier aber nicht näher behandelt. Im englischsprachigen Raum wird Blüte (botanisch: flower) meist enger als Angiospermen-Blüte definiert, z. B.: „verkürzte, zwittrig reproduktive Sprossachse mit begrenztem Wachstum, die aus Megasporangien (Fruchtblättern) und Mikrosporangien (Staubblättern) und einer sterilen Blütenhülle aus zumindest einem sterilen, flächigen Organ besteht.“ == Morphologie == Die einzelnen Blütenorgane sind bei den Angiospermen innerhalb der Blüte in einer festgelegten Reihenfolge von unten nach oben, beziehungsweise, da die Blütenachse ja gestaucht ist, von außen nach innen angeordnet. In dieser Reihenfolge werden sie auch ontogenetisch (im Laufe der Blütenbildung) angelegt. === Blütenachse === An der Blütenachse (Blütenboden oder Receptaculum) setzen die Blütenblätter an. Sie kann gestaucht, gestreckt und unterschiedlich geformt sein. Es können einzelne oder mehrere Wirtel durch interkalare Meristeme emporgehoben werden: Beispielsweise beim Kapernstrauch wird das Gynoeceum emporgehoben (Gynophor), bei den Passionsblumen stehen Gynoeceum und Androeceum erhaben (Androgynophor), und bei vielen Nelkengewächsen sind die Krone, das Androeceum das Gynoeceum emporgehoben (Anthophor). Es können auch ringförmige Bereiche um das Zentrum herum emporgehoben werden. Ein Beispiel ist ein Stamen-Corollentubus, wie er bei vielen Korbblütlern typisch ist, oder der Kelch-Kronbecher vieler Kürbisgewächse. Eine verbreiterte Blütenachse heißt Blütenbecher (Hypanthium). Werden alle Teile außer dem Fruchtknoten emporgehoben, entsteht eine Blütenröhre, welche die Blütenhülle und die Staubblätter trägt. Es entsteht ein perigyner Blütenbecher. Der Fruchtknoten wird dann als mittelständig bezeichnet. Ein oberständiger Fruchtknoten steht frei auf der Blütenachse. Wenn bei einem Blütenbecher die Außenseiten der Fruchtblätter miteinbezogen werden, entsteht ein unterständiger Fruchtknoten, das bedeutet er steht unterhalb der Blütenhülle so beispielsweise bei den Rosen. === Blütenhülle === Die Blütenhülle (Perianth) sind sterile Blätter, die jedoch eindeutig zur Blüte gehören. Eine Blütenhülle wird nur von Gnetopsida und Angiospermen gebildet. Sind alle Blütenhüllblätter einheitlich gestaltet (homoiochlamydeisch), wird die Blütenhülle als Perigon oder einfaches Perianth bezeichnet, die Blätter als Tepalen (etwa bei der Tulpe). Dabei kann das Perigon aus einem Kreis (haplo- oder monochlamydeisch), zwei oder mehr Kreisen oder mehreren Schraubenumläufen bestehen; mehrfaches Perigon. Ein doppeltes Perianth (di-, heterochlamydeische Blüten) besteht aus ungleichartigen Blütenhüllblättern. Die äußeren, meist grünen sind die Kelchblätter (Sepalen) und bilden den Kelch (Calyx), die inneren, häufig auffallend gefärbten Blätter sind die Kronblätter (Petalen) und bilden die Krone (Corolla). Die evolutive Herkunft der Blütenhülle wird je nach Verwandtschaftsgruppe aus Hochblättern oder aus Staubblättern gedeutet. === Mikrosporophylle === Mikrosporophylle sind sporangientragende Blätter. In den Sporangien (Pollensäcken) werden die männlichen Mikrosporen gebildet. Die Mikrosporophylle sind je nach Samenpflanzengruppe sehr unterschiedlich ausgebildet, und eine Homologie zu den Blättern (φύλλον phýllon „Blatt“) ist nicht gänzlich geklärt. Neutraler könnten sie daher auch Mikrosporangienträger genannt werden. Beim Ginkgo ist das Mikrosporophyll ein Stiel, an dessen Spitze zwei Pollensäcke hängen; die Mikrosporophylle stehen zu vielen schraubig an der Blütenachse. Bei den Koniferen ist die männliche Blüte zapfenartig und besteht aus vielen meist schraubig angeordneten Mikrosporophyllen; an jedem Mikrosporophyll stehen zwei bis 20 Pollensäcke. Bei den Palmfarnen (Cycadeen) sind die Mikrosporophylle schuppenförmig und tragen fünf bis 1000 Pollensäcke; die Mikrosporophylle stehen in der männlichen Blüte schraubig. Bei der Welwitschie tragen die sechs miteinander verwachsenen Mikrosporophylle je drei Pollensäcke. Bei Gnetum trägt das einzige Mikrosporophyll ein oder zwei endständige Pollensäcke. Bei Ephedra ist das Mikrosporophyll häufig gegabelt und trägt zwei bis acht Gruppen von meist zwei verwachsenen Pollensäcken. Die Mikrosporophylle der Angiospermen werden Staubblätter (Stamina) genannt. Ein Staubblatt ist meist in den Staubfaden (Filament) und den Staubbeutel (Anthere) gegliedert. Letzterer besteht aus zwei durch das Konnektiv verbundenen Theken zu je zwei Pollensäcken. Die Gesamtheit der Staubblätter wird Androeceum genannt. Die Anzahl der Staubblätter pro Blüte beträgt zwischen einem und rund 2000 Stück. === Megasporophylle === Die Megasporophylle tragen die für Samenpflanzen charakteristischen Samenanlagen, in deren Innerem die eigentlichen weiblichen Fortpflanzungsorgane liegen, welche die pflanzlichen Eizellen enthalten. Auch die Megasporophylle könnten neutraler als Megasporangienträger bezeichnet werden. Nur bei den Angiospermen heißen die Megasporophylle Fruchtblätter. Bei den Palmfarnen stehen die Samenanlagen eindeutig auf Blättern, sie sind phyllospor. Das schuppen- oder schildförmige Megasporophyll ist deutlich gestielt und trägt am unteren Rand der Spreite zwei Samenanlagen, bei Cycas sind es bis zu acht Samenanlagen entlang der Rhachis. Bei den Koniferen befinden sich ein bis 20 Samenanlagen auf der Oberfläche einer flächig ausgebildeten Samenschuppe. Die Samenschuppe ist ein modifizierter Kurztrieb. Selten stehen die Samenanlagen bei Koniferen endständig an Kurztrieben, wie bei der Eibe (Taxus). Ginkgo bildet an der Spitze eines gegabelten Stieles zwei Samenanlagen. Die Gnetopsida bilden pro Blüte nur eine endständige Samenanlage. Bei den Angiospermen sind die Samenanlagen in das Fruchtblatt (Karpell) eingeschlossen, daher auch der Name „Bedecktsamer“. Die Gesamtheit der Fruchtblätter bildet das Gynoeceum. Die Anzahl der Fruchtblätter pro Blüte liegt zwischen einem und rund 2000. Meist gliedert sich ein Fruchtblatt in eine Stielzone und eine Schlauchzone, der hohle Bereich, in dem die Samenanlagen liegen (auch Ovar genannt). Die Samenanlagen setzen an Plazenten an. Darüber schließt sich häufig ein Griffel an, an dem sich die Narbe befindet, die Empfängnisfläche für den Pollen. Die Narbe ist durch einen Transmissionskanal oder -gewebe mit den Samenanlagen verbunden. Die Fruchtblätter können frei sein (apokarpes oder chorikarpes Gynoeceum) oder miteinander verwachsen sein (coenokarp). Bei einem verwachsenen Gynoeceum spricht man von einem Stempel (Pistill). Sterile Blüten besitzen höchstens reduzierte Staub- und Fruchtblätter und haben häufig die Funktion eines Schauapparates. === Nektarien === Nektarien sind Drüsen, die Nektar als Lockspeise für die Blütenbestäuber bilden. Dieser besteht meist aus einer Zuckerlösung, die auch Proteine, Aminosäuren und Vitamine enthalten kann. Seltener werden Öle gebildet (etwa beim Gilbweiderich, Lysimachia). Nektarien können von der Blütenhülle, den Staubblättern, dem Fruchtknoten, der Blütenachse, aber auch außerhalb der eigentlichen Blüte (extrafloral) gebildet werden. === Stellung und Anordnung === Die Blütenblätter können je nach Blattstellung (Phyllotaxis) an der Blütenachse schraubig (azyklisch) oder wirtelig (zyklisch) angeordnet sein. Eine schraubige Anordnung wird vielfach als primitives Merkmal angesehen und sie ist häufig mit einer höheren Anzahl an Blütenblättern verbunden. Der Winkel zwischen zwei aufeinanderfolgenden Blättern ist meist nahe dem des Goldenen Schnitts von rund 137,5°. Häufig ist auch nur ein Teil der Blütenblätter schraubig, während die inneren Blütenblätter wirtelig angeordnet sind. Diese Blüten werden als spirozyklisch oder hemizyklisch bezeichnet. Ein Übergang von schraubig zu wirtelig entsteht dadurch, dass wie bei der Yulan-Magnolie (Magnolia denudata) nach jeweils drei Blättern eine Pause in der Blattbildung eintritt, so dass in Annäherung dreizählige Wirtel entstehen. Auch bei vielen wirteligen Blüten ist in der Entwicklung eine schraubige Reihenfolge der Blattbildung zu erkennen, die Blätter eines Kreises stehen jedoch so eng beisammen, dass ein Wirtel entsteht. Bei der wirteligen Stellung steht in jedem Wirtel oder Kreis nur eine Art von Blütenblättern. Mit der wirteligen Stellung geht auch eine Reduktion der Anzahl der Blütenblätter einher (oligomere Kreise). Die meisten wirteligen Zwitterblüten besitzen vier (tetrazyklische Blüte) oder fünf (pentazyklisch) Wirtel: ein Kelchblatt-, ein Kronblatt-, ein oder zwei Staubblatt- und ein Fruchtblatt-Wirtel. Bei den meisten Angiospermen ist auch die Zahl der Blätter pro Wirtel fixiert, man spricht dann dementsprechend von zwei-, drei-, vier- oder fünfzähligen Blüten. Besitzen alle Kreise die gleiche Anzahl an Gliedern, ist die Blüte isomer (etwa bei der Tulpe), ist dies nicht der Fall, ist die Blüte heteromer. Die Blätter übereinander stehender Wirtel stehen meist auf Lücke (Alternanzprinzip), das heißt die Glieder des nächstinneren Wirtels stehen in der Lücke zwischen zwei Gliedern des vorhergehenden Wirtels. Bei pentazyklischen Blüten tritt häufig der Fall auf, dass der innere Staubblattkreis durch den Fruchtknoten nach außen gedrängt wird und so scheinbar zum äußeren wird. Dieses Phänomen heißt Obdiplostemonie. Alle Blütenblätter können mit ihresgleichen oder auch mit anderen mehr oder weniger verwachsen sein. Können durch eine Blüte mehr als drei Symmetrieebenen gelegt werden, so ist sie radiärsymmetrisch (wie die Tulpe). Bei zwei Symmetrieebenen ist sie disymmetrisch, etwa bei Dicentra. Eine Symmetrieebene haben zygomorphe (dorsiventrale) Blüten. Meist liegt diese Symmetrieebene in der Medianebene der Blüte (verläuft also durch Tragblatt und Sprossachse des Tragblattes), wie bei den Lippenblütlern, seltener senkrecht zur Medianebene, etwa beim Lerchensporn. Asymmetrische Blüten besitzen keine Symmetrieebene. Streng genommen zählen auch schraubige Blüten hierzu, die jedoch meist als radiärsymmetrisch angesehen werden. Die Verhältnisse der Blütenteile zueinander können in Blütendiagrammen grafisch oder in Blütenformeln dargestellt werden. Häufig sind mehrere oder viele Einzelblüten zu Blütenständen vereinigt. === Geschlechtigkeit === Die für die Angiospermen ursprüngliche Form sind zwittrige Blüten. Daneben gibt es eingeschlechtige Blüten („getrenntgeschlechtig“), die Organe des anderen Geschlechts sind als Rudimente meist ebenfalls vorhanden: Es gibt staminate („männliche“) und pistillate („weibliche“) Blüten. Pflanzen und Sippen mit eingeschlechtigen Blüten können einhäusig (monözisch, männliche und weibliche Blüten an einer Pflanze) oder zweihäusig (diözisch, männliche und weibliche Blüten an verschiedenen Pflanzen) sein. Polygame Pflanzen besitzen sowohl zwittrige als auch eingeschlechtige Blüten. == Blüteninduktion == Die Blüteninduktion ist die Umsteuerung der Pflanze bzw. des Meristems vom vegetativen Wachstum zur Blütenbildung. Auslöser können innere (endogene) oder äußere (exogene) Faktoren sein. Die Induktion ist irreversibel, kann also nicht rückgängig gemacht oder gestoppt werden. Es gibt vier wichtige Signalwege: Endogene oder autonome Auslöser sind vorhanden, aber ihrer Natur nach nicht näher bekannt. Bei vielen Arten ist jedoch ein bestimmtes Alter oder eine bestimmte Größe nötig, bevor sie blühen, etwa bei vielen Bäumen. Bei der Erbse ist der Blühzeitpunkt je nach Sorte genetisch fixiert. Spätblühende Ökotypen der Acker-Schmalwand (Arabidopsis thaliana) bilden ab einem bestimmten Alter autonom Blüten, wenn zuvor keine Induktion durch Umweltfaktoren erfolgte. Die Umschaltung auf Blütenbildung erfolgt durch eine Aktivierung von Heterochronie-Genen wie FCA (Flowering Control Arabidopsis). Bei den meisten Pflanzen wird der Blühzeitpunkt durch äußere Faktoren festgelegt. Die wichtigsten Faktoren sind dabei die Tageslänge und Kälteperioden (Vernalisation). Bei der Tageslänge werden Kurztagspflanzen und Langtagpflanzen unterschieden, die für die Blühinduktion bestimmte Tageslängen benötigen. Eine Rolle als Rezeptor spielt dabei das Phytochrom-System der Blätter, ebenso das Cryptochrom. Auch das Protein FKF1 dient als Photorezeptor und misst die Tageslänge. Diese Systeme beeinflussen das Constans-Gen (CO), dessen Exprimierung alleine schon ausreicht, die Blüteninduktion auszulösen. Als Signal von den Blättern an die Blüten wurde lange ein Blütenhormon Florigen postuliert, dessen Identität jedoch lange unbekannt blieb. Das Gen FT (siehe unten) ist ein Kandidat dafür, da es zwar in den Blättern transkribiert wird, aber in den Blütenmeristemen wirkt. Besonders monokarpe Pflanzen (die nur einmal blühen) benötigen eine Vernalisation, eine längere Kälteperiode, um blühen zu können. Bekannte Gene, die bei Kälte aktiviert werden, sind Frigida (FRI) bei Arabidopsis und VRN1 und VRN2 im Winterweizen. Deren Genprodukte hemmen das Gen FLC, das seinerseits die Blütenbildung unterdrückt. In Summe wird also durch FRI oder VRN die Blütenbildung ermöglicht, wenn auch nicht ausgelöst. Es sind meist noch weitere Faktoren zur Auslösung nötig. Bestimmte Pflanzenhormone, wie etwa die Gibberelline, sind wichtig in der Blüh-Stimulation in der Abwesenheit von Langtagbedingungen, der Wirkmechanismus ist jedoch noch unbekannt. == Blütenbildung == Nachdem durch die Heterochroniegene ein Meristem vom vegetativen in ein generatives Meristem umgewandelt wurde, erfolgt durch eine Vielzahl von interagierenden Regulator-Genen die eigentliche Blütenbildung. === Symmetriegene === Sogenannte Symmetrie- oder Katastergene legen die Struktur der Blüte und ihre Symmetrieebenen fest, sowie die Anzahl der Blüten und Blütenorgane. Mutationen dieser Gene verändern die Architektur der Blüte, die Gene werden vielfach nach den durch solche Mutationen veränderten Phänotypen benannt: Mutationen der Gene Cycloidea (CYC) oder Dichotoma (DICH) beim Löwenmäulchen erzeugen radiärsymmetrische Blüten anstelle der üblichen zygomorphen. Diese Mutationen treten auch natürlich auf und werden Pelorie genannt. Die Mutation des Gens Cauliflower (CAL) bei Arabidopsis und beim Brokkoli erzeugt viele Verzweigungen im Blütenstand ohne funktionsfähige Blüten. CAL hemmt das Gen TFL1, das die Verzweigung im Blütenstand fördert und ein Spross-Identitäts-Gen ist. tfl1-Mutanten bilden dementsprechend wenig- bis einblütige Blütenstände in Arabidopsis. === Blüten-Identitäts-Gene === Innerhalb des entstehenden, sich verzweigenden Blütenstandes werden Meristeme zu Blütenmeristemen, wenn die Gene Leafy (LFY) und Apetala1 (AP1) exprimiert werden. Beide codieren für Transkriptionsfaktoren und gehören zu einer Gruppe von Genen, die die Blühsignale integrieren. Die Funktionsweise dieser und der meisten anderen Gene wurde an Arabidopsis, dem Löwenmäulchen und Petunien-Hybriden gewonnen. Die wichtigsten Integrationsgene sind: FLC (Flowering Locus C) integriert die Signale der Vernalisation und die autonomen Signale. FLC ist ein Transkriptionsfaktor, seine Ausschaltung führt zu frühem Blühen. Die Menge an FLC-Protein/mRNA korreliert mit dem Blühzeitpunkt. FLC reprimiert den Blüh-Aktivator SOC1. SOC1 (Suppressor of Overexpression of Constans) wird durch Gibberelline und über CO durch Langtag, aktiviert, sowie durch FLC reprimiert. Aufhebung der Repression durch FLC reicht nicht für eine Aktivierung von SOC1 aus: Es muss eine Aktivierung durch CO oder Gibberelline erfolgen. LFY wird wie SOC1 durch Gibberelline sowie durch Langtag aktiviert. Letzteres geschieht über SOC1 oder über Agamous-Like24 (AGL24). FT (Flowering Locus T) wird durch Langtag über CO aktiviert, durch FLC unterdrückt. FT aktiviert wiederum AP1.Die beiden letzten Gene in der Reihenfolge sind LFY und AP1, die sogenannten Blütenmeristem-Identitäts-Gene, die jedoch miteinander interagieren: AP1 wird durch LFY aktiviert; jedoch wird auch in Abwesenheit von LFY eine Blüte gebildet, allerdings nicht mit den richtigen Organen. Das bereits erwähnte TFL1 auf der einen und LFY und AP1 auf der anderen Seite reprimieren sich gegenseitig. TFL1 dient dazu, ein verfrühtes Blühen zu verhindern. === Festlegung der Blütenorgane === Die Blütenorgane werden nach dem ABC-Modell festgelegt. Dies sind drei Genklassen, die durch die Interaktion die Identität der Blütenorgane definieren (Organidentitätsgene): A führt zu Kelchblättern A und B führt zu Kronblättern B und C führt zu Staubblättern C führt zu FruchtblätternA und C unterdrücken sich gegenseitig, sodass es zu keiner Überschneidung kommt. Bei Abwesenheit des einen wird die andere Klasse in der gesamten Blüte ausgebildet. Das ABC-Modell wurde 1991 von E. Coen und E. Meyerowitz aufgestellt, wurde inzwischen vielfach bestätigt und erweitert. In Arabidopsis sind bis jetzt folgende Gene bekannt: Klasse A: AP1 und AP2 Klasse B: AP3 und Pistillata (PI) Klasse C: Agamous (AG)Diese Gene werden in den Organen ständig exprimiert, die sie definieren, nicht nur am Beginn. AP1 ist also nicht nur ein Blütenmeristem-Gen, sondern auch ein Organidentitäts-Gen. In der frühen Phase der Blütenbildung wird es im ganzen Meristem gebildet, späterhin jedoch nur mehr in den Kreisen der Blütenhülle. Mutationen führen zum Wechsel der Organidentität. Bei Ausfall von A entwickeln sich statt Kelchblättern Fruchtblätter und statt Kronblättern Staubblätter (da jetzt C ausgebildet wird). Dreifachmutanten bilden nur normale Blätter. C-Mutanten besitzen kein begrenztes Wachstum, das Meristem wächst unbegrenzt weiter. In Ergänzung wurde eine vierte Klasse entdeckt, E, die in Arabidopsis aus den vier Genen Sepallata1 bis 4 (SEP) besteht. Sie werden in Kron-, Staub- und Fruchtblättern exprimiert und sind sowohl für die Organidentität notwendig. Triple-Mutanten (sep1 bis 3) bilden nur Kelchblätter, Vierfach-Mutanten nur Laubblätter.Eine fünfte Klasse, D, besteht aus Genen, die für die Identität der Samenanlagen zuständig sind. In Petunia sind dies die Gene Floral Binding Protein (FBP) 7 und 11. Doppelmutanten bilden Fruchtblatt-ähnliche Strukturen anstelle der Samenanlagen. In Arabidopsis sind die entsprechenden Gene Seedstick (STK), Shatterproof1 (SHP1) und SHP2. Der überwiegende Teil der Blütenorgan-Gene gehört zur Familie der MADS-Box-Gene. In Pflanzen haben MADS-Box-Gene eine beachtliche Verbreitung. Sie sind unter anderem in pflanzlichen homöotischen Genen zu finden (wie AGAMOUS und DEFICIENS), welche an der Herausbildung der pflanzlichen Organidentität beteiligt sind. Ein Beispiel hierfür ist die Festlegung der Blütenorgane. Die ABCE-Gene sind notwendig, aber auch hinreichend zu Ausbildung von Blütenorganen auch in vegetativen Organen. Dies konnte mit Hilfe ektopischer Expression der Gene gezeigt werden. Wie die Blütenidentitätsgene, die ja im ganzen Blütenmeristem exprimiert werden, die Organidentitätsgene steuern, ist erst in Ansätzen aufgeklärt. Als erstes scheint das B-Klasse-Gen AP3 durch die Kombination von LFY, AP1 und dem Gen Unusual Flower Organs (UFO), exprimiert zu werden. LFY aktiviert mit einem weiteren Coaktivator, Wuschel (WUS), die Exprimierung von AG, dem C-Klasse-Gen. Nach der Aktivierung reprimiert AG wiederum WUS. Damit wird das Wachstum der Blütenachse begrenzt. Einen weiteren Schritt im Verständnis hat das Quartett-Modell von Theißen 2001 gebracht. Es besagt, dass die Blütenorganisations-Proteine in Tetrameren (daher Quartett) wirken. Für jedes Organ gibt es demnach mindestens ein spezifisches Tetramer. Zumindest in Hefen konnte bereits gezeigt werden, dass die Proteine tatsächlich Tetramere bilden. Das Modell dient bereits vielen Arbeiten als Modellgrundlage. === Vielfalt des ABC-Modells === Vergleichende Untersuchungen bei einer Reihe von Pflanzenarten haben ergeben, dass das ABC-Modell in der oben beschriebenen Form nur für die Eudikotylen gelten dürfte. Besonders bei den basalen Gruppen der Angiospermen gibt es verschiedene Ausprägungen. Bei Teichrosen (Nuphar) gibt es keine scharfen Grenzen der Genexpression (“fading borders”), sodass es eine Übergangsreihe von kelchähnlichen Tepalen über kronblattähnliche Tepalen zu Staminodien zu Staubblättern zu Fruchtblättern gibt.Die Tulpe bildet eine einheitliche Blütenhülle in zwei Kreisen aus. Hier werden in beiden Kreisen B-Klasse-Gene exprimiert.Die Blüten der Süßgräser sind sehr stark abgeleitet. Dennoch zeigen sie das ABC-Modell, wobei hier die Vorspelze (Palea) durch A und die Schwellkörper (Lodiculae) durch A und B gekennzeichnet sind, also homolog zu Kelch und Krone.Der Ampfer (Rumex) bildet eine einheitliche, aber reduzierte und unauffällige Blütenhülle. Hier ist die B-Klasse auf die Staubblätter beschränkt, sodass beide Blütenhüllkreise nur durch A definiert werden. Inzwischen wird jedoch die Allgemeingültigkeit der A-Klasse als Blütenorganidentitätsgene angezweifelt. A-Klasse-Gene spielen, wie oben ausgeführt, auch eine Rolle bei der Festlegung der Blüten-Meristem-Identität. Nachgewiesen werden konnten sie in der Bildung der Blütenorgane bis jetzt nur bei Arabidopsis und sie dürften nur in der näheren Verwandtschaft von Bedeutung sein. Bei Antirrhinum reichen die BC-Gene zur Blütenbildung. Inwiefern dies für andere Angiospermen-Gruppen gilt, ist offen. == Anthese == Der Vorgang des Blühens wird als Anthese (von griechisch anthēsis „Blüte“) bezeichnet. Es ist der Entwicklungsabschnitt der Blütenorgane vom Ende des Knospenzustandes bzw. Beginn der Knospenentfaltung bis zum Beginn des Verblühens. === Blütenöffnung === Vor dem Öffnen bildet die Blüte eine Knospe ähnlich den Überwinterungsknospen. Dabei dienen die Kelchblätter als Schutz. Die Blütenöffnung gehört zu den Pflanzenbewegungen. Die Öffnung der Blütenknospe kann durch verschiedene Mechanismen erfolgen: Reversible Akkumulation von Ionen. Dies wurde bis jetzt nur bei dem Kochschen Enzian (Gentiana acaulis) eindeutig nachgewiesen. Programmierter Zelltod in definierten Bereichen der Blütenblätter. Wasserverlust am Tag und Wiederauffüllen während der Nacht. Dies tritt etwa bei Silene saxifraga auf, die nachtblühend ist und deren Kronblätter sich am Tag infolge Wasserverlustes einrollen. Differenzielles Wachstum der Außen- und Innenseite der Blütenblätter. Bei der Tulpe hat die Innenseite der Blütenblätter ein um 10 °C niedrigeres Wachstumsoptimum als die Außenseite, was zu einem Öffnen am Morgen und dem Schließen am Abend führt.Ein wichtiger Faktor für das Ausbreiten der Kronblätter ist die Erhöhung des Turgors, der meist durch eine Erhöhung der Zuckerkonzentration infolge Abbaus hochmolekularer Kohlenhydrate erfolgt (Stärke etwa bei Rosen, Fructane etwa bei Taglilien). Damit einher geht eine Expansion der Zellwand. Die Angaben über die Rolle von Pflanzenhormonen sind in der Literatur widersprüchlich.Das Öffnen der Blüten wird durch externe Faktoren ausgelöst. Bei nachtblühenden Arten ist häufig die erhöhte Luftfeuchtigkeit am Abend der Auslöser. Auf Temperaturerhöhung reagieren besonders Vorfrühlingsblüher, zum Beispiel das Schneeglöckchen (Galanthus nivalis) oder Krokusse (Crocus spp.). Eine dritte Gruppe reagiert auf Licht, wie das Gänseblümchen (Bellis perennis). Das Öffnen und Schließen langlebiger Blüten bei Tag beziehungsweise Nacht geschieht durch die gleichen Mechanismen und unterliegt einer endogenen Rhythmik. Die zellphysiologischen und besonders die genetischen Hintergründe der Blütenöffnung und -schließung sind bis jetzt kaum bekannt. Das Schließen der Blüten kann durch differenzielles Wachstum oder durch reversible Turgoränderungen geschehen. In diesen Fällen ist ein wiederholtes Öffnen und Schließen möglich. Turgorverlust durch Seneszenz führt zur permanenten Schließung der Blüte. === Bestäubung === Die Bestäubung ist das Übertragen des männlichen Pollens auf die weiblichen Empfängnisorgane: die Mikropyle bei den Gymnospermen, die Narben bei den Angiospermen. Die Bestäubung ist daher nicht mit der Befruchtung identisch. Die Bestäubung kann dabei mit dem Pollen desselben Individuums geschehen (Selbstbestäubung, Autogamie) oder mit dem Pollen eines anderen Individuums (Fremdbestäubung, Allogamie). Selbstbestäubung reduziert jedoch die genetische Variabilität. Es gibt in Pflanzen verschiedene Anpassungen, um Selbstbestäubung oder Selbstbefruchtung zu vermeiden: Herkogamie ist die räumliche Trennung von Staubbeuteln und Narben, sodass eine Selbstbestäubung nicht möglich ist. Beim Kapernstrauch (Capparis spinosa) ist der ganze Stempel mittels Gynophor emporgehoben, sodass die Narbe über den Staubbeuteln in der Anflugbahn der bestäubenden Insekten steht. Dichogamie ist die zeitliche Trennung der Reife von Staubgefäßen bzw. Fruchtknoten. Dementsprechend gibt es vormännliche (Proterandrie) und vorweibliche Blüten (Proterogynie). Die gleichzeitige Reife nennt man Homogamie.Dichogamie und Herkogamie können zwar die Bestäubung innerhalb einer Blüte verhindern, nicht jedoch von einer Blüte auf eine zweite derselben Pflanze (Geitonogamie). Daher haben viele Arten weitere Vermeidungsmechanismen entwickelt: Selbstinkompatibilität: Hierbei wird durch genetische Faktoren eine Selbstbefruchtung verhindert. Häufig sind solche Inkompatibilitätssysteme auch morphologisch erkennbar (Heteromorphie): Ein bekanntes Beispiel ist die Heterostylie der Primeln (Primula).Es gibt je nach Art des Bestäubers drei große Anpassungs-Syndrome: Bestäubung durch Wind (Anemophilie), Wasser (Hydrophilie) und Tiere (Zoophilie). Die Gymnospermen sind primäre Windbestäuber, während die ersten Angiospermen wahrscheinlich primär tierbestäubt waren. Erst sekundär haben sich innerhalb der Angiospermen mehrfach Wind- und Wasserbestäubung entwickelt. Die wichtigsten Merkmale der einzelnen Syndrome sind: Anemophilie: unscheinbare Blüten; reduzierte Organzahl; Monözie oder Diözie häufig; dichte, oft hängende Infloreszenzen; wenig oder kein Pollenkitt; glatte Pollenoberfläche; Narben mit großer Oberfläche; eine oder wenige Samenanlagen pro Blüte; kein Nektar. Hydrophilie: unscheinbare Blüten; Monözie oder Diözie häufig; Auftreten von Luftgeweben; unbenetzbare Pollenwände; fadenförmige Pollenkörner; Narben mit großer Oberfläche; eine oder wenige Samenanlagen pro Blüte. Zoophilie: Bei den tierbestäubten Pflanzen steht nicht die Blüte als morphologische Einheit im Vordergrund, sondern die Blume als funktionelle Einheit. Dabei entspricht oft die Blüte einer Blume (Tulpe), häufig sind jedoch viele Blüten zu einer Blume vereinigt, die dann Pseudanthium genannt wird. Beispiele sind alle Korbblütler (wie das Gänseblümchen) und die Doldenblütler (Karotte). Seltener ist der Fall, dass eine Blüte mehrere Blumen bildet (Meranthium), wie bei der Iris. Die wichtigsten Merkmale zoophiler Blumen sind: zwittrige Blüten oder Pseudanthien; Angiospermie; auffällige Farbe; starker Duft; Pollen oder Nektar als Nahrungsangebot, oder Täuscheinrichtungen; stark skulptierte Pollenoberfläche und viel Pollenkitt. === Befruchtung === Bei den Nacktsamern gelangen die Pollenkörner auf die Mikropyle der Samenanlagen. Meist werden sie durch Eintrocknen des Bestäubungstropfens in die Pollenkammer gezogen. In der Pollenkammer werden je nach Sippe die Spermatozoiden freigegeben oder die Pollenschläuche keimen aus. Zwischen Bestäubung und Befruchtung können bis zu sechs Monate vergehen (einige Cycadeen). Bei den Angiospermen gelangt das Pollenkorn auf die Narbe des Stempels. In einem speziellen Pollenschlauchleitgewebe durchwächst der Pollenschlauch den Griffel und gelangt so von der Narbe bis zu den Samenanlagen im Fruchtknoten. Gibt es im Griffel nur ein einheitliches Gewebe, sodass Pollenschläuche von der Narbe eines Fruchtblattes zu den Samenanlagen eines anderen Fruchtblattes gelangen können, nennt man die Gesamtheit des Leitgewebes Compitum. Sind die Pollenschläuche bzw. Spermatozoiden bei den Eizellen angelangt, kommt es zur eigentlichen Befruchtung. Bei den Angiospermen, bei Gnetum und Ephedra gibt es eine doppelte Befruchtung: Bei den Angiospermen verschmilzt einer der beiden Spermakerne mit der Eizelle und bildet die Zygote. Der zweite verschmilzt mit dem bereits diploiden Embryosackkern zum triploiden Endospermkern, aus dem das Nährgewebe (Endosperm) der Samen entsteht. Bei Ephedra verschmilzt der zweite Spermakern mit der Bauchkanalzelle des Archegoniums, bei Gnetum verschmelzen die beiden Spermazellen mit zwei Gametophytenzellen. Von den jeweils entstehenden zwei Zygoten entwickelt sich meist nur eine. Nach der Befruchtung entwickelt sich die Zygote zum Embryo, die Samenanlage zum Samen und die Blüte zur Frucht. === Seneszenz === Die Blüten werden als Sexualorgane in den Pflanzen stets neu gebildet, im Gegensatz zu denen der Tiere. Die Lebensdauer ist genau abgemessen, da Blüten große Ressourcen verbrauchen und die Narbe auch ein wesentlicher Eintrittspunkt für Krankheitserreger ist. Bereits bestäubte Blüten würden auch unnötigerweise mit nicht bestäubten um Bestäuber konkurrieren. Ein wichtiger Auslöser für Seneszenz (Alterung) ist die Bestäubung mit Pollen. Diese verkürzt in den meisten Arten die Lebensdauer der Blüte beträchtlich. In etlichen Pflanzen löst die Bestäubung die Bildung des Pflanzenhormons Ethylen aus, welches wiederum die Seneszenz der Kronblätter auslöst. Andere Arten sind jedoch unempfindlich gegen Ethylen, ihr Seneszenz-Mechanismus ist unbekannt. Auf Organ-Ebene sterben nach der Bestäubung Krone, Staubgefäße und der Griffel ab, während sich der Fruchtknoten zur Frucht weiterentwickelt. Das Absterben geht mit einer Remobilisierung der Inhaltsstoffe einher, ähnlich der Seneszenz der Blätter. == Evolution == Die Evolution der Angiospermen-Blüte ist nicht geklärt, da es kaum fossile Vorstufen der „modernen“ Angiospermenblüte gibt. Auch sind die Verwandtschaftsverhältnisse der Angiospermen zu den anderen Samenpflanzen noch unklar. Es gibt zwei unterschiedliche Hypothesen zu Entstehung der Blüten. Als Ursache für die Ausbildung der zwittrigen Angiospermenblüte nimmt man die Anpassung an die Bestäubung durch Insekten (Käfer) an, die Verlagerung der Samenanlagen in geschlossene Fruchtblätter wäre somit ein Schutz vor den Beißwerkzeugen der Käfer. Die Euanthientheorie von Arber und Parkin (1907) geht davon aus, dass die Vorfahren der Angiospermen bereits zwittrige Blüten hatten und daher die Angiospermenblüte ein einachsiges System mit seitlichen Mikro- und Megasporophyllen ist. Die Staub- und Fruchtblätter sind demnach den Blättern homolog. Diese Theorie beruht auf Analysen der fossilen Gattung Caytonia, die als möglicher Vorfahre der Angiospermen gilt. Caytonia hatte gefiederte Mikro- und Megasporophylle, die vielleicht in zwittrigen Blüten standen. Im Megasporophyll saßen Cupulae mit jeweils mehreren Samenanlagen seitlich an einer Rhachis. Auch die Mikrosporophylle waren gefiedert, jede Fieder trug mehrere Gruppen von verwachsenen Pollensäcken. Das Fruchtblatt der Angiospermen könnte durch ein Flächigwerden der Rhachis entstanden sein, das Staubblatt durch Reduktion auf einen Stiel mit zwei Synangien zu je zwei Pollensäcken. Die Pseudanthientheorie von Richard Wettstein nimmt an, dass die Angiospermenblüte aus einem Blütenstand eingeschlechtiger Blüten entstanden ist. Somit wären die Staubblätter und Karpelle Seitensprosse und nicht Blätter. Grundlage für diese Theorie ist die Annahme, dass die Angiospermen von den Gnetopsida abstammen. Das Karpell entstand demnach aus dem Tragblatt der Blüte, das zweite Integument der Samenanlage aus einer Braktee unterhalb der Blüte. Diese Theorie wird durch molekulare und morphologische Analysen kaum gestützt. Obwohl die meisten Autoren inzwischen zur Euanthientheorie tendieren, ist die Entstehung von Staubblatt, Fruchtblatt und dem zweiten Integument der Samenanlagen weiterhin unklar. === Molekularbiologisch begründete Theorien === Die ältesten Angiospermenblüten waren zwittrig und hatten ein undifferenziertes Perianth in Spiralstellung oder mehr als zwei Wirteln.Außerhalb der Samenpflanzen gibt es keine Blütenorgan-Identitätsgene oder Orthologe davon. In den Gymnospermen, die nur eingeschlechtige Blüten bilden, gibt es die Orthologe der Klasse B und C. Ihre Expression gleicht der in Angiospermen: C wird in allen reproduktiven Organen ausgebildet, B in den männlichen Blüten. Basierend auf diesen Erkenntnissen, wurden mehrere Hypothesen zur Entstehung der zwittrigen Angiospermen-Blüte aufgestellt: Nach der “out of male”-Hypothese von Theissen et al. 2002 bildeten die männlichen Blütenzapfen durch eine Reduktion der B-Klassen-Expression im oberen Zapfenbereich weibliche Organe. Nach der “out of female” Hypothese bildeten sich die männlichen Organe am unteren Ende der weiblichen Zapfen. Eine Blütenhülle entstand nach diesen beiden Modellen erst nach der Zwittrigkeit. Ebenfalls von männlichen Blüten geht die “mostly male” Hypothese aus, zuerst vorgeschlagen von Frohlich und Parker 2000. Sie entdeckten, dass es in Gymnospermen das Leafy-Gen in zwei Kopien vorkommt (Paraloge). Leafy spezifiziert männliche, Needly weibliche Blüten. Needly kommt in allen Gymnospermen außer Gnetum vor, aber nicht in Angiospermen. Die Theorie besagt nun, dass durch Deaktivierung des Needly-Gens die männlichen Zapfen zwittrig wurden.Die Evolution der Angiospermen-Blüte fand in vier Schlüsselereignissen statt: Evolution der zwittrigen Blütenachse Evolution der gestauchten Blütenachse und die Begrenzung des Wachstums: Dies geschah durch C-Klasse-Gene, die Wuschel, das Meristem-Erhaltungsgen, unterdrücken. Evolution einer petaloiden Blütenhülle Evolution des klassischen zweikreisigen, zweiteiligen Perianths der Eudikotylen aus Kelch und Krone.Soltis et al. (2007) diskutieren die Hypothese, dass an der Basis der Angiospermen nicht das ABC-Modell wie in Arabidopsis stand, sondern ein System mit unscharfen Grenzen wie bei der Teichrose. Von diesem Grundmodell können dann einfach durch verschiedene Grenzschärfungen das ABC-Modell wie auch die abgewandelte Formen wie bei der Tulpe entstanden sein. == Nutzung durch den Menschen == Im Gegensatz zu den aus den Blüten hervorgehenden Früchten spielen Blüten als Nahrungspflanzen für den Menschen eine untergeordnete Rolle. Die Blütenstände von Blumenkohl und Artischocke dienen als Gemüse, die von Cannabis sativa subsp. indica als Rauschmittel. Einige Blüten bzw. Blütenstände werden als Salat bzw. dessen Dekoration verwendet (Veilchen, Gänseblümchen, Kapuzinerkresse). Blüten, Knospen, Blütenteile oder Blütenstände liefern Gewürze: Beifuß (Artemisia vulgaris subsp. vulgaris), Lavendel (Lavandula angustifolia), Gewürznelke (Syzygium aromaticum), Safran (Crocus sativus) und Hopfen (Humulus lupulus). Viele Blüten werden zur Herstellung von Duftölen verwendet wie beispielsweise Lavendelöl und Rosenöl. Eine wesentlich größere Rolle spielen Blüten jedoch als Schmuck in der Form von Zierpflanzen und Schnittblumen. Deutschland hat als weltgrößter Importeur von Schnittblumen im Jahr 2004 Waren im Großhandelswert von 1,1 Milliarden Euro importiert. Der Weltmarkt für Schnittblumen und Topfpflanzen lag 2000 bei 6,8 Milliarden Euro.Die Göttin der Morgenröte (Aurora/Eos) streut Blumen als Sinnbild für die Lichtstrahlen des neuen Tages. Blumen sind auch das Attribut der Göttin Flora. Bei den vier Jahreszeiten werden die Blumen dem Frühling zugeordnet, bei den fünf Sinnen dem Geruchssinn. Blumen sind seit der Antike ein Zeichen der Vergänglichkeit von Schönheit und Leben. In den Stillleben erscheinen immer auch eine welke Blüte oder abgefallene Blütenblätter als Vanitas-Motiv. Allegorien der Logik wie der Hoffnung werden gelegentlich mit Blumen im Arm abgebildet, als Sinnbild, da aus der Blume sich bald eine Frucht entwickeln wird. Einzelne Arten haben ihre eigenen symbolischen Bedeutungen, die sich jedoch im Lauf der Jahrhunderte ändern können, war und ist doch die Rose das Attribut von Venus, Dionysos und Maria, das Symbol für göttliche und irdische Liebe, für Jungfrauen aber auch für Prostitution.In der Bildenden Kunst sind Blüten und Blumen als florales Motiv ein häufig dargestelltes Thema, um vorrangig Frische und Freude auszudrücken. == Fußnoten == == Quellen == Der Artikel beruht hauptsächlich auf folgenden Quellen: Peter Leins, Claudia Erbar: Blüte und Frucht. Aspekte der Morphologie, Entwicklungsgeschichte, Phylogenie, Funktion und Ökologie. Schweizerbart, Stuttgart 2000, ISBN 3-510-65194-4. Peter Sitte, Elmar Weiler, Joachim W. Kadereit, Andreas Bresinsky, Christian Körner: Lehrbuch der Botanik für Hochschulen. Begründet von Eduard Strasburger. 35. Auflage. Spektrum Akademischer Verlag, Heidelberg 2002, ISBN 3-8274-1010-X. Die Abschnitte Blüteninduktion und Blütenbildung beruhen auf: Peter Schopfer, Axel Brennicke: Pflanzenphysiologie. Begründet von Hans Mohr. 6. Auflage. Elsevier, Spektrum, München / Heidelberg 2006, ISBN 3-8274-1561-6, S. 501–523 (eingeschränkte Vorschau in der Google-Buchsuche). Thomas Jack: Molecular and Genetic Mechanisms of Floral Control. In: The Plant Cell. Band 16, Supplement 1, 2004, S. S1–S17, doi:10.1105/tpc.017038. Paul K. Boss, Ruth M. Bastow, Joshua S. Mylne, Caroline Dean: Multiple Pathways in the Decision to Flower: Enabling, Promoting, and Resetting. In: The Plant Cell. Band 16, Supplement 1, 2004, S. S18–S31, doi:10.1105/tpc.015958.Weitere wichtige Literatur: Günter Theißen, Rainer Melzer: Molecular Mechanisms Underlying Origin and Diversification of the Angiosperm Flower. In: Annals of Botany. Band 100, Nr. 3, 2007, S. 603–619, doi:10.1093/aob/mcm143. Wouter G. van Doorn, Uulke van Meeteren: Flower opening and closure: a review. In: Journal of Experimental Botany. Band 54, Nr. 389, 2003, S. 1801–1812, doi:10.1093/jxb/erg213 (Abschnitt Blütenöffnung). === Einzelnachweise === === Weiterführende Literatur === Dieter Heß: Die Blüte. Struktur, Funktion, Ökologie, Evolution. 3. Auflage. Eugen Ulmer, Stuttgart (Hohenheim) 2019, ISBN 978-3-8186-0064-8 (allgemeinverständliche Einführung auch für den Laien). Special Issue: Major Themes in Flowering Research. In: Journal of Experimental Botany. Band 57, Nr. 13, 2006 (online). Douglas E. Soltis, James H. Leebens-Mack, Pamela S. Soltis (Hrsg.): Developmental Genetics of the Flower (= Advances in Botanical Research. Band 44). Academic Press, San Diego u. a. 2006, ISBN 0-12-005944-4 (englisch, sciencedirect.com). === Weblinks === Blütenbiologie (Memento vom 19. Juli 2011 im Internet Archive; PDF; 532 kB) Blüten-Bilder aus dem Bildarchiv der Universität Basel Blüten- und Fruchtbiologie Physiologie des Knospenaustriebs und der Blütenbildung
https://de.wikipedia.org/wiki/Bl%C3%BCte
Anton Pawlowitsch Tschechow
= Anton Pawlowitsch Tschechow = Anton Pawlowitsch Tschechow [ˈtʃʲɛxəf] (russisch Антон Павлович Чехов (), wissenschaftliche Transliteration Anton Pavlovič Čechov; in englischen Texten auch Chekhov; * 17.jul. / 29. Januar 1860greg. in Taganrog, Russland; † 2.jul. / 15. Juli 1904greg. in Badenweiler, Deutsches Reich) war ein russischer Schriftsteller, Novellist und Dramatiker. Er entstammte einer kleinbürgerlichen südrussischen Familie und war ab 1884 Arzt von Beruf, betrieb Medizin jedoch fast ausschließlich ehrenamtlich. Gleichzeitig schrieb und publizierte er zwischen 1880 und 1903 insgesamt über 600 literarische Werke. International ist Tschechow vor allem als Dramatiker durch seine Theaterstücke wie Drei Schwestern, Die Möwe oder Der Kirschgarten bekannt. Mit der für ihn typischen, wertneutralen und zurückhaltenden Art, Aspekte aus dem Leben und der Denkweise der Menschen in der russischen Provinz darzustellen, gilt Tschechow als einer der bedeutendsten Autoren der russischen Literatur. == Leben == === Kindheit und Jugend === Anton Tschechow wurde am 29. Januar 1860 in der südrussischen Hafenstadt Taganrog am Asowschen Meer geboren. Sein Vater, Pawel Jegorowitsch Tschechow (1825–1898), war Sohn eines ehemaligen leibeigenen Bauern aus dem Gouvernement Woronesch und betrieb als Kaufmann einen kleinen Billigwarenladen in Taganrog. Ebenfalls aus einer ehemals leibeigenen Bauernfamilie stammte Tschechows Mutter, Jewgenija Jakowlewna Tschechowa (geborene Morosowa; 1835–1919). Die Eheleute zogen insgesamt sechs Kinder groß: Neben Anton waren es die Söhne Alexander (1855–1913), Nikolai (1858–1889), Iwan (1861–1922) und Michail (1865–1936) sowie die Tochter Marija (1863–1957). Der Kaufmannstitel des Vaters konnte nicht über die äußerst bescheidenen Umsätze seines Ladens hinwegtäuschen, was nicht zuletzt an der mangelnden Geschäftstüchtigkeit von Pawel Jegorowitsch lag, aber auch an der allgemein schlechten wirtschaftlichen Situation Taganrogs, das in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts seine einstige Bedeutung als Seehafen aufgrund der Versandung der Bucht merklich verloren hatte. Folglich wuchsen die Tschechow-Geschwister in armen und beengten Verhältnissen auf. Die Brüder einschließlich Anton hatten schon früh im Laden auszuhelfen; hinzu kam die strenge Religiosität und die musikalische Begeisterung des von Tschechow später vielfach als despotisch und autoritär beschriebenen Vaters, der seine Söhne zu täglichen Gesangsstunden in einem Kirchenchor zwang. Die Familie lebte zunächst in einem kleinen Haus in der Polizeiskaja uliza („Polizeistraße“) in Taganrog. Trotz der bedrückenden finanziellen Situation legten Tschechows Eltern Wert darauf, ihren Kindern eine solide Allgemeinbildung zu ermöglichen: Mit acht Jahren wurde Anton in die Vorbereitungsklasse des Zweiten Taganroger Jungengymnasiums eingewiesen, das er dann von 1869 bis zum Abschluss 1879 besuchte. Insgesamt zeigte sich Anton dort als eher durchschnittlicher Schüler, der sogar zweimal (nämlich in der dritten und in der fünften Klasse) sitzen geblieben war. Dieser Umstand erscheint jedoch angesichts der systematischen Belastung der Brüder, die in unterrichtsfreier Zeit im Chor singen und in Vaters Laden arbeiten mussten, aber auch angesichts der äußerst autoritären Lehr- und Erziehungsmethoden an den Schulen im Russischen Kaiserreich der damaligen Zeit als wenig überraschend. Schon als Gymnasiast zeigte Anton Tschechow, der sonst eher als zurückhaltend und reserviert galt, einen ausgeprägten Humor und viel Interesse an Schauspielerei und Literatur. So erwarb er sich in der Schule wegen seiner satirischen Kommentare und Unarten sowie der Fähigkeit, die Lehrer mit humorvollen Spitznamen zu bezeichnen, den Ruf eines Schelms. In den wenigen freien Stunden, die den Tschechow-Geschwistern zur Verfügung standen, pflegten die Brüder diverse Vorstellungen des Taganroger Stadttheaters zu besuchen und versuchten oft, zu Hause auf einer selbst konstruierten Bühne lustige Amateurstücke zu inszenieren. Ab 1877 war Anton außerdem regelmäßiger Gast in der kurz zuvor eingerichteten öffentlichen Bibliothek in Taganrog. 1869 zog die Tschechow-Familie in ein neues Haus in der Monastyrskaja uliza („Klosterstraße“). Der schlecht kalkulierte Hauskauf durch Tschechows Vater und die stetig sinkenden Ladenumsätze verschärften dessen finanzielle Probleme in den nachfolgenden Jahren so sehr, dass er im Frühjahr 1876 mit seinem Laden einen Bankrott anmelden musste. Da dies zur damaligen Zeit eine drohende Inhaftierung bedeutete, blieb Pawel Jegorowitsch nichts anderes übrig, als den Laden aufzugeben und heimlich nach Moskau zu fliehen, wo sich seit Sommer 1875 bereits Alexander und Nikolai aufhielten. Wenige Monate später folgte ihm die Mutter mit den beiden jüngsten Kindern, während Anton und Iwan weiterhin aufs Taganroger Gymnasium zu gehen hatten. Ab dieser Zeit war Anton faktisch auf sich selbst angewiesen, denn die Tschechow-Familie hatte in Moskau zunächst keine regelmäßigen Einkünfte und war bitterer Armut ausgesetzt. Das Haus in Taganrog ging an einen der Gläubiger, Anton mietete dort lediglich eine Ecke zum Wohnen, Iwan fand vorläufig bei einer Tante Unterkunft, bis er im Herbst 1876 ebenfalls nach Moskau fortzog. Anton, der hartnäckig dem Abitur entgegenstrebte, blieb alleine zurück und hielt sich mit Verdiensten aus Nachhilfestunden sowie mit Ausverkauf des verbliebenen elterlichen Hausrats über Wasser; zudem schickte er einen Teil dieser dürftigen Einkünfte seiner Familie nach Moskau. Jahre später äußerte er sich, mit erkennbarem Bezug auf seine Kindheit und Jugend sowie auf sein ungewollt frühes Erwachsenwerden, in einem Brief an seinen langjährigen Verleger Suworin wie folgt: Nach dem Abitur 1879 wurde Tschechow von der Taganroger Stadtverwaltung ein Stipendium von 25 Rubel im Monat bewilligt und er reiste daraufhin gemeinsam mit zwei Schulkameraden nach Moskau, um dort – wie er sich schon lange zuvor vorgenommen hatte – ein Medizinstudium aufzunehmen. === Studium und literarische Anfänge === Tschechows Laufbahn an der Kaiserlichen Moskauer Universität, an deren medizinischer Fakultät er sich kurz nach Ankunft in Moskau einschreiben ließ, dauerte von September 1879 bis zum erfolgreichen Abschluss im Sommer 1884. Die siebenköpfige Familie Tschechow wechselte in dieser Zeit mehrfach die Wohnung und musste sich insbesondere in den ersten Monaten mit überaus beengten Wohnverhältnissen zufriedengeben, was Anton immense Schwierigkeiten bei der Prüfungsvorbereitung brachte. Diese wurden noch dadurch verschärft, dass er sich schon seit seinen frühen Studienjahren dem Schreiben widmete, das sich angesichts der Armut, in der die Familie leben musste, dann auch als eine wichtige Einnahmequelle erwiesen hatte. Die Anfänge Tschechows als Autor gehen auf seine Taganroger Zeit zurück: Bereits als Jugendlicher versuchte er, kurze Miniaturen, Parodien und Anekdoten sowie possenhafte und witzige Geschichten zu schreiben. Über den älteren Bruder Alexander, der zu jener Zeit in Moskau lebte und sich dort ebenfalls als Gelegenheitsautor in humoristischen Zeitungen und Zeitschriften versuchte, schickte Anton einige dieser Miniaturen (von denen keine erhalten ist) an diverse Moskauer Redaktionen, zunächst jedoch ohne Erfolg. Um 1878 verfasste Tschechow erstmals auch ein Bühnenstück, das den Titel Vaterlos erhalten sollte und der von Tschechow hoch verehrten Star-Schauspielerin Marija Jermolowa gewidmet war. Auch dieses Stück fand trotz intensiver nachträglicher Überarbeitungen keinen Zuspruch in Moskau und galt seitdem als vernichtet; erst 1920 wurde es als Manuskript ohne Titel entdeckt und 1923 erstmals veröffentlicht (im Ausland erlangte dieses Stück seither als Platonow Bekanntheit).Tschechow selbst bezeichnete später in seinen Briefen mehrfach den Zeitraum zwischen 1878 und 1880 als Beginn seiner eigentlichen schriftstellerischen Tätigkeit, konnte allerdings keine genaueren Zeitangaben machen. Die ersten noch heute erhaltenen Tschechowschen Publikationen stammen aus dem Jahr 1880, als es Anton nach etlichen erfolglosen Versuchen schließlich gelang, zehn humoristische Kurzgeschichten und Miniaturen in der Sankt Petersburger Zeitschrift Strekosa (zu deutsch „Libelle“) zu veröffentlichen. 1881 und 1882 folgten ähnliche Publikationen in zahlreichen mehr oder weniger bekannten Humor- und Satireheften, darunter den Zeitschriften Budilnik („Der Wecker“), Sritel („Zuschauer“), Moskwa („Moskau“) und Swet i teni („Licht und Schatten“). Über die schwierigen Umstände, unter denen Tschechow seine Frühwerke schuf, geben einige Briefe aus der frühen Studienzeit des Autors Aufschluss. So schrieb er im August 1883 in einem Begleitbrief zu Kurzerzählungen für eine Zeitschrift an den Redakteur: Der halb scherzhafte, selbstironische Ton, den Tschechow in diesem Schreiben anschlägt, ist für den Großteil seiner Briefe sowohl aus der Studienzeit als auch aus den späteren Jahren charakteristisch. Nicht nur die Wohnsituation und allgemein die ärmlichen Verhältnisse erschwerten die Arbeit; hinzu kamen die oft schlechte Zahlungsmoral der Zeitungsredakteure, redaktionelle Vorgaben (bei der Zeitschrift Oskolki („Splitter“) z. B. waren nicht mehr als 100 Zeilen pro Geschichte erlaubt) und nicht zuletzt die staatliche Zensur. Letztere nahm in Russland gerade in den 1880er-Jahren nach der Ermordung des Zaren Alexander II. eine äußerst strenge und oft willkürliche Selektion aller für eine Publikation in der Presse vorgesehenen Texte vor. So scheiterte etwa das erste gedruckte Buch Tschechows, die 1882 angefertigte Erzählungssammlung Schelmerei (russisch Шалость), an der Zensur und gilt seitdem als verschollen.Obwohl er alle Prüfungen ordentlich ablegte und innerhalb der vorgegebenen fünf Jahre das Arztdiplom erlangte, galt Tschechow als ein eher durchschnittlicher, wenig strebsamer Student. Trotz seiner ausgeprägten Begeisterung für Medizin und die Naturwissenschaften im Allgemeinen – sein Gefallen an den Lehren Darwins etwa betonte Tschechow in einem Brief von 1886, und gegen Ende seines Studiums plante er ernsthaft, eine wissenschaftliche Forschungsarbeit über die Geschichte der Geschlechterordnung in der Natur zu schreiben – blieb die Autorentätigkeit, die im Gegensatz zur Medizin finanziell etwas einbrachte, auch während des Studiums sein Hauptanliegen. Bis zu seiner Zulassung als Arzt im September 1884 gelang es ihm, unter mehreren Pseudonymen (darunter seinem bekanntesten Autorenpseudonym „Antoscha Tschechonté“, wie er zur Schulzeit von einem Lehrer abfällig genannt wurde, ferner Fantasienamen wie „Bruder des Bruders“, „Mensch ohne Milz“ oder „Junger Greis“) insgesamt über 200 Erzählungen, Feuilletons und Humoresken in verschiedenen Zeitschriften zu veröffentlichen. Einige in dieser Zeit geschriebene Erzählungen gehören auch heute noch zu seinen bekanntesten Werken, etwa die satirisch geprägten Kurzgeschichten Der Tod des Beamten, Auf See, Die Tochter Albions, Der Dicke und der Dünne (alle 1883) oder Chirurgie, Eine schreckliche Nacht bzw. Ein Chamäleon (alle 1884). Im Sommer 1884 erschien mit den Märchen der Melpomene (russisch Сказки Мельпомены) Tschechows erstes (publiziertes) Buch, eine Sammlung von sechs Erzählungen. === Intensive Schaffensphase (1884–1889) === Im Juni 1884 schloss Tschechow das Medizinstudium ab. Den Sommer verbrachte die Familie in der geräumigen Dienstwohnung des Bruders Iwan in Woskressensk bei Moskau (heute Istra), wo dieser als Lehrer tätig war. Dort nahm Anton Tschechow sogleich die praktische Arzttätigkeit auf: Er empfing Patienten im dortigen Dorfkrankenhaus sowie im Semstwo-Krankenhaus des nahe gelegenen Städtchens Swenigorod, beteiligte sich zudem an gerichtsmedizinischen Untersuchungen und führte Obduktionen durch. Die Arbeit mit den Patienten verrichtete Tschechow dabei faktisch ehrenamtlich, da nur die wenigsten von ihnen in der Lage waren, die Behandlung angemessen zu bezahlen und Tschechow, der seine literarische Tätigkeit anstatt der Arztarbeit als seine Haupteinnahmequelle betrachtete, darüber meist hinwegsah. Dies änderte sich auch in späteren Jahren nicht, als die Tschechow-Familie auf ein eigenes Landgut gezogen war und Anton Tschechow dort Bauern behandelte. Außerhalb der Sommermonate, wenn die Tschechows ihre Moskauer Wohnung nutzten, behandelte Anton gern die zahlreichen Bekannten und Verwandten der Familie. Hierzu schrieb er in einem Brief an seinen Onkel, wiederum im gewohnten ironischen Stil: „Ich behandle noch und noch. Jeden Tag muss ich über einen Rubel für Fahrten mit der Kutsche auslegen. Ich habe viele Freunde, darum auch viele Patienten“, und weiter über die nicht zum Besten stehende Zahlungsmoral der Patienten: „Die Hälfte davon behandle ich umsonst. Die andere zahlt mal fünf, mal drei Rubel pro Krankenbesuch“. Die Arbeit als Arzt war es aber auch, die Tschechow viel Stoff für seine Erzählungen zu liefern vermochte, und gerade in der zweiten Hälfte der 1880er Jahre schrieb er besonders intensiv: So wurden allein im Jahr 1885 insgesamt 133 Texte von ihm abgedruckt, 1886 waren es 112 und 1887 immerhin 64. Die meisten Erzählungen schrieb Tschechow weiterhin unter Pseudonymen. Dies begann sich erst zu ändern, nachdem Tschechow, der sich mittlerweile einer gewissen Popularität in Literaturkreisen erfreuen konnte (immerhin durfte er seit April 1885 in der renommierten Zeitung Peterburgskaja Gaseta publizieren), im Dezember 1885 auf Einladung der Oskolki-Redaktion erstmals in seinem Leben zu einem Besuch in der Hauptstadt Sankt Petersburg aufgebrochen war. Dort machte er unter anderem Bekanntschaft mit dem einflussreichen Verleger Alexei Suworin, der ihm wenig später eine Zusammenarbeit zu attraktiveren Konditionen anbot. Gleichzeitig lernte Tschechow den damals berühmten Romancier Dmitri Grigorowitsch kennen, der Tschechow ausdrücklich lobte und ihm ein herausragendes Talent bescheinigte. Grigorowitsch, der zu jener Zeit eine hohe Autorität in russischen Literaturkreisen besaß und dessen Meinung Tschechow viel bedeutete, legte ihm einige Monate später in einem Brief nahe, die Pseudonyme abzulegen, und Tschechow folgte allmählich diesem Rat: Ab 1886 arbeitete er mit Suworin eng zusammen und veröffentlichte viele seiner neuen Erzählungen in der von Suworin geführten Zeitung Nowoje wremja („Neue Zeit“), damals einem der auflagenstärksten Blätter landesweit, unter eigenem Namen. Einen Teil seiner neuen Erzählungen publizierte Tschechow auch in der gemäßigt liberalen Monatsschrift Russkaja Mysl („Der russische Gedanke“). In den Jahren 1885 bis 1887 lebten die Tschechows in den Sommermonaten auf dem Landgut Babkino nahe Woskressensk, das einer befreundeten Familie gehörte. Später hielt Tschechows Bruder Michail in seinen Erinnerungen fest, dass die landschaftliche Schönheit der Umgebung von Babkino, wo es sich hervorragend angeln und Pilze sammeln ließ, maßgebend gewesen sein muss für die Blütezeit des Schaffens von Anton. Insbesondere konnte Tschechow dort etliche Sujets für seine künftigen Werke gewinnen. Dies gilt beispielsweise für Erzählungen wie Die Aalraupe, Im Alter, Der Jäger (alle 1885), Die Hexe (1886) oder Wolodja (1887), deren Handlungen in eine ähnliche Landschaft eingebunden sind. Dabei schrieb Tschechow längst nicht nur humoristische Texte, sondern zunehmend auch Erzählungen, in denen durchaus ernste oder gar dramatische Themen verarbeitet wurden. Vereinzelt wurden – wie es für spätere Tschechow-Werke typisch ist – gesellschaftliche Probleme der russischen Provinz gestaltet. Zu solchen dramatischen Tschechow-Erzählungen der späten 1880er-Jahre gehören Werke wie Anjuta, Aufregende Erlebnisse, Durcheinander, Ein Glücklicher, Ein bekannter Herr, Im Gerichtssaal, Das Mißgeschick, Die Seelenmesse, Im Sumpf, Schwere Naturen, Zeitvertreib (alle 1886) oder Typhus bzw. Das alte Haus (1887). Weitere Themen lieferte Tschechows Reise in seine Heimat, die er im Frühjahr 1887 unternahm. Er besuchte Verwandte in Taganrog, Nowotscherkassk und anderen südrussischen Orten. Dabei reiste er durch die von Steppe geprägten Landschaften am Don und am Asowschen Meer. Später beklagte er die bedrückende Rückständigkeit und Kulturlosigkeit dieser Region, ließ sich jedoch von der Naturschönheit dieser weitläufigen Ebenen inspirieren. So entstand die 1888 veröffentlichte Novelle Die Steppe, eine mit großer Sprachkraft gestaltete, authentische Landschaftsbeschreibung. Ähnliches gilt für die 1887 erschienene Kurzerzählung Glück. === Reise nach Sachalin === Gegen Ende der 1880er Jahre ließ die literarische Produktivität Tschechows merklich nach. Im Februar 1888 schrieb er in einem Brief: „‚Die Steppe‘ hat mich soviel Saft und Energie gekostet, dass ich mich noch lange nicht wieder an etwas Ernsthaftes werde machen können.“ 1888 und 1889 veröffentlichte Tschechow nur knapp zwei Dutzend Erzählungen, Novellen (darunter Der Namenstag und Langweilige Geschichte) und Bühnenstücke (so die beiden Einakter Der Bär und Der Heiratsantrag). Zwar konnte er seine Familie dank zunehmender Popularität und steigender Auflagen aus der Armut befreien, doch die schriftstellerische Arbeit wurde nun durch Redaktion und Korrekturlesen eigener Sammelbände beeinträchtigt. Im Sommer 1889 mieteten die Tschechows ein Landgut nahe der Stadt Sumy in der heutigen Ukraine. Auch dort ging die literarische Arbeit eher schleppend voran. Behindert wurde sie zusätzlich durch den frühen Tod des älteren Bruders Nikolai, der im Juni 1889 an einer schnell fortschreitenden Tuberkulose starb. Die Bekanntschaft mit den Vorlesungsmaterialien seines jüngeren Bruders Michail, der damals Jura studierte, zum Strafrecht und zum Gefängniswesen des Russischen Reichs animierte Tschechow Ende 1889, nach Sibirien und auf die Pazifik-Insel Sachalin im äußersten Fernen Osten Russlands zu reisen, um über die Zwangsarbeit (Katorga) in der als Gefangeneninsel geltenden, extrem abgelegenen Provinz zu berichten. Anfang 1890 studierte er intensiv wissenschaftliche Publikationen über Sachalin und bereitete sich auf die Reise vor, für die er ein halbes Jahr eingeplant hatte. Jegliche Versuche seitens der Angehörigen und Bekannten, ihn von dieser Reise abzuhalten, wies Tschechow zurück. In einem Brief an Suworin etwa äußerte er unter anderem: Am 21. April trat Tschechow die Reise an, zunächst mit der Eisenbahn bis Jaroslawl, von dort mit dem Flussdampfer nach Perm und weiter vornehmlich mit Pferdekutschen über den Ural, Westsibirien, Tomsk und Krasnojarsk bis zum Baikalsee und zum Amur-Fluss, von dort wieder per Schiff bis zur Nordküste Sachalins. Insgesamt dauerte die Hinreise knapp drei Monate und führte auf der Strecke zwischen dem Ural und dem Baikalsee oft durch schwer passierbare Gebirgsstraßen oder mit Frühjahrshochwasser überschwemmte Landverbindungen. Die vielen Briefe, die Tschechow während dieser strapaziösen Reise an die Angehörigen und Freunde schickte, dokumentieren diesen Weg. Vielfach bewunderte Tschechow darin die landschaftliche Schönheit Sibiriens und des Fernen Ostens sowie den freien Geist der Einheimischen, beklagte aber auch die dortige Armut und Rückständigkeit. Auf Sachalin hielt sich der Autor drei Monate lang auf, von Juli bis Oktober 1890. Er besichtigte sämtliche Gefängnisse (mit Ausnahme von Anstalten für politische Inhaftierte, zu denen ihm die Inselverwaltung keinen Zutritt gewährte), behandelte nach Möglichkeit die Kranken und erfasste alle Inselbewohner (damals rund 10.000 Menschen) im Rahmen einer Volkszählung. Im September resümierte er über seine Arbeit auf dem nördlichen Teil der Insel: Die Rückreise per Schiff über den Pazifik, den Indischen Ozean, mit einem Zwischenaufenthalt auf Ceylon („Hier, im Paradies, legte ich mehr als hundert Werst mit der Eisenbahn zurück und sah mich an Palmenwäldern und bronzefarbenen Frauen satt“), durch den Sueskanal, über das Mittelmeer und das Schwarze Meer, dauerte gut anderthalb Monate. Seine Eindrücke verarbeitete Tschechow in der Erzählung Gussew (1890), die zum Teil noch auf dem Schiff entstand. Anfang Dezember 1890 kam Tschechow in Moskau an. Die Erlebnisse auf Sachalin, das Tschechow im Nachhinein „die wahre Hölle“ nannte, schrieb er später im 1893 fertiggestellten Sachbuch Die Insel Sachalin nieder, welches auf erschütternde Weise das klägliche Leben von Ausgegrenzten im Zarenreich schildert. Das Buch, in dem unter anderem von Züchtigung der Häftlinge, Korruption und Kinderprostitution als allgegenwärtige Erscheinungen der Katorga die Rede ist, sorgte im Russischen Reich schon kurz nach der Veröffentlichung für Aufsehen und bewirkte, dass das Justizministerium zur Aufklärung der gröbsten Missstände eine Untersuchungskommission nach Sachalin schickte. ==== Rezeption ==== Ausstellung Anton Tschechows Reise nach Sachalin: September 2014 bis Januar 2015: Deutsches Literaturarchiv Marbach, Staatliches Literaturmuseum der Russischen Föderation; unter anderem 100 bisher nicht öffentlich ausgestellte Originalfotografien. Januar/Februar 2015: Kunstpalais Badenweiler. 51 der Fotografien, das „Glasbuch“ von Jürgen Brodwolf und einzelne weitere Exponate aus Tschechows Aufenthalt in Badenweiler. Dokumentarfilm zur Ausstellung: Anastasia Alexandrowa, Russisches Staatliches Literaturmuseum Jürgen Brodwolf: Glasbuch. György Dalos: Die Reise nach Sachalin. Auf den Spuren von Anton Tschechow. Lothar Trolle, Klaus Buhlert: Sachalin – Die Insel. Hörspiel des Monats November 2003, Deutschlandfunk, Hessischer Rundfunk, 2003. === Leben in Melichowo (1892–1898) === Um sich vom allgemeinen Trubel auszuruhen, der nach seiner Rückkehr um ihn herum herrschte, unternahm Tschechow im Frühjahr 1891 gemeinsam mit Suworin seine erste Reise ins europäische Ausland und besuchte dabei unter anderem Wien, Venedig (von dem er offenbar besonders entzückt wurde), Florenz, Rom und Paris. Den darauffolgenden Sommer verbrachte die Familie auf einem ihr überlassenen Landgut bei Alexin am mittelrussischen Fluss Oka, wo Tschechow seine Arbeit an dem Buch Die Insel Sachalin fortsetzte. In Briefen beklagte er oftmals die Schwierigkeiten, die ihm das Schreiben des Buches machte, das auch die Zuhilfenahme zahlreicher wissenschaftlicher und statistischer Materialien erforderte. Hinzu kam der sich immer wieder verschlechternde gesundheitliche Zustand Tschechows: Schon im Dezember 1884 hatte sich mit einem ersten Bluthustenanfall seine langjährige Tuberkulose-Erkrankung angekündigt, an der er 1904 sterben sollte. Die Strapazen seiner Reise durch Sibirien beeinträchtigten die gesundheitliche Verfassung Tschechows zusätzlich. Im November 1891 häuften sich die Hustenanfälle und andere Erkältungssymptome, was Tschechow nicht daran hinderte, in jenen Monaten aktiv ehrenamtlich tätig zu sein: So beteiligte er sich am Spendensammeln für die Hungersnot-Opfer im Gebiet Nischni Nowgorod und half vor Ort mit der Verteilung der Spenden mit. Im Frühjahr 1892 folgte ein ähnlicher Einsatz für die ebenfalls von Missernten und Hunger geplagten Bauern des südrussischen Gouvernements Woronesch. Seine Erlebnisse in den Hungersnot-Gebieten, vor allem aber seine Ablehnung der Wohltätigkeit als eine Art Allheilmittel gegen die permanenten sozialen Missstände, verarbeitete er Ende 1891 in der Erzählung Meine Frau. Das steigende Bedürfnis danach, eine ständige Sommerresidenz zu haben, in der es sich möglichst ungestört arbeiten lasse, veranlasste Tschechow dazu, im Frühjahr 1892 ein Anwesen für sich und seine Familie zu erwerben. Es handelte sich dabei um ein zu jener Zeit völlig verwahrlostes Landgut namens Melichowo nahe dem Ort Lopasnja im Ujesd Serpuchow südlich von Moskau. Im März zog die Familie von ihrer Moskauer Wohnung nach Melichowo. Dort betätigte sich Tschechow wieder als Arzt und behandelte die Bauern von Melichowo, wiederum meist kostenlos. Darüber hinaus koordinierte er dort ehrenamtlich die prophylaktischen sanitären Maßnahmen gegen die drohende Ausbreitung einer Cholera-Epidemie. Auch für sein nächstes größeres Werk, die Novelle Krankenzimmer Nr. 6 (1892), lieferten Tschechow seine Erfahrungen als Mediziner einen Großteil des Materials. Ab 1894 war Tschechow in Melichowo auch in der Dorf-Selbstverwaltung (Semstwo) ehrenamtlich tätig und initiierte später als Schirmherr den Bau mehrerer Volksschulen im Ujesd Serpuchow. Der Bücherei in seiner Heimatstadt Taganrog sowie den Schulen auf Sachalin ließ er mehrmals umfangreiche Büchersammlungen zukommen, die teilweise von Verlagen gespendet, teilweise aber auch auf eigene Kosten angeschafft wurden. In den 1890er-Jahren widmete sich Tschechow als Autor verstärkt dem Theater: Noch 1887 sah er die Uraufführung seines ersten größeren Bühnenstücks Iwanow, von 1888 bis 1889 schrieb er außerdem mehrere kurze Einakter sowie mit dem Waldschrat sein nächstes größeres Bühnenwerk, das er 1896 zu Onkel Wanja, heute einem seiner bekanntesten Stücke, überarbeitete. In Melichowo schrieb Tschechow zudem das 1895 fertiggestellte Drama Die Möwe, das bei seiner Erstaufführung im Oktober 1896 in Sankt Petersburg mit Wera Komissarschewskaja in der Hauptrolle zunächst zu einem Misserfolg wurde, später jedoch, als die beiden Regisseure Konstantin Stanislawski und Wladimir Nemirowitsch-Dantschenko es am neu gegründeten Moskauer Kunsttheater inszenierten, eine durchweg positive Resonanz erhielt. Ebenfalls aus der Melichowo-Zeit stammen mehrere bekannte Erzählungen und Novellen Tschechows, darunter Der schwarze Mönch, Rothschilds Geige (beide 1894), Das Haus mit dem Mezzanin (1896) und Die Bauern (1897); in der letzteren machte Tschechow seine eigenen, oft bedrückenden Beobachtungen aus dem Bauernleben im Ujesd Serpuchow zum Handlungsrahmen. Im März 1897 erlitt Tschechow in Moskau eine besonders heftige Lungenblutung, nach der er für mehrere Wochen in ein Krankenhaus eingeliefert wurde. Es war auch das erste Mal überhaupt, dass sich Tschechow auf seine Tuberkulose-Erkrankung hin untersuchen ließ; vorher hatte er es – obwohl selber Arzt – stets abgelehnt, medizinisch behandelt zu werden. Einige Ärzte empfahlen ihm nunmehr, sich in den Wintermonaten auf der für ihr mildes Klima bekannten Schwarzmeer-Halbinsel Krim oder auch im europäischen Ausland aufzuhalten. Tschechow folgte diesem Rat und reiste im Herbst 1897 für mehrere Monate an die französische Mittelmeerküste. Im September 1898 fuhr er nach Jalta auf der Krim und kaufte dort einen Monat später ein Baugrundstück für ein neues Anwesen. Das Landgut in Melichowo nutzte die Tschechow-Familie nach dem 1898 erfolgten Tod des Vaters Pawel Jegorowitsch immer weniger und verkaufte es schließlich im Sommer 1899. Tschechow selbst unterschrieb Anfang 1899 einen neuen Vertrag mit dem deutschstämmigen Verleger Adolf Marx, der ihm für 75.000 Rubel die Rechte an seinen Werken (mit Ausnahme der Theaterstücke) abkaufte. Von diesem Geld ließ er ein kleines Haus auf dem erworbenen Grundstück in der Nähe von Jalta bauen. Dorthin zog Tschechow im Spätsommer 1899. === Rückzug auf die Krim, letzte Jahre === Auch wenn Tschechow in Jalta Bekanntschaft mit einer Vielzahl zeitgenössischer Autoren machen konnte, mit denen ihn später auch Freundschaft verband – darunter war auch der revolutionär gesinnte Schriftsteller Maxim Gorki – und er sich auch dort für wohltätige Zwecke einsetzte, beklagte er zunehmend die öde und provinzielle Atmosphäre Jaltas, die mit dem gesellschaftlichen und kulturellen Leben Moskaus und Petersburgs nicht zu vergleichen war. So schrieb er unter anderem im Januar 1899, noch vor dem Umzug in das neu erbaute Haus, einem seiner ehemaligen Mitschüler: „Nun ist es schon eine Woche, dass es in Jalta ununterbrochen regnet, und ich möchte vor Langeweile um Hilfe rufen. Wieviel verliere ich, weil ich hier lebe!“ Um der bedrückenden Trostlosigkeit des provinziellen Lebens etwas entgegenzusteuern, las Tschechow regelmäßig Moskauer und Petersburger Nachrichtenblätter und verfolgte mit zunehmendem Interesse auch die Studentenproteste und politische Unruhen in der Hauptstadt, die sich als erste Anzeichen der aufkommenden Revolution über das ganze Land ausbreiteten. Trotz seines sich immer wieder verschlechternden gesundheitlichen Zustands zog es Tschechow zum wiederholten Male nach Moskau, so auch im September 1898, als er den Proben einer Neuinszenierung der Möwe im Moskauer Kunsttheater beiwohnte. Dort lernte er unter anderem die Schauspielerin Olga Knipper (1868–1959) kennen, die auch später oftmals die Titelrolle in seinen Stücken auf der Bühne des Kunsttheaters gespielt hatte. Tschechow und Olga Knipper trafen sich später wiederholte Male in Moskau wie auch auf der Krim, wo die Truppe des Kunsttheaters im Frühjahr 1900 ein Gastspielprogramm absolvierte. Der Autor, der Frauen bis dahin nur von kurzzeitigen Beziehungen kannte, fand in Knipper offenbar seine große Liebe, worüber ein reichhaltiger, seit ihren ersten Treffen nahezu ununterbrochener Briefwechsel zwischen den beiden Aufschluss gibt. Im Mai 1901 heirateten sie schließlich in Moskau; da Tschechow eine pompöse Hochzeitsfeier scheute, wurde die Trauung heimlich und ohne vorherige Unterrichtung der Angehörigen durchgeführt. Die Ehe blieb nach einer von Knipper im selben Jahr erlittenen Fehlgeburt kinderlos. Auch konnten sich Tschechow und Knipper aufgrund der Tatsache, dass er gesundheitsbedingt auf der Krim leben musste und sie als Schauspielerin in Moskau tätig war, nur selten sehen (bezeichnend in diesem Zusammenhang ist ein Brief Tschechows an Knipper, wo der Autor entgegen seiner Gewohnheit, die eigenen Sorgen seinen Mitmenschen gegenüber zu untertreiben, durchaus erkennen lässt, wie ernsthaft es um seine Gesundheit bestellt war: „[…] ich weiß nicht, was ich Dir sagen soll, außer dem einen, was ich Dir schon 10.000-mal gesagt habe und Dir, wahrscheinlich, noch lange sagen werde, nämlich dass ich Dich liebe – und weiter nichts. Wenn wir jetzt nicht zusammen sind, so sind daran nicht Du und nicht ich schuld, sondern der Dämon, der mir Bazillen eingehaucht hat und Dir die Liebe zur Kunst“).Auf der Krim schrieb Tschechow indes zwei weitere größere Theaterstücke, nämlich Drei Schwestern (1900) und Der Kirschgarten (1903), ebenfalls im Jaltaer Haus entstanden auch Erzählungen wie Seelchen (1898), In der Schlucht, Die Dame mit dem Hündchen (beide 1899) und Der Bischof (1902). Generell ging die literarische Arbeit in Jalta jedoch eher mühsam voran. Im Zeitraum von 1899 bis 1902 musste Tschechow vorrangig an der Zusammenstellung einer Sammlung seines Werks für den Marxschen Verlag arbeiten. Von den vielen Besuchern auf seiner Datsche fühlte er sich zunehmend belästigt, hinzu kamen die immer öfter auftretenden Hustenanfälle, Schweißausbrüche und Atembeschwerden. Tschechow versuchte weitgehend erfolglos, seine fortschreitende Tuberkuloseerkrankung mit Hilfe von Auslandsreisen abzumildern – so hielt er sich in den Wintern 1897/98 und 1900/1901 jeweils längere Zeit in Nizza auf – und auch der gemeinsame Aufenthalt mit Olga Knipper in einer Kumys-Kurstätte bei Ufa gleich nach ihrer Hochzeit vermochte die zur damaligen Zeit als unheilbar geltende Krankheit nicht zu stoppen. Der letzte öffentliche Auftritt Tschechows, während dessen er bereits von der Krankheit sichtlich gezeichnet war, war eine Autorenehrung im Moskauer Kunsttheater anlässlich der Premiere seines letzten Stücks Der Kirschgarten im Januar 1904 an seinem 44. Geburtstag. Die letzte von Tschechow geschriebene Erzählung, Die Braut, wurde noch im Frühjahr 1903 fertiggestellt. Anfang Juni 1904 ging Tschechow mit seiner Frau nach Deutschland, um sich abermals behandeln zu lassen. Nach einem Kurzaufenthalt in Berlin fuhren die beiden in den Schwarzwald-Kurort Badenweiler, wie es Tschechow ein deutschstämmiger Moskauer Arzt empfohlen hatte. Tschechow schrieb von dort nach Moskau etliche Briefe, in denen er unter anderem das ordnungserfüllte und wohlhabende, jedoch oft langweilige und „untalentierte“ Leben der Deutschen schilderte. Nach einer zeitweisen Verbesserung seines Wohlbefindens erlitt Tschechow Mitte Juli mehrere Herzschwächeanfälle, von denen der letzte in der Nacht auf den 15. Juli schließlich zum Tod führte. Olga Knipper beschrieb später in ihren Memoiren Tschechows letzte Minuten wie folgt: Tschechows Leichnam wurde per Eisenbahn nach Moskau überführt und am 22. Juli 1904 unter großer Anteilnahme auf dem Neujungfrauenkloster-Friedhof (Abschnitt 2) neben seinem Vater beigesetzt. == Auszeichnungen und Würdigungen == Zu seinen Lebzeiten wurde Tschechow dreimal ausgezeichnet. Im Oktober 1888 erhielt er von der Abteilung für Literatur der Russischen Akademie der Wissenschaften den mit 500 Rubeln dotierten Puschkin-Preis für seinen Sammelband In der Dämmerung, den er dem angesehenen Romancier Dmitri Grigorowitsch gewidmet hatte. Ende 1899 wurde Tschechow für seine ehrenamtliche Arbeit im Schulwesen des Ujesd Serpuchow mit einer weiteren Auszeichnung geehrt, nämlich mit dem Sankt-Stanislaus-Orden dritten Grades; allerdings nahm er das Ehrenzeichen nicht entgegen und ging auf die Ehrung in seinen Briefen mit keinem Wort ein. Im Januar 1900 wurde Tschechow außerdem zum Ehrenmitglied der Akademie der Wissenschaften gewählt, allerdings legte er nur zwei Jahre später, aus Protest gegen die willkürliche und politisch motivierte Aberkennung der Ehrenmitgliedschaft Maxim Gorkis, seine eigene Ehrenmitgliedschaft wieder ab.Am 25. Juli 1908 wurde Tschechow, vier Jahre nach seinem Tod, in Badenweiler das weltweit erste Denkmal gesetzt; es war überhaupt das erste für einen russischen Schriftsteller außerhalb seiner Heimat. Die Finanzierung erfolgte durch eine Benefizaufführung des Künstlertheaters in Moskau. Es wurde kurz vor dem Ende des Ersten Weltkrieges 1918 für Rüstungszwecke eingeschmolzen. Erst 1992 wurde eine neue Tschechow-Büste als Geschenk der Tschechow-Freunde der von ihm seinerzeit besuchten Insel Sachalin auf den leeren Sockel gesetzt. 1998 wurde darüber hinaus in Badenweiler im Wiesentrakt des Kurhauses das literarische Museum „Tschechow-Salon“ eröffnet, das eine Vielzahl von Briefen und Originaldokumenten zum Deutschland-Aufenthalt des Dramatikers und zu seiner Rezeption unterhält.In Russland und in anderen Nachfolgestaaten der ehemaligen Sowjetunion sind Straßen in zahlreichen Städten nach Tschechow benannt. Auch mehreren Orten wurde der Name des Autors gegeben: Zu nennen ist vor allem das ehemalige Dorf Lopasnja und die heutige Stadt Tschechow bei Moskau, in deren Nähe sich das einstige Landgut Melichowo der Tschechow-Familie befindet, und das Dorf Tschechow auf Sachalin. Ein Kurort nahe Ufa, jener Gegend also, wo sich Tschechow mit seiner Frau 1901 zur Behandlung aufhielt, trägt den Namen „Tschechowo“. 1987 wurde ein neu erbauter Moskauer U-Bahnhof zu Ehren des Schriftstellers Tschechowskaja benannt: Dieser befindet sich in der Nähe eines bis heute erhaltenen Hauses, in dem die Tschechow-Familie vor ihrem Umzug aufs Land zuletzt wohnhaft war. In einem anderen ehemaligen Wohnhaus der Tschechows, am Gartenring in der Nähe des U-Bahnhofs Barrikadnaja, befindet sich ein Hausmuseum Tschechows. In dem zweistöckigen Haus lebte die Tschechow-Familie von 1886 bis 1890. Das Museum wurde 1954 eröffnet und in Zusammenarbeit mit Tschechows Witwe Olga Knipper-Tschechowa möglichst originalgetreu eingerichtet. Bereits zehn Jahre zuvor wurde auch das ehemalige Landhaus in Melichowo als Tschechow-Museum hergerichtet. Heute trägt es die offizielle Bezeichnung Staatliches literarisch-memoriales Museumsreservat A.P.Tschechow und verfügt über einen Bestand an rund 20.000 Exponaten, der unter anderem einige Originalgemälde Lewitans und auch des früh verstorbenen Tschechow-Bruders Nikolai, der Maler war, beinhaltet. In Jalta auf der Halbinsel Krim gibt es ebenfalls ein Hausmuseum. Es handelt sich dabei um das 1898 von Tschechow gekaufte Grundstück mit einem Haus, das er nach einem individuell angefertigten Plan bauen ließ und das in Anspielung auf seine äußere Gestalt später den Beinamen „die weiße Datsche“ erhielt. Dort gestaltete Tschechow, der als passionierter Hobbygärtner galt, den Garten nach seinen genauen Vorstellungen. Das Museum enthält die gesamte Originaleinrichtung (bis hin zum Arrangement auf seinem Schreibtisch) zum Zeitpunkt seines Todes 1904, weil seine Schwester Maria darüber wachte, die das Museum bis zu ihrem Tode 1957 leitete. Weitere Tschechow-Museen bestehen in Taganrog (im ehemaligen Laden des Vaters Pawel Jegorowitsch sowie auch im Gymnasium, das Tschechow besuchte), auf Sachalin in der 1890 von Tschechow besuchten Stadt Alexandrowsk-Sachalinski und in Juschno-Sachalinsk sowie im ukrainischen Sumy auf der ehemaligen Datsche, wo die Tschechows 1888 und 1889 den Sommer verbrachten.1983 wurde der Asteroid (2369) Chekhov nach ihm benannt.1990 wurde Tschechow anlässlich seines 130. Geburtstags mit einer sowjetischen 1-Rubel-Gedenkmünze geehrt.2023 wird im Zuge des Russischer Überfall auf die Ukraine 2022 die Werke Tschechovs und anderer russischen Autoren in der Ukraine boykottiert. == Verhältnis zu anderen bekannten Künstlern == === Leo Tolstoi === Von den Persönlichkeiten der russischen Literatur war Leo Tolstoi (1828–1910) einer der prominentesten Zeitgenossen Tschechows. Bereits 1892 lobte er in einem Brief die neue Novelle Tschechows, Krankenzimmer Nr. 6, was für Tschechow umso mehr ein schmeichelhaftes Urteil zu bedeuten vermochte, als Tolstoi allgemein sehr kritisch gegenüber neuen Autoren eingestellt war. Im März 1899 schrieb Tolstois Tochter Tatjana an Tschechow: „Ihr ‚Seelchen‘ ist entzückend! Vater hat es vier Abende lang vorgelesen und meint, er sei von diesem Werk klüger geworden“. Später nannte Tolstoi Tschechow einen „der wenigen Schriftsteller, die man, ähnlich wie Dickens oder Puschkin, immer wieder von neuem lesen kann“, gab allerdings auch zu, Tschechows Theaterstücke nicht zu mögen. Das erste Treffen beider Autoren fand im August 1895 statt, als Tschechow von Tolstoi auf dessen Landgut Jasnaja Poljana eingeladen wurde – „Ich fühlte mich leicht wie zu Hause, und auch die Gespräche mit Lew Nikolajewitsch waren leicht“, schrieb Tschechow zwei Monate später. Weitere Treffen gab es unter anderem 1897, als Tolstoi den gegen Tuberkulose kämpfenden Tschechow im Krankenhaus in Moskau besuchte, sowie 1901 auf Tolstois Anwesen in Jalta. Tschechow selbst verehrte Tolstoi als Autor und lobte mehrfach dessen bekannteste Werke wie Anna Karenina oder den Historienroman Krieg und Frieden; so schrieb Tschechow, als Tolstoi im Januar 1900 lebensgefährlich erkrankt war: Unabhängig von dem großen Respekt, den Tschechow stets Tolstoi als Autor zollte, pflegte er seit den 1890er-Jahren immer häufiger zu betonen, dass er der Tolstoischen Philosophie mit ihren Ideen der „allumfassenden Liebe“ und der fatalistischen Unterwerfung sowie Tolstois übertriebenen Romantisierung des literarischen Bildes der russischen Bauernschaft zunehmend kritisch gegenüberstünde. Bekannt ist in diesem Zusammenhang sein Brief an den Verleger Suworin aus dem Jahr 1894, wo es unter anderem heißt: Auch die 1897 erschienene Novelle Die Bauern mit ihrer überaus nüchternen und düsteren Umschreibung des russischen Dorfalltags gilt als eine ablehnende Antwort auf einige Erzählungen Tolstois, in denen dieser keineswegs die Bauern selbst, sondern vielmehr die Oberschicht als Hauptschuldige an den sozialen Missständen auf dem Lande sah. === Maxim Gorki === Den Schriftsteller Maxim Gorki (1868–1936) verband mit Tschechow seit ihrem ersten Treffen 1899 in Jalta eine Freundschaft. Allgemein bekannte sich Gorki auch vorher in Briefen als Verehrer des Tschechowschen Talents und hielt dies auch in seinem 1905 veröffentlichten Aufsatz fest. Tschechow seinerseits bewertete einzelne Werke Gorkis positiv (so schrieb er über Nachtasyl: „[Das Stück] ist neuartig und zweifellos gut“), allerdings waren merkliche stilistische Unterschiede zwischen den beiden Autoren auch in Tschechows Äußerungen nicht zu übersehen. So bescheinigte er Gorki in einem Brief Ende 1898 zwar „ein wirkliches, ein großes Talent“, schrieb aber unter anderem auch: „Ich beginne damit, dass Ihnen nach meiner Meinung die Zurückhaltung fehlt. Sie sind wie ein Zuschauer im Theater, der sein Entzücken so unbeherrscht ausdrückt, dass er sich und andere beim Zuhören stört“.In den letzten Lebensjahren Tschechows setzte sich Gorki auch mehrmals dafür ein, Tschechows 1899 mit dem Verleger Marx abgeschlossenen Vertrag – der trotz der 75.000 Rubel, die Tschechow laut dessen für die Rechte an seinen Werken erhielt, als äußerst nachteilig für den Autor angesehen wurde – kündigen oder zumindest neu verhandeln zu lassen. Dies wurde von Tschechow jedoch jedes Mal abgelehnt.Anzumerken ist, dass Tschechow trotz seiner guten Verhältnisse zu Gorki dessen politisch-revolutionäre Ansichten nicht teilte. Zeit seines Lebens lehnte er jede Art von Gewalt ab und sah einzig und allein in der hartnäckigen Arbeit und in der Ausnutzung des technischen Fortschritts, nicht jedoch in einem gewaltsamen gesellschaftlichen Umbruch einen Ausweg aus der sozialen Misere. Exemplarisch hierfür ist das folgende Zitat Tschechows aus einem Brief: === Wladimir Korolenko === Der russisch-ukrainische Autor Wladimir Korolenko (1853–1921), der seine literarische Karriere fast zeitgleich mit Tschechow begann und für seine oft sehr psychologisch anmutenden Erzählungen bekannt ist, lernte Tschechow im Februar 1887 kennen und galt später als einer seiner engsten Freunde („Ich bin bereit zu schwören, dass Korolenko ein s e h r guter Mensch ist. Nicht nur neben diesem Kerl zu laufen, sogar ihm hinterher, ist kurzweilig“, so Tschechow). Später unterstützte Tschechow Korolenko gerne bei dessen wohltätigen Aktivitäten (unter anderem 1891 bei der Hungerhilfe im Nischni Nowgoroder Gouvernement). Einer der bekanntesten Aspekte des Zusammenwirkens beider Autoren war aber ihr gemeinsames Niederlegen der Ehrenmitgliedschaft in der Akademie der Wissenschaften im Sommer 1902, das als eine koordinierte öffentlichkeitswirksame Protestaktion gegen die kurz zuvor erfolgte Aberkennung der Ehrenmitgliedschaft Maxim Gorkis wegen dessen „politischer Unzuverlässigkeit“ gedacht war. === Iwan Bunin === Der spätere Literatur-Nobelpreisträger Iwan Bunin (1870–1953) nannte Tschechow mehrmals als sein literarisches Vorbild, was er unter anderem in einem Brief an Tschechow im Januar 1891 zugab („[…] Sie sind unter den zeitgenössischen Schriftstellern mein Lieblingsschriftsteller“). Er lernte Tschechow Ende 1895 in Moskau kennen und war in späteren Jahren des Öfteren ein gern gesehener Gast in seinem Haus in Jalta. Seine Erinnerungen an Tschechow schrieb Bunin 1904 nieder. === Wladimir Giljarowski === Den bekannten Moskauer Alltagsjournalisten und Autor Wladimir Giljarowski (1855–1935) lernte Tschechow während seiner Studienzeit in der Redaktion einer Unterhaltungszeitschrift kennen. Das freundschaftliche Verhältnis zu ihm bewahrte Tschechow sein Leben lang. Als ein enorm erfahrener Publizist und Menschenkenner lieferte Giljarowski Tschechow mehrmals Stoff für seine Werke. Bekannt ist beispielsweise die Erzählung Der Übeltäter (1885), deren Protagonist einer authentischen Figur entstammt, die Tschechow bei einem Besuch auf Giljarowskis Datsche in der Ortschaft Kraskowo südöstlich von Moskau kennengelernt hatte. Seine Erinnerungen an Tschechow hielt Giljarowski später in seinem 1934 veröffentlichten Buch Freunde und Begegnungen fest. === Wsewolod Garschin === Den an den Folgen eines Suizidversuchs früh verstorbenen Schriftsteller Wsewolod Garschin (1855–1888) kannte Tschechow nach seinen eigenen Aussagen nur flüchtig, obgleich er mehrfach seine Begeisterung für dessen Autorentalent zu betonen suchte. In gewisser Weise wird Tschechow als einer der literarischen Nachfolger Garschins angenommen, der sich ebenfalls als Autor realistisch geprägter Novellen betätigte, wenngleich Garschins pessimistische Ausdrucksweise ihn von Tschechow und dessen oft betontem Fortschrittsglauben stark unterschied. Seine 1888 veröffentlichte Erzählung Der Anfall, die – in Anspielung an zwei bekannte Werke Garschins – das Thema Prostitution ansprechen, widmete Tschechow dem Gedenken an Garschin und ließ sie in einem extra hierfür herausgegebenen Band, der auch Werke anderer Autoren enthielt, abdrucken. === Marija Jermolowa === Die Schauspielerin Marija Jermolowa (1853–1928), seinerzeit die bekannteste Schauspielerin in der Truppe des Moskauer Maly-Theaters, wurde von Tschechow noch in seinen Jugendjahren verehrt. Es wird angenommen, dass er sein erstes Theaterstück Vaterlos (Platonow) für sie geschrieben hatte mit dem Wunsch, es am Maly-Theater mit Jermolowa in einer Hauptrolle inszenieren zu lassen. Davon zeugt ein 1920 zusammen mit dem Manuskript des Stückes gefundener Entwurf eines Briefes, den Tschechow als Student möglicherweise an Jermolowa geschickt hatte. Persönlich getroffen hatte Tschechow Jermolowa erst 1890 („Nach dem Mittagessen beim Star spürte ich noch zwei Tage danach Sternleuchten um meinen Kopf herum“, schrieb er hierzu am 15. Februar). Jermolowa hatte zwar nie in Tschechows Stücken gespielt, fand jedoch einen sichtlichen Gefallen an der Aufführung der Drei Schwestern (hierzu schrieb Tschechows Schwester Marija am 17. Februar 1903: „[Jermolowa] war hinter den Kulissen, lobte begeistert das Spiel, meinte dass sie erst jetzt begriffen habe, was das ist – unser [Kunst-]Theater“). === Isaak Lewitan === Den bedeutenden jüdisch-russischen Maler Isaak Lewitan (1860–1900) lernte Tschechow um 1880 während seiner Studienzeit über den älteren Bruder Nikolai kennen, der zusammen mit Lewitan auf der Moskauer Hochschule für Malerei, Bildhauerei und Architektur studierte. Später galt Lewitan als einer der engsten Freunde Tschechows und seiner Familie und hegte 1890 sogar Pläne, mit ihm zusammen nach Sibirien und Sachalin zu reisen. Als Landschaftsmaler wusste Lewitan gerade die Tschechowschen Naturbeschreibungen wie in der Novelle Die Steppe zu schätzen, außerdem verbrachte er die Sommermonate oft bei der Tschechow-Familie in Melichowo und ließ sich für einige seiner Gemälde von der dortigen Natur inspirieren. Tschechow wiederum schrieb während seines ersten Frankreich-Aufenthalts im Frühjahr 1891 in seiner gewohnt ironischen Tonart: „Die russischen Maler sind weitaus seriöser als die französischen. Im Vergleich zu den hiesigen Landschaftsmalern, die ich gestern gesehen habe, ist Lewitan der König.“In den 1890er-Jahren unterbrach Lewitan sein freundschaftliches Verhältnis zu Tschechow für einige Jahre, was unter anderem daran lag, dass er eine Frau begehrt hatte, die ihrerseits für Tschechow schwärmte: dies war Lika Misinowa, eine Freundin von Tschechows Schwester Marija und eine jener kurzzeitigen Liebschaften Tschechows, die er vor seiner Bekanntschaft mit Olga Knipper mehrmals hatte und, wie auch in diesem Fall, nicht allzu ernst nahm. Der Streit verschärfte sich obendrein durch die Veröffentlichung der Erzählung Flattergeist (1892), bei der Lewitan sich in einer der Figuren wiedererkannt haben wollte und sich dadurch von Tschechow beleidigt fühlte. Später versöhnten sich die beiden wieder. So besuchte Tschechow Lewitan im Sommer 1895, als dieser, einer schweren Depression verfallen, gerade einen Selbstmordversuch hinter sich hatte („Diese wenigen Tage, die Du hier verbracht hast, sind die ruhigsten dieses Sommers gewesen“, schrieb ihm Lewitan nachher), und im Mai 1900 traf er den bereits todkranken Lewitan in Moskau ein letztes Mal. === Fjodor Schechtel === Zusammen mit Nikolai Tschechow und Isaak Lewitan studierte der später als Architekt und Erschaffer vieler prominenter Bauwerke bekannt gewordene Fjodor Schechtel (1859–1926) an der Moskauer Hochschule für Malerei, Bildhauerei und Architektur. Er war seit seiner Studienzeit ebenfalls mit Tschechow befreundet und baute 1902 das Gebäude des einige Jahre zuvor gegründeten Moskauer Kunsttheaters (das vier Stücke Tschechows zu dessen Lebzeiten aufführte) in seiner heutigen Gestalt um. 1914 errichtete Schechtel in dem von ihm präferierten Jugendstil das neue Gebäude der städtischen Bücherei in Tschechows Heimatstadt Taganrog. Diese seit dem 19. Jahrhundert bestehende Bibliothek, die heute Tschechows Namen trägt, besuchte Tschechow als Jugendlicher regelmäßig, bevor er 1879 nach Moskau aufgebrochen war. === Pjotr Tschaikowski === Auch der Komponist Pjotr Tschaikowski (1840–1893) zählte zu Tschechows engerem Bekanntenkreis, was nicht zuletzt auf Tschechows Begeisterung für Musik im Allgemeinen und für Tschaikowskis Stücke und Romanzen im Speziellen zurückzuführen war. So baute Tschechow auch in mehrere seiner Erzählungen (Mein Leben, Erzählungen eines Unbekannten, Das Kätzchen) Szenen ein, in denen bekannte Stücke Tschaikowskis erwähnt oder vorgetragen werden. Im Dezember 1888 traf Tschechow Tschaikowski in dessen Wohnung erstmals, ein Jahr später widmete er seinen neuen Sammelband Mürrische Menschen Tschaikowski persönlich. Zur damaligen Zeit hegte Tschechow auch Pläne, das Libretto der künftigen Oper Bela nach den Motiven von Lermontows Ein Held unserer Zeit für Tschaikowski zu verfassen. Dieses Vorhaben wurde jedoch nicht realisiert, da Tschaikowskis früher Tod im Jahre 1893 ihn daran gehindert hat, diese Oper zu komponieren. === Émile Zola === In einem Brief Tschechows an Suworin aus dem Januar 1898 heißt es unter anderem: „Die Dreyfusaffäre ist wieder aufgenommen worden und geht weiter, aber sie ist noch nicht ins Geleise gebracht. Zola ist eine edle Seele, und ich […] bin begeistert von seinem Zornesausbruch. Frankreich ist ein wunderbares Land, und es hat wunderbare Schriftsteller“. Hintergrund dieser Aussage über den Schriftsteller Émile Zola (1840–1902), den Tschechow nie persönlich kennengelernt hat, war die sogenannte Dreyfus-Affäre, die gerade ihren Höhepunkt erreicht hatte, als Tschechow den Winter 1897/98 in Nizza verbrachte. Tschechow, der in seinen letzten Lebensjahren verstärktes Interesse am politischen Zeitgeschehen zeigte, studierte in Nizza auch die französische Presse und traf im April 1898 den anarchistischen Journalisten Bernard Lazare, der sich ebenfalls gegen die ungerechtfertigte Verurteilung Alfred Dreyfus’ einsetzte. Von Zolas mutigem Einsatz für Dreyfus, so auch seinem Aufsatz J’accuse!, zeigte sich Tschechow sichtlich beeindruckt. Dies fand in seinen Briefen aus dieser Zeit Niederschlag, die auch darüber Aufschluss geben, wie Tschechow – der in politischen Angelegenheiten selber nie explizit eine bestimmte Stellung zu nehmen suchte – die Notwendigkeit einer Trennung der schriftstellerischen Tätigkeit von der Politik sah: == Das Werk == === Charakterisierung === Im Laufe seiner knapp fünfundzwanzigjährigen Schriftstellerlaufbahn veröffentlichte Tschechow mehrere Hundert Erzählungen, Kurzgeschichten und Feuilletons sowie über ein Dutzend Theaterstücke. Viele der frühen Werke vom Anfang der 1880er-Jahre – vornehmlich Kurzerzählungen, scherzhafte Miniaturen, Parodien und Ähnliches – sind von Tschechows charakteristischem witzigen (manchmal, wie im Tod des Beamten (1883), auch betont satirischen) Stil geprägt, während seine reifen Werke mehrheitlich dem Realismus zuzuordnen sind, wozu die wissenschaftlichen Kenntnisse Tschechows aus seinem Studium und die medizinische Erfahrung als Dorfarzt bedeutend beitrugen. Die meisten seiner wichtigen Erzählungen drehen sich um das Leben der Kleinbürger in Russland des ausgehenden 19. Jahrhunderts, um die Sünde, das Böse, den Verfall des geistigen Lebens und der Gesellschaft. Die Handlung, die nicht selten ein offenes Ende hat, ist typischerweise in eine mittel- oder südrussische Landschaft oder in eine kleinstädtische, provinzielle Umgebung eingebunden. Viele solcher Erzählungen lesen sich als tiefer, müder Seufzer. Die 1893 veröffentlichte Novelle Krankenzimmer Nr. 6 etwa, die am Beispiel der geschlossenen Psychiatrie-Abteilung eines heruntergekommenen Provinzkrankenhauses (eine der typischen Situationen, in denen Tschechow seine eigenen Erfahrungen als Arzt verarbeiten konnte) ein besonders düsteres Bild aus dem russischen Leben zeichnet, rechnet gnadenlos mit der Passivität und der bedingungslosen („stoischen“) Anpassung an offensichtliche soziale Missstände ab. In einigen seiner Werke, wie den ebenfalls äußerst bedrückenden Erzählungen Wolodja (1887), Schlafen! (1888) oder Typhus (1887), zeigt sich Tschechow zudem als brillanter Psychologe, dem es gelingt, auf eine ebenso knappe wie unmissverständliche Art und Weise das Denken und Handeln von Menschen zu schildern, die sich gerade ungewollt mit einer kritischen Situation konfrontiert sehen. Psychologisch konstruiert ist auch die von Thomas Mann später besonders gepriesene Novelle Langweilige Geschichte (1889), deren Ich-Erzähler, ein alternder Medizinprofessor, im Angesicht des Todes zum Schluss kommt, wie sinnlos sein vermeintlich erfülltes Leben, dem „eine allgemeine Idee“ fehlt, letztlich war und wie verlogen das von Anpassung und Mitläufertum geprägte Verhalten seiner Angehörigen und der anderen Mitmenschen ist. Ähnliche gedankliche Züge über den Sinn des Daseins und die subjektive Sicht des Glücks – jeweils aus Sicht sehr verschiedenartiger Figuren – lassen sich auch aus der 1898 entstandenen Trilogie Der Mann im Futteral, Die Stachelbeeren und Von der Liebe sowie aus der melancholischen Momentaufnahme der Erzählung Glück (1887) herauslesen. Die verbreitete Ansicht, Tschechow habe mit solchen Erzählungen die Passivität des Gesellschaftslebens des zaristischen Russlands kritisiert, stimmt indes nur bedingt, denn Tschechow hat seine Leser nie belehrt – er zog es immer vor, die höchst individualisierten Charaktere samt ihren spezifischen Problemen in seinen Werken vorzuzeigen, ohne ihr Handeln explizit zu bewerten oder zu kritisieren. Exemplarisch für diese Maxime ist das folgende Briefzitat Tschechows aus dem Jahr 1888: „Ich glaube nicht, dass Schriftsteller solche Fragen wie Pessimismus, Gott usw. klären sollten. Sache des Schriftstellers ist es darzustellen, wer, wie und unter welchen Umständen über Gott und den Pessimismus gesprochen oder gedacht hat. Der Künstler soll nicht Richter seiner Personen und ihrer Gespräche sein, sondern nur ein leidenschaftsloser Zeuge. Beurteilen werden es die Geschworenen, das heißt die Leser. Meine Sache ist nur, Talent zu haben, das heißt die Fähigkeit zu besitzen, die wichtigen Äußerungen von den unwichtigen zu unterscheiden, Figuren zu beleuchten und ihre Sprache zu sprechen.“ Diese neutrale, distanzierte Beobachtersicht, die für das Werk Tschechows typisch ist, hielt den Autor freilich nicht davon ab, der Handlung etlicher Erzählungen gewisse autobiografische Elemente beizufügen. So wurden in der Steppe (1888) einige Kindheitserinnerungen an Reisen durch südrussische und ukrainische Landschaften verarbeitet, in der Novelle Drei Jahre (1894) ist die bedrückende Atmosphäre des väterlichen Taganroger Ramschladens ebenfalls authentisch wiedergegeben und in Ariadna (1895) lässt sich in dem Ich-Erzähler ebenfalls Tschechow selbst auf einer Schiffsreise auf die Krim erkennen. In einem seiner längsten Werke, dem Kurzroman Das Duell (1891), lässt Tschechow in einer der Hauptfiguren einen gewaltverherrlichenden und am Handlungsende letztlich gescheiterten Sozialdarwinisten zu Wort kommen und knüpft damit an sein eigenes Interesse für die Darwinschen Lehren zur Studienzeit an. Der Erzählerstil Tschechows beschränkte sich freilich bei weitem nicht auf angedeutete Gesellschaftskritik jeglicher Art oder psychologische Erforschung der seelischen Abgründe des Menschen. Die Palette an Sujets, deren sich Tschechow in seinem Schaffen bediente, ist sehr breit und reicht von leicht bekömmlichen, fröhlichen Situationskomik-Geschichten (Vater werden ist nicht schwer (1887), Die Aalraupe (1885), Drama (1887) u. a.) oder sogar an Kinder gerichteten Tiergeschichten (Kaschtanka (1887), Bleßkopf (1895)) über desillusionierte Beobachtungen aus dem russischen Bauern- oder Kleinbürger-Alltag in Zeiten des aufkommenden Kapitalismus (Bauern (1897), Das neue Landhaus (1898), In der Schlucht (1899)) bis hin zur unmittelbaren Auseinandersetzung mit dem Tod und der allgemeinen Vergänglichkeit des Menschen (Gram (1886), Gussew (1890), Der Bischof (1902)). In einer seiner international bekanntesten Erzählungen, der Dame mit dem Hündchen (1899), die Tschechow in Jalta schrieb und deren Handlung in die dortige Landschaft eingebunden ist, zeigte sich Tschechow in exemplarischer Weise als Lyriker, der zugleich diese simple Liebesgeschichte zweier verheirateter Menschen in ein Drama mit offenem Schluss verwandelt, das dessen beide Hauptfiguren an der sinnlosen Kleinlichkeit des gesellschaftlichen Daseins immer wieder scheitern lässt – eine Anknüpfung an seine eigene große Liebe, deren volles Ausleben Tschechow ob solcher „Alltäglichkeit“ (in seinem Fall: Krankheit) ja ebenfalls verwehrt blieb. Eine Reihe seiner Werke lassen den Leser indes einen überaus optimistischen Tschechow vermuten, der trotz aller Missstände und Rückschläge das Glauben an das Gute im Menschen und vor allem an den Fortschritt, an ein künftiges besseres Leben, nicht verloren hat. Zu nennen sind in diesem Zusammenhang etwa die durch ihren krassen Stimmungsumschwung auffallende Miniatur Der Student (1894), die tiefsinnig-philosophische Novelle Der schwarze Mönch (1893) oder der mit prägenden Landschaftsaufnahmen gefüllte Kurzroman Die Steppe, die alle wie eine rauschende Huldigung an die Welt und das Menschengeschlecht wirken. Unabhängig vom jeweiligen Sujet bzw. der Stimmung ist jedoch allen Werken Tschechows die Besonderheit gemein, dass im Mittelpunkt der Handlung generell der Mensch steht, dessen Handlungs- und Denkweisen – egal ob sie einem seltsam, lächerlich, traurig oder sonst wie vorkommen – der Autor stets als unvoreingenommener Beobachter darzustellen sucht. Diese Bevorzugung der Persönlichkeit der Charaktere vor der Handlung zusammen mit der deutlichen Sparsamkeit an Erzählstrategien („Die Kürze ist die Schwester des Talents“, so Tschechow selbst), ferner Tschechows impressionistische Neigung zu den besonderen Ansichtspunkten („Ich habe noch nie unmittelbar nach der Natur geschrieben. Ich muss das Thema erst durch mein Gedächtnis filtern, bis unten im Sieb nur noch das hängenbleibt, was wichtig und typisch ist“) und der Verzicht auf die traditionellen Intrigen zählen zu seinen wichtigsten Innovationen, die seinen Stil in erheblichem Maße von dem der anderen renommierten russischen Autoren jener Zeit abheben lassen. Die in jeder Tschechowschen Erzählung vorzufindende realistische Darstellungsweise des Menschen einer jeden sozialen Schicht lässt das Gesamtwerk Tschechows wie eine überaus wahrheitsgetreue Dokumentation des russischen gesellschaftlichen Lebens des ausgehenden 19. Jahrhunderts erscheinen. In seinen Theaterstücken – von denen fast alle nach 1885 entstanden, als Tschechows literarischer Stil längst über seine rein humoristische Komponente hinaus gereift war – behielt Tschechow seine in den Erzählungen entwickelte Methode objektiver Beschreibung weitgehend bei. Zusätzlich zeichnen sich die Stücke dadurch aus, dass sie vornehmlich eine tragikomische Sicht auf die Banalität des Provinzlebens und die Vergänglichkeit des russischen Kleinadels zeigen sollen. Die meisten der dort handelnden Personen sind anständig und sensibel; sie träumen davon, ihr Leben zu verbessern, meistens jedoch vergeblich, wegen des Gefühls der Hilf- und Nutzlosigkeit, des übertriebenen Selbstmitleids und daraus folgend der fehlenden Energie und Willensstärke. Zwar lässt der Autor immer wieder andeuten, dass es einen Ausweg aus dieser Apathie gibt, nämlich in konsequenter Arbeit und nützlicher praktischer Tätigkeit, jedoch erweisen sich die Figuren meist als unfähig oder gar als nicht willens, etwas wirklich zu bewegen, was sich als ursächlich für ebendiese Vergänglichkeit, die zunehmende geistige Abstumpfung jener eigentlich intelligenten Menschen, erweist. Eine Besonderheit des Wirkens Tschechows als Dramatiker ist auch, dass er die meisten seiner Bühnenstücke als „Komödien“ bezeichnete, obwohl ihre Handlung – wenn man von den eher simpel gestrickten Einaktern wie Der Bär oder Der Heiratsantrag absieht – nicht als komisch oder lustig im eigentlichen Sinne zu bezeichnen ist. Dieser Umstand erzeugte zu Tschechows Lebzeiten oft Unverständnis nicht nur beim Publikum, sondern auch bei Theaterregisseuren, die an der Inszenierung seiner Stücke arbeiteten. Erst Jahrzehnte nach dem Tod Tschechows begriff man mehrheitlich, dass es vor allem die Protagonisten der Stücke waren, aus deren Verhalten das vermeintlich „Komische“ folgen sollte, nämlich ihre gefühlte Hilflosigkeit und allgemein ihr gestörtes Verhältnis zur Realität, durch die ihre Emotionen, Handlungen und vor allem ihre Unterlassungen – so zumindest die Intention des Autors – unfreiwillig komisch wirken. Dieses Missverstehen des Tschechowschen Anliegens war auch maßgebend schuld an dem Misserfolg des Stücks Die Möwe bei dessen Erstaufführung im Oktober 1896. Die bekanntesten Theaterstücke Tschechows sind neben der Möwe der Vierakter Onkel Wanja, das Drama Drei Schwestern sowie Tschechows letztes Werk überhaupt, die Komödie Der Kirschgarten. Alle diese Stücke weisen unterschiedliche Handlungsverläufe auf, gleichwohl haben sie in ihrem Aufbau viele Gemeinsamkeiten: Stets spielt sich die Handlung in der russischen Provinz um die Jahrhundertwende ab, die Figuren sind Kleinadlige, sie scheitern letztlich auf die eine oder andere Weise an ihrer Passivität und ihrem entstellten Realitätssinn, jedoch schleicht sich in die Handlung immer wieder auch eine Note des Optimismus und des Glaubens an eine bessere Zukunft ein (wie die von Sehnsucht erfüllte Formel „Nach Moskau!“, die sich paradigmatisch durch die gesamte Handlung der Drei Schwestern hinzieht, oder Petja Trofimows Schlusssatz „Willkommen, neues Leben!“ in der Abschiedsszene des Kirschgartens). Tschechow, der nie einen längeren Roman schrieb (auch wenn er Ende der 1880er-Jahre diese Absicht immer wieder äußerte), übte in seiner knappen, zurückhaltenden und wertfreien Erzählweise einen immensen Einfluss auf die Formung der modernen Novelle und des Schauspiels aus. Auch heute wird Tschechow daher als früher Meister der Kurzgeschichte betrachtet. === Rezeption === Viele von Tschechows späten Werken wurden noch zu Lebzeiten des Autors ins deutsche und in weitere Sprachen übersetzt und erhielten schnell internationale Resonanz. Während Tschechow im deutschsprachigen Raum, wo die russische Literatur traditionell vor allem mit Romanciers wie Tolstoi oder Dostojewski assoziiert wird, eher durch seine Bühnenwerke bekannt wurde, konnte sich sein episches Werk besonders im angelsächsischen Sprachraum seit dem frühen 20. Jahrhundert einer hohen Popularität erfreuen, da es dort mit seiner charakteristischen sparsamen Erzählweise in Form von Kurzgeschichten auf eine bereits vorhandene Tradition der Short Story, eingeleitet von Autoren wie Edgar Allan Poe, traf. Zu den bekanntesten deutschsprachigen Auflagen gehören Werkausgaben Tschechows vom DDR-Verlag Rütten & Loening sowie vom Schweizer Diogenes Verlag. Im deutschsprachigen Raum werden Tschechows Stücke bis heute oft fürs Theater adaptiert; zu den jüngsten Beispielen zählt Die Möwe am Berliner Maxim-Gorki-Theater (2000, Regie: Katharina Thalbach), das am Schauspielhaus Köln inszenierte Platonow (2003, mit Alexander Khuon in der Titelrolle), Drei Schwestern im Berliner Theater am Kurfürstendamm (2008, mit Nicolette Krebitz, Jasmin Tabatabai und Katja Riemann) oder Iwanow am Düsseldorfer Schauspielhaus (2008/09, Regie: Amélie Niermeyer, mit Christiane Paul, Matthias Leja u. a.). Zu Tschechows 150-jährigem Jubiläum inszenierte Frank Castorf das Stück Nach Moskau! Nach Moskau!, das Ende Mai 2010 beim Internationalen Tschechow-Theaterfestival in Moskau Premiere hatte und dem gleich zwei Werke Tschechows – das Bühnenstück Drei Schwestern und die Erzählung Die Bauern – zugrunde liegen. Tschechows Werk übte unmittelbaren Einfluss auf mehrere namhafte Schriftsteller und Novellisten des 20. Jahrhunderts aus. James Joyce beispielsweise gab an, Tschechow von allen russischen Schriftstellern seiner Epoche am meisten zu bewundern. Er beschrieb seine Dramen als dramaturgisch revolutionär im Verzicht auf einen Spannungsbogen und im Aufsprengen der klassischen Dramenkonventionen. In Tschechows Figuren sah er erstmals in der Theatergeschichte Individuen verwirklicht, denen es seiner Ansicht nach nicht gelingt, ihre jeweils eigene Welt zu verlassen und untereinander in Kontakt zu treten. Für Joyce erfasst Tschechow damit als erster Dramatiker eine existentielle Einsamkeit, die letztlich den Fokus eher auf das Leben als solches lenkt als auf individuelle Charaktere. Diese Äußerungen führten zu verschiedenen Studien über Tschechows Einfluss auf Joyce sowohl von anglistischer als auch von slawistischer Seite. James Atherton etwa wies mehrere Tschechow-Anspielungen in Finnegans Wake nach. Andere Kritiker, wie Richard Ellmann oder Patrick Parrinder, zeigten stilistische Parallelen zwischen Tschechows Erzählungen und denen des jungen Joyce auf. Dabei stießen sie jedoch stets auf das Problem, dass es keinen Hinweis darauf gibt, dass Joyce Tschechows Erzählungen (im Gegensatz zu den Dramen) bekannt waren; gegenüber seinem Biografen Herbert Gorman leugnete er dies sogar explizit. Aufgrund dieser Ausgangslage gilt Tschechows Einfluss auf Joyce heute zwar als belegt, aber als schwierig zu erfassen.Eine weitere Autorin, die als stark von Tschechow beeinflusst gilt, ist Katherine Mansfield, die ihn als ihren „Meister“ bezeichnete und sich in ihren Briefen und Aufzeichnungen einige Male auch theoretisch mit ihm auseinandersetzte. Viele Debatten über Tschechows Einfluss auf Mansfield gehen von ihrer Erzählung The Child-Who-Was-Tired aus, einer Adaption von Tschechows Spat Khochetsia. Mansfield übernimmt hier die Handlung Tschechows in eindeutiger Weise, verändert jedoch einige wichtige Details. Es existieren verschiedene Meinungen darüber, wie diese Ähnlichkeit zu bewerten ist: Elisabeth Schneider bezeichnete Mansfields Geschichte 1935 als freie Übersetzung Tschechows ins Englische, während Ronald Sutherland ihr eine künstlerische Eigenständigkeit zugesteht. Auf der anderen Seite erwähnt Mansfields Biograf Antony Alpers auch Plagiatsvorwürfe. Es gilt als gesichert, dass Mansfield Tschechow erstmals in Bad Wörishofen in deutscher Übersetzung las. Ihr im Anschluss daran entstandener Erzählband In a German Pension steht nach Ansicht mehrerer Kritiker stilistisch unter seinem Einfluss. Im Unterschied zu Tschechow nimmt Mansfield allerdings häufig eine größere erzählerische Nähe zu ihren Figuren ein.Gelegentlich wurden auch Franz Kafkas Erzählungen mit denen Tschechows verglichen. Stilistisch teilen sie den Hang zur größtmöglichen Einfachheit und zur gezielten Auswahl von Details, thematisch die Vorliebe für (in Tschechows Worten) „Wesentliches und Zeitloses“ sowie den Fokus auf die Ausweglosigkeit aller Probleme der menschlichen Existenz. Allerdings gibt es keine Hinweise darauf, dass Kafka Tschechows Werke bekannt waren. Der irische Dramatiker und Literatur-Nobelpreisträger George Bernard Shaw gab in der Vorrede zu seinem Bühnenstück Haus Herzenstod Anknüpfungspunkte an die Tschechowschen Menschenstudien im Kirschgarten, Onkel Wanja und der Möwe an. Auch im Stil Katherine Anne Porters, Sherwood Andersons, Ernest Hemingways, Bernard Malamuds und Raymond Carvers ist der Einfluss Tschechows zu erkennen. === Chronologische Auswahl der Werke === ==== Erzählungen, Novellen ==== ===== Bis 1888 ===== ===== 1889–1903 ===== ==== Theaterstücke ==== 1878 (?): Platonow (Bühnenstück in vier Akten; auch Vaterlos; russ. Безотцовщина) 1884: An der Landstraße. (Dramatische Etüde in einem Akt; russ. На большой дороге) 1886: Über die Schädlichkeit des Tabaks (Monolog-Szene in einem Akt; russ. О вреде табака) 1886: Schwanengesang (Dramatische Studie in einem Akt; russ. Лебединая песня) 1887: Iwanow (Drama (in urspr. Fassung „Komödie“) in vier Akten; russ. Иванов) 1888: Der Bär (Scherz in einem Akt; russ. Медведь) 1888: Der Heiratsantrag (Scherz in einem Akt; russ. Предложение) 1889: Tatjana Repina (Drama in einem Akt; russ. Татьяна Репина) 1889: Tragödie wider Willen – Aus dem Leben der Sommerfrischler (Scherz in einem Akt; russ. Трагик поневоле) 1889: Die Hochzeit (Szene in einem Akt; russ. Свадьба) 1889: Der Waldschrat (Komödie in vier Akten; russ. Леший) 1891: Das Jubiläum (Scherz in einem Akt; russ. Юбилей) 1895: Die Möwe (Drama in vier Akten; russ. Чайка) 1896: Onkel Wanja (Szenen aus dem Dorfleben in vier Akten; stark revidierte Version des Waldschrat; russ. Дядя Ваня) 1901: Drei Schwestern (Drama in vier Akten; russ. Три сестры) 1903: Der Kirschgarten (Komödie in vier Akten; russ. Вишнёвый сад) ==== Sonstiges ==== 1890: In Sibirien (Aufzeichnungen; russ. Из Сибири) 1893: Die Insel Sachalin. (Originaltitel Ostrov Sachalin, 1893, Reisebericht, übersetzt von Gerhard Dick, herausgegeben und kommentiert von Peter Urban). Diogenes, Zürich 1987, ISBN 3-257-20270-9. nicht datiert: Tagebücher, Notizbücher. Diogenes, Zürich 1983, ISBN 3-257-01634-4. Briefe (aus den Jahren 1879 bis 1904). Winkler, München 1971. nicht datiert: Der Persische Orden und andere Grotesken mit acht Holzschnitten von Wassili Nikolajewitsch Masjutin, 1922, Welt Verlag, Berlin. gedruckt bei Otto von Holten, Berlin C., deutsch von Alexander Eliasberg == Museen == Tschechow-Haus in Taganrog Tschechow-Museum Taganrog Tschechows Laden in Taganrog Tschechow-Museum Melichowo Tschechow-Museum Jalta Tschechow-Museum Gursuf Tschechow-Museum Sumy == Adaptionen == === Verfilmungen === 1926: Überflüssige Menschen – Regie: Alexander Rasumny – Vorlage: elf Novellen 1939: Čelovek v futljare – Regie: Isidor Annenski – Vorlage: Erzählung Der Mann im Futteral 1944: Die Hochzeit (Swadba) – Regie: Isidor Annenski 1944: Sommerstürme (Summer storm) – Regie: Douglas Sirk 1954: Herz ohne Liebe (Anna na scheje) – Regie: Isidor Annenski – Vorlage: Erzählung Anna am Halse 1954: Das schwedische Zündholz (Schwedskaja spitschka) – Regie: Konstantin Judin 1955: Die Grille (Poprygunja) – Regie: Samson Samsonow – Vorlage: gleichnamige Novelle (auch: Flattergeist, Eine kunstliebende Frau) 1960: Die Dame mit dem Hündchen (Dama s sobatschkoi) – Regie: Iossif Cheifiz 1961: Die Steppe (La steppa) – Regie: Alberto Lattuada 1962: Kontrabaß (Le contrebasse) – Regie: Maurice Fasquel 1963: Die drei Gesichter der Furcht (I tre volti della paura) – Regie: Mario Bava – Vorlage der dritten Episode: eine Novelle von Tschechow 1966: Seelchen (Duschetschka) – Regie: Sergei Kolossow 1966: In der Stadt S. (W gorode S.) – Regie: Iossif Cheifiz 1968: Die Möwe (The seagull) – Regie: Sidney Lumet 1968: Tragödie auf der Jagd – Regie Gerhard Klingenberg 1969: Der Kronzeuge (Glawny swidetel) – Regie: Aida Mansarewa 1970: Die Möwe (Tschaika) – Regie: Juli Karassik 1970: Onkel Wanja (Djadja Wanja) – Regie: Andrei Michalkow-Kontschalowski 1973: Diese verschiedenen, verschiedenen Gesichter (Eti rasnyje, rasnyje, rasnyje liza) – Regie: Juri Saakow – Vorlage: verschiedene Erzählungen 1973: Ein schlechter, guter Mensch (Plochoi choroschi tschelowek) – Regie: Iossif Cheifiz – Vorlage: Erzählung Das Duell 1974: Romance with a Double Bass – Regie: Robert Young – Vorlage: Erzählung Romanze mit einem Kontrabass 1975: Kaschtanka – Regie: Roman Balajan 1977: Unvollendete Partitur für ein mechanisches Klavier (Neokontschennaja pjessa dlja mechanitscheskowo pianino) – Regie: Nikita Michalkow – Vorlage: Bühnenstück Platonow 1977: Komische Leute (Smeschnyje ljudi) – Regie: Michail Schweizer 1978: Die Steppe (Step) – Regie: Sergei Bondartschuk 1978: Drama auf der Jagd (Moi laskowy i neschny swer) – Regie: Emil Loteanu 1979: Die Erbin (The beneficiary) – Regie: Carlo Gebler 1980: Erzählungen eines Unbekannten (Rasskas neiswestnowo tscheloweka) – Regie: Vytautas Žalakevičius 1982: Schwanengesang – Regie: Ulrich Engelmann (Studioaufzeichnung von drei Einaktern) 1983: Drei Schwestern – Regie: Thomas Langhoff 1984: Der Weidenbaum – Regie: Sohrab Shahid Saless 1984: Der Bär – Regie: Don Askarian 1986: Das Drama auf der Jagd (Drama a vadászaton) – Regie: Károly Esztergályos 1987: Schwarze Augen (Otschi tschornyje) – Regie: Nikita Michalkow – Vorlage: Motive nach der Erzählung Die Dame mit dem Hündchen 1987: Der schwarze Mönch (Tschorny monach) – Regie: Iwan Dychowitschny 1988: Fürchten und lieben (Paura e amore) – Regie: Margarethe von Trotta – nach Motiven des Dramas Drei Schwestern 1990: Ariadne – ARD/RAI – nach einer Kurzgeschichte – Regie: Jochen Richter – mit Barbara Wussow, Albert Fortell, Nikolaus Paryla 1992: Swan Song, basierend auf Schwanengesang – Regie: Kenneth Branagh 1994: Vanya – 42. Straße (Vanya 42d street) – Regie: Louis Malle – Vorlage: Bühnenstück Onkel Vanja. Szenen aus dem Landleben 1994: Eine Liebe in Australien (Country life) – Regie: Michael Blakemore – Vorlage: Bühnenstück Onkel Vanja. Szenen aus dem Landleben 1995: August (August) – Regie: Anthony Hopkins – Vorlage: Bühnenstück Onkel Vanja. Szenen aus dem Landleben 2003: Die kleine Lili (La petite Lili) – Regie: Claude Miller – Vorlage: Bühnenstück Die Möwe 2005: The Sisters – Regie: Arthur Allan Seidelman – Vorlage: Bühnenstück Drei Schwestern 2007: Nachmittag – Regie: Angela Schanelec – Vorlage: Bühnenstück Die Möwe 2009: The Duel – Regie: Dover Koshashvili – Vorlage: Erzählung Das Duell 2014: Winterschlaf – Regie: Nuri Bilge Ceylan === Hörspiele === 1956: Die Tragödie auf der Jagd – Bearbeitung: Josef Martin Bauer – Mitwirkende: René Deltgen, Philipp Gehly, Hanns Ernst Jäger, Hannes Messemer, Kaspar Brüninghaus, Rosel Schäfer, Bernd M. Bausch, Herbert Hennies, Karl Brückel u. a. – Regie: Eduard Hermann (WDR) Länge: 82′50 Minuten 1959: Onkel Wanja – Bearbeitung: Erika Kähler – Mitwirkende: Wolfgang Heinz, Erika Pelikowsky, Steffi Freund, Amy Frank, Emil Stöhr, Karl Paryla, Mathilde Danegger und Dieter Perlwitz – Regie: Herwart Grosse (Rundfunk der DDR) Länge: 83′38 Minuten 1972: Eine schlimme Sache (russ. Недоброе дело / Der Fehltritt) – Bearbeitung und Regie: Joachim Staritz – Mitwirkende: Walter Lendrich, Hans-Edgar Stecher, Gerhard Rachold u. a. (Rundfunk der DDR) Länge: ca. 65 Minuten 1978: Das schwedische Zündholz – Bearbeitung: Carl Dietrich Carls – Mitwirkende: Walter Jokisch, Rüdiger Lichti, Hans Helmut Dickow, Manfred Heidmann, Heinz Schacht, Alwin Joachim Meyer, Brigitte Drummer, Elisabeth Endriss und Siegfried Wischnewski – Regie: Edward Rothe (WDR) Länge: 60 Minuten 2004: Mein Herz – mein Hund, eine Liebe in Briefen. Bearbeitung: Andrea Clemen. Mitwirkende: Martina Gedeck, Christian Redl, Regieé Jannings. Länge: 65 Minuten, MDR === Hörbücher === Drei Schwestern Gelesen von Ernst Jacobi, Julia Costa, Cordula Trantow u. v. a. Der Hörverlag, München 2003. 2 CDs (Laufzeit 130 Min.). ISBN 3-89584-706-2 Der Kirschgarten Gelesen von Marianne Hoppe, Cordula Trantow, Luitgard Im, Günter Mack, Ernst Jacobi u.v. a. Der Hörverlag, München 2003. 2 CDs (Laufzeit 95 Min.). ISBN 3-89584-707-0 Die Dame mit dem Hündchen Gelesen von Matthias Haase, Argon Verlag, Berlin 2004. 1 CD (Laufzeit 48 Min.). ISBN 3-87024-693-6 Kaschtanka und andere Kindergeschichten Gelesen von Peter Urban, Diogenes Verlag AG, Zürich 2006. 1 CD (Laufzeit 85 Min.). ISBN 978-3-257-80023-4 Verocka. Geschichten von der Liebe. Gelesen von Otto Sander, Diogenes Verlag AG, Zürich 2006. 4 CDs (Laufzeit 282 Min.). ISBN 978-3-257-80902-2 Ein unnötiger Sieg. Frühe Novellen und ein kleiner Roman. Gelesen von Frank Arnold, Diogenes Verlag AG, Zürich 2008. 7 CDs (Laufzeit 425 Min.). ISBN 978-3-257-80210-8 Erzählung eines Unbekannten Gelesen von Rolf Boysen, Diogenes Verlag AG, Zürich 2009. 4 CDs (Laufzeit 239 Min.). ISBN 978-3-257-80271-9 Flattergeist, Erzählung, Ungekürzt gelesen von Ernst Schröder, Diogenes Verlag, Zürich 2009. 1 CD (Laufzeit 60 Min.) Die Dame mit dem Hündchen, Erzählung, Ungekürzt gelesen von Otto Sander, Diogenes Verlag, Zürich 2009, 1 CD (Laufzeit 50 Min.) Ein Duell, aus dem Russischen von Peter Urban, gelesen von Ulrich Matthes, Diogenes Verlag, Zürich 2010, 4 CDs (Laufzeit: 302 Min.) === Bearbeitung fürs Musiktheater === Skripka Rotshilda (dt. Rothschilds Violine). Opernfragment von Weniamin Fleischmann, ergänzt und orchestriert von seinem Lehrer Dmitri Schostakowitsch. Vollendet 1944. Konzertante UA 1960 in Moskau, szenische UA 1968 in Leningrad, jeweils unter Leitung von Maxim Schostakowitsch. Una domanda di matrimonio (dt. Der Heiratsantrag). Oper in einem Akt. Libretto: Claudio Fino und Saverio Vertone. Musik: Luciano Chailly. UA am 22. Mai 1957 in Mailand The Bear (dt. Der Bär). Extravaganza in One Act. Libretto: Paul Dehn. Musik: William Walton. UA am 3. Juni 1967 in Aldeburgh Der Kirschgarten. Oper in vier Akten. Libretto und Musik: Rudolf Kelterborn. UA am 4. Dezember 1984 in Zürich Tri sestri (dt. Drei Schwestern). Oper in drei Sequenzen. Libretto: Claus H. Henneberg und Péter Eötvös. Musik: Péter Eötvös. UA am 13. März 1998 in Lyon Tatjana. Dramma lirico in einem Akt. Libretto und Musik: Azio Corghi. UA am 20. Oktober 2000 in Mailand Senja. Oper. Libretto und Musik: Azio Corghi. UA am 7. März 2003 in Münster Unreine Tragödien und aussätzige Dramatiker. Satirische Kammeroper in fünf Szenen. Libretto und Musik: Timo Jouko Herrmann. UA am 24. Juni 2004 in Heidelberg Der Roman mit dem Kontrabass. Lyrische Szenen [Kammeroper]. Libretto: Michael Leinert. Musik: Jürg Baur. UA am 25. November 2005 in Düsseldorf Schwanengesang. Musikdramatische Etüde in einem Akt. Libretto: André Meyer. Musik: Timo Jouko Herrmann. UA am 25. Juni 2006 in Mannheim == Filme über Tschechow == 1969: Sujet für eine Kurzgeschichte (Sjuschet dlja nebolschowo rasskasa) – Regie: Sergei Jutkewitsch 1984: Tschechow in meinem Leben – Regie: Vadim Glowna (Dokumentarfilm) 1992: Stone / Der Stein (Kamen) – Regie: Aleksandr Sokurov 2010: Tschechow lieben (Tschechow und die Frauen) – Regie: Marina Rumjanzewa (Dokumentarfilm) == Literatur == nach Autoren alphabetisch geordnet Lydia Awilowa: Tschechow, meine Liebe. Erinnerungen (= Blue notes. Bd. 20). Ed. Ebersbach, Berlin 2004, ISBN 3-934703-70-4. Rosamund Bartlett: Anton Čechov. Eine Biographie. Zsolnay, Wien 2004, ISBN 3-552-05309-3. Gerhard Bauer: „Lichtstrahl aus Scherben“. Čechov (= Nexus. Bd. 56). Stroemfeld, Frankfurt am Main 2000, ISBN 3-86109-156-9. Jean Benedetti (Hrsg.): Anton Tschechow/Olga Knipper, Mein ferner lieber Mensch. Ein Liebesroman in Briefen. Fischer, Frankfurt am Main 2005, ISBN 978-3-10-009503-9. Georgi P. Berdnikow: Anton Tschechow – Eine Biographie. Volk und Wissen, Berlin 1985. Christine von Brühl: Die nonverbalen Ausdrucksmittel in Anton Čechovs Bühnenwerk (= Europäische Hochschulschriften. Reihe 16. Slawische Sprachen und Literaturen. Bd. 52). Peter Lang, Bern 1996, ISBN 3-631-49062-3. Ivan Bunin: Čechov. Erinnerungen eines Zeitgenossen. Friedenauer Presse, Berlin 2004, ISBN 3-932109-38-4. György Dalos: Die Reise nach Sachalin. Auf den Spuren von Anton Tschechow. Europäische Verlagsanstalt EVA, Hamburg 2001, ISBN 3-434-50503-2. Ingrid Dlugosch: Anton Pavlovič Čechov und das Theater des Absurden (= Forum Slavicum. Bd. 42). Fink, München 1977, ISBN 3-7705-1594-3. Raffaella Fortarel: Lebenseinstellungen – Glaubensvorstellungen. Ethische Positionen im Werk von Anton Pavlovič Čechov (= Europäische Hochschulschriften. Reihe 16. Slawische Sprachen und Literaturen. Bd. 70). Peter Lang, Frankfurt am Main 2003, ISBN 3-631-51045-4. Matthias Freise: Die Prosa Anton Čechovs. Eine Untersuchung im Ausgang von Einzelanalysen (= Studies in Slavic literature and poetics. Bd. 30). Rodopi, Amsterdam 1997, ISBN 90-420-0336-7. Horst-Jürgen Gerigk: Die Russen in Amerika. Dostojewskij, Tolstoj, Turgenjew und Tschechow in ihrer Bedeutung für die Literatur der USA. Pressler, Hürtgenwald 1995, ISBN 3-87646-073-5. Natalia Ginzburg: Anton Čechov. Ein Leben (= Salto. Bd. 1). Wagenbach, Berlin 2001, ISBN 3-8031-1116-1. Michael Haubrich: Typisierung und Charakterisierung in der Literatur. Dargestellt am Beispiel der Kurzgeschichten A. P. Čechovs. Liber, Mainz 1978, ISBN 3-88308-007-1. Renata Helker: Die Tschechows. Wege in die Moderne. Hrsg.: Deutsches Theatermuseum München. Henschel, Berlin 2005, ISBN 3-89487-502-X. Karla Hielscher: Tschechow. Eine Einführung (= Artemis-Einführungen. Bd. 34). Artemis, München 1987, ISBN 3-7608-1334-8. Roswitha Hoffrichter: Natur- und Raumdarstellungen in A. P. Cechovs Erzählungen. 1895–1902 (= Beiträge zur Slawistik. Bd. 12). Peter Lang, Frankfurt am Main 1990, ISBN 3-631-42809-X. Vladimir Borisovich Kataev (Hrsg.): Anton P. Čechov – philosophische und religiöse Dimensionen im Leben und im Werk. Vorträge des Zweiten Internationalen Cechov-Symposiums, Badenweiler, 20.–24. Oktober 1994 (= Die Welt der Slaven. Sammelbd. 1). Sagner, München 1997, ISBN 3-87690-675-X. Rolf-Dieter Kluge: Anton P. Čechov. Eine Einführung in Leben und Werk. Wissenschaftliche Buchgesellschaft WBG, Darmstadt 1995, ISBN 3-534-12631-9. Volker Müller: Tausend und eine Leidenschaft. Feuilletons, Szenen, Reisebilder, Essays aus Deutschland zum Tschechow-Jahr. Koch, Rostock 2004, ISBN 3-937179-45-3. Wladimir Nemirowitsch-Dantschenko, Konstantin Stanislawski: Tschechow oder die Geburt des modernen Theaters. Erinnerungen an Tschechow. Herausgegeben und übersetzt von Dieter Hoffmeier. Alexander Verlag, Berlin 2011, ISBN 978-3-89581-252-1. William B. Ober: Chekhov among the Doctors: The Doctors’s Dilemma. In: William B. Ober: Boswell’s Clap and Other Essays. Medical Analyses of Literary Men’s Afflications. Southern Illinois University Press, 1979; Taschenbuchausgabe: Allison & Busby, London 1988, Neuauflage ebenda 1990, ISBN 0-7490-0011-2, S. 193–205. Franz-Josef Ochsenfeld: Anton P. Tschechow, die Insel Sachalin (= Kölner medizinhistorische Beiträge. Bd. 66). Hansen, Köln 1994, ISBN 3-925341-65-X. Wolfgang Pailer: Die frühen Dramen M. Gorkij’s in ihrem Verhältnis zum dramatischen Schaffen A. P. Čechovs (= Slavistische Beiträge. Bd. 122). Sagne, München 1978, ISBN 3-87690-148-0. Peter Rippmann: Der andere Čechov. Ein Pamphlet (= Aisthesis-Essay. Bd. 12). Aisthesis, Bielefeld 2001, ISBN 3-89528-316-9. Frank Rainer Scheck: Anton Čechov. dtv-Portrait (= dtv. Bd. 31075). dtv, München 2004, ISBN 3-423-31075-8. Birgit Scheffler: Elemente des Čechovschen Dialogs im zeitgenössischen russischen Drama (= Slavistische Beiträge. Bd. 318). Sagner, München 1994, ISBN 3-87690-584-2. Wolf Schmid: Ornamentales Erzählen in der russischen Moderne. Čechov – Babel' – Zamjatin (= Slavische Literaturen. Bd. 2). Peter Lang, Frankfurt am Main 1992, ISBN 3-631-44242-4. Joachim Schnitter: Gärten als Kristallisationen von Zeit und Verlust bei Anton Tschechow und Vladimir Nabokov. In: Die Gartenkunst. Bd. 25. Nr. 1, 2013, S. 231–238. Gabriele Selge: Anton Čechovs Menschenbild. Materialien zu einer poetischen Anthropologie (= Forum Slavicum. Bd. 15). Wilhelm Fink Verlag, München 1970. Klavdia Smola: Formen und Funktionen der Intertextualität im Prosawerk von Anton Čechov (= Slavistische Beiträge. Bd. 428). Sagner, München 2004, ISBN 3-87690-877-9. Stefan Tigges: Von der Weltseele zur Über-Marionette. Cechovs Traumtheater als avantgardistische Versuchsanordnung. Transkript Verlag, Bielefeld 2010, ISBN 978-3-8376-1138-0. Anja Tippner: Alterität, Übersetzung und Kultur. Čechovs Prosa zwischen Russland und Deutschland (= Slavische Literaturen. Bd. 13). Peter Lang, Frankfurt am Main 1997, ISBN 3-631-49608-7. Henri Troyat: Tschechow – Leben und Werk. Deutsche Verlags-Anstalt DVA, Stuttgart 1987, ISBN 3-421-06352-4. Maria Tschechowa: Mein Bruder Anton Tschechow. Kindler, Berlin 2004, ISBN 3-463-40446-X. Kornej Tschukowski: Tschechow, Literatur und Kritik. In: Sowjetliteratur. Monatsschrift des Schriftstellerverbandes der UdSSR. Heft 7, 1962, S. 131–160. Kornej Tschukowskij: Tschechow. In: Tschechow, Werke in 3 Bänden. Novellen, Erzählungen, Dramen. Bd. 3. Übersetzt von Johannes von Guenther. Heinrich Ellermann, Hamburg 1963, S. 781–850 (ein Lebensbild, mit besonderer Würdigung seiner Person). Peter Urban: Čechov-Chronik. Daten zu Leben und Werk. Diogenes, Zürich 2004. ISBN 3-257-01607-7. Thomas Wächter: Die künstlerische Welt in späten Erzählungen Čechovs. Slavische Literaturen. Bd. 1. Peter Lang, Frankfurt 1992. ISBN 3-631-43844-3. Birgit Wetzler: Die Überwindung des traditionellen Frauenbildes im Werk Anton Čechovs (1886–1903). Europäische Hochschulschriften. Reihe 16. Slawische Sprachen und Literaturen. Bd. 40. Peter Lang, Frankfurt 1991. ISBN 3-631-44042-1. Elsbeth Wolffheim: Anton Čechov. Mit Selbstzeugnissen und Bilddokumenten. Rowohlts Monographien. Bd. 307. Rowohlt, Reinbek 1988. ISBN 3-499-50307-7. == Weblinks == Literatur von und über Anton Pawlowitsch Tschechow im Katalog der Deutschen Nationalbibliothek Werke von und über Anton Pawlowitsch Tschechow in der Deutschen Digitalen Bibliothek Werke von Anton Pawlowitsch Tschechow bei Zeno.org. Werke von Anton Pawlowitsch Tschechow im Projekt Gutenberg-DE Anton Pawlowitsch Tschechow im Internet Archive Werke von Anton Pawlowitsch Tschechow im Project Gutenberg (mehrheitlich englische Übersetzungen) Anton Pawlowitsch Tschechow in der Internet Movie Database (englisch) Alexander Eliasberg: Russische Literaturgeschichte in Einzelporträts. Tschechow im Projekt Gutenberg-DE Website der Deutschen Tschechow-Gesellschaft Ausführliche englischsprachige Website über Tschechow Website über Tschechow (russisch) Werke im russischen Original Sparsamer Sprachkomponist (Memento vom 18. April 2005 im Internet Archive). In: Wiener Zeitung. (zum 100. Todestag Tschechows) Für immer, vielleicht. In: Die Zeit. (zum 150. Geburtstag Tschechows) Alle lieben Tschechow – zum 150. Geburtstag des Dramatikers (Memento vom 4. März 2016 im Internet Archive). Website des Goethe-Instituts, Januar 2010 Hanns-Martin Wietek: Anton Pawlowitsch Tschechow – Versuch eines Porträts == Einzelnachweise ==
https://de.wikipedia.org/wiki/Anton_Pawlowitsch_Tschechow
Marie Curie
= Marie Curie = Marie Skłodowska Curie (* 7. November 1867 in Warschau, Russisches Kaiserreich; † 4. Juli 1934 bei Passy, geborene Maria Salomea Skłodowska) war eine Physikerin und Chemikerin polnischer Herkunft, die in Frankreich lebte und wirkte. Sie untersuchte die 1896 von Henri Becquerel beobachtete Strahlung von Uranverbindungen und prägte für diese das Wort „radioaktiv“. Im Rahmen ihrer Forschungen, für die ihr 1903 ein anteiliger Nobelpreis für Physik und 1911 der Nobelpreis für Chemie zugesprochen wurde, entdeckte sie gemeinsam mit ihrem Ehemann Pierre Curie die chemischen Elemente Polonium und Radium. Marie Curie ist die einzige Frau unter den fünf Personen, denen bisher mehrfach ein Nobelpreis verliehen wurde, und neben Linus Pauling die einzige Person, die Nobelpreise auf zwei unterschiedlichen Fachgebieten erhielt. Marie Curie wuchs im damals zu Russland gehörigen Teil Polens auf. Da Frauen dort nicht zum Studium zugelassen wurden, zog sie nach Paris und begann Ende 1891 ein Studium an der Sorbonne, das sie mit Lizenziaten in Physik und Mathematik beendete. Im Dezember 1897 begann sie die Erforschung radioaktiver Substanzen, die seitdem den Schwerpunkt ihrer wissenschaftlichen Tätigkeit bildeten. Nach dem Unfalltod Pierre Curies wurden ihr 1906 zunächst seine Lehrverpflichtungen übertragen. Zwei Jahre später wurde sie schließlich auf den für ihn geschaffenen Lehrstuhl für Allgemeine Physik berufen. Sie war die erste Frau und die erste Professorin, die an der Sorbonne lehrte. Als sich Marie Curie 1911 um einen Sitz in der Académie des sciences bewarb und im selben Jahr ihr Verhältnis mit Paul Langevin bekannt wurde, erschienen in der Boulevardpresse Artikel, in denen sie persönlich angegriffen und als Fremde, Intellektuelle, Jüdin und sonderbare Frau bezeichnet wurde. Während des Ersten Weltkrieges widmete sich Marie Curie als Radiologin der Behandlung verwundeter Soldaten. Sie entwickelte einen Röntgenwagen, der es ermöglichte, radiologische Untersuchungen in unmittelbarer Nähe der Front vorzunehmen, und beteiligte sich an der Qualifizierung der notwendigen Techniker und Krankenschwestern. Nach dem Krieg engagierte sie sich in der Internationalen Kommission für Geistige Zusammenarbeit des Völkerbundes für bessere Arbeitsbedingungen von Wissenschaftlern. An dem von ihr geleiteten Pariser Radium-Institut setzte sie sich für die Förderung von weiblichen und ausländischen Studenten ein. == Leben und Wirken == === Kindheit und Jugend === Maria Skłodowska war das jüngste von fünf Kindern des Lehrerehepaares Bronisława und Władysław Skłodowski, die beide dem niederen polnischen Landadel, der Szlachta, entstammten und zur polnischen Intelligenzija zählten. Ihr Vater Władysław hatte an der Universität Sankt Petersburg studiert und als Lehrer für Mathematik und Physik an verschiedenen staatlichen und privaten Schulen unterrichtet. Ihre Mutter Bronisława wurde am Mädchenpensionat in der Fretastraße (Ulica Freta), der einzigen privaten Mädchenschule in Warschau, ausgebildet, wo sie anschließend erst als Lehrerin und später als Schulleiterin tätig war und wo die Familie zum Zeitpunkt von Marias Geburt wohnte. 1868 wurde ihr Vater zum stellvertretenden Direktor einer öffentlichen Schule befördert, woraufhin die Familie in die mit der Stellung verbundene größere Dienstwohnung in der Nowolipki-Straße (Ulica Nowolipki) zog. Etwa zu dieser Zeit erkrankte Marias Mutter an Tuberkulose und musste ihren Posten aufgeben. Als ihr Vater 1873 aus dem Schuldienst entlassen wurde, war die Familie aus finanziellen Gründen gezwungen, ein Pensionat zu eröffnen, das anfangs zwei und später bis zu zehn Schüler beherbergte. Maria wurde mit sechs Jahren eingeschult und besuchte zunächst die von ihrer Mutter geleitete Mädchenschule in der Fretastraße. Zwei Jahre später wechselte sie auf die näher gelegene Privatschule von Jadwiga Sikorska (1846–1927). Nach dem gescheiterten Januaraufstand von 1863 wurde im russisch kontrollierten Teil Polens eine zunehmende Russifizierung betrieben. Unterricht durfte nur in russischer Sprache erteilt, polnische Geschichte und Kultur konnte nur heimlich unterrichtet werden, was gleichermaßen eine Herausforderung für Lehrer wie Schüler war. Im Herbst 1878 wechselte Maria an das öffentliche Gymnasium Nr. 3. Kurz zuvor war ihre Mutter an den Folgen ihrer Erkrankung gestorben. 1883 bestand Maria im Alter von 15 Jahren ihr Abitur als Klassenbeste. Das darauf folgende Jahr verbrachte sie bei Verwandten auf dem Land, da sie Anzeichen von Erschöpfung zeigte. In Polen durfte Maria nicht studieren, weil Frauen an Universitäten nicht zugelassen waren. Die finanzielle Situation ihres Vaters ließ eine Unterstützung während eines Auslandsstudiums nicht zu. Im Spätsommer 1884 begann Maria in der Wohnung ihres Vaters Privatunterricht zu erteilen. Während dieser Zeit nahm sie gemeinsam mit ihrer Schwester Bronia an Kursen der von Jadwiga Szczawińska-Dawidowa (1864–1910) heimlich organisierten Fliegenden Universität (Uniwersytet Latający) teil, die eine akademische Bildung ermöglichte.Ab September 1885 arbeitete Maria kurze Zeit als Hauslehrerin bei einer Anwaltsfamilie. Ende 1885 übernahm sie für dreieinhalb Jahre eine Stelle als Hauslehrerin auf dem Land in Szczuki bei Przasnysz mit der Aufgabe, die beiden ältesten Töchter der Familie Żorawski zu unterrichten. An ihren freien Abenden las sie Bücher über Physik, Soziologie, Anatomie und Physiologie, um ihre Neigungen auszuloten und sich auf das Studium vorzubereiten. Mit dem Einverständnis des Hausherrn und mit Unterstützung von dessen ältester Tochter gab Maria täglich einem Dutzend Bauernkindern Unterricht im Lesen und Schreiben. Als im Sommer des ersten Jahres ihres Aufenthalts der älteste Sohn der Familie Kazimierz Żorawski von der Universität nach Hause zurückkehrte, verliebten sich beide ineinander. Ihre Heiratspläne scheiterten jedoch am Widerstand von Kazimierz’ Familie. Im Frühjahr 1889 endete Marias Tätigkeit bei den Żorawskis. Sie fand eine weitere Hauslehrerinnenstelle in einem Badeort an der Ostseeküste. Um seine Töchter besser finanziell unterstützen zu können, hatte ihr Vater im April 1888 nach seiner Pensionierung für zwei Jahre die Leitung einer landwirtschaftlichen Erziehungsanstalt in Studzieniec in der Nähe von Warschau übernommen. Seit 1890 wohnte Maria wieder mit ihrem Vater in Warschau zusammen. Ihrem Cousin Józef Boguski, einem ehemaligen Assistenten von Dmitri Mendelejew, wurde die Leitung des Warschauer Industrie- und Landwirtschaftsmuseums (Muzeum Przemysłu i Rolnictwa) übertragen. In den Räumlichkeiten des Museums, das über ein eigenes Laboratorium verfügte, bekam Maria zum ersten Mal die Gelegenheit, eigene chemische und physikalische Experimente durchzuführen, die ihre „Neigung zur experimentellen Forschung auf dem Gebiet der Physik und Chemie“ festigte und sie in ihrem Wunsch, ein naturwissenschaftliches Studium in Paris aufzunehmen, bestärkte. === Erste Jahre in Paris === 1891 reiste Maria Skłodowska nach Paris, wo sie anfangs bei ihrer Schwester Bronia und deren Mann Kazimierz Dłuski in der Rue d’Allemagne unweit des Gare du Nord wohnte. Am 3. November schrieb sie sich als Marie Skłodowska für ein Studium der Physik an der Sorbonne ein. Unter den 9000 Studenten der Universität in diesem Jahr befanden sich 210 Frauen. Von den mehr als 1825 Studenten der Faculté des sciences waren 23 weiblich. Ihre wenigen Mitstudentinnen kamen meist aus dem Ausland, da an den französischen Mädchenschulen zu dieser Zeit die zur Baccalauréat-Prüfung notwendigen Fächer Physik, Biologie, Latein und Griechisch nicht gelehrt wurden. Marie hatte schlechtere Vorkenntnisse als ihre französischen Kommilitonen. Die sprachlichen Probleme bildeten eine zusätzliche Herausforderung. Im Winter 1891/1892 spielte sie bei einem von Exilpolen inszenierten russlandfeindlichen Theaterstück mit, was ihren Vater sehr verärgerte.Im März 1892 zog Marie Skłodowska in ein kleines möbliertes Zimmer in der Rue Flatters im Quartier Latin um, da sie mehr Ruhe für ihr Studium benötigte und näher bei den Einrichtungen der Universität wohnen wollte. In ihrem ersten Studienjahr gehörten unter anderem der Mathematiker Paul Appell und die Physiker Gabriel Lippmann und Edmond Bouty zu ihren Lehrern. Die Prüfungen für das Lizenziat der Physik (licence des sciences physiques) schloss sie im Juli 1893 als Beste ab. Im Sommer wurde ihr das Alexandrowitsch-Stipendium in Höhe von 600 Rubeln zugesprochen, das ihr die Fortsetzung des Studiums in Paris ermöglichte. Den Abschluss für das Lizenziat in Mathematik (licence des sciences mathématiques) machte sie im Juli 1894 als Zweitbeste.Die Gesellschaft zur Förderung der Nationalindustrie (Société d’Encouragement pour l’Industrie Nationale) beauftragte Marie Skłodowska Anfang 1894, eine Studie über die magnetischen Eigenschaften verschiedener Stahlsorten durchzuführen. Sie arbeitete unter sehr beengten Verhältnissen im Labor ihres Lehrers Gabriel Lippmann und war auf der Suche nach einem geeigneteren Platz für ihre Experimente, worüber sie dem Physiker Józef Kowalski, Professor an der Universität Freiburg, berichtete. Kowalski machte sie im Frühjahr mit Pierre Curie bekannt, der an der École municipale de physique et de chimie industrielles (EPCI, heute: ESPCI) unterrichtete und das dortige Laboratorium leitete. Im Sommer 1894 suchte Marie in Polen nach einer interessanten Forschungstätigkeit. Da sie kein geeignetes Angebot erhielt, beschloss sie, für ein weiteres Jahr nach Paris zurückzukehren. Dort entwickelte sich aus der beruflichen Zusammenarbeit mit Pierre Curie eine gegenseitige Zuneigung. Am 26. Juli 1895 heiratete Marie Skłodowska im Rathaus von Sceaux Pierre Curie. Das Paar zog in eine Dreizimmerwohnung in der Rue de la Glacière. In ihrem ersten Ehejahr bereitete sich Marie Curie auf die Agrégation vor, die sie berechtigte, an einer höheren Mädchenschule zu unterrichten und ihr ein eigenes Einkommen verschaffen würde. Die Prüfungen im Sommer 1896 bestand sie erneut als Beste ihres Kurses. Nebenher setzte Marie Curie ihre physikalischen Studien fort. Sie besuchte unter anderem Vorlesungen von Marcel Brillouin und dokumentierte ihre Untersuchungen über die Magnetisierung von gehärtetem Stahl, was ihre erste wissenschaftliche Veröffentlichung war. Am 12. September 1897 brachte sie ihre erste Tochter Irène zu Welt. === Wissenschaftliche Erfolge === ==== Radioaktivität und neue chemische Elemente ==== Als Marie Curie ein Thema für ihre Doktorarbeit suchte, beschloss sie, sich den „Becquerel-Strahlen“ zuzuwenden. Diese bezeichneten die im Frühjahr 1896 von Antoine Henri Becquerel zufällig entdeckte Fähigkeit einer Uranverbindung, von sich aus eine fotografische Platte zu schwärzen. Diese Strahlen blieben damals nahezu unbeachtet, während die Ende 1895 beim Betrieb einer Kathodenstrahlröhre durch Wilhelm Conrad Röntgen entdeckten Röntgenstrahlen weltweit Aufsehen erregten und zahlreiche Forschungsaktivitäten auslösten. Zunächst beabsichtigte sie, die Ionisationsfähigkeit der von Uransalzen ausgehenden Strahlung zu quantifizieren, und knüpfte mit ihren Versuchen an die Ende 1897 im Labor von Lord Kelvin durchgeführten Messungen an. In den ersten Wochen ihrer am 16. Dezember 1897 begonnenen Experimente entwickelte sie gemeinsam mit ihrem Mann Pierre ein Verfahren, das auf einem von Pierre entwickelten piezoelektrischen Elektrometer beruhte und mit dem sie die von den Strahlen verursachte Änderung der elektrischen Leitfähigkeit der Luft sehr genau messen konnte. Auf diese Weise untersuchte Marie Curie zahlreiche uranhaltige Metalle, Salze, Oxide und Mineralien, die ihr Henri Moissan, Alexandre Léon Étard (1852–1910), Antoine Lacroix und Eugène-Anatole Demarçay zur Verfügung gestellt hatten. Sie stellte dabei fest, dass Pechblende viermal und natürliches Chalcolit doppelt so aktiv wie Uran ist. Die gemessene Aktivität der uranhaltigen Stoffe erwies sich als unabhängig von ihrem Aggregatzustand und war proportional zu ihrem Urananteil. Eine Kontrollmessung an künstlich hergestelltem Chalcolit, das sie mit Hilfe des Debray-Verfahrens aus Urannitrat, Kupferphosphat und Phosphorsäure gewonnen hatte, bestätigte diese Erkenntnis. Marie Curie folgerte daraus, dass die „Becquerel-Strahlung“ eine Eigenschaft bestimmter Atome und keine chemische Eigenschaft der untersuchten Verbindung ist. Ihre Forschungsergebnisse wurden am 12. April 1898 von Gabriel Lippmann vor der Académie des sciences in Paris vorgetragen, da Marie Curie kein Mitglied der Akademie war. Ihre während dieser ersten Untersuchungen gemachte Beobachtung, dass Thorium ähnlich wie Uran strahlt, war bereits Anfang Februar 1898 unabhängig von ihr durch Gerhard Schmidt (1865–1949) entdeckt und bei einem Treffen der Physikalischen Gesellschaft zu Berlin publiziert worden.Marie Curie und ihr Mann gingen davon aus, dass die hohe Aktivität der Pechblende von einem unbekannten chemischen Element verursacht werde. In den folgenden Wochen versuchten sie, dieses Element mit chemischen Verfahren zu isolieren. Bald hatten sie Zwischenprodukte erzeugt, die viel aktiver als Pechblende waren, und folgerten daraus, dass es sich nicht um ein neues Element handele, sondern um zwei verschiedene, von denen eines chemisch Bismut und das andere Barium ähneln müsse. Der spektroskopische Nachweis des ersten neuen Elementes, das sie am 13. Juni 1898 zu Ehren von Marie Curies polnischer Heimat Polonium getauft hatten, misslang jedoch. Dennoch ließen sie fünf Tage später Henri Becquerel ihre Ergebnisse vor der Académie des sciences präsentieren. In der Überschrift des Berichtes wurde erstmals das Wort „radioaktiv“ verwendet. Im Juli wurde Marie Curie für ihre Arbeiten über die magnetischen Eigenschaften von Stahl und die Radioaktivität der mit 3800 Francs dotierte Prix Gegner der Académie des sciences zuerkannt.Im Herbst 1898 litt Marie Curie an Entzündungen der Fingerspitzen, welche die ersten bekannten Symptome der Strahlenkrankheit waren, an der sie später litt. Nach einem ausgedehnten Sommerurlaub in der Auvergne nahm das Paar am 11. November die Suche nach dem zweiten unbekannten Element wieder auf. Mit der Hilfe von Gustave Bémont gelang es ihnen schnell, eine Probe herzustellen, die 900-mal so stark wie Uran strahlte. Am 20. Dezember erhielt das neue Element im Laborbuch der Curies den Namen Radium. Diesmal ergab die von Eugène-Anatole Demarçay an der Probe vorgenommene spektroskopische Untersuchung eine Spektrallinie, die sich keinem bisher bekannten Element zuordnen ließ. Am 26. Dezember 1898 war es erneut Becquerel, der vor der Akademie von den Forschungsergebnissen der Curies berichtete. ==== Nobelpreis für Physik ==== Anfang 1899 verlagerte das Forscherpaar seine Arbeitsschwerpunkte. Gemeinsam mit Georges Sagnac und André-Louis Debierne beschäftigte sich Pierre Curie mit den physikalischen Wirkungen der Radioaktivität. Marie Curie konzentrierte sich vollständig auf die chemische Isolierung des Radiums. Dafür benötigte sie große Mengen Pechblende. Durch die Vermittlung von Eduard Suess, dem amtierenden Präsidenten der Akademie der Wissenschaften in Wien, erhielt sie eine Tonne Pechblendenabfälle aus Sankt Joachimsthal, für die sie nur die Transportkosten übernehmen musste. Von der EPCI bekam sie die Erlaubnis, einen zugigen Schuppen, der vorher als Sezierraum diente, für ihre langwierige und physisch anstrengende Arbeit zu benutzen. Im März 1900 zogen Marie und Pierre Curie in eine Wohnung am Boulevard Kellermann. Im selben Jahr wurde Marie als erste Frau an die École normale supérieure de jeunes filles (ENSJF) in Sèvres berufen, die als Frankreichs renommierteste Ausbildungsstätte für zukünftige Lehrerinnen galt, um dort Physik zu lehren. Auf einem Physikerkongress anlässlich der Pariser Weltausstellung stellten die Curies ihre Forschungsergebnisse über Radioaktivität zahlreichen ausländischen Physikern vor und verfassten aus diesem Anlass ihre bis dahin umfangreichste Abhandlung mit dem Titel Die neuen radioaktiven Substanzen und die von ihnen emittierten Strahlen. Die Académie des sciences unterstützte Marie Curies Arbeit finanziell. Noch zweimal, 1900 und 1902, wurde ihr der Prix Gegner verliehen. 1903 erhielt sie den mit 10.000 Francs dotierten Prix La Caze. Die Fortsetzung ihrer Radiumforschung sicherte die Akademie im März 1902 mit einem Kredit über 20.000 Francs. Im Juli 1902 hatte Marie Curie ein Dezigramm Radiumchlorid gewonnen und konnte damit die Atommasse des Radiums sehr genau bestimmen. Sie wandte sich anschließend ihrer Dissertation mit dem Titel Recherches sur les substances radioactives (deutsch: Untersuchungen über die radioaktiven Substanzen) zu. Die von Dekan Paul Appell am 11. Mai 1903 zugelassene Doktorarbeit verteidigte sie am 25. Juni vor Gabriel Lippmann, Henri Moissan und Edmond Bouty. Die Dissertation wurde innerhalb eines Jahres in fünf Sprachen übersetzt und 17-mal abgedruckt, darunter in den von William Crookes herausgegebenen Chemical News und den Annales de physique et chimie. Anfang 1903 traten bei Marie und Pierre Curie erste gesundheitliche Probleme auf, die sie jedoch auf Überarbeitung zurückführten. Marie Curie hatte im August 1903 eine Fehlgeburt, die sie gesundheitlich weiter schwächte. Als die Royal Society dem Ehepaar am 5. November 1903 die Davy-Medaille zusprach, die jährlich für die wichtigste Entdeckung auf dem Gebiet der Chemie vergeben wird, musste Pierre Curie allein nach London reisen, um den Preis entgegenzunehmen. Mitte November erhielten die Curies einen Brief von der Schwedischen Akademie der Wissenschaften, in dem ihnen mitgeteilt wurde, dass sie „in Anerkennung der außerordentlichen Leistungen, die sie sich durch ihre gemeinsame Forschung über die von Professor Henri Becquerel entdeckten Strahlungsphänomene erworben haben“ gemeinsam mit Henri Becquerel den Nobelpreis für Physik erhalten sollten. Die Einladung zum offiziellen Festakt im Dezember 1903 nahmen sie unter Hinweis auf ihre Unterrichtsverpflichtungen und Maries schlechte Gesundheit nicht wahr. Die Reise nach Stockholm, während der Pierre Curie einen Nobel-Vortrag über radioaktive Substanzen und speziell Radium hielt, traten sie erst im Juni 1905 an. ==== Professorin an der Sorbonne ==== Nach der Zuerkennung des Nobelpreises gerieten Marie und Pierre Curie in die Schlagzeilen der französischen Presse. So schrieb beispielsweise Les Dimanches: „Der Fall von Monsieur und Madame Curie, die auf dem Gebiet der Wissenschaft zusammenarbeiten, ist gewiss nicht das Übliche. Eine Idylle im Physiklabor, das hat die Welt noch nicht gesehen.“ () Marie Curies Rolle bei der Erforschung des Radiums wurde wechselweise unterschätzt oder übertrieben und ihre polnische Herkunft gern übersehen. Durch das Eindringen der Reporter in ihre Privatsphäre fühlten sich die Curies mehr und mehr bedrängt.Am 1. Oktober 1904 trat Pierre Curie seine Professur an dem eigens für ihn geschaffenen Lehrstuhl für allgemeine Physik an der Sorbonne an, und Marie Curie wurde die Leitung der wissenschaftlichen Arbeiten (chef des travaux) des Laboratoriums übertragen. Anfang Dezember 1904 wurde ihre zweite Tochter Ève geboren. Am 19. April 1906 geriet Pierre Curie unter die Räder eines Lastfuhrwerkes und starb noch am Unfallort. Marie Curie traf der Verlust schwer, hatte sie doch sowohl ihren geliebten Lebenspartner als auch ihren wissenschaftlichen Mitstreiter verloren. In den folgenden Jahren, in denen sie an Depressionen litt, waren Pierres Vater Eugène Curie und sein Bruder Jacques Curie ihr und ihren Kindern eine große Unterstützung. Im Frühjahr 1907 zog sie in die Rue Chemin de fer in Sceaux, um näher an Pierres Grab zu sein. Nach seinem Tod nahm sie (teilweise) wieder ihren Mädchennamen an. Die naturwissenschaftliche Fakultät der Universität musste entscheiden, wer Pierre Curies Lehrstuhl übernehmen sollte. Da Marie Curie die geeignetste Kandidatin war, um seine Vorlesungen fortzusetzen, schlug eine Kommission am 3. Mai vor, ihr die Kursverantwortung (chargé de cours) und die Leitung des Laboratoriums zu übertragen, den Lehrstuhl jedoch unbesetzt zu lassen. Marie Curie gab ihre Lehrtätigkeit an der Mädchenschule in Sèvres auf und hielt unter großer öffentlicher Aufmerksamkeit am 5. November 1906 ihre erste Vorlesung. Sie war die erste Frau, die an der Sorbonne lehrte. Die ordentliche Professur für Physik wurde ihr erst zwei Jahre später übertragen, am 16. November 1908. ==== Der internationale Radiumstandard ==== Über die Schaffung eines internationalen Radiumstandards verständigten sich Marie Curie und Ernest Rutherford erstmals im Frühjahr 1910. Insbesondere der vermehrte Einsatz des Radiums in der Medizin erforderte genaue und vergleichbare Messwerte. Auf dem im Herbst in Brüssel tagenden Kongress für Radiologie und Elektrizität wurde die zehnköpfige Internationale Radium-Standard-Kommission gebildet, der neben Ernest Rutherford, Otto Hahn und Frederick Soddy auch Marie Curie angehörte. Die Kommission legte fest, dass die Maßeinheit für die Aktivität „Curie“ genannt werden sollte, und beauftragte Marie Curie mit der Herstellung einer 20 Milligramm schweren Radiumprobe aus kristallwasserfreiem Radiumchlorid, die als Standard dienen sollte. Weitere Proben sollten am von Stefan Meyer geleiteten Wiener Radiuminstitut hergestellt werden. Der Vergleich der Proben sollte mittels aktinometrischer Messung der von den Präparaten ausgesandten Gammastrahlung erfolgen. Im August 1911 hatte Marie Curies Labor eine 22 Milligramm schwere Probe aus Radiumchlorid fertiggestellt, die bei einem Treffen der Radiumstandard-Kommission Ende März 1912 in Paris offiziell zum internationalen Standard erklärt wurde. Gemeinsam mit André-Louis Debierne hinterlegte sie das Glasröhrchen mit dem Radium-Standard am 21. Februar 1913 beim Bureau International des Poids et Mesures in Sèvres. === Öffentliche Wahrnehmung 1910/1911 === ==== Gescheiterte Aufnahme in die Académie des sciences ==== Bei einer Abstimmung über die Besetzung eines freien Platzes in der Académie des sciences unterlag Curie im Januar 1911 knapp dem Physiker Édouard Branly. Der Platz war am 31. Oktober 1910 durch den Tod des Chemikers und Physikers Désiré Gernez (1834–1910) frei geworden. Schon bald danach spekulierte die französische Presse über eine Kandidatur Curies. Sie war bereits Mitglied der Schwedischen (1910), Tschechischen (1909) und Polnischen Akademie (1909), der Amerikanischen Philosophischen Gesellschaft (1910) und der Kaiserlichen Akademie in St. Petersburg (1908) sowie Ehrenmitglied zahlreicher weiterer wissenschaftlicher Vereinigungen. In einem umfangreichen Artikel in der Zeitung Le Temps, der am 31. Dezember 1910 erschien, setzte sich Jean Gaston Darboux, der Sekretär der Akademie, öffentlich für eine Kandidatur von Marie Curie ein.Am 4. Januar 1911 kamen zur planmäßigen Plenarsitzung des Institut de France im Palais Mazarin doppelt so viele Mitglieder wie üblich, um unter der Leitung von Arthur Chuquet über die Kandidatur Marie Curies zu diskutieren. Nach kontroverser Diskussion erhielt ein Antrag, an den Traditionen des Institutes festzuhalten und keine weiblichen Mitglieder zuzulassen, eine Mehrheit von 85 zu 60 Stimmen. Fünf Tage nach dieser Entscheidung trat ein Komitee der Académie des sciences in einer geheimen Sitzung zusammen, um die Nominierungen für den vakanten Sitz vorzunehmen. Entgegen dem Beschluss des Institutes wurde Marie Curie an die erste Stelle der Nominierungsliste gesetzt, die am 17. Januar offiziell bekanntgegeben wurde. Ihr schärfster Konkurrent unter den sechs weiteren Nominierten war der Physiker Édouard Branly, mit dem sie 1903 gemeinsam den Prix Osiris erhalten hatte. Am 24. Januar 1911 fand die endgültige Abstimmung statt. Für die Wahl in die Akademie war die absolute Stimmenmehrheit der anwesenden 58 Mitglieder notwendig, also 30 Stimmen. Bei der ersten Abstimmung erhielt Edouard Branly 29 Stimmen, Marie Curie 28 Stimmen und Marcel Brillouin eine Stimme. Im zweiten Wahlgang entfielen 30 Stimmen auf Branly und 28 Stimmen auf Marie Curie, die damit die Wahl verloren hatte. An der begleitenden Pressedebatte beteiligte sich das gesamte politische Spektrum der Pariser Tagesblätter. Die sozialistische Zeitung L’Humanité verspottete das Institut de France als „frauenfeindliches Institut“. Le Figaro schrieb dagegen, „man solle nicht versuchen … die Frau dem Manne gleich zu machen!“ Die schärfsten Angriffe kamen von den rechtsgerichteten Tageszeitungen Action française von Léon Daudet und L’Intransigeant. Marie Curie bewarb sich nie wieder um einen Platz in der Akademie. Erst 51 Jahre nach ihrem vergeblichen Versuch wählte die Académie des sciences mit der Entdeckerin des Franciums, Marguerite Perey, eine Frau in ihre Reihen. ==== Die „Langevin-Affäre“ ==== Ende 1911 beschäftigte sich die französische Presse mit Curies Beziehung zu dem fünf Jahre jüngeren Paul Langevin, einem Schüler ihres 1906 verstorbenen Ehemanns Pierre. Die Familien waren miteinander befreundet und verbrachten gelegentlich den Sommerurlaub miteinander. Wohl spätestens seit Mitte Juli 1910 hatten Marie Curie und Paul Langevin eine Liebesbeziehung. Sie trafen sich in einer gemeinsam angemieteten Wohnung, in der sie auch ihren Briefwechsel aufbewahrten. Langevins Frau wurde bald auf die Vertrautheit der beiden aufmerksam und drohte Marie Curie mit Mord. Um Ostern 1911 wurden die Briefe, die sich Marie Curie und Paul Langevin geschrieben hatten, aus ihrer gemeinsamen Wohnung entwendet. Im August 1911 reichte Langevins Frau die Scheidung ein und verklagte ihren Ehemann wegen „Verkehrs mit einer Konkubine in der ehelichen Wohnung“. Um für die öffentliche Gerichtsverhandlung und die drohende Veröffentlichung der Briefe gewappnet zu sein, versicherte sich Marie Curie der Hilfe des Anwalts Alexandre Millerand, der in den 1920er Jahren französischer Staatspräsident wurde. Einen Tag nach dem Ende der ersten Solvay-Konferenz, die vom 30. Oktober bis zum 3. November 1911 stattfand und an der Curie als einzige Frau teilnahm, veröffentlichte Fernand Hauser (1869–1941) in der Zeitschrift Le Journal einen Artikel mit der Schlagzeile „Eine Liebesgeschichte. Madame Curie und Professor Langevin“. Die Zeitung Le Petit Journal folgte am darauf folgenden Tag mit der gleichen Geschichte und drohte am 6. November mit der Veröffentlichung von Liebesbriefen. Vier Tage nach den ersten Vorwürfen veröffentlichte Le Temps eine Gegendarstellung Curies, in der sie die Anschuldigungen energisch bestritt. Linke Zeitschriften und Zeitungen wie Gil Blas oder L’Humanité verteidigten Curie, während die gemäßigte Presse schwieg. Wissenschaftler wie Perrin, Poincaré, Borel, Einstein und Pierres Bruder Jacques unterstützten sie. Ab dem 18. November 1911 griff Maurice Pujo (1872–1955), Mitgründer der Zeitschrift L’Action française, in einer Artikelserie mit dem Titel Pour une mère (deutsch: Für eine Mutter) Marie Curie fast täglich an. L’Action française und L’Intransigeant drohten mit einer Veröffentlichung ihres Briefwechsels mit Paul Langevin. Fünf Tage später veröffentlichte Gustave Téry in L’Œuvre einen zehnseitigen Auszug aus der Korrespondenz vom Sommer 1910. Téry bezeichnete sie als „eine Fremde, eine Intellektuelle, eine Emanze“ und als eine Ausländerin, die ein französisches Heim zerstöre. In der Folge kam es zu fünf Duellen, darunter am 26. November eines zwischen Paul Langevin und Gustave Téry. Bei diesem Pistolenduell erfolgte jedoch kein Schusswechsel.Die Anfeindungen erreichten ihren Höhepunkt, als die Zeitung L’Œuvre Marie Curies zweiten Vornamen Salomea „entdeckte“ und in ihrer Ausgabe vom 20. Dezember 1911 fragte: „Ist Madame Curie Jüdin?“ und behauptete: „Ihr Vater ist in der Tat ein konvertierter Jude“. Nachdem sich Paul Langevin und seine Frau außergerichtlich geeinigt hatten, ebbten die Angriffe schließlich ab. Die während der „Langevin-Affäre“ erhobenen Vorwürfe und der damit verbundene „Makel“ begleiteten Marie Curie für den Rest ihres Lebens. === Nobelpreis für Chemie und weitere Forschungen === Als die Veröffentlichungen über die „Langevin-Affäre“ in der französischen Presse begannen, wurde in Stockholm über die Vergabe des Nobelpreises für Chemie beraten. Das über die Berichte besorgte Nobelkomitee beauftragte August Gyldenstolpe (1849–1928), den Botschafter Schwedens in Frankreich, Curie und Langevin zu den Vorwürfen zu befragen. Mit der Entscheidung der Akademie vom 7. November 1911, Marie Curie den Chemiepreis zuzuerkennen, die ihr Christopher Aurivillius, der damalige Ständige Sekretär der Schwedischen Akademie der Wissenschaften telegraphisch mitteilte, wurde erstmals einer Person zum zweiten Mal ein Nobelpreis zuerkannt. Die französischen Medien berichteten allerdings nur spärlich über diese Auszeichnung. Die anschließende Veröffentlichung des Briefwechsels und das Duell Langevins versetzte die Schwedische Akademie der Wissenschaften in Unruhe: Das Akademiemitglied Svante Arrhenius, Chemie-Nobelpreisträger von 1903, schrieb ihr einen Brief, in dem er versuchte, sie von einer Reise zur Preisverleihung abzubringen, was sie allerdings bestimmt zurückwies. Allen Widerständen zum Trotz reiste Marie Curie gemeinsam mit ihrer Schwester Bronia und ihrer Tochter Irène zur Nobelpreis-Zeremonie nach Stockholm, wo sie am 10. Dezember den Nobelpreis für Chemie „in Anerkennung ihrer Verdienste um den Fortschritt der Chemie durch die Entdeckung der Elemente Radium und Polonium, durch Isolierung des Radiums und die Untersuchung der Natur und der Verbindungen dieses bemerkenswerten Elementes“ entgegennahm. Besonders hervorgehoben wurde die ihr gemeinsam mit André-Louis Debierne gelungene Herstellung von metallischem Radium. Am darauffolgenden Tag hielt sie ihre Nobelvorlesung.Nach der Rückkehr aus Stockholm verschlechterte sich Marie Curies Gesundheitszustand. Sie litt an einer Nierenbeckenentzündung, die operativ behandelt werden musste. Sie zog von ihrem Haus in Sceaux, wo sie von Nachbarn beschimpft wurde, in den vierten Stock eines Apartmenthauses am Quai de Béthune auf der Île Saint-Louis um. 1912 und 1913 reiste sie meist unter falschem Namen und bat Freunde und Verwandte, keine Auskunft über ihren Aufenthaltsort zu geben. Im Juli 1912 hielt sie sich in England bei Hertha Marks Ayrton, der Frau von William Edward Ayrton, auf, die sich vergeblich um eine Aufnahme in die Royal Society bemüht hatte und die ihr eine wichtige Freundin wurde. Elf Jahre lang veröffentlichte sie ihre Artikel nicht mehr in den Comptes rendus, dem Publikationsorgan der Akademie der Wissenschaften, sondern bevorzugte stattdessen Zeitschriften wie Le Radium und das Journal de physique. Im Verlauf des Jahres 1913 besserte sich ihr Gesundheitszustand, und sie konnte gemeinsam mit Heike Kamerlingh Onnes die Eigenschaften der Radiumstrahlung bei tiefen Temperaturen untersuchen. Im März 1913 erhielt sie Besuch von Albert Einstein, mit dem sie einen Sommerausflug in das Schweizer Engadin unternahm. Im Oktober nahm sie an der zweiten Solvay-Konferenz teil, und im November reiste sie nach Warschau, um das zu ihren Ehren erbaute Radium-Institut einzuweihen. === Radiologin im Ersten Weltkrieg === Bereits in der zweiten Kriegswoche des Ersten Weltkrieges fand Marie Curie in der Radiologie ein neues Betätigungsfeld. Vom Radiologen Henri Béclère, einem Cousin von Antoine Béclère (1856–1939), erlernte sie die Grundlagen der Strahlenbehandlung und vermittelte das Wissen umgehend an Freiwillige weiter. In den Krankenhäusern, in denen sie arbeitete, herrschte ein akuter Mangel an Personal sowie an geeigneten Röntgenapparaten, und es gab nur eine unzureichende Stromversorgung. Diese Umstände brachten sie auf die Idee, eine mobile Röntgeneinrichtung zu schaffen, mit der verwundete Soldaten in unmittelbarer Nähe der Front untersucht werden könnten. Mit der Unterstützung der Französischen Frauenunion gelang es Marie Curie, einen ersten Röntgenwagen auszustatten. Für einen Einsatz an der Front benötigte sie die Genehmigung des Militärgesundheitsdienstes Service de Santé. Dort fand sich jedoch niemand, der bereit war, ihren Antrag zu bearbeiten, bis er schließlich an den Kriegsminister Alexandre Millerand gelangte, ihren ehemaligen Anwalt in der „Langevin-Affäre“. Er leitete ihren Antrag an General Joseph Joffre weiter, den Kommandierenden an der Front, der Marie Curies Antrag schließlich genehmigte. In Begleitung ihrer Tochter Irène und eines Mechanikers fuhr sie am 1. November 1914 zum ersten Mal mit ihrem Röntgenwagen zu einem Lazarett der Zweiten Armee in Creil, das sich 30 Kilometer hinter der Frontlinie befand. Während des Krieges rüstete Marie Curie insgesamt 20 radiologische Fahrzeuge aus. Im Juli 1916 machte sie den Führerschein, um die Fahrzeuge selbst steuern zu können. Mit Hilfe privater Spenden und der Unterstützung des Komitees Le Patronage National des Blessés entstanden unter Mitwirkung Marie Curies etwa 200 neue oder verbesserte radiologische Zentren. Gemeinsam mit ihrer achtzehnjährigen Tochter Irène gab sie ab Oktober 1916 sechswöchige Intensivkurse am neuen, nach der von den Deutschen hingerichteten britischen Krankenschwester Edith Cavell benannten Ausbildungskrankenhaus, bei denen Frauen zu Röntgentechnikern (manipulatrices) ausgebildet wurden. Bis Kriegsende schlossen etwa 150 Frauen diese Kurse erfolgreich ab. Die während des Krieges mit dem Einsatz von radiologischen Methoden gemachten Erfahrungen beschrieb Marie Curie in ihrem Buch La Radiologie et la Guerre, das 1921 veröffentlicht wurde. === Aufenthalt in Amerika === Im Mai 1920 gewährte Marie Curie Marie Meloney (1878–1943), der Herausgeberin des amerikanischen Frauenmagazins The Delineator, ein Interview. Das schlichte Auftreten Marie Curies und die kärglichen Bedingungen am Institut du Radium, unter denen sie arbeitete, beeindruckten Meloney. Im Verlauf des Gesprächs erfuhr sie, dass es Curies dringlichster Wunsch war, ein Gramm Radium für die Fortsetzung ihrer Forschungsarbeiten zu erhalten. Die Vorräte des Institutes waren infolge der damit durchgeführten Therapien im Ersten Weltkrieg stark zurückgegangen und der Handelspreis für ein Gramm Radium betrug zu dieser Zeit für das Institut unerschwingliche 100.000 US-Dollar.Nach ihrer Rückkehr gründete Meloney in den Vereinigten Staaten das Marie Curie Radium Fund Committee mit dem Ziel, 100.000 Dollar für die Beschaffung von einem Gramm Radium zu sammeln. Am 3. Mai 1921 vergab das Komitee, das bis dahin 82.000 Dollar gesammelt hatte, den Auftrag für die Herstellung des gewünschten Radiums an die Standard Chemical Company in Pittsburgh, die seit 1911 Radium in größeren Mengen produzierte. Meloney überzeugte Marie Curie von der Notwendigkeit einer längeren Amerikareise. Sie bereitete diese unter anderem mit der fast ausschließlich Marie Curie gewidmeten Ausgabe des Delineators im April 1921 vor. Am 4. Mai 1921 ging Marie Curie gemeinsam mit ihren beiden Töchtern und in Begleitung von Marie Meloney an Bord der Olympic. Sieben Tage später traf sie in New York City ein, wo sie von einer großen Menschenmenge begrüßt wurde. Über ihre Ankunft berichtete die New York Times auf ihrer Titelseite unter der Schlagzeile Madame Curie hat vor, dem Krebs ein Ende zu bereiten. Curies Entgegnung, dass „Radium kein Heilmittel gegen jede Art von Krebs“ sei, brachte die New York Times hingegen erst auf Seite 22. Während ihres Aufenthaltes wurde ihre Rolle als Wissenschaftlerin in den Hintergrund gerückt und sie vornehmlich als „weibliche Heilende“ dargestellt. Marie Curie besuchte zunächst verschiedene Frauencolleges, die für sie im Rahmen von Meloneys Kampagne gespendet hatten. Höhepunkt war eine am 18. Mai von der American Association of University Women organisierte Veranstaltung, bei der sie vor 3500 Frauen sprach. Nachdem ihr am 20. Mai durch Präsident Warren G. Harding im Blauen Zimmer des Weißen Hauses symbolisch das für sie gesammelte Gramm Radium übergeben worden war, begann Curie eine Rundreise durch die Vereinigten Staaten. Ihre Ziele waren das Labor von Bertram Boltwood, die Fabriken der Standard Chemical Company in Oakland und Canonsburg, aber auch die Niagarafälle und der Grand Canyon. Die zahlreichen öffentlichen Auftritte erschöpften sie, und sie ließ sich immer öfter durch ihre Töchter vertreten. Während ihres Aufenthaltes wurden ihr neun Ehrendoktorate verliehen. Der Bereich Physik der Harvard University verweigerte ihr diese Ehrenbezeugung jedoch mit der Begründung, „sie habe seit 1906 nichts Wichtiges geleistet“. Vor ihrer Rückreise am 25. Juni an Bord der R.M.S. Olympic entschuldigte sich Curie für ihre gesundheitliche Schwäche: „Meine Arbeit mit dem Radium … vor allem während des Krieges hat meine Gesundheit so sehr geschädigt, dass es mir nicht möglich ist, alle Laboratorien und Colleges zu sehen, für die ich ein tiefes Interesse hege.“Im Oktober 1929 reiste Marie Curie ein zweites Mal nach Amerika. Während dieses zweiten Aufenthalts überreichte Präsident Herbert C. Hoover ihr einen Scheck über 50.000 Dollar, der für den Ankauf von Radium für das Radium-Institut in Warschau gedacht war. === Wirken für den Völkerbund === Auf Empfehlung des Präsidenten des Völkerbundrates Léon Bourgeois forderte die Versammlung des Völkerbundes den Rat am 21. September 1921 auf, eine Kommission zu ernennen, die die Zusammenarbeit fördern sollte. Die Bildung der Internationalen Kommission für geistige Zusammenarbeit wurde am 14. Januar 1922 vom Völkerbundsrat offiziell beschlossen. Ihr sollten zwölf vom Rat ernannte Mitglieder angehören, die aufgrund ihres wissenschaftlichen Rufes und ohne Rücksicht auf die Staatszugehörigkeit gewählt wurden. Unter den aus einer Liste von 60 Kandidaten ausgewählten Wissenschaftlern, deren Nominierung am 15. Mai 1922 bekanntgegeben wurde, befand sich auch Marie Curie.Während ihrer zwölfjährigen Tätigkeit für die Kommission – eine Zeit lang war sie deren Vizepräsidentin – setzte sie sich für die Gründung einer internationalen Bibliografie wissenschaftlicher Publikationen ein, bemühte sich um die Ausarbeitung von Richtlinien für eine länderübergreifende Vergabe von Forschungsstipendien und versuchte einen einheitlichen Urheberschutz für Wissenschaftler und deren Erfindungen zu etablieren. === Das Radium-Institut Paris === Die Gründung des Institut du Radium in der Rue des Nourrices (der späteren Rue Curie) ging auf eine Idee von Émile Roux, dem Leiter des Institut Pasteur, im Jahr 1909 zurück. Gemeinsam mit dem Vizerektor der Universität, Louis Liard (1846–1917), erarbeitete er einen Plan für zwei separate Laboratorien. Eines sollte die Physik und Chemie radioaktiver Elemente erforschen und von Marie Curie geleitet werden, das andere hatte die Aufgabe, unter der Leitung von Claude Regaud (1870–1940) die medizinischen Anwendungsmöglichkeiten der Radioaktivität zu studieren. Die Bauarbeiten nach den Plänen des Architekten Henri-Paul Nénot begannen 1912.Im Jahr 1914 wurde Marie Curie zur Leiterin des Radium-Instituts ernannt. Beim Ausbruch des Ersten Weltkriegs blieb sie in Paris, um über den Radiumvorrat des Institutes zu wachen. Das im Auftrag der französischen Regierung aus Sicherheitserwägungen am 3. September 1914 nach Bordeaux in Bleibehältern ausgelagerte Radium kehrte 1915 an das Institut zurück. In diesem Jahr vollzog Marie Curie schrittweise den Umzug aus ihrem alten Laboratorium in das neue Gebäude.1916 wurde auf ihren Vorschlag hin am Institut die Abteilung Emanation geschaffen. Die für die „Radiumtherapie“ hergestellten Radium- und Radonampullen wurden für die Behandlung verwundeter Soldaten benutzt. Henri de Rothschild (1872–1946) gründete 1920 die Curie-Stiftung, um die wissenschaftliche und medizinische Arbeit am Institut zu unterstützen. Die Académie nationale de Médecine nahm Marie Curie am 7. Februar 1922 „in Anerkennung ihrer Verdienste bei der Entdeckung des Radiums und einer neuen Methode zur Krebsbehandlung, der Curie-Therapie“ als freies Mitglied in ihre Reihen auf. Im Frühjahr 1919 begannen die ersten Lehrveranstaltungen am Institut. Mitarbeiter des Radium-Institutes veröffentlichten von 1919 bis 1934 insgesamt 438 wissenschaftliche Artikel, darunter 34 Dissertationen. 31 Artikel stammten von Marie Curie. Bedeutende Arbeiten stammten beispielsweise von Salomon Aminyu Rosenblum (1896–1959), der die Feinstruktur der Alphastrahlung nachwies, sowie von Irène Joliot-Curie und Frédéric Joliot-Curie, denen es erstmals gelang, ein Radionuklid künstlich herzustellen. Marie Curie förderte bewusst Frauen und aus dem Ausland stammende Studierende. 1931 waren zwölf von 37 Forschern am Institut Frauen, darunter Ellen Gleditsch, Eva Ramstedt und Marguerite Perey, die bedeutende Beiträge zur Erforschung der Radioaktivität leisteten.Die Auszeichnung ihrer Tochter Irène mit dem Nobelpreis für Chemie, den diese 1935 gemeinsam mit ihrem Ehemann „in Anerkennung ihrer Synthese neuer radioaktiver Elemente“ erhielt, erlebte Marie Curie nicht mehr. Sie starb am 4. Juli 1934 im Alter von 66 Jahren im Sanatorium Sancellemoz bei Passy (Hochsavoyen) an einer „aplastischen perniziösen Anämie“, einer durch Schädigung des Knochenmarks verursachten Bluterkrankung, die vermutlich auf ihren langjährigen Umgang mit radioaktiven Elementen zurückzuführen ist. Dieser Auffassung war Claude Regaud, Professor am Radium-Institut Paris, der schrieb, dass man sie zu den Opfern des Radiums zählen könne. == Würdigung und Rezeption == Marie Curies wissenschaftliche Arbeit wurde mit zahlreichen Wissenschaftspreisen und -medaillen gewürdigt. Darunter befanden sich der Actonian Prize der Royal Institution of Great Britain (1907), der Ellen Richards Prize der American Association to Aid Scientific Research by Woman (1921), der Grand Prix du Marquis d’Argenteuil der Société d’Encouragement pour l’Industrie Nationale (1923) und der Cameron Prize der Universität Edinburgh (1931). Sie ist bislang die einzige Frau, der zwei Nobelpreise verliehen wurden. Sie war Mitglied und Ehrenmitglied einer Vielzahl von wissenschaftlichen Gesellschaften und erhielt Ehrendoktorate von Universitäten auf der ganzen Welt, deren Auflistung in Ève Curies 1937 veröffentlichten Biografie über ihre Mutter fünf Seiten umfasst. Im Jahr 1932 wurde sie zum Mitglied der Leopoldina gewählt. Zu Ehren von Marie und Pierre Curie sind die Bezeichnungen des chemischen Elements Curium und der Einheit Curie gewählt worden, das Curie ist eine Maßeinheit für die Aktivität eines radioaktiven Stoffes. Ebenfalls nach ihr wurden 1924 und 1933 die Minerale und Sklodowskit und Cuprosklodowskit sowie 1951 die in der Antarktis gelegene Curie-Insel benannt. 1961 wurde der Mondkrater Sklodowska nach ihr benannt. Die Universität Pierre und Marie Curie in Paris, die Maria-Curie-Skłodowska-Universität in Lublin und die Curie Metropolitan High School in Chicago sowie etliche Schulen, beispielsweise in Deutschland, tragen Marie Curies Namen. Unter der Bezeichnung Marie-Curie-Programm (seit 2007 Marie Curie Actions) fördert die Europäische Kommission in mehreren Forschungsausbildungs- und Mobilitätsprogrammen Nachwuchswissenschaftler.Das Radium-Institut Paris und die Curie-Stiftung schlossen sich 1970 zum Institut Curie zusammen, das sich im Sinne Marie Curies der Forschung, Lehre und Krebsbehandlung verschrieben hat. 1973 wurde der Marskrater Sklodowska nach ihr benannt. Ein Onkologiezentrum in Warschau ist nach ihr benannt, es steht in der Tradition eines von ihr 1932 initiierten Radium-Institutes in Polen. Im Jahr 1992 wurde das ehemalige Labor Marie Curies als Curie Museum der Öffentlichkeit zugänglich gemacht. Es dient zugleich als Archiv. In Warschau befindet sich das 1967 eröffnete Maria-Skłodowska-Curie-Museum. Die Association Curie et Joliot-Curie pflegt den Nachlass der Curie-Familie. Anlässlich des 75. Jahrestages der Gründung der Curie-Stiftung wurden 1995 die sterblichen Überreste von Marie und Pierre Curie in das Pariser Panthéon überführt. Im Jahr 2011 wurde die vormalige Most Północny in Warschau in Most Marii Skłodowskiej-Curie umbenannt. Aufgrund ihrer Biografie wurde Marie Curie noch zu ihren Lebzeiten von der polnischen Frauenbewegung für deren Ziele vereinnahmt. Marie Curie engagierte sich jedoch nicht für diese Bewegung und setzte sich nicht für deren Ziele ein.Marie Curies Bild in der Öffentlichkeit wurde lange Zeit maßgeblich durch die von ihrer Tochter Ève verfasste überhöhte biografische Darstellung bestimmt. Ève Curie stellte eine Frau dar, die sich ganz der Wissenschaft gewidmet hatte und der persönliche Niederlagen nichts anhaben konnten. Die Ablehnung der Aufnahme Marie Curies in die französische Akademie der Wissenschaften und die „Langevin-Affäre“ wurden beispielsweise nur beiläufig erwähnt. Die in der Französischen Nationalbibliothek aufbewahrten Tagebücher, die Marie Curie nach dem Tod ihres Mannes begonnen hatte, wurden der Forschung erst 1990 zugänglich. Susan Quinn (* 1940) konnte bei ihren siebenjährigen Recherchen für ihr Buch Marie Curie. Eine Biographie bisher unzugängliche Dokumente über die „Langevin-Affäre“ auswerten und so ein sehr differenziertes Bild der Persönlichkeit Marie Curies zeichnen. Die Universität Hamburg zog 1985 in ihrem Begleitheft zur Ausstellung Frauen in den Naturwissenschaften das folgende Fazit: == Schriften (Auswahl) == === Bücher === Recherches sur les substances radioactives. Gauthier-Villars, Paris 1903; online (deutsche Ausgabe: Untersuchungen über die radioaktiven Substanzen. Vieweg und Sohn, Braunschweig 1903, übersetzt von Walter Kaufmann; archive.org, gutenberg.org). Traité de Radioactivité. 2 Bände, Gauthier-Villars, Paris 1910 (deutsche Ausgabe: Die Radioaktivität. Akademische Verlagsgesellschaft, Leipzig 1911–1912, übersetzt von B. Finkelstein). La Radiologie et la Guerre. Félix Alcan, Paris 1921 (online). Pierre Curie. Ins Englische übersetzt von Charlotte und Vernon Kellogg. Macmillan Co., New York 1923 (online); französische Ausgabe (online). L’Isotopie et les éléments isotopes. Albert Blanchard, Paris 1924. Les rayons α, β, γ des corps radioactifs en relation avec la structure nucléaire. Hermann & Cie: Paris 1933 (online). Radioactivité. Hermann & Cie., Paris 1935 – posthum Irène Joliot-Curie (Hrsg.): Prace Marii Skłodowskiej-Curie. Panstwowe Wydawnictwo Naukowe, Warszawa 1954 (Werke in polnisch und französisch) === Autobiografie === The story of my life. In: The Delineator, Band 100: Nr. 1, Januar 1922 S. 4–5. Nr. 2, Februar 1922 S. 19–20. Nr. 3, März 1922 S. 15, S. 90. Autobiographical Notes. In: Pierre Curie. Macmillan Co., New York 1923, S. 155–227 (online). Autobiografia. Panstwowe Wydawnictwo Naukowe: Warszawa 1959 (deutsche Ausgabe: Selbstbiographie. B. G. Teubner, Leipzig 1962). === Zeitschriftenaufsätze === Propriétés magnétiques des aciers trempés. In: Comptes rendus hebdomadaires des séances de l’Académie des sciences. Band 125, S. 1165–1168, 1897 (online). Propriétés magnétiques des aciers trempés. In: Bulletin de la Societe d’Encouragement pour l’Industrie Nationale. Januar 1898, 5th Series, Vol. 3, S. 36–76. Rayons émis par les composés de l’uranium et du thorium. In: Comptes rendus hebdomadaires des séances de l’Académie des sciences. Band 126, S. 1101–1103, 1898 (online). Sur une substance nouvelle radio-active, contenue dans la pechblende. In: Comptes rendus hebdomadaires des séances de l’Académie des sciences. Band 127, S. 175–178, 1898 (online) – mit Pierre (Entdeckung von Polonium). Sur une nouvelle substance fortement radio-active contenue dans la pechblende. In: Comptes rendus hebdomadaires des séances de l’Académie des sciences. Band 127, S. 1215–1217, 1898 (online) – mit Pierre und Gustave Bémont, vorgetragen von Henri Becquerel (Entdeckung von Radium) Sur la radio-activité provoquée par les rayons de Becquerel. In: Comptes rendus hebdomadaires des séances de l’Académie des sciences. Band 129, S. 714–716, 1899 (online). Effets chimiques produits par les rayons de Becquerel. In: Comptes rendus hebdomadaires des séances de l’Académie des sciences. Band 129, S. 823–825, 1899 (online). Sur la charge électrique des rayons déviables du radium. In: Comptes rendus hebdomadaires des séances de l’Académie des sciences. Band 130, S. 647–650, 1900 (online). Les nouvelles substances radioactives et les rayons qu’elles emettent. In: Rapports présentés au congrès International de Physique réuni à Paris en 1900 sous les auspices de La Société Française de Physique. Gauthier-Villars, Paris 1900, Band 3, S. 79–114 (online) – mit Pierre Sur les corps radioactifs. In: Comptes rendus hebdomadaires des séances de l’Académie des sciences. Band 134, S. 85–87, 1902 (online). Sur le poids atomique du radium. In: Comptes rendus hebdomadaires des séances de l’Académie des sciences. Band 135, S. 161–163, 1902 (online) – vorgetragen von Eleuthère Mascart (Atomgewicht von Radium 225 ±1). Sur la diminution de la radioactivité du polonium avec le temps. In: Comptes rendus hebdomadaires des séances de l’Académie des sciences. Band 142, S. 273–276, 1906 (online) – vorgetragen von Pierre Curie (Halbwertszeit von Polonium). Sur le poids atomique du radium. In: Comptes rendus hebdomadaires des séances de l’Académie des sciences. Band 145, S. 422–425, 1907 (online) (Atomgewicht von Radium 226,45). Action de la pesanteur sur le dépôt de la radioactivité induite. In: Comptes rendus hebdomadaires des séances de l’Académie des sciences. Band 145, S. 477–480, 1907 (online). Action de l’émanation du radium sur les solutions de sels de cuivre. In: Comptes rendus hebdomadaires des séances de l’Académie des sciences. Band 147, S. 345–349, 1908 (online) – mit Ellen Gleditsch. Sur le radium métallique. In: Comptes rendus hebdomadaires des séances de l’Académie des sciences. Band 151, S. 523–525, 1910 (online) – mit André-Louis Debierne (metallisches Radium). The radiation of radium at the temperature of liquid hydrogen. In: Proceedings of the Koninklijke Nederlandse Akademie van Wetenschappen. Band 15 II, S. 1406–1430, Amsterdam 1913 (PDF) – mit Heike Kamerlingh Onnes. Sur la vie moyenne de l’ionium. In: Comptes rendus hebdomadaires des séances de l’Académie des sciences. Band 190, S. 1289–1292, 1930 (online) – mit Sonia Cotelle. Sur une relation entre la constante de désintégration des radioéléments émettant des rayons et leur capacité de filiation. In: Comptes rendus hebdomadaires des séances de l’Académie des sciences. Band 191, S. 326–329, 1930 (online) – mit Georges Fournier. Sur la relation entre l’émission de rayons de long parcours et de rayons. In: Comptes rendus hebdomadaires des séances de l’Académie des sciences. Band 191, S. 1055–1058, 1930 (online). Spectre magnétique des rayons du dépôt actif de l’actinon. In: Comptes rendus hebdomadaires des séances de l’Académie des sciences. Band 193, S. 33–35, 1931 (online) – mit Salomon Aminyu Rosenblum (1896–1959) Sur la structure fine du spectre magnétique des rayons du radioactinium. In: Comptes rendus hebdomadaires des séances de l’Académie des sciences. Band 194, S. 1232–1235, 1932 (online) – mit Salomon Aminyu Rosenblum. Sur la structure fine du spectre magnétique des rayons du radioactinium et de ses dérivés. In: Comptes rendus hebdomadaires des séances de l’Académie des sciences. Band 196, S. 1598–1600, 1933 (online) – mit Salomon Aminyu Rosenblum. === Briefe === Gillette Ziegler (Hrsg.): Marie and Irène Curie, Correspondence: Choix de lettres, 1905–1934. Éditeurs français réunis, Paris 1974. Korespondencja Marii Sklodowskiej-Curie z corkq Irenq: 1905–1934 wybor. Panstwowy Instytut Wydawniczy, Warschau 1978. Krystyna Kabzińska (Hrsg.): Korespondencja polska Marii Sklodowskiej-Curie 1881–1934. Wydawnictwa IHN PAN, Warschau 1994, ISBN 83-86062-10-X. Jan Piskurewicz (Hrsg.): Korespondencja Marii Skłodowskiej-Curie z uczonymi z Europy Środkowej i Wschodniej, 1904–1934. Wydawn. Uniwersytetu Marii Curie-Skłodowskiej, Lubin1998, ISBN 83-227-1241-3. Hélène Langevin-Joliot, Monique Bordry (Hrsg.): Lettres: Marie Curie et ses filles. Pygmalion, Paris 2011, ISBN 978-2-7564-0457-8. == Filme über Marie Curie == Madame Curie, Regie: Mervyn LeRoy (USA 1943) Marie Curie – Forscherin mit Leidenschaft, Regie: Claude Pinoteau (FR 1997), Originaltitel „Les Palmes de M. Schutz“ nach dem gleichnamigen Theaterstück von Jean-Noël Fenwick (1989) Marie Curie, Regie: Marie Noëlle (FR/DE/PL 2016) Marie Curie – Elemente des Lebens, Regie: Marjane Satrapi (GB 2019) vierteiliger Dokumentarfilm (BR 2016) bei ARD alpha (je 30 Minuten): Teil 1 (Das Geheimnis der Radioaktivität) Teil 2 (Polonium, Polen und die Welt) Teil 3 (Frau, Mutter, Forscherin) Teil 4 (Im Einsatz für Frankreich) == Nachweise == === Literatur === P. Adloff, K. Lieser, G. Stöcklin (Hrsg.): 100 Years after the Discovery of Radiochemistry. Oldenbourg Wissenschaftsverlag, 1996, ISBN 3-486-64252-9. Christophe Charle, Eva Telkes: Les professeurs de la faculté des sciences de Paris. Dictionnaire biographique 1901–1939. INRP, Paris 1989, ISBN 2-222-04336-0. Eve Curie: Madame Curie. Leben und Wirken. Büchergilde Gutenberg, Zürich/ Prag 1938. (William Heinemann Ltd, London/ Toronto 1947) online (Uebertragung aus dem Französischen von Maria Giustiniani). Marie Skłodowska Curie: Selbstbiographie. Nachdruck der ersten Auflage. B. G. Teubner Verlagsgesellschaft, Leipzig 1962. Barbara Czarniawska, Guje Sevón: The Thin End of the Wedge: Foreign Women Professors as Double Strangers in Academia. In: Gender, Work & Organization. Band 15, Nr. 3, 2008, S. 235–287. doi:10.1111/j.1468-0432.2008.00392.x, PDF online. Françoise Giroud: „Die Menschheit braucht auch Träumer“ Marie Curie. Econ & List Taschenbuchverlag, München 1999, ISBN 3-612-26602-0. Peter Ksoll, Fritz Vögtle: Marie Curie. Rowohlt 1988. Otto Hittmair: Ernest Rutherford und das Wiener Radiuminstitut: Ein Kommentar zu einem Briefwechsel, wesentlich Marie Curie betreffend, mit dem Institutsdirektor Stefan Meyer. In: Sitzungsberichte und Anzeiger der mathematisch-naturwissenschaftlichen Klasse. Abteilung II: Mathematische, Physikalische und Technische Wissenschaften. Band 211, 2002, S. 175–190; (online) Ann M. Lewicki: Marie Sklodowska Curie in America. In: Radiology. Band 223, S. 299–303, 2002. doi:10.1148/radiol.2232011319 Milorad Mlađenović: The History of Early Nuclear Physics (1896–1931). World Scientific, 1992, ISBN 981-02-0807-3. Susan Quinn: Marie Curie. Eine Biographie. Insel-Verlag, Frankfurt am Main 1999, ISBN 3-458-16942-3. Sara Rockwell: The Life and Legacy of Marie Curie. In: Yale Journal of Biology and Medicine. Band 76, 2003, S. 167–180, PMC 2582731 (freier Volltext) Natalie Stegmann: Marie Curie: Eine Naturwissenschaftlerin im Dickicht historischer Möglichkeiten. In: Bea Lundt, Bärbel Völkel (Hrsg.): Outfit und Coming-out: Geschlechterwelten zwischen Mode, Labor und Strich. LIT Verlag, Berlin/ Hamburg/ Münster 2007, ISBN 978-3-8258-0491-6, S. 37–74. === Einzelnachweise === == Weiterführende Literatur == Eva Hemmungs Wirtén: Making Marie Curie: Intellectual Property and Celebrity Culture in an Age of Information. Chicago University Press, Chicago 2015, ISBN 978-0-226-42250-3. == Weblinks == Informationen der Nobelstiftung zur Preisverleihung 1911 an Marie Curie (englisch) Marie Curie: Radium and the New Concepts in Chemistry. Nobel-Vortrag anlässlich der Preisverleihung 1911 (englisch) Marie Curie. Biografie auf der Website des American Institute of Physics (englisch) Manuskript für die Zeitschrift The Delineator über ihren Amerikaaufenthalt Joel O. Lubenau: Standard Chemical Company, Marie Curie and Canonsburg – zahlreiche Fotos von Marie Curie Bert Coursey: Marie Curie and the NBS Radium Standards (englisch)
https://de.wikipedia.org/wiki/Marie_Curie
Periodensystem
= Periodensystem = Das Periodensystem (Langfassung Periodensystem der Elemente, abgekürzt PSE oder PSdE) ist eine Liste aller chemischen Elemente, geordnet nach steigender Kernladung (Ordnungszahl). Die Liste wird so in Zeilen (Perioden) unterteilt, dass in jeder Spalte (Hauptgruppe/Nebengruppe) der entstehenden Tabelle Elemente mit ähnlichen chemischen Eigenschaften stehen. Der Name Periodensystem (von griechisch περίοδος períodos, deutsch ‚Umgang, Umlauf, Kreislauf‘) weist darauf hin, dass sich mit ansteigender Ordnungszahl viele Eigenschaften der Elemente regelmäßig wiederholen. Das Periodensystem wurde 1869 unabhängig voneinander und fast identisch von zwei Chemikern vorgestellt, zunächst von dem Russen Dmitri Mendelejew und wenige Monate später von dem Deutschen Lothar Meyer. Historisch war das Periodensystem für die Vorhersage unentdeckter Elemente und deren Eigenschaften von Bedeutung, da die Eigenschaften eines Elements näherungsweise vorhergesagt werden können, wenn die Eigenschaften der umgebenden Elemente im Periodensystem bekannt sind. Heute dient es vor allem als übersichtliches Organisationsschema der Elemente und zur Ermittlung möglicher chemischer Reaktionen. == Periodensystem == === Grundprinzip === Ein Periodensystem ist eine systematische tabellarische Zusammenstellung der chemischen Elemente, in der die Elemente nach zwei Prinzipien angeordnet sind: Sie sind einerseits nach ansteigender Ordnungszahl (also der für jedes Element eindeutigen und charakteristischen Anzahl der Protonen im Atomkern) angeordnet. Andererseits ist die Darstellung so gewählt, dass Elemente mit ähnlichem chemischen Verhalten nahe zusammen stehen. Mit ansteigender Ordnungszahl ähneln sich die Eigenschaften der Elemente in gleichmäßigen, wenn auch unterschiedlich langen periodischen Abständen. Die Bezeichnung „Periodensystem“ weist darauf hin, dass diese Periodizitäten durch die gewählte Anordnung der Elemente dargestellt werden. === Darstellung === Es gibt verschiedene Varianten von Periodensystemen. Die bekannteste Darstellung ordnet die Elemente unter Berücksichtigung der Periodizitäten in einem zweidimensionalen tabellarischen Gitterraster an, in dem jedem Element ein Gitterkästchen entspricht. Die waagerechten Zeilen der Darstellung werden als Perioden bezeichnet, die senkrechten Spalten als Gruppen. Innerhalb jeder Periode nimmt die Ordnungszahl der Elemente von links nach rechts zu. Die Zeilenumbrüche sind so gewählt, dass chemisch ähnliche Elemente jeweils in derselben Spalte (Gruppe) stehen. Die Elemente einer Gruppe weisen also ähnliches chemisches Verhalten auf. So steht zum Beispiel in der letzten Spalte die Gruppe der chemisch trägen Edelgase, in der vorletzten Spalte die Gruppe der reaktionsfreudigen Halogene. Die Perioden weisen unterschiedliche Längen auf. Die erste Periode umfasst nur 2 Elemente. Es folgen zwei Perioden mit je 8 Elementen, zwei weitere Perioden mit je 18 Elementen und schließlich zwei Perioden mit je 32 Elementen. Die Langform des Periodensystems, in der die beiden letzten Perioden als durchgehende Zeilen dargestellt werden, ist wegen der benötigten Breite der Darstellung oft ungünstig. In der meistens benutzten mittellangen Form sind aus diesen Perioden herausgeschnittene Elementgruppen platzsparend unterhalb des Hauptsystems dargestellt. In dieser Form besitzt das Periodensystem 7 Perioden und 18 Gruppen. Es gibt auch eine noch kompaktere, aber heutzutage nur selten verwendete Kurzform des Periodensystems. === Informationsinhalt === Üblicherweise sind die Elemente mit ihrer Ordnungszahl und ihrem Elementsymbol aufgeführt. Je nach Anwendungszweck können weitere Informationen zum Element wie beispielsweise vollständiger Name, Masse, Schmelztemperatur, Dichte und Aggregatzustand angegeben sein. Etwaige Angaben zu „Schalen“ beziehen sich auf das Schalenmodell der Atomphysik. Oft werden farbliche Kodierungen benutzt, um unterschiedliche Eigenschaften darzustellen, beispielsweise die Zugehörigkeit zu den Metallen, Halbmetallen oder Nichtmetallen. Die Besonderheit des Periodensystems gegenüber einer bloßen tabellarischen Auflistung von Element-Eigenschaften liegt jedoch in der Information über die Beziehungen der Elemente untereinander, die sich aus der Platzierung der betreffenden Elemente ergibt. Die Zugehörigkeit eines Elements zu einer bestimmten Gruppe lässt sofort auf die wesentlichen chemischen Charakteristiken des Elements schließen, wie etwa seine Reaktionsfreudigkeit oder bevorzugte Bindungspartner. Die Positionierung innerhalb des Gesamtsystems erlaubt Rückschlüsse bezüglich derjenigen Eigenschaften, die einen systematischen Trend im Periodensystem aufweisen, wie etwa die Ionisierungsenergie. === Umfang === Mit der bisher letzten Erweiterung des Periodensystems im Jahre 2015 sind nun die Elemente 1 (Wasserstoff) bis 118 (Oganesson) lückenlos entdeckt oder erzeugt und beschrieben. In der Natur kommen die Elemente der Ordnungszahlen 1 bis 94 vor, wobei Technetium (OZ 43), Promethium (61), Astat (85), Neptunium (93) und Plutonium (94) in so geringen Mengen natürlich vorkommen, dass sie zuerst künstlich erzeugt und beschrieben wurden. Von diesen 94 natürlichen Elementen sind 83 primordial, existieren also seit der Entstehung der Erde. Die ursprünglichen Bestände der übrigen 11 sind wegen ihrer geringeren Halbwertszeiten längst zerfallen, sie werden aber durch radioaktive Zerfälle in den natürlichen Zerfallsreihen der primordialen Elemente ständig neu gebildet.Die Elemente der Ordnungszahlen 95 bis 118 wurden ausschließlich künstlich erzeugt. Die zuletzt entdeckten Elemente 113, 115, 117 und 118 wurden am 30. Dezember 2015 von der IUPAC (International Union of Pure and Applied Chemistry) bestätigt, womit nun auch die siebte Periode des Periodensystems vollständig ist.Bilder der jeweiligen Elemente finden sich in der Bildtafel der chemischen Elemente. == Atombau == === Struktur eines Atoms === Alle Substanzen sind aus Atomen aufgebaut. Ein Atom besteht aus Protonen und Neutronen, die den Atomkern bilden, und aus Elektronen, die den Atomkern als „Elektronenhülle“ umgeben. Die Protonen tragen jeweils eine positive und die Elektronen eine negative Elementarladung, so dass die Anzahl der Elektronen in der Elektronenhülle gleich der Anzahl der Protonen im Atomkern sein muss, wenn das Atom elektrisch neutral sein soll. Die Anzahl der Protonen beziehungsweise Elektronen eines elektrisch neutralen Atoms heißt seine „Ordnungszahl“. Chemische Verbindungen sind Substanzen, die aus zwei oder mehr Atomsorten aufgebaut sind. Dabei verbinden sich die Atome zu Molekülen. Die Bindungskräfte, welche die Atome in einem Molekül zusammenhalten, werden durch Wechselwirkungen der Elektronen vermittelt. Ausschlaggebend für die Eigenschaften der Bindungskräfte sind hauptsächlich die Eigenschaften der im äußeren Bereich der Hülle befindlichen Elektronen, der Valenzelektronen. Das chemische Verhalten eines Atoms – beispielsweise seine Neigung, mit bestimmten anderen Atomarten bevorzugt Verbindungen einzugehen – wird also durch die Struktur der Elektronenhülle und insbesondere der Valenzelektronen maßgeblich bestimmt. Diese Struktur ist für eine gegebene Anzahl von Elektronen stets dieselbe, so dass die Ordnungszahl das chemische Verhalten des Atoms bestimmt. Atome mit gleicher Ordnungszahl und daher gleichem Verhalten bei chemischen Reaktionen werden als chemische Elemente bezeichnet. Im Periodensystem sind alle existierenden Elemente so angeordnet, dass die aus dem Aufbau der Atome resultierenden Gesetzmäßigkeiten in den chemischen und atomphysikalischen Eigenschaften der Elemente erkennbar werden. === Struktur der Elektronenhülle === Die Elektronenhülle eines Atoms weist Strukturen auf, die von der Quantenmechanik untersucht und beschrieben werden. Sie kann in Hauptschalen unterteilt werden. Jede Hauptschale lässt sich wiederum in Unterschalen unterteilen, die aus Orbitalen bestehen. Der quantenmechanische Zustand, in dem sich ein gegebenes Elektron befindet, wird durch vier Quantenzahlen beschrieben: Die Hauptquantenzahl, die Nebenquantenzahl, die Magnetquantenzahl und die Spinquantenzahl. Die Hauptquantenzahl n = 1, 2, 3, … nummeriert die Hauptschalen. Alternativ können diese Schalen als K-Schale (für n = 1), L-Schale (für n = 2), M-Schale (für n = 3) und so weiter bezeichnet werden. Der Durchmesser der Hauptschalen nimmt mit steigender Hauptquantenzahl zu. Eine Hauptschale mit der Hauptquantenzahl n besitzt n Unterschalen, die sich in ihrer Nebenquantenzahl unterscheiden. Die Unterschalen werden mit den Buchstaben s, p, d, f und so weiter bezeichnet (die Wahl dieser Buchstaben ist historisch bedingt). Eine gegebene Unterschale in einer bestimmten Hauptschale wird durch ihren Buchstaben mit davorgesetzter Hauptquantenzahl identifiziert, beispielsweise 2p für die p-Unterschale in der L-Schale (n = 2). Die einzelnen Unterschalen teilen sich in Orbitale, die durch die Magnetquantenzahl unterschieden werden. Jede s-Unterschale enthält ein Orbital, jede p-Unterschale enthält drei Orbitale, jede d-Unterschale enthält fünf Orbitale und jede f-Unterschale enthält sieben Orbitale.Die Spinquantenzahl beschreibt die beiden möglichen Spinausrichtungen des Elektrons. Das Paulische Ausschließungsprinzip besagt, dass keine zwei Elektronen in einem Atom in allen vier Quantenzahlen übereinstimmen können. Zwei Elektronen, die sich in demselben Orbital befinden, stimmen bereits in drei Quantenzahlen überein (nämlich jenen, die dieses Orbital beschreiben). Die beiden Elektronen müssen sich also in der vierten Quantenzahl, ihrer Spinausrichtung, unterscheiden. Damit sind die Variationsmöglichkeiten für die Quantenzahlen in diesem Orbital ausgeschöpft, jedes einzelne Orbital kann also maximal von zwei Elektronen besetzt werden. Es ergeben sich für die verschiedenen Schalen daher die folgenden maximalen Elektronenzahlen: Die K-Schale (n = 1) weist nur eine Unterschale (1s) auf und diese nur ein einziges Orbital. Da dieses mit höchstens zwei Elektronen besetzt werden kann, nimmt die K-Schale maximal zwei Elektronen auf. Die L-Schale (n = 2) hat zwei Unterschalen 2s und 2p, welche aus einem bzw. drei Orbitalen bestehen. Sie kann in ihren insgesamt vier Orbitalen also maximal acht Elektronen aufnehmen. Die M-Schale (n = 3) besitzt drei Unterschalen 3s, 3p und 3d, kann in ihren neun Orbitalen also maximal 18 Elektronen aufnehmen. Die N-Schale (n = 4) kann in ihren vier Unterschalen 4s bis 4f maximal 32 Elektronen aufnehmen und so weiter.Allgemein kann eine Schale mit der Hauptquantenzahl n insgesamt maximal 2·n2 Elektronen aufnehmen. == Systematischer Aufbau des Periodensystems == Denkt man sich die Atome der verschiedenen Elemente ausgehend vom Wasserstoff der Reihe nach so erzeugt, dass dem Atom ein Proton im Kern und ein Elektron in der Hülle (sowie gegebenenfalls die zur Stabilität des Kerns benötigten Neutronen) hinzugefügt werden, dann erhält man nacheinander die Atome aller Elemente in derselben Reihenfolge wie im Periodensystem. Dabei besetzt das hinzugekommene Elektron stets das energieärmste der noch freien Orbitale („Aufbauprinzip“). Da sich beim sukzessiven Auffüllen mit dem Beginn jeder neuen Schale das Besetzungsmuster der einzelnen Orbitale wiederholt, wiederholen sich auch die Strukturen der Valenzelektronen und dadurch bedingt die chemischen Eigenschaften der Atome. === Perioden === Das Periodensystem ist in Zeilen unterteilt, die als Periode bezeichnet werden. Jede Periode endet mit einem Edelgas, es wird dann eine neue Zeile begonnen. Im Allgemeinen steigt die Elektronenenergie mit der Hauptquantenzahl an, so dass das energieärmste freie Orbital für das hinzukommende Elektron meist zur kleinstmöglichen Hauptquantenzahl gehört. Innerhalb einer Hauptschale nimmt die Energie der Unterschalen im Sinne s → p → d → f zu und ist ab der d-Unterschale sogar höher als die Energie in der s-Unterschale zur nächsthöheren Hauptquantenzahl. Die Hauptschalen überlappen sich also energetisch. Daher können nur die beiden ersten Perioden durch eine bestimmte Hauptquantenzahl n=1 bzw. 2 charakterisiert werden, während ab der 3. Periode zwei oder sogar drei verschiedene Hauptquantenzahlen in derselben Periode auftreten. Dies hat Konsequenzen für den systematischen Aufbau des Periodensystems. Das nebenstehende Diagramm zeigt eine schematische, nicht-maßstäbliche Darstellung der Energieniveaus in der Elektronenhülle eines schweren Atoms. Die Striche auf der linken Seite symbolisieren die Hauptschalen, die Striche auf der rechten Seite deren Unterschalen. Die Kästchen stellen die Orbitale in jeder Unterschale dar, von denen jedes mit zwei Elektronen („Spin up“ und „Spin down“) belegt werden kann. Ab der Hauptschale n=3 überlappen sich die Unterschalen aufeinanderfolgender Hauptschalen energetisch. Der besseren Übersicht halber wird im folgenden Text jedem Elementnamen seine Ordnungszahl als Index vorangestellt. Die Farbe der Elementkästchen kennzeichnet die Schale, die gerade aufgefüllt wird. ==== Erste Periode: 1Wasserstoff bis 2Helium ==== Das einfachste Atom ist das 1Wasserstoff-Atom, das ein Proton im Kern und ein Elektron in der Hülle besitzt (es existieren auch Isotope mit einem oder mit zwei Neutronen). Das Elektron befindet sich in der K-Schale, die nur aus der s-Unterschale besteht. Es folgt das 2Helium-Atom mit zwei Protonen (sowie einem oder zwei Neutronen) und zwei Elektronen. Das hinzugekommene Elektron besetzt den noch freien Platz im einzigen Orbital der s-Unterschale. Damit ist die K-Schale ausgeschöpft und die erste Periode des Periodensystems gefüllt. ==== Zweite Periode: 3Lithium bis 10Neon ==== Mit dem nächsten Elektron beginnt das Auffüllen der L-Schale: 3Lithium hat ein Elektron im 2s-Orbital, 4Beryllium hat ein zweites Elektron im 2s-Orbital, das damit vollständig gefüllt ist. Nun beginnt das Auffüllen der 2p-Orbitale: 5Bor hat zusätzlich zum gefüllten 2s-Orbital ein Elektron im 2p-Orbital. Es folgen 6Kohlenstoff, 7Stickstoff, 8Sauerstoff, 9Fluor und 10Neon. Mit diesen acht Elementen ist auch die L-Schale vollständig gefüllt und die zweite Periode beendet. ==== Dritte Periode: 11Natrium bis 18Argon ==== Das Auffüllen der M-Schale beginnt mit demselben Muster. Bei Betrachtung der jeweiligen Konfigurationen der Valenzelektronen wird bereits deutlich, dass beispielsweise das erste Element dieser Periode (11Natrium, mit einem Valenzelektron) chemische Ähnlichkeiten mit dem ersten Element der vorhergehenden Periode (3Lithium, ebenfalls mit einem Valenzelektron) aufweisen wird. ==== Vierte Periode: 19Kalium bis 36Krypton ==== Nach dem achten Element der dritten Periode, dem 18Argon, kommt es jedoch zu einer Unterbrechung der Regelmäßigkeit. Bis dahin wurden die 3s- und 3p-Unterschalen der M-Schale aufgefüllt, es sind noch zehn Plätze in deren 3d-Unterschale frei. Da jedoch das 4s-Orbital der nächsthöheren Schale (N, n = 4) eine geringere Energie besitzt als die 3d-Orbitale der M-Schale, wird zunächst dieses 4s-Orbital mit zwei Elektronen gefüllt (19Kalium, 20Calcium). Das 19Kalium besitzt ein Valenzelektron und damit chemische Ähnlichkeit mit 11Natrium und 3Lithium. Da das Periodensystem diese und andere Ähnlichkeiten herausstellen soll, wird mit dem 19Kalium eine neue Periode begonnen. Erst nach 19Kalium und 20Calcium wird die 3d-Unterschale der M-Schale gefüllt, dies geschieht vom 21Scandium bis zum 30Zink. Diese im Periodensystem „eingeschobenen“ Elemente haben alle eine gefüllte 4s-Unterschale und unterscheiden sich nur im Füllungsgrad der darunter liegenden M-Schale. Sie weisen daher nur relativ geringe chemische Unterschiede auf, sie gehören zu den „Übergangsmetallen“. Mit dem 30Zink ist die M-Schale nun vollständig gefüllt, es folgt das weitere Auffüllen der restlichen N-Schale mit den Elementen 31Gallium bis 36Krypton. ==== Fünfte Periode: 37Rubidium bis 54Xenon ==== Das Auffüllen der N-Schale wird jedoch nach dem 36Krypton erneut unterbrochen. Mit dem 36Krypton ist die 4p-Unterschale abgeschlossen, und es sind noch die Unterschalen 4d und 4f zu füllen. Abermals hat jedoch die s-Unterschale der nächsthöheren Schale (O, n = 5) eine geringere Energie und wird bevorzugt aufgefüllt (37Rubidium, 38Strontium), womit man auch wieder eine neue Periode beginnen lässt. Dann folgen die zehn Übergangsmetalle 39Yttrium bis 48Cadmium, mit denen die verbliebene 4d-Unterschale gefüllt wird und anschließend die sechs Elemente 49Indium bis 54Xenon, mit denen die 5p-Unterschale gefüllt wird. ==== Sechste Periode: 55Cäsium bis 86Radon ==== In den weiteren Perioden wiederholt sich dieses Schema, das durch die energetische Lage der jeweiligen Unterschalen bestimmt wird. In der sechsten Periode werden nacheinander die folgenden Unterschalen gefüllt: 6s (55Cäsium und 56Barium), 5d (57Lanthan), 4f (58Cer bis 71Lutetium), 5d (72Hafnium bis 80Quecksilber) und 6p (81Thallium bis 86Radon).Im obigen Diagramm ist das Auffüllen der 4f-Unterschale als Einschub dargestellt, um die Breite des Diagramms zu beschränken. ==== Siebte Periode: 87Francium bis 118Oganesson ==== In der siebten Periode werden gefüllt: 7s (87Francium und 88Radium), 6d (89Actinium), 5f (90Thorium bis 103Lawrencium), 6d (104Rutherfordium bis 112Copernicium) und 7p (113Nihonium bis 118Oganesson).Einige Unregelmäßigkeiten beim Auffüllen der einzelnen Unterschalen sind der Einfachheit halber hier nicht wiedergegeben. Während des Auffüllens der 4d-Schale wandert beispielsweise bei einigen Elementen eines der s-Elektronen in die d-Unterschale. So hat etwa das 47Silber nicht wie erwartet zwei Elektronen in der 5s-Unterschale und neun Elektronen in der 4d-Unterschale, sondern nur ein 5s-Elektron und dafür zehn 4d-Elektronen. Eine Liste dieser Ausnahmen findet sich im Artikel zum Aufbauprinzip. Zusammenfassend ergibt sich das folgende Auffüllungsmuster (dargestellt in der Langform des Periodensystems): In Darstellungen des Periodensystems sind die Perioden üblicherweise mit arabischen Ziffern von eins bis sieben durchnummeriert. Die Periodennummer ist gleichzeitig die Hauptquantenzahl der Elektronen, die räumlich den äußersten Bereich des Atoms bilden und daher sein chemisches Verhalten hauptsächlich bestimmen.Eine Hauptschale kann, während sie die äußerste ist, nur bis zu acht Elektronen enthalten (die K-Schale: nur bis zu zwei). Das nächste hinzugefügte Elektron legt eine neue Hauptschale an, die nun die neue äußerste wird. Die betrachtete Hauptschale ist während ihres weiteren Auffüllens nur noch die zweitäußerste, drittäußerste und so weiter. Jedes Element besitzt also ungeachtet des Fassungsvermögens seiner äußersten Schale nur zwischen einem und acht Valenzelektronen. === Blockstruktur === Der oben beschriebene systematische Aufbau des Periodensystems geschah in der Weise, dass die Elemente in der Reihenfolge ansteigender Ordnungszahlen angeordnet wurden und mit bestimmten Elementen eine neue Zeile („Periode“) begonnen wurde. Das Kriterium für den Beginn einer neuen Periode war dabei nicht das physikalische Kriterium des Füllgrades der jeweiligen Hauptschale, sondern die chemische Ähnlichkeit mit den darüberstehenden Elementen der vorhergehenden Periode, also die gleiche Anzahl von Valenzelektronen. Daraus folgt die Struktur des Periodensystems, das dafür konstruiert ist, diese Zusammenhänge sichtbar zu machen. Es ergibt sich die folgende Einteilung des Periodensystems in verschiedene Blöcke: ==== Hauptgruppen ==== In den ersten beiden Spalten („Gruppen“) des Periodensystems werden die beiden Orbitale der s-Unterschale der jeweils aktuellen Hauptschale aufgefüllt (s-Block). In den letzten sechs Gruppen werden die sechs p-Unterschalen der aktuellen Hauptschale aufgefüllt (p-Block). Diese acht Gruppen sind die Hauptgruppen des Periodensystems. Von einer Hauptgruppe zur nächsten nimmt die Anzahl der Valenzelektronen um jeweils eins zu. Für die 50 Hauptgruppenelemente ist aus ihrer Gruppenmitgliedschaft also sofort die Anzahl ihrer Valenzelektronen und damit ihr chemisches Verhalten in seinen wesentlichen Zügen ersichtlich. Sofern die Stoffeigenschaften der Elemente von den Valenzelektronen bestimmt werden, finden sich in den Elementen derselben Gruppe daher viele Übereinstimmungen. Die üblicherweise in römischen Ziffern geschriebene Gruppennummer ist zugleich die Anzahl der Elektronen in der jeweils äußersten Hauptschale (mit Ausnahme des 2Helium, das sich als Edelgas in der VIII. Hauptgruppe befindet, aber nur zwei Elektronen besitzt). Die Elemente der ersten Hauptgruppe besitzen jeweils ein Valenzelektron. Es handelt sich (mit Ausnahme des 1Wasserstoffs) um weiche, silbrig-weiße und sehr reaktionsfreudige Metalle, die Alkalimetalle. Ein Beispiel für die chemische Ähnlichkeit der Alkalimetalle ist der Umstand, dass sie alle mit 17Chlor zu farblosen Salzen reagieren, die in Würfelform kristallisieren. Auch die Formeln dieser Verbindungen entsprechen einander: LiCl, NaCl, KCl, RbCl, CsCl und FrCl.Es folgen die Erdalkalimetalle als zweite Hauptgruppe. Die Borgruppe ist die dritte Hauptgruppe, die Kohlenstoffgruppe die vierte und die Stickstoffgruppe die fünfte. Die Chalkogene stellen die sechste Hauptgruppe dar und die Halogene die siebte. Wie sich quantenmechanisch begründen lässt, sind nicht nur abgeschlossene Hauptschalen, sondern auch abgeschlossene Unterschalen besonders stabil. Die Elemente in der achten Hauptgruppe weisen alle eine abgeschlossene Haupt- oder Unterschale auf: Beim 2Helium ist die erste Hauptschale und damit auch deren einzige Unterschale 1s vervollständigt. Bei den anderen Elementen 10Neon, 18Argon, 36Krypton, 54Xenon und 86Radon ist jeweils – bei ab 18Argon noch nicht vollständiger Hauptschale – die p-Unterschale vervollständigt, diese Elemente besitzen acht Valenzelektronen (ein Oktett). Wegen der Stabilität ihrer Valenzelektronenstrukturen gehen diese Elemente so gut wie keine chemischen Bindungen ein. Sie sind alle gasförmig und werden als Edelgase bezeichnet. Andere Elemente können durch Abgabe oder Aufnahme von Elektronen ebenfalls Edelgasschalen und damit besonders stabile Zustände erreichen. So geben die Alkalimetalle ihr einzelnes Valenzelektron leicht ab und treten dann als einwertige Kationen auf, beispielsweise 3Li+, 11Na+ usw. Die Erdalkalimetalle erreichen die Edelgaskonfiguration durch Abgabe ihrer beiden Valenzelektronen und bilden dann zweiwertige Kationen, beispielsweise 4Be++, 12Mg++ usw. Den Halogenen andererseits fehlt ein Elektron zur Komplettierung eines Oktetts. Sie nehmen daher bevorzugt ein Elektron auf, es resultieren die einwertigen Anionen 9F-, 17Cl- usw.Zwischen den Hauptgruppen ist ein Block mit Nebengruppen eingeschoben: ==== Nebengruppen: äußere Übergangsmetalle ==== In den letzten vier Perioden wurde das Auffüllen der jeweils äußersten Hauptschale unterbrochen, um die d-Unterschale der zweitäußersten Hauptschale aufzufüllen. Die d-Unterschalen fassen jeweils 10 Elektronen, es ergibt sich in diesen vier Perioden also ein zusätzlicher Block mit 10 Gruppen. Alle 40 Elemente in diesem d-Block sind Metalle, sie werden als „äußere Übergangsmetalle“ bezeichnet. Sie alle besitzen zwei Valenzelektronen in der äußersten Schale (Ausnahmen siehe → Aufbauprinzip) und weisen daher geringere Unterschiede in ihrem chemischen Verhalten auf als die Hauptgruppenelemente. Die vorhandenen Unterschiede sind auf die unterschiedlichen Elektronenstrukturen der jeweils nächsttieferen Hauptschale zurückzuführen. Entsprechend dem sich wiederholenden Auffüllungsmuster zeigen auch in diesem Block untereinanderstehende Elemente deutliche Ähnlichkeiten in ihren chemischen Eigenschaften. ==== Nebengruppen: innere Übergangsmetalle ==== In den letzten beiden Perioden wurde zusätzlich das Auffüllen der d-Unterschalen der jeweils zweitäußersten Hauptschale unterbrochen durch das Auffüllen der f-Unterschalen der jeweils drittäußersten Hauptschale. Die f-Unterschalen fassen jeweils vierzehn Elektronen, es ergibt sich also in diesen beiden Perioden ein zusätzlicher Block mit 14 Gruppen. Die 28 Elemente in diesem f-Block werden als innere Übergangselemente bezeichnet. Sie besitzen zwei Valenzelektronen in der äußersten Hauptschale, ein Elektron in der d-Unterschale der vorletzten Hauptschale und unterscheiden sich nur im Füllungsgrad der jeweils drittletzten Hauptschale (Ausnahmen siehe → Aufbauprinzip). Ihre chemischen Unterschiede sind entsprechend gering.Die auf das 57Lanthan folgenden 14 inneren Übergangsmetalle von 58Cer bis 71Lutetium in der sechsten Periode heißen auch Lanthanoide. Die auf das 89Actinium folgenden 14 inneren Übergangsmetalle von 90Thorium bis 103Lawrencium in der siebten Periode heißen auch Actinoide. == Periodizitäten und Tendenzen == Einige Eigenschaften der Elemente variieren in systematischer Weise mit der Position im Periodensystem. Geht man innerhalb einer Periode von einer Hauptgruppe zur nächsten über („von links nach rechts“), ändern sich die physikalischen und chemischen Eigenschaften in systematischer, charakteristischer Weise, weil dabei die Anzahl der Valenzelektronen um jeweils eines zunimmt. In der nächsten Periode wiederholen sich die Eigenschaften, sofern sie von der Anzahl der Valenzelektronen bestimmt werden, in ähnlicher Weise, weil die Anzahl der Valenzelektronen erneut auf dieselbe Weise zunimmt.Geht man innerhalb einer Hauptgruppe von einer Periode zur nächsten über („von oben nach unten“), sind die betreffenden Eigenschaften in der Regel ähnlich (gleiche Anzahl von Valenzelektronen), aber graduell verschieden (verschiedene Hauptschalen als äußerste Schale). === Atomradius === Der Atomradius nimmt generell innerhalb einer Periode von links nach rechts ab, weil aufgrund der zunehmenden Kernladungszahl die Elektronen immer näher an den Kern herangezogen werden. Beim Übergang zur nächsten Periode nimmt der Atomradius sprunghaft wieder zu, weil nun die Belegung der nächstäußeren Hauptschale beginnt. Innerhalb einer Gruppe wird der Radius in der Regel von oben nach unten größer, weil jeweils eine Hauptschale hinzukommt. === Erste Ionisierungsenergie === Die „erste Ionisierungsenergie“ ist die Energie, die aufgewendet werden muss, um ein Elektron aus der Elektronenhülle zu entfernen, so dass aus dem neutralen Atom ein einfach positiv geladenes Ion wird. Das einzelne Valenzelektron der Alkalimetalle ist besonders locker gebunden und kann leicht abgelöst werden. Beim Fortschreiten innerhalb einer Periode muss wegen der zunehmenden Kernladungszahl eine immer größere Ionisierungsenergie aufgewendet werden, bis sie beim Edelgas mit seiner besonders stabilen Oktett-Konfiguration den maximalen Wert der Periode erreicht. === Elektronenaffinität === Die Elektronenaffinität ist die Bindungsenergie, die freigesetzt wird, wenn ein Atom ein zusätzliches Elektron an sich bindet, so dass aus dem neutralen Atom ein einfach negativ geladenes Ion wird. Die Halogene haben eine besonders große Elektronenaffinität, weil sie durch Aufnahme eines Elektrons ihr Elektronenoktett vervollständigen können. === Elektronegativität === Sind zwei Atome verschiedener Elemente chemisch aneinander gebunden, so zieht in der Regel eines der beiden die Elektronen der gemeinsamen Elektronenhülle stärker an, so dass sich der Ladungsschwerpunkt der Elektronenhülle zu diesem Atom hin verschiebt. Die Fähigkeit eines Atoms, in einer Bindung die Elektronen an sich zu ziehen, wird durch seine Elektronegativität gemessen. Die Elektronegativität der Hauptgruppenelemente wächst innerhalb einer Periode von links nach rechts, weil die Kernladung zunimmt. Innerhalb einer Gruppe wächst sie in der Regel von unten nach oben, weil in dieser Richtung die Anzahl besetzter Hauptschalen abnimmt und damit auch die Abschirmung der Kernladung durch die inneren Elektronen. Das Element mit der kleinsten Elektronegativität (0,7 nach Pauling) ist das links unten im Periodensystem stehende 55Cäsium. Das Element mit der größten Elektronegativität (4,0 nach Pauling) ist das rechts oben stehende 9Fluor, gefolgt von seinem linken Nachbarn, dem 8Sauerstoff (3,5). 1Wasserstoff und die Halbmetalle nehmen mit Werten um 2 eine Mittelstellung ein. Die meisten Metalle haben Werte um 1,7 oder weniger.Die Verschiebung des Ladungsschwerpunkts im Molekül hängt von der Differenz der Elektronegativitäten der beiden Atome ab. Je stärker der Ladungsschwerpunkt verschoben ist, umso größer ist der ionische Anteil der Bindung, weil die elektrostatische Anziehung der beiden ungleichnamigen Teilladungen umso stärker zur Bindung beiträgt. Besonders ausgeprägt ist der ionische Bindungscharakter wegen der beschriebenen Tendenz der Elektronegativitäten in Bindungen, bei denen der eine Bindungspartner links und der andere rechts im Periodensystem steht. Ein Beispiel dafür ist Natriumchlorid N a C l {\displaystyle \mathrm {NaCl} } . Bindungen, bei denen beide Partner aus der linken Hälfte des Periodensystems stammen und daher beide zu den Metallen (siehe unten) gehören, sind metallische Bindungen. Bindungen, bei denen beide Partner aus der rechten Seite stammen, sind hauptsächlich kovalente Bindungen. === Wertigkeit === Eines der charakteristischsten Merkmale eines Elements ist seine Wertigkeit, also seine Eigenschaft, sich bei Bildung einer chemischen Verbindung mit bestimmten bevorzugten Anzahlen von Atomen der verschiedenen Partnerelemente zu vereinigen. Ein Atom, dem noch ein Elektron zur Komplettierung eines Valenzelektronen-Oktetts fehlt, kann eine Bindung mit einem einzelnen 1Wasserstoff-Atom eingehen, um in der gemeinsamen Elektronenhülle das einzelne Valenzelektron des Wasserstoff zur Vervollständigung seines eigenen Oktetts zu nutzen. Ein Atom, dem noch zwei Elektronen fehlen, wird dazu tendieren, eine Verbindung mit zwei 1Wasserstoff-Atomen einzugehen. Wie diese Beispiele zeigen, ist im Allgemeinen ein Zusammenhang zwischen der bevorzugten Anzahl der Bindungspartner und der Struktur der Valenzelektronen-Hülle – also der Gruppenzugehörigkeit im Periodensystem – zu erwarten. Allerdings sind die Zusammenhänge oft deutlich komplexer als in den hier dargestellten Beispielen. Ein einfaches Maß für die Wertigkeit eines Elements ist die Anzahl der 1Wasserstoff-Atome, die das Element in einem binären Hydrid an sich bindet. Ein anderes mögliches Maß ist das Doppelte der Anzahl an 8Sauerstoff-Atomen, die das Element in seinem Oxid bindet.Die Elemente der ersten und der vorletzten Hauptgruppe (der Alkalimetalle beziehungsweise Halogene) haben die Wertigkeit 1, ihre Hydride haben also die Formeln L i H N a H K H R b H C s H H F H C l H B r H I {\displaystyle \mathrm {LiH} \quad \mathrm {NaH} \quad \mathrm {KH} \quad \mathrm {RbH} \quad \mathrm {CsH} \qquad \mathrm {HF} \quad \mathrm {HCl} \quad \mathrm {HBr} \quad \mathrm {HI} } .Die Elemente der zweiten und der drittletzten Hauptgruppe (der Erdalkalimetalle und der Sauerstoffgruppe) haben im Allgemeinen die Wertigkeit 2, ihre Hydride sind also B e H 2 M g H 2 C a H 2 S r H 2 B a H 2 O H 2 S n H 2 S e H 2 T e H 2 {\displaystyle \mathrm {BeH_{2}} \quad \mathrm {MgH_{2}} \quad \mathrm {CaH_{2}} \quad \mathrm {SrH_{2}} \quad \mathrm {BaH_{2}} \qquad \mathrm {OH_{2}} \quad \mathrm {S_{n}H_{2}} \quad \mathrm {SeH_{2}} \quad \mathrm {TeH_{2}} } .In den anderen Hauptgruppen werden die Bindungsmöglichkeiten vielfältiger (so existieren unzählige Kohlenwasserstoff-Verbindungen), aber man trifft auch beispielsweise in der Stickstoffgruppe auf A s H 3 {\displaystyle \textstyle \mathrm {AsH_{3}} } oder S b H 3 {\displaystyle \textstyle \mathrm {SbH_{3}} } und in der Kohlenstoffgruppe auf P b H 4 {\displaystyle \textstyle \mathrm {PbH_{4}} } .Der 8Sauerstoff ist zweiwertig, typische Oxide der einwertigen Alkalimetalle sind daher L i 2 O N a 2 O K 2 O R b 2 O C s 2 O {\displaystyle \mathrm {Li_{2}O} \quad \mathrm {Na_{2}O} \quad \mathrm {K_{2}O} \quad \mathrm {Rb_{2}O} \quad \mathrm {Cs_{2}O} } und typische Oxide der zweiwertigen Erdalkalimetalle sind B e O M g O C a O S r O B a O {\displaystyle \mathrm {BeO} \quad \mathrm {MgO} \quad \mathrm {CaO} \quad \mathrm {SrO} \quad \mathrm {BaO} } ,es kommen aber auch andere Oxidationsstufen vor. Die drei letztgenannten Oxide waren der Ausgangspunkt für Döbereiners Triadensystem (siehe unten). === Basizität === Die Basizität der Oxide und Hydroxide der Elemente nimmt von oben nach unten zu, von links nach rechts ab. In Wasser gelöste Oxide und Hydroxide von Metallen (siehe unten) bilden Laugen, in Wasser gelöste Oxide und Hydroxide von Nichtmetallen bilden Säuren.In Wasser gelöstes Calciumoxid bildet beispielsweise die Lauge Kalkwasser. Dasselbe Ergebnis erhält man, wenn man Calciumhydroxid in Wasser löst. Sowohl Natriumoxid als auch Natriumhydroxid ergeben in Wasser gelöst Natronlauge. Sowohl Kaliumoxid als auch Kaliumhydroxid ergeben in Wasser gelöst Kalilauge.Die Metalle aus der ersten Hauptgruppe lösen sich sogar als Elemente in Wasser und ergeben basische („alkalische“) Lösungen. Sie heißen daher Alkalimetalle. In Wasser gelöstes 11Natrium ergibt beispielsweise Natronlauge, in Wasser gelöstes 19Kalium ergibt Kalilauge.Kohlenstoffdioxid C O 2 {\displaystyle \mathrm {CO_{2}} } ist ein Beispiel für ein Nichtmetall-Oxid, das bei Lösung in Wasser eine Säure ergibt, nämlich Kohlensäure. Ein anderes Beispiel ist Schwefeltrioxid S O 3 {\displaystyle \mathrm {SO_{3}} } , dessen wässrige Lösung Schwefelsäure ist. === Beispiele weiterer Regelmäßigkeiten === Die reaktionsfreudigsten Elemente befinden sich in der I. und der VII. Hauptgruppe (Alkalimetalle beziehungsweise Halogene), weil diese Elemente eine besonders starke Tendenz aufweisen, durch Abgabe (bei den Alkalimetallen) beziehungsweise Aufnahme (bei den Halogenen) eines Elektrons ein vollständiges Elektronen-Oktett zu erlangen.Die Atomisierungsenthalpie, also die Energie, die zum Zerlegen eines aus einem Element E gebildeten Moleküls Ex benötigt wird, zeigt für die Hauptgruppenelemente eine deutliche Periodizität in Abhängigkeit von der ebenfalls periodischen Bindigkeit der Elemente, weil von dieser die Anzahl x der gebundenen Atome abhängt. Die Atomisierungsenthalpie zeigt Minima bei den 0-wertigen Edelgasen und Maxima bei den vierwertigen Elementen der IV. Hauptgruppe.Die Dichte der Hauptgruppenelemente zeigt den gleichen Verlauf, weil sie eng mit der Bindigkeit des jeweiligen Elements zusammenhängt: Die Alkalimetalle haben besonders kleine Bindigkeiten und Dichten, die größten Werte liegen bei den Elementen der mittleren Gruppen. Ein ähnliches Muster zeigt sich bei den Dissoziationsenthalpien von E2-Molekülen: Die Minima liegen wieder bei den Edelgasen, die Maxima jetzt bei den Elementen der V. Hauptgruppe (N2, P2 usw.), entsprechend den bei zweiatomigen Molekülen möglichen Bindigkeiten.Die Schmelz- und Siedetemperaturen, die Schmelz- und Verdampfungsenthalpien sind weitere Beispiele für physikalische Eigenschaften der Elemente, die ein periodisches Verhalten zeigen. Dies gilt sogar für die betreffenden Eigenschaften einfacher binärer Verbindungen, also beispielsweise die Schmelztemperaturen oder Schmelzenthalpien der Hydride, Fluoride, Chloride, Bromide, Iodide, Oxide, Sulfide und so weiter. === Metalle, Halbmetalle und Nichtmetalle === Die weitaus meisten Elemente sind Metalle. Sie sind meistens silbrig glänzend, formbar, gering flüchtig sowie strom- und wärmeleitend. Der Metallcharakter ist bei den links unten im Periodensystem stehenden Elementen am deutlichsten ausgeprägt und nimmt nach rechts oben hin ab. In dieser Richtung schließen sich die Halbmetalle an (mattgrau glänzend, spröde, gering flüchtig, nur mäßig strom- und wärmeleitend). Rechts oben im Periodensystem stehen die Nichtmetalle (farbig, nicht glänzend, spröde, meistens flüchtig, nicht stromleitend und nur schlecht wärmeleitend). Die ersten beiden Hauptgruppen (die Alkali- und Erdalkalimetalle) enthalten daher ausschließlich Metalle, die letzten beiden Hauptgruppen (die Halogene und Edelgase) nur Nichtmetalle. Die durch die Halbmetalle markierte Grenze zwischen Metallen und Nichtmetallen verläuft schräg durch die mittleren Hauptgruppen, so dass diese im Allgemeinen im oberen Teil Nichtmetalle, darunter Halbmetalle und im unteren Teil Metalle enthalten. Typische Halbmetalle sind etwa 5Bor, 14Silizium oder 32Germanium. Auf der Grenze befindliche Elemente können sogar je nach vorliegender Modifikation ihre Zugehörigkeit wechseln: Das auf der Grenze zwischen Metallen und Halbmetallen liegende 50Zinn ist als weißes β–Zinn ein Metall, als graues α–Zinn ein Halbmetall. Der auf der Grenze zwischen Halbmetallen und Nichtmetallen liegende 6Kohlenstoff ist als Graphit ein Halbmetall, als Diamant ein Nichtmetall.In der V. und VI. Hauptgruppe lässt sich der innerhalb einer Gruppe stattfindende Übergang gut beobachten: Die oben in den Gruppen stehenden Elemente 7Stickstoff, 8Sauerstoff und 16Schwefel sind ausgeprägte Nichtmetalle. Die darunter stehenden Elemente 15Phosphor, 33Arsen und 34Selen kommen sowohl in nichtmetallischen Modifikationen vor (weißer, roter und violetter Phosphor, gelbes Arsen, rotes Selen) wie auch in halbleitenden (schwarzer Phosphor, graues Arsen, graues Selen). Die unten in den Gruppen stehenden Elemente 51Antimon, 52Tellur, 83Bismut und 84Polonium treten bevorzugt in halbmetallischer oder metallischer Form auf.Die typischen Vertreter der Metalle auf der linken Seite des Periodensystems besitzen stets nur eine kleine Anzahl von Valenzelektronen und geben diese bereitwillig ab (niedrige Ionisierungsenergie, siehe oben), um ein Valenzelektronen-Oktett zu erreichen. Wenn Metallatome sich mittels chemischer Bindungen zu einem Metallgitter zusammenfügen, bilden die abgegebenen Valenzelektronen ein „Elektronengas“, das die positiv geladenen Metallatome einbettet und zusammenhält. Dies ist die so genannte metallische Bindung. Aus den Eigenschaften dieser Bindungsart folgen die für die Metalle charakteristischen Eigenschaften wie beispielsweise ihr Glanz oder ihre leichte Verformbarkeit. Insbesondere führt die große Anzahl frei beweglicher Elektronen zu einer hohen elektrischen Leitfähigkeit. === Komplexere Beziehungen === ==== Sonderstellung der Kopfelemente ==== Das Periodensystem ordnet die Elemente so an, dass die einer Gruppe zugehörigen Elemente einander chemisch und physikalisch ähnlich sind. Der Grad der Ähnlichkeit ist durchaus von Fall zu Fall unterschiedlich, es fällt jedoch auf, dass die ersten Mitglieder jeder Hauptgruppe (die „Kopfelemente“ Li, Be, B, C, N, O, F) weniger Ähnlichkeit mit den restlichen Mitgliedern ihrer Gruppe haben als diese jeweils unter sich. Gründe dafür sind unter anderem, dass aufgrund der kleinen Atomradien die Valenzelektronen dieser Atome besonders stark an die Kerne gebunden sind, und dass die Kopfelemente im Gegensatz zu den anderen Gruppenmitgliedern in der Außenschale ein Elektronenoktett nicht überschreiten können.Ein Beispiel für diese Sonderstellung ist die Gasförmigkeit von 7Stickstoff und 8Sauerstoff im Gegensatz zu anderen Vertretern der jeweiligen Gruppe. Ein anderes Beispiel ist der Umstand, dass die Kopfelemente keine höheren Oxidationszahlen annehmen können als ihrer Valenzelektronen-Struktur entspricht. So kann der 8Sauerstoff höchstens die Oxidationszahl +2 annehmen, während die anderen Mitglieder der Sauerstoffgruppe oft die Oxidationszahlen +4 und +6 aufweisen, die sie durch Beteiligung der dem Sauerstoff fehlenden d-Orbitale an der jeweiligen Bindung erlangen.Die Sonderstellung des Kopfelements ist besonders stark ausgeprägt im s-Block des Periodensystems (insbesondere wenn man den 1Wasserstoff anstelle des 3Lithiums als Kopfelement zählt), weniger ausgeprägt im p-Block, zwar vorhanden aber nur gering ausgeprägt im d-Block und noch weniger im f-Block. ==== Schrägbeziehungen ==== Die genannten Kopfelemente ähneln den im Periodensystem rechts unter ihnen stehenden Hauptgruppenelementen mehr als ihren eigenen Gruppenmitgliedern und sind damit Beispiele für Schrägbeziehungen. Dies betrifft insbesondere Ähnlichkeiten zwischen 3Lithium und 12Magnesium, 4Beryllium und 13Aluminium, 5Bor und 14Silicium. Der Grund dafür liegt darin, dass einige wichtige Trends von Elementeigenschaften wie etwa die Elektronegativität, die Ionisierungsenergie oder die Atomradien von links unten nach rechts oben und damit „schräg“ im Periodensystem verlaufen. Bewegt man sich im Periodensystem nach unten, nimmt beispielsweise die Elektronegativität ab. Bewegt man sich nach rechts, nimmt sie zu. Bei einer Bewegung nach unten rechts heben sich die beiden Trends näherungsweise auf und die Elektronegativität ist nur wenig verändert.Eine weitere Schrägbeziehung ist der Grimmsche Hydridverschiebungssatz. ==== Springerbeziehung ==== Eine ungewöhnliche Beziehung zwischen Elementen ist die Springer-Beziehung nach Michael Laing, die in Analogie zur Schachfigur des Springers dadurch gekennzeichnet ist, dass manche metallische Elemente ab der vierten Periode in einigen Merkmalen (z. B. Schmelzpunkte und Siedepunkte) ähnliche Eigenschaften wie ein metallisches Element besitzen, das eine Periode darunter und zwei Gruppen weiter rechts liegt. Beispiele sind 30Zink und 50Zinn, die gleiche Eigenschaften bei einer Legierung mit Kupfer, bei der Beschichtung von Stahl und in ihrer biologischen Bedeutung als Spurenelement aufweisen. Weitere Beispiele sind 48Cadmium und 82Blei, 47Silber und 81Thallium, sowie 31Gallium und 51Antimon. ==== Beziehungen zwischen Haupt- und Nebengruppen ==== Es bestehen zahlreiche Ähnlichkeiten zwischen einer gegebenen Gruppe n und der um zehn Spalten weiter rechts liegenden Gruppe n+10. Ein markantes Beispiel sind 12Magnesium aus der zweiten und 30Zink aus der zwölften Gruppe, deren Sulfate, Hydroxide, Carbonate und Chloride sich sehr ähnlich verhalten. Andere ausgeprägte Beispiele sind 21Scandium aus der dritten Gruppe und 13Aluminium aus der dreizehnten Gruppe sowie 22Titan aus der vierten Gruppe und 50Zinn aus der vierzehnten Gruppe. Lediglich zwischen den Alkalimetallen in der ersten Gruppe und den Edelmetallen (29Kupfer, 47Silber, 79Gold) in der elften Gruppe besteht keinerlei Ähnlichkeit.In der heute gebräuchlichen mittellangen Form des Periodensystems sind diese Beziehungen nicht sehr offensichtlich. Den frühen Pionieren des Periodensystems, die sich ausschließlich an chemischen Ähnlichkeiten orientieren konnten, waren sie jedoch wohlbekannt. Die Beziehungen führen dazu, dass die „langen“ Perioden vier bis sieben (ohne die separat dargestellten Lanthanoide und Actinoide) eine doppelte Periodizität aufweisen: Sowohl ihre linke Hälfte (bis zu den Edelmetallen) als auch ihre rechte Hälfte (bis zu den Edelgasen) haben Eigenschaften, die mit den Hauptgruppen in den kurzen Perioden zwei und drei tendenziell parallel laufen. Das so genannte Kurzperiodensystem berücksichtigt diese Ähnlichkeiten, indem es die beiden kurzen Perioden zwei und drei als einen geschlossenen (nicht wie sonst zweigeteilten) Block darstellt, während es die vier langen Perioden teilt und ihre linke und rechte Hälfte jeweils als separate Zeilen untereinander aufführt. Man fasst dazu in jeder der 18 Elemente enthaltenden langen Perioden die Elemente der Eisen-, der Cobalt- und der Nickelgruppe zu einer Gruppe zusammen. Diese Perioden lassen sich dann in zwei Hälften zu je acht Gruppen (eine davon eine Dreiergruppe) teilen, die im Kurzperiodensystem untereinander angeordnet werden. Das Kurzperiodensystem hat dementsprechend nur 8 Spalten. Wegen der Existenz einer Dreiergruppe entspricht jedoch trotz der acht Spalten der Übergang zu dem eine Zeile tiefer liegenden Element dem Übergang zu dem in der Langform um zehn Gruppen weiter rechts liegenden Element. Durch unterschiedliche Einrückung können die ursprünglichen Haupt- und Nebengruppen unterschieden werden. Die Kurzform des Periodensystems stellt insbesondere den zwischen Neben- und Hauptgruppen parallelen Verlauf der Wertigkeiten (genauer: der maximalen Oxidationszahlen) dar, der in den Langformen verloren gegangen ist und dort nur noch in Form der Gruppen-Nummerierung überlebt (siehe nächsten Abschnitt). Die Kurzform ist andererseits weniger übersichtlich als die Langformen, außerdem betont sie die Ähnlichkeiten zwischen Haupt- und Nebengruppen insgesamt stärker als sie tatsächlich sind. ==== Exkurs: Nummerierung der Gruppen ==== Zwei der drei gebräuchlichen Nummerierungssysteme für die Gruppen gehen auf die Gruppenanordnung im soeben beschriebenen Kurzperiodensystem zurück. Die acht Gruppen des Kurzperiodensystems werden mit römischen Ziffern von I bis VIII durchnummeriert. Zieht man das Kurzperiodensystem wieder zur Langform auseinander, müssen die in einer Gruppe der Kurzform vereinigten Haupt- und Nebengruppenelemente wieder auf je zwei in der Langform separate Gruppen aufgeteilt werden. Will man dabei die Gruppennummerierung der Kurzform beibehalten, ergibt sich eine Verdoppelung jeder Gruppennummer. Zur Unterscheidung hängt man an die Gruppennummer ein a oder b an. In der hauptsächlich in den USA gebräuchlichen Konvention erhalten die Hauptgruppenelemente ein a, die Nebengruppenelemente ein b. Es ergibt sich die Nummerierungsfolge (Hauptgruppen fett dargestellt): Ia IIa IIIb IVb Vb VIb VIIb VIIIb Ib IIb IIIa IVa Va VIa VIIa VIIIaIn der hauptsächlich in Europa gebräuchlichen Konvention erhält die erste Serie von I bis VIII durchgängig ein a, die zweite ein b. Es ergibt sich die Nummerierungsfolge Ia IIa IIIa IVa Va VIa VIIa VIIIa Ib IIb IIIb IVb Vb VIb VIIb VIIIbDer Vorteil der beiden aus der Kurzform abgeleiteten Nummerierungssysteme besteht darin, dass für die Hauptgruppen die Gruppennummer identisch ist mit der Zahl der Valenzelektronen. Es ist also sofort ersichtlich, dass beispielsweise die Elemente der IVten Hauptgruppe vier Valenzelektronen besitzen. Die IUPAC empfiehlt, die Gruppen der Reihe nach mit arabischen Ziffern von 1 bis 18 durchzunummerieren. Während diese Nummerierung transparent und eindeutig ist, geht der Zusammenhang zwischen der Gruppennummer und der Anzahl der Valenzelektronen verloren. Die Elemente mit vier Valenzelektronen befinden sich beispielsweise in Gruppe 14. === Zusätzliche Einflüsse === Die Eigenschaften unbekannter Elemente können näherungsweise vorausgesagt werden, wenn die Eigenschaften der umgebenden Elemente im Periodensystem bekannt sind. Die gesetzmäßige Variation der Eigenschaften innerhalb der Gruppen und Perioden wird jedoch durch zahlreiche Ausnahmen unterbrochen, die zur Komplexität des Fachgebiets Chemie beitragen. Je höher die Ordnungszahl wird, desto weniger eignet sich die Systematik des Periodensystems zur Vorhersage der Stoffeigenschaften, da aufgrund der höheren Ladung des Atomkerns die Geschwindigkeit kernnaher Elektronen und somit relativistische Effekte zunehmen. Bei Elementen ab der vierten Periode rücken die Elektronen der innersten Schalen (insbesondere die s-Orbitale) aufgrund der steigenden Anzahl positiver Ladungen im Atomkern näher an den Atomkern, wodurch die Geschwindigkeit dieser Elektronen beinahe Lichtgeschwindigkeit erreicht. Dadurch nimmt der Ionenradius entgegen der allgemeinen Tendenz ab und die Ionisierungsenergie für diese Elektronen zu (Effekt des inerten Elektronenpaares). == Radioaktive Elemente == Als weitere Informationen, die aber mit der Elektronenkonfiguration und daher mit der Stellung im PSE nichts zu tun haben, sind die radioaktiven Elemente gekennzeichnet: Das Element 82 (Blei) ist das letzte Element, von dem stabile, also nicht radioaktive Isotope existieren. Alle nachfolgenden (Ordnungszahl 83 und höher) weisen ausschließlich instabile und somit radioaktive Isotope auf. Dabei ist 83 (Bismut) ein Grenzfall. Es besitzt nur instabile Isotope, darunter jedoch eines mit einer extrem langen Halbwertszeit (209Bi mit t 1 / 2 = 1 , 9 ⋅ 10 19 {\displaystyle t_{1/2}=1{,}9\cdot 10^{19}} a). Auch unterhalb Element 82 gibt es zwei Elemente mit ausschließlich instabilen Isotopen: 43 (Technetium) und 61 (Promethium).So bleiben tatsächlich nur 80 stabile Elemente übrig, die in der Natur vorkommen – alle anderen sind radioaktive Elemente. Von den radioaktiven Elementen sind nur Bismut, Thorium und Uran in größeren Mengen in der Natur vorhanden, da diese Elemente Halbwertszeiten in der Größenordnung des Alters der Erde oder länger haben. Alle anderen radioaktiven Elemente sind bis auf ein Isotop des Plutoniums entweder wie das Radium intermediäre Zerfallsprodukte einer der drei natürlichen radioaktiven Zerfallsreihen oder entstehen bei seltenen natürlichen Kernreaktionen oder durch Spontanspaltung von Uran und Thorium. Elemente mit Ordnungszahlen über 94 können nur künstlich hergestellt werden; obwohl sie ebenfalls bei der Elementsynthese in einer Supernova entstehen, wurden aufgrund ihrer kurzen Halbwertszeiten bis heute noch keine Spuren von ihnen in der Natur gefunden. Das letzte bislang nachgewiesene Element ist Oganesson mit der Ordnungszahl 118, dieses hat allerdings nur eine Halbwertszeit von 0,89 ms. Vermutlich gibt es bei höheren Ordnungszahlen eine Insel der Stabilität. == Atommassen == Da die Anzahl der Protonen im Atomkern mit der Ordnungszahl des Atoms identisch ist, nimmt die Atommasse mit der Ordnungszahl zu. Während die Ordnungszahl von einem Element zum nächsten jedoch stets um eine Einheit zunimmt, verläuft die Zunahme der Atommassen deutlich unregelmäßiger. Die Masse eines Protons beträgt 1,0073 atomare Masseneinheiten (1 u = 1,66·10−27 kg), die eines Neutrons 1,0087 u. Die Masse eines Elektrons von 0,0005 u ist dem gegenüber meist vernachlässigbar. Die Masse eines aus einem Proton und einem Elektron bestehenden Wasserstoffatoms beträgt 1,0078 u. Da alle Atome eine jeweils ganzzahlige Anzahl von Protonen und Neutronen (mit jeweils etwa 1 u Masse) im Kern besitzen, haben sie grundsätzlich auch eine in guter Näherung ganzzahlige Atommasse, die gerundet der Anzahl der im Kern enthaltenen Protonen und Neutronen entspricht (die Atommassen sind meist etwas kleiner als eine ganze Zahl, der „Massendefekt“ entspricht der bei der Bildung des Kerns freigesetzten Bindungsenergie). Im scheinbaren Widerspruch dazu weichen jedoch einige der Massenangaben im Periodensystem deutlich von der Ganzzahligkeit ab. Für das Chlor beispielsweise findet sich die Angabe 35,45 u. Der Grund dafür ist, dass zwei Atome mit derselben Anzahl von Protonen unterschiedliche Zahlen von Neutronen besitzen können. Solche Atome haben dieselbe Ordnungszahl und damit dasselbe chemische Verhalten, gehören also definitionsgemäß zum selben chemischen Element und befinden sich daher am selben Platz im Periodensystem. Weil sie aber verschiedene Neutronenzahlen besitzen, sind sie verschiedene „Isotope“ dieses Elements (von altgriechisch ἴσος ísos „gleich“ und τόπος tópos „Ort, Stelle“). Die 20 Elemente 4 B e 9 F 11 N a 13 A l 15 P 21 S c 25 M n {\displaystyle \mathrm {{}_{4}Be} \quad \mathrm {{}_{9}F} \quad \mathrm {{}_{11}Na} \quad \mathrm {{}_{13}Al} \quad \mathrm {{}_{15}P} \quad \mathrm {{}_{21}Sc} \quad \mathrm {{}_{25}Mn} } 27 C o 33 A s 39 Y 41 N b 45 R h 53 I 55 C s {\displaystyle \mathrm {{}_{27}Co} \quad \mathrm {{}_{33}As} \quad \mathrm {{}_{39}Y} \quad \mathrm {{}_{41}Nb} \quad \mathrm {{}_{45}Rh} \quad \mathrm {{}_{53}I} \quad \mathrm {{}_{55}Cs} } 59 P r 65 T b 67 H o 69 T m 79 A u 83 B i {\displaystyle \mathrm {{}_{59}Pr} \quad \mathrm {{}_{65}Tb} \quad \mathrm {{}_{67}Ho} \quad \mathrm {{}_{69}Tm} \quad \mathrm {{}_{79}Au} \quad \mathrm {{}_{83}Bi} } bestehen nur aus einem einzigen natürlich vorkommenden Isotop, sie sind Reinelemente. Die anderen Elemente sind Mischelemente; sie bestehen in ihrem natürlichen Vorkommen aus einer Mischung verschiedener Isotope. Für diese Mischelemente ist im Periodensystem die mittlere Atommasse der natürlich vorkommenden Isotopenmischung eingetragen. Das natürlich vorkommende Chlor beispielsweise besteht zu 75,77 % aus dem Chlor-Isotop mit der Massenzahl 35 (mit 17 Protonen und 18 Neutronen im Kern) und zu 24,23 % aus dem Chlor-Isotop 37 (17 Protonen und 20 Neutronen). Seine mittlere Atommasse ist das mit der Häufigkeit gewichtete Mittel aus den (beinahe ganzzahligen) Atommassen 34,97 u und 36,97 u, beträgt also die oben genannten 35,45 u. Haben die Isotope zweier im Periodensystem aufeinanderfolgender Elemente sehr verschiedene Häufigkeitsverteilungen, kann es vorkommen, dass die mittlere Atommasse vom einen Element zum nächsten abnimmt. So hat das auf das 18Argon folgende 19Kalium zwar eine höhere Ordnungszahl, aber eine kleinere mittlere Atommasse. Dasselbe gilt für 27Cobalt und 28Nickel, 52Tellur und 53Iod, sowie 90Thorium und 91Protactinium. Da die Atommassen (von den erwähnten Ausnahmen abgesehen) einigermaßen regelmäßig mit der Ordnungszahl anwachsen, konnten sie im 19. Jahrhundert erfolgreich anstelle des eigentlichen Ordnungsprinzips, der noch unbekannten Ordnungszahl, der Suche nach Gesetzmäßigkeiten zugrunde gelegt werden. == Geschichte == === Elemente === Im antiken Griechenland und im antiken China wurde bereits vor mehr als 2000 Jahren spekuliert, dass die Vielzahl der Erscheinungen in der Natur sich auf eine kleine Anzahl von „Elementen“ zurückführen lassen müsse. In Griechenland vertrat Empedokles die Vier-Elemente-Lehre mit den Elementen Feuer, Wasser, Erde und Luft. In China gab es in der Fünf-Elemente-Lehre die Elemente Holz, Feuer, Erde, Metall und Wasser. Der heutige Begriff eines Elements als eines nicht weiter zerlegbaren Stoffes geht auf Joachim Jungius und Robert Boyle Mitte des 17. Jahrhunderts zurück. Antoine Laurent de Lavoisier legte 1789 eine erste systematische, 33 Einträge umfassende Tabelle mit vermuteten „einfachen Stoffen“ vor, von denen in der Tat 21 bereits Elemente im heutigen Sinn waren. Über die innere Struktur der Elemente und damit aller Materie überhaupt herrschte allerdings noch völlige Unklarheit. Gemäß John Daltons Atomhypothese (1808) setzen sich alle Stoffe aus kleinsten, nicht weiter teilbaren „Atomen“ zusammen, wobei die Atome eines chemischen Elements untereinander identisch, aber von den Atomen eines anderen Elements in Form und Gewicht verschieden sind. Chemische Reaktionen waren gemäß der Hypothese als Umgruppierungen der unzerstörbaren Atome anzusehen, und auch die Gesetze der konstanten Proportionen und der multiplen Proportionen war damit leicht erklärbar. Obwohl Atome von vielen Chemikern als Arbeitshypothese akzeptiert wurden, lag kein Beweis für ihre Existenz vor. === Atommassen === Während die Dichten der verschiedenen Elemente schon lange bekannt waren, war es wegen der Unkenntnis über die Anzahl und die Größe der Atome nicht möglich, deren absolute Massen zu ermitteln. Dalton hatte bereits eine auf den konstanten Proportionen beruhende, 14 Elemente umfassende und noch ziemlich ungenaue Liste von Verhältnissen der Atommassen zueinander erstellt.William Prout bemerkte, dass viele Atommassen ungefähr ganzzahlige Vielfache der Atommasse des Wasserstoffs waren und stellte 1815 die Hypothese auf, dass alle Elemente aus entsprechenden Mengen Wasserstoff als „Ursubstanz“ zusammengesetzt seien. Die bislang als nicht-ganzzahlig gelisteten Atommassen würden sich bei genaueren Messungen schon noch als ganzzahlig herausstellen. Prouts Hypothese veranlasste genauere Massenbestimmungen, hauptsächlich durch Jöns Jakob Berzelius und Jean Servais Stas, die die Nicht-Ganzzahligkeit vieler Atommassen bestätigten und damit Prouts Hypothese widerlegten, wegen ihrer deutlich verbesserten Genauigkeit aber auch als Grundstock für zuverlässigere Untersuchungen dienten. Der Grund für die auffallend große Zahl von Elementen mit ungefähr ganzzahligen Atommassen blieb freilich ungeklärt.In den 1850er-Jahren griff Stanislao Cannizzaro die von Amedeo Avogadro 1811 aufgestellte, aber bislang unbeachtet gebliebene Hypothese wieder auf, dass gleiche Volumina verschiedener Gase bei gleicher Temperatur und gleichem Druck die gleiche Anzahl von Teilchen enthalten. Diese Hypothese erlaubte es, die Massen gleicher (wenn auch unbekannter) Anzahlen von Atomen in gasförmigen Verbindungen systematisch miteinander zu vergleichen und so unter Bezug auf ein Referenzelement die relativen Atommassen der Elemente zu ermitteln. Mit ihrer Hilfe konnten auch zahlreiche bislang falsch angenommene Mengenverhältnisse in chemischen Verbindungen korrigiert werden. Auf dieser Grundlage veröffentlichte Cannizzaro zwischen 1858 und 1860 als Vorbereitung auf den Karlsruher Kongress (den auch Meyer und Mendelejew besuchten) zuverlässigere und konsistente Atommassen, die in den 1860er-Jahren schnelle Fortschritte bei der Entwicklung periodischer Systeme erlaubten. === Vorläufer des Periodensystems === Anfang des 19. Jahrhunderts wurde bereits nach Regelmäßigkeiten in den Beziehungen zwischen den Elementen gesucht. Hindernisse waren dabei unter anderem die Unsicherheiten in den Atommassen und der Umstand, dass zahlreiche Elemente noch gar nicht bekannt waren. Döbereiner stellte erstmals einen Zusammenhang zwischen der Atommasse und den chemischen Eigenschaften einzelner Elemente fest. Im Jahr 1824 veröffentlichte Falckner ein System natürlicher Elementfamilien. Gmelin erstellte 1843 eine tabellarische Sortierung der Elemente. Weitere Pioniere, die auch Mendelejew kannte, waren Pettenkofer (1850), Odling (1857), Dumas (1858) und Lenßen (1857). Chancourtois entwickelte 1862 eine dreidimensionale Darstellung, wobei er die Elemente nach steigenden Atommassen schraubenförmig auf einem Zylinder anordnete. Auch von Hinrichs (1864), Baumhauer (1867) und Quaglio (1871) wurden Versuche unternommen, das System spiralförmig darzustellen. 1863/64 stellte Newlands eine nach Atommassen geordnete Tabelle der Elemente in Achtergruppen (Gesetz der Oktaven) auf. === Johann Wolfgang Döbereiner (Triadensystem) === Johann Wolfgang Döbereiner unternahm den ersten Versuch, Elemente nach erkannten Gesetzmäßigkeiten zu ordnen. Im Jahre 1817 bestimmte er die Molekülmasse von Strontiumoxid S r O {\displaystyle \mathrm {SrO} } und fand (in dem von ihm benutzten Massensystem) den Wert 50. Döbereiner bemerkte, dass dies genau das arithmetische Mittel aus den Massen von Calciumoxid C a O {\displaystyle \mathrm {CaO} } (27,5) und Bariumoxid B a O {\displaystyle \mathrm {BaO} } (72,5) war: ( C a O + B a O ) / 2 = ( 27 , 5 + 72 , 5 ) / 2 = 50 S r O = 50 {\displaystyle {\begin{aligned}(\mathrm {CaO} +\mathrm {BaO} )/2\,=\,(27{,}5+72{,}5)/2&=50\\\mathrm {SrO} &=50\end{aligned}}} Hieraus schöpfte er anfänglich den Verdacht, Strontium bestünde aus Barium und Calcium, was er aber in entsprechenden Versuchen hierzu nicht bestätigt fand.Aus moderner Sicht sind Calcium, Strontium und Barium drei im Periodensystem untereinander stehende Elemente aus der Gruppe der Erdalkalimetalle, was ihre identischen Wertigkeiten und daher ihre Ähnlichkeit bei der Bildung von Oxiden x + O {\displaystyle \mathrm {x+O} } begründet. Da in diesem Bereich des Periodensystems die Periodenlänge 18 Elemente beträgt (eine Periode umfasst hier acht Hauptgruppen und zehn Nebengruppen), weisen sie untereinander dieselbe Differenz der Ordnungszahlen auf (18, Döbereiner noch unbekannt): 4 B e → + 8 12 M g → + 8 20 C a → + 18 38 S r → + 18 56 B a → + 32 88 R a {\displaystyle \mathrm {{}_{4}Be} \quad {\xrightarrow[{+8}]{}}\quad \mathrm {{}_{12}Mg} \quad {\xrightarrow[{+8}]{}}\quad {\color {BrickRed}\mathbf {{}_{20}Ca} \quad {\xrightarrow[{\mathbf {+18} }]{}}\quad \mathbf {{}_{38}Sr} \quad {\xrightarrow[{\mathbf {+18} }]{}}\quad \mathbf {{}_{56}Ba} }\quad {\xrightarrow[{+32}]{}}\quad \mathrm {{}_{88}Ra} } und daher auch ungefähr dieselbe Differenz der Atommassen (knapp 50 u). Leopold Gmelin bemerkte 1827 in seinem „Handbuch der theoretischen Chemie“ bezüglich der Atommassen „einige merkwürdige Verhältnisse, welche ohne Zweifel mit dem innersten Wesen der Stoffe zusammenhängen.“ Unter anderem wies er auf eine weitere Dreiergruppe hin, nämlich Lithium, Natrium und Kalium. Bildet man das arithmetische Mittel der Atommassen von Lithium und Kalium, „so erhält man ziemlich genau [die Atommasse] des Natriums, welches Metall auch in seinen chemischen Beziehungen zwischen die beiden genannten zu stehen kömmt.“ Döbereiner veröffentlichte 1829 einen ausführlicheren „Versuch zu einer Gruppirung der elementaren Stoffe nach ihrer Analogie“. Eine neu aufgefundene Triade enthielt mit Chlor und Iod sowie dem erst im vorhergehenden Jahr isolierten Brom „drei Salzbildner“. Der Vergleich unter Verwendung der von Berzelius bestimmten Atommassen ergab ( C l + I ) / 2 = ( 35,470 + 126,470 ) / 2 = 80,970 B r = 78,383 {\displaystyle {\begin{aligned}(\mathrm {Cl} +\mathrm {I} )/2\,=\,(35{,}470+126{,}470)/2&=80{,}970\\\mathrm {Br} &=78{,}383\end{aligned}}} Eine weitere neu gefundene Triade umfasste Schwefel, Selen und Tellur, die sich alle „mit dem Wasserstoff zu eigenthümlichen Wasserstoffsäuren verbinden“: ( S + T e ) / 2 = ( 32,239 + 129,243 ) / 2 = 84,241 S e = 79 , 5 {\displaystyle {\begin{aligned}(\mathrm {S} +\mathrm {Te} )/2\,=\,(32{,}239+129{,}243)/2&=84{,}241\\\mathrm {Se} &=79{,}5\end{aligned}}} Bei seinen Ordnungsversuchen legte Döbereiner Wert darauf, dass die zu einer Triade vereinigten Elemente auch tatsächlich chemische Ähnlichkeit aufwiesen: „Der Umstand, dass das arithmetische Mittel der Atomgewichte des Sauerstoffs = 16,026 und des Kohlenstoffs = 12,256 das Atomengewicht des Stickstoffs = 14,138 ausdrückt, kann hier nicht in Betracht kommen, weil zwischen diesen drei Stoffen keine Analogie statt findet.“ Ebenso bestand er auf der besonderen Bedeutung der Zahl drei. Die untereinander sehr ähnlichen Elemente Eisen, Mangan, Nickel, Cobalt, Zink und Kupfer stellten ein Problem für ihn dar, denn „wie soll man sie ordnen, wenn die Dreiheit (Trias) als Princip der Gruppirung angenommen wird?“ Hatte Gmelin 1827 noch die damals bekannten 51 Elemente einzeln in einer V-förmigen Anordnung dargestellt, um ihre „Verwandtschaft und Verschiedenheit“ anschaulich aufzuzeigen, war er 1843 dazu übergegangen, die 55 bekannten Elemente „je nach ihren physischen und chemischen Verhältnissen“ in Gruppen von meist drei Elementen zusammenzufassen, die dann wiederum „nach ihren Ähnlichkeiten“ in einem nach ansteigender Elektropositivität gereihten V-förmigen Schema angeordnet waren. In einigen von Gmelins Gruppen lassen sich heutige Hauptgruppen wiedererkennen (R = Rhodium, heute Rh; L = Lithium, heute Li; G = Glycium, heute Beryllium Be). Ernst Lenßen konnte 1857 praktisch alle damals bekannten Elemente in 20 Triaden einteilen (war dabei aber bezüglich der chemischen Ähnlichkeit weniger streng als Döbereiner). Er stellte sogar Dreiergruppen von Triaden zu „Enneaden“ (Neunergruppen) zusammen, in denen die Atommassen der jeweils mittleren Triaden wiederum über die Mittelwerts-Regel zusammenhingen. Er sagte anhand seines Systems unter anderem die Atommassen der zwar schon entdeckten aber noch nicht isolierten Elemente Erbium und Terbium voraus, keine seiner Voraussagen war jedoch erfolgreich. Er versuchte auch, Zusammenhänge mit anderen physikalischen und chemischen Eigenschaften herzustellen. === John A. R. Newlands (Gesetz der Oktaven) === Die bisherigen Ordnungsversuche waren größtenteils darauf beschränkt, isolierte Gruppen mit jeweils untereinander ähnlichen Elementen ausfindig zu machen. John Alexander Reina Newlands veröffentlichte 1864 eine Tabelle mit 24 Elementen (und einer Leerstelle für ein vermeintlich noch unentdecktes Element), in der die Elemente zwar wie üblich in der Reihenfolge wachsender Atommassen angeordnet waren, in der er aber nicht auf Muster in den Atommassen-Unterschieden, sondern auf sich wiederholende Unterschiede in den Platznummern ähnlicher Elemente hinwies. Dies war das erste periodische System, also eine Zusammenstellung von Elementen, die zeigt, dass sich die Eigenschaften der Elemente nach gewissen gleichmäßigen Intervallen wiederholen. Newlands war auch der erste, der die aus der Atommasse folgende Reihenfolge der Elemente Iod und Tellur vertauschte und der aus den chemischen Eigenschaften folgenden Anordnung den Vorzug gab.Im Jahr 1865 entwickelte Newlands ein weiteres System, das nun 65 Elemente umfasste. Es sollte zeigen, dass sich die chemischen Eigenschaften in jeder achten Position wiederholen, was er mit den Oktaven aus der Musik verglich. (Da die Edelgase noch nicht entdeckt waren, betrug die Periodenlänge in den ersten Perioden von Newlands Tabelle eigentlich sieben Elemente. Da er aber beide sich ähnelnde Elemente mitzählte, so wie man auch die Oktave in der Musik z. B. von einem C bis zum nächsten C inklusive zählt, ergibt sich eine Periodenlänge von 8.) Newlands nannte diese Beziehung der Elemente untereinander das „Gesetz der Oktaven“, womit zum ersten Mal das Wiederholungsmuster in den Elementeigenschaften als Naturgesetz betrachtet wurde. Auf die ersten beiden Perioden lässt sich das Gesetz der Oktaven perfekt anwenden, weil dann aber (wie man heute weiß) die Perioden länger werden, war das Gesetz in den darauffolgenden Perioden weniger erfolgreich.Auf Newlands geht die erste zutreffende Vorhersage eines noch unentdeckten Elements zurück: Aufgrund einer Lücke in einer seiner Tabellen sagte er 1864 die Existenz eines Elements mit der Atommasse 73 zwischen Silizium und Zinn voraus. Dem entspricht in der angekündigten Position und mit der Atommasse 72,61 das 1886 entdeckte Germanium. Seine Vorhersagen noch unbekannter Elemente zwischen Rhodium und Iridium sowie zwischen Palladium und Platin trafen jedoch nicht ein.Die Entdeckung der Periodizität wird gelegentlich auch Alexandre-Emile Béguyer de Chancourtois zugeschrieben, der 1862 die Elemente nach steigender Atommasse entlang einer dreidimensionalen Schraube so anordnete, dass eine Schraubenwindung 16 Einheiten entsprach, Elemente im Abstand von 16 Einheiten also senkrecht übereinander zu stehen kamen. Sein System blieb jedoch weitgehend unbeachtet und er entwickelte es nicht weiter. === Dmitri Mendelejew und Lothar Meyer (Periodensystem) === Das moderne Periodensystem wurde von Lothar Meyer und Dmitri Iwanowitsch Mendelejew entwickelt. Beide publizierten ihre Ergebnisse im Jahre 1869 und erhielten für ihre Arbeit 1882 gemeinsam die Davy-Medaille der britischen Royal Society. Mendelejew wird häufiger als Meyer als Begründer des heutigen Periodensystems genannt. Zum einen, weil Meyers Periodensystem ein paar Monate später veröffentlicht wurde, zum anderen, weil Mendelejew Voraussagen zu den Eigenschaften der noch nicht entdeckten Elemente machte. In Russland wird auch heute noch das Periodensystem als Tabliza Mendelejewa („Mendelejews Tabelle“) bezeichnet. Weder Mendelejew noch Meyer kannten die Arbeiten des jeweils Anderen zum Periodensystem. Die Arbeiten von Béguyer de Chancourtois von 1862, Newlands von 1863/64 oder Hinrichs von 1866/67 waren Mendelejew auch nicht bekannt. ==== Lothar Meyer ==== In seinem 1864 erschienenen Lehrbuch „Die modernen Theorien der Chemie“ präsentierte Meyer bereits eine 28 Elemente enthaltende und nach steigenden Atommassen geordnete Tabelle. Die Unterteilung in Zeilen war so vorgenommen, dass jede Spalte (den heutigen Hauptgruppen entsprechend) Elemente derselben Wertigkeit enthielt und die Wertigkeit sich von einer Spalte zur nächsten um eine Einheit änderte. Meyer wies darauf hin, dass die Differenz der Atommassen zwischen dem ersten und zweiten Element jeder Spalte ungefähr 16 betrug, die nächsten beiden Differenzen um etwa 46 schwankten und die letzte Differenz stets etwa 87 bis 90 betrug. Er äußerte die Vermutung, dies könne – ähnlich wie bei homologen Reihen von Molekülen – auf den systematischen Aufbau der Atome aus kleineren Bestandteilen hinweisen.Die Elemente Tellur und Iod hatte Meyer, ihren chemischen Eigenschaften entsprechend, gegenüber der aus den Atommassen folgenden Reihenfolge vertauscht. Meyer hatte einige Lücken in der Tabelle lassen müssen, darunter eine zwischen Silizium und Zinn, in der gemäß seinem Differenzenschema ein Element der Atommasse 73 zu erwarten war. Das fehlende Element war das 1886 entdeckte Germanium mit der Atommasse 72,61. Eine weitere, nicht nach Atommassen geordnete Tabelle enthielt 22 Elemente, die Meyer nicht in seinem Schema untergebracht hatte – sie entsprechen den heutigen Übergangsmetallen.Im Jahre 1870 (eingereicht im Dezember 1869, ein knappes Jahr nach Mendelejews erster Publikation eines Periodensystems) veröffentlichte Meyer eine erweiterte Version seiner Tabelle, in der es ihm unter Verwendung aktualisierter Atommassen gelungen war, „sämmtliche bis jetzt hinreichend bekannten Elemente demselben Schema einzuordnen“. Die Perioden verliefen in diesem System senkrecht, die Gruppen waagerecht. Die (noch nicht so genannten) Übergangsmetalle waren jetzt Teil der Tabelle. Sie waren ähnlich wie bei einem Kurzperiodensystem in Perioden angeordnet, die sich mit den (noch nicht so genannten) Hauptgruppen abwechselten. Um die Variation der Eigenschaften entlang der Perioden zu illustrieren, fügte Meyer ein Diagramm an, das die periodisch variierenden Atomvolumina in Abhängigkeit von der Atommasse zeigt (ähnlich dem Diagramm im Abschnitt Atomradius). Diese Veranschaulichung trug erheblich zur Akzeptanz des Periodensystems bei. Meyer erörterte verschiedene mit den Atomvolumina parallel laufende und damit ebenfalls periodische physikalische Eigenschaften der Atome, wie etwa die Dichten, Flüchtigkeit, Dehnbarkeit, Sprödigkeit oder die spezifische Wärme. ==== Dmitri Mendelejew ==== Mit dem Periodensystem in seiner heutigen Form ist hauptsächlich Mendelejews Name verbunden. Sein Periodensystem war vollständiger als andere Systeme jener Zeit, er bewarb und verteidigte sein System engagiert, arbeitete es über Jahrzehnte hinweg immer weiter aus und nutzte es für weit umfangreichere und detailliertere Vorhersagen als andere Ersteller periodischer Systeme.Auf der Suche nach einem Gliederungsschema für sein Chemielehrbuch erstellte Mendelejew am 17. Februarjul. / 1. März 1869greg. einen ersten Entwurf seiner Version des Periodensystems. Noch im März veröffentlichte er sein System mit einer ausführlichen Erläuterung in der Zeitschrift der Russischen Chemischen Gesellschaft.Er wies ausdrücklich darauf hin, dass die meisten Eigenschaften der Elemente nicht als eindeutiges Ordnungsprinzip geeignet sind. So können beispielsweise die meisten Elemente verschiedene Wertigkeiten annehmen. Die meisten Eigenschaften der freien Elemente hängen von der jeweils vorliegenden Modifikation ab (Graphit und Diamant etwa sind Modifikationen des Kohlenstoffs mit deutlich unterschiedlichen Eigenschaften), und so weiter. Die einzige eindeutige und zahlenmäßig erfassbare Eigenschaft eines Elements, die sowohl in allen Modifikationen des freien Elements als auch in allen seinen Verbindungen erhalten bleibe, sei dessen Atommasse (die Ordnungszahl als eine weitere solche Eigenschaft war Mendelejew noch unbekannt). Er ordnete die Elemente der bereits als zusammengehörig bekannten „natürlichen Gruppen“ (wie etwa der Halogene, der Erdalkalimetalle, der Stickstoffgruppe usw.) nach ihren Atommassen und fand, dass diese Anordnung ohne weiteres Zutun „der unter den Elementen herrschenden natürlichen Aehnlichkeit“ entsprach. Er stellte fest: „Die nach der Größe ihres Atomgewichtes angeordneten Elemente zeigen eine deutliche Periodicität ihrer Eigenschaften,“ und versuchte, auf dieser Grundlage auch die übrigen Elemente gemäß ihrem chemischen Verhalten in das Schema einzupassen. In diesem Artikel sagte Mendelejew bereits aufgrund von Lücken, die in seinem System geblieben waren, die Existenz von zwei neuen Elementen mit Atommassen zwischen 65 und 75 voraus, die dem Aluminium und Silicium ähneln sollten. Auch Mendelejew hatte wie einige seiner Vorgänger Tellur und Iod gegenüber der aus den Atommassen folgenden Reihenfolge vertauscht. Seine Vorhersage, dass die Atommasse des Tellur korrigiert werden müsse, weil sie gemäß seinem System nicht 128 sein könne und vielmehr zwischen 123 und 126 liegen müsse, traf jedoch nicht ein – hier liegt tatsächlich eine Unregelmäßigkeit der Atommassen vor. Noch im selben Jahr erschienen auch zwei kurze deutschsprachige Beschreibungen des neuen Systems.Im Jahr 1871 erschien ein umfangreicher Artikel, in dem Mendelejew zwei weiterentwickelte Varianten seines Periodensystems vorstellte. Eine dieser Varianten war das erste Kurzperiodensystem. In diesem Artikel demonstrierte er unter anderem, wie sich anhand des Periodensystems die Atommasse eines Elements ermitteln oder korrigieren ließ, wenn sein chemisches Verhalten bekannt war. Der Artikel enthält auch die drei bekanntesten Vorhersagen über die Eigenschaften noch unbekannter Elemente, deren Existenz Mendelejew aus verbliebenen Lücken in seinem Periodensystem erschloss. Durch geschickte Interpolation zwischen den physikalischen und chemischen Eigenschaften der Nachbarelemente gelang es ihm, zahlreiche Eigenschaften der noch unbekannten Elemente zutreffend vorherzusagen.Mendelejew benannte die unbekannten Elemente nach dem in seinem Kurzperiodensystem jeweils über der betreffenden Lücke stehenden Element unter Anfügung der Vorsilbe Eka (sanskr. „eins“). Ekaaluminium wurde 1875 von Paul Émile Lecoq de Boisbaudran entdeckt und nach Frankreich, dem Land der Entdeckung, Gallium genannt. Ekabor wurde 1879 von Lars Fredrik Nilson entdeckt und – nach Skandinavien – mit dem Namen Scandium versehen. Ekasilizium wurde 1886 von Clemens Winkler entdeckt und erhielt nach dem Entdeckungsland Deutschland die Bezeichnung Germanium. Nicht alle von Mendelejews Vorhersagen waren derart erfolgreich. Von seinen Vorhersagen neuer Elemente traf insgesamt nur etwa die Hälfte zu.Das 1894 entdeckte Edelgas Argon schien eine erhebliche Bedrohung für die Allgemeingültigkeit von Mendelejews Periodensystem darzustellen, da es sich nicht in das bestehende System einfügen ließ. Als jedoch in rascher Folge weitere Edelgase entdeckt wurden (1895 Helium, 1898 Neon, Krypton und Xenon, 1900 Radon) wurde offenkundig, dass das Periodensystem lediglich um eine neue Elementgruppe zwischen den Halogenen und den Alkalimetallen erweitert werden musste, um sie alle aufnehmen zu können. Mendelejew sprach von einem „kritischen Test“, den sein Periodensystem „großartig überlebt“ habe.Mendelejew veröffentlichte im Laufe der Jahre etwa dreißig Versionen des Periodensystems, weitere dreißig liegen als Manuskript vor. Die älteste erhaltene Schautafel des Periodensystems stammt aus dem Zeitraum zwischen 1879 und 1886 und befindet sich in der University of St. Andrews. Die Farben geben die heutige Zuordnung der Elemente an:Alkalimetalle, Erdalkalimetalle, 3. Hauptgruppe, 4. Hauptgruppe, 5. Hauptgruppe,6. Hauptgruppe, Halogene, Edelgase, Übergangsmetalle, Lanthanoide, Actinoide. Das vermeintliche Element Didymium (Di) stellte sich später als eine Mischung aus den Seltenen Erden Praseodym und Neodym heraus. Um das rechts gezeigte moderne Periodensystem von Mendelejews Anordnung in die heute übliche Anordnung zu überführen, sind die beiden letzten Zeilen, um ein Kästchen nach rechts verschoben, oben anzufügen und das ganze System an der von links oben nach rechts unten laufenden Diagonalen zu spiegeln. Im gezeigten modernen Periodensystem sind die Atommassen der klareren Darstellung wegen auf ganze Zahlen gerundet. === Henri Becquerel (Radioaktivität) === Henri Becquerel entdeckte 1896, dass von Uran eine bislang unbekannte Strahlung ausging. Das Uranmineral Pechblende sandte deutlich mehr Strahlung aus, als es dem Gehalt an Uran entsprochen hätte. Marie und Pierre Curie entdeckten 1898 in der Pechblende die neuen und radioaktiven Elemente Polonium und Radium. Das Element Thorium erkannten sie ebenfalls als radioaktiv. === Ernest Rutherford (Atomkern) === Joseph John Thomson stellte 1897 fest, dass die in Gasentladungsröhren beobachteten Kathodenstrahlen leichte materielle Teilchen und keine Ätherwellen waren. Thomson konnte das Verhältnis e/m von Ladung und Masse der „Elektronen“ genannten Teilchen bestimmen und stellte fest, dass es unabhängig von Kathodenmaterial, Füllgas und sonstigen Umständen war, dass also die Elektronen offenbar universelle Bestandteile der Atome waren. Thomson erstellte 1904 das Plumpudding-Modell, gemäß dem die Elektronen in eine gleichmäßig positiv geladene Kugel eingebettet waren. Bei der Untersuchung radioaktiver Substanzen konnten verschiedene Arten von Strahlung unterschieden werden: Ablenkung im Magnetfeld zeigte, dass die durchdringenden Beta-Strahlen negativ geladen waren; Becquerel identifizierte sie schließlich als Elektronen. Ernest Rutherford und Thomas Royds stellten 1908 fest, dass es sich bei der weniger durchdringenden Alpha-Strahlung um zweifach positiv geladene Heliumionen handelte. Rutherfords Streuexperimente, bei denen er Metallfolien mit Alphateilchen beschoss, zeigten 1911, dass die positiven Ladungen der Atome in einem kleinen Kern konzentriert sind und die Elektronen sich außerhalb des Kerns aufhalten – ihre Anordnung und Anzahl waren jedoch noch unbekannt. === Henry Moseley (Ordnungszahl) === Die Analyse seiner Streuexperimente hatte Rutherford 1911 zur Feststellung geführt, dass die positive Ladung der Atomkerne etwa der halben Atommasse entspreche: Z ≈ A / 2 {\displaystyle \textstyle Z\approx A/2} . Antonius van den Broek wies darauf hin, dass die Atommasse von einem Element zum nächsten um zwei Einheiten zunehme, dass also gemäß Rutherfords Formel von einem Element zum nächsten die Anzahl der Ladungen im Kern um eins zunehme. Die Anzahl der möglichen Elemente sei daher gleich der Anzahl der möglichen Kernladungen und jeder möglichen Kernladung entspreche ein mögliches Element. Die Kernladungszahl bestimme demnach auch die Position jedes Elements im Periodensystem. (Die Zunahme der Atommassen um jeweils zwei Einheiten trifft nur in grober Näherung zu; van den Broek war hier von seiner Vermutung beeinflusst, alle Atome seien aus halben Alphateilchen der Massenzahl 2 aufgebaut.) Henry Moseley bestätigte, dass die Kernladungszahl (auch: Ordnungszahl) ein geeigneteres Ordnungsprinzip für die Elemente ist als die Atommasse. Er nutzte den Umstand, dass mit Elektronen beschossene Materialien neben dem Bremsspektrum (Röntgen 1895) auch Röntgenstrahlung mit einer für das Material charakteristischen Wellenlänge abgeben (Barkla, ca. 1906) und dass die Wellenlänge dieser Strahlung mittels Beugung an Kristallen bestimmt werden kann (von Laue 1912). Moseley bestimmte die Wellenlängen der charakteristischen Strahlung verschiedener Elemente und stellte fest, dass die Frequenzen dieser Strahlungen proportional zum Quadrat einer ganzen Zahl waren, die die Position des betreffenden Elements im Periodensystem beschrieb (Moseleysches Gesetz). Er erkannte diese Zahl als die Anzahl der Ladungen im Atomkern. Es war damit möglich, die Ordnungszahl eines Elements experimentell einfach zu bestimmen. Moseley wies nach, dass viele der etwa 70 angeblich neu entdeckten Elemente, die um die 16 zu füllenden Lücken in Mendelejews Periodensystems konkurrierten, nicht existieren konnten, weil im Raster der Ordnungszahlen kein Platz dafür war.Die gut zehn „Seltenen Erden“ (ihre genaue Anzahl war damals nicht bekannt) sind chemisch nur schwer voneinander zu trennen, weil sie einander sehr ähnlich sind. Mendelejew hatte keinen Platz für sie in seinem Schema gefunden. Moseleys Ordnungszahl wies ihnen eindeutig die Plätze 57 bis 71 zu.Die Pioniere des Periodensystems hatten die gelegentlichen Masseninversionen (wie etwa zwischen Iod und Tellur) noch durch Vertauschen der betreffenden Elemente im Atommassen-Schema korrigieren müssen, ohne jedoch eine Begründung dafür geben zu können, außer dass sie so besser ins Schema der chemischen Ähnlichkeiten passten. Moseleys Ordnungszahl bestätigte die korrekte Reihenfolge der vertauschten Elemente, die Atommassen waren hier irreführend gewesen. Bei Ausbruch des Ersten Weltkriegs meldete Moseley sich zum Kriegsdienst und fiel in der Schlacht von Gallipoli. Moseleys Nachfolger vervollständigten die systematischen Messungen und stellten fest, dass das Uran (das bis dahin schwerste bekannte Element) die Ordnungszahl 92 hat, dass also in der Elementreihe von Wasserstoff bis Uran genau 92 Elemente existieren. Man erkannte Lücken bei den Ordnungszahlen 43, 61, 72, 75, 85, 87 und 91, die in den folgenden Jahrzehnten mit den betreffenden Neuentdeckungen gefüllt werden konnten. === Frederick Soddy (Isotope) === Ernest Rutherford und Frederick Soddy stellten 1902 fest, dass die radioaktiven Elemente nicht nur Strahlung abgaben, sondern aus instabilen Atomen bestanden, die sich spontan unter Abgabe von Alpha-, Beta- oder Gamma-Strahlung in neue Elemente umwandelten (Transmutation) – in offenkundigem Widerspruch zur bisher angenommenen Unteilbarkeit und Unwandelbarkeit der Atome. Beginnend mit Actinium (Debierne 1899) wurden nach Polonium und Radon rasch zahlreiche weitere radioaktive Substanzen entdeckt (1912 war ihre Zahl auf etwa 30 angewachsen). Die neuen Substanzen wurden zunächst als eigenständige Elemente angesehen und es schien, als könne das Periodensystem nicht ihnen allen Platz bieten. Es stellte sich jedoch heraus, dass sie praktisch durchweg chemisch nicht von bereits bekannten Elementen zu unterscheiden waren und als solche bereits einen Platz im Periodensystem hatten. So ließ sich etwa ein zunächst „Radium D“ genanntes Zerfallsprodukt nicht von Blei unterscheiden. Andererseits zeigten genaue Bestimmungen der Atommassen, dass Bleiproben aus unterschiedlichen Quellen verschiedene Atommassen haben konnten. Theodore William Richards fand für Blei aus Pechblende eine Atommasse von 206,4 und für Blei aus Thorit 208,4. Aus mehreren ähnlichen Fällen zog Soddy 1911 den Schluss, dass ein und dasselbe Element eine Mischung aus verschiedenen Atommassen sein konnte und prägte 1913 für Atome mit gleicher Kernladungszahl aber unterschiedlicher Massenzahl den Begriff „Isotope“. Soddy und Kasimir Fajans stellten die Verschiebungssätze auf, gemäß welchen ein Atom eines gegebenen Elements durch Aussendung eines Alpha-Teilchens zwei Kernladungen einbüßt und in dasjenige Element übergeht, das im Periodensystem zwei Plätze weiter links steht, während es bei Aussendung eines Beta-Teilchens um einen Platz weiter nach rechts wandert. Für die Elemente zwischen Blei und Uran war damit einleuchtend, warum es sie mit unterschiedlichen Atommassen geben konnte. Ein Thorium-Atom (Ordnungszahl 90) kann beispielsweise über einen Alphazerfall aus Uran-235 (Ordnungszahl 92) entstanden sein und hat dann die Masse 231. Es kann aber auch über einen Betazerfall aus Actinium-230 (Ordnungszahl 89) entstanden sein und hat dann die Masse 230. Soddy konnte damit für Blei aus Uranerzen die Massenzahl 206 und für Blei aus Thoriumerzen die Massenzahl 208 vorhersagen, noch bevor Richards die Ergebnisse seiner Messungen vorlegte.In den 1920er-Jahren stürzte die große Anzahl der neu entdeckten Isotope das Periodensystem in eine Krise, da es schien, als müsse man anstelle der Elemente jetzt die wesentlich größere Zahl von Isotopen mit ihren unterschiedlichen Atommassen in eine systematische Ordnung bringen. Fritz Paneth und George de Hevesy zeigten jedoch, dass die chemischen Eigenschaften der Isotope eines Elements praktisch identisch waren, dass es also gerechtfertigt war, sie gemäß ihrer gemeinsamen Ordnungszahl (als neuem Ordnungskriterium anstelle der Atommasse) als dasselbe Element zu betrachten und so das Periodensystem beizubehalten. Francis William Aston entwickelte 1919 den ersten Massenspektrographen und stellte fest, dass auch die übrigen, nicht aus Zerfallsreihen stammenden Elemente ein Gemisch verschiedener Isotope sein konnten. Damit war geklärt, warum die (mittleren) Atommassen einiger Elemente wie etwa Chlor so deutlich von der Ganzzahligkeit abwichen. Und dass beispielsweise Iod zwar eine höhere Ordnungszahl, aber eine kleinere Atommasse hat als Tellur, war damit als Konsequenz der jeweiligen irdischen Isotopenmischungen der beiden Elemente verständlich. === Niels Bohr (Aufbauprinzip) === Wenn ein angeregtes Atom die Anregungsenergie wieder abstrahlt, hat die ausgesandte Strahlung in der Regel eine genau definierte, von der Art des Atoms und dem angeregten Zustand abhängige Wellenlänge. Rutherfords Atommodell, in dem die Elektronen sich um einen zentralen Kern bewegten, konnte verständlich machen, warum es überhaupt zu einer Abstrahlung kommt, da die Elektronen als bewegte Ladungen elektromagnetische Wellen aussenden mussten. Es konnte jedoch nicht erklären, warum nur bestimmte Wellenlängen abgestrahlt wurden. Außerdem hätten die in beständiger Bewegung befindlichen Elektronen ständig Energie abstrahlen und wegen dieses kontinuierlichen Energieverlustes in kürzester Frist in den Kern stürzen müssen. Niels Bohr griff Max Plancks Entdeckung auf, dass die Energieverteilung der Schwarzkörperstrahlung nur erklärt werden könne unter der Annahme, dass die Energieabstrahlung nicht kontinuierlich, sondern in Form diskreter „Energiepakete“ vonstattengeht. Er erstellte 1913 ein Atommodell des Wasserstoffs, bei dem ein Elektron den Kern nicht auf einer beliebigen, sondern auf einer von mehreren erlaubten Bahnen umkreist, wobei es – so ein nicht weiter begründetes Postulat Bohrs – keine Energie abstrahlt. Auf den höheren Bahnen ist das Elektron energiereicher. Fällt es auf eine tiefere Bahn zurück, gibt es die Energiedifferenz Δ E {\displaystyle \Delta E} in Form von Strahlung ab. Die Frequenz f {\displaystyle f} dieser Strahlung ist nicht (wie gemäß der Maxwellschen Elektrodynamik zu erwarten gewesen wäre) die Oszillationsfrequenz des umlaufenden Elektrons, sondern nach einem weiteren Postulat Bohrs gegeben durch die Plancksche Bedingung h f = Δ E {\displaystyle hf\,=\,\Delta E} mit der Planck-Konstanten h {\displaystyle h} . Es gelang Bohr, die Bedingung für die erlaubten Bahnen so zu formulieren, dass die Energiedifferenzen zwischen je zwei Bahnen gerade den beobachteten Frequenzen der Spektrallinien im Spektrum des Wasserstoffs entsprachen. Das Bohrsche Atommodell konnte somit erfolgreich das Wasserstoffspektrum beschreiben, es lieferte ebenfalls gute Ergebnisse für die Spektrallinien anderer Atome mit nur einem Elektron (H, He+, Li++ usw.).Bohr versuchte, auch die Elektronenkonfigurationen von Atomen mit mehreren Elektronen zu beschreiben, indem er die Elektronen auf die verschiedenen Bahnen seines Atommodells verteilte. Sein „Aufbauprinzip“ nahm an, dass die Elektronenkonfiguration eines Elements aus der Konfiguration des vorhergehenden Elements durch Hinzufügen eines weiteren Elektrons (meistens auf der äußersten Bahn) abgeleitet werden könne. War eine Bahn (in heutiger Ausdrucksweise eine „Schale“) voll, begann das Auffüllen der nächsten Bahn. Bohr konnte aus seinem Modell jedoch nicht ableiten, wie viele Elektronen eine Bahn aufnehmen konnte und verteilte die Elektronen, wie es von chemischen und spektroskopischen Gesichtspunkten nahegelegt wurde. === Irving Langmuir (Valenzelektronen-Oktett) === Auf der Grundlage der mittlerweile angesammelten Fülle von Einzelfakten über das chemische und kristallographische Verhalten der Substanzen formulierte Gilbert Newton Lewis 1916 die Oktett-Theorie der chemischen Bindung. Gemäß dieser Theorie streben die Atome stets ein Oktett von Valenzelektronen als besonders stabile Konfiguration an und können im Fall nicht-ionischer Bindungen diesen Zustand erreichen, indem sie mit anderen Atomen eine chemische Bindung eingehen und mit den Valenzelektronen dieser anderen Atome ihr eigenes Oktett komplettieren. Eine solche durch gemeinsam genutzte Elektronen vermittelte Bindung nannte Lewis eine kovalente Bindung. Er dachte sich die Valenzelektronen an den acht Ecken eines den Kern umgebenden Würfels angeordnet. Irving Langmuir ordnete die Oktette in Schalen an, deren Durchmesser den Bahnen im Bohrschen Atommodell entsprachen. Er konnte anhand der Oktett-Regel das individuelle Verhalten der chemischen Elemente erklären: Die Edelgase haben bereits ein vollständiges Valenzelektronen-Oktett und sind nicht geneigt, chemische Bindungen einzugehen. Elemente mit einem oder wenigen Elektronen in der Valenzschale tendieren dazu, diese Elektronen abzugeben. Elemente, denen ein oder einige Elektronen zur Vervollständigung eines Oktetts fehlen, streben danach, die fehlende Anzahl von Elektronen aufzunehmen. Langmuir konnte sogar die unterschiedlichen Wertigkeiten der Elemente erklären, also ihre Neigung, sich jeweils mit einer bestimmten Anzahl der jeweiligen Partneratome zu verbinden (Edward Frankland hatte das Konzept 1852 eingeführt). Nach Langmuir ist die Wertigkeit die Anzahl der zur Vervollständigung eines Oktetts aufgenommenen oder abgegebenen Elektronen. So nimmt Chlor ein Elektron auf, ist also einwertig und verbindet sich daher beispielsweise mit genau einem Wasserstoffatom. (Der heutige Begriff der Wertigkeit ist allgemeiner gehalten.) Auch die Natur der Isotope konnte von Langmuir verständlich gemacht werden: Da das chemische Verhalten von den Valenzelektronen bestimmt wird, haben alle Isotope eines Elements offenbar dieselbe Anzahl von Valenzelektronen und damit dasselbe für dieses Element charakteristische chemische Verhalten. Unterschiedliche Anzahlen von Partikeln im Kern hingegen haben zwar unterschiedliche Atommassen zur Folge, beeinflussen das chemische Verhalten aber nicht. === Wolfgang Pauli (Ausschlussprinzip) === Bohr griff 1921 das Problem der Hüllenkonfiguration von Mehrelektronen-Atomen wieder auf. Arnold Sommerfeld hatte das Bohrsche Atommodell um elliptische Bahnen erweitert und zu deren Beschreibung eine zweite Quantenzahl eingeführt. Bohr stellte eine neue Tabelle mit Elektronen-Konfigurationen auf, in der für jede Bahn-Nummer (in heutiger Sprechweise: jede Hauptquantenzahl) eine bestimmte Anzahl der Sommerfeldschen Quantenzahlen (in heutiger Sprechweise: der Nebenquantenzahlen) erlaubt war.Edmund Clifton Stoner erstellte 1924 eine Tabelle von Hüllenkonfigurationen, in der er eine dritte mittlerweile von Sommerfeld eingeführte Quantenzahl zum Abzählen der möglichen Elektronenzustände benutzte. Er konnte damit die Wertigkeiten der Elemente besser wiedergeben als Bohr. Es blieb jedoch nach wie vor das Problem, dass die Anzahl der zusätzlichen Spektrallinien, in die eine Spektrallinie sich aufspaltet, wenn das Atom in ein Magnetfeld gebracht wird, auf doppelt so viele mögliche Zustände der Elektronen schließen ließ, als bisher berücksichtigt worden waren. Wolfgang Pauli konnte Stoners Tabelle erklären, indem er eine vierte Quantenzahl (die „Spinquantenzahl“) einführte, die zwei verschiedene Werte annehmen kann und so die Anzahl möglicher Zustände verdoppelt, und indem er annahm, dass keine zwei Elektronen in der Atomhülle in allen vier Quantenzahlen übereinstimmen konnten (Paulisches Ausschließungsprinzip). Damit war die Begründung gefunden, warum die Hauptschalen jeweils 2, 8, 18, 32 usw. Elektronen aufnehmen können.Die von Friedrich Hund 1927 aufgestellte Hundsche Regel beschreibt die Reihenfolge, in der die einzelnen Orbitale einer Unterschale mit Elektronen gefüllt werden: Besitzen mehrere Orbitale dasselbe Energieniveau, werden sie zunächst mit einzelnen Elektronen (mit untereinander parallelen Spins) besetzt. Erst dann werden die Orbitale mit jeweils einem zweiten Elektron (gemäß dem Pauli-Prinzip mit entgegengesetztem Spin) belegt. === Erwin Schrödinger (Wasserstoff-Problem) === In den 1920er-Jahren wurde die Quantenmechanik entwickelt, beginnend mit de Broglie (1924), Heisenberg (1925) und Schrödinger (1926). Sie ersetzte die anschaulichen Elektronenbahnen des Bohrschen Atommodells durch abstrakte, mathematisch beschriebene „Orbitale“. Im Falle des einfachen Wasserstoffatoms lässt sich die quantenmechanische Schrödingergleichung exakt lösen. Für dieses so genannte „Wasserstoff-Problem“ gibt es nicht nur eine einzige Lösung, sondern einen ganzen Satz von Lösungsfunktionen, welche die verschiedenen möglichen Zustände des Elektrons beschreiben. Es handelt sich um einen Satz von diskreten, also einzeln abzählbaren mathematischen Funktionen, die daher durch „Kennziffern“ voneinander unterschieden werden können. Wie sich herausstellt, sind zur eindeutigen Kennzeichnung jedes Zustands genau vier solcher Kennziffern nötig, die sich mit den früher schon aus den Experimenten erschlossenen vier Quantenzahlen identifizieren lassen. Der Zusammenhang zwischen den ersten drei Quantenzahlen lässt sich aus der Schrödinger-Gleichung für das Wasserstoffatom ableiten: Die Hauptquantenzahl n {\displaystyle n} kann, mit 1 beginnend, jeden ganzzahligen Wert annehmen: n = 1 , 2 , 3 , … {\displaystyle n\,=\,1,\,2,\,3,\,\dots } Die Nebenquantenzahl l {\displaystyle l} kann in Abhängigkeit vom jeweils vorliegenden n {\displaystyle n} die folgenden n {\displaystyle n} ganzzahligen Werte annehmen: l = 0 , … , n − 1 {\displaystyle l\,=\,0,\,\dots ,\,n-1} Die Magnetquantenzahl m l {\displaystyle m_{l}} kann in Abhängigkeit vom jeweils vorliegenden l {\displaystyle l} die folgenden 2 l + 1 {\displaystyle 2\,l+1} ganzzahligen Werte annehmen: m l = − l , − ( l − 1 ) , … , 0 , … , ( l − 1 ) , l {\displaystyle m_{l}\,=\,-l,\,-(l-1),\,\dots ,\,0,\,\dots ,\,(l-1),\,l} Die Spinquantenzahl m s {\displaystyle m_{s}} kann gemäß Paulis Forderung einen von zwei möglichen Werten annehmen: m s = − 1 2 , + 1 2 {\displaystyle m_{s}\,=\,-{\tfrac {1}{2}},\,+{\tfrac {1}{2}}} Damit liegt nun auch eine physikalisch-mathematische Begründung für die Anzahl möglicher Elektronenzustände bei gegebener Hauptquantenzahl vor, also für die Anzahl von Elektronen, die jede Hauptschale maximal aufnehmen kann. In der Hauptschale mit n = 3 {\displaystyle n\,=\,3} beispielsweise existieren 3 Unterschalen, die durch die Nebenquantenzahlen l = 0 , 1 , 2 {\displaystyle l\,=\,0,\,1,\,2} unterschieden werden: Die Unterschale mit l = 0 {\displaystyle l\,=\,0} enthält 1 Orbital mit m l = 0 {\displaystyle m_{l}\,=\,0} . Die Unterschale mit l = 1 {\displaystyle l\,=\,1} enthält 3 Orbitale mit m l = − 1 , 0 , 1 {\displaystyle m_{l}\,=\,-1,\,0,\,1} . Die Unterschale mit l = 2 {\displaystyle l\,=\,2} enthält 5 Orbitale mit m l = − 2 , − 1 , 0 , 1 , 2 {\displaystyle m_{l}\,=\,-2,\,-1,\,0,\,1,\,2} .Insgesamt enthält diese Hauptschale also 9 Orbitale. Jedes Orbital kann zwei Elektronen mit m s = − 1 2 , + 1 2 {\displaystyle m_{s}\,=\,-{\tfrac {1}{2}},\,+{\tfrac {1}{2}}} aufnehmen, so dass die Hauptschale mit n = 3 {\displaystyle n\,=\,3} maximal 18 Elektronen enthalten kann. Summiert man die möglichen Anzahlen von Unterschalen und Orbitalen auf, stellt man fest, dass eine Hauptschale mit der Hauptquantenzahl n {\displaystyle n} insgesamt 2 n 2 {\displaystyle 2\,n^{2}} Elektronen aufnehmen kann, also für n = 1 , 2 , 3 , 4 , … {\displaystyle n\,=\,1,2,3,4,\dots } die bereits bekannten 2 , 8 , 18 , 32 , … {\displaystyle 2,8,18,32,\dots } Elektronen. In Atomen mit mehreren Elektronen nehmen die Elektronen nicht die soeben beschriebenen Ein-Elektronen-Zustände des Wasserstoffatoms an, sondern Mehr-Elektronen-Zustände, für welche die eben beschriebenen Quantenzahlen streng genommen nicht mehr gültig sind. Sie weisen aber analoge Quantenzahlen auf, für die man dieselben Bezeichnungen verwendet. === Glenn T. Seaborg (Transurane) === Rutherford stellte 1919 fest, dass mit Alpha-Teilchen beschossener Stickstoff eine neue Art von Teilchen aussandte. Gemeinsam mit James Chadwick identifizierte er diese Teilchen als positiv geladene Wasserstoff-Kerne und nannte sie „Protonen“. Damit war die Quelle der positiven Ladung des Atomkerns identifiziert. Blackett und Harkins beobachteten 1925 in einer Nebelkammer, dass in solchen Fällen das Alpha-Teilchen verschluckt wurde, statt nur im Vorbeipassieren ein Proton aus dem Stickstoffkern zu schlagen. Daraus ließ sich schließen, dass gemäß der Gleichung 2 4 H e + 7 14 N → 8 17 O + 1 1 H {\displaystyle {}_{2}^{4}\mathrm {He} \,+\,{}_{7}^{14}\mathrm {N} \to {}_{8}^{17}\mathrm {O} \,+\,{}_{1}^{1}\mathrm {H} } aus dem Stickstoffatom ein Sauerstoffatom geworden war, das erste Beispiel einer künstlichen Elementumwandlung („Transmutation“). Wegen ihrer geringeren Ladung können Protonen die elektrische Abstoßung schwererer Kerne leichter überwinden als Alpha-Teilchen und eignen sich daher besser als Projektile in Beschuss-Experimenten, da sie diese Kerne leichter erreichen können. Da es aber keine natürlichen Quellen für Protonen mit der erforderlichen Energie gab, wurden Protonen-Beschleuniger entwickelt, teilweise als Linearbeschleuniger, insbesondere aber in Form des Zyklotrons (Lawrence und Livingston, 1931), was zahlreiche neue Transmutationen ermöglichte.Beryllium, Bor und Lithium gaben beim Beschuss mit Alpha-Teilchen eine bisher unbekannte, sehr durchdringende Strahlung ab, die Chadwick als ungeladene Teilchen mit der Masse eines Protons identifizierte. Dieses „Neutron“ erklärte, warum verschiedene Isotope eines Elements zwar dieselbe Kernladungszahl, aber verschiedene Massen besitzen konnten: Sie hatten unterschiedliche Anzahlen von Neutronen im Kern. Da es als ungeladenes Teilchen von den Kernen nicht abgestoßen wird, eignet sich das Neutron auch als Projektil in Beschuss-Experimenten.Im Zuge der Beschuss-Experimente gelang es, durch Transmutation neue, nicht natürlich vorkommende Isotope herzustellen (als erstes 1934 das Phosphor-Isotop mit der Massenzahl 30 durch Irène und Frédéric Joliot-Curie). Die künstlich erzeugten Isotope sind radioaktiv („künstliche Radioaktivität“) und fanden wegen ihrer gezielten Herstellbarkeit schnell Anwendung für wissenschaftliche und praktische Zwecke. Der Beschuss von Uranatomen mit Neutronen führte 1938 zur Entdeckung der Kernspaltung. In den durch Beschuss von Uran mit Neutronen erzeugten Produkten identifizierten Edwin Mattison McMillan und Philip Hauge Abelson 1940 das neue Element Neptunium. Mit der Ordnungszahl 93 war es das erste Transuran. Eine Arbeitsgruppe um Glenn T. Seaborg untersuchte das neue Element (es konnten in einem Zyklotron 45 Mikrogramm davon hergestellt werden) auf seine chemischen Eigenschaften. Es war zu erwarten, dass ein Beta-Zerfall des Isotops Neptunium-239 zur Bildung des Elements mit der Ordnungszahl 94 führen sollte. Gezielte Herstellung dieses Isotops durch Beschuss von Uran-238 mit Neutronen erlaubte Seaborg und Kollegen 1941 die Erzeugung des neuen Elements, Plutonium. Bis dahin war etabliert, dass die Seltenen Erden („S.E.“ im nebenstehenden Periodensystem) einen Einschub in der sechsten Periode des Periodensystems darstellen, in der siebten Periode war die mögliche Existenz eines ähnlichen Einschubs jedoch noch nicht erkannt worden (obwohl Viatscheslaw Romanoff bereits 1934 die damals bekannten Actinoiden unter der Lathanoidenreihe einordnete) Francium, Radium und Actinium gehörten klar in die erste, zweite und dritte Gruppe der siebten Periode. Man ging davon aus, dass die darauffolgenden Elemente Thorium, Protactinium und Uran der vierten, fünften und sechsten Gruppe angehören müssten, im Periodensystem also jeweils unter den Übergangsmetallen Hafnium, Tantal und Wolfram zu stehen kämen. Einige Ähnlichkeiten mit diesen Gruppen wie etwa die Wertigkeit 4 des Thoriums oder die Wertigkeit 6 des Urans schienen die Einordnung zu bestätigen. Dieser Irrtum verzögerte den Forschungsfortschritt, denn bei der Identifizierung und Abtrennung neuer Elemente wurde oft ihre chemische Ähnlichkeit mit bekannten Elementen benutzt. Die neuen Substanzen wurden meist in zu geringen Mengen erzeugt, um sie isolieren zu können. Ließ man sie jedoch gemeinsam mit einem bekannten Element an einer chemischen Reaktion teilnehmen, deren Produkt man anschließend ausfällte, und fand sich die leicht messbare Radioaktivität im Niederschlag, dann war die chemische Ähnlichkeit mit dem bekannten Element gezeigt. (Marie und Pierre Curie hatten diese Technik genutzt, um das entdeckte Radium in einem Bariumchlorid-Niederschlag zu konzentrieren.) Verblieb die Radioaktivität jedoch in der Lösung, war die vermutete Ähnlichkeit widerlegt. Falsch angenommene chemische Ähnlichkeiten hatten unter anderem die Arbeit an Protactinium und Uran verzögert. Seaborg erkannte 1944, dass die neu erzeugten Transurane keine Übergangsmetalle waren, sondern zu einem Einschub in der siebten Periode gehören (den Actinoiden), der dem (jetzt Lanthanoide genannten) Einschub in der sechsten Periode entspricht. Seaborg und Mitarbeiter stellten 1944 das Element 96 (Curium) durch Beschuss von Plutonium-239 mit Helium-Ionen und kurz darauf Element 95 (Americium) durch Beschuss von Plutonium-239 mit Neutronen her. Der Beschuss von Americium-241 mit Heliumionen produzierte 1949 das Element 97 (Berkelium), es folgte Element 98 (Californium) durch Beschuss von Curium-242 mit Heliumionen.Mehrere Arbeitsgruppen identifizierten die Elemente 99 (Einsteinium) und 100 (Fermium) im Fallout des Kernwaffentests „Mike“ (1952). Mit immer größeren Beschleunigern konnten immer schwerere Atome als Projektile verwendet werden, so dass auch die Erzeugung immer schwererer Transurane gelang. Das bislang (Stand 2021) schwerste hergestellte Transuran ist Element 118 (Oganesson). === Anhaltende Diskussionen zur Positionierung === Auch heute noch gibt es Diskussionen um die Stellung mancher Elemente im Periodensystem. ==== Einordnung der ersten Periode ==== Aufgrund der Elektronenkonfiguration, nicht aber aufgrund der Elementeigenschaften, müsste Helium (Elektronenkonfiguration 1s2) in der zweiten Hauptgruppe, also im Periodensystem oberhalb von Beryllium eingeordnet werden. Helium besitzt nur zwei Elektronen, im Gegensatz zu den anderen Edelgasen mit acht Elektronen in der äußersten Schale. Da sich Helium aber chemisch wie ein Edelgas verhält, befindet es sich in der achten Hauptgruppe mit den anderen Edelgasen. Als die Edelgase um 1900 entdeckt wurden, erhielten sie die Zuordnung zur nullten Hauptgruppe, die heute nicht mehr existiert. Helium befand sich damals an der Spitze (d. h. in der ersten Periode) der nullten Hauptgruppe. Heute sind die Edelgase gemäß IUPAC in der achten Hauptgruppe positioniert.Wasserstoff lässt sich im Periodensystem im Vergleich zu Helium eindeutiger positionieren, denn er kann die für die erste Hauptgruppe typischen Oxidationszahlen 0 und +1 annehmen und kann wie das darunterliegende Lithium kovalente Bindungen eingehen und wird dadurch zu den Alkalimetallen gerechnet, auch wenn es das einzige gasförmige Alkalimetall ist und eine vergleichsweise hohe Elektronegativität aufweist. Wasserstoff bildet legierungsähnliche Metallhydride mit einigen Übergangsmetallen. Dennoch wird Wasserstoff aufgrund der nichtmetallischen chemischen Reaktivität gelegentlich in der siebten Hauptgruppe mit den Halogenen einsortiert. Daher wird Wasserstoff, wenn auch selten, in manchen Periodensystemen doppelt aufgeführt, in der ersten und siebten Hauptgruppe. Es wurde auch vorgeschlagen, Wasserstoff oberhalb des Kohlenstoffs einzusortieren, weil seine Elektronegativität, seine Elektronenaffinität und sein Ionisierungspotential eher dem Kohlenstoff entspricht, auch wenn es nur mit einem Elektron reagieren kann, im Gegensatz zu den Vertretern der Kohlenstoffgruppe (vierte Hauptgruppe), die mit vier Elektronen reagieren können.Um den abweichenden Eigenschaften des Wasserstoffs und des Heliums Rechnung zu tragen, werden beide in seltenen Fällen auch außerhalb des Periodensystems dargestellt. ==== Lanthanoide und Actinoide ==== Die Einordnung der Lanthanoide und Actinoide erfolgt relativ unterschiedlich im Vergleich zu Elementen anderer Perioden. Frühe Versuche reihten die Lanthanoide und Actinoide zwischen den Hauptgruppenelementen ein. Bohuslav Brauner sortierte die Lanthanoide und Actinoide 1902 unterhalb Zirkonium ein – diese Anordnung wurde in Anlehnung von mehreren Asteroiden in der gleichen Umlaufbahn als „Asteroid-Hypothese“ bezeichnet, die Brauner 1881 in einem Brief an Mendelejew beschrieb. Im Jahr 1922 ordnete Niels Bohr die Lanthanoide und Actinoide zwischen den s-Block und den d-Block ein. Von Glenn T. Seaborg wurde zwischen 1944 und 1949 ein Periodensystem entwickelt, das die Lanthanoide und Actinoide als Fußnoten unterhalb von Yttrium darstellt. Allerdings wurde auch kritisiert, dass eine solche Einteilung die Darstellung des Periodensystems auseinanderreißt.Scandium und Yttrium sind heute vergleichsweise festgesetzt, aber die in der ersten Nebengruppe darunter befindlichen Elemente variieren. Unterhalb von Yttrium befinden sich, je nach Darstellung, entweder die ersten Vertreter der Lanthanoide und Actinoide (Lanthan und Actinium, also in der Reihenfolge Sc-Y-La-Ac), seltener die letzten Vertreter der Lanthanoide und Actinoide (Lutetium und Lawrencium, also in der Reihenfolge Sc-Y-Lu-Lr) oder eine Lücke mit Fußnoten (also in der Reihenfolge Sc-Y-*-*). Diese drei Varianten richten sich nach der Diskussion, wo der f-Block beginnt und endet. In einer vierten Variante wird die dritte Gruppe unterbrochen und ein Actinoiden-Lanthanoiden-Zweig und ein Lutetium-Lawrencium-Zweig eingeschoben. Es gibt chemische und physikalische Argumente für die Variante mit Lawrencium und Lutetium unterhalb von Yttrium, aber diese Variante findet keine Mehrheit unter den Fachleuten zum Thema Periodensystem. Den meisten Chemikern ist diese Diskussion unbekannt. Die IUPAC hat 2015 eine Projektgruppe zur Anordnung der Lanthanoide und Actinoide eingerichtet. Im Januar publizierte die Projektgruppe einen einstweiligen Bericht. Darin formuliert sie drei desiderata: 1) Die Reihenfolge der Elemente soll ihrer Ordnungszahl folgen. 2) Der d-Block soll nicht zwei in hohem Maße ungleiche Teile aufgespalten werden. 3) Die Blöcke sollen in Übereinstimmung mit den darunterliegenden quantenmechanischen Anforderungen zwei, sechs, zehn und vierzehn Gruppen umfassen. Diese sind nur mit Sc-Y-Lu-Lr möglich. === Periodensystem nach Entdeckern der Elemente === Die Datierung der Entdeckung solcher chemischen Elemente, die bereits seit der Frühzeit oder Antike bekannt sind, ist nur ungenau und kann je nach Literaturquelle um mehrere Jahrhunderte schwanken. Sicherere Datierungen sind erst ab dem 18. Jahrhundert möglich. Bis dahin waren erst 15 Elemente als solche bekannt und beschrieben: 12 Metalle (Eisen, Kupfer, Blei, Bismut, Arsen, Zink, Zinn, Antimon, Platin, Silber, Quecksilber und Gold) und drei Nichtmetalle (Kohlenstoff, Schwefel und Phosphor). Die meisten Elemente wurden im 19. Jahrhundert entdeckt und wissenschaftlich beschrieben. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts waren nur noch zehn der natürlichen Elemente unbekannt. Seither wurden vor allem schwer zugängliche, oftmals radioaktive Elemente dargestellt. Viele dieser Elemente kommen nicht in der Natur vor und sind das Produkt von künstlichen Kernverschmelzungsprozessen. Erst im Dezember 1994 wurden die beiden künstlichen Elemente Darmstadtium (Eka-Platin) und Roentgenium (Eka-Gold) hergestellt. Bis zu einer Festlegung der Elementnamen werden neue Elemente mit systematischen Elementnamen bezeichnet. Dieses Periodensystem gibt einen Überblick über die Entdecker bzw. Erzeuger der einzelnen Elemente durch Anklicken der Elementenkennung. Für die Elemente, für die kein Entdecker/Erzeuger bekannt ist, wird der aktuelle historische Wissensstand unter dem Übersichtsplan kurz wiedergegeben. === 2019: Internationales Jahr des Periodensystems === Die Vereinten Nationen (UN) haben 2019 zum „Internationalen Jahr des Periodensystems der chemischen Elemente“ (IYPT 2019) erklärt: Damit wollen sie weltweit das Bewusstsein dafür wecken, wie Chemie nachhaltige Entwicklung fördern sowie Lösungen für weltweite Herausforderungen bei Energie, Bildung, Landwirtschaft oder Gesundheit bieten kann. Es sollen so auch die jüngsten Entdeckungen und Benennungen vierer „superschwerer“ Elemente des Periodensystems mit den Ordnungszahlen 113 (Nihonium), 115 (Moscovium), 117 (Tenness) und 118 (Oganesson) bekannter gemacht werden. Die Widmung fällt zudem mit dem 150. Jahrestag der Entwicklung des Periodensystems zusammen. Veranstaltungen in Paris, Murcia und Tokio werden an das Ereignis erinnern. === Künftige Erweiterungen des Periodensystems === Experimente zur Erzeugung synthetischer Elemente werden fortgesetzt und werden voraussichtlich auch zur Erzeugung von Elementen mit Ordnungszahlen über 118 führen. Sofern diese sich in das bisherige Schema einfügen, wird in der achten Periode erstmals eine g-Unterschale (nämlich die der fünften Hauptschale) aufgefüllt. Da die g-Unterschale neun Orbitale enthält, die 18 Elektronen aufnehmen können, wird die achte Periode insgesamt fünfzig (2 · 52) Elemente umfassen: Acht Hauptgruppenelemente (Auffüllen der 8s- und der 8p-Unterschalen), zehn äußere Übergangselemente (Auffüllen der 7d-Unterschale), vierzehn innere Übergangselemente, bei denen die 6f-Unterschale aufgefüllt wird, und weitere achtzehn innere Übergangselemente, bei denen die 5g-Unterschale aufgefüllt wird. Analoges würde für die neunte Periode gelten. Möglicherweise werden die mit der Ordnungszahl zunehmenden relativistischen Effekte (siehe oben) jedoch die Periodizitäten immer mehr verschwimmen lassen. Sie beeinflussen das Verhalten der Elektronen und damit die chemischen Eigenschaften, so dass diese nicht mehr unbedingt der Position des Elements im Periodensystem entsprechen müssen. Dies deutet sich bereits bei den bekannten Elementen an: So sollten die Übergangsmetalle 104Rutherfordium und 105Dubnium in ihrem Verhalten den jeweils im Periodensystem darüberstehenden Übergangsmetallen Hafnium beziehungsweise Tantal ähneln. Experimente zeigen jedoch ein Verhalten, das eher den Actinoiden Plutonium beziehungsweise Protactinium ähnelt. Die darauf folgenden Elemente 106Seaborgium und 107Bohrium hingegen zeigen wieder das ihrer Position im Periodensystem entsprechende Verhalten. 114Flerovium sollte als Element der vierten Hauptgruppe dem Blei ähneln, scheint sich aber eher wie ein Edelmetall zu verhalten.Je schwerer die erzeugten Atome sind, umso kürzer ist im Allgemeinen ihre Lebensdauer. Theoretische Abschätzungen lassen erwarten, dass ab Ordnungszahlen von etwas über 170 die Lebensdauer der erzeugten Atome gegen Null geht, so dass gar nicht mehr von erzeugten Atomen gesprochen werden kann. Dies wäre, sofern zutreffend, die theoretische Obergrenze für den Umfang des Periodensystems. == Andere Darstellungen des Periodensystems == === Langperiodensystem === Die heutzutage meistens benutzte mittellange Form des Periodensystems (mit 18 Spalten und platzsparend ausgelagertem f-Block) wurde bereits detailliert erläutert. Verzichtet man auf das Auslagern des f-Blocks, der die Lanthanoide und Actinoide umfasst, erhält man die so genannte lange Form des Periodensystems mit 32 Spalten. In dieser Darstellung gibt es im Gegensatz zur mittellangen Form keine Unterbrechungen in der Abfolge der Ordnungszahlen.Ein erstes Langperiodensystem wurde 1905 von Alfred Werner vorgeschlagen. William B. Jensen empfahl das Langperiodensystem, da die in kürzeren Periodensystemen separat dargestellten Lanthanoide und Actinoide den Studenten als unwichtig und langweilig erscheinen würden. Trotz der lückenlosen Darstellung wird das Langperiodensystem wegen seines für den Buchdruck unhandlichen Formats selten verwendet. Ein über die Ordnungszahl 118 hinausgehendes Periodensystem befindet sich unter Erweitertes Periodensystem. === Alternative Periodensysteme === Die Form des Periodensystems von Dmitri Mendelejew hat sich durchgesetzt. Dennoch gab (und gibt) es weitere Vorschläge für alternative Ordnungen der Elemente nach ihren Eigenschaften. In den ersten hundert Jahren seit dem Entwurf Mendelejews von 1869 wurden schätzungsweise 700 Varianten des Periodensystems veröffentlicht. Neben vielen rechteckigen Varianten gab es auch kreis-, kugel-, würfel-, zylinder-, spiral-, pyramiden-, schichten-, blumen-, schleifen-, achteck- und dreieckförmige Periodensysteme. Die verschiedenen Formen dienen meistens der Hervorhebung bestimmter Eigenschaften. Die meisten Darstellungen sind zweidimensional. Die erste dreidimensionale Darstellung wurde bereits vor dem Periodensystem Mendelejews im Jahr 1862 von de Chancourtois veröffentlicht. Eine weitere dreidimensionale Darstellung aus mehreren Papierschleifen wurde 1925 von M. Courtines publiziert, und eine schichtenförmige wurde von A. N. Wrigley im Jahr 1949 erstellt. Paul-Antoine Giguère veröffentlichte 1965 ein aus mehreren Platten zusammengestelltes Periodensystem und Fernando Dufour eine baumförmige Darstellung im Jahr 1996. Das Periodensystem von Tim Stowe aus dem Jahr 1989 wurde einschließlich einer Farbdimension als vierdimensional beschrieben.Daneben gibt es eher chemisch und eher physikalisch orientierte Darstellungen des Periodensystems. Ein chemisch orientiertes Periodensystem wurde 2002 von Geoff Rayner-Canham für anorganische Chemiker veröffentlicht, bei dem Tendenzen und Muster sowie ungewöhnliche chemische Eigenschaften betont sind. Ein physikalisch orientiertes Periodensystem wurde 1928 von Charles Janet publiziert, mit einem stärkeren Fokus auf die Elektronenkonfiguration und Quantenmechanik, wie auch von Alper aus dem Jahr 2010. Letzteres wurde allerdings aufgrund der mangelnden Darstellung der Periodizität der Eigenschaften kritisiert. Zu den Mischformen gehört das Standardperiodensystem, das sowohl chemische als auch physikalische Eigenschaften wie Oxidationszahlen, elektrische und Wärmeleitfähigkeiten aufführt. Dessen Verbreitung wird der Ausgewogenheit und Praktikabilität der angezeigten Eigenschaften zugeschrieben. Kein alternatives Periodensystem, aber dennoch eine deutlich anders aussehende Darstellung ist das Kurzperiodensystem (siehe oben), bei dem Haupt- und Nebengruppen ineinander verschachtelt sind. Andere Klassifikationsmethoden richten sich nach dem natürlichen Vorkommen der Elemente in Mineralien (Goldschmidt-Klassifikation) oder nach der Kristallstruktur. == Zitat == == Siehe auch == Nukleosynthese == Literatur == Ekkehard Fluck, Klaus G. Heumann: Periodensystem der Elemente: physikalische Eigenschaften; [chemische, biologische und geologische Eigenschaften]. 5. Auflage, Wiley-VCH, Weinheim 2012, ISBN 978-3-527-33285-4. Periodensystem interaktiv! (CD-ROM für Windows und Mac OS X), Welsch & Partner, Tübingen. P. Kurzweil, P. Scheipers: Chemie. Vieweg + Teubner, Wiesbaden 2010, ISBN 978-3-8348-0341-2, Kapitel 3: Periodensystem der Elemente (PSE). N. N. Greenwood, A. Earnshaw: Chemistry of the Elements. 2nd ed., Elsevier, Oxford 2016, ISBN 978-0-7506-3365-9, Chapter 2: Chemical Periodicity and the Periodic Table. K. Seubert (Hrsg.): Das natürliche System der chemischen Elemente – Abhandlungen von Lothar Meyer (1864–1869) und D. Mendelejeff (1869–1871). Engelmann, Leipzig 1895 (Digitalisat). Stephen G. Brush: The reception of Mendeleev's Periodic Law in America and Britain. In: Isis. Band 87, 1996, S. 595–628. Jan W. van Spronsen: The Periodic System of Chemical Elements. A History of the First Hundred Years. Elsevier, Amsterdam, London und New York 1969, ISBN 978-0-444-40776-4. Masanori Kaji, Helge Kragh, Gábor Palló (Hrsg.): Early responses to the periodic system. Oxford University Press, 2015, ISBN 978-0-19-020007-7. Eric Scerri: The Periodic Table. Its Story and Its Significance. Oxford University Press, New York 2007, ISBN 978-0-19-530573-9. == Weblinks == Spektrum der Wissenschaft/Gesellschaft Deutscher Chemiker: Elemente, 150 Jahre Periodensystem, 2019 (PDF; 3,2 MB) webelements – Informationen zu den Elementen (englisch) Periodic Table (englisch), von Theodore Gray PDF-Druck-Version auf pse-online.de (135 kB) Setting the Table. A brief visual history of the periodic table. Animation auf sciencemag.org, zuletzt eingesehen am 1. Februar 2019 Ralph M. Cahn: Historische und philosophische Aspekte des Periodensystems der chemischen Elemente (PDF; 560 kB) Eric Scerri, Mendeleev’s Legacy: The Periodic System, Distillations, 12. April 2007 Internet Database of Periodic Tables, eine umfangreiche Sammlung historischer und moderner Periodensysteme (englisch) Periodensystem der europäischen Chemikalienagentur Echa – liefert neben chemischen und physikalischen Eigenschaften viele regulatorische und gesetzliche Informationen, die sonst nur schwer zu finden sind == Einzelnachweise ==
https://de.wikipedia.org/wiki/Periodensystem
Blut
= Blut = Blut (lateinisch Sanguis; altgriechisch αἷμα haima) ist eine Körperflüssigkeit, die mit Unterstützung des Herz-Kreislauf-Systems die Funktionalität der verschiedenen Körpergewebe über vielfältige Transport- und Verknüpfungsfunktionen sicherstellt. Blut wird als „flüssiges Gewebe“, gelegentlich auch als „flüssiges Organ“ bezeichnet. Blut besteht aus speziellen Zellen sowie dem proteinreichen Blutplasma, das im Herz-Kreislauf-System als Träger dieser Zellen fungiert. Blut wird vornehmlich durch mechanische Tätigkeit des Herzens in einem Kreislaufsystem, dem Blutkreislauf, durch die Blutgefäße des Körpers gepumpt. Unterstützend wirken Venenklappen in Kombination mit Muskelarbeit. Dabei werden die Gefäße, die vom Herzen wegführen, als Arterien und jene, die zurück zum Herzen führen, als Venen bezeichnet. Das Gefäßsystem des erwachsenen menschlichen Körpers enthält etwa 70 bis 80 ml Blut pro kg Körpergewicht, dies entspricht ca. 5 bis 6 l Blut. Durchschnittlich haben Männer etwa 1 l mehr Blut als Frauen, was vor allem auf Größen- und Gewichtsunterschiede zurückzuführen ist. Aufgrund der Gemeinsamkeiten in der Funktion ist Blut bei allen Wirbeltieren ähnlich. Auf bestehende Unterschiede zwischen menschlichem und tierischem Blut wird im Artikel hingewiesen. Zu Unterschieden in Aufbau und Funktion der Zellbestandteile des Blutes sei auf die betreffenden Artikel verwiesen. Der Verlust von Blut wird als Bluten (von mittelhochdeutsch bluoten) oder Blutung bezeichnet. == Etymologie == Das gemeingermanische Wort „Blut“ (von mittelhochdeutsch und althochdeutsch bluot) gehört wahrscheinlich im Sinne von „Fließendes“ zu indogermanisch bhlê- „quellen“, und bhel- „schwellen, knospen, blühen“ (vergleiche englisch blow). Nach alter Tradition gilt Blut als der Sitz des Lebens, daher entstanden Zusammensetzungen wie Blutrache, Blutschuld. == Evolution == Jede Zelle ist für den Erhalt ihres Stoffwechsels auf den stofflichen Austausch mit ihrer Umgebung angewiesen. Da mit der Entwicklung komplexerer Vielzeller nicht mehr jede Zelle mit der Körperoberfläche in direktem Kontakt steht und die Diffusion ein sehr langsamer Vorgang ist, dessen Zeitbedarf sich proportional zum Quadrat der Entfernung verhält, wird mit zunehmender Größe des Lebewesens ein Transportmedium für diese Austauschprozesse notwendig. Diese Flüssigkeit bringt die Stoffe also in die Nähe der Zielzellen und verkürzt damit die notwendige Diffusionsstrecke. Bei den Tieren mit offenem Blutkreislauf (z. B. Gliederfüßern oder Weichtiere) sind Blut- und interstitielle Flüssigkeit (Flüssigkeit im Gewebszwischenraum) nicht voneinander getrennt. Die hier zirkulierende Flüssigkeit wird als Hämolymphe bezeichnet. Den Nachteil des relativ langsamen Blutflusses in einem offenen Kreislauf kompensieren Insekten dadurch, dass die Hämolymphe nicht dem Sauerstofftransport dient, sondern dieser über Tracheen gewährleistet wird. Bei allen Tieren mit einem geschlossenen Blutkreislauf, unter anderem allen Wirbeltieren, wird die zirkulierende Flüssigkeit „Blut“ genannt. == Zusammensetzung und Eigenschaften == Blut besteht aus zellulären Bestandteilen (Hämatokrit, ca. 44 %) und Plasma (ca. 55 %), einer wässrigen Lösung (90 % Wasser) aus Proteinen, Salzen und niedrig-molekularen Stoffen wie z. B. Monosacchariden (Einfachzuckern). Weitere Bestandteile des Blutes sind Hormone, gelöste Gase sowie Nährstoffe (Zucker, Lipide und Vitamine), die zu den Zellen, und Stoffwechsel- und Abfallprodukte (z. B. Harnstoff und Harnsäure), die von den Zellen zu ihren Ausscheidungsorten transportiert werden. Aus chemisch-physikalischer Sicht ist Blut eine Suspension, also ein Gemisch aus der Flüssigkeit Wasser und zellulären Bestandteilen. Es stellt eine nichtnewtonsche Flüssigkeit dar. Dies begründet seine besonderen Fließeigenschaften. Blut hat aufgrund der enthaltenen Erythrozyten (rote Blutzellen) eine gegenüber Plasma erhöhte Viskosität. Je höher der Hämatokritwert und je geringer die Strömungsgeschwindigkeit ist, desto höher ist die Viskosität. Aufgrund der Verformbarkeit der roten Blutkörperchen verhält sich Blut bei steigender Fließgeschwindigkeit nicht mehr wie eine Zellsuspension, sondern wie eine Emulsion. Der pH-Wert von menschlichem Blut liegt bei 7,4 und wird durch verschiedene Blutpuffer konstant gehalten. Fällt er unter einen bestimmten Grenzwert (ca. 7,35), so spricht man von einer Azidose (Übersäuerung), liegt er zu hoch (ca. 7,45), wird dies Alkalose genannt. Seit 1842 ist bekannt, dass Blut auch aus Blutplättchen besteht. Blut verdankt seine rote Farbe dem Hämoglobin, genauer gesagt seinem sauerstoffbindenden Anteil, der Hämgruppe. Deshalb zählt Hämoglobin zur Gruppe der Blutfarbstoffe. Mit Sauerstoff angereichertes Blut hat einen helleren und kräftigeren Farbton als sauerstoffarmes Blut, da die Hämgruppe nach der Aufnahme des Sauerstoffs eine Konformationsänderung vollzieht, in der sich die Position des Eisens in der Hämgruppe relativ zu seinen Bindungspartnern ändert. Dies hat eine Veränderung des Absorptionsspektrums des Lichts zur Folge. Mit Hilfe der Spektralanalyse des Bluts wies Felix Hoppe-Seyler 1865 die Kohlendioxydvergiftung nach. 1879 entwickelte der Neurologe Gowers ein Messgerät zur Bestimmung des Hämoglobingehaltes des Blutes. 1902 verbesserte Hermann Sahli diesen.Als chemische Komponente, die den typisch metallischen Geruch von Blut bei Säugetieren ausmacht und Raubtiere anzieht, wurde im Jahr 2014 der Aldehyd trans-4,5-Epoxy-(E)-2-Decenal identifiziert.Tritt durch eine Verletzung von Blutgefäßen Blut ins Gewebe über, zersetzt sich darin langsam das Hämoglobin zu den Gallenfarbstoffen; in zeitlicher Abfolge von mehreren Tagen wird ein „Blauer Fleck“ dabei grün und gelb. Auf Neuguinea leben Echsenarten, deren Blut eine so hohe Biliverdin-Konzentration aufweisen, dass sie äußerlich grün erscheinen. Die Körperfärbung bei einer Gelbsucht beim Menschen rührt von einem hohen Bilirubin-Spiegel her. === Plasma === Die im Plasma enthaltenen Ionen sind vorwiegend Natrium-, Chlorid-, Kalium-, Magnesium-, Phosphat- und Calciumionen. Der Anteil der Proteine beträgt etwa 60 bis 80 g/l, entsprechend 8 % des Plasmavolumens. Sie werden nach ihrer Beweglichkeit bei der Elektrophorese in Albumine und Globuline unterschieden. Letztere werden wiederum in α1-, α2-, β- und γ-Globuline unterschieden. Die Plasmaproteine übernehmen Aufgaben des Stofftransports, der Immunabwehr, der Blutgerinnung, der Aufrechterhaltung des pH-Wertes und des osmotischen Druckes. Blutplasma ohne Gerinnungsfaktoren wird als Blutserum bezeichnet. Serum wird gewonnen, indem das Blut in einem Röhrchen nach vollständigem Gerinnen zentrifugiert wird. Im unteren Teil des Röhrchens findet sich dann der so genannte Blutkuchen, im oberen die als Serum bezeichnete, meist klare Flüssigkeit. Das Serum enthält auch Substanzen, die im Plasma nicht enthalten sind: insbesondere Wachstumsfaktoren wie PDGF, die während des Gerinnungsvorgangs freigesetzt werden. Serum besteht zu 91 % aus Wasser und 7 % Proteinen. Der Rest sind Elektrolyte, Nährstoffe und Hormone. Durch gelöstes Bilirubin ist es gelblich gefärbt. === Zelluläre Bestandteile === Die im Blut enthaltenen Zellen werden unterschieden in Erythrozyten, die auch rote Blutkörperchen genannt werden, in Leukozyten, die als weiße Blutkörperchen bezeichnet werden, und in Thrombozyten oder Blutplättchen. Blut hat bei Männern einen korpuskulären Anteil (Zellanteil) von 44 bis 46 %, bei Frauen von 41 bis 43 %. Da die hämoglobintragenden Erythrozyten den Hauptteil des korpuskulären Blutes ausmachen, wird dieses Verhältnis Hämatokrit genannt. Beim Neugeborenen beträgt der Hämatokrit ca. 60 %, bei Kleinkindern nur noch 30 %. Bis zur Pubertät steigt er dann auf die Werte für Erwachsene an. Genaugenommen bezeichnet der Hämatokrit also nur den Anteil an Erythrozyten. Die Leukozyten und Thrombozyten können nach dem Zentrifugieren der zellulären Bestandteile als feiner heller Flaum (buffy coat) über den ganz unten befindlichen Erythrozyten (Hämatokrit) und unter dem Plasmaanteil beobachtet werden, sie machen weniger als 1 % des Blutvolumens beim Gesunden aus. Die Erythrozyten oder roten Blutkörperchen dienen dem Transport von Sauerstoff und Kohlendioxid. Sie enthalten Hämoglobin, ein Protein, das für Sauerstoffbindung und -transport im Blut verantwortlich ist und aus dem eigentlichen Eiweiß Globin und der Häm-Gruppe, die mit Eisen einen Komplex bildet, besteht. Dieses Eisen verleiht dem Blut von Wirbeltieren seine rote Farbe (Siehe auch: Blutfarbstoff). Bei anderen Tieren wie den Kopffüßern, Spinnentieren oder Krebsen erfüllt eine Kupferverbindung (Hämocyanin) diese Funktion. Deshalb ist deren Blut bläulich. Etwa 0,5 bis 1 % der roten Blutkörperchen sind Retikulozyten, das heißt, noch nicht vollständig ausgereifte Erythrozyten. Die Leukozyten oder weißen Blutkörperchen werden noch einmal in Eosinophile, Basophile und Neutrophile Granulozyten, Monozyten und Lymphozyten unterteilt. Die Granulozyten werden nach dem Färbeverhalten ihres Protoplasmas benannt und dienen, genau wie die Monozyten, der unspezifischen Immunabwehr, während die Lymphozyten an der spezifischen Immunabwehr teilnehmen. Thrombozyten dienen der Blutungsstillung und bilden damit die Grundlage der ersten Phase der Wundheilung. Die zahlenmäßige Zusammensetzung der Blutzellen kann zwischen den einzelnen Wirbeltierarten variieren. Besonders hohe Erythrozytenzahlen haben Ziegen (bis 14 Mio/µl), besonders niedrige das Geflügel (3–4 Mio/µl). Die Leukozytenzahlen haben ähnlich große Variationen: Rinder, Pferde und Menschen haben etwa 8.000/µl, während Schafe (bis zu 17.000/µl) und Vögel (bis 25.000/µl) besonders hohe Anteile an weißen Blutkörperchen haben. Auch der Anteil der einzelnen Untertypen der Leukozyten variiert beträchtlich. Während bei Menschen und Pferden die Granulozyten dominieren (granulozytäres Blutbild), sind es bei Rindern die Lymphozyten (lymphozytäres Blutbild); bei Schweinen ist das Verhältnis von Granulo- zu Lymphozyten ausgeglichen (granulo-lymphozytäres Blutbild). === Auf- und Abbau der Zellen des Blutes === Alle Zellen des Blutes werden in einem Hämatopoese genannten Vorgang im Knochenmark gebildet. Aus pluripotenten Stammzellen, aus denen jede Zelle reifen kann, werden multipotente Stammzellen, die auf verschiedene Zelllinien festgelegt sind. Aus diesen entwickeln sich dann die einzelnen zellulären Bestandteile des Blutes. Die Erythropoese bezeichnet als Unterscheidung zur Hämatopoese nur die Differenzierung von Stammzellen zu Erythrozyten. Der Prozess der Reifung und Proliferation der Zellen wird durch das in Niere und Leber produzierte Hormon Erythropoietin gefördert. Eine wichtige Rolle bei der Erythropoese spielt Eisen, das zur Bildung von Hämoglobin benötigt wird. Außerdem spielen Vitamin B12 (Cobalamine) und Folsäure eine Rolle. Kommt es zu einem Sauerstoffmangel im Körper, zum Beispiel auf Grund eines Höhenaufenthalts, so wird die Hormonausschüttung erhöht, was längerfristig zu einer erhöhten Anzahl an roten Blutkörperchen im Blut führt. Diese können mehr Sauerstoff transportieren und wirken so dem Mangel entgegen. Dieser Gegenregulationsvorgang ist auch messbar: Man findet eine erhöhte Anzahl von Retikulozyten (unreifen roten Blutkörperchen). Der Abbau der roten Blutkörperchen findet in der Milz und den Kupffer’schen Sternzellen der Leber statt. Erythrozyten haben eine durchschnittliche Lebensdauer von 120 Tagen. Das Hämoglobin wird in einem Abbauprozess über mehrere Schritte (über Bilirubin) zu Urobilin und Sterkobilin abgebaut. Während Urobilin den Urin gelb färbt, ist Sterkobilin für die typische Farbe des Kots verantwortlich. == Funktionen == === Transportfunktion === Das Blut mit seinen einzelnen Bestandteilen erfüllt viele wesentliche Aufgaben, um die Lebensvorgänge aufrechtzuerhalten. Hauptaufgabe ist der Transport von Sauerstoff und Nährstoffen zu den Zellen und der Abtransport von Stoffwechselendprodukten wie Kohlenstoffdioxid oder Harnstoff. Außerdem werden Hormone und andere Wirkstoffe zwischen den Zellen befördert. Blut dient weiterhin der Homöostase, das heißt der Regulation und Aufrechterhaltung des Wasser- und Elektrolythaushaltes, des pH-Werts sowie der Körpertemperatur. === Abwehrfunktion === Als Teil des Immunsystems hat das Blut Aufgaben in Schutz und Abwehr gegen Fremdkörper (unspezifische Abwehr) und gegen Antigene (spezifische Abwehr) durch Phagozyten (Fresszellen) und durch Antikörper. Weiter ist das Blut ein wichtiger Bestandteil bei der Reaktion auf Verletzungen (Blutgerinnung und Fibrinolyse). Zudem hat Blut eine Stützwirkung durch den von ihm ausgehenden Flüssigkeitsdruck. === Wärmeregulierung === Die ständige Zirkulation des Blutes gewährleistet eine konstante Körpertemperatur. Diese liegt beim gesunden Menschen bei ca. 36–37 °C. Dabei geht man im Allgemeinen von der Temperatur im Innern des Körpers aus. === Atmung === Eine Funktion des Blutes ist der Transport von Sauerstoff von der Lunge zu den Zellen und von Kohlenstoffdioxid – dem Endprodukt des oxidativen Kohlenstoffwechsels – zurück zur Lunge. Im Rahmen der Atmung gelangt der in der Luft enthaltene Sauerstoff über die Luftröhre in die Lunge bis hin zu den Lungen­bläschen. Durch deren dünne Membran gelangt der Sauerstoff in die Blutgefäße. Das Blut wiederum wird im Rahmen des Lungenkreislaufes vom Herzen zur Lunge geführt. Das zunächst sauerstoffarme Blut gibt in der Lunge Kohlenstoffdioxid (CO2) ab und nimmt dort Sauerstoff auf. Das nun sauerstoffreiche Blut fließt über mehrere Lungenvenen (Venae pulmonales) wieder zurück zum Herzen, genauer zum linken Vorhof. Von dort wird das Blut über ein geschlossenes Netz aus Blutgefäßen an die meisten stoffwechselnden Zellen innerhalb des Körpers verteilt (vgl. auch Blutkreislauf). Ausgenommen davon sind u. a. Zellen der Hornhaut des Auges und der Knorpel, die keinen direkten Anschluss an das Gefäßsystem haben und wie bei primitiveren Organismen über Diffusion ernährt werden (bradytrophe Gewebe). Funktionell wichtig für den oben beschriebenen Gasaustausch ist der in den roten Blutkörperchen enthaltene Blutfarbstoff Hämoglobin. Jedes Hämoglobinmolekül besteht aus vier Untereinheiten, die jede eine Hämgruppe enthalten. Im Zentrum der Hämgruppe ist ein Eisen-Ion gebunden. Dieses Eisen übt eine starke Anziehungskraft (sog. Affinität) auf Sauerstoff aus, wodurch der Sauerstoff an das Hämoglobin gebunden wird. Hat dies stattgefunden, so spricht man von oxygeniertem Hämoglobin. Die Affinität des Hämoglobins für Sauerstoff wird durch eine Erhöhung des Blut-pH-Werts, eine Senkung des Partialdrucks von Kohlendioxid, eine geringere Konzentration des im Rapoport-Luebering-Zyklus gebildeten 2,3-Bisphosphoglycerats und eine niedrigere Temperatur erhöht. Ist die Affinität des Hämoglobins für Sauerstoff hoch und der Partialdruck von Sauerstoff ebenso, wie es in den Lungen der Fall ist, dann begünstigt dies die Bindung von Sauerstoff an Hämoglobin, ist jedoch das Gegenteil der Fall wie im Körpergewebe, so wird Sauerstoff abgegeben. 98,5 % des im Blut enthaltenen Sauerstoffs sind chemisch an Hämoglobin gebunden. Nur die restlichen 1,5 % sind physikalisch im Plasma gelöst. Dies macht Hämoglobin zum vorrangigen Sauerstofftransporter der Wirbeltiere. Unter normalen Bedingungen ist beim Menschen das die Lungen verlassende Hämoglobin zu etwa 96–97 % mit Sauerstoff gesättigt. Desoxygeniertes Blut ist immer noch zu ca. 75 % gesättigt. Die Sauerstoffsättigung bezeichnet das Verhältnis aus tatsächlich gebundenem Sauerstoff zu maximal möglichem gebundenem Sauerstoff. Kohlenstoffdioxid wird im Blut auf verschiedene Art und Weise transportiert: Der kleinere Teil wird physikalisch im Plasma gelöst, der Hauptteil jedoch wird in Form von Hydrogencarbonat (HCO3−) und als an Hämoglobin gebundenes Carbamat transportiert. Die Umwandlung von Kohlenstoffdioxid zu Hydrogencarbonat wird durch das Enzym Carboanhydrase beschleunigt. === Blutstillung und -gerinnung === Die Prozesse, die den Körper vor Blutungen schützen sollen, werden unter dem Oberbegriff der Hämostase zusammengefasst. Dabei wird zwischen der primären und der sekundären Hämostase unterschieden. An der primären Hämostase sind neben den Thrombozyten verschiedene im Plasma enthaltene und auf der Gefäßwand präsentierte Faktoren beteiligt. Das Zusammenspiel dieser Komponenten führt bereits nach zwei bis vier Minuten zur Abdichtung von Lecks in der Gefäßwand. Dieser Zeitwert wird auch als Blutungszeit bezeichnet. Zuerst verengt sich das Gefäß, dann verkleben die Thrombozyten das Leck, und schließlich bildet sich ein fester Pfropfen aus Fibrin, der sich nach abgeschlossener Gerinnung zusammenzieht. Die Fibrinolyse ist später für ein Wiederfreimachen des Gefäßes verantwortlich. Die sekundäre Hämostase findet durch Zusammenwirkung verschiedener Gerinnungsfaktoren statt. Dies sind, bis auf Calcium (Ca2+), in der Leber synthetisierte Proteine. Diese im Normalfall inaktiven Faktoren werden in einer Kaskade aktiviert. Sie können entweder endogen, das heißt durch Kontakt des Blutes mit anionischen Ladungen des subendothelialen (unter der Gefäßinnenoberfläche gelegenen) Kollagens, oder exogen aktiviert werden, das heißt durch Kontakt mit Gewebsthrombokinase, die durch größere Verletzungen aus dem Gewebe in die Blutbahn gelangt ist. Ziel der sekundären Blutgerinnung ist die Bildung von wasserunlöslichen Fibrinpolymeren, die das Blut zu „Klumpen“ gerinnen lassen. Als Fibrinolyse wird der Prozess der Rückbildung der Fibrinklumpen bezeichnet. Dies findet durch die Aktion des Enzyms Plasmin statt. Soll aufgrund verschiedener medizinischer Indikationen wie zum Beispiel Herzrhythmusstörungen die Gerinnungsfähigkeit des Blutes herabgesetzt werden, so setzt man Antikoagulantien (Gerinnungshemmer) ein. Diese wirken, indem sie entweder das zur Gerinnung notwendige Calcium binden (jedoch nur im Reagenzglas, z. B. Citrat oder EDTA), indem sie die Interaktion zwischen den Gerinnungsfaktoren hemmen (z. B. Heparin) oder indem sie die Bildung der Gerinnungsfaktoren selbst unterbinden (z. B. Cumarine). == Medizinische Aspekte == === Erkrankungen === Viele Krankheiten lassen sich an bestimmten Veränderungen der Blutbestandteile im Blutbild erkennen und in ihrem Schweregrad einordnen, weshalb das Blut die am häufigsten untersuchte Körperflüssigkeit in der Labormedizin ist. Eines der ersten umfangreicheren Werke über Blutkrankheiten und Blutdiagnostik erschien 1908 von Otto Naegeli. Eine bedeutende Untersuchung ist die Blutsenkungsreaktion (BSR), bei der anhand der Zeit, in der sich die festen Bestandteile in mit Gerinnungshemmern behandeltem Blut absetzen, Rückschlüsse auf eventuell vorhandene Entzündungen gezogen werden können. Außer Krankheiten, die sich durch Veränderungen im Blutbild äußern, gibt es auch Krankheiten, die das Blut (bzw. Blutbestandteile) selbst befallen. Das Fachgebiet der Medizin, das sich mit diesen Erkrankungen befasst, ist die Hämatologie. Zu den wichtigsten zählen die Anämie oder Blutarmut, die Hämophilie oder Bluterkrankheit und die Leukämie als Blutkrebs. Bei einer Anämie kommt es, aufgrund vielfältiger Ursachen, zu einer Unterversorgung des Körpers mit Sauerstoff (Hypoxie). Bei Hämophilien ist die Blutgerinnung gestört, was in schlecht oder nicht stillbaren Blutungen resultiert. Bei einer Leukämie werden übermäßig viele weiße Blutkörperchen gebildet und bereits in unfertigen Formen ausgestoßen. Dies führt zu einer Verdrängung der anderen zellulären Bestandteile des Blutes in Knochenmark und Blut selbst. Eine übermäßige Bildung von Blutzellen nennt man Zytose oder Philie, die je nach Zellart in Erythrozytose und Leukozytose (Unterformen sind Granulozytose: Eosinophilie, Basophilie, Neutrophilie; Monozytose; Lymphozytose; Thrombozytose) unterteilt wird. Einen Mangel an roten Blutzellen nennt man Erythropenie (Anämie), an weißen Leukopenie (je nach Zellart Eosinopenie, Basopenie, Neutropenie, Monopenie, Lymphopenie, Thrombozytopenie). Solche Verschiebungen der Proportionen der Zellzahlen werden im Differentialblutbild untersucht und geben zum Teil Hinweise auf die Art und das Stadium einer Krankheit. Durch die Rolle des Blutes in der Versorgung der Zellen besteht bei einer fehlenden oder nicht ausreichenden Blutversorgung immer die Gefahr von Zellschädigung oder -sterben. Bei einer körperweiten Minderversorgung mit Blut, beispielsweise durch einen großen Blutverlust, spricht man von Schock. Durch Blutgerinnsel (aber auch andere Ursachen) kann es zu einer Thrombose, Embolie oder einem Infarkt (z. B. Herz- oder Hirninfarkt) kommen. Um dies zu verhindern, können Wirkstoffe wie Acetylsalicylsäure, Heparin oder Phenprocoumon angewendet werden, die die Gerinnung hemmen. Blut selbst hat, wenn es in größeren Mengen in den Magen-Darm-Trakt gelangt, eine abführende Wirkung. === Blutgruppen === In der Zellmembran der roten Blutkörperchen sind Glycolipide verankert, die als Antigene wirken. Sie werden als Blutgruppen bezeichnet. Kommt es zu einer Vermischung von Blut verschiedener Blutgruppen, so tritt oft eine Verklumpung des Blutes ein. Deswegen muss vor Bluttransfusionen die Blutgruppe von Spender und Empfänger festgestellt werden, um potenziell tödliche Komplikationen zu vermeiden. Die medizinisch bedeutsamsten Blutgruppen des Menschen sind das AB0-System und der Rhesus-Faktor (beide im 20. Jahrhundert von Karl Landsteiner und Mitarbeitern zuerst beschrieben). Jedoch gibt es beim Menschen noch rund 20 weitere Blutgruppensysteme mit geringerer Bedeutung, die ebenfalls Komplikationen verursachen können. Im AB0-System findet man die Blutgruppen A, B, AB und 0. Die Bezeichnung sagt aus, welche Antigene auf den Erythrozyten gefunden werden (bei A: nur A-Antigene, bei B: B-Antigene, bei AB: A- und B-Antigene und bei 0: keine der beiden) und welche Antikörper (des Typs IgM) im Serum vorhanden sind (bei A: B-Antikörper, bei B: A-Antikörper, bei AB: keine Antikörper und bei 0: A- und B-Antikörper). Rhesusfaktoren können in den Untergruppen C, D und E auftreten. Medizinisch relevant ist besonders der Faktor D. Ist das D-Antigen vorhanden, so spricht man von Rhesus-positiv, fehlt es, spricht man von Rhesus-negativ. Beim Rhesussystem entstehen die Antikörper (der Gruppe IgG) im Blut erst, nachdem der Körper das erste Mal auf Blut mit Antigenen trifft. Da IgG-Antikörper die Plazenta durchqueren können, besteht die Möglichkeit von Komplikationen während der zweiten Schwangerschaft einer Rhesus-negativen Mutter mit einem Rhesus-positiven Kind. Hierbei kommt es zunächst zu einer Auflösung (Hämolyse) der kindlichen Erythrozyten und einer anschließenden krankhaft gesteigerten Neubildung, die als fetale Erythroblastose bezeichnet wird. Die Blutgruppen sind neben ihrer Relevanz bei Transfusionen und Organtransplantationen sowie in der Schwangerschaft auch von Bedeutung in der Rechtsmedizin zur Identitäts- und Verwandtschaftsbestimmung, auch wenn die Aussagekraft von darauf beruhenden Tests weitaus geringer ist als bei der DNA-Analyse und sich auf Ausschlussnachweise beschränkt. === Bluttransfusionen === Bei großen Blutverlusten, bei verschiedenen Krankheiten wie dem myelodysplastischen Syndrom und oft zur Bekämpfung von Nebenwirkungen bei allen Chemotherapien werden meist Bluttransfusionen durchgeführt, um das Blutvolumen aufzufüllen oder bestimmte Blutbestandteile, an denen ein Mangel vorliegt, gezielt zu ergänzen. Hierbei ist zu beachten, dass das Blut von Spender und Empfänger hinsichtlich der Blutgruppen und des Rhesusfaktors bestimmte Bedingungen erfüllen muss, da es sonst zu schweren Transfusionszwischenfällen kommen kann. Um Transfusionen zu ermöglichen, sind jedoch Blutspenden nötig. Es wird zwischen Vollblutspenden, Eigenblutspenden und Spenden nur einzelner spezifischer Blutbestandteile (z. B. Blutplasma oder Thrombozyten) unterschieden. Bei einer Vollblutspende werden dem Spender ca. 500 ml venöses Blut entnommen; dieses Blut wird dann konserviert, untersucht und bei entsprechender Eignung in verschiedene Blutprodukte aufgetrennt. Diese werden in einer Blutbank eingelagert. Eigenblutspenden dienen der Bereitstellung von Blut vor einer Operation, das bei eventuell auftretendem Blutverlust ohne Komplikationen dem Patienten wieder verabreicht werden kann. Eine Blutspende kostet den Empfänger bzw. dessen Krankenkasse in Deutschland 109,90 €. Hauptbestandteil dieses Betrages ist die Durchführung der Blutspende, weitere Kostenpunkte sind Laboruntersuchungen, Haltbarmachung, Verteilung und Verwaltung. Alternativen zur Blutspende sind künstliches Blut, das aus lang haltbaren gefriergetrockneten roten Blutkörperchen in einer isotonischen Lösung besteht, und Blutersatz, das starken Blutverlust ausgleichen soll, wenn keine Blutkonserven verfügbar sind. Blutersatzmittel können entweder das noch vorhandene Restblut verdünnen und somit das für einen funktionierenden Blutkreislauf notwendige Volumen wiederherstellen (sog. Volumenexpander) oder das Blut durch aktives Übernehmen des Sauerstofftransports unterstützen. Auch bei den übrigen Säugetieren gibt es verschiedene Blutgruppensysteme (bei Haustieren 7 bis 15) mit jeweils einer Mehrzahl von Blutgruppenfaktoren. Im Gegensatz zum Menschen gibt es allerdings bei der ersten Bluttransfusion kaum Reaktionen auf diese Blutgruppenunterschiede. Daraufhin gebildete Antikörper rufen erst bei Folgeblutspenden gegebenenfalls eine Unverträglichkeitsreaktion hervor. === Aderlass und Schröpfen === Vom Altertum ausgehend galt im europäischen Mittelalter das Blut als einer der Vier Säfte des Lebens. Dabei versuchte man, durch Aderlass oder Schröpfen Heilung zu bewirken und „faules Blut“ zu entfernen. Laut Erzählungen resultierte diese Überlegung aus der Beobachtung kranker Nilpferde, die sich an Gegenständen rieben, bis sie bluteten.Über lange Zeit galt der Aderlass als anerkannte Therapieform und erfreute sich großer Beliebtheit. Viele Doktoren und Wundärzte neigten jedoch dazu, diese Therapieform äußerst exzessiv zu betreiben. Erst Forschung und Kontakt zu anderen Kulturen (v. a. zu der hoch entwickelten arabischen Medizin) sorgten für differenzierte und anwendungsgerechtere Behandlungen. Der Aderlass als therapeutische Blutentnahme wird heute durchwegs durch Punktion einer Vene mit einer dicken Kanüle durchgeführt. Dabei werden in der Regel 400 bis maximal 1.000 ml entnommen. Dies ist noch immer angezeigt bei Erkrankungen wie der Hämochromatose (Eisenspeicherkrankheit), der Porphyria cutanea tarda und der Polycythaemia vera (krankhafte Vermehrung vor allem der roten Blutkörperchen). Auch die Blutegelbehandlung findet wieder Beachtung – wobei aber der kontrollierte pharmakognostische Einsatz des Hirudin vorrangig ist. === Blutgifte === Blutgifte, auch als Hämotoxine bezeichnet, sind Stoffe, durch deren chemische Beschaffenheit das Blut-, Blutgerinnungs- oder Blutbildungssystem derart verändert wird, dass die Transport- und Stoffwechselfunktion des Blutes eingeschränkt oder verhindert wird. Dies kann eine Schädigung des Blutkreislaufs bis hin zum Kreislaufkollaps zur Folge haben. Zu den chemischen Verbindungen, die als Blutgifte wirken, zählen beispielsweise Kohlenmonoxid (CO), Benzol, Alkohole wie Ethanol, organische Nitroverbindungen, Arsen- und Bleiverbindungen. Beispiele für pflanzliche Inhaltsstoffe mit hämotoxischer Wirkung sind die Saponine und Chinin. Auch eine Reihe von tierischen Giften wirkt auf das Blut, zum Beispiel die Hauptbestandteile der Gifte vieler Vipernarten. === Blutreinigung === Blutreinigungsverfahren (Möglichkeiten zur Entfernung von Blutgiften) sind die Dialyse bei akutem oder chronischem Nierenversagen oder auch die Apherese zur Entfernung von pathogenen (krank machenden) Bestandteilen. == Kulturgeschichte des Blutes == Blut wurde schon früh als Träger der Lebenskraft angesehen. Die Beobachtung, wie beim Verbluten eines Menschen oder beim Ausbluten eines Schlachttiers dessen Kräfte schwinden, ließ die Menschen darauf schließen, dass das Blut ein Urstoff des Lebens sei. == Blut als Abfallprodukt in der Tierproduktion == Blut gilt als eines der problematischeren Abfallprodukte der Schlachthäuser. Für die USA schätzt man (bei einem Anteil von etwa 20 % am globalen Fleischmarkt) eine jährliche Produktion von 1,6 Millionen Tonnen Blut. Wegen des relativ hohen Feststoffanteils (etwa 18 %) und des hohen chemischen Bedarfs an Sauerstoff (etwa 500 g O2/L, etwa 800-mal so viel wie bei Haushaltsabwässern) gelten die Umweltprobleme, die vom Schlachtblut hervorgerufen werden, in der Fachliteratur als „enorm“. Wegen der Entsorgungskosten haben Hersteller einen starken wirtschaftlichen Anreiz, Blut zu verarbeiten oder zu verwerten. Vom anfallenden Blut werden (in den USA) etwa 30 % der Nahrungsmittelindustrie zugeführt, überwiegend als kosteneffizientes Bindemittel in Fleischprodukten und als Färbemittel. Weiterhin wird Blut für die Tiernahrung, als Dünger und in der Papierverarbeitung als Klebstoff verwendet. == Blut als Lebensmittel/Nährstoff == Zwar werden bei oder nach der Schlachtung Tierkörper so eröffnet und aufgehängt, dass diese ausbluten und damit haltbareres Fleisch ergeben, doch wird Blut andererseits auch als Lebensmittelzutat, etwa von Blutwurst genutzt. Blut ist auch Hauptnahrungsmittel einiger so genannter hämatophager (blutverzehrender) Parasiten. Der Blutegel saugt sich an der Haut fest und beißt sich dann durch sie hindurch. Innerhalb einer halben Stunde können Blutegel das Fünffache ihres Gewichts an Blut aufnehmen. Die dabei mit ihrem Speichel ausgeschiedenen gerinnungshemmenden Stoffe (z. B. Heparin und Hirudin) machen sie auch für die Medizin interessant. Weitere Blutsauger sind beispielsweise Stechmücken, Bremsen, einige Milben (z. B. Rote Vogelmilbe), Wanzen und einige Würmer (z. B. Hakensaugwürmer). Nur wenige Wirbeltiere ernähren sich ganz oder teilweise von Blut. Neben den Vampirfledermäusen sind nur noch die auf Wolf und Darwin, den zwei nördlichsten Galápagos-Inseln, lebenden Populationen des Spitzschnabel-Grundfinken (Geospiza difficilis), eines Darwinfinken, für derartigen Parasitismus bekannt. Auf den wasserlosen Inseln trinken diese so genannten „Vampirfinken“ vom Blut der sich dort aufhaltenden Meeresvögel, indem sie unbemerkt die Ansätze der Federkiele anpicken und so zugleich ihren Flüssigkeitsbedarf decken. Blutsaugende Tiere sind häufig Überträger von Krankheiten, da sie als Vektoren krankheitserregende Viren, Bakterien, Protozoen und andere Organismen übertragen können. Einige dieser so übertragenen Mikroorganismen leben selbst direkt vom Blut des Wirtsorganismus, so die einzelligen Malariaerreger, die Plasmodien. Nach dem Tod eines Organismus und dem Zusammenbruch der Immunabwehr beginnen Fäulnisbakterien, die ansonsten im lebenden Organismus nicht vermehrungsfähig sind, am deutlichsten erkennbar zunächst das Blut unter Freisetzung von biogenen Aminen wie Cadaverin und Putrescin zu verstoffwechseln, und führen damit zum sicheren Todeszeichen des durchschlagenden Venennetzes, also zur Verfärbung des oberflächlichen Venensystems in ein dunkles Grün. == Sonstige Nutzung == Menschliches Blut ist in der mittelalterlichen Literatur als Futtermittel in der Schweinemast, als Gartendüngemittel und in vielfältigen Rezepturen aus Haushalt und Bauwesen erwähnt. Diese heute befremdliche Verwendung liegt in der auf dem Aderlass aufgebauten galenischen Medizin des Mittelalters und der frühen Neuzeit begründet, durch die Menschenblut in teils beträchtlichen Mengen verfügbar war. Pharmazeutisch verwendet als Sanguis hominis wurde der an Sonne getrocknete, sich nach dem Schlagen mit einem gespaltenen Rohr des durch Aderlass gewonnenen Blutes sich abgesetzte Blutkuchen. Wie aber das Baderwesen als Ganzes wurde diese Praxis – aus weltanschaulichen wie auch aus hygienischen Gründen – teils nur als Sitte des armen Volkes toleriert, oder scharf bekämpft. Blutagar ist ein in der Mikrobiologie verwendeter Nährboden für Mikroorganismen, der menschliches oder tierisches Blut enthält. Mit ihm können verschiedene Erreger, zum Beispiel Streptokokken, nachgewiesen werden. Blutmehl, das aus getrocknetem Blut von Schlachttieren gewonnen wird, findet als Proteinzusatzfuttermittel noch teilweise Anwendung in der Tierernährung. Mit dem Aufkommen von BSE darf Blutmehl nur noch aus Blut von Schlachthöfen erzeugt werden, die keine Wiederkäuer schlachten (Verordnung (EG) Nr. 1234/2003). Blutmehl findet vor allem in der Fischfütterung Einsatz oder aber auch als Düngemittel. Ochsenblut ist ein Bindemittel für Farbanstriche, mit denen früher Fachwerkbalken vor der Witterung geschützt wurden. Entgegen weit verbreiteter Ansicht heißt diese Farbe nicht deswegen Ochsenblutrot, weil sie rötlich ist, sondern weil sie tatsächlich Ochsenblut enthält. Zur Herstellung von Ochsenblutrot lässt man das Blut frisch geschlachteter Ochsen abstehen, sodass sich das Serum und die roten Blutkörperchen trennen. Aus dem Serum und gelöschtem Kalk wird unter Zugabe von Pigmenten eine gut wetterfeste Farbe gewonnen. == Siehe auch == Cruor Ichor Pneuma Drachenblut (Harz) Hämaturie == Literatur == Christina von Braun, Christoph Wulf: Mythen des Blutes. Campus Verlag, Frankfurt am Main u. a. 2007. Ludwig Heilmeyer, Herbert Begemann: Blut und Blutkrankheiten. In: Ludwig Heilmeyer (Hrsg.): Lehrbuch der Inneren Medizin. Springer-Verlag, Berlin/Göttingen/Heidelberg 1955; 2. Auflage ebenda 1961, S. 376–449. Arnold Angenendt: Sühne durch Blut. 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Stefan Silbernagl, Agamemnon Despopoulos: Taschenatlas der Physiologie. Thieme, Stuttgart 2003, ISBN 3-13-567706-0. Paul Volz: Die biblischen Altertümer. Komet Verlag, Köln 1914, ISBN 3-89836-316-3. Christine Knust, Dominik Groß (Hrsg.): Blut. Die Kraft des ganz besonderen Saftes in Medizin, Literatur, Geschichte und Kultur (= Studien des AKGW. Band 7). Kassel 2010, ISBN 978-3-89958-832-3. Jan Steinmetzer, Dominik Groß: Lizenzforderungen auf Blutkonserven – Das Geschäft mit Patenten auf Bluttests. In: Jochen Taupitz (Hrsg.): Kommerzialisierung des menschlichen Körpers. Tagungsband (Jahrestagung der Akademie für Ethik in der Medizin), Berlin 2007, ISBN 978-3-540-69894-4, S. 213–226. == Weblinks == elektronenmikroskopische Abbildungen von Blutzellen Bio-Repetitorium: Blut – mit Fragen und Antworten Red Gold – The epic story of blood – Seite rund ums Blut (englisch) Pedro Silva: Blood and blood cells (englisch) Blut – Der ganz besondere Saft. (PDF; 1003 kB) Quarks & Co == Einzelnachweise ==
https://de.wikipedia.org/wiki/Blut
Enzyklopädie
= Enzyklopädie = Eine Enzyklopädie (), früher auch aus dem Französischen: Encyclopédie (von altgriechisch ἐγκύκλιος παιδεία enkýklios paideía, deutsch ‚Kreis von Wissenschaften und Künsten, welche jeder freie Grieche in der Jugend treiben musste, bevor er ins bürgerliche Leben eintrat oder sich einem besondern Studium widmete‘, d. h. was wir heute „Grundausbildung, allgemeine Erziehung, Allgemeinbildung“ nennen, siehe Paideia), ist ein besonders umfangreiches Nachschlagewerk. Der Begriff Enzyklopädie soll auf Ausführlichkeit oder eine große Themenbreite hinweisen, wie beispielsweise bei einem Menschen, dem enzyklopädisches Wissen nachgesagt wird. Es wird eine Zusammenfassung des gesamten Wissens dargestellt. Die Enzyklopädie ist demzufolge eine überblickende Anordnung des Wissens einer bestimmten Zeit und eines bestimmten Raumes, welche Zusammenhänge darstellt. Daneben werden als Fachenzyklopädien solche Werke bezeichnet, die nur ein einzelnes Fach- oder Sachgebiet behandeln. Die Bedeutung des Begriffes Enzyklopädie ist fließend; Enzyklopädien standen zwischen Lehrbüchern einerseits und Wörterbüchern andererseits. Als älteste vollständig erhaltene Enzyklopädie gilt die Naturalis historia aus dem ersten nachchristlichen Jahrhundert. Vor allem die große französische Encyclopédie (1751–1780) hat die Bezeichnung „Enzyklopädie“ für ein Sachwörterbuch durchgesetzt. Aufgrund der alphabetischen Anordnung werden Enzyklopädien oft als Lexika bezeichnet. Die heutige Form des Nachschlagewerkes hat sich vor allem seit dem 18. Jahrhundert entwickelt; dabei handelt es sich um ein umfangreiches Sachwörterbuch über alle Themen für eine breite Leserschaft. Im 19. Jahrhundert kam der typische neutral-sachliche Stil hinzu. Die Enzyklopädien wurden klarer strukturiert und beinhalteten neue Texte, keine bloßen Übernahmen älterer (fremder) Werke. Eines der bekanntesten Beispiele im deutschen Sprachraum war lange Zeit die Brockhaus Enzyklopädie (ab 1808), im englischen die Encyclopaedia Britannica (ab 1768). Seit den 1980er-Jahren werden Enzyklopädien ferner in digitaler Form angeboten, auf CD-ROM und im Internet. Teilweise sind es Fortführungen älterer Werke, teilweise neue Projekte. Ein besonderer Erfolg war die 1993 erstmals auf CD-ROM herausgegebene Microsoft Encarta. Die 2001 gegründete Wikipedia entwickelte sich zur größten Internet-Enzyklopädie. == Begriff == === Definitionen === Die Althistorikerin Aude Doody nannte die Enzyklopädie eine Gattung, die man nur schwer definieren könne. Enzyklopädismus sei das Streben nach universellem Wissen oder auch die Summe des allgemeinen Wissens (einer bestimmten Kultur). Konkret sei die Enzyklopädie ein Buch, „das entweder die gesamte Garnitur des allgemeinen Wissens oder ein erschöpfendes Spektrum an Material über einen spezialistischen Gegenstand versammelt und ordnet.“ Die Enzyklopädie beanspruche, einfachen Zugang zu Informationen über alles zu verschaffen, das der Einzelne über seine Welt wissen muss.Für das Selbstverständnis von Enzyklopädien werden oftmals die Vorworte der Werke ausgewertet. Im 18. und vor allem 19. Jahrhundert betonten sie, dass sie Wissen zusammenfassen, und zwar nicht für Fachleute, sondern für ein breiteres Publikum. Im Vorwort des Brockhaus etwa heißt es 1809: Der Bibliothekswissenschaftler und Enzyklopädie-Experte Robert Collison schrieb um 1970 für die Encyclopaedia Britannica einleitend im entsprechenden Macropaedia-Artikel: === Entwicklung zum modernen Begriff === Der moderne Begriff „Enzyklopädie“ setzt sich aus zwei griechischen Wörtern zusammen: ἐγκύκλιος enkýklios, im Kreis herumgehend, auch: umfassend, allgemein, sowie παιδεία paideía, Erziehung oder Unterricht. Das daraus zusammengesetzte ἐγκύκλιος παιδεία verwies auf die „chorische Erziehung“, meinte also ursprünglich die musische Ausbildung junger freigeborener Griechen im Kreis des Theaterchores. Eine verbindliche Auflistung der vermittelten Fächer gab es bei den Griechen nicht. Moderne Forscher ziehen es vor, den griechischen Ausdruck als allgemeine Erziehung zu übersetzen, im Sinne einer grundlegenden Bildung.Der Römer Quintilian (35 bis ca. 96 nach Christus) griff den griechischen Ausdruck auf und übersetzte ihn. Bevor Jungen zu Rednern ausgebildet würden, sollten sie den Bildungsweg (den orbis ille doctrinae, wörtlich: Kreis der Lehre) durchlaufen. Auch Vitruv bezeichnete mit ἐγκύκλιος παιδεία eine Vorbildung für die bei ihm angestrebte Spezialisierung zum Architekten. Dementsprechend variierten die genannten Fächer. Quintilian erwähnt für Redner beispielsweise die Bereiche Geometrie und Musik. Unklar bleibt, was Plinius gemeint hat, als er die τῆς ἐγκυκλίου παιδείας (tês enkýkliou paideías) im Vorwort zu seiner Naturalis historia (Naturgeschichte, ca. 77 n. Chr.) erwähnte. Das liegt nicht nur an der Unbestimmtheit der möglichen Fächer, sondern auch an Undeutlichkeiten der Textstelle. Die ἐγκύκλιος παιδεία wurde schließlich zu einer Sammelbezeichnung für die sich im Römischen Reich ausbildenden (sieben) freien Künste, die artes liberales. Das Wort Enzyklopädie geht auf eine fehlerhafte Rückübersetzung der Stelle bei Quintilian zurück. Dieses tas Encyclopaedias in Plinius-Ausgaben seit 1497 setzte dann den Ausdruck durch. Es wurde als griechische Übersetzung von orbis doctrinae angesehen. In Nationalsprachen erschien der Ausdruck dann in den 1530er-Jahren. In der Mitte des 16. Jahrhunderts konnte man das Wort ohne weitere Erklärung in Buchtiteln für Werke verwenden, „in denen die Gesamtheit der Wissenschaften nach einer bestimmten Ordnung dargestellt wird“, so Ulrich Dierse. Die Betonung lag dabei nicht auf Gesamtheit, sondern auf Ordnung.Guillaume Budé verwendete die lateinische Neuschöpfung 1508 im Sinne einer allesumfassenden Wissenschaft oder Gelehrtheit. Wohl zum ersten Mal in einem Buchtitel erschien das Wort 1538. Damals veröffentlichte der südniederländische Pädagoge Joachim Sterck van Ringelbergh: Lucubrationes, vel potius absolutissima κυκλοπαίδεια, nempe liber de ratione studii („Nachtarbeiten, oder vielmehr vollständigste κυκλοπαίδεια [kyklopaideia], also ein Buch über die Methode des Lernens“). Als Haupttitel eines Buches tauchte es zuerst 1559 auf: Encyclopaediae, seu orbis disciplinarum (Encyclopaedia, oder der Kreis der Fächer) des Kroaten Pavao Skalić.Die englische Cyclopaedia von 1728 war ein alphabetisch geordnetes Nachschlagewerk, ein dictionary of the arts and sciences. Der Durchbruch des Namens Enzyklopädie kam erst mit der großen französischen Encyclopédie (1751 und Folgejahre). Nach dem Vorbild dieses Werkes etablierte sich der Begriff für ein allgemeines Sachwörterbuch. Daneben wurde das Wort auch für die Erkenntnis von der Einheit des Wissens verwendet; in diesem Sinne beschrieb der Philosoph Christian Appel seinen 1784 an der Universität Mainz eingerichteten „Lehrstuhl für allgemeine Enzyklopädie“. In der Erziehung gehe man von einfachen sinnlichen Eindrücken und Erfahrungen aus, dann komme man über einen Abstraktionsprozess zu zusammenhängenden wissenschaftlichen Weisheiten. Diese seien aber verstreut, daher brauche man eine Zusammenfassung. So solle die Enzyklopädie nicht am Anfang des Universitätsstudiums stehen, sondern am Ende, als Krönung. Für die Erforschung der Enzyklopädien wiederum hat sich der Begriff Enzyklopädik eingebürgert. === Andere Bezeichnungen === Während bei den Römern die Titel von Nachschlage- und Lehrwerken meistens eher nüchtern waren, überwogen seit der Spätantike bis in die Frühe Neuzeit Metaphern: Vergleiche mit der Natur, mit Gärten, Blumen und Nahrung waren besonders häufig. Der Autor war beispielsweise ein Blumenpflücker oder eine fleißige Biene, die das Wissen wie Blütenstaub sammelt. Die Werke hießen dann Florilegia (Blumensammlung), Liber Floridus (Blühendes Buch) oder Hortus Deliciarum (Garten der Kostbarkeiten). Beliebt waren auch Verweise auf das Licht, das den Leser erleuchten soll: Elucidarium, Lucidarius. Die Bücher waren Kostbarkeiten: Tresor (Schatz), Gemma gemmarum (Schmuckstück der Schmuckstücke), Schatzkammer mechanischer Künste (Agostino Ramelli), Margarita (Perle). Theatrum, Schauplatz, wie in Theatrum Anatomicum verwies auf den Darstellungscharakter. Bibliotheca war ein Hinweis darauf, dass das Werk aus älteren Büchern zusammengestellt war. Man sah das Werk als Spiegel der Welt: Speculum, imago mundi. Auf Wasserquellen bezog sich der Livre de Sidrac, la fontaine de toutes sciences, und auf die Allegorie des Stadtbaus der Livre de la Cité des Dames. Historia war in der Naturkunde wegen Plinius geläufig und bedeutete ursprünglich das geordnete Wissen. Ansonsten war Historia normalerweise eine chronologische Abhandlung, in die man geografisches und biografisches Wissen einflocht. Ars magna (Große Kunst) ist bei Ramon Llull und Athanasius Kircher der Anspruch, eine hervorragende Leistung zu präsentieren.Alphabetisch angeordnete Enzyklopädien hießen oder heißen Dictionarium, Wörterbuch oder Lexikon. Weitere Bezeichnungen lauten: Enzyklopädisches Wörterbuch, Sachwörterbuch, Realwörterbuch, dazu Reallexikon und Realenzyklopädie, Konversationslexikon, Universallexikon usw. Im Englischen und Französischen war dictionary beziehungsweise dictionnaire weit verbreitet, oft in der Zusammenfassung dictionary of the arts and sciences beziehungsweise dictionnaire des arts et des sciences. Im Deutschen spiegelt sich das im Titel der Allgemeinen Encyclopädie der Wissenschaften und Künste von Ersch-Gruber (1818–1889) wider. Als Künste sind gängigerweise die mechanischen und handwerklichen Künste zu verstehen, und der Begriff der Wissenschaft sollte nicht zu eng aufgefasst werden, so wurde die Theologie damals noch selbstverständlich zur Wissenschaft gezählt. Real oder Realia steht für Sachen im Gegensatz zu Begriffen oder Wörtern, ein Realwörterbuch ist also ein Sachwörterbuch und kein Sprachwörterbuch. == Geschichte == Literarische Gattung und Begriff laufen in der Geschichte der Enzyklopädie nicht parallel zueinander. Darum lässt sich darüber streiten, ob es vor der Neuzeit überhaupt Enzyklopädien gegeben hat. Zumindest waren sich die antiken und mittelalterlichen Autoren einer solchen literarischen Gattung nicht bewusst. Es herrscht weite Übereinstimmung, beispielsweise die Naturalis historia aus dem Alten Rom als Enzyklopädie anzusehen. Dabei besteht allerdings die Gefahr einer anachronistischen Sichtweise, nämlich ein antikes Werk mit modernen Augen zu sehen und es unangemessen zu interpretieren, warnt Aude Doody.Die Historiker sind sich nicht darüber einig, welches Werk als die erste Enzyklopädie anzusehen ist. Das liegt einerseits daran, dass viele Werke verloren gegangen sind und nur noch aus kurzen Beschreibungen oder Bruchstücken bekannt sind. Andererseits gibt es keine verbindliche Definition einer Enzyklopädie, manche Historiker berücksichtigen auch einen enzyklopädischen Ansatz im Sinne eines Strebens nach Umfassendheit. === Altertum === Als ein geistiger Vater der Enzyklopädie wird der griechische Philosoph Platon genannt. Er hat zwar selbst keine Enzyklopädie verfasst, aber mit seiner Akademie zu Athen verschrieb er sich dazu, die ganze Bildung jedem intelligenten jungen Mann zur Verfügung zu stellen. Von einem enzyklopädischen Werk von Platons Neffen Speusippos (gestorben 338 v. Chr.) sind nur noch Fragmente erhalten. Einen enzyklopädischen Ansatz, im Sinne von umfassend, hat man auch Aristoteles nachgesagt.Die Griechen sind für ihre intellektuellen Erkundungen und ihre philosophische Originalität bekannt. Sie haben ihr Wissen aber nicht in einem einzelnen Werk zusammengefasst. So gelten die Römer als die eigentlichen Erfinder der Enzyklopädie. In der Römischen Republik gab es bereits die Briefserie Praecepta ad filium (etwa 183 v. Chr.), mit der Cato der Ältere seinen Sohn unterwies.Vor allem entstand die Enzyklopädie in der Kaiserzeit, da sie den weiten Horizont solcher Menschen brauchte, die ein Weltreich beherrschten. Die erste der eigentlichen Enzyklopädien waren die nicht erhaltenen Disciplinarum libri IX von Marcus Terentius Varro († 27 v. Chr.). Die zweite Enzyklopädie waren die Artes des Arztes Aulus Cornelius Celsus (gestorben um 50 n. Chr.). Varro war der Erste, der die allgemeinbildenden Fächer zusammengefasst hat, aus denen später die freien Künste wurden. Zusätzlich zu jenen Fächern, die dann im Mittelalter zum Kanon wurden, nahm er Medizin und Architektur auf. Die Hebdomades vel de imaginibus sind siebenhundert Kurzbiografien großer Griechen und Römer; davon sind nur vereinzelte Bruchstücke überliefert, ebenso wie von den Discliplinarum libri. Varro hatte großen Einfluss auf Autoren der ausgehenden Antike.Von überragender Bedeutung jedoch war die Naturalis historia des Politikers und Naturforschers Plinius. Der Verwalter Plinius war es gewohnt, die Welt in Einheiten und Untereinheiten eingeteilt zu sehen. Sein Werk wurde um das Jahr 77 n. Chr. geschrieben und gilt nun als einzige Enzyklopädie des Altertums, die vollständig erhalten ist. Im Mittelalter fand man sie in fast jeder anspruchsvollen Bibliothek. Das Besondere an ihr war die beanspruchte und immer wieder thematisierte Universalität. Sie diente Plinius auch als Erklärung dafür, dass er vieles nur sehr kurz beschreiben konnte.Ein anderer römischer Enzyklopädist mit weitreichendem Einfluss war Martianus Capella aus Nordafrika. Er verfasste zwischen 410 und 429 n. Chr. eine Enzyklopädie, die oft Liber de nuptiis Mercurii et Philologiae („Die Hochzeit der Philologie mit Merkur“) genannt wird und zum Teil in Versen geschrieben wurde. Die sieben Brautjungfern entsprachen den Kapiteln des Werks und diese wiederum den sieben freien Künsten. === Spätantike und frühes Mittelalter === Nach dem Untergang des Weströmischen Reiches bewahrte der Politiker Cassiodor mit seiner Kompilation Institutiones divinarum et saecularium litterarum (543–555 n. Chr.) Teile des antiken Wissens. Dazu hatte er sich in ein von ihm selbst gegründetes Kloster im Süden Italiens zurückgezogen. Während Cassiodor noch Weltliches und Geistliches voneinander trennte, integrierte zwei Generationen später Bischof Isidor von Sevilla die christliche Lehre in die antike Gelehrsamkeit.Isidors Enzyklopädie Etymologiae (um 620) wollte die Welt dadurch deuten, dass er Begriffe samt Wortherkunft erklärte. Durch das Erkennen des wahren Sinn eines Wortes wurde der Leser im Glauben unterwiesen. Isidor gab allerdings zu, dass manche Wörter willkürlich gewählt sind. Die Forschung hat viele Vorlagen Isidors ermittelt. Seine eigene Leistung bestand darin, daraus ausgewählt sowie eine klare, gut angeordnete Darstellung in einfachem Latein abgeliefert zu haben. Brüche im Text lassen vermuten, dass Isidor sein Werk nicht vollendet hat.Rabanus Maurus, der 847 zum Mainzer Erzbischof geweiht wurde, stellte ein Werk De universo zusammen, das großteils Isidors Text übernahm. Rabanus begann jedes seiner 22 Kapitel mit einer geeigneten Textstelle Isidors und ließ vieles weg, das ihm für das Verständnis der Heiligen Schrift unnötig erschien. Dazu gehörten für ihn insbesondere die freien Künste. Viele spätere Werke des Mittelalters folgten außerdem seinem Beispiel, mit Gott und den Engeln zu beginnen. === Hoch- und Spätmittelalter === Auf den antiken und frühmittelalterlichen Enzyklopädien bauten die Werke des europäischen Hochmittelalters auf (um 1050 bis 1250). Um 1230 stellte Arnoldus Saxo die lateinische Enzyklopädie De finibus rerum naturalium zusammen. Das größte enzyklopädische Werk aus der Mitte des 13. Jahrhunderts war das Speculum maius des Vincent von Beauvais mit fast zehntausend Kapiteln in achtzig Büchern. Es deckte nahezu alle Themen ab: im ersten Teil, Speculum naturale, Gott und die Schöpfung, einschließlich der Naturgeschichte; im Speculum doctrinale das praktische moralische Handeln sowie das scholastische Erbe; im Speculum historiale die Geschichte der Menschen von der Schöpfung bis ins dreizehnte Jahrhundert. Ein vierter Teil, Speculum morale, wurde nach Vincents Tod hinzugefügt und basierte vor allem auf Thomas von Aquins Werken.Der Südniederländer Jacob van Maerlant verteilte sein enzyklopädisches Wissen auf mehrere Werke: Im Alexanderroman Alexanders Geesten (um 1260) band er tausend Verse ein, die einen gereimten Weltatlas ausmachen. In Der naturen bloeme (um 1270) behandelte er die Natur, und im Spiegel historiael (um 1285) die Weltgeschichte. Er war der erste europäische Enzyklopädist, der in einer (nichtromanischen) Volkssprache geschrieben hat. Seine Werke sind vor allem Bearbeitungen lateinischer Vorlagen, wie De natura rerum von Thomas von Cantimpré und Speculum historiale von Vincent von Beauvais, doch lässt er viele Details weg, wählt aus, fügt Inhalte von anderen Autoren hinzu und schöpft zu einem geringen Teil auch aus eigenem Wissen von der Welt. Er moralisierte und glaubte zum Beispiel an die Zauberkraft von Edelsteinen. Dennoch steht Maerlant für eine vergleichsweise moderne, kritisch-forschende Naturauffassung im Geiste des Albertus Magnus. Zu den mittelalterlichen Vorläufern heutiger Enzyklopädien zählt auch das im 13. Jahrhundert entstandene Werk De proprietatibus rerum von Bartholomaeus Anglicus.Im Spätmittelalter und in der Renaissance (ca. 1300–1600) zog teilweise bereits eine Darstellung ein, die wissenschaftlicher auftrat und weniger auf dem Christentum beruhte. So befreite sich das anonyme Compendium philosophicae (um 1300) von den Legenden, wie sie seit Plinius durch die Enzyklopädien wanderten; der spanische Humanist Juan Luis Vives baute in De disciplinis seine Argumente auf der Natur, nicht auf religiöser Autorität auf. Vives wollte nicht über die Natur spekulieren, sondern die Natur beobachten, um für sich und seine Mitmenschen etwas Praktisches zu lernen. Trotz dieser Ansätze bevölkerten bis ins 18. Jahrhundert Wundertiere und Monster die Enzyklopädien, wo sie unproblematisch der Natur zugerechnet wurden. === Außereuropäische Kulturen === Mehr noch als die westlichen waren die chinesischen Enzyklopädien Zusammenstellungen bedeutender Literatur. Im Laufe der Jahrhunderte wurden sie eher weitergeführt als erneuert. Oft vor allem für die Ausbildung von Beamten bestimmt, folgten sie normalerweise einer traditionellen Anordnung. Die erste bekannte chinesische Enzyklopädie war der „Kaiserspiegel“ Huang-lan, der etwa 220 nach Christus auf Befehl des Kaisers erstellt wurde. Aus diesem Werk ist nichts überliefert. Das T’ung-tien, etwa 801 fertiggestellt, behandelt Staatskunst und Wirtschaft und wurde mit Ergänzungsbänden bis ins 20. Jahrhundert weitergeführt. Eine der wichtigsten Enzyklopädien, Yü-hai, wurde etwa 1267 zusammengestellt und erschien 1738 in 240 gedruckten Bänden. Als erste moderne chinesische Enzyklopädie gilt die Tz’u-yüan (1915), sie gab die Richtung für spätere Werke vor.Der persische Gelehrte und Staatsmann Muhammad ibn Ahmad al-Chwārizmi stellte 975–997 einen arabischen „Schlüssel zu den Wissenschaften“ zusammen, Mafātīḥ al-ʿulūm. Er war zweifellos mit den Grundzügen der griechischen Geisteswelt bekannt und bezog sich teilweise auf Werke des Philo, Nikomachos oder Euklid. Seine Enzyklopädie teilt sich in einen „einheimischen“, arabischen Teil, darunter das Meiste, das heute als Geisteswissenschaften angesehen wird, und einen „fremden“.Die Brüder der Reinheit in Basra (heutiger Irak), eine Gruppe von neuplatonischen Philosophen, die der Ismāʿīlīya nahestanden, waren vor allem 980–999 aktiv und arbeiteten gemeinsam an einer Enzyklopädie. Ihre Kompilation wird Rasāʾil Iḫwān aṣ-Ṣafāʾ („Sendschreiben der Brüder der Reinheit“) genannt. Auch sie kannten die griechischen Gelehrten und hatten ausgesprochene Vorlieben. Umgekehrt gibt es kaum Anzeichen dafür, dass die westlichen Enzyklopädie-Autoren die arabisch-islamischen Quellen gekannt hätten. Die chinesischen Enzyklopädien wiederum waren sowohl vom christlichen als auch vom islamischen Kulturkreis getrennt. === Frühe Neuzeit === Margarita Philosophica von Gregor Reisch (1503) war eine weit verbreitete allgemeine Enzyklopädie, ein Lehrbuch für die sieben freien Künste. Sie war die erste Enzyklopädie, die nicht in Handschriften, sondern sofort gedruckt erschien. Ebenso wie die Encyclopaedia von Johannes Aventinus (1517) und die Encyclopaedia Cursus Philosophici von Johann Heinrich Alsted (1630) folgte sie einer systematischen Ordnung. Das Grand dictionaire historique (1674) von Louis Moréri war das erste große, nationalsprachliche, alphabetische Nachschlagewerk für die Themenbereiche Geschichte, Biografie und Erdkunde. In seiner Tradition steht das eigentümliche Dictionnaire historique et critique (1696/1697) von Pierre Bayle, das Moréris Werk ursprünglich korrigieren und ergänzen sollte. Zu eher knappen Artikeln lieferte Bayle einen überaus ausführlichen und kritischen Apparat von Anmerkungen. Da Bayle in erster Linie diejenigen Gegenstände behandelte, die ihn persönlich interessierten, ist sein Werk als ein Ego-Dokument, eine intellektuelle Autobiografie anzusehen. Es war eher neben, nicht anstelle einer allgemein gehaltenen Enzyklopädie zu verwenden.Denkt man bei Enzyklopädien heutzutage vor allem an biografisches und historiografisches Wissen und weniger an naturwissenschaftliches, so war dies um 1700 umgekehrt. Damals entstanden die dictionnaires des arts et des sciences, Wörterbücher der (mechanischen, handwerklichen) Künste und der Wissenschaften. Biografische und historiografische Informationen fehlten großteils. Als Wörterbücher brachen sie, im Unterschied zu den meisten früheren Werken, mit der thematischen Anordnung. Mit Antoine Furetières Dictionnaire universel des arts et sciences (1690) begann diese neue Richtung in der Geschichte der Enzyklopädie. Vergleichbar waren das Lexicon technicum (1704) von John Harris und dann die Cyclopaedia (1728) von Ephraim Chambers. Doch schon in direkter Nachfolge dieser erfolgreichen Werke kam es zu einem weiteren Schritt, der Überbrückung des Gegensatzes von naturwissenschaftlich-philosophischem und biografisch-historischem Nachschlagewerk. Hier ist nicht zuletzt das eben in diesem Sinne benannte Universal-Lexicon (1732–1754) von Johann Heinrich Zedler hervorzuheben. Das in 64 Bänden herausgegebene Großwerk war die erste Enzyklopädie mit Biografien noch lebender Personen. === Zeitalter der Aufklärung === Die mit Abstand berühmteste Enzyklopädie der Geschichte ist die große französische Encyclopédie (1751–1772, Ergänzungsbände bis 1780). Sie führte zwar kaum eigentliche Neuerungen ein, wurde aber gerühmt wegen ihres Umfanges, der thematischen Breite, der systematischen Unterbauung, der vielen Abbildungen, nämlich zweitausendfünfhundert, während die Konkurrenten allenfalls einige hundert Abbildungen aufwiesen. Dennoch war sie weniger erfolgreich und einflussreich als oft angenommen, denn allein schon wegen ihrer schieren Größe erreichte sie relativ wenige Leser, verglichen etwa mit der weitverbreiteten und mehrfach wiederaufgelegten Cyclopaedia.Vor allem gilt sie mit ihrer kritischen und weltlichen Einstellung als Schmuckstück der Aufklärung, der gesamteuropäischen Bildungsoffensive. Angriffe von Seiten der Kirche und Schwierigkeiten mit der Zensur überschatteten ihre Entstehung ebenso wie spätere Streitigkeiten zwischen den Herausgebern Denis Diderot und Jean-Baptiste le Rond d’Alembert. Diderot und viele seiner Mitautoren brachten an verschiedenen Stellen in der Enzyklopädie Kritik gegen bestimmte Vorstellungen in der herrschenden Gesellschaft an. Das Werk war als solches das Ergebnis der Leistung vieler Enzyklopädisten und konnte wohl aber letztlich nur dank des Einsatzes von Louis de Jaucourt endgültig fertiggestellt werden, letzterer stellte sogar auf eigene Kosten Sekretäre ein. In den letzten zehn Bänden, die er großteils selbst geschrieben hat, gibt es weniger polemische Fundstellen als in den ersten sieben, was sie für den heutigen Leser weniger interessant machen könnte. Im englischsprachigen Raum blühte die Encyclopaedia Britannica, zunächst in Schottland herausgegeben, ab dem 20. Jahrhundert in den USA. Die erste Auflage (1768–1771) bestand aus drei Bänden und war in Qualität und Erfolg eher bescheiden. Die Qualitätsverbesserung der zweiten Auflage trug zum Erfolg der dritten bei, die bereits 18 Bände umfasste. Wenn die Encyclopaedia Britannica die Zeiten überdauerte, während die große französische Encyclopédie ihren letzten, bescheidenen und umgeformten Nachfolger 1832 hatte, lag dies am Mut der Herausgeber, Neuerungen zuzulassen. Außerdem war die politische Entwicklung in Großbritannien ruhiger als in Frankreich, das unter den Folgen der Revolution von 1789 zu leiden hatte. === 19. Jahrhundert === Um 1800 trat ein neuer erfolgreicher Typus der Enzyklopädien auf. Entstanden war er aus dem Konversationslexikon, das zunächst Renatus Gotthelf Löbel mitgestaltet hatte. 1808 wurde sein unvollendetes Werk, 1796 begonnen, von Friedrich Arnold Brockhaus aufgekauft. Es behandelte zeitgenössische Themen über Politik und Gesellschaft, um eine gebildete Unterhaltung in einer sozial durchaus gemischten Gruppe zu ermöglichen. Mit den Auflagen von 1824 und 1827 ging der Verlag F. A. Brockhaus dazu über, zeitlosere Themen aus der Geschichte, später auch aus Technik und Naturwissenschaft zu bevorzugen, da die stete Erneuerung der Bände mit aktuellen Themen zu teuer wurde.Im Brockhaus waren die Themen auf viele kurze Artikel aufgeteilt, wodurch das Lexikon schnell über einen Begriff informieren konnte. Ähnlich machte es auch die Britannica, die anfänglich noch teilweise aus langen Artikeln bestanden hatte. Während der Brockhaus von den Geisteswissenschaften her kam und die Naturwissenschaften später integrierte, war es bei der Britannica umgekehrt.In jenem Jahrhundert wurde das Schulwesen in den europäischen Ländern erheblich ausgeweitet. Zusammen mit drucktechnischen Verbesserungen führte dies dazu, dass immer mehr Menschen lesen konnten. Gab es um 1800 im deutschsprachigen Raum 470 Verlagsbuchhandlungen, so waren es hundert Jahre später im Deutschen Reich 9360. Entsprechend wurden Enzyklopädien nicht mehr in Auflagen zu mehreren Tausend, sondern zu mehreren Zehntausend oder gar Hunderttausend gedruckt. Von 1860 bis 1900 bemühten die Enzyklopädien sich um eine gleichmäßigere Behandlung und um Standardisierung. Die Wertschätzung für statistisches Material war groß.In Deutschland teilten sich vor allem der Brockhaus, der Meyer, der Pierer und für das katholische Publikum der Herder den Markt. Brockhaus und Meyer hatten je ein Drittel Marktanteil. Daneben gab es Ende des 19. Jahrhunderts etwa fünfzig weitere Verlage, die Enzyklopädien anboten. Manche Enzyklopädien schlossen mit ihrem Namen bewusst an einen berühmten Vorläufer an, so die Chambers’ Encyclopaedia der Brüder Chambers, die nur dem Namen nach an die Cyclopaedia von Ephraim Chambers erinnerte. === 20. Jahrhundert === Um 1900 verfügten die meisten westlichen Länder über wenigstens eine umfangreiche und neuere Enzyklopädie. Manche konnten eine Tradition von fünfzig oder gar hundert Jahren vorweisen. Fachleute behandelten in der Sprache des betreffenden Landes viele Themen. Die Beiträge waren in alphabetischer Reihenfolge und schlossen Biografien lebender Personen mit ein, ebenso Bebilderungen, Landkarten, Querverweise, Indizes und Literaturlisten am Ende längerer Artikel. Wich eine Enzyklopädie von diesem Konzept ab, überlebte sie nicht lange. Doch auch die übrigen kamen nur über ein oder zwei Auflagen hinaus, wenn fähige Herausgeber dahinter standen. Ferner konnten Revolutionen und Weltkriege gute Enzyklopädien zu Fall bringen.Der Erste Weltkrieg unterbrach die Entwicklung teilweise; und unter anderem in Deutschland erschwerte die Inflation zunächst die Wiederaufnahme. Bei Meyer etwa führte dies zu der Entscheidung, den Großen Meyer von 20 auf zwölf Bände zu verkleinern, wodurch ein neuer, mittelgroßer Enzyklopädie-Typ entstand. In den 1920er-Jahren wandten die Großenzyklopädien sich an ein deutlich breiteres Publikum als vor dem Krieg und legten noch mehr Wert auf die sachliche Darstellung. Das Layout war moderner, es gab mehr Abbildungen; beim Brockhaus (ab 1928) wurden farbige Bilder per Hand eingeklebt. Die Werbung wurde erheblich ausgeweitet, in Kundenzeitschriften und Informationsbroschüren stellte Brockhaus nicht nur das Produkt, sondern auch Idee und Beteiligte vor; Marktanalysen wurden eingeführt.Eine Herausforderung eigener Art waren die totalitären Regimes. Beispielsweise im nationalsozialistischen Deutschland (1933–1945) wurde der Angestelltenbereich des Brockhaus-Verlags gleichgeschaltet, inhaltlich musste man Zugeständnisse an die parteiamtliche Prüfungskommission machen. So nahm der 1933 neu aufgelegte Kleine Brockhaus aktualisierte Biografien zu Hitler, Göring und anderen NS-Größen auf, ebenso neue politische Begriffe. Die Parteiideologen waren damit nicht zufrieden, aber der Verlag verwies auf das internationale Ansehen des Brockhaus, das auch aus wirtschaftlichen Gründen nicht gefährdet werden dürfe. Wesentlich weniger zurückhaltend war das Bibliographische Institut. Seine Vorstandsmitglieder schlossen sich rasch der NSDAP an, 1939 bewarb man den Meyer als einziges parteiamtlich empfohlenes Großlexikon.In den Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg boomten Enzyklopädien und ihre Verlage. Im deutschsprachigen Raum führte das dazu, dass die beiden bedeutendsten Enzyklopädie-Verlage, F. A. Brockhaus und Bibliographisches Institut (Meyer), eine starke Konkurrenz von Seiten anderer Verlage erlebten. Vor allem Großverlage erschlossen mit populären Nachschlagewerken eine breitere Leserschaft und einen erheblichen Marktanteil bei den kleinen und mittelgroßen Enzyklopädien. Piper brachte 1972 ein Jugendlexikon heraus, Bertelsmann kam mit der zehnbändigen Lexikothek (1972, mit thematischen Zusatzbänden), Droemer-Knaur zwei Jahre später ebenfalls mit einem zehnbändigen Werk. Die Einzelhandelsketten Kaufhof und Tchibo boten einbändige Lexika an. Brockhaus und Bibliographisches Institut fusionierten 1984; im Jahre 1988 kam Langenscheidt als Mehrheitsaktionär hinzu, womit einem großzügigen Angebot von Robert Maxwell begegnet wurde. === Elektronische Enzyklopädien === Bereits in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts gab es Ideen zu einer neuartigen Form der Enzyklopädie. Der Science-Fiction-Autor H. G. Wells träumte um 1938 beispielsweise von einer World Encyclopaedia, die keine hastig geschriebenen Artikel anbieten solle, sondern sorgfältig zusammengestellte Auszüge, die beständig von Experten überprüft werden. Wells glaubte an den damals neuen Mikrofilm als billiges und universelles Medium. Dreißig Jahre später kommentierte der Enzyklopädie-Experte Robert Collison, dass die perfekte Enzyklopädie sich wohl nie in der von Wells vorgestellten Form verwirklichen lasse. Es gebe diese perfekte Enzyklopädie bereits in der unperfekten Form der großen Bibliotheken, mit Millionen von Büchern, durch Indizes und Kataloge erschlossen. Eine Schar von Bibliothekaren und Bibliografen stellten das alles Einzelpersonen oder Gruppen der Öffentlichkeit zur Verfügung. Täglich lieferten Autoren und Herausgeber neue Bücher und Artikel. In den 1980er-Jahren kamen die PCs in die Privathaushalte. Doch die elektronische beziehungsweise digitale Herausforderung wurde von den Enzyklopädie-Verlagen lange Zeit nicht erkannt. Im Vorwort der 26-bändigen niederländischen Winkler Prins von 1990 heißt es, die Redaktion habe die eventuelle Anwendung neuer, elektronischer Medien untersucht. Doch für das Hintergrundwissen, wie diese Enzyklopädie es anbiete, sei und bleibe die klassische Buchform das handlichste Medium.1985 wollte die Software-Firma Microsoft eine Enzyklopädie auf CD-ROM herausbringen. Der gewünschte Partner, Encyclopaedia Britannica, schlug eine Zusammenarbeit jedoch aus. Damals hatten nur vier bis fünf Prozent der US-Haushalte einen Computer, außerdem fürchtete der Britannica-Verlag um das aufgebaute intellektuelle Image der eigenen Enzyklopädie. In den 1990er-Jahren kam dann der große Durchbruch der elektronischen Enzyklopädien. Der Brockhaus sah 2005/2006 jedoch auch einen rückläufigen Trend: Enzyklopädien würden wieder gedruckt werden. Er verwies auf sich selbst sowie auf die französische Encyclopædia Universalis (2002) und die Encyclopaedia Britannica (2002/2003). Es sei von einer dauerhaften doppelgleisigen Entwicklung mit elektronischen und Printenzyklopädien auszugehen. ==== CD-ROM-Enzyklopädien ==== 1985 erschien bereits eine reine Text-Enzyklopädie auf CD-ROM, Academic American Encyclopedia von Grolier, auf der Basis des Betriebssystems DOS. Dann brachte im April 1989 der Britannica-Verlag eine CD-ROM-Enzyklopädie heraus, allerdings nicht das Flaggschiff unter eigenem Namen. Man veröffentlichte vielmehr eine Multimedia-Version der erworbenen Compton’s Encyclopaedia.Microsoft seinerseits hatte 1989 die auslaufende Funk and Wagnalls Standard Reference Encyclopedia aufgekauft, die billig in Supermärkten angeboten worden war. Mit einem sehr kleinen Mitarbeiterstab wurden die Texte aufgefrischt und erweitert, auch mit Bildern und Audio-Dateien versehen. 1993 kamen sie dann als Microsoft Encarta heraus. Die Kunden erhielten sie zusammen mit dem Computer-Betriebssystem Windows, sonst kostete sie hundert Dollar. Damals besaßen schon zwanzig Prozent der US-Haushalte einen Computer.Ein Jahr später folgte Britannica mit einer CD-ROM-Version der Encyclopaedia Britannica. Man erhielt sie als Zugabe zur Druckversion oder aber für stattliche 1200 Dollar. Bis 1996 senkte Britannica den Preis auf zweihundert Dollar, doch da beherrschte die Microsoft Encarta den Markt für digitale Enzyklopädien bereits. Britannica war von dem Ansehen seiner Enzyklopädie so überzeugt gewesen, dass es den neuartigen Konkurrenten nicht ernst genommen hatte. Von 1990 bis 1996 sanken die Einkünfte aus der Encyclopaedia Britannica von 650 Millionen auf nur noch 325 Millionen Dollar jährlich. Der Eigentümer verkaufte sie 1996 für 135 Millionen an einen Schweizer Investor. ==== Internet-Enzyklopädien ==== Schon 1983 erschien mit der Academic American Encyclopedia die erste Enzyklopädie, die sich online präsentierte und ihren Inhalt über kommerzielle Datennetze wie CompuServe anbot. Als das Internet einen eigentlichen Massenmarkt erschloss, waren die ersten Online-Enzyklopädien 1995 die Academic American Encyclopedia sowie die Encyclopaedia Britannica.Jene Enzyklopädien waren nur gegen Bezahlung aufrufbar. Normalerweise zahlte der Kunde ein Jahresabonnement für den Zugang. Daneben kam es zu Vorschlägen für Online-Enzyklopädien auf der Grundlage Freien Wissens: Die Inhalte sollten unter gewissen Bedingungen wie der Herkunftsnennung frei und kostenlos bearbeitbar und weiterverbreitbar sein. Dieser Gedanke tauchte zwar noch nicht ausdrücklich in Rick Gates’ Aufruf zu einer Internet Encyclopedia von 1993 auf, wohl aber in Richard Stallmans Ankündigung (1999) einer Free Universal Encyclopaedia im Rahmen des GNU-Software-Projektes. Als der Internet-Unternehmer Jimmy Wales und sein Angestellter Larry Sanger im Jahre 2000 die Nupedia online stellten, war das Echo gering. Nennenswerten Andrang erhielt eine „freie“ Internet-Enzyklopädie erst, als Wales und Sanger das Wiki-Prinzip einführten. Bei einer solchen Website kann der Leser selbst unmittelbar Veränderungen anbringen. Der 15. Januar 2001 gilt als der Geburtstag der Wikipedia, die seitdem zur mit Abstand größten Enzyklopädie angewachsen ist. Sie wird überwiegend von ehrenamtlichen Autoren geschrieben, die Kosten für den Server-Betrieb werden durch Spenden an die Betreiber-Stiftung gedeckt, die gemeinnützige Wikimedia Foundation. Anfänglichen Zweifeln an der Zuverlässigkeit der Wikipedia wurde von mehreren Studien begegnet, dass die Fehlerrate vergleichbar mit der in traditionellen Enzyklopädien sei. Kritischer sind Vergleiche mit Fachenzyklopädien und Fachliteratur. Qualität hat aber nicht nur mit sachlicher Korrektheit zu tun, wie der Historiker Roy Rosenzweig 2006 anführte, sondern auch mit gutem Stil und Prägnanz. Hier lasse die Wikipedia noch oft zu wünschen übrig.Außer der Wikipedia existieren weitere Online-Enzyklopädien, teils auf anderen Grundlagen beruhend. So verlangt Citizendium (seit 2006) beispielsweise die namentliche Registrierung der Autoren, die ausgewiesene Fachleute für ihr Thema sein sollen. Google Knol (2008–2011) überschreitet die Grenzen einer Enzyklopädie und gibt den Autoren größte Freiheit, inhaltlich und bezüglich der Eigentümerschaft ihrer Texte. Wissen.de (seit 2000) hat ein breites Angebot auch von nicht unbedingt enzyklopädischen Inhalten, mit Quizfragen und viel Multimedia. Dadurch ist die Nachfrage nach Printenzyklopädien und kostenpflichtigen elektronischen Enzyklopädien stark zurückgegangen. 2009 gab die Microsoft Encarta auf, die Britannica Online bemüht sich, mit Anzeigen zu überleben. Dabei hat sie sich teilweise der Wikipedia angepasst, denn sie ist kostenlos zugänglich und ruft die Leser zu Verbesserungen auf, die allerdings von Angestellten kontrolliert werden. Der Brockhaus wurde 2009 von der Bertelsmann-Tochter Wissen Media übernommen; das Bundeskartellamt hatte trotz der marktbeherrschenden Position von Bertelsmann die Übernahme genehmigt, da der Lexikonmarkt zu einem Bagatellmarkt geschrumpft sei. == Fachenzyklopädien == Das Wort allgemein bei allgemeines Nachschlagewerk bezieht sich sowohl auf das allgemeine Publikum als auch auf die Allgemeinheit (Universalität) des Inhalts. Fachenzyklopädien (auch Spezialenzyklopädien genannt) beschränken sich auf ein bestimmtes Fach wie die Psychologie oder ein Themengebiet wie die Dinosaurier. Oft, wenn auch nicht notwendig, sprechen sie eher ein Fachpublikum an als ein allgemeines Publikum, denn vor allem Fachleute interessieren sich für das Fach in besonderem Maße. Zur Abgrenzung von der Fachenzyklopädie nennt man die allgemeine Enzyklopädie zuweilen auch Universalenzyklopädie. Definiert man eine Enzyklopädie allerdings als ein fächerübergreifendes Nachschlagewerk, dann ist Universalenzyklopädie ein Pleonasmus und Fachenzyklopädie ein Oxymoron. Wenngleich die meisten Fachenzyklopädien ebenso wie die allgemeinen Enzyklopädien nach dem Alphabet geordnet sind, so hat sich bei Fachenzyklopädien die thematische Anordnung noch etwas stärker gehalten. Allerdings erhalten fachlich begrenzte Nachschlagewerke in thematischer Anordnung normalerweise die Bezeichnung Handbuch. Die systematische Anordnung bietet sich an, wenn das Fach bereits selbst stark einer Systematik folgt, wie die Biologie mit der binären Nomenklatur. Als vielleicht erste Fachenzyklopädie kann die Summa de vitiis et virtutibus (12. Jahrhundert) angesehen werden. Darin behandelte Raoul Ardent die Theologie, Christus und die Erlösung, das praktische und asketische Leben, die vier Haupttugenden, das menschliche Verhalten.Von einzelnen Ausnahmen abgesehen entstanden Fachenzyklopädien vor allem seit dem 18. Jahrhundert, und zwar auf dem Gebiet der Biografie, wie das Allgemeine Gelehrten-Lexicon (1750/1751). Fachenzyklopädien folgten oft dem Aufstieg des entsprechenden Faches, so kam es im späten 18. Jahrhundert zum Dictionary of Chemistry (1795) und auch danach zu vielen weiteren Chemiewörterbüchern. Vergleichbar war der Publikationsreichtum nur auf dem Gebiet der Musik, beginnend mit dem Musikalischen Lexikon (1732) des Komponisten Johann Gottfried Walther. Auf ihrem Gebiet ohnegleichen ist die Paulys Realencyclopädie der classischen Altertumswissenschaft (1837–1864, 1890–1978).Eine der bekanntesten populären Fachenzyklopädien wurde Brehms Thierleben, begründet von dem Sachbuchautor Alfred Brehm 1864. Es erschien im Bibliographischen Institut, das auch Meyers Konversations-Lexikon herausbrachte. Die große Ausgabe aus den 1870er-Jahren hatte bereits 1.800 Abbildungen bei über 6.600 Seiten und zusätzlich Bildtafeln, die auch gesondert, zum Teil eingefärbt, erhältlich waren. Die dritte Auflage 1890–1893 setzte 220.000 Exemplare ab. 1911 brachten Tiermalerei und Naturphotographie ein neues Niveau der Abbildungen mit sich. Das Werk wurde, schließlich auch digital, bis ins 21. Jahrhundert weitergeführt. Seit dem Ende des 19. Jahrhunderts erschienen ferner Enzyklopädien über bestimmte Länder oder Regionen. Dabei sind die geografischen Enzyklopädien von den Nationalenzyklopädien zu unterscheiden, die sich auf ihr eigenes Land konzentrieren. Beispiele sind das Deutsche Kolonial-Lexikon (1920), The Modern Encyclopaedia of Australia and New Zealand (1964) und das Magyar életrajzi lexikon (1967–1969). Der letzte Band der Großen Sowjetischen Enzyklopädie (1. Auflage) hatte sich ausschließlich mit der Sowjetunion beschäftigt, er wurde 1950 als zweibändige Enzyklopädie der Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken in der DDR veröffentlicht. Der Fischer Weltalmanach (1959–2019) behandelt die Länder der Welt in alphabetischer Reihenfolge, und zwar in aktuell gehaltenen Bänden pro Jahr. Das größte jemals in deutscher Sprache gedruckte Lexikon hatte 242 Bände. Das Werk mit dem Titel Oeconomische Encyclopädie wurde zwischen 1773 und 1858 großteils von Johann Georg Krünitz herausgegeben. Die Universität Trier hat dieses Werk vollständig digitalisiert und online verfügbar gemacht. == Aufbau und Ordnung == Enzyklopädien hatten bis in die Frühe Neuzeit eher den Charakter von Sach- oder Lehrbüchern. Schwieriger noch scheint die Unterscheidung zwischen Enzyklopädien und Wörterbüchern zu sein. Es gibt keine scharfe Trennung nach Sachverhalten und Wörtern, denn kein Sprachwörterbuch kommt ohne Sacherklärung aus, kein Sachwörterbuch wie eine Enzyklopädie kann auf sprachliche Hinweise verzichten.Die einzelnen Beiträge zu einer Enzyklopädie sind entweder alphabetisch oder nach einem anderen System geordnet. Im letzteren Fall spricht man häufig von einer „systematischen“ Anordnung, wenngleich auch das Alphabet als System angesehen werden kann und daher der Ausdruck „nichtalphabetisch“ korrekter wäre. Die systematisch angeordneten Enzyklopädien kann man ferner danach unterscheiden, ob die Einteilung eher pragmatischer oder gar willkürlicher Art ist, oder ob ein philosophisches System dahinter steckt. Anstelle von „systematisch“ verwendet man oft auch den Ausdruck „thematisch“. === Systematische Anordnung === Für den wahren Gelehrten sei allein die systematische Anordnung zufriedenstellend, schrieb Robert Collison, weil sie nahe verwandte Themen nebeneinanderlege. Dabei ging er davon aus, dass die Enzyklopädie als ganze oder zumindest in großen Stücken gelesen wird. In der Natur gibt es aber keine zwingenden Zusammenhänge. Systeme sind beliebig, weil sie durch einen menschlichen Reflexionsprozess zustande kommen. Dennoch hat eine systematische Darstellung einen didaktischen Wert, wenn sie logisch und praktikabel ist.Plinius beispielsweise hat viele verschiedene Ordnungsprinzipien verwendet. In der Erdkunde beginnt er mit der vertrauten Küstenlinie Europas und schreitet dann fort zu exotischeren Erdteilen; die Menschen behandelte er vor den Tieren, da die Menschen wichtiger seien; in der Zoologie beginnt er mit den größten Tieren; bei den Seelebewesen mit denen des Indischen Ozeans, weil diese am zahlreichsten seien. Der erste behandelte römische Baum ist die Weinrebe, da sie am nützlichsten ist. Die Künstler erscheinen in der chronologischen Reihenfolge, Edelsteine nach ihrem Preis.Eine systematische Anordnung war traditionell die übliche, bis seit dem 17./18. Jahrhundert die alphabetische sich durchsetzte. Dennoch gab es auch noch danach einzelne größere nichtalphabetische Werke, wie die unvollendet gebliebene Kultur der Gegenwart (1905–1926), die französische Bordas Encyclopédie von 1971 und die Eerste Nederlandse Systematisch Ingerichte Encyclopaedie (ENSIE, 1946–1960). In der ursprünglich zehnbändigen ENSIE sind einzelne namentlich gezeichnete Großbeiträge nach thematischer Ordnung aufgeführt. Für die Suche nach einem einzelnen Gegenstand muss man das Register bemühen, das wiederum eine Art Lexikon für sich ist.Nachdem die Enzyklopädien meist alphabetisch angeordnet wurden, brachten viele Autoren doch noch im Vorwort oder in der Einleitung eine Wissenssystematik an. Die Encyclopaedia Britannica hatte (wie schon der Brockhaus 1958) seit 1974 einen einführenden Band namens Propaedia. Darin legte der Herausgeber Mortimer Adler einleitend die Vorzüge eines thematischen Systems dar. Damit könne man einen Gegenstand finden, selbst wenn man die Bezeichnung nicht kennt. Der Band schlüsselte das Wissen auf: zunächst in zehn Großthemen, innerhalb dieser in eine Vielzahl an Sektionen. Am Ende der Sektionen wurde auf entsprechende konkrete Artikel verwiesen. Später fügte die Encyclopaedia Britannica jedoch noch zwei Index-Bände hinzu. Bei der Propaedia heißt es, sie diene vor allem dazu zu zeigen, welche Themen behandelt werden, während der Index zeige, wo diese behandelt werden.1985 ergab eine Umfrage unter amerikanischen wissenschaftlichen Bibliotheken, dass 77 Prozent die neue Anordnung der Britannica weniger nützlich fanden als die alte. Eine Antwort kommentierte, die Britannica käme mit einer vierseitigen Anleitung daher. „Alles, das so viel Erklärung benötigt, ist verdammt nochmal zu kompliziert.“Keine Enzyklopädie an sich, aber doch enzyklopädischer Art sind Sachbuchreihen, in denen nach einem einheitlichen Konzept viele verschiedene Themen behandelt werden. International zu den bekanntesten gehört die 1941 gegründete französische Reihe Que sais-je ? mit über dreitausend Titeln. In Deutschland erscheint bei C. H. Beck die Reihe C. H. Beck Wissen. === Alphabetische Anordnung === Lange Zeit gab es überhaupt nur wenige Texte in alphabetischer Anordnung. Es handelte sich im Mittelalter vor allem um Glossare, also kurze Wörtersammlungen, oder Listen wie zum Beispiel von Arzneien. Glossare entstanden seit dem 7. Jahrhundert, und zwar dadurch, dass Leser sich schwierige Wörter auf Einzelblättern (nach Anfangsbuchstaben) notierten und dann daraus eine Liste machten. Die alphabetische Anordnung befolgte man meist nur nach dem ersten oder höchstens dritten Buchstaben, wobei man nicht sehr konsequent vorging. Viele Wörter hatten zudem noch keine einheitliche Schreibweise. Selbst im 13. Jahrhundert war die strenge alphabetische Reihenfolge noch selten.Als einige der wenigen frühen alphabetischen Enzyklopädien werden unter anderem genannt: De significatu verborum (2. Hälfte des 2. Jahrhunderts) von Marcus Verrius Flaccus; Liber glossarum (8. Jahrhundert) von Ansileubus; und vor allem die Suda (um 1000) aus dem Byzantinischen Reich. Sie haben allerdings eher den Charakter von Sprachwörterbüchern; bezeichnenderweise sind die Einträge in der Suda meist sehr kurz und befassen sich oft mit sprachlichen Themen, etwa mit Redewendungen. Nach den alphabetischen Werken des 17. Jahrhunderts war es dann vor allem die große französische Encyclopédie (1751–1772), die den Begriff „Enzyklopädie“ endgültig mit der alphabetischen Anordnung verband. Ulrich Johannes Schneider verweist darauf, dass Enzyklopädien zuvor der „universitären und akademischen Kultur der Wissensdisponierung durch Systematisierung und Hierarchisierung“ folgten. Die alphabetische Anordnung aber habe die Enzyklopädien davon entkoppelt. Sie ist sachorientiert und gewichtet die Inhalte neutral. Die alphabetische Anordnung verbreitete sich, weil sie den schnellen Zugang erleichterte. Eine dieser Enzyklopädien, die Grote Oosthoek, meinte 1977 im Vorwort, es handele sich um eine Frage der Nützlichkeit, nicht des wissenschaftlichen Prinzips. Die schnelle Information aus fremden Fachgebieten erhalte man durch einen großen Reichtum an Stichwörtern, so spare man Zeit und Energie. Laut einer Umfrage von 1985 ist ready reference, das schnelle Nachschlagen, der wichtigste Zweck einer Enzyklopädie, während das systematische Selbststudium wesentlich seltener genannt wurde.Für den Herausgeber war es einfacher, wenn ein größeres Werk thematisch aufgeteilt war. Ein thematisch abgegrenzter Band konnte leicht unabhängig von anderen geplant werden. Bei der alphabetischen Anordnung hingegen muss (zumindest theoretisch) bereits von Anfang an feststehen, wie man den Inhalt auf die Bände verteilt. Man musste alle Lemmata (Stichwörter) kennen und die Querverweise vereinbaren.Selbst diejenigen Enzyklopädisten, die für die systematische Einteilung plädierten, entschieden sich aus praktischen Gründen für die alphabetische Anordnung. Dazu gehörte auch Jean-Baptiste le Rond d’Alembert von der großen französischen Encyclopédie. Ein späterer Herausgeber und Bearbeiter dieses Werks, Charles-Joseph Panckoucke, wollte wieder eine thematische Anordnung durchsetzen. Doch er verteilte die Artikel nur auf verschiedene Sachgebiete, und innerhalb dieser Sachgebiete erschienen die Artikel in alphabetischer Reihung. Diese Encyclopédie méthodique par ordre des matières war damit eine Sammlung von 39 Sachwörterbüchern. === Artikellänge === Auch innerhalb der alphabetisch angeordneten Werke gibt es immer noch eine Reihe von unterschiedlichen Möglichkeiten. So können Artikel zu Einzelthemen lang oder kurz sein. Das ursprüngliche Konversationslexikon Brockhaus ist das typische Beispiel für eine Kurze-Artikel-Enzyklopädie, mit vielen, dafür kurzen, einen einzelnen Gegenstand beschreibenden Artikeln. Für den Zusammenhang sorgen Querverweise auf andere Artikel oder vereinzelte zusammenfassende Beiträge. Lange-Artikel-Enzyklopädien hingegen enthalten große, an lehrbuchartige Abhandlungen erinnernde Artikel zu relativ weiten Themen. Ein Beispiel ist der Macropaedia genannte Teil der Encyclopaedia Britannica in den 1970er- bis 1990er-Jahren. Hier ist es für den Leser nicht immer deutlich, in welchem Großartikel er den ihn interessierenden Gegenstand suchen muss. Als Nachschlagewerk gut nutzbar ist eine solche Enzyklopädie daher nur mit einem Index, ähnlich wie bei einer systematischen Anordnung. Die Idee, lange, überblickende Artikel zu verwenden, hatte erstmals möglicherweise Dennis de Coetlogon mit seiner Universal history. Sie diente wohl der Encyclopaedia Britannica als Vorbild (diese hatte ursprünglich zum Teil lange Artikel, treatises oder dissertations genannt). Längere Artikel waren auch eine Gegenbewegung zum immer definitorischer und stichwortartiger werdenden Lexikon. Allerdings konnten lange Artikel nicht nur einer bewussten Abkehr von den eher kurzen dictionnaire-Artikeln entstammen. Manchmal waren sie Folge einer schwachen Redaktionspolitik, welche die Schreiblust der Autoren wenig einschränkte oder Texte einfach kopierte. === Interne Hilfsmittel === Für die praktische Nutzung einer Enzyklopädie wurden im Laufe der Zeit verschiedene Hilfsmittel entwickelt. Schon im Altertum war es gängig, einen langen Text in Kapitel aufzuteilen. Entsprechende Inhaltsverzeichnisse sind hingegen eine relativ späte Entwicklung. Sie entstanden aus Titeln der Werke. Vor dem 12. Jahrhundert waren sie noch sehr selten und wurden erst im 13. Jahrhundert geläufig.So hat die Naturalis historia ein von Plinius verfasstes summarium, eine Übersicht. In manchen Handschriften findet man das summarium ungeteilt am Beginn, manchmal auf die einzelnen Bücher zerteilt, wie es wohl im Zeitalter der Buchrollen am praktischsten war. Manchmal steht der Text sowohl am Anfang als auch noch einmal später vor den einzelnen Büchern. Wie Plinius selbst es gehandhabt hatte, ist heute nicht mehr festzustellen. Während Plinius in Prosa den Inhalt des Werkes beschrieb, machten später manche Druckausgaben daraus eine Tabelle, einem modernen Inhaltsverzeichnis ähnlich. Dabei gingen sie durchaus frei mit dem Text um und passten ihn an die vermuteten Bedürfnisse der Leser an. Indizes, also Register von Stichwörtern, tauchten ebenfalls im 13. Jahrhundert auf und verbreiteten sich rasch. In einer Enzyklopädie hatte zuerst Antonio Zara in seiner Anatomia ingeniorum et scientiarum (1614) eine Art Index verwendet; wirklich taugliche Indizes kamen erst im 19. Jahrhundert in die Enzyklopädien.Eines der ersten Werke mit Querverweisen war der Fons memorabilium von Domenico Bandini (ca. 1440). Spätestens im 18. Jahrhundert wurden sie gängig. Im 20. Jahrhundert gingen einige Enzyklopädien nach dem Vorbild des Brockhaus dazu über, den Verweis mithilfe eines Pfeilsymbols zu realisieren. Im digitalen Zeitalter verwendet man Hyperlinks. === Inhaltliche Balance === Ein häufig wiederkehrendes Thema in der Forschung ist die Balance zwischen den Fachgebieten in einer Enzyklopädie. Diese Balance oder Ausgewogenheit fehlt zum Beispiel, wenn in einem Werk die Geschichte oder Biografie viel Raum erhalten, Naturwissenschaften und Technik hingegen deutlich weniger. In einer Fachenzyklopädie wird die mangelhafte Balance kritisiert, wenn etwa in einem altertumswissenschaftlichen Werk die politische Geschichte sehr viel ausführlicher behandelt wird als die Sozialgeschichte. Zuweilen bezieht sich die Kritik auf einzelne Artikel, wobei gemessen wird, welches Lemma mehr Raum erhalten hat als ein anderes. Harvey Einbinder fand an der Encyclopaedia Britannica von 1963 beispielsweise den Artikel über William Benton bemerkenswert. Dieser amerikanische Politiker ist der Enzyklopädie zufolge im Senat „ein Verfechter der Freiheit für die gesamte Welt“ geworden. Der Artikel ist länger als der über den ehemaligen Vizepräsidenten Richard Nixon; wie Einbinder mutmaßt, weil Benton auch Herausgeber der Encyclopaedia Britannica war. Einbinder kritisierte auch, dass der Artikel „Music“ zwar Béla Bartok und Heinrich Schütz hoch lobte, diese Komponisten aber keine eigenen Artikel erhalten haben.Auch vormoderne Enzyklopädien hatten in der Regel einen universalen Anspruch. Dennoch brachten die Interessen beziehungsweise die Fähigkeiten des Autors oftmals eine Begrenzung mit sich. So umfasste die Naturalis historia zwar Abhandlungen zur Völkerkunde und Kunst, der Schwerpunkt jedoch lag auf Wissensgebieten, die man heutzutage als naturwissenschaftlich einordnet. Im 18. Jahrhundert begannen Universalenzyklopädien damit, den Gegensatz zwischen mehr geisteswissenschaftlichen und mehr naturwissenschaftlichen Werken aufzuheben. Zum Teil sah man einem Werk seine Herkunft noch an, oder der Herausgeber entschied sich bewusst dafür, das Profil durch ein bestimmtes Gebiet oder eine bestimmte Herangehensweise zu schärfen: Der Ersch-Gruber folgte dem historischen Ansatz, wegen dessen Anschaulichkeit, der Meyer hingegen bevorzugte das Naturwissenschaftliche.Die Frage der Ausgewogenheit ist nicht zuletzt von Bedeutung bei Werken, für die der Leser bezahlen muss. Er dürfte unzufrieden sein, wenn eine Universalenzyklopädie seiner Meinung nach zu viel Raum solchen Themen lässt, die ihn persönlich wenig interessieren, die er aber mitbezahlt. Robert Collison verweist auf die Ironie, dass die Leser möglichst vollständige Abrisse haben wollten und „unhinterfragt für Millionen von Wörtern bezahlt haben, die sie wahrscheinlich niemals lesen“, während die Enzyklopädie-Macher ebenfalls nach Vollständigkeit gestrebt und Einträge über kleine Themen geschrieben haben, die kaum jemand liest.Die Ausgewogenheit wird aber selbst noch bei frei zugänglichen Enzyklopädien wie der Wikipedia diskutiert. So geht es zum Beispiel über die Frage, ob es nicht etwas über die Seriosität des Gesamtwerkes aussagt, wenn Themen der Popkultur (angeblich oder tatsächlich) überdurchschnittlich vertreten sind. Zumindest, betonte der Historiker Roy Rosenzweig, ist die Ausgewogenheit stark abhängig davon, aus welchem Erdteil und welcher sozialen Schicht die Autoren stammen.Informationen in traditionellen Enzyklopädien können durch Maßnahmen bewertet werden, die sich auf eine Qualitätsdimension wie Autorität, Vollständigkeit, Format, Objektivität, Stil, Aktualität und Einzigartigkeit beziehen. == Inhaltliche Aspekte == === Sprachen === Im Abendland war Latein lange Zeit die Sprache der Bildung und damit der Enzyklopädien. Das hatte den Vorteil, dass die Enzyklopädien auch in anderen Ländern als dem Ursprungsland gelesen werden konnten. Allerdings waren sie dadurch für die große Bevölkerungsmehrheit unzugänglich. Etwa seit dem Beginn des 13. Jahrhunderts erreichte das Wissen auch das Volk in dessen Sprachen. Französisch ist an erster Stelle zu nennen, seit etwa 1300 an zweiter Stelle in Europa Mittelhochdeutsch. Gerade Frauen haben eher in den Volkssprachen Wissen vermittelt. Ende des 15. Jahrhunderts waren volkssprachliche Enzyklopädien kein Wagnis mehr, sondern Routine.Einige Enzyklopädien wurden übersetzt, wie zum Beispiel Imago mundi (ca. 1122) von Honorius Augustodunensis ins Französische, Italienische und Spanische. De natura rerum (ca. 1228–1244) erhielt eine Übersetzung ins Flämische und Deutsche, der Speculum maius (Mitte 13. Jahrhundert) ins Französische, Spanische, Deutsche und Niederländische. Später, als das Latein eine weniger große Rolle spielte, wurden erfolgreiche Enzyklopädien von einer Volkssprache in die andere übersetzt. Ab 1700 war es dann undenkbar, noch eine Enzyklopädie auf Latein herauszugeben.Im 19. Jahrhundert waren etwa der Brockhaus und der Larousse, vor allem in den kleineren Ausgaben, Vorbild für Enzyklopädien in anderen Sprachen oder wurden in diese übersetzt. Dies hatte allerdings Grenzen, da man den Inhalt an die jeweilige Sprache beziehungsweise an das jeweilige Land anpassen musste. Ein Beispiel dafür ist die Encyclopedia Americana (1827–1829), ein weiteres das Enzyklopädische Wörterbuch von Brockhaus und Efron (1890–1906), eine vom Brockhaus-Verlag mitherausgegebene Kurze-Artikel-Enzyklopädie auf Russisch. Trotz der Anpassungen wurde in beiden Fällen von Rezensenten kritisiert, die amerikanische beziehungsweise russische Geschichte und Kultur seien nicht ausreichend berücksichtigt worden. === Einordnung in den Wissenskontext === Wissenschaftliche Forschung bezieht sich in erster Linie auf die Natur und die Handlungen des Menschen. Die Grundlage sind dann je nach Fach zum Beispiel Phänomene der Natur, Experimente, Umfragen oder historische Quellen. Darauf aufbauend verfassen Wissenschaftler Fachliteratur, oder sie reflektieren in ihren Arbeiten andere Fachliteratur. Erst nach dieser eigentlich wissenschaftlichen, nämlich forschenden Arbeit kommen Hilfsmittel an die Reihe, wie Einstiegslektüre, Atlanten oder Wörterbücher. Diese Abfolge von Quellen, Fachliteratur und Hilfsmitteln heißt im Englischen primary, secondary und tertiary sources. Enzyklopädien sind demnach Hilfsmittel, die dem Leser einen ersten Zugang zu einem Thema verschaffen sollen. Ähnliches gilt für Lehrbücher und Wörterbücher, die historisch und der literarischen Gattung nach mit Enzyklopädien auch verwandt sind. Daraus wiederum ergeben sich der Charakter von Enzyklopädien und ihr Nutzen im Wissenskontext. Dass Enzyklopädien sich eher am Ende der Wissensproduktion befinden, hat den Vorteil, dass die Aussagen in der Regel bereits etabliertes und kaum noch umstrittenes Wissen darstellen. Das beinhaltet aber ebenso den Nachteil, dass neue oder unkonventionelle Ideen ausgefiltert worden sind. Außerdem können sich von den Grundlagen über die Fachliteratur bis hin zu den Hilfsmitteln Fehler oder zu grobe Vereinfachungen eingeschlichen haben. Aus diesen Gründen ist immer wieder diskutiert worden, ob allgemeine Enzyklopädien von Schülern oder Studenten als Autorität zitiert werden dürfen. An der Universität ist die Meinung verbreitet, dass allgemeine Nachschlagewerke in wissenschaftlichen Arbeiten nicht zu zitieren sind. Einbinder zufolge fanden einige Lehrer und Professoren, dass die Encyclopaedia Britannica keine zuverlässige Informationsquelle sei; sie warnten ihre Schüler davor, dieses Material blind in ihre eigenen Hausarbeiten eingehen zu lassen. Hingegen meint Thomas Keiderling in seiner Geschichte des Brockhaus, in den 1920er-Jahren hätten Wissenschaftler diese Enzyklopädie für durchaus zitierfähig gehalten. === Stil === Der sprachliche Stil einer Enzyklopädie hängt vom Zweck des Werkes und bisweilen auch vom persönlichen Geschmack des Autors ab. In den Werken des Altertums ist oftmals erkennbar, dass sie Lehr- beziehungsweise Sachbücher waren und ursprünglich aus solchen zusammengestellt wurden. Bei Plinius heißt es beispielsweise im Abschnitt über die Insekten: Im europäischen Mittelalter waren volkssprachliche Werke in Reimen verfasst, so dass die Leser den Inhalt leichter aufnehmen und sich besser merken konnten. Ein Beispiel aus Der naturen bloeme von Jacob van Maerlant, um 1270: Solche Darstellungsweisen ordnen den Gegenstand in einen größeren, auch philosophischen Zusammenhang ein. Dabei können sich leicht Wertungen einschleichen, die eventuell durchaus gewollt waren. In der großen französischen Encyclopédie gab sich der Artikel „Philosophe“ (Philosoph) mal ironisch, mal pathetisch: Im 19. Jahrhundert bildete sich dann der später als „enzyklopädisch“ bekannt gewordene Stil heraus. Sprachwissenschaftlich lässt er sich nicht genau von anderen Gattungen wie wissenschaftliche Aufsätze unterscheiden. Der Autor wird unsichtbar gemacht, man verwendet Passivkonstruktionen, neigt zur Verallgemeinerung. „Ein insgesamt expositorischer Charakter der Artikel“ sei ebenfalls typisch, schreibt Ulrike Spree. Allgemeine Enzyklopädien bemühen sich um ganze Sätze, normalerweise fehlt nur im ersten Satz eines Artikels das Verb. Außer dem Lemma selbst werden zahlreiche weitere Wörter abgekürzt. Ein Beispiel aus der Brockhaus Enzyklopädie: Das Wissenschaftsverständnis ist meist empirisch und positivistisch, nicht deduktiv. In alphabetischen Nachschlagewerken gibt es zwar Verweise, dennoch stehen die Artikel in keinem Kontext. Diesen Kontext muss der Leser erst herstellen. So kann ein und derselbe Text bei unterschiedlichen Lesern verschiedene Assoziationen hervorrufen. Obwohl ein gewisser Telegrammstil erkennbar ist, gibt es aus didaktischen Gründen auch die gegenteilige Tendenz. Mit erhöhter Redundanz, Anschaulichkeit und Beispielen nähern Artikel sich an Lehrbücher an. === Neutralität === Normalerweise erheben Enzyklopädien den Anspruch, objektiv zu sein und nicht für eine Interessengruppe oder Partei zu sprechen. Im 19. Jahrhundert etwa hielt man es für möglich, die absolute Wahrheit zu ergründen und zu vermitteln, auch wenn einzelne Irrtümer möglich seien. Seltener haben Enzyklopädisten wie Denis Diderot den Zweifel zum methodischen Prinzip erheben wollen. ==== Wahrheitsanspruch ==== Innerhalb des Wahrheitsanspruchs sind eine Reihe an Positionen denkbar: Eine Kompilation aus älteren Werken verweist auf eine lange Tradition, die für die Richtigkeit der Aussagen steht. Diese Haltung war in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts typisch. Werke können auf ideologische Standortbestimmungen verzichten und sich darauf berufen, dass sie eine Kompilation sind. Insbesondere Konversationslexika versuchen Haltungen zu vermeiden, die als extrem empfunden werden. Mit einer neutralen Haltung wird versucht, abzuwägen und eine über den Parteien stehende Haltung einzunehmen. Eine pluralistische Vorgehensweise lässt verschiedene Interessengruppen in verschiedenen Artikeln zu Wort kommen.Oder aber Enzyklopädien ergreifen ausdrücklich Partei für eine bestimmte Gruppe, wie die gebildeten Stände, die Arbeiterklasse oder die Katholiken. Dabei sollen Interessen berücksichtigt und Irrtümer berichtigt werden. Selbst dann aber wird der Allgemeingültigkeitsanspruch nicht aufgegeben.Enzyklopädien richten sich meist nicht gegen die bestehenden grundlegenden Vorstellungen in ihrer Gesellschaft. Pierre Bayle und Denis Diderot waren Ausnahmen. Eine ausgesprochen politische Zielsetzung hatten später beispielsweise der anti-monarchische Grand dictionnaire universel du XIXe siècle von Larousse, das konservative Staats- und Gesellschaftslexikon von Hermann Wagener, das liberale Staatslexikon (1834–1843) von Karl von Rotteck und Carl Theodor Welcker sowie das sozialdemokratische Volks-Lexikon von 1894. Solche Tendenzschriften waren allerdings eher selten. ==== Beispiele und Vorwürfe ==== Wenn Historiker versuchen zu erfahren, wie die Menschen in einer bestimmten Epoche über etwas gedacht haben, ziehen sie oft die damaligen Enzyklopädien zu Rate. Eine Aussage muss allerdings nicht unbedingt tatsächlich für die Gesellschaft repräsentativ sein, vielleicht spiegelt sie nur die Meinung des Autors, der Herausgeber oder einer bestimmten Bevölkerungsschicht wider. Einige Beispiele: William Smellie, ein hellhäutiger Schotte, schrieb in der ersten Ausgabe der Encyclopaedia Britannica (1768–1771) über Abyssinien (das heutige Äthiopien): „Die Einwohner sind schwarz, oder beinahe, aber sie sind nicht so hässlich wie die Neger.“ 1910/1911 hieß es in der Encyclopaedia Britannica, dass „Neger“ dem Weißen geistig unterlegen seien. Zwar seien Negerkinder intelligent und aufgeweckt, doch ab der Pubertät interessiere der Neger sich vor allem für auf das Geschlechtliche bezogene Angelegenheiten. Auch die große französische Encyclopédie erlaubte sich Meinungen diskriminierender Art: „Alle hässlichen Menschen sind roh, abergläubisch und dumm“, schrieb Denis Diderot im Artikel „Humaine, Espèce“ (Spezies des Menschen). Ferner seien die Chinesen friedfertig und unterwürfig, die Schweden beinahe ohne Vorstellung einer Religion, und die Lappen und Dänen beteten eine fette, schwarze Katze an. Die Europäer seien „die schönsten und wohlproportioniertesten“ Menschen auf Erden. Solche Nationalstereotype sind in Nachschlagewerken des 18. Jahrhunderts sogar sehr gängig. Der Volks-Brockhaus verwies in „Homosexualität“ 1955 auf die damalige Gesetzgebung in der Bundesrepublik, der zufolge „Unzucht zwischen Männern mit Gefängnis, unter erschwerenden Umständen mit Zuchthaus bestraft“ werde. Außerdem sei Homosexualität „oft durch Psychotherapie heilbar“. Zwei Autorinnen der 1980er-Jahre haben festgestellt, dass allgemeinbildende Enzyklopädien weniger über berühmte Frauen als über berühmte Männer informieren und daher sexistische Rollenbilder der Gesellschaft reproduzieren.Harvey Einbinder listet eine Vielzahl von Artikeln der Encyclopaedia Britannica auf, deren Neutralität oder Objektivität er bezweifelt. Moderne Künstler würden kurzerhand für wertlos erklärt, aus Prüderie würden wichtige Handlungselemente etwa im Theaterstück Lysistrata weggelassen werden oder sexuelle Themen hinter Fachausdrücken versteckt. Der Judenmord werde unverständlicherweise nicht mit der nationalsozialistischen Ideologie in Verbindung gebracht, der moralische Aspekt der Atombombenabwürfe auf Hiroshima und Nagasaki kaum diskutiert. Letzteres geschehe seiner Vermutung nach, um den Amerikanern ein unangenehmes Thema zu ersparen.Die Herausgeber von Enzyklopädien hatten zuweilen ausdrücklich gesellschaftspolitische Ziele. Beispielsweise setzte sich insbesondere der Ergänzungsband von 1801 bis 1803 zur Encyclopaedia Britannica kämpferisch mit der Französischen Revolution auseinander. Widmungen an den regierenden Monarchen waren nicht ungewöhnlich, doch damals hieß es darin: Später im 19. Jahrhundert setzte der Meyer sich, nach eigenem Bekunden, für eine intellektuelle Gleichheit der Menschen ein, den Lesern ein besseres Leben ermöglichen. Revolutionärem Denken sollte jedoch kein Vorschub geleistet werden. Im Gegensatz zu dieser eher liberalen Haltung wollte Sparners Illustriertes Konversations-Lexikon (1870) sozialdisziplinierend auf die Unterschicht einwirken.Allgemein sehen Enzyklopädien sich oft dem Vorwurf ausgesetzt, nicht neutral zu sein. Einige Kritiker hielten die Encyclopaedia Britannica für prokatholisch, andere für kirchenfeindlich. Um 1970 lobten manche Rezensenten am Brockhaus dessen angeblich konservativen Grundton im Vergleich zum „linkslastigen“ Meyer, andere sagten, es sei genau andersherum. Thomas Keiderling findet es überhaupt problematisch, Pauschalurteile solcher Art zu fällen. ==== Ideologische Großsysteme ==== Die niederländische Katholieke Encyclopedie stellte sich 1949 bewusst nicht in die Tradition der Aufklärung, sondern des christlichen Mittelalters. Wie ihre Schwester, die Universität, sei die Enzyklopädie aus katholischem Hause. Ein Prospekt, bereits aus dem Jahre 1932, nennt Unparteilichkeit gerade in einer Enzyklopädie gefährlich. Schließlich bräuchten Themen wie „Spiritismus“, „Freudianismus“, „Freimaurerei“, „Protestantismus“ oder „Liberalismus“ eine kritische Behandlung und absolute Verwerfung. „Es ist doch eindeutig, dass Neutralität keine Position beziehen kann. Aber zahlreiche Themen können ohne feste Basis nicht beurteilt werden.“ In den sogenannten neutralen Enzyklopädien erhalte Buddha mehr Aufmerksamkeit als Jesus Christus.Die Enciclopedia Italiana (1929–1936) entstand in der Zeit des Faschismus und der Diktator Benito Mussolini hatte mehr oder weniger persönlich zum Thema „Faschismus“ beigetragen (vgl. La Dottrina Del Fascismo). Im Allgemeinen jedoch war das Werk international und objektiv. In Deutschland musste sich der Brockhaus in den letzten Teilen seiner Großausgabe von 1928 bis 1935 politisch anpassen. Als ausgesprochen nationalsozialistisch gefärbt gilt der sogenannte „braune Meyer“ von 1936 bis 1942 (unvollendet). Die Große Sowjetische Enzyklopädie richtete sich nicht etwa an die Massen der Arbeiter und Bauern, sondern an die „Hauptkaderleute, die den sowjetischen Aufbau betreiben“. Ihre politische Ausrichtung beschrieb sie im Vorwort von 1926 so: Noch nach dem Erscheinen musste eine sowjetische Enzyklopädie verändert werden, wenn eine Person plötzlich politisch unerwünscht wurde. Als 1953 Lawrenti Beria entmachtet wurde, schickte man den Käufern der Großen Sowjetischen Enzyklopädie ein Blatt unter anderem mit Informationen über die Beringsee, das man anstelle der alten Seite mit Beria einkleben sollte. == Ausstattung == === Umfang === Traditionell waren Enzyklopädien eher von begrenztem Umfang. Moderne Buchausgaben antiker oder mittelalterlicher Enzyklopädien bleiben meist auf einen oder wenige Bände beschränkt. Die für das Altertum monumentale Naturalis historia hatte beispielsweise in einer Ausgabe um das Jahr 1900 fünf Bände. Nach eigener Zählung bestand das Werk aus 37 libri (Büchern), wobei ein „Buch“ hier vom Umfang her als ein Kapitel zu verstehen ist. Die Etymologiae des Isidor machen ein je nach Ausgabe mehr oder weniger dickes Buch aus. Zu vielbändigen Enzyklopädien kam es erst seit dem 18. Jahrhundert, allerdings gab es gleichzeitig immer auch Nachschlagewerke in nur einem oder wenigen Bänden. Diese haben im 19. und 20. Jahrhundert, als Enzyklopädien sich massenweise verbreiteten, wesentlich mehr Käufer gefunden als die großen Ausgaben. Thomas Keiderling verwendet für das 20. Jahrhundert eine Einteilung von kleinen Ausgaben mit ein bis vier Bänden, mittleren Ausgaben von fünf bis zwölf Bänden und großen darüber. Für einen genaueren Vergleich des Umfangs müsse man jedoch zusätzlich Buchformate, Seitenanzahlen, Schriftgröße usw. hinzuziehen.Als größte Enzyklopädie der Geschichte wird zuweilen das chinesische Werk Yongle Dadian (auch: Yung-lo ta-tien) aufgeführt. Es stammt aus dem 15. Jahrhundert und umfasste 22.937 Bücher auf mehr als fünfhunderttausend Seiten. Es handelte sich jedoch mehr um eine aus älteren Texten zusammengestellte Lehrbuchsammlung. Längere Zeit das umfangreichste Nachschlagewerk war der Zedler mit seinen 64 Bänden. Dieses Mammutwerk war folglich für viele Käufer, die sowieso nur einer kleinen, reichen Oberschicht entstammen konnten, unerschwinglich. Selbst viele Lesegesellschaften haben sich den Zedler nicht angeschafft.Im 19. Jahrhundert war der Ersch-Gruber die größte allgemeine Enzyklopädie. Das 1818 begonnene Werk wurde aber nicht fertiggestellt, nach 167 Bänden gab der neue Herausgeber (Brockhaus) 1889 auf. Die größte vollständige gedruckte Enzyklopädie wurde dann im 20. Jahrhundert die spanischsprachige Espasa mit insgesamt neunzig Bänden. Die Großwerke des 18. und 19. Jahrhunderts erscheinen also umfangreicher als die des 20. Jahrhunderts mit ihren 20–30 Bänden, dabei ist aber das wesentlich dünnere Papier der späteren Werke zu berücksichtigen. === Auflagenhöhen === Eine populäre Enzyklopädie wie die Etymologiae des Isidor brachte es im Mittelalter auf über tausend Handschriften. Das Elucidiarium von Honorius Augustodunensis gab es in mehr als 380 Handschriften.Jeff Loveland zufolge hat man im 18. Jahrhundert etwa zweihundert bis dreihundert Exemplare von einer Enzyklopädie verkauft; Ulrike Spree zufolge betrug die Auflage hingegen 2000–4000 Exemplare. Vom Zedler (1737) wurden vermutlich nur die 1500 Subskriptionsexemplare angeschafft, also diejenigen, die zahlungskräftige Kunden zuvor bestellt hatten. Von der ersten Auflage der (damals dreibändigen) Encyclopaedia Britannica (1768–1771) verkaufte man insgesamt dreitausend Exemplare, von der 18-bändigen dritten Auflage (1787–1797) dreizehntausend.Das 19. Jahrhundert sah wesentlich höhere Auflagen. Die Encyclopaedia Britannica in der 7. Auflage (1828) kam auf dreißigtausend Exemplare, Meyers Conversations-Lexikon hatte 1848/1849 siebzigtausend Subskribenten. Da das Erscheinen langsam war und die Bandanzahl hoch, ging dies allerdings auf unter vierzigtausend zurück. Von der 2. Auflage der Chambers Encyclopaedia verkaufte man 1874–1888 allein in Großbritannien über 465.000 sets.Brockhaus verkaufte von seiner 13. Auflage (1882–1887) 91.000 Exemplare, von der 14. Auflage bis 1913 mehr als 300.000. Die 17. Auflage des großen Brockhaus von 1966 hatte eine Gesamtauflage von 240.000 Exemplaren (Komplettsets). Auf dem Gebiet der kleineren Lexika erlebte Brockhaus jedoch starke Konkurrenz. So verlief der Verkauf des einbändigen Volks-Brockhaus von 1955 schleppend: Er kostete 19,80 DM, während Bertelsmann sein Volkslexikon für 11,80 DM auf den Markt brachte und über seinen Lesering eine Million Exemplare verkaufte.In der DDR hatte das achtbändige Meyers Neues Lexikon (1961–1964) eine Auflage von insgesamt 150.000 Exemplaren, die zweibändige Ausgabe kam 1956–1958 in drei Auflagen auf 300.000 Exemplare. Zwar war die DDR deutlich kleiner als die Bundesrepublik, der VEB Bibliographisches Institut hatte aber keine Konkurrenz.Fehlende Konkurrenz führte auch in anderen kleinen Ländern, einschließlich westlichen, zu hohen Auflagen im Vergleich zur Bevölkerungsanzahl. Das sechsbändige Uj Magyar Lexikon erschien im kommunistischen Ungarn 1959–1962 in 250.000 Exemplaren. In Norwegen verkaufte sich das fünfzehnbändige Store Norske von 1977 bis 2011 in 250.000 Exemplaren bei einer Bevölkerung von nur vier Millionen Norwegern.Von der 21. Auflage der Brockhaus Enzyklopädie aus den Jahren 2005/2006 wurden nur „ein paar Tausend Exemplare“ verkauft, wie der FOCUS berichtete. Der FAZ zufolge habe die Gewinnschwelle bei 20.000 verkauften Exemplaren gelegen, davon sei die Hälfte erreicht worden. Diese letzte gedruckte Auflage der Brockhaus Enzyklopädie bestand aus dreißig in Leinen gebundenen Bänden mit Goldschnitt, die fast 25.000 Seiten beinhalteten. Sie kostete 2670 Euro. === Bebilderungen === Aus den antiken Werken sind so gut wie keine Illustrationen überliefert, sondern nur der Text. Nachträglich erhielten sie Abbildungen in einigen mittelalterlichen Handschriften. Diese Illustrationen unterschieden sich meist von Handschrift zu Handschrift; dann brachte der Buchdruck die Möglichkeit, auch Abbildungen genau zu vervielfältigen. Das Mittelalter kannte bereits Bilder von Menschen, Tieren oder Pflanzen, ebenso schematische Darstellungen und Weltkarten. Sie waren allerdings selten. In der Frühen Neuzeit gab es dann eine große Bandbreite von unterschiedlichen Illustrationen. Auf Titelblättern und Frontispizen reflektierte man über die Grundlagen des in der Enzyklopädie gesammelten Wissens, indem man die sieben freien Künste allegorisch darstellte. Baumdiagramme veranschaulichten den Zusammenhang der einzelnen Fächer, Funktionsdiagramme zeigten zum Beispiel, wie ein Flaschenzug funktioniert. Widmungen präsentierten einen reichen Gönner oder Schirmherr, Kupferstiche leiteten einen neuen Band ein. Beliebt waren auch Tabellen, zum Beispiel zu Planetenbewegungen. Bilder wurden entweder im Text an die geeignete Stelle eingefügt oder auf gesonderten Bildtafeln geliefert; der Brockhaus-Verlag brachte 1844–1849 und auch noch später eigens einen Bilder-Atlas zum Conversationslexikon heraus und nannte ihn im Untertitel Ikonographische Encyclopädie der Wissenschaften und Künste. Bildtafeln oder gar Bildbände wurden oftmals der Qualität wegen gesondert vom Rest gedruckt, da Bilder zuweilen einen besonderen Druck oder besonderes Papier verlangten. Mit der zunehmenden Verbesserung der Drucktechnik kamen mehr und mehr Bilder in die Enzyklopädien. Schließlich wurden im 20. Jahrhundert reich illustrierte Werke nicht mehr ausdrücklich als „illustriert“ angepriesen, so selbstverständlich war die Bebilderung geworden. Etwa seit den späten 1960er-Jahren waren die Abbildungen einiger Enzyklopädien vollständig in Farbe gehalten. Die 19. Auflage des Brockhaus (1986–1994) hatte 24 Bände mit insgesamt 17.000 Seiten. Darin befanden sich 35.000 Abbildungen, Karten und Tabellen. Ein dazugehöriger Weltatlas beinhaltete 243 Kartenseiten. === Anhänge und Ausstattung === Seit dem 18. Jahrhundert erhielten größere Enzyklopädien, wenn schon keine neue Auflage zustande kam, Ergänzungsbände, Supplemente. Der Brockhaus veröffentlichte Mitte des 19. Jahrhunderts Jahrbücher als Ergänzung oder Weiterführung des eigentlichen Lexikons. Ab 1907 gab Larousse die Monatsschrift Larousse mensuel illustré heraus. Mehr zur Kundenbindung diente die Zeitschrift Der Brockhaus-Greif, die der Verlag von 1954 bis 1975 unterhielt. Ein Sonderband konnte dazu dienen, besondere geschichtliche Ereignisse zu behandeln, wie den Deutsch-Französischen Krieg 1870/1871 oder den Ersten Weltkrieg.Anhänge in eigenen Bänden konnten auch Bildbände, Atlanten oder Wörterbücher sein, die aus der Enzyklopädie ein umso vollständigeres Kompendium machten. CD-ROMs, Internetzugänge und USB-Sticks schließlich wurden zunächst als Zugabe für die gedruckte Version angeboten. Ein Versuch, den Wert des Gesamtwerks zu erhöhen, stellten die Künstlerausgaben des Brockhaus dar, wie die seit 1986 von Friedensreich Hundertwasser gestaltete, auf 1800 Exemplare limitierte Ausgabe. Der Ladenpreis betrug 14.000 DM (gegenüber etwa 4000 DM für die normale Ausgabe). Die Einbände zeigten, nebeneinander auf dem Regal stehend, zusammen ein neues Bild. === Lieferung === In der Regel wurden Bücher nach Fertigstellung erworben und bezahlt. Bei größeren Projekten jedoch war es im 18. Jahrhundert üblich, zunächst Subskribenten zu werben und erst danach das Werk zu drucken; eventuell wurde es stückweise in Raten ausgeliefert. Hatte der Käufer alle Auslieferungen beisammen, konnte er damit zu einem Buchbinder gehen. Ein Subskribent (wörtlich: jemand, der unterschreibt) bezahlte im Voraus. So hatte der Verleger bereits ein Kapital, mit dem er erste Ausgaben bewältigen konnte. Je nach Subskriptionsmodell zahlte der Subskribent möglicherweise eine Anzahlung und dann noch pro ausgeliefertem Teil. Zusätzlich hoffte der Verleger, dass weitere Kunden das Werk kauften. Die Veröffentlichung bekannter Subskribenten vorne im Werk sollte verkaufsfördernd wirken, ähnlich wie die Widmung des Werkes an eine hochgestellte Persönlichkeit. Im Falle der ersten Ausgabe der Encyclopaedia Britannica kündigte im Juli 1767 ein Prospekt das Vorhaben der Öffentlichkeit an. Im Februar 1768 ließen die Verleger verlautbaren, dass das Werk in einhundert wöchentlichen Auslieferungen kommen sollte, jeweils mit 48 Seiten. Am Ende sollten es, gebunden, sechs Bände im Oktavformat werden. Auf einfachem Papier kostete eine Auslieferung sechs Pence und acht auf besserem. Bald darauf änderten die Herausgeber das Format auf Quarto, woraus sich drei Bände ergaben. Der Grund dafür war das höhere Prestige von Quarto und vielleicht auch der indirekte Einfluss eines Konkurrenzproduktes. Im Dezember 1768 kam der erste Teil heraus, und nach der Auslieferung des letzten 1771 erhielt man Vorwort und Titelseiten für jeden der drei Bände sowie eine Anleitung für den Buchbinder. Im August 1771 konnte man das gesamte set für zwei Pfund und zehn Schillinge kaufen (drei Pfund, sieben Schillinge bei besserem Papier).Im 19. Jahrhundert konnte man beispielsweise bei Meyers Konversations-Lexikon zwischen mehreren Liefermodellen wählen. Die dritte Auflage von 1874 bis 1878 bestand aus fünfzehn Bänden. Der Käufer erhielt wöchentlich eine Lieferung von 64 Seiten, die fünfzig Pfennig kostete; oder aber man bezahlte je 9,50 Mark pro Band. Den Brockhaus in der Jubiläumsausgabe von 1898, siebzehn Prachtbände zu je zehn Mark, zahlte man in Monatsraten von drei bis fünf Mark oder in Vierteljahresraten von neun bis fünfzehn Mark. Es gab keine Anzahlung, erst nach drei Monaten musste man die erste Rate zahlen. Subskriptionsmodelle kannte man letztlich bis ins 21. Jahrhundert. Es war aber seit dem 20. Jahrhundert gängig, dass man fertig gebundene Bände erhielt. Nelson’s perpetual loose-leaf encyclopaedia von 1920 war eine Loseblattsammlung in zwölf Bänden. Zweimal im Jahr erhielt der Käufer einige neue Seiten geliefert, mit denen er Seiten veralteten Inhalts ersetzen konnte. Die Encyclopédie française (1937–1957) nahm die Idee auf, die sich aber nicht durchsetzen konnte.Meyers Enzyklopädisches Lexikon in 25 Bänden brauchte für die Produktion und Auslieferung insgesamt acht Jahre von 1971 bis 1979. In den Bänden 4, 7, 10, 13, 16, 19 und 22 wurden Nachträge angefügt, welche die zwischenzeitlichen Aktualisierungen zu den vorangegangenen Bänden enthielten. 1985 erschien schließlich noch ein Nachtragsband (Band 26). == Autoren und Leser == Der Autor einer Enzyklopädie heißt Enzyklopädist oder Enzyklopädiker, wobei dieser Begriff auch für einen Wissenschaftler der Enzyklopädik gebraucht wird, der keine Enzyklopädie schreibt, sondern Enzyklopädien und ihre Entstehung erforscht. Herausgeber und Mitarbeiter der Encyclopédie (Frankreich 1782 bis 1832) wurden die Enzyklopädisten genannt. === Urheberrecht und Plagiate === Ein Urheberrecht im modernen Sinne gab es vor dem 19. Jahrhundert nicht. Dennoch besteht seit der Antike der Begriff des Plagiats, als ungekennzeichnete Übernahme fremder Texte. Bis ins 18. Jahrhundert war es gängig, Enzyklopädien vor allem als Zusammenstellung älterer Texte zu sehen. Dabei wurden die Autoren manchmal genannt, oft aber auch nicht. In der Antike und im Mittelalter stand der Gedanke im Vordergrund, sich bei den alten Weisen zu bedienen und von deren reinem, unverfälschtem Wissen zu lernen. Mit der Renaissance wurde die Vorstellung eines originalen Autors wichtiger. Plagiate galten beispielsweise im 18. Jahrhundert teilweise als anrüchig, waren aber nicht verboten. Allenfalls anhand des Druckprivilegs konnte der Herausgeber Nachdrucke untersagen. Dabei handelte es sich um eine obrigkeitliche Erlaubnis, überhaupt ein bestimmtes Buch drucken zu dürfen. Nachdrucke konnten aber höchstens im eigenen Land unterbunden werden und wurden oftmals im Ausland gedruckt und dann zum Teil über Schmuggel verbreitet. Dennis de Coetlogon zum Beispiel gab zwar zu, kopiert zu haben, behauptete aber trotzdem, er sei der Autor seiner Universal history. Nimmt man dies wörtlich, so hat er sie anscheinend selbst mit der Hand, ohne Helfer, geschrieben. Wenn in der ersten Ausgabe der Encyclopaedia Britannica eine „List of Authors“ erschien, dann war damit nicht etwa gemeint, dass jene Personen bewusst für diese Enzyklopädie geschrieben hätten. Vielmehr hatte der Redakteur William Smellie sich aus ihren Werken bedient.Im Artikel „Plagiaire“ beschrieb die große französische Encylopédie das Phänomen des Plagiats. Man beeilte sich anzumerken, dass Lexikografen sich wohl nicht an die üblichen Gesetze des Mein und Dein halten müssten, jedenfalls nicht jene, die ein dictionnaire des arts et des sciences verfassten. Schließlich gäben sie nicht vor, Originales zu schreiben. Der Text hatte größte Ähnlichkeit mit dem Artikel „Plagiary“ in Chambers’ Cyclopaedia eine knappe Generation zuvor, und dieser wiederum ging auf das Dictionnaire von Antoine Furetière (1690) zurück. Der Zedler schreibt unter dem Lemma „Nachdruck derer Bücher“: Dieser Text selbst war einem zeitgenössischen Buch entnommen worden. Im 19. Jahrhundert war es dann nicht mehr möglich, eine Enzyklopädie mit der Schere zu verfassen, wie William Smellie noch über sich selbst gescherzt haben soll. Zumindest bei den allgemeinen Enzyklopädien gab es dies nach 1860 nicht mehr. Trotzdem war die gegenseitige Beeinflussung der konkurrierenden Verlage groß, auch, weil Fakten an sich (wie die Höhe eines Berges) nicht urheberrechtlich geschützt sind. === Autoren === ==== Einzelautoren und Kleingruppen ==== Gilt bei antiken Werken meist eine Person als der Autor, so ist im Mittelalter der Autor nicht immer leicht greifbar. Mit dem antiken Argument der modestia (Bescheidenheit) bezeichnen sich die Autoren des Mittelalters oft als zu unwürdig, um ihren Namen zu nennen. Sie sahen sich als bloße Vermittler gottgewollten Wissens. Gerade Laien aber, wie König Alfons der Weise oder der Notar Brunetto Latini, neigten im Gegenteil zur Selbststilisierung. Einige Werke sind in Arbeitsgemeinschaften entstanden, wobei dann die leitende Persönlichkeit stellvertretend für die Mitarbeiter genannt wurde.Die Autoren verstanden sich als Kompilatoren (Zusammensteller), als Übersetzer, die bewährte lateinische Werke einem größeren Publikum eröffneten. Eine neue Generation um 1300 brachte dann auch eigene Gedanken ein. Dies waren ebenfalls oft Laien, oft aus Italien, wo der Klerus eine weniger große Rolle als anderswo spielte. Die Autoren waren meist Männer; Frauen waren nur innerhalb von Klöstern enzyklopädisch tätig. ==== Redaktionen ==== Im 19. Jahrhundert kam es nicht nur zum modernen Begriff des Autors, sondern auch zu einer erheblichen Spezialisierung. Die erste Auflage der Encyclopaedia Britannica wurde noch großteils von den Herausgebern geschrieben (beziehungsweise abgeschrieben). Doch Archibald Constable, der sie 1810 gekauft hatte, setzte auf wissenschaftliche Autoritäten, die auch namentlich genannt wurden. In Deutschland war die Entwicklung beim Brockhaus vergleichbar. Für nicht gekennzeichnete Artikel war die Redaktion verantwortlich. Generell mussten die Autoren sich dem Gesamtwerk unterordnen. Vor allem nach 1830 bemühten sich die Verlage um Experten. Waren die Autoren nicht genannt (wie bei den meisten Enzyklopädien), konnte es damit zu tun haben, dass diese Werke allzu sehr aus älteren Werken abgeschrieben waren. Beliebt war der Trick, als Herausgeberin eine „Gesellschaft von Gelehrten“ anzugeben. Ulrike Spree: „Der universalistisch gebildete Lexikonautor, der Artikel zu einer ganzen Palette von Themengebieten bearbeitete, gehörte immer mehr der Vergangenheit an.“ Das gab es allenfalls noch bei ein- oder zweibändigen Werken. Trotz einiger großer Namen waren die meisten genannten Autoren unbekannte Leute. Viele haben für mehrere Enzyklopädien geschrieben. Eine der seltenen Enzyklopädien mit Autorennennung war der Ersch-Gruber und im 20. Jahrhundert beispielsweise Collier’s Encyclopedia. Thomas Keiderling zufolge seien im Brockhaus die Autoren anonym geblieben, weil die Artikel objektiv sein und keine Meinung einzelner wiedergeben sollten. Einige Autoren wollten nicht genannt werden, weil sie kontroverse Themen behandelten. Außerdem haben Redakteure die Beiträge überarbeitet und sind so Mitautoren geworden. Die Namensnennung hielt man nur bei namhaften Autoren für sinnvoll, es sei aber weder möglich noch wünschenswert gewesen, für jeden Artikel die herausragendsten Wissenschaftler zu engagieren. Bei einem solchen Anspruch wären redaktionelle Eingriffe wiederum bedenklich gewesen.1879 beschrieb eine Wochenzeitschrift, wie bei Meyer das Konversations-Lexikon erstellt wurde. In der Hauptleitung in Leipzig wurden die 70.000 Artikel aus der vorherigen Ausgabe ausgeschnitten und auf Papier geklebt. Notizensammler werteten circa fünfzig Zeitungen aus und erfragten Daten von Behörden und Institutionen. In verschiedenen Universitätsstädten gab es Spezialredaktionen, und Autoren, die für ein jeweiliges Fachgebiet angeworben waren, arbeiteten die Artikel um. Weibliche Autoren gab es immer noch kaum. Eine Ausnahme machte die britische Chambers Encyclopaedia, die aus einer Übersetzung hervorgegangen war: Übersetzungen waren oft Frauenarbeit. Da die Hochschulen überfüllt waren, war die enzyklopädische Mitarbeit für viele Absolventen attraktiv. Typischerweise sah ein Lexikonredakteur sich als nicht öffentlich in Erscheinung tretender Generalist. Das Mitarbeiterverzeichnis des Meyer im Jahre 1877 führte 32 Autoren im Fach Geschichte namentlich auf. Alle waren promoviert, 14 davon Professoren. An der Konzeption der 15. Auflage des Großen Brockhaus (zwanzig Bände, 1928–1935) waren 57 Personen beteiligt: 22 Redakteure, zehn Büroangestellte, fünf Mitarbeiter der Bildabteilung, 15 Sekretärinnen, drei Kontorburschen. Über tausend Autoren verfassten 200.000 Artikel mit 42.000 Abbildungen, davon waren vierhundert gelegentliche und sechshundert regelmäßige Autoren. Der Verlag standardisierte Anschreiben, informierte die Autoren mit Rundschreiben und Merkblättern zu Rechtschreibfragen, Literaturangaben, Abkürzungen und Sonderzeichen. Man erhielt ein Bogenhonorar oder Pauschalbeträge nach Umfang. Weiterhin war die Anonymität vertraglich festgeschrieben.Für das altertumswissenschaftliche Fachlexikon Der Neue Pauly stellte ein Erfahrungsbericht 1998 fest, dass die Anzahl der Mitarbeiter sehr hoch gewesen sei – des großen Spezialisierungsdrucks wegen: „Es gibt zahlreiche von mehreren Autoren verfaßte ‚Komposit-Artikel‘, da sich für übergreifende Themen oder ‚Dachartikel‘ kaum noch ‚Generalisten‘ finden lassen. Die Einheitlichkeit der Konzeption eines Artikels – um von dem Werk im ganzen zu schweigen – ist hierdurch gefährdet.“ Neunzehn Fachredaktionen erarbeiteten gemeinsam eine Gesamtlemmaliste und koordinierten die Kommunikation mit den über siebenhundert Autoren.Die Wikipedia wird von Freiwilligen geschrieben und redigiert. Sie beteiligen sich aus Interesse an einem Thema oder aus Idealismus. Außerdem schließen sie sich einer Gemeinschaft an, in der sie Wertschätzung erhalten. Die Wikipedia-Freiwilligen sind höhergebildet und etwa zur Hälfte unter dreißig Jahren alt. ==== Prominente Autoren ==== Im 19. und 20. Jahrhundert kam es dazu, dass Enzyklopädien bekannte Wissenschaftler oder andere Prominente gewonnen haben. Berühmte Autoren der Encyclopaedia Britannica waren unter anderem der Schriftsteller Walter Scott, der Bevölkerungswissenschaftler Robert Malthus und der Wirtschaftswissenschaftler David Ricardo. Im deutschsprachigen Raum der 1970er-Jahre beispielsweise integrierte Meyers Konversations-Lexikon längere Beiträge von Prominenten. Einleitend schrieb der Wissenschaftstheoretiker Jürgen Mittelstraß „Vom Nutzen der Enzyklopädie“. Der ehemalige SPD-Bundesminister Carlo Schmid verfasste den Beitrag „Demokratie – die Chance, den Staat zu vermenschlichen“, und der ehemalige FDP-Bundeswirtschaftsminister Hans Friedrichs schrieb über die „Weltwirtschaft“. Zu einem Problem wird dies, wenn die Prominenten Teil des öffentlichen Diskurses über ihr Fach sind. Es fällt ihnen möglicherweise schwer, einen neutralen, überblickenden Standpunkt zu beziehen. In einem Erweiterungsband der Encyclopaedia Britannica (1926) schrieb Leo Trotzki den Artikel über Lenin. Der ehemalige Kriegskommissar Trotzki war Lenins enger Mitarbeiter gewesen, und die Bezugnahme auf den bereits verstorbenen Lenin war ein wichtiges Instrument im politischen Streit zwischen Trotzki, Stalin und weiteren sowjetischen Politikern. ==== Bezahlung ==== Generell wurden die Mitarbeiter von Enzyklopädien eher schlecht bezahlt. William Smellie erhielt für die Arbeit an der ersten Ausgabe der Encyclopaedia Britannica die Summe von zweihundert Pfund. Für vier Jahre Teilzeitarbeit war dies weder großzügig noch armselig, so Jeff Loveland, aber im Vergleich weniger, als Diderot für die größere und langwierigere Arbeit an der Encyclopédie bekam. Bei Chambers im 19. Jahrhundert lag das Jahresgehalt der Redakteure bei der unteren Grenze des Mittelstandes.Im 20. Jahrhundert, berichtet Einbinder von der Encyclopaedia Britannica, hätten sich viele Gelehrte gern beteiligt, konnten es sich aber nicht leisten, für so wenig Geld (zwei Cent pro Wort) zu schreiben. Das gelte besonders für die Geisteswissenschaften. Zwar sei die Mitarbeit aus Gründen des Prestiges sehr begehrt, doch viele hätten nur einen Artikel beitragen wollen. Überhaupt bemängelte Einbinder einen vorrangig kommerziellen Charakter der Encyclopaedia Britannica, bei der die Gutverdiener des Verlages die Haustürverkäufer waren, und nicht etwa die Autoren. === Leser === ==== Bis zum 18. Jahrhundert ==== Ein Text kann nur dann Leser finden, wenn Menschen des Lesens kundig sind, wenn sie Zeit zum Lesen haben und wenn sie sich den Lesestoff leisten können. Das hat den Kreis der möglichen Leser historisch stark eingeschränkt, noch davon abgesehen, ob die Menschen überhaupt Interesse am Inhalt hatten. Dennoch gab es Wege, die Barrieren zu überwinden: Texte wurden früher laut gelesen, so dass Leseunkundige mithören konnten, reiche Leute stellten ihre Bibliotheken einem größeren Kreis zur Verfügung, oder Gruppen von Menschen schafften sich gemeinsam Bücher an. Erst im 19. Jahrhundert weitete sich der Kreis in Europa wesentlich aus, dank staatlich geförderter Schulen und billigerer Bücher: Um 1900 konnten neunzig Prozent der Deutschen, Franzosen, Engländer und US-Amerikaner lesen. Andere Erdteile blieben zurück, in Russland war dazu nur ein Drittel der Männer in der Lage.Plinius schrieb die Naturalis historia für die Volksmassen, wie Bauern und Handwerker, so behauptete er es in der an den Kaiser gerichteten Widmung. Jedenfalls sei sie für jeden, der die Zeit aufbringe, zu lesen. Seine Aussage ist so zu interpretieren, dass er an diejenigen dachte, die ein einfaches Leben in der Natur führen, entsprechend den von ihm geschätzten römischen Tugenden. Insgesamt wollte er jedoch alle Bürger des Reiches ansprechen, so wie sein Werk das Reich universal beschrieb.Auch die Verfasser von mittelalterlichen Enzyklopädien haben sich meist an einen offenen Leserkreis gerichtet, zumindest den Vorworten zufolge. Alle Leser sollten angesprochen sein, nicht gefiltert nach ihrem sozialen Status oder ihrem Bildungsgrad. In der Praxis jedoch ist beispielsweise das Elucidarium anscheinend fast nur von Geistlichen gelesen worden. Der Livre de Sidrac hingegen wurde nur von Adligen rezipiert, jedenfalls befand das Buch sich (den Besitzvermerken zufolge) nie in Klosterbibliotheken. Einen sehr kleinen Adressatenkreis hatte der Hortus Deliciarum: Die Äbtissin Herrad von Landsberg ließ ihn im 12. Jahrhundert nur für ihre Nonnen schreiben. Erst 350 Jahre später wurde das reich illustrierte Werk außerhalb der Klostermauern bekannt.Dennis de Coetlogon hat sich für seine Universal history (1745) wohl eine gehobene Leserschaft vorgestellt, mit Themen wie der Falknerei, die für Adlige gedacht waren. Über Handwerker, Diener und die niederen Stände schrieb De Coetlogon wiederholt despektierlich. Dennoch waren unter den Subskribenten nicht nur Kaufleute, Beamte und Geistliche, sondern auch einige Handwerker, die ungewöhnlich wohlhabend gewesen sein müssen.Die große französische Encyclopédie wurde eher im städtischen als im ländlichen Frankreich gelesen, eher in alten Städten mit kirchlichen und staatlichen Bildungseinrichtungen als in den neuen Städten, in denen sich bereits Industrie ansiedelte. Die Leser gehörten zur Oberschicht, zu den Vertretern des kirchlichen und des adligen Standes. Sie waren Beamte, Offiziere und nur selten Unternehmer. Spätere, billigere Ausgaben wurden zum Teil auch Besitz von Anwälten und Verwaltern in der Mittelschicht. Paradoxerweise erreichte dieses Werk des Fortschritts vor allem die Stände, die unter der Revolution von 1789 zu leiden hatten. Außer in Frankreich verkaufte sich die Encyclopédie (besonders in den späteren Auflagen) auch in den angrenzenden französischsprachigen Gebieten, Italien, den Niederlanden und Westdeutschland, weniger in London oder Kopenhagen, wenngleich einige sets sogar nach Afrika und Amerika kamen. ==== Seit dem 19. Jahrhundert ==== Großenzyklopädien wie die von Brockhaus und Meyer im 19. Jahrhundert richteten sich an das Bildungs- und Besitzbürgertum; diese Schichten waren nicht zuletzt wegen der Kreditwürdigkeit bevorzugte Zielgruppen für die Haustürverkäufer. Beim 17-bändigen Meyers Konversations-Lexikon von 1893 bis 1897 waren von je hundert Käufern: 20 Verkehrsbeamte, 17 Kaufleute, 15 Militärs, 13 Lehrer, neun Baubeamte/Techniker, sechs Verwaltungsbeamte, fünf Gutsbesitzer, drei Justizbeamte, drei Künstler, drei Privatiers, zwei Wirte, 1,5 Ärzte, ebenfalls 1,5 Studenten und ein Rechtsanwalt.Noch 1913 meinte Albert Brockhaus: Wenn man von hundert Millionen Deutschsprachigen in Europa als möglichen Käufern ausgehe, müsse man bereits fünfzig Millionen Frauen und fünfundzwanzig Millionen Kinder abziehen. Damals setzten Brockhaus und Meyer zusammen gerade einmal dreißig- bis vierzigtausend Exemplare um. Doch schon in den Jahren nach dem Ersten Weltkrieg richtete der Brockhaus-Verlag sich zunehmend an Frauen sowie die ärmere Bevölkerung und versuchte Begriffe verständlicher einzuführen. Konfessionell getrennte Darstellungen bei religiösen Stichwörtern kamen bei Katholiken gut an. Man konzipierte in den 1920er-Jahren auch Volksausgaben. Die Auflage des Großen Brockhaus von 1928 bis 1935 wurde in erster Linie von Hochschullehrern gekauft, auf den nächsten Rängen folgten Apotheker, Rechtsanwälte, Studienräte, Ärzte, Volksschullehrer, Zahnärzte, Geistliche und Architekten, auf Platz zehn standen die Ingenieure.Für den Großen Brockhaus in den 1950er-Jahren galt, dass fast ein Drittel seiner Käufer Lehrer waren oder aus kaufmännischen Berufen stammte. Bundespräsident Theodor Heuss berichtete 1955, er habe den Großen Brockhaus in seinem Arbeitszimmer hinter sich, und neben sich auf dem Schreibtisch den kleinen. ==== Besondere Zielgruppen ==== Eine besondere Zielgruppe konnten Frauen sein, so bei den Frauenzimmerlexika, wie das Damen Conversations Lexikon von 1834, die eine Tradition des 18. Jahrhunderts fortführten. Sie sollten nicht ermüdend Tatsachen aufzählen, sondern anschaulich und romantisch sein, ausführlich dort, wo die Themen die weibliche Sphäre berührten. Staat und Politik fehlten in ihnen völlig. Auch entstanden ab dem frühen 19. Jahrhundert sogenannte Hauslexika, die sich speziell Themen der praktischen Lebensbereiche widmeten. Eigene Nachschlagewerke gab es auch für Kinder, wenngleich sie lange Zeit selten waren (rechnet man nicht eigentliche Lehrbücher hinzu). Vor dem 19. Jahrhundert war wohl die Pera librorum juvenilium (Sammlung von Büchern für die Jugend, 1695) von Johann Christoph Wagenseil das einzige Werk dieser Art. Dann brachte Larousse 1853 die Petite Encyclopédie du jeune âge heraus, aber die nächste erschien im Verlag erst 1957. Arthur Mee (1875–1943) brachte 1910/1912 eine moderne Kinderenzyklopädie auf Englisch heraus, die in Großbritannien The Children’s Encyclopaedia und in den USA The Book of Knowledge genannt wurde. Die reich bebilderten Artikel waren lebhaft geschrieben. Von großem Erfolg war auch die World Book Encyclopedia (seit 1917/1918). Der Erste Weltkrieg unterbrach die Planung für eine Britannica Junior, sie erschien erst 1934. Der Britannica-Verlag kam dann noch mit mehreren Kinderenzyklopädien hervor. Mein erster Brockhaus war in den 1950er-Jahren ein großer Publikumserfolg trotz relativ hohem Preis. == Kritik == === Oberflächliches Wissen === Als Enzyklopädien nicht mehr als Lehrbücher, sondern als Nachschlagewerke verstanden wurden, wurde befürchtet, dass die Leser faul würden. Im Vorwort zur Deutschen Encyclopädie (1788) beispielsweise setzte man sich mit dem Gedanken auseinander, dass manche Enzyklopädien Unterricht ohne Mühe, ohne Grundlagenwissen versprächen. Goethe ließ im Lustspiel Die Vögel jemanden sagen: „Hier sind die großen Lexica, die großen Krambuden der Literatur, wo jeder einzelne sein Bedürfnis pfennigweise nach dem Alphabet abholen kann.“Gerade die Befürworter einer systematischen Anordnung meinten, bei einer alphabetischen Anordnung könnte der Leser sich mit knappem, oberflächlichem Wissen zufriedengeben. Die Antwort der Lexikonmacher lautete, ihre Leser seien schon gebildet.1896 machte der Journalist Alfred Dove sich über die Oberflächlichkeit lustig, die die Konversationslexika in die Konversation gebracht hätten. Dabei sei es unerheblich, ob man sich dem Brockhaus oder dem Meyer anvertraue, sie seien einander gleich an Charakter und Wert.Auf die Gläubigkeit gegenüber der gedruckten Autorität ging das kurze Theaterstück Der große Brockhaus ein, das 1905 im Rahmen des 100. Jubiläums von Brockhaus’ Konversations-Lexikon aufgeführt wurde. Der Protagonist schreibt seine Rede über die Gasanstalt aus dem Brockhaus ab und übersieht dabei, dass er bereits aus dem anschließenden Artikel über das Gasthaus übernimmt. Den Zuhörern fällt der Irrtum nicht auf und er kann die Wahl zum Stadtrat dennoch für sich entscheiden. Danach gesteht er gegenüber dem Bürgermeister: „Kinder, was ist der große Brockhaus doch für ein herrliches Buch, sogar wenn man falsch aus ihm abschreibt, klingt’s doch noch richtig.“ === Mangelnde Aktualität === Auch bei grundsätzlich für hochwertig angesehenen Produkten wurde die Kritik laut, dass der Inhalt veraltet sei. Mit dem wissenschaftlichen Fortschritt vor allem seit dem 17. Jahrhundert war dies an sich kaum vermeidbar. Wenn der letzte Band eines Großwerkes erschien, war der erste oft schon mehrere Jahre, wenn nicht Jahrzehnte alt. Überholte Darstellungen konnten jedoch auch ein Versäumnis des Autors oder Herausgebers sein, der sich nicht um die neueste Fachliteratur bemüht hatte. So behauptete Dennis de Coetlogon in seiner Universal history von 1745 fälschlicherweise, die von ihm verwendeten astronomischen Tafeln seien aktuell. Das hatte zum Teil damit zu tun, dass er aus der Cyclopaedia von 1728 abschrieb. Unter „Agriculture and Botany“ meinte de Coetlogon, dass der Saft in Pflanzen zirkuliere, so wie das Blut in Tieren. Diese Ansicht war bereits im vorherigen Jahrzehnt durch Stephen Hales’ Experimente widerlegt worden.Ihrer eigenen Reklame zufolge war die Encyclopaedia Britannica stets sehr aktuell. Harvey Einbinder listete in den 1960er-Jahren jedoch zahlreiche Artikel auf, die seit sechs Jahrzehnten oder länger nicht oder kaum verändert wurden. Beispielsweise die Artikel über Hesiod und Mirabeau seien aus den Jahren 1875–1889. In der Ausgabe von 1958 hieß es noch, dass in der polnischen Stadt Tarnopol 35.831 Menschen leben, davon vierzig Prozent Juden. Um das Alter der Artikel zu verbergen, entfernte die Encyclopaedia Britannica die Initialen von Autoren, die bereits verstorben waren. Das Alter war aber zum Teil an den veralteten Literaturhinweisen erkennbar, etwa, wenn 1963 der Artikel „Punic War“ (Punischer Krieg) angeblich aktuelle Forschung vermeldete, dies sich aber auf Veröffentlichungen von 1901 und 1902 bezog.Einbinder erklärte die veralteten Artikel damit, dass der Britannica-Verlag wesentlich mehr Geld für Reklame ausgab als für die Verbesserung des Inhalts. Selbst bei einer großzügigen Schätzung betrugen die Kosten für Beitragende um 1960 weniger als eine Million Dollar, der Werbe-Etat allein für die USA sah jedoch vier Millionen vor.Paul Nemenyi schrieb über die Ausgabe von 1950, dass die naturwissenschaftlichen Artikel im Durchschnitt fünfzehn bis dreißig Jahre alt seien. Als Diana Hobby von der Houston Post 1960 die Kritik von Einbinder wiedergab, erhielt sie in der Folge vom Britannica-Verlag einen Brief, dass sie nur wegen ihres Alters, ihres Geschlechts und ihrer Unschuld eine so bösartige Kritik ernst nehmen könne.Die Herausgeber von Enzyklopädien versuchten, die Aktualität mithilfe von Ergänzungsbänden aufrechtzuerhalten. 1753 erschienen beispielsweise zwei Ergänzungsbände (Supplements) für die 7. Auflage der Cyclopaedia. Der Brockhaus kam dann für seine Auflage von 1851 bis 1855 mit einem Jahrbuch (1857–1864), das in monatlichen Stücken erschien. Als um das Jahr 2000 gedruckte Enzyklopädien seltener wurden, sind oftmals die Jahrbücher weiterhin erschienen, auch wenn das eigentliche Werk bereits sein Ende gefunden hatte. Laut Umfrage von 1985 fanden Mitarbeiter von wissenschaftlichen Bibliotheken in den USA die Aktualität einer Enzyklopädie ähnlich wichtig wie Aufbau und Zugänglichkeit, und nur noch die Zuverlässigkeit wichtiger. Als allgemeine, ungeschriebene Regel galt, dass man alle fünf Jahre eine neue Enzyklopädie anschaffen müsse. Viele Bibliotheken kauften etwa einmal im Jahr eine neue Enzyklopädie, sodass sie reihum einen relativ aktuellen Satz (set) der wichtigsten Enzyklopädien anbieten konnten. Eine Ausnahme war die Britannica in der umstrittenen Anordnung der frühen siebziger Jahre; bei einem Viertel der Respondenten war ihr set mindestens neun Jahre alt. Die Bibliothekare klagten nicht über die Aktualität, und es gab Hinweise, dass sie für neuere Informationen andere Werke oder die Zeitung empfahlen.Das Bewusstsein der zeitlichen Bedingtheit von Wissen führt auch zu Kritik an der visuellen Gestaltung von Wissensvermittlung. In literarischen und künstlerischen Bezügen auf das Format der Enzyklopädie im 20. Jahrhundert äußert sich diese Kritik der Literaturwissenschaftlerin Monika Schmitz-Emans zufolge in einer teilweisen Emanzipation vom üblichen Zweck von Wissensvermittlung durch Bilder und Texte. === Zielgruppen und Statussymbol === Zwar haben Enzyklopädien normalerweise den Anspruch, allgemeinverständlich auch für Laien zu sein, können ihn aber gerade bei naturwissenschaftlichen Themen nicht immer einhalten. Spezialisten neigen dazu, in ihren Artikeln zu sehr ins Detail zu gehen, anstatt die allgemeinen Aspekte darzustellen. So berichtete Robert Collison in den 1960er-Jahren von einem Techniker, dem anhand von wohlausgewählten Beispieltexten eine Großenzyklopädie aufgeschwatzt wurde. Sie erwies sich aber als zu anspruchsvoll für ihn, sodass er sie bald wieder mit Verlust verkaufte.Die Reklame für die Encyclopaedia Britannica verwendete gegenüber Eltern gern das Verkaufsargument, mit dieser Enzyklopädie könne man das Bildungsniveau der Kinder erhöhen und ihnen bessere Chancen im Vergleich zu anderen Kindern geben. Allerdings wurde die Enzyklopädie nicht für Kinder, sondern für Erwachsene geschrieben. Collisons Vermutung, dass die meisten Kinder (und Erwachsenen) ihre für viel Geld erworbene Enzyklopädie gar nicht verwenden, wurde von Untersuchungen des Britannica-Verlags bestätigt. Der durchschnittliche Käufer hat weniger als einmal pro Jahr in seine Encyclopaedia Britannica geschaut.Dementsprechend wurde von den Kritikern auch wiederholt die Frage gestellt, ob Großenzyklopädien nicht ein „kostspieliger Luxus“ (Anja zum Hingst) sind, mehr ein Statussymbol für kaufkräftige Schichten als ein Instrument zur persönlichen Bildung. Betrachtet man nur die echten (gebundenen) Großenzyklopädien mit mindestens zehn Bänden, nicht älter als zwanzig Jahre, so gab es diese in den 1980er-Jahren allenfalls in fünf bis acht Prozent der Haushalte. Den Verdacht des Statussymbols schürten nicht zuletzt die Luxus-, Jubiläums- und Künstlerausgaben, die noch einmal deutlich teurer waren als die normalen, die bereits hochwertig gebunden und auf gutem Papier gedruckt waren. == Literatur == Robert Collison: Encyclopaedias. Their history throughout the ages. A bibliographical guide with extensive historical notes to the general encyclopaedias issued throughout the world from 350 B. C. to the present day. 2. Auflage. Hafner, New York 1966, OCLC 220101699. Ulrich Dierse: Enzyklopädie. Zur Geschichte eines philosophischen und wissenschaftstheoretischen Begriffs. Bouvier, Bonn 1977, ISBN 3-416-01350-6. Walter Goetz: Die Enzyklopädie des 13. Jahrhunderts. In: Zeitschrift für deutsche Geistesgeschichte. Band 2, 1936, S. 227–250. Ulrike Haß (Hrsg.): Große Lexika und Wörterbücher Europas. Europäische Enzyklopädien und Wörterbücher in historischen Porträts. De Gruyter, Berlin/Boston 2012, ISBN 978-3-11-019363-3. Hans Dieter Hellige: Weltbibliothek, Universalenzyklopädie, Worldbrain. Zur Säkulardebatte über die Organisation des Weltwissens. In: Technikgeschichte. Band 67, Heft 4, 2000, S. 303–329. Hans-Albrecht Koch (Hrsg.): Ältere Konversationslexika und Fachenzyklopädien: Beiträge zur Geschichte von Wissensüberlieferung und Mentalitätsbildung. (= Beiträge zur Text-, Überlieferungs- und Bildungsgeschichte. Band 1). Peter Lang, Frankfurt am Main u. a. 2013, ISBN 978-3-631-62341-1. Werner Lenz: Kleine Geschichte großer Lexika. Bertelsmann-Lexikon-Verlag, Gütersloh u. a. 1972, ISBN 3-570-03158-6. Ines Prodöhl: Die Politik des Wissens. Allgemeine deutsche Enzyklopädien zwischen 1928 und 1956. Akademie-Verlag, Berlin 2011, ISBN 978-3-05-004661-7. Ulrich Johannes Schneider (Hrsg.): Seine Welt wissen. Enzyklopädien in der Frühen Neuzeit. Primus, Darmstadt 2006, ISBN 3-89678-560-5. Ulrich Johannes Schneider: Die Erfindung des allgemeinen Wissens. Enzyklopädisches Schreiben im Zeitalter der Aufklärung. Akademie-Verlag, Berlin 2013, ISBN 978-3-05-005780-4. Ulrike Spree: Das Streben nach Wissen. Eine vergleichende Gattungsgeschichte der populären Enzyklopädie in Deutschland und Großbritannien im 19. Jahrhundert. Niemeyer, Tübingen 2000, ISBN 3-484-63024-8. Theo Stammen, Wolfgang E. J. Weber (Hrsg.): Wissenssicherung, Wissensordnung und Wissensverarbeitung. Das europäische Modell der Enzyklopädien. Akademie-Verlag, Berlin 2004, ISBN 3-05-003776-8. Ingrid Tomkowiak (Hrsg.): Populäre Enzyklopädien. Von der Auswahl, Ordnung und Vermittlung des Wissens. Chronos, Zürich 2002, ISBN 978-3-0340-0550-0. Bernhardt Wendt: Idee und Entwicklungsgeschichte der enzyklopädischen Literatur. Eine literarisch-bibliographische Studie (= Das Buch im Kulturleben der Völker. Band 2). Aumühle, Würzburg 1941. Carsten Zelle (Hrsg.): Enzyklopädien, Lexika und Wörterbücher im 18. Jahrhundert (= Das achtzehnte Jahrhundert. 22. Jahrgang, Heft 1). Wallstein, Göttingen 1998, ISBN 3-89244-286-X. == Weblinks == N-Zyklop – Datenbankverzeichnis Enzyklopaedie.ch – Forschungsprojekt mit einer Liste von historischen Enzyklopädien Enzyklothek. Historische Nachschlagewerke – Digital library (private Seite) Medieval Encyclopedias, Bestiaries, and Lapidaries (Medieval Studies) (Memento vom 12. Juni 2010 im Internet Archive) Literatur von und über Enzyklopädien im Katalog der Deutschen Nationalbibliothek == Belege ==
https://de.wikipedia.org/wiki/Enzyklop%C3%A4die
Säugetiere
= Säugetiere = Die Säugetiere (Mammalia) sind eine Klasse der Wirbeltiere. Zu ihren kennzeichnenden Merkmalen gehören das Säugen des Nachwuchses mit Milch, die in den Milchdrüsen der Weibchen produziert wird, sowie das Fell aus Haaren, das sie in Kombination mit der gleichwarmen Körpertemperatur relativ unabhängig von der Umgebungstemperatur macht. Bis auf wenige Ausnahmen (Kloakentiere) sind Säugetiere lebendgebärend. Säugetiere sind an Land am artenreichsten verbreitet, doch bevölkern sie auch Luft und Wasser. Das Verhaltensspektrum der Säugetiere ist breit und flexibel, einige Gruppen zeigen komplexe soziale Gefüge. Zur Systematik der Säugetiere wurden, im Jahr 2022, insgesamt 6596 rezente Arten gezählt. Fast 200 neu entdeckte Arten wurden nach 2018 erstmals beschrieben, als zwischen 6399 Spezies innerhalb der Säugetiere unterschieden wurde.Die Säugetiere werden in drei Unterklassen eingeteilt: die eierlegenden Ursäuger (Protheria), die Beutelsäuger (Metatheria) und die Höheren Säugetiere oder Plazentatiere (Eutheria), zu denen auch der Mensch zählt. Diejenige Richtung der speziellen Zoologie, die sich der Erforschung der Säugetiere widmet, wird als Mammalogie bezeichnet. == Körperbau == Säugetiere zählen zu den Landwirbeltieren (Tetrapoda) innerhalb des Taxons der Wirbeltiere (Vertebrata) und teilen somit die Merkmale dieser Gruppen, die hier nicht einzeln wiedergegeben werden. === Grundsätzliche Merkmale === ==== Haare ==== Ein Fellkleid aus Haaren ist eines der wichtigsten Merkmale der Säugetiere. Auch wenn manche Arten (zum Beispiel die Wale) praktisch haarlos sind, haben sie sich doch aus behaarten Vorfahren entwickelt und zeigen zumindest in ihrer Embryonalentwicklung Haarwuchs. Die meisten Säugetierarten sind zeit ihres Lebens am überwiegenden Teil des Körpers behaart. Haare bestehen hauptsächlich aus dem Protein Keratin. Die Haare der Tiere können mehrere Funktionen haben: Das Fell dient der Wärmeregulierung, es isoliert bei Kälte und schützt manchmal auch bei heißem Wetter. Diese Isolierung ist eine wichtige Voraussetzung für die Homoiothermie (die gleichwarme Körpertemperatur). Eine spezielle Färbung und Anordnung der Haare dient dem Sichtschutz und der Tarnung sowohl von Beutetieren als auch von Jägern. Verschiedene Säugetierarten verändern zu diesem Zweck jahreszeitlich ihre Fellfarbe (zum Beispiel Schneehasen und Polarfüchse). Eine auffällige Fellzeichnung kann auch der Warnung gegenüber Fressfeinden dienen (zum Beispiel bei den Skunks). Das Haarkleid kann Unterschiede der Geschlechter markieren (Löwenmähne, Gesichts- und Brustbehaarung beim Menschen). Haare können der Kommunikation dienen, zum Beispiel die aufgerichteten Nackenhaare des Wolfs oder der aufgerichtete weiße Schwanz des Weißwedelhirsches als Fluchtsignal. Haare spielen für den Tastsinn eine Rolle. Besonders ausgeprägt ist diese Funktion bei den Tasthaaren (Vibrissen), die durch spezielle Muskeln bewegt werden können und mit Nervenfasern und Mechanorezeptoren ausgestattet sind. Bei einer Reihe von Säugetieren, zum Beispiel bei Stacheligeln, Stachelschweinen und Ameisenigeln, hat sich ein Teil der Haare zu Stacheln entwickelt, die zusätzlichen Schutz vor Fressfeinden gewähren. Haare können eine Filter- oder Reusenfunktion als Schutz von Sinnesorganen oder der Atemluft vor Fremdkörpern einnehmen wie etwa Nasenhaare, Ohrenhaare, Wimpern und Augenbrauen bei Primaten. ==== Gebiss ==== Säugetiere sind in der Regel durch ein heterodontes Gebiss mit vier verschiedenen Zahntypen charakterisiert, die Schneidezähne (Incisivi), Eckzähne (Canini), und zwei Arten von Backenzähnen (Prämolaren und Molaren). Die Zahl der einzelnen Zahntypen wird mit der Zahnformel wiedergegeben. Ein heterodontes Gebiss ist ein wichtiges Unterscheidungsmerkmal von den homodonten (gleichförmigen) Gebissen der Reptilien und vor allem bei der Einordnung von Fossilien von Bedeutung. Bei den meisten Säugetieren gibt es einen einmaligen Zahnwechsel (Diphyodontie). Zunächst werden Milchzähne angelegt (lacteale Dentition), die später durch die „zweiten“ oder bleibenden Zähne (permanente Dentition) ersetzt werden. Lediglich die Molaren werden nicht ersetzt, sondern kommen erst mit den bleibenden Zähnen. Eine Reihe von Säugetiergruppen besitzt wurzellose Zähne, die zeitlebens weiterwachsen und durch Abrieb abgenutzt werden. Dazu zählen beispielsweise die Nagezähne der Nagetiere oder die Stoßzähne der Elefanten, des Narwals, des Walrosses und anderer Arten. Die Ursäuger (Protheria) besitzen im Erwachsenenalter keine Zähne, lediglich die Schlüpflinge haben einen den Vögeln vergleichbaren Eizahn, mit dem sie die Eischale durchbohren. Das Gebiss der Beutelsäuger (Metatheria) unterscheidet sich in einigen Aspekten von dem der Höheren Säugetiere: so haben alle Taxa mit Ausnahme der Wombats eine unterschiedliche Anzahl von Schneidezähnen im Ober- und Unterkiefer. Die frühen Beutelsäuger wiesen eine Zahnformel von 5/4-1/1-3/3-4/4, insgesamt also 50 Zähne auf. Noch heute haben diese Tiere in vielen Fällen 40 bis 50 Zähne, also deutlich mehr als vergleichbare Plazentatiere. Die frühen Höheren Säugetiere (Eutheria) besaßen eine Zahnformel von 3/3-1/1-4/4-3/3, insgesamt also 44 Zähne. Diese ursprüngliche Zahnformel findet sich noch bei manchen Arten, zum Beispiel dem Wildschwein. In den meisten Fällen ist es durch eine spezialisierte Ernährung zu einer Reduktion der Anzahl der Zähne gekommen. Einige wenige Taxa, zum Beispiel die Ameisenbären oder die Schuppentiere, sind gänzlich zahnlos geworden. Der umgekehrte Fall, eine evolutionsbedingte Erhöhung der Anzahl der Zähne, ist nur in wenigen Fällen eingetreten: Das Riesengürteltier (Priodontes maximus) hat bis zu 100 stiftartige Zähne in der röhrenförmigen Schnauze, die höchste Zahl aller Landsäugetiere. Einen Sonderfall stellen die Zahnwale dar, deren Zähne wieder gleichförmig (homodont) geworden sind. Die Anzahl kann bei manchen Delfinarten bei 260 Zähnen liegen. ==== Gehörknöchelchen und Kiefergelenk ==== Ein Exklusivmerkmal der Säugetiere sind die drei Gehörknöchelchen Hammer (Malleus), Amboss (Incus) und Steigbügel (Stapes). Diese befinden sich im Mittelohr; sie nehmen die Schwingungen des Trommelfells auf und leiten sie an das ovale Fenster des Innenohres weiter. Stammesgeschichtlich können die Gehörknöchelchen von Bestandteilen ursprünglicher Kiemen- bzw. Kieferbögen abgeleitet werden: Der Steigbügel vom Hyomandibulare, welches bei den Fischen Bestandteil des Suspensoriums und bei anderen Landwirbeltieren als Columella ausgebildet ist, Amboss und Hammer vom Quadratum sowie von einem Teil des durch Knochen ersetzten Meckelschen Knorpels, dem Articulare. Das Trommelfell wird von einem fast ringförmigen Knochen, dem Tympanicum, umschlossen. Bei den anderen Wirbeltieren bilden Quadratum und Articulare das primäre Kiefergelenk, welches bei den Säugetieren während der fetalen Entwicklung durch ein an anderer Stelle entstehendes, sekundäres Kiefergelenk ersetzt wird. Dieses wird von den Deckknochen Dentale und Squamosum gebildet. Der Übergang vom primären zum sekundären Kiefergelenk wurde funktionell möglich, als die Gelenkachsen beider infolge der Größenzunahme des Gehirns bzw. Hirnschädels bei den Cynodontia in eine Linie zusammenfielen. ==== Weitere Merkmale ==== Ein weiteres Exklusivmerkmal der Säugetiere ist das Säugen der Jungtiere mit Milch, Näheres siehe im Abschnitt Fortpflanzung. Säugetiere besitzen als einzige Tiergruppe ein Zwerchfell, einen flächigen Muskel, der Brust- und Bauchhöhle voneinander trennt. Die Säugetiere haben einen sekundären Gaumen mit weit hinten liegender innerer Nasenöffnung (Choane) entwickelt. Er erlaubt das Atmen beim bisweilen ausgiebigen Kauen der Nahrung sowie bei den Jungtieren während des Säugens, ermöglicht durch die zeitweise vollständige Trennung von Nasen- und Mundhöhle das Säugen überhaupt erst physikalisch. Ein Kehldeckel (Epiglottis) verschließt beim Schlucken den Kehlkopf, um das Eindringen von Nahrung in die Luftröhre zu verhindern. Außer bei den Kloakentieren wird der Kehlkopf zum größten Teil vom Schildknorpel (Cartilago thyreoidea) gebildet. Das Gehirn ist vergleichsweise gut entwickelt, der Neocortex ist ein Exklusivmerkmal dieses Taxons. Der Schädel ist ein modifizierter synapsider Schädel. Das heißt, bei den Vorfahren der Säuger war ein einzelnes Schädelfenster im Schläfenbereich vorhanden, das bei den Säugetieren verschlossen und nur noch anhand des Vorhandenseins des Jochbogens erkennbar ist. Die Roten Blutkörperchen der Säugetiere haben keinen Zellkern und keine sonstigen Organellen. Säugetiere haben, zusammen mit den Vögeln, einen doppelten Blutkreislauf: einen Lungen- und einen Körperkreislauf. Das Herz ist in vier Kammern – zwei Vorhöfe und zwei Hauptkammern – unterteilt. Die beiden Herzhälften, eine linke mit sauerstoffreichem und eine rechte mit sauerstoffarmem Blut, sind durch eine vollständige Scheidewand getrennt – außer beim Fötus (Foramen ovale). Neben den Vögeln sind die Säugetiere die einzige Tiergruppe, in deren Nieren sich Henle’sche Schleifen (Ansae nephricae) befinden, wodurch sie zur Rückresorption von Wasser aus dem Primärharn fähig sind. === Vielfalt im Körperbau === Im Zuge ihrer Entwicklungsgeschichte haben die Säugetiere nahezu alle Lebensräume besiedelt und sich dabei in eine Vielzahl von Formen aufgeteilt. Eine Reihe von Arten hat sich an eine aquatische (wasserlebende) Lebensweise angepasst; am spezialisiertesten sind die Wale, deren Körperbau Ähnlichkeiten mit den Fischen aufweist. Die Vordergliedmaßen sind zu Flossen (Flipper) umgestaltet, die Hintergliedmaßen sind rückgebildet und der Schwanz ist zu einer Fluke umgebildet. Bei anderen Taxa wie Robben und Seekühen ist die Anpassung an das Wasser weniger weit fortgeschritten. Die Fledertiere sind neben den Vögeln und den ausgestorbenen Flugsauriern die einzigen Wirbeltiere, die zum aktiven Fliegen fähig sind. Sie weisen stark verlängerte Finger auf, die die Flughaut aufspannen. Daneben hat eine Reihe von Säugetiertaxa unabhängig voneinander Gleitmembranen entwickelt, die ihnen einen passiven Gleitflug ermöglichen: dazu zählen die Riesengleiter, die Gleit- und Dornschwanzhörnchen aus der Gruppe der Nagetiere sowie drei Familien gleitender Beuteltiere (die Gleit-, Ring- und Zwerggleitbeutler). Verschiedenste Säugetiere sind an eine unterirdisch-grabende Lebensweise angepasst. Diese haben einen walzenförmigen Körperbau mit kurzen, oft zu Grabwerkzeugen erweiterten Gliedmaßen entwickelt. Zahlreiche Arten führen eine arboreale (baumbewohnende) Lebensweise – diese sind oft durch greiffähige Pfoten mit opponierbarem Daumen und Greifschwanz charakterisiert. Bewohner von Grasländern und anderen offenen Habitaten weisen oft eine Reduktion der Zehenanzahl und die Herausbildung von verhornten Zehen oder Hufen auf, andere haben stark vergrößerte Hinterbeine und eine springende Fortbewegung entwickelt. Viele Arten, vorwiegend kleinere, versteckt lebende, weisen hingegen einen gedrungenen Körperbau mit kurzen Gliedmaßen auf – darunter zahlreiche Nagetiere und Insektenfresser. Auch bei der Größe gibt es beträchtliche Unterschiede: Als kleinste Säugetiere gelten die Schweinsnasenfledermaus und die Etruskerspitzmaus, die jeweils nur 2 Gramm Körpergewicht erreichen. Der Blauwal hingegen gilt als das größte Tier, das jemals auf der Erde lebte, und erreicht in Ausnahmefällen bis zu 150 Tonnen Gewicht, was das 75-Millionen-fache der kleinsten Säuger darstellt. == Verbreitung und Lebensräume == Säugetiere sind weltweit verbreitet, sie finden sich auf allen Kontinenten, in allen Ozeanen sowie auf den meisten Inseln. Ursäuger sind auf Australien und Neuguinea beschränkt, Beutelsäuger leben einerseits auf dem australischen Kontinent und Südostasien östlich der Wallace-Linie und andererseits in Nord-, Mittel- und Südamerika. Höhere Säugetiere haben eine weltweite Verbreitung, waren aber bis zur Ankunft des Menschen in Australien nur durch relativ wenige Arten vertreten, namentlich Fledertiere und Echte Mäuse. Auf abgelegenen Inseln gab es bis zur Ankunft des Menschen nur eine eingeschränkte Säugetierfauna; so waren auf vielen Inseln, darunter Neuseeland, Fledertiere die einzigen Säuger. Säugetiere haben nahezu alle Regionen der Erde besiedelt und kommen in den meisten Lebensräumen vor. Man findet sie in Wüsten und Wäldern, im Hochgebirge und auch in den Polarregionen. Zu den wenigen Regionen, in denen sich (zumindest bis auf zeitweilige Aufenthalte des Menschen) keine Säuger finden, zählt das Innere des antarktischen Kontinents. Mehrere Gruppen von Säugetieren, die Meeressäugetiere, haben sich dem Leben im Meer angepasst; in der Tiefsee finden sich allerdings nur wenige spezialisierte Walarten. == Lebensweise == === Lebensweisen === So unterschiedlich die Säugetiere in Bezug auf ihren Körperbau und ihre Lebensräume sind, so unterschiedlich sind auch ihre Lebensweisen. Es finden sich tag-, dämmerungs- und nachtaktive sowie kathemerale (sowohl am Tag als auch in der Nacht aktive) Arten. Auch im Sozialverhalten gibt es beträchtliche Unterschiede: neben strikt einzelgängerischen Arten gibt es andere, die in Gruppen von bis zu Tausenden von Tieren zusammenleben. Manche Arten haben komplexe Verhaltensmuster entwickelt, sie etablieren eine strenge Rangordnung innerhalb der Gruppe und kommunizieren untereinander mittels Lauten, Gesten oder Körperhaltungen. Obwohl es die Ausnahme ist, so gibt es auch Säugetiere, die Gifte zur Verteidigung oder zur Jagd einsetzen (siehe: Giftige Säugetiere). Einige Säugetiere vermeiden klimatisch extreme Zeiten und den damit verbundenen Nahrungsmangel, indem sie in einen Winterschlaf oder einen Torpor (Starrezustand) verfallen, etwa in kalten oder trockenen Jahreszeiten. Dabei fällt die Körpertemperatur nahezu auf die Umgebungstemperatur ab, Atmung und Herzschlag verlangsamen sich und der Stoffwechsel wird reduziert. === Sinneswahrnehmung === Der Geruchssinn spielt eine bedeutende Rolle in der Lebensweise der Säugetiere, unter anderem bei der Nahrungssuche und bei der Fortpflanzung, wo Pheromone die Paarungsbereitschaft signalisieren. Auch für das Territorialverhalten ist der Geruch bedeutend, etliche Arten markieren ihr Territorium mittels Urin, Kot oder spezieller Drüsensekrete. Im Allgemeinen ist bei Säugetieren das Gehör gut entwickelt. Eine Sonderform ist die Echoortung, bei der anhand des zurückkehrenden Echos ausgesandter Schallwellen die eigene Position bestimmt oder Beute lokalisiert werden kann. Bei zwei Taxa, den Zahnwalen und den Fledermäusen, ist die Echolokation besonders ausgeprägt, sie findet sich aber auch bei anderen Gruppen. Auch der Tastsinn dient der Wahrnehmung der Umwelt. Viele Arten haben zu diesem Zweck spezielle Tasthaare (Vibrissae) entwickelt, die außerordentlich empfindlich sind und durch Muskelbewegungen gesteuert werden können. Auch die Haut selbst ist ein Sinnesorgan, bestimmte Körperteile sind besonders reich an Mechanorezeptoren, zum Beispiel die Fingerspitzen der Primaten oder die Nasen- beziehungsweise Rüsselregion vieler Arten. Der bestentwickelte Tastsinn aller Säuger wird im Allgemeinen dem Sternmull zugesprochen. Erwähnt seien in diesem Zusammenhang noch die feinen Elektrorezeptoren im Schnabel der Kloakentiere, die auf die Muskelbewegung der Beutetiere reagieren. Auch in der sozialen Interaktion ist der Tastsinn oft bedeutend, zum Beispiel bei der von vielen Tieren praktizierten gegenseitigen Fellpflege („Grooming“). Die Bedeutung des Gesichtssinnes ist stark unterschiedlich. Oft spielt er jedoch nur eine untergeordnete Rolle, insbesondere bei unterirdisch lebenden Tieren, deren Augen oft rückgebildet sind. Große Augen und ein relativ gutes Sehvermögen haben dagegen beispielsweise die Katzen und die Primaten. Auch die Position der Augen ist ausschlaggebend: während Räuber meist nach vorne gerichtete Augen haben, die ein räumliches Sehen und somit eine genauere Entfernungsabschätzung ermöglichen, sind die Augen von Beutetieren oft seitlich angebracht, was einem nahezu vollständigen Rundumblick und der frühestmöglichen Erkennung von Gefahren dient. === Ernährung === Eine Gemeinsamkeit aller Säugetiere ist der verglichen mit anderen Tieren gleicher Größe hohe Energie- und demzufolge Nahrungsbedarf, der eine Folge der gleich bleibenden Körpertemperatur ist. Einige Arten verzehren täglich nahezu Nahrung im Ausmaß ihres eigenen Körpergewichtes. Bei der Art der Nahrung gibt es eine gewaltige Bandbreite, es finden sich Pflanzenfresser (Herbivoren), Fleischfresser (Carnivoren) und ausgeprägte Allesfresser (Omnivoren). Die Anzahl und der Bau der Zähne sowie die Ausgestaltung des Verdauungstraktes spiegeln die Ernährungsweise wider. Fleischfresser haben einen kurzen Darm, um die rasch entstehenden Fäulnisgifte ihrer Nahrung zu vermeiden. Pflanzenfresser, deren Nahrung im Allgemeinen schwerer verdaulich ist, haben eine Reihe von Strategien entwickelt, um die Inhaltsstoffe bestmöglich verwerten zu können. Dazu gehören unter anderem ein längerer Darm, ein mehrkammeriger Magen (zum Beispiel bei Wiederkäuern oder Kängurus) oder die Caecotrophie, das nochmalige Verzehren des Kotes bei Nagetieren und Hasen. Rein blätterfressende (folivore) Arten (zum Beispiel Koalas oder Faultiere) nutzen ihre nährstoffarme Nahrung bestmöglich aus, indem sie ausgesprochen lange Ruhephasen einlegen. === Lernverhalten === Eine Form des Lernverhaltens ist die Prägung, bei Säugetieren ist die olfaktorische Prägung, das heißt die Sensibilisierung für verschiedene Gerüche, häufiger als bei anderen Wirbeltiergruppen. Oft dient die Prägung zur Erkennung von Verwandten, etwa der Mutter oder den Geschwistern. Mit prägungsähnlichen Erfahrungen kann auch die Nahrungspräferenz bestimmt werden. Gelernte Aktionen können auch tradiert, das heißt weitergegeben werden. Voraussetzung dafür ist das Leben in Gruppen mit Sozialstrukturen. Die meisten Säugetiere zeigen in der Jugendphase Spielverhalten, manche sogar bis ins hohe Alter. Häufig kommt es zu Sozialspielen mit Spielpartnern, in denen beispielsweise von fleischfressenden Tieren das Anschleichen an die Beute oder bei Huftieren die Flucht eingeübt wird. Oft erfolgen anschließend Rollenwechsel von Angreifern und Verteidigern. Auch Objektspiele kommen vor, indem Gegenstände berührt oder in Bewegung versetzt werden. == Fortpflanzung == === Paarungsverhalten === Die meisten Säugetierarten sind entweder polygyn (ein Männchen paart sich mit mehreren Weibchen) oder promiskuitiv (Männchen und Weibchen paaren sich mit mehreren Partnern). Da das Tragen und das Säugen für die Weibchen zeit- und energieintensiv sind, könnten die Männchen mehr Jungtiere zeugen als die Weibchen gebären können. Daraus ergibt sich in vielen Fällen ein polygynes Verhalten, bei dem sich relativ wenige Männchen mit vielen Weibchen fortpflanzen und sich vielen Männchen keine Paarungsmöglichkeit bietet. Eine Folge davon sind oft heftige Rivalenkämpfe zwischen den Männchen um das Paarungsvorrecht und in manchen Fällen eine Wahlmöglichkeit seitens des Weibchens. Daraus resultieren bei vielen Säugetieren komplexe Verhaltensweisen oder anatomische Merkmale in Hinblick auf die Fortpflanzung. Viele Arten sind durch einen Geschlechtsdimorphismus (Männchen sind oft deutlich größer und schwerer als Weibchen) charakterisiert, auch als eine Folge des Selektionsdruckes der Männchen im Hinblick auf eine Verbesserung der Paarungschance. Schätzungen zufolge leben drei Prozent aller Säugetierarten in monogamen Beziehungen, in welchen sich ein Männchen während der Paarungszeit nur mit einem einzigen Weibchen fortpflanzt. In diesen Fällen beteiligt sich das Männchen meistens zumindest teilweise an der Jungenaufzucht. Manchmal hängt das Paarungsverhalten auch von den Umweltbedingungen ab: bei knappen Ressourcen paart sich das Männchen nur mit einem Weibchen und hilft bei der Aufzucht mit, bei Nahrungsreichtum kann das Weibchen das Jungtier allein großziehen und die Männchen paaren sich mit mehreren Partnerinnen. Die Polyandrie (ein Weibchen paart sich mit mehreren Männchen) findet sich nur selten im Säugetierreich, zum Beispiel bei manchen Krallenaffen. Bei diesen Tieren kümmert sich hauptsächlich das Männchen um den Nachwuchs. Erwähnt seien noch manche Arten der Sandgräber, einer in Afrika lebenden Nagetiergruppe, wie der Nackt- oder der Graumull. Diese pflegen eine eusoziale Lebensweise: Ähnlich wie bei manchen Insekten ist in einer Kolonie ein einziges Weibchen, die „Königin“, fruchtbar und paart sich mit mehreren Männchen, während die übrigen Tiere als unfruchtbare Arbeiter die notwendigen Tätigkeiten zur Versorgung der Gruppe verrichten. === Gebärweisen === Die Gebärweise unterscheidet sich bei den drei Unterklassen der Säugetiere am augenfälligsten. ==== Ursäuger ==== Merkmal der Ursäuger ist eine gemeinsame Körperöffnung für die Ausscheidungs- und Fortpflanzungsorgane, die Kloake. Der Penis der Männchen ist ausschließlich samenführend und an der Spitze gespalten. Die Ursäuger unterscheiden sich von allen anderen Säugetieren darin, dass sie nicht lebendgebärend sind, sondern Eier legen. Diese sind klein (rund 10 bis 15 Millimeter Durchmesser) und ähneln mit ihrer ledrigen Schale und dem großen Dotter mehr Reptilien- als Vogeleiern. Die ein bis drei Eier werden vom Weibchen rund zehn Tage lang bebrütet. Neugeschlüpfte Ursäuger sind nackt und klein und sind in ihrem embryoartigen Zustand mit neugeborenen Beuteltieren vergleichbar. Ein Beispiel für Ursäuger ist das Schnabeltier (Ornithorhynchus anatinus), das an der Ostküste Australiens beheimatet ist. ==== Beutelsäuger ==== Die Beutelsäuger unterscheiden sich im Bau der Fortpflanzungsorgane deutlich von Höheren Säugetieren. Bei ihnen ist der Fortpflanzungstrakt verdoppelt, Weibchen haben zwei Uteri und zwei Vaginae, auch die Männchen besitzen einen gespaltenen oder doppelten Penis mit davorliegendem Scrotum. Die Tragzeit ist kurz (12 bis 43 Tage), Rekordhalter ist die Schmalfußbeutelmaus Sminthopsis macroura mit nur 10,5 bis 11 Tagen. Die meisten Arten entwickeln keine Plazenta, allerdings ist bei manchen Beutelsäugern (zum Beispiel Koalas oder Nasenbeutlern) ein primitiver Mutterkuchen vorhanden. Die Neugeborenen kommen durch einen zwischen den Vaginae liegenden Geburtskanal zur Welt, der bei vielen Arten eigens für die Geburt angelegt wird. Neugeborene Beutelsäuger sind klein und im Vergleich zu den Höheren Säugetieren unterentwickelt. Das Gewicht des Wurfes beträgt stets weniger als 1 % des Gewichts der Mutter, die Babys der Rüsselbeutler wiegen gar nur fünf Milligramm und sind somit die kleinsten neugeborenen Säugetiere überhaupt. Neugeborene Beutelsäuger haben erst rudimentär entwickelte Organe, lediglich die Vordergliedmaßen sind gut entwickelt, da der Nachwuchs aus eigener Kraft zu den Zitzen der Mutter krabbeln muss. Viele, aber bei weitem nicht alle Beutelsäuger besitzen einen Beutel, in welchem sich die Zitzen befinden. Die Weibchen mancher Arten haben einen permanenten Beutel, bei anderen wird er erst während der Tragzeit ausgebildet, wieder bei anderen hängen die Jungtiere frei an der Zitze der Mutter, lediglich durch ihr Fell oder Hautfalten verborgen. Neugeborene hängen sich mit dem Mund an die Zitze und bleiben die ersten Lebenswochen fix damit verbunden. Die Säugezeit dauert im Vergleich zu den Höheren Säugetieren länger. Früher wurde die Gebärweise der Beutelsäuger als eine primitive, im Vergleich zu den Höheren Säugetieren unterentwickelte Methode betrachtet. Auch die Verdrängung mancher Beuteltiere durch eingeschleppte Plazentatiere hat zu diesem Vorurteil beigetragen. Abgesehen davon, dass dieses „Fortschrittsvorurteil“ hin zur Entwicklung des Menschen in der modernen Systematik weitgehend abgelöst wurde und etliche Beuteltierarten ihr Verbreitungsgebiet sehr erfolgreich ausgedehnt haben, bietet die Fortpflanzungsmethode der Beutelsäuger auch Vorteile: zum einen ist die für die Mutter anstrengende Tragzeit verkürzt, zum anderen kann weit schneller als bei Plazentatieren erneut ein Jungtier zur Welt gebracht werden, sollte das früher geborene sterben. ==== Höhere Säugetiere ==== Die Höheren Säugetiere oder Plazentatiere umfassen bei weitem die meisten Arten. Beide deutsche Namen für dieses Taxon sind aber etwas unglücklich gewählt: Das Wort „höher“ spiegelt einen Fortschritt wider, der in der modernen Systematik nicht haltbar ist, und auch manche Beutelsäuger haben eine einfache Plazenta. Schlüsselmerkmal der Höheren Säugetiere ist der Trophoblast (die äußere Zellschicht eines befruchteten Eis). Diese Schicht stellt eine immunologische Barriere dar und ermöglicht ein langes Heranwachsen im Mutterleib. Beutelsäuger haben keinen Trophoblast, die Tragezeit muss beendet sein, bevor die Immunabwehr der Mutter voll wirksam wird. Die Plazenta der Höheren Säugetiere ist durch das Allantochorion (eine Zottenhaut) charakterisiert. Die Zotten (Villi) sorgen für eine effizientere Ernährung des Keimes. Die Dauer der Schwangerschaft und die Anzahl der Neugeborenen ist auch von der Lebensweise abhängig. Nesthocker (zum Beispiel Raubtiere oder Nagetiere) haben eher eine kurze Tragzeit und eine hohe Wurfgröße, während Nestflüchter (zum Beispiel Paarhufer und Wale) eine lange Tragzeit und eine niedrige Wurfgröße aufweisen. So beträgt die Trächtigkeitsdauer bei manchen Hamsterarten nur 16 Tage, während sie bei Afrikanischen Elefanten bis zu 25 Monate dauern kann. === Das Säugen === Das namensgebende Merkmal der Säugetiere ist, dass das Weibchen die neugeborenen Kinder mit Milch ernährt, einer Nährflüssigkeit, die in Milchdrüsen produziert wird. Diese setzen sich aus äußerlich abgrenzbaren Drüsenkomplexen („Mammarkomplex“) zusammen, von denen jeder meist in einer Warze endet, die Zitze, beim Menschen auch Brustwarze, genannt wird. Eine Ausnahme bilden die Ursäuger, wo die Neugeborenen die Milch direkt von den Milchdrüsenfeldern aus dem Fell der Mutter lecken. Die Anzahl der Drüsenkomplexe ist je nach Art unterschiedlich und hängt mit der durchschnittlichen Wurfgröße zusammen, so haben Menschen oder Pferde nur zwei, Große Tenreks hingegen 24 oder bis zu 32. Die Ernährung mit Milch wird als Säugen beziehungsweise beim Menschen als Stillen bezeichnet und solange durchgeführt, bis das Jungtier fähig ist, feste Nahrung zu sich zu nehmen. Das Säugen hat große Konsequenzen für Jungtiere und Weibchen. Neugeborene erhalten ohne viel Aufwand eine fett- und nährstoffreiche Nahrung, die ein schnelles Wachstum gewährleistet, sind aber im Gegenzug auf die Präsenz der Mutter angewiesen. Ein Ammenverhalten, das heißt, dass Weibchen auch fremde Kinder säugen, ist nur von wenigen Arten (zum Beispiel Löwen) bekannt. Mit dem Säugen gehen in den meisten Fällen auch eine intensive Brutpflege und ein fürsorgliches Verhältnis zu den Jungen einher. Für die Weibchen wiederum bedeutet das Säugen, viel Zeit und Energie investieren zu müssen. === Lebenserwartung === So unterschiedlich die Gestalt und Lebensweise der Säugetiere ist, so unterschiedlich ist auch ihre Lebenserwartung. Generell leben kleinere Arten weniger lang als größere Arten, die Fledertiere bilden jedoch eine Ausnahme von diesem Muster. Während männliche Breitfuß-Beutelmäuse durchweg im Alter von rund elf Monaten sterben, nachdem sie sich das erste Mal fortgepflanzt haben, können größere Säugerarten mehrere Jahrzehnte alt werden. Von den an Land lebenden Arten kommt keine an das Alter des Menschen heran, bei dem durch die Verbesserung der Medizin mittlerweile ein Höchstalter von 122 Jahren (Jeanne Calment) belegt ist. Neben dem Menschen dürften die Elefanten mit bis zu 80 Jahren die Landsäugetiere mit der höchsten Lebenserwartung sein. Allerdings werden manche Walarten deutlich älter, das bisher älteste bekannte Säugetier war ein Grönlandwal mit 211 Jahren. == Mensch und Säugetiere == Anmerkung: Obwohl auch der Mensch zoologisch zu den Säugetieren gehört, wird er selbst im Folgenden nicht behandelt. Stattdessen wird das Verhältnis des Menschen zu den übrigen Säugetieren thematisiert. Säugetiere haben die menschliche Geschichte entscheidend mitgeprägt. Schon seit jeher haben Menschen ihr Fleisch gegessen und ihr Fell und ihre Knochen verarbeitet. Sie wurden als Reit- und Arbeitstiere eingesetzt; bis heute werden sie als Milchlieferanten, als Wach- und Labortiere verwendet. Umgekehrt haben auch die Menschen prägenden Einfluss auf die meisten Säugetierarten. Manche Gattungen haben im Gefolge des Menschen ihr Verbreitungsgebiet drastisch vergrößert oder sind als Neozoen in fremden Regionen eingebürgert worden. Vielfach jedoch sind durch Bejagung und Zerstörung des Lebensraumes ihre Populationen eingeschränkt und ihr Verbreitungsgebiet drastisch verringert worden. Eine ganze Reihe von Säugern ist schließlich durch direkten oder indirekten menschlichen Einfluss unwiederbringlich von der Erde verschwunden. === „Nützliche“ Säugetiere === Eine Reihe von Säugetierarten wird vom Menschen wegen ihres, meist wirtschaftlichen, Nutzens gehalten. Zu diesem Zweck domestizierte Tiere werden als Nutztiere bezeichnet. Es werden darüber hinaus Wildtiere gejagt oder halbdomestizierte Tiere im Freiland gehalten und später gefangen (Beispiele sind Hutewälder oder die Rinder- und Pferdezucht in Amerika). ==== Gründe für die Nutzung von Säugetieren ==== Einer der wichtigsten Gründe für die Jagd oder Haltung von Säugern ist der Genuss ihres Fleisches, das wegen seines Eiweiß- und Fettgehaltes verzehrt wird. In der westlichen Welt sind vor allem Rind- und Schweinefleisch und in geringerem Ausmaß das Fleisch von Hausschafen, Hausziegen, Hauspferden sowie Wildbret verbreitet. In verschiedenen Kulturen und Regionen rund um den Globus wurden und werden zahlreiche Arten in ganz unterschiedlichen Entwicklungslinien der Säugetiere wegen ihres Fleisches gejagt, von Gürteltieren, die in Südamerika als Delikatesse gelten, bis zu den Ameisenigeln, die in Neuguinea gerne verspeist werden. Auch das Fell und die Haut verschiedenster Säugetiere gehören zu den vom Menschen genutzten Ressourcen. Schafe werden geschoren, die Haut von Rindern und anderen Tieren wird zu Leder verarbeitet, in früheren Zeiten wurden die Felle erlegter Tiere zur Erzeugung von Kleidung, Decken und vielem mehr verwendet. Bis heute ist die Pelzindustrie von Bedeutung, in eigenen Pelztierfarmen werden unter anderem Chinchillas, Nerze, Zobel, Nutrias, Waschbären und viele mehr gehalten. Als Erzeugung eines reinen Luxusartikels steht die Pelztierzucht in besonders starker Kritik von Tierschützern. Neben dem Fleisch und dem Fell wurden und werden weitere Körperteile von Säugern verwertet. Dazu zählen unter anderem Geweihe und Knochen, die als Werkzeug und Baumaterial verwendet wurden, Tran und Walrat der Wale, Elfenbein sowie Teile, die aus religiösen oder abergläubischen Gründen, aus zeremoniellen Gründen oder als Statussymbole sowie aus (zumindest vermeintlichen) medizinischen Gründen verwendet werden, wie beispielsweise das Horn verschiedener Nashornarten. Säugetiere werden auch zur Gewinnung von Milch gehalten, wobei die Milch von Hausrindern mit rund 85 % die weltweit größte Rolle spielt. In geringerem Ausmaß wird auch die Milch von Schafen, Ziegen, Pferden, Hauseseln, Wasserbüffeln, Rentieren und anderen Arten gewonnen. Aufgrund ihrer Größe und ihrer Kraft werden Säugetiere als Zug-, Reit- oder Tragtiere eingesetzt. Dazu zählen unter anderem Pferde, Esel, Rinder, Wasserbüffel, Asiatische Elefanten, Kamele und Haushunde („Zughunde“). Aufgrund der Motorisierung der Landwirtschaft und der Verbreitung des Automobilverkehrs ist dieser Verwendungszweck in den westlichen Industrieländern stark zurückgegangen, und wird meist nur mehr als Hobby oder Sport durchgeführt. Zu dienstlichen Zwecken werden Pferde aber noch bei der Polizei eingesetzt. In den wirtschaftlich weniger entwickelten Regionen der Erde ist dieser Einsatz von Tieren aber immer noch weit verbreitet. Aus denselben Gründen verwendet der Mensch Säugetiere schon seit der Antike für militärische Zwecke. Bis in das späte 19. Jahrhundert hinein war das Pferd in Kavallerieformationen die Voraussetzung für schnelle Operationen auf dem Schlachtfeld, die oft von entscheidender Bedeutung waren. Ebenfalls seit der Antike bis in die frühe Neuzeit wurden Kriegselefanten verwendet, um die feindlichen Schlachtreihen zu durchbrechen; berühmt wurde ihr Einsatz im zweiten Punischen Krieg durch den karthagischen Feldherrn Hannibal. In modernen Armeen kommen Säugetiere im Rahmen von militärischen Spezialeinsätzen zum Einsatz, so setzten im Zweiten Weltkrieg die sowjetischen Streitkräfte Panzerabwehrhunde gegen deutsche Panzerkampfwagen ein. In jüngerer Zeit werden beispielsweise beim US-amerikanischen Militär Delfine im Umgang mit Minen trainiert. Aufgrund dieser Eigenschaften wurden Säugetiere vom Altertum bis übers Mittelalter hinaus auch für Hinrichtungen verwendet, wie im römischen Reich, wo Verurteilte per Damnatio ad bestias von Elefanten oder Raubtieren getötet wurden. Im Mittelalter kam die Vierteilung durch Pferde vor. Auch als Jagd- und Wachtiere finden Säugetiere vielerorts Verwendung, vor allem Haushunde und Hauskatzen. Weit verbreitet ist auch die Praxis, Säugetiere in Tierversuchen einzusetzen. Für diese Zwecke werden vor allem Primaten (unter anderem Rhesus- und Totenkopfaffen) und Nagetiere eingesetzt. Auch die Kognitionsforschungen und der Einsatz von Tieren in der Raumfahrt zählen im weiteren Sinn zu Tierversuchen. Die Kontroverse um den tatsächlichen Nutzen dieser Praktiken wird äußerst heftig geführt. Auch zur Unterhaltung der Menschen wurden und werden oft Säugetiere eingesetzt, die Bandbreite reicht hierbei von Tierhetzen im Römischen Reich über Tiervorführungen in Zirkussen, Delfin- und Seehundshows bis zu Rodeos, Stierkämpfen und Tanzbär-Darbietungen. Da die Tiere dabei oft nicht artgerecht gehalten werden und die Dressur oft mit Tierquälerei verbunden ist, sind solche Praktiken umstritten. Auch die Jagd hat heute teilweise Unterhaltungscharakter, beispielsweise die auf den Britischen Inseln bis ins 21. Jahrhundert ausgeübte Fuchsjagd. Eine weitere Möglichkeit zur Nutzung von Säugetieren ist die Ausnutzung des guten Geruchssinns (zum Beispiel in Form von Spürhunden oder Trüffelschweinen) bei der Suche nach Dingen, die technisch nicht erfassbar sind. Auch zur Unterstützung von Behinderten kommen Säugetiere zum Einsatz. Ein Beispiel sind Blindenhunde. Bei geistigen Störungen verschiedener Art wurde die Delfintherapie zur Verbesserung des Zustandes des Patienten angewendet, deren Wirksamkeit umstritten ist. Als Heimtiere oder Streicheltiere werden Tiere bezeichnet, die nicht aus einem direkten wirtschaftlichen Nutzen, sondern aus Freude und persönlicher Zuneigung gehalten werden. Einige Säugetierarten werden auch oder vorrangig zu diesem Zweck gehalten, darunter Nagetiere wie Goldhamster, Hausmeerschweinchen, Degus, Chinchillas, Mäuse und Ratten, daneben auch Hauskaninchen. Auch Hunde und Katzen werden heutzutage oft als reine Heimtiere und nicht wegen ihrer Wach- und Jagdfunktion eingesetzt. Bei exotischeren Heimtieren reicht die Bandbreite mittlerweile von Schimpansen über Kurzkopfgleitbeutler bis zu Zwergschweinen. Als problematisch gilt bei vielen Heimtierarten die schwierige bis unmögliche artgerechte Haltung und die Übertragung von Krankheiten (in beide Richtungen). Erwähnt sei an dieser Stelle noch die Bedeutung mancher Säugetiere für den Fremdenverkehr, zum Beispiel in den afrikanischen Wildreservaten. Eine Nebenwirkung dieser Praxis ist, dass der Schutz der Tiere auch eine ökonomische Funktion gewonnen hat; bemängelt wird, dass die Tiere oft in ihrem natürlichen Lebensraum gestört werden. Der Jagdsport ist eine weitere Variante des touristischen Nutzens von Säugetieren. Diese Tötungen, die als reine Trophäenjagd durchgeführt werden, stehen aber unter heftiger Kritik. ==== Domestizierung ==== Aus vielen der oben genannten Gründe beschränkte sich der Mensch nicht nur auf die Jagd, sondern versuchte auch, gewisse Tierarten in seiner Nähe zu halten und nachzuzüchten. Die Domestizierung von Nutztieren begann zumindest vor rund 10.000 bis 15.000 Jahren, beim Haushund deuten genetische Studien allerdings an, dass dieser Prozess schon vor mehr als 100.000 Jahren begonnen haben könnte. Im achten Jahrtausend v. Chr. dürften bereits Wildziege, Wildschaf und Wildrind, etwas später auch das Wildschwein zu Hausziege, Hausschaf, Hausrind und Hausschwein domestiziert worden sein. Nutztiere dienten zunächst vorwiegend als Nahrungsmittellieferanten, später wurden dann auch Tiere zur Arbeitstätigkeit eingesetzt, so seit rund 3000 v. Chr. das Hauspferd und das Lama. Der Prozess der Domestizierung verlief vielschichtig, genetische Studien deuten an, dass bei vielen Haustieren in unterschiedlichen Regionen dieser Schritt mehrmals unabhängig voneinander vonstattenging. Weitere domestizierte Säugetiere sind Rentier, Dromedar, Hauskatze, Frettchen, Esel, Farbmaus, Farbratte, Goldhamster, Kaninchen und Meerschweinchen. === „Schädliche“ Säugetiere === Als Schädlinge werden Tierarten bezeichnet, die dem Menschen gegenüber Schaden anrichten. Der Begriff ist abhängig von Wertvorstellungen und vor allem der wirtschaftlichen Perspektive und daher kein Begriff der Biologie. ==== Landwirtschafts- und Nahrungsmittelschädlinge ==== Eine Reihe von Säugetieren gilt als Landwirtschafts- oder Nahrungsmittelschädlinge, das heißt, sie ernähren sich entweder direkt in den zur Nahrungsmittelproduktion genutzten Gebieten oder an Aufbewahrungsorten von den vom Menschen produzierten Nahrungsmitteln. Durch die großflächige Einführung von Agrarflächen kommt es zu einem Überangebot an Nahrung für manche Tierarten, das in deren starker Vermehrung und somit weiterer Schädigung resultiert. Vor allem in Entwicklungsländern lässt sich dieser Trend beobachten. Zu den in Mitteleuropa bekanntesten Nahrungsmittelschädlingen zählen Mäuse, insbesondere die Hausmaus und Ratten wie die Haus- oder Wanderratte, die sich als Kulturfolger dem Menschen angeschlossen haben und eine weltweite Verbreitung erlangt haben. Einige Tiere (darunter Flughunde und zahlreiche Nagetierarten) ernähren sich direkt von den Feldfrüchten, andere sorgen durch ihre unterirdische Lebensweise für Schäden an den Wurzeln. Die Viehwirtschaft sieht in fleischfressenden Tieren, vor allem Raubtieren eine Nahrungskonkurrenz, zumindest zwei Arten, der Falklandfuchs und der Beutelwolf sind durch Bejagung ausgestorben. In analoger Weise sieht die Fischerei Robben und andere fischfressende Säuger als wirtschaftliche Gefahr und verfolgt sie. Das Ausmaß der tatsächlichen Bedrohung, die als „Schädlinge“ bezeichnete Tiere anrichten, ist ungewiss und dürfte oft übertrieben dargestellt werden. Häufig ist der Mensch die Hauptursache dafür, indem er massiv in den natürlichen Lebensraum der Tiere eingreift. Durch die Umwandlung der Habitate in landwirtschaftlich genutzte Flächen und die Verringerung des Nahrungsangebotes werden viele Arten gezwungen, sich neue Nahrungsquellen zu erschließen. Diese stehen dann in Konkurrenz zu den wirtschaftlichen Interessen und leiten die Verfolgung ein. Trotzdem wird mit exzessiven Bejagungen, Vergiftungen und mit anderen Methoden Jagd auf diese „Schädlinge“ gemacht, was sich oft fatal auf die Population auswirkt. ==== Direkte Bedrohung des Menschen ==== Menschen sind manchmal auch direkten Bedrohungen durch die Säugetiere ausgesetzt. Im Bewusstsein verankert sind dabei vorwiegend die Fälle der großen menschenfressenden Raubtiere, wobei insbesondere der Tiger einen Ruf als „Menschenfresser“ genießt. Tötungen durch Raubtierbisse beschränken sich jedoch auf wenige Einzelfälle im Jahr. Ungleich gefährlicher sind Säugetiere jedoch als Krankheitsüberträger. So sterben jedes Jahr 40.000 bis 70.000 Menschen an der Tollwut, die meisten davon in unterentwickelten Ländern. Hauptübertragungsursache ist der Biss durch infizierte Tiere wie Hunde, Katzen, Dachse, Waschbären und Fledermäuse. Eine weitere berüchtigte Krankheit ist die Pest, die durch auf Hausratten und anderen Nagetieren parasitierende Flöhe, in seltenen Fällen auch direkt übertragen wird. Pest-Epidemien und -Pandemien kosteten Millionen Menschen das Leben, bei der als Schwarzer Tod bekannten Pandemie Mitte des 14. Jahrhunderts starben schätzungsweise ein Drittel der Menschen in Europa. === Kulturgeschichtliche Bedeutung === Viele Säugetiere spielen in der Kulturgeschichte eine bedeutende Rolle. Auffallend große, starke oder gefährliche Tiere dienen als Wappentiere, als Totem- oder Clansymbole. Als „Heilige Tiere“ gelten manche Arten als Manifestationen von Göttern und genossen besonderen Schutz, so heilige Kühe und Hanuman-Languren in Indien oder Katzen und Schakale im alten Ägypten. Auf der anderen Seite wurden manche Säugetiere als Vertreter dämonischer Mächte gesehen, so Fledermäuse oder Katzen. Stereotype Vorstellungen von Eigenschaften bestimmter Tierarten, wie der sture Esel oder der schlaue Fuchs finden sich in zahllosen Erzählungen und Märchen und prägen zum Teil bis heute den Schimpfwortschatz. === Bedrohung und Ausrottung durch den Menschen === Durch vielfältige Eingriffe in die Natur ist der Mensch für den Populationsrückgang oder das Aussterben vieler Säugetierarten verantwortlich. Inwieweit die Bejagung für das Aussterben zahlreicher Großsäuger am Ende des Pleistozäns (vor 50.000 bis 10.000 Jahren) schuld ist, ist umstritten, dieses Aussterben korreliert zumindest teilweise mit der weltweiten Ausbreitung des Menschen (siehe dazu auch den Punkt unter Entwicklungsgeschichte). Aus Berichten und Darstellungen lässt sich zumindest ein deutlicher Schwund des Verbreitungsgebietes für zahlreiche Spezies seit der Antike ableiten. Auch die heutige Situation ist für viele Säugetierarten besorgniserregend. So kommt eine unter der Federführung der International Union for Conservation of Nature (IUCN) stehende Kommission aus rund 1.700 Wissenschaftlern aus 130 Ländern zu dem Ergebnis, dass heute mindestens 20–25 % – unter Umständen aber bis zu 36 % – aller Land- und Meeressäugetierarten vom Aussterben bedroht sind. Die IUCN listet 514 Arten, also rund 10 %, als stark bedroht (critically endangered) oder bedroht (endangered), insgesamt sind mindestens 1.141 der derzeit 5.487 rezenten Säugetierarten akut bedroht. Drei Arten, das Przewalski-Pferd, die Säbelantilope und der Schwarzfußiltis, gelten als in freier Wildbahn ausgestorben (extinct in the wild), das heißt, es gibt nur mehr die Bestände in menschlichen Zuchtprogrammen. Die Gründe für die Gefährdung zahlreicher Arten liegen hauptsächlich im zunehmenden Verlust des Lebensraumes durch Umwandlung in landwirtschaftlich genutzte Gebiete und Siedlungen, in der Umweltverschmutzung und in der Bejagung, da man viele Arten als nützlich oder schädlich ansieht. Ein weiterer Faktor ist die Schädigung des natürlichen Gleichgewichts durch die absichtliche oder unbewusste Einschleppung von Neozoen. Die Verfolgung durch verwilderte Hauskatzen und Haushunde sowie die Nahrungskonkurrenz durch Mäuse, Ratten, Hasen und andere stellen insbesondere in Regionen, wo diese Arten natürlicherweise nicht heimisch waren (wie zum Beispiel Australien oder viele Inseln), ein großes Problem dar. Die oben genannten Gründe haben dazu geführt, dass laut IUCN 73 Säugetierarten in den letzten Jahrhunderten ausgestorben sind, dazu zählen der Schweinsfuß-Nasenbeutler, vier Känguruarten, der Beutelwolf, der Falklandfuchs, drei Gazellenarten, der Blaubock, die Stellersche Seekuh, zwölf Fledertierarten und zahlreiche Nagetiere wie etliche Baumratten und Riesenhutias. Es steht zu erwarten, dass diese Liste in den nächsten Jahren noch länger werden wird. == Systematik und Entwicklungsgeschichte == Die Säugetiere sind wahrscheinlich – entgegen anders lautenden Theorien, die Mitte des 20. Jahrhunderts verbreitet waren – eine monophyletische Gruppe: Sie stammen alle von einem gemeinsamen Vorfahren ab und umfassen auch alle Nachkommen dieses Vorfahren. Die drei Untergruppen, Ursäuger, Beutelsäuger und Höhere Säugetiere, sind ebenfalls jeweils monophyletische Taxa. Die meisten Systematiken fassen die Beutel- und Höheren Säuger zum Taxon Theria zusammen und stellen dieses den Ursäugern gegenüber. Einige Forscher vertreten aber die Ansicht, die Ursäuger hätten sich aus den Beutelsäugern entwickelt. Ungleich unübersichtlicher wird das Bild, wenn fossile Taxa in den Stammbaum eingebunden werden. Neben den üblichen Meinungsunterschieden der Wissenschaftler kommt hinzu, dass von zahlreichen Gattungen lediglich Zähne und Kieferteile gefunden wurden. Die detaillierte Untersuchung der Zähne ist daher eines der Schlüsselkriterien zur Bestimmung der Evolution der Säugetiere. === Stammesgeschichtliche Herkunft === Unstrittig ist, dass sich die Säugetiere aus den Synapsiden entwickelt haben, einer Reptiliengruppe, die durch ein einzelnes Schädelfenster charakterisiert war und ihre Blütezeit im Perm-Zeitalter hatte. Innerhalb der Synapsiden entwickelten sich die Therapsiden, die sogenannten „Säugerähnlichen Reptilien“, die bereits einige der Säugermerkmale wie ein differenziertes Gebiss und möglicherweise Körperbehaarung aufwiesen. Eine Gruppe der Therapsiden waren die Cynodontia, die unter anderem durch ein vergrößertes Gehirn und eine spezielle Kieferform gekennzeichnet waren. Die Säugetiere und ihre näheren Verwandten werden im Taxon der Eucynodontia zusammengefasst, deren bekanntester Vertreter Cynognathus war. Als Schwestertaxon der Säuger gelten entweder die Tritheledontidae, eine Gruppe sehr kleiner, fleischfressender Tiere oder die Tritylodontidae, eine Gruppe bis zu 1 Meter langer Pflanzenfresser. Für jede der beiden Gruppen sprechen gewisse anatomische Merkmale, die Mehrheit der Forscher gibt jedoch den Tritheledontidae den Vorzug. Die Nicht-Säugetiere innerhalb der Therapsiden wurden nach und nach von den Dinosauriern verdrängt, die letzten starben in der Unterkreide aus. === Säugetiere im weiteren Sinn === Umstritten ist, welches Tier als das älteste Säugetier zu bewerten ist. Einige Tiere weisen im Bau des Ohres, des Unterkiefers, des Kiefergelenkes und der Zähne einen Übergangsstatus zwischen Reptilien und Säugern auf, manche Forscher bezeichnen sie deshalb als Mammaliaformes, also „Säugerartige“ oder Proto-Mammalia und ordnen sie noch nicht den Säugetieren im eigentlichen Sinn (sensu stricto) zu, andere fassen die Säuger weiter (sensu lato) und rechnen diese bereits dazu. Nach manchen Quellen ist Adelobasileus cromptoni das älteste bekannte Säugetier. Teile des Schädels aus der späten Trias wurden in Texas gefunden. Der Bau des Ohres spricht dafür, dass dieses Tier zumindest einen Übergangsstatus von den Cynodontia zu den Säugern darstellt. Ohne weitere Fossilfunde lässt sich aber der taxonomische Status von Adelobasileus cromptoni kaum genauer bestimmen. Auch Sinoconodon wird manchmal als das älteste Säugetier bezeichnet. Von dieser Art wurden verhältnismäßig gut erhaltene Fossilien in China gefunden; das Tier lebte in der frühen Jurazeit und zeigte im Kieferbau bereits die Merkmale heutiger Säuger. Andere Faktoren, wie ein mehrmaliger Zahnwechsel, verbunden mit einem lebenslangen Wachstum des Schädels sind aber noch Reptilienmerkmale. Die Morganucodonta waren eine Gruppe spitzmausähnlicher, rund 10 Zentimeter langer, vermutlich insektenfressender Tiere, die von der späteren Trias bis in das mittlere Jura belegt sind und in zahlreichen Regionen der Erde gefunden wurden. Die bekanntesten Vertreter waren Morganucodon und Megazostrodon. Im Bau des Unterkiefers und der Zähne (die Backenzähne sind durch drei auffällige Spitzen charakterisiert) stimmen sie mit den modernen Säugern überein, den bedeutendsten Unterschied stellt das doppelte Kiefergelenk dar. Die Docodonta, deren bekanntester Vertreter die Gattungen Haldanodon und Docodon sind, gelten als „säugetierähnlicher“ als die Morganucodonta. Sie sind charakterisiert durch stark verbreiterte Backenzähne, die ein effektives Kauen ermöglichen, zeigen aber im Kiefergelenk noch Ähnlichkeiten mit ihren Reptilienvorfahren. Docodonta waren vom mittleren Jura bis in die frühe Kreidezeit verbreitet, die Zuordnung eines Fundes aus der Oberkreide (Reigitherium) ist zweifelhaft. Hadrocodium wui, dessen Überreste aus der unteren Jurazeit in China gefunden wurden, gilt als Schwestertaxon der „eigentlichen“ Säugetiere, manchmal wird es auch als „erstes“ Säugetier bezeichnet. Es war ein winziges, vermutlich nur 2 Gramm schweres Tier, das aber bereits ein sekundäres Kiefergelenk und ein vergrößertes Gehirn aufwies. Die Unterschiede zu den Säugern liegen in Details im Bau der Zähne und des Unterkiefers. === Säugetiere im engeren Sinn === Die Säugetiere im engeren Sinn (Mammalia sensu stricto), in Abgrenzung zu den Säugetieren im weiteren Sinn beziehungsweise Mammaliaformes (siehe oben), werden definiert als die Gruppe, die den letzten gemeinsamen Vorfahren aller heutigen Säugetiere sowie dessen Nachkommen umfasst. Dieses Taxon ist zumindest seit dem mittleren Jura belegt, die Entwicklungsgeschichte innerhalb dieser Gruppe ist jedoch in einem hohen Ausmaß umstritten. Wann sich die Vorfahren der heutigen Ursäuger (Schnabeltiere und Ameisenigel) von der Entwicklungslinie der anderen Säugetiere abspalteten, ist unsicher. Weitestgehend verworfen ist heute die Ansicht, die Ursäuger hätten sich unabhängig von den übrigen Säugern aus einem eigenen Zweig der Cynodonta entwickelt. Eine neue, aber umstrittene Theorie stellt diese Tiere in ein Taxon namens Australosphenida, dessen Vertreter sich seit dem mittleren Jura im damaligen Südkontinent Gondwana ausbreiteten. Andere Theorien sehen in ihnen einen isolierten Seitenzweig, der sich früh von den übrigen Säugern trennte. Wieder andere Forscher stellen die Ursäuger hingegen in ein Naheverhältnis zu den Beutelsäugern. Jedenfalls stammen die frühesten zweifelsfrei einem Vorfahren der Ursäuger zuordenbaren Funde aus der Kreidezeit. Die Multituberculata bildeten eine artenreiche Tiergruppe, die ihren Namen den zahlreichen Spitzen ihrer Molaren verdankt. Äußerlich oft nagetierähnlich, sind die frühesten Vertreter seit dem mittleren Jura belegt. Die Multituberculata überstanden das Aussterben der Dinosaurier und starben erst im Oligozän aus. Die entwicklungsgeschichtliche Stellung dieser Tiere ist umstritten, manche Autoren vermuten in ihnen sogar lediglich eine Konvergenzentwicklung zu den Säugern, die aus einem anderen Zweig der Cynodontia entstanden sei. Mehrheitlich werden sie heute jedoch als eine Seitenlinie innerhalb der Mammalia angesehen, deren Stellung im Stammbaum allerdings unsicher ist. Als Allotheria wird eine Gruppe bezeichnet, die neben den Multituberculata die Haramiyida – eine Gruppe vermutlich pflanzenfressender Tiere aus der Obertrias und dem Jura – und die Gondwanatheria – die in der Kreidezeit und im Paläozän in Gondwana lebten – umfasst. Diese Zuordnung basiert hauptsächlich auf den Ähnlichkeiten im Bau der Molaren, ist jedoch umstritten, da die Haramiyida einige primitive Merkmale aufweisen und möglicherweise eine weit früher entstandene Seitenlinie darstellen. Die Eutriconodonta fassen mehrere Säugetiergruppen zusammen, die durch dreihöckrige Molaren charakterisiert sind. Dazu zählen die Amphilestidae aus dem Mitteljura bis Unterkreide, die Gobiconodontidae aus der unteren Kreide (zu denen auch der neuentdeckte Repenomamus giganticus, ein hundegroßer Räuber, zählt), sowie die Triconodontidae, die vom oberen Jura bis in die mittlere Kreidezeit lebten. Es ist allerdings umstritten, ob diese Gruppen wirklich eng miteinander verwandt waren. Als Holotheria wird das Taxon innerhalb der Echten Säugetiere ohne die oben angeführten Gruppen bezeichnet, wobei einige Systematiken allerdings manche Gruppen der Eutriconodonta miteinbeziehen. Die Holotheria schließen Kuehneotherium und verwandte Arten, die Kuehneotheria mit ein, die durch fortgeschrittene Zahnstrukturen und primitive Kiefermerkmale gekennzeichnet sind. Viele Autoren sehen in Kuehneotherium eine weit ursprünglichere Gattung, sodass der Begriff Holotheria umstritten ist. Trechnotheria bezeichnet ein Taxon innerhalb der Holotheria, das sich in einige nur durch spärliche Zahn- und Kieferfunde belegte Gruppen wie die Spalacotheroidea sowie in die Cladotheria teilt. Innerhalb der Cladotheria kam es zur Aufteilung in die Dryolestida, die im oberen Jura und in der Kreidezeit lebten, zu einigen weiteren Seitenzweigen, sowie zu einem Taxon namens Boreosphenida oder Tribosphenida. Die Begriffe Tribosphenida (McKenna 1975) und Boreosphenida (Luo et al., 2001) bezeichnen ein sehr ähnliches, bis auf einige wenige Arten identisches Taxon. Neben einigen Seitenzweigen umfasst diese Gruppe die Theria im eigentlichen Sinn. Als Theria wird das Taxon bezeichnet, das den letzten gemeinsamen Vorfahren der Beutelsäuger (Metatheria) und Höheren Säuger (Eutheria) sowie all dessen Nachkommen umfasst. Die ältesten bekannten Vertreter beider Taxa stammen aus der Unterkreide (vor rund 125 Millionen Jahren), im Falle der Beutelsäuger ist dies Sinodelphys szalayi, im Falle der Höheren Säuger Eomaia scansoria. === Gemeinsame Merkmale der mesozoischen Säuger === Generell waren die Säugetiere des Mesozoikums klein, die meisten erreichten nur die Größe von Mäusen oder Ratten. Aus den Zähnen schließt man bei den meisten Arten auf eine aus Insekten und anderen Wirbellosen bestehende Nahrung, aus der Form des Gehirns und der Sinnesorgane auf eine hauptsächlich nachtaktive Lebensweise. Es bleibt die Frage, warum der Großteil der mesozoischen Säuger in Größe, Körperbau und Lebensweise relativ einheitlich blieb, zumal es in einem entwicklungsgeschichtlich sehr kurzen Zeitraum (rund 5 Millionen Jahre) nach dem Beginn des Känozoikums zu einer enormen Radiation bei der Größe und Ernährungsweise kam. Generell wird diese Frage mit der Konkurrenz durch die Dinosaurier beantwortet, die, solange sie existierten, durch den ausgeübten Selektionsdruck größere Säuger verhinderten. Diese Sichtweise wird manchmal in Frage gestellt: Aufgrund des enormen Größenunterschiedes und der unterschiedlichen Lebensweise mit den Dinosauriern, die vermutlich tagaktiv waren, hätte es zumindest eine Reihe mittelgroßer Säuger geben können. Daher wurden verschiedene physiologische Einschränkungen postuliert, zum Beispiel eine mangelnde Fähigkeit zur Kühlung der Körpertemperatur oder die noch nicht völlig ausgereiften Kau- und Verdauungsapparate. In jüngerer Zeit gab es allerdings einige neue Funde, die auf eine höhere Spezialisierung der mesozoischen Säuger hinweisen. So war Castorocauda zumindest teilweise wasserbewohnend, Volaticotherium war mit Gleitmembranen ausgestattet und Fruitafossor zeigt eine an Ameisenbären erinnernde Anpassung an eine insektenfressende Lebensweise. Repenomamus schließlich, der in der Unterkreide in China lebte, erreichte eine Länge von über 1 Meter und sein Gewicht wird auf 12 bis 14 Kilogramm geschätzt. Er ist der bislang größte aus dem Mesozoikum bekannte Säuger und hat sich auch von kleinen Dinosauriern ernährt. === Weitere Entwicklung in der Kreidezeit === Die Beutelsäuger waren, abgesehen von vereinzelten Funden in Ostasien, auf Nordamerika beschränkt. Zu den ältesten heute noch bestehenden Gruppen gehören die Beutelratten, deren Vorfahren schon aus dieser Zeit bekannt sind. Die Höheren Säugetiere spalteten sich in die heute durch molekulargenetische Untersuchungen bestimmten Überordnungen (Nebengelenktiere, Afrotheria, Laurasiatheria, Euarchontoglires) auf, was durch tektonische Verschiebungen, unter anderem das Auseinanderbrechen Gondwanas gefördert wurde. Diese Aufspaltungen werden allerdings hauptsächlich durch molekulargenetische Berechnungen belegt, Fossilienfunde von Höheren Säugetieren aus der Oberkreide sind sehr selten und bislang nur aus Nordamerika und Ostasien belegt. Zu den bekanntesten Gattungen dieser Epoche zählen Asioryctes, die Leptictida, die möglicherweise Vorfahren der Insektenfresser sind, die Zalambdalestidae (mögliche Vorfahren der Nagetiere), die Zhelestidae (mögliche Vorfahren der „Huftiere“) und Cimolestes (eventuell ein Urahn der Raubtiere). Generell ist aber die Zuordnung zu heutigen Taxa umstritten, zweifelsfrei mit heutigen Arten verwandte Säugetiere traten erst im Paläozän auf. Mit Ausnahme der Multituberculata dürften am Ende der Kreidezeit die meisten der oben beschriebenen Seitenlinien der Säugetiere ausgestorben gewesen sein. === Entwicklung im Känozoikum === Mit dem Aussterben der Dinosaurier wurden viele ökologische Nischen frei, die von einer Vielzahl neu entstehender Säugetiergruppen besetzt wurden. Im Verlauf des Känozoikums entwickelten sich die Säugetiere zu der dominanten Wirbeltiergruppe auf dem Land. Es bildeten sich die heutigen Ordnungen heraus, wobei die Entwicklungsgeschichte keineswegs geradlinig verlief, sondern durch evolutionäre Sackgassen, Verdrängungsprozesse und wieder gänzlich ausgestorbene Säugetiergruppen geprägt war. Die Entwicklungslinien in manchen Gruppen (zum Beispiel bei Pferden oder Rüsseltieren) sind dabei relativ gut durch Fossilienfunde belegt und erforscht. Eine besondere Rolle nahm Südamerika ein, das während der längsten Zeit des Känozoikums von anderen Kontinenten getrennt war. Durch die Insellage drangen viele Arten in ökologische Nischen vor und es entwickelte sich eine einzigartige Fauna, unter anderem mit Sparassodonta („Beutelhyänen“), einer Gruppe fleischfressender Beuteltiere, mit den Paucituberculata, einer formenreichen Beuteltiergruppe, die heute noch in den Mausopossums weiterlebt und mit den Südamerikanischen Huftieren (Meridiungulata). Nach Entstehen der mittelamerikanischen Landbrücke drangen Säuger aus dem Norden vor und verdrängten die einheimischen Arten größtenteils. Die meisten Säugetierordnungen sind seit dem Eozän belegt, darunter auch die Vorfahren der wohl spezialisiertesten Gruppen, der Fledertiere und Wale. Im gleichen Zeitabschnitt bildeten sich die ersten riesenhaften Formen wie Uintatherium; diese Entwicklung gipfelte in Paraceratherium (auch unter den Namen Baluchitherium oder Indricotherium bekannt), dem mit 5,5 Metern Schulterhöhe und 10 bis 15 Tonnen Gewicht größten bekannten Landsäugetier. Ihre größte Artenvielfalt erreichten die Säuger im Miozän; seither verschlechterten sich die Klimabedingungen kontinuierlich, bis hin zu den Eiszeiten des Pleistozän. Die klimatischen Verschiebungen, verbunden mit den Einflüssen des Menschen, sorgen seither für einen Rückgang der Artenvielfalt. === Aussterben der Großsäuger am Ende des Pleistozäns === Am Ende des Pleistozäns (vor 50.000 bis 10.000 Jahren) kam es weltweit zu einem Massenaussterben von großen Säugetieren. Mit Ausnahme Afrikas und des südlichen Asiens starben alle Arten mit über 1000 Kilogramm Gewicht und 80 % aller Arten mit 100 bis 1000 Kilogramm Gewicht aus. In Australien fand dieser Prozess vor rund 51.000 bis 38.000 Jahren statt, hier verschwanden unter anderem Diprotodons (nashorngroße Beuteltiere), Beutellöwen (Thylacoleo carnifex) und bis zu 3 Meter hohe Riesenkängurus (Gattung Procoptodon). In Eurasien erstreckte sich dieser Vorgang über einen längeren Zeitraum, von vor 50.000 bis 10.000 Jahre, und erreichte mit dem Ende der letzten Kaltzeit seinen Höhepunkt. Zu den in Europa um 10.000 vor Christus ausgestorbenen Tieren zählen unter anderem das Wollhaarmammut (Mammuthus primigenius), das Wollnashorn (Coelodonta antiquitatis), der Riesenhirsch (Megaloceros giganteus), das Steppenwisent (Bos priscus), der Höhlenlöwe (Panthera spelaea) und der Höhlenbär (Ursus spelaeus). In Amerika lag das Aussterben in einem engen Zeitrahmen (vor rund 11.000 bis 8.000 Jahren), hier verschwanden unter anderem die Mammuts, das Amerikanische Mastodon und andere Rüsseltiere, Säbelzahnkatzen, Riesenfaultiere und Riesengürteltiere (Glyptodontidae). Inwieweit klimatische Veränderungen oder die Bejagung durch den Menschen (Overkill-Hypothese) die Hauptschuld dafür tragen, ist immer noch umstritten. Für die Bejagung sprechen die Tatsachen, dass der Zeitpunkt des Aussterbens zumindest zum Teil mit der weltweiten Ausbreitung des Menschen übereinstimmt und dass bei keiner der früheren Aussterbephasen eine derartige Einschränkung der Größe beobachtet werden konnte. Auch müssten die klimatischen Vorgänge am Ende der letzten Kaltzeit eher zu einer Erhöhung der Artenanzahl beigetragen haben, wie sie meist in wärmeren Perioden beobachtet werden kann. Vertreter der Bejagungshypothese führen auch einen analogen Vorgang auf Inseln, die erst später besiedelt wurden, an. So sind auf Madagaskar, wo erst seit rund 1500 Jahren Menschen leben, in den darauf folgenden Jahrhunderten unter anderem die dortigen Flusspferde und zahlreiche große Primatenarten verschwunden, darunter die Riesenlemuren Megaladapis. Gegner der Bejagungshypothese behaupten, die primitiven Jagdmethoden der frühen Menschen hätten keinen so großen Einfluss auf die Populationsgröße haben können, und verweisen auf Afrika, wo es schon viel länger Menschen gegeben hat und wo es zu keinem nennenswerten Massenaussterben gekommen ist. Auch seien die klimatischen Veränderungen dermaßen komplex gewesen, dass eine Vielzahl von Faktoren berücksichtigt werden müsste. In jüngerer Zeit mehren sich die Thesen, dass eine Vermischung beider Faktoren die Schuld am Massenaussterben trägt. So sei für die durch klimatische Veränderungen bereits in Mitleidenschaft gezogenen Populationen die Jagd der ausschlaggebende Punkt für die Ausrottung gewesen. Auch ökologische Faktoren können eine Rolle gespielt haben: So führte die Dezimierung großer Grasfresser zur Ausbreitung von Wäldern, was sich fatal auf die noch vorhandenen Populationen auswirkte. Andere Forscher geben auch den ausgedehnten Brandrodungen eine Teilschuld. In dieser Diskussion spielt aber nicht nur der rein wissenschaftliche Aspekt eine Rolle, sondern auch die anthropologische Komponente, je nachdem ob man in diesem Massenaussterben das letzte einer langen Reihe von natürlichen Aussterbevorgängen in der Natur sieht oder den ersten von vielen zerstörerischen Eingriffen des Menschen in seine Umwelt. ==== Aktuelle Situation ==== Zurzeit (2021) stuft die IUCN von 5.940 gelisteten Arten, 85 Arten bereits als ausgestorben (Extinct) ein. 2 Arten gelten als in der Natur ausgestorben (Extinct in the Wild), 225 Arten (Critically Endangered) vom Aussterben bedroht, 542 Arten als stark gefährdet (Endangered) und 538 Arten als gefährdet (Vulnerable), insgesamt 1.307 Arten. 845 Arten können aktuell nicht bewertet werden (data deficient). === Äußere Systematik === Anschließend ein etwas vereinfachtes Kladogramm der Landwirbeltiere, gefolgt von ausführlicheren Darstellungen über eventuelle Unsicherheiten und Streitpunkte. === Innere Systematik === Die Säugetiere werden in drei Unterklassen mit rund 25 bis 30 Ordnungen unterteilt, die ihrerseits bei den Beutelsäugern und höheren Säugetieren noch einmal zwei beziehungsweise vier übergeordneten Gruppen zugeteilt werden können. Eine detailliertere Systematik mit allen Familien findet sich unter Systematik der Säugetiere. Unterklasse Ursäuger (Protheria) Ordnung Kloakentiere (Monotremata) Unterklasse Beutelsäuger (Metatheria) Überordnung Ameridelphia Ordnung Beutelratten (Didelphimorphia) Ordnung Mausopossums (Paucituberculata) Überordnung Australidelphia Ordnung Microbiotheria (mit der einzigen Gattung Dromiciops) Ordnung Beutelmulle (Notoryctemorphia) Ordnung Raubbeutlerartige (Dasyuromorphia) Ordnung Nasenbeutler (Peramelemorphia) Ordnung Diprotodontia Unterklasse Höhere Säugetiere (Eutheria) Überordnung Afrotheria Ordnung Tenrekartige (Afrosoricida) Ordnung Rüsselspringer (Macroscelidea) Ordnung Röhrenzähner (Tubulidentata, mit der einzigen Art Erdferkel (Orycteropus afer)) Ordnung Schliefer (Hyracoidea) Ordnung Rüsseltiere (Proboscidea, mit der einzigen Familie Elefanten (Elephantidae)) Ordnung Seekühe (Sirenia) Überordnung Nebengelenktiere (Xenarthra) Ordnung Gepanzerte Nebengelenktiere (Cingulata) Ordnung Zahnarme (Pilosa) Überordnung Euarchontoglires Ordnung Spitzhörnchen (Scandentia) Ordnung Riesengleiter (Dermoptera) Ordnung Primaten (Primates) Ordnung Nagetiere (Rodentia) Ordnung Hasenartige (Lagomorpha) Überordnung Laurasiatheria Ordnung Insektenfresser (Eulipotyphla) Ordnung Fledertiere (Chiroptera) Ordnung Schuppentiere (Pholidota) Ordnung Raubtiere (Carnivora, einschließlich der Robben (Pinnipedia)) Ordnung Unpaarhufer (Perissodactyla) Ordnung Paarhufer (Artiodactyla) Ordnung Wale (Cetacea)Einige Bemerkungen zu dieser Systematik: Die Ameridelphia werden als paraphyletische Gruppe erwogen. Paarhufer und Wale werden oft zu einer gemeinsamen Ordnung (Cetartiodactyla) zusammengefasst, da sich die Wale aus den Paarhufern entwickelt haben, welche ohne diese Zusammenfassung eine paraphyletische Gruppe wären Die „Huftiere“ (Ungulata) sind in dieser Systematik keine systematische Gruppe mehr, sondern fassen verschiedene, nicht näher verwandte Taxa zusammen. Diese Einteilung ist aber umstritten. Die hier als Tenrekartige (Afrosoricida) bezeichneten Tiere wurden früher den Insektenfressern zugeordnet, haben sich aber nach weitläufiger Ansicht lediglich konvergent zu diesen entwickelt. Die Fledertiere werden in manchen Systematiken in ein Naheverhältnis zu den Primaten gestellt, manchmal werden sie auch als zwei lediglich konvergent entwickelte Taxa, Flughunde und Fledermäuse betrachtet. Beides wird nach jüngeren Untersuchungen aber als nicht zutreffend erwogen. Die Einordnung der Rüsselspringer, des Erdferkels und der Schuppentiere war lange umstritten, genetische Untersuchungen belegen jedoch die Zugehörigkeit zu den jeweils oben genannten Gruppen. === Ausgestorbene Säugetierordnungen === Der unter Systematik gezeigte Stammbaum stützt sich teilweise auf molekulargenetische Analysen. Da diese bei ausgestorbenen Tiergruppen nicht möglich sind, lassen sie sich nur schwer in die Systematik einordnen. Existierende Systeme, wie das von Malcolm C. McKenna and Susan K. Bell, die sowohl lebende als auch ausgestorbene Säugerordnungen enthalten, widersprechen sich teilweise mit der hier gewählten Systematik. Deshalb werden hier die ausgestorbenen Säugetierordnungen der Beutelsäuger (Metatheria) und der Höheren Säugetiere (Eutheria) extra aufgelistet. Ausgestorbene Ordnungen der Beutelsäuger: Peradectia Polydolophimorphia SparassodontaAusgestorbene Ordnungen der Höheren Säugetiere: Leptictida Apatotheria Pantolesta Condylarthra Mesonychia Südamerikanische Huftiere (Meridiungulata) mit Litopterna, Notoungulata, Astrapotheria, Pyrotheria und Xenungulata Dinocerata (mit Uintatherium) Pantodonta Tillodontia Taeniodonta Embrithopoda Hyaenodonta Oxyaenodonta DesmostyliaÄltere Säugetierordnungen, die weder zu Beuteltieren noch zu Höheren Säugern gehören, sind weiter oben bei den Säugetieren im engeren Sinne aufgeführt. == Literatur == Gerhard Storch: Mammalia, Säugetiere. In: Wilfried Westheide, Reinhard Rieger (Hrsg.): Spezielle Zoologie. Teil 2: Wirbel- oder Schädeltiere. Spektrum Akademischer Verlag, Heidelberg – Berlin 2004, 712 Seiten, ISBN 3-8274-0307-3, S. 445–471 Eckhard Grimmberger: Die Säugetiere Deutschlands. Beobachten und Bestimmen. Quelle & Meyer, Wiebelsheim 2014, ISBN 978-3-494-01539-2 Bernhard Grzimek: Grzimeks Tierleben. Enzyklopädie des Tierreichs. Bechtermünz, 2001, ISBN 3-8289-1603-1 (Säugetiere in Band 10 bis 13) T. S. Kemp: The Origin & Evolution of Mammals. Oxford University Press, Oxford 2005, ISBN 0-19-850761-5 Zhe-Xi Luo, Zofia Kielan-Jaworowska, Richard L. Cifelli: In quest for a Phylogeny of Mesozoic mammals. in: Acta Palaeontologica Polonica. PAN, Warszawa 47.2002,1, 1–78, ISSN 0567-7920 Malcolm C. McKenna, Susan K. Bell: Classification of Mammals. Above the Species Level. Columbia University Press, New York 2000, ISBN 0-231-11013-8 Ronald M. Nowak: Walker’s mammals of the world. 6. Auflage. Johns Hopkins University Press, Baltimore 1999, ISBN 0-8018-5789-9 (englisch). D. E. Wilson, D. M. Reeder: Mammal Species of the World. Johns Hopkins University Press, Baltimore 2005, ISBN 0-8018-8221-4 == Weblinks == Deutschsprachige Datenbank der Mammalia – Säugetiere (Memento vom 20. Juni 2008 im Internet Archive) Wilson & Reeder's Mammal Species of the World 3rd edition (MSW3) (englisch) Paleocene mammals of the world (englisch) Ursprung der modernen Säugetiere (Memento vom 6. Mai 2009 im Internet Archive) Von Thomas Martin u. Irina Ruf, erschienen in der Reihe „Paläontologie aktuell“ in Fossilien 2008 Heft 1 Januar/Februar. == Einzelnachweise ==
https://de.wikipedia.org/wiki/S%C3%A4ugetiere
Mount Everest
= Mount Everest = Der Mount Everest ist ein Berg im Himalaya und mit einer Höhe von über 8848 m (genauer: siehe Höhenangaben) der höchste Berg der Erde. Er gehört zu den 14 Achttausendern und zu den Seven Summits. Der Mount Everest ist seit 1856 nach dem britischen Landvermesser George Everest benannt. Auf Nepali heißt der Berg Sagarmatha, auf Tibetisch Qomolangma (deutsche Aussprache „Tschomolangma“) und auf Chinesisch und Hochchinesisch 珠穆朗瑪峰, Zhūmùlǎngmǎ Fēng. Der Mount Everest befindet sich im Mahalangur Himal in der Region Khumbu in Nepal an der Grenze zu China (Autonomes Gebiet Tibet); der westliche und südöstliche seiner drei Gipfelgrate bilden die Grenze. Auf nepalesischer Seite ist er Teil des Sagarmatha-Nationalparks, der zum UNESCO-Welterbe gehört. Auf der Nordseite gehört er zum Qomolangma National Nature Reserve, das mit dem von der UNESCO ausgewiesenen Qomolangma-Biosphärenreservat korrespondiert.Edmund Hillary und Tenzing Norgay gelang am 29. Mai 1953 die Erstbesteigung des „dritten Pols“. Am 8. Mai 1978 bestiegen Reinhold Messner und Peter Habeler den Gipfel erstmals ohne zusätzlichen Sauerstoff. Bis Ende 2018 wurde der Gipfel rund 8400 Mal von Bergsteigern erreicht. Über 300 Bergsteiger kamen auf dem Hin- oder Rückweg ums Leben.Während der Mount Everest die höchste Erhebung über dem Meeresspiegel ist, existieren noch zwei weitere Berge, die als „höchster Berg der Erde“ bezeichnet werden. Vom Fuß des Berges aus gemessen ist dies der Vulkan Mauna Kea auf Hawaii, vom Erdmittelpunkt aus gerechnet der Chimborazo in Ecuador. == Namen des Mount Everest == Auf Nepali heißt der Berg सगरमाथा Sagarmatha („Stirn des Himmels“) und auf Tibetisch ཇོ་མོ་གླང་མ Jo mo glang ma oder Qomolangma („Mutter des Universums“). Der chinesische Name 珠穆朗玛峰 Zhūmùlǎngmǎ Fēng ist eine phonetische Wiedergabe der tibetischen Benennung. Deren Transkription Chomolungma im Englischen ist heute in Europa üblich. Das in deutschsprachigen, vor allem älteren, Texten verwendete Tschomolungma wird zugunsten von Chomolungma in neueren deutschsprachigen Quellen verdrängt. Sir George Everest war lange Jahre Leiter der Großen Trigonometrischen Vermessung Indiens und Surveyor General of India. Unter seinem Nachfolger Andrew Scott Waugh wurde der zunächst als „Peak b“ bezeichnete Gipfel 1848 erstmals von Indien aus vermessen; Nepal verweigerte damals den Zugang zu seinem Territorium. Nach weiteren Vermessungsarbeiten über Entfernungen bis zu 200 km folgten umfangreiche, komplexe Berechnungen durch Radhanath Sikdar in den Computing Offices in Dehradun; er kam 1852 zu dem Ergebnis, dass der inzwischen als „Peak XV“ („Gipfel 15“) bezeichnete Gipfel mit 29.002 Fuß (8840 m) höher als alle anderen bis dahin bekannten Berge sei. Da wegen der großen Entfernungen noch letzte Zweifel an der Genauigkeit der Vermessungen auszuräumen waren, wurde dieses Resultat erst 1856 von Andrew Waugh in einem Schreiben an die Royal Geographical Society bekannt gemacht. Dabei benannte er den Berg zu Ehren seines Vorgängers als Mount Everest. Die heutzutage gebräuchliche Aussprache von Mount Everest lautet [ˈmaʊnt ˈɛvərɛst], Sir George sprach seinen eigenen Nachnamen allerdings [ˈiːvrɪst] aus. Vor allem im deutschen Sprachraum war der Berg lange als Gauri Sankar bekannt. Dies beruhte auf einem Missverständnis des deutschen Himalaya-Pioniers Hermann von Schlagintweit. Dieser hatte 1855 versucht, den eben erst als höchsten Berg der Erde errechneten, aber unbekannten Peak XV zu erkunden. Aus der Nähe von Kathmandu betrachtete er die Westseite des Gebirges und sah einen Berg, der in Richtung des Everest lag und alle anderen Berge überragte. Dieser Berg war den Nepali als Gaurisankar bekannt, Schlagintweit hielt ihn jedoch für den mysteriösen Peak XV. Auf diesem Irrtum beruhend und aus Ablehnung des englischen Namens „Mount Everest“ zu Gunsten des „schönen alten Namen[s] Gaurisankar“ wurde in Deutschland diese Bezeichnung für den höchsten Berg der Welt in die Atlanten aufgenommen und in Schulen gelehrt. 1903 wurde festgestellt, dass es sich beim Gaurisankar um einen anderen, nämlich den 7145 m hohen Peak XX handelt; seine Entfernung zum Everest beträgt 58 km. == Mythologische Bedeutung == Wie im Grunde alle markanten Gipfel der Khumbu-Region ist auch der Mount Everest für die Sherpas ein heiliger Berg. Der Buddhismus ist bei diesem Volk mit ursprünglicheren Religionen, insbesondere Animismus und Bön, gepaart. Nach der Auffassung der Sherpas bewohnen Geister und Dämonen Quellen, Bäume und eben auch die Gipfel. Der Mount Everest ist nach Ansicht der Buddhisten der Sitz von Jomo Miyo Lang Sangma, einer der fünf „Schwestern des langen Lebens“, die auf den fünf höchsten Gipfeln des Himalaya wohnen. Jomo Miyo Lang Sangma gibt den Menschen Nahrungsmittel. Der große Heilige Padmasambhava, der den Buddhismus von Indien nach Tibet brachte, veranstaltete der Sage nach einen Wettlauf zum Gipfel des Mount Everest. Nachdem Padmasambhava einige Zeit auf dem Gipfel meditiert und mit den Dämonen gekämpft hatte, wurde er von einem Lama der Bön-Religion herausgefordert. Es ging um die Frage, wer von beiden mächtiger sei. Der Lama der Bön-Religion machte sich noch in der Nacht auf den Weg, getragen von seiner magischen Trommel, Padmasambhava erst bei Tagesanbruch. Er gewann trotzdem den Wettlauf, weil er, auf einem Stuhl sitzend, von einem Lichtstrahl direkt zum Gipfel gebracht wurde. Nachdem Padmasambhava einige Zeit oben gewartet hatte, ließ er seinen Stuhl zurück und begann mit dem Abstieg. Der Bön-Lama gab sich geschlagen und ließ seine Trommel zurück. Bis heute sagt man, dass die Geister die Trommel schlagen, wenn eine Lawine zu Tale donnert. Auf Grund dieser Bedeutung wird vor einer Besteigung von den Sherpas eine Opferzeremonie durchgeführt, eine sogenannte Puja. Die Sherpas sind davon überzeugt, dass eine Puja zwingend notwendig ist, um Unheil abzuwenden. Dieses Opferfest ist für ihren Seelenfrieden unabdingbar, und im Allgemeinen nehmen auch alle westlichen Expeditionsteilnehmer daran teil, da sonst, nach dem Glauben der Sherpas, die Berggötter zornig würden, und zwar nicht nur gegenüber den Ausländern, sondern besonders auch gegenüber den Sherpas, die solches zugelassen hätten. Religiöse Symbole wie Manisteine und ein Stupa mit Gebetsfahnen, die mit Mantras bedruckt sind, finden sich am Fuß des Mount Everest. Auf dem Weg zum Everest-Basislager (Mount Everest Trek), am Thokla-Pass zwischen Dingboche und Lobuche, wurde eine Gedenkstätte für die Opfer des Everest angelegt. Den Toten ist mit einem sogenannten Steinmann, einem Stapel aufgetürmter Steine, oder einer Stele die letzte Ehre erwiesen. == Geologie == === Regionalgeologischer Rahmen === Der Mount Everest ist, wie der gesamte Himalaya, ein Ergebnis der alpidischen Gebirgsbildung. Im südasiatischen Abschnitt des alpidischen Gebirgsgürtels führte die vor ca. 90 Millionen Jahren in der Oberkreide einsetzende Konvergenz der indischen Platte und der eurasischen Platte zur Schließung der östlichen Tethys und in Folge zur Kollision der Kontinentalblöcke Indien und Asien ab dem Eozän vor ca. 50 Millionen Jahren. Die wesentlich kleinere indische Platte schiebt sich nach wie vor mit einer Geschwindigkeit von etwa drei Zentimetern pro Jahr unter Eurasien. Der Mount Everest wächst aufgrund der mit der Kollision verbundenen Verdickung der kontinentalen Kruste noch immer, allerdings nur wenige Millimeter im Jahr. Die fortdauernde Hebung wird dabei durch isostatische Ausgleichsbewegungen verursacht, die aus dem Dichteunterschied zwischen der gestapelten Erdkruste im Bereich des Gebirges und dem dichteren Erdmantel folgt. Die in den Erdmantel hineinragende Gebirgswurzel erhält dabei einen Auftrieb, ähnlich wie ein Korken im Wasser. Die Hebung wird allerdings teilweise durch Erosion ausgeglichen, jenen Prozess, der letztlich auch für die Herausmodellierung des Berges aus dem Gebirgskörper verantwortlich war. === Geologischer Bau und Gesteine === Durch intensive tektonische Deformation („Faltung“) unter hohem Druck und hohen Temperaturen erfuhren die ursprünglichen Gesteine bei der Versenkung in die tieferen Niveaus der Erdkruste eine Umwandlung, wobei der Metamorphosegrad im Everest-Massiv generell von unten nach oben abnimmt. Die unterste Gesteinseinheit des Massivs (oberhalb 5400 m) besteht hauptsächlich aus hochmittelgradig metamorphen Gesteinen, vor allem dunklen, biotitreichen Sillimanit-Cordierit-Gneisen, deren Protolith-Alter auf das späte Neoproterozoikum geschätzt wird (mehr als 540 Millionen Jahre). Diese Gneise gehören der zentralen Kristallinzone des Himalaya (auch Greater Himalayan Sequence oder Higher Himalayan Crystalline Sequence genannt) an. Die Gneise im oberen „Stockwerk“ der Kristallinzone sind vielerorts von Plutonen und Gängen aus hellem Granit (Leukogranit) durchsetzt. Am Everest ist dies der sogenannte Everest-Nuptse-Granit (teils benannt nach dem Nachbarberg Nuptse). Er enthält neben den allgemein granittypischen Hauptgemengteilen Quarz, Feldspat (hier Mikroklin oder Orthoklas und Plagioklas) und Glimmer (hier Muskovit und Biotit) hauptsächlich Turmalin. Das Magma, aus dem dieser Granit hervorging, schmolz in den tieferen strukturellen Niveaus der Kristallinsequenz auf. Bildung des Magmas und Platznahme der Granitkörper erfolgten an der Oligozän-Miozän-Wende vor ca. 24 bis 21 Millionen Jahren und im Mittleren Miozän vor rund 16 Millionen Jahren.Der untere Teil der Gipfelpyramide, ab etwa 7500 m Höhe, ist aus schwachmittel- bis niedriggradig metamorph überprägten Sedimentgesteinen des Kambriums aufgebaut, die unter dem Namen North Col Formation oder Everest Series zusammengefasst werden. Dabei handelt es sich vorwiegend um jeweils quarzführende Glimmerschiefer, Phyllite und Chloritschiefer. Sie sind von den Gneisen und Graniten des Zentralkristallins durch die sogenannte Lhotse-Scherzone getrennt, allerdings durchqueren einige Granitgänge die Scherzone und durchsetzen auch die basale Partie der North Col Formation. Bei rund 8350 m wird die North Col Formation überlagert von einer ca. 170 m mächtigen Sequenz aus grobkristallinen Marmoren und Schiefern, die aufgrund ihrer auffälligen Verwitterungsfarbe als Gelbes Band bezeichnet wird. Der eigentliche Gipfelbereich besteht aus ordovizischem leicht dolomitisiertem, feinkörnigem Kalkstein – der Qomolangma Formation. Diese Kalksteine weisen meist deutliche Anzeichen für eine kräftige Durchbewegung auf (so ist ihr feinkörniges Gefüge wohl überwiegend auf dynamische Rekristallisation zurückzuführen; vgl. → Mylonit). Calcit-Porphyroklasten schwimmen in der feinkörnigen, foliierten Grundmasse bzw. werden von dieser in charakteristischer Art und Weise „umflossen“. Einige dieser „Calcit-Augen“ sind im Dünnschliff deutlich als Relikte von Fossilien (z. B. Crinoiden-Arm- oder Stielglieder) identifizierbar. Wenige Meter unterhalb des Gipfels sind Proben mit zahlreichen Fragmenten von Crinoiden, Trilobiten, Ostrakoden und Brachiopoden aufgesammelt worden, die anscheinend in deutlich geringerem Maße Deformation und Metamorphose erfahren haben. Die Qomolangma Formation ist gegen das Gelbe Band durch das flach nach Nordosten einfallende Qomolangma Detachment („Tschomolangma-Abscherfläche“) begrenzt, das im Gegensatz zur Lhotse-Scherzone als Verwerfung ausgebildet ist. Lhotse-Scherzone und Qomolangma Detachment sind Strukturelemente des sogenannten South Tibetan Detachment System („Südtibetisches Abscherflächensystem“), ein extensionales Störungssystem, das das Zentralkristallin von der nördlich angrenzenden, phanerozoischen, marin-sedimentären (typischerweise schwachmittelgradig bis unmetamorphen) Tethys-Himalaya-Sequenz, der auch die Qomolangma Formation zugerechnet wird, trennt. === Erdbeben === Die anhaltenden Plattenbewegungen verursachen teils sehr starke Erdbeben in weiten Teilen Süd- und Ostasiens, die sich auch auf den Mount Everest auswirken. Durch das schwere Beben vom 25. April 2015 wurde der Berg nach Messungen der chinesischen Behörde für Vermessung, Kartierung und Geoinformation (测绘地理信息管理) um drei Zentimeter in südwestlicher Richtung verschoben. Das Beben vom 12. Mai 2015 hatte hingegen keine Auswirkungen auf die Lage des Berges. In den zehn Jahren zuvor hatte sich der Everest mit einer mittleren Geschwindigkeit von vier Zentimetern pro Jahr in die Gegenrichtung, nach Nordosten, bewegt und wurde im Schnitt um 0,3 cm pro Jahr angehoben. == Topographie == Die Gipfelpyramide ist durch Erosion und gewaltige Gletscher modelliert. Die drei Hauptkämme – Westgrat, Nord-/Nordostgrat und Südostgrat – untergliedern den Gipfel in drei Hauptwände – Südwestwand, Nordwand und Ostwand (Kangshung-Flanke). Außerdem trennen die Grate die drei sich vom Mount Everest und seinen Nachbargipfeln ergießenden Gletscher: Khumbu-Gletscher, Rongpu-Gletscher (auch Rongbuk-Gletscher) und Kangshung-Gletscher. Südostgrat und Westgrat sowie deren Fortsetzungen bilden die weitere Grenze zwischen Tibet und Nepal. Der Südostgrat verbindet den Mount Everest mit dem 8516 m hohen Lhotse, der niedrigste Punkt dieses Grats ist der 7906 m hohe Südsattel (South Col). Im weiteren Verlauf setzt sich der Grat vom Lhotse in Richtung Lhotse Shar (8415 m) und Peak 38 (7591 m) fort. Der Westgrat läuft zunächst in einen Nebengipfel – die sogenannte Westschulter – aus, die zum Lho-La-Pass (6606 m) abfällt und sich dann in die Bergkette aus Khumbutse (6636 m), Lingtren (6714 m) und Pumori (7138 m) fortsetzt. Der auf tibetischer Seite befindliche Nordostgrat zielt vom Gipfel über drei Felsstufen und drei Felsnadeln bis zum östlichen Rongpu-Gletscher hinunter. Von ihm zweigt unterhalb der Stufen und oberhalb der Nadeln der Nordgrat auf einer Höhe von 8420 m ab und verbindet den Mount Everest über den niedrigsten Punkt am Nordsattel (7005 m) mit dem 7543 m hohen Changtse. Vom Lhotse zieht auf nepalesischer Seite in westliche Richtung der lange Bergkamm des Nuptse (7861 m), der vom Mount Everest durch das Tal des Schweigens und den Khumbu-Gletscher getrennt wird. Die Wände des Everest sind unterschiedlich gegliedert. Die Südwestwand zum Tal des Schweigens weist zwei markante Pfeiler aus. Sie ist im Ganzen steil (um 60–70 Grad). Die Nordwand ist im Wesentlichen gegliedert durch zwei hochgelegene Couloirs, das Norton-Couloir und das Hornbein-Couloir. Die Neigung der Nordwand variiert um 40–45 Grad. Die stark vergletscherte Ostwand oder Kangshung-Wand hat drei Hauptpfeiler. Sie ist im unteren Teil sehr steil (bis 80 Grad), und im oberen, schwächer geneigten Teil von Hängegletschern markiert. == Klima == Die klimatischen Bedingungen am Mount Everest sind extrem. Im Januar, dem kältesten Monat, beträgt die Durchschnittstemperatur auf dem Gipfel −36 °C und kann auf Werte bis zu −60 °C fallen. Auch im wärmsten Monat, dem Juli, steigen die Temperaturen nicht über die Frostgrenze, die Durchschnittstemperatur auf dem Gipfel beträgt dann −19 °C. Im Winter und Frühling herrschen Winde aus westlichen Richtungen vor. Die feuchtigkeitsbeladene Luft kondensiert zu einer weißen, nach Osten zeigenden Wolke (verfälschend häufig als „Schneefahne“ bezeichnet). Wegen dieser Wolkenfahnen hielt man den Himalaya ursprünglich für eine Vulkankette. Anhand der Wolkenfahne des Mount Everest schätzen Bergsteiger auch die Windgeschwindigkeit auf dem Gipfel ab: Bei etwa 80 km/h steht sie rechtwinklig zum Gipfel, bei höheren neigt sie sich nach unten und bei niedrigeren nach oben. Im Winter prallt der südwestliche Jetstream auf den Gipfel und kann Windgeschwindigkeiten von bis zu 285 km/h verursachen. Von Juni bis September gelangt der Berg unter den Einfluss des Indischen Monsuns. In dieser Zeit fallen die meisten Niederschläge, und heftige Schneestürme prägen das Wetter.Wie in allen Hochgebirgsregionen kann es zu raschen Wetterumschwüngen kommen. Dies gilt auch für die beiden Besteigungssaisonen im Mai und Oktober. Plötzlich einsetzende Temperaturstürze, Stürme und Schneefälle von bis zu drei Metern pro Tag sind nicht außergewöhnlich. Zumeist gibt es in der jeweiligen Saison nur wenige Tage mit stabilem Wetter – die sogenannten „Fenstertage“ –, an denen eine Besteigung am ehesten möglich ist. Verschiedene Studien kamen im ersten Jahrzehnt nach der Jahrtausendwende zu dem Ergebnis, dass auf Grund des Klimawandels die Eismassen im Bereich des Mount Everest stark schmelzen. Dadurch bilden sich unter anderem auf dem Khumbu-Gletscher zunehmend mehr und größere Schmelzwasserseen, die eine Besteigung behindern und das Risiko vergrößern. Auch tauen durch die Eisschmelze als Folge des Klimawandels viele der etwa 200 dort liegenden Bergsteigerleichen aus Gletschern und Eisfeldern frei. == Fauna und Flora == Der Luftdruck auf dem Gipfel des Mount Everest beträgt gemäß der barometrischen Höhenformel 325,4 hPa und entspricht knapp einem Drittel des Normaldrucks auf Meeresspiegelniveau. Hierdurch verschiebt sich der Siedepunkt des Wassers von 100 °C bei Normalbedingungen auf nur 70 °C, und der Sauerstoff-Partialdruck der Luft beträgt nur noch ein Drittel im Vergleich zur Meereshöhe. Hinzu kommen extreme Temperaturschwankungen und starke Winde. An diese äußerst lebensfeindliche Umwelt konnten sich nur wenige Tiere anpassen, Blütenpflanzen sind im Bereich des ewigen Eises nicht mehr zu finden. Euophrys omnisuperstes, ein kleiner Vertreter der Springspinnen (Salticidae), wurde bereits 1924 von R.W.G. Hingston bis zu einer Höhe von 6700 m beobachtet. Seine Nahrungsgrundlage blieb lange ein Rätsel. Erst 1954 entdeckte man, dass sie sich von Fliegen und Springschwänzen (Collembola) ernähren, die bis zu einer Höhe von 6000 m anzutreffen sind. Letztere leben von Pilzen und Flechten, die herangewehtes organisches Material abbauen. Bei der 1924 durchgeführten Everestexpedition wurden Flechten zwischen 4600 und 5500 m gesammelt. Darauf basierend konnte R. Paulson 1925 etwa 30 Arten nachweisen.Von den Wirbeltieren sind nur einige Vögel in der Lage, sich der extremen Höhe dauerhaft anzupassen. Die Streifengans (Anser indicus) hält sich bis in Höhen von 5600 m auf. Alpenkrähen (Pyrrhocorax pyrrhocorax) wurden selbst am 7920 m hohen Südsattel beobachtet, wo sie sich von Abfällen, aber auch von tödlich verunglückten Bergsteigern ernähren. Der Leichnam von George Mallory, den man auf ca. 8160 m fand, wurde vermutlich ebenfalls von Vögeln angefressen. == Höhenangaben und -messungen == Die Höhe des Mount Everest wurde in vielen Messungen bestimmt. Dabei ergaben sich Höhenangaben zwischen 8844 und 8850 m. Auf Grund der Höhe (Todeszone) und der Eisschicht auf dem Gipfel gestaltet sich die Messung schwierig. Die Eisschicht auf dem Gipfel wird nicht in die Höhe mit eingerechnet, da sie starken Schwankungen unterliegt. Die exakte Höhe muss sich folglich auf die Höhe des Felssockels darunter beziehen. Bei den ersten Messungen war dies noch nicht möglich. Ein weiteres Problem ist die Bezugsgröße Meeresspiegel. Chinesische Messungen gehen vom definierten Nullpunkt eines Pegels in Qingdao, nepalesische Messungen vom Nullpunkt eines Pegels in Karatschi aus. Die Distanz beider Orte beträgt mehr als 6000 Kilometer, und allein aus diesem unterschiedlichen Bezugssystem ergeben sich deutliche Differenzen. Darüber hinaus basieren GPS-Höhenangaben auf einem vereinfachten Modell der Erde, dem Referenzellipsoid des World Geodetic System 1984. Bei solchen Messungen muss also noch die Differenz zwischen Geoid und Referenzellipsoid berücksichtigt werden, wie beispielsweise bei der Messung im Mai 2004. Die Angabe für die Gipfelhöhe des Mount Everest ist seit der ersten Messung im Jahre 1848 mehrfach korrigiert worden. 1856 wurde aus Angaben von sechs verschiedenen Vermessungsstationen 8840 m errechnet. Die Stationen befanden sich allerdings über 150 Kilometer vom Everestmassiv entfernt, da die Vermesser des britischen Indian Survey nicht nach Nepal einreisen durften. Bis dahin sah man den Dhaulagiri (8167 m), den ersten entdeckten Achttausender, und ab 1838 den Kangchendzönga (8586 m) als höchsten Berg an. Die lange Zeit geltende Höhenangabe von 8848 m war 1954 vom Survey of India aus den Messdaten von insgesamt zwölf Vermessungsstationen als Mittelwert errechnet worden. Diese Angabe wurde von einer chinesischen Expedition im Jahre 1975 bestätigt – sie stellte 8848,13 m fest. Auch eine im September 1992 als erste mit modernen Mitteln angestellte Höhenvermessung eines chinesisch-italienischen Expeditionsteams direkt am Berg ergab mit 8848,82 m nahezu den gleichen Wert. Die dabei verwendeten Daten stammten sowohl aus Messungen mit herkömmlichen Theodoliten als auch aus Lasermessungen und GPS-Signalen. Sehr genaue Messungen mit Hilfe mehrerer GPS-Empfänger am 5. Mai 1999 ergaben eine Höhe von 8850 m. Jene Angabe basiert auf der Höhe des Felssockels. Die Stärke der Schicht aus Eis und Schnee am Gipfel schwankt je nach Jahreszeit und Niederschlagsmengen der Monsunzeit etwa im Bereich zwischen einem und drei Metern. Bei einer Messung im Mai 2004 wurden acht Radarreflektoren am Gipfel verankert und so die Höhe des Felssockels bestimmt. Im Anschluss wurde die jeweilige Höhe der Radarprofile ermittelt. Von dieser Höhe wurde dann die Dicke der Eisschicht abgezogen. Der Everest hatte nach dieser Messung eine Höhe von 8848,82 m, mit einer Ungenauigkeit von ±0,23 Meter. Damit konnte die Höhe aus dem Jahr 1992 bestätigt werden. Eine weitere Messung stammt aus dem Mai 2005, durchgeführt wiederum von einer chinesischen Expedition. Sie ergab für den Berg eine Höhe von 8844,43 m, bei einer Ungenauigkeit von ±0,21 Meter. Er ist damit etwa 3,7 Meter niedriger als seit der chinesischen Messung von 1975 angenommen. Allerdings bezieht sich die Angabe, wie auch schon die von 1999 und 2004, nur auf den reinen Felssockel. Diese Untersuchung wurde von Chinas Nordseite und nicht vom nepalesischen Süden aus unternommen und dauerte ein Jahr. Eingesetzt wurden Radardetektoren sowie Lasermessgeräte und Satellitenortungssysteme. 2020 vermaßen China und Nepal den Berg gemeinsam neu und stellten eine Höhe von 8848,86 m fest. == Besteigungsgeschichte == Der Mount Everest ist als höchster Berg der Erde stets ein attraktives Ziel. Die ersten Besteigungsversuche wurden in den 1920er Jahren unternommen, jedoch dauerte es bis zum 29. Mai 1953, als Edmund Hillary und Tenzing Norgay als Erste auf dem Gipfel standen. Seit den 1960er Jahren wurden zahlreiche neue Routen eröffnet. Die Besteigung von der chinesischen Nordseite aus gelang 1960 einer chinesischen Expedition. Am 8. Mai 1978 erreichten Reinhold Messner und Peter Habeler den Gipfel erstmals ohne zusätzlichen Sauerstoff. === Erste Besteigungsversuche === Die britische Armee-Expedition von Francis Younghusband bahnte sich im Jahre 1904 gewaltsam ihren Weg durch Tibet, um das Land zur Öffnung seiner Grenzen und Gewährung von Handelsprivilegien zu zwingen. Dabei wurde von J. Claude White auch die erste detaillierte Fotografie der Ostflanke von Kampa Dzong aus (etwa 150 Kilometer Entfernung) angefertigt. === 1920er Jahre === Die Erstbesteigung des Mount Everest durch einen Briten war im Vereinigten Königreich von hoher nationaler Bedeutung. Der britische Chemiker, Forscher zur Höhenmedizin und Bergsteiger Alexander Mitchell Kellas fasste das damals vorherrschende Meinungsbild am 22. Februar 1916 in einem Brief an Sandy Wollaston zusammen, der wie Kellas später zu den Mitgliedern der ersten britischen Expedition ins Mount Everest-Gebiet gehören sollte: Bei den Erkundungs- und Besteigungsexpeditionen wurde versucht, eine Genehmigung durch den Dalai Lama zu erhalten. Es dauerte bis in die 1920er Jahre, ehe er der Royal Geographical Society diese Erlaubnis aussprach. Die erste britische Erkundungsexpedition wurde 1921 in das Gebiet entsendet. Hier ging es aber noch nicht primär um die Besteigung des Berges, sondern um geologische Vermessungen, die Kartierung des Gebietes und eine erste Erkundung möglicher Aufstiegsrouten. Teilnehmer der Expedition beendeten die Vermessung von 31.000 Quadratkilometern. Im Verlaufe dieser Expedition entdeckte George Mallory vom Lhakpa La aus eine gangbare Route zum Gipfel, die seitherige Standard-Nordroute durch das Tal des östlichen Rongpu-Gletschers auf den Nordsattel. Ein kurzfristig angegangener Besteigungsversuch scheiterte auf dem Nordsattel am einsetzenden Monsun.1922 waren keine topographischen Untersuchungen mehr geplant und die Expedition in die Vormonsunzeit gelegt. Die Besteigungsversuche wurden in kleinen Gruppen unternommen. Den ersten Versuch machten Mallory, Somervell, Norton und Morshead ohne die Verwendung von zusätzlichem Sauerstoff. Sie errichteten auf 7600 m Höhe ein kleines Lager und setzten am folgenden Tag den Aufstieg fort. Morshead musste die Besteigung recht schnell abbrechen, die anderen Bergsteiger kamen an diesem Tag auf eine Höhe von 8225 m. Dies war ein neuer Höhenweltrekord für Bergsteiger. Der nächste Versuch wurde von George Ingle Finch, Geoffrey Bruce und dem Gurkha Tejbir mit Sauerstoffflaschen durchgeführt. Obwohl sie zunächst gut vorankamen, konnten sie aufgrund starker Winde das Lager nur auf 7460 m errichten. Den Aufstieg konnten sie erst zwei Tage später fortsetzen. Da Tejbir keine winddichte Kleidung besaß, begann er früh zu erlahmen. Auf 7925 m brach er zusammen. Finch und Bruce schickten ihn zurück zum Lager und setzten ihren Aufstieg fort. Sie kamen bis auf eine Höhe von 8326 m, ein erneuter Höhenrekord. Einen weiteren Besteigungsversuch führten Mallory, Somervell und Crawford durch. Mallory war beeindruckt von den Leistungen Finchs – dieser war höher als er selbst gekommen und auch horizontal näher am Gipfel gewesen – und wollte nun ebenfalls Sauerstoff mitnehmen. Beim Aufstieg von Lager III löste sich eine Lawine und riss sieben Träger mit sich, die nicht gerettet werden konnten. Die Expedition war damit beendet.1924 kehrten die Briten zurück. Mallory und Andrew Irvine kehrten von ihrem letzten Aufstiegsversuch nicht mehr zurück. Bis heute gibt es Diskussionen um die Frage, ob sie auf dem Gipfel waren oder bereits vorher zu Tode kamen. Mallorys Leiche wurde 1999 ohne eindeutigen Beweis für das Erreichen des Gipfels gefunden, Irvine ist nach wie vor verschollen. === 1930 bis 1949 === 1933 wagten andere Bergsteiger aus Großbritannien den Aufstieg zum Everest. Es waren Longland, Frank Smythe, Eric Shipton, Wyn-Harris und Wager. Lager VI wurde auf einer Höhe von 8320 m errichtet. Am 30. Mai startete die Gruppe den ersten Versuch. Wyn Harris und Wager stiegen zunächst am Grat und dann in Richtung Norton-Couloir. Dabei verstiegen sie sich und kehrten um. Am 1. Juni wagten Shipton und Smythe den zweiten Versuch. Sie verbrachten zwei Nächte in der sogenannten Todeszone. Als sich das Wetter besserte, stiegen sie höher, mussten aber nach einer Traverse des Großen Couloirs aufgeben. Frank Smythe erreichte 8573 m, die gleiche Höhe wie Norton 1924. 1934 versuchte der britische Abenteurer Maurice Wilson, den Mount Everest zu besteigen. Sein Plan war es, mit einem Flugzeug von Großbritannien nach Tibet zu fliegen, in der Nähe des Everests eine Bruchlandung zu machen und von dort aufzusteigen. Bis dahin war er noch nie geflogen und hatte keinen Berg bestiegen. Nachdem er Flugunterricht genommen hatte, gelang es ihm, nach Indien zu fliegen. Nach einigen Komplikationen schaffte er es, ein Lager am Fuße des Nordsattels zu errichten. Von dort unternahm er mehrere Versuche, um auf den Nordsattel zu kommen. Am 31. Mai 1934 machte er eine letzte Eintragung in sein Tagebuch. Er schrieb, dass er erneut aufsteigen wolle. Seine Leiche wurde ein Jahr später gefunden. Wie er gestorben und wie hoch er gekommen ist, ist nicht bekannt.1935 stand eine erneute britische Expedition zum Everest an. Erstmals als Träger war Tenzing Norgay dabei. Das Ziel dieser Expedition war nicht die Besteigung des Everest, da sie erst Anfang Juli und damit in der Monsunzeit stattfand. Die Ziele waren Erforschung, Landesaufnahme und Klettern in der gesamten Region. Es sollte ebenfalls erkundet werden, ob eine Nachmonsunexpedition Erfolg haben könnte. Man kletterte deshalb bis zum Lager III. 1936 sollte wieder die Besteigung angegangen werden. Als Bergsteiger dabei waren Smythe, Shipton, Wyn Harris, Kempson, Warren, Wigram, Oliver und Gavin. Tenzing Norgay war erneut als Träger dabei. Da der Monsun bereits am 25. Mai einsetzte, scheiterte die Besteigung früh. 1938 bestand das britische Team aus Shipton, Smythe, Warren, Floyd, Oliver und Odell, der trotz seines fortgeschrittenen Alters mitgenommen wurde. Als Träger wieder dabei war Tenzing Norgay. Man war bereits am 6. April in Rongpu. Die Verhältnisse sahen zunächst gut aus, und drei Wochen später waren Bergsteiger im Lager III. Da viele Bergsteiger krank waren, stieg man zunächst wieder ab. Eine Woche später (am 5. Mai) brachte der Monsun schon Schnee. Trotzdem wurde ein Versuch unternommen, bei dem Lager VI auf 8290 m errichtet wurde. Der viele Schnee machte dann das letzte Stück aber unpassierbar. In den 1940er Jahren gab es zwar Besteigungsversuche am Everest, doch kann man sie aus heutiger Sicht nicht ernst nehmen. Auf abenteuerlichen Wegen und ohne Genehmigung wurde der Berg von Einzelnen erfolglos angegangen. === 1950 bis 1952 === In den 1950er Jahren gab es einen Wettlauf zweier Nationen um den Gipfel. Infolge der chinesischen Rückeroberung war Tibet für Ausländer nicht mehr zugänglich, jedoch hatte das Königreich Nepal, das zwischen 1815 und 1945 Ausländern die Einreise und damit die Erkundung des Himalaya verwehrt hatte, seine Blockadehaltung inzwischen aufgegeben und einzelne Expeditionen genehmigt. Die Südwestseite des Everest war kaum bekannt, Mallory konnte zwar 1921 vom Lho La aus einen Blick auf die Südseite und in das Western Cwm werfen, ob von dort aus aber der Berg besteigbar oder zumindest der Südsattel erreichbar sei, blieb unbekannt. 1951 erkundete eine britische Expedition Teile dieses Zugangsweges. 1952 wurden zwei Schweizer Expeditionen genehmigt. Da sie nicht über die Nordroute aus Tibet steigen durften, mussten sie den neuen Weg aus Richtung Süden zum Berg ausprobieren. Im Frühjahr waren die Bergsteiger Chevalley, Lambert, Dittert, Flory, Aubert, Roch, Asper, Hofstetter und erneut Tenzing Norgay (diesmal als Führer der Sherpas) am Berg. Lager 6 wurde am South Col errichtet, Lager 7 auf 8382 m am Südostgrat. Tenzing Norgay hatte sich in dieser Expedition auch als Bergsteiger hervorgetan und versuchte mit Lambert den Aufstieg zum Gipfel. Sie kamen nach einer Nacht ohne Schlafsäcke und Kocher bis kurz unter den Südgipfel. Dabei wurde ein neuer Höhenrekord aufgestellt: 8600 m. Die zweite Expedition stieg im Herbst erstmals über die heutige Standardroute südlich des Genfer Sporns durch die Lhotseflanke auf den Südsattel. Lambert und Tenzing wurden wegen extrem kalten Wetters auf 8100 m am Südgrat zur Umkehr gezwungen. Die bei dieser Expedition gewonnenen Erkenntnisse über die Route halfen der britischen Expedition im folgenden Jahr.Es gibt Berichte, dass eine sowjetische Expedition im gleichen Jahr ohne Genehmigung über die Nordroute eine Besteigung versuchte. Es wurden aber nie Artefakte dieser Expedition gefunden und sie wurde auch immer dementiert. === 1953: Die erfolgreiche Erstbesteigung === 1953 wurde die neunte britische Expedition zum Mount Everest, diesmal unter der Leitung von John Hunt ausgerichtet. Nachdem mehrere Hochlager errichtet worden waren, wurden zwei Seilschaften gebildet. Die erste Seilschaft sollte quasi einen Schnellschuss wagen, die zweite dann bei Misserfolg das letzte Hochlager weiter nach oben verlegen. So sollte der Erfolg sichergestellt werden. Die erste Seilschaft bestand aus Tom Bourdillon und Charles Evans. Sie erreichten am 26. Mai den Südgipfel, mussten aber aufgeben, weil die von Bourdillon und seinem Vater entwickelten geschlossenen Sauerstoffsysteme infolge Vereisung versagten. Dies kostete sie so viel Zeit, dass ein weiterer Aufstieg keine Chance für einen sicheren Abstieg gelassen hätte. Die zweite Seilschaft verwendete nun ein traditionelles, offenes Sauerstoffsystem. Zwei Tage später schafften es der Neuseeländer Edmund Hillary und die Sherpas Tenzing Norgay und Ang Nyima, das letzte Lager auf eine Höhe von 8510 m zu verlegen. Ang Nyima stieg dann wieder ab, während Hillary und Norgay am 29. Mai um 6:30 Uhr Richtung Gipfel aufbrachen. Da sie weiter oben am Berg losstiegen, erreichten sie den Südgipfel bereits um 9:00 Uhr. Gegen 10:00 Uhr erreichten sie eine Felsstufe, die später Hillary Step genannt wurde und die das letzte bergsteigerische Hindernis darstellt. Gegen 11:30 Uhr standen sie auf dem Gipfel.Bei ihrer Besteigung fanden sie keine Spuren eines früheren Gipfelgangs. Hillarys erste Worte an seinen langjährigen Freund George Lowe nach seiner Rückkehr waren: “Well George, we finally knocked the bastard off.” (Sinngemäß: „George, wir haben den Mistkerl jetzt endlich erledigt.“) Die Meldung von der erfolgreichen Erstbesteigung erreichte London am Morgen des 2. Juni 1953. Das war Tag der Krönung von Elisabeth II. Am 16. Juli wurde Hillary der Order of the British Empire verliehen, der gleichzeitig seine Erhebung in den Adelsstand des britischen Königreichs bedeutete. Norgay wurde von Elisabeth II. durch die Verleihung der George Medal geehrt. Die Erstbesteigung löste ein großes internationales Echo aus und wurde als Eroberung des „dritten Pols“ (nach Nord- und Südpol) gefeiert. Wer von beiden zuerst auf dem Gipfel stand, war Gegenstand eines heftigen Disputs. Ein Gipfelfoto existiert nur von Tenzing Norgay, da dieser nicht in der Lage war, die Kamera zu bedienen und somit Hillary nicht ablichten konnte. Hillary sagte mal, dass der Gipfel des Everest kein geeigneter Ort sei, um dort jemandem das Fotografieren beizubringen. Tenzing Norgay wurde von asiatischer Seite als Erstbesteiger gefeiert und ihm sogar eine Unterschrift unter ein entsprechendes Dokument abgenötigt. Er gab aber 1955 zu, dass Hillary zuerst seinen Fuß auf den Gipfel setzte. Beide betonten jedoch, dass die Erstbesteigung das Werk eines Teams war, und blieben lebenslang befreundet. === 1954 bis 1959 === 1956 war erneut eine Schweizer Expedition am Berg. Den Bergsteigern Ernst Schmied und Jürg Marmet am 23. Mai sowie einen Tag später Dölf Reist und Hansruedi von Gunten gelang die zweite beziehungsweise dritte Besteigung auf der Route der Erstbesteiger. Zuvor gelang Ernst Reiss und Fritz Luchsinger im Rahmen dieser Expedition am 18. Mai die Erstbesteigung des benachbarten Lhotse. Laut Hansruedi von Gunten dachten die Teilnehmer bei der Rückreise, auf den Everest wolle nach ihnen „niemand mehr hinauf“. === 1960er Jahre === 1960 wurde der Mount Everest erstmals von tibetischer Seite aus (Nordostgrat) durch eine chinesische Expedition bestiegen. Die Bergsteiger Wang Fu-chou, Konbu und Qu Yinhua waren vermutlich die ersten, die den Second Step erklettern konnten. Das letzte Stück soll Chu Ying-hua sogar barfüßig von den Schultern eines Teamkollegen gemeistert haben. Diese Besteigung wurde jedoch vereinzelt angezweifelt, da es keine sichere Dokumentation für den Gipfelsieg gibt. Ein damals veröffentlichtes Foto zeigt aber den Berg oberhalb des Second Step. Mittlerweile wird diese Besteigung offiziell anerkannt. Besser dokumentiert und daher vereinzelt noch als Erstbesteigung dieser Route angesehen ist die einer ebenfalls chinesischen Expedition im Jahr 1975.Im Jahre 1962 wagte sich eine sehr improvisiert organisierte Expedition von drei Amerikanern und einem Schweizer ohne Bewilligung von der tibetischen Seite her an den Everest. Der Schweizer Hans-Peter Duttle hatte sich innerhalb eines Tages zu entscheiden und folgte den anderen ab Kathmandu mit nur zwei Trägern und einem Touristenvisum nach Khumbu. Zur Täuschung der Behörden besaßen die Amerikaner eine Bewilligung für den Gyachung Kang. Am Fuße des Übergangs Nup La wurden die letzten zwei Träger ausbezahlt und die vier Bergsteiger kämpften sich eine Woche lang zur Grenze hoch. Über tibetisches Gebiet gelangten sie zum Nordsattel des Everest. Dort, nach drei Wochen, stürzten der Leiter der Expedition, Woodrow Wilson Sayre, sowie Roger Hart bei einem Materialtransport ab. Duttle und der vierte Mann, Norman Hansen, hatten sie schon aufgegeben, aber die zwei konnten sich retten. Die völlig mangelhaft ausgerüstete Gruppe stieg in den nächsten Tagen ohne Sauerstoff weiter bis auf eine Höhe von 7700 Metern, wofür Robert Bösch sowohl Bewunderung als auch ungläubiges Kopfschütteln über so viel Leichtsinn zeigte. Dort stürzte Sayre noch einmal und die Gruppe kehrte um, als sich Absturzverletzungen lebensbedrohlich entzündeten. Mit kaum mehr Material schafften alle vier die Rückkehr in die Zivilisation. Die Expedition sorgte für politische Misshelligkeiten und gefährdete die Expedition von Norman Dyhrenfurth im Folgejahr.1963 eröffnete die offiziell erste amerikanische Expedition unter der Leitung von Norman Dyhrenfurth eine neue Route über den Westgrat. Tom Hornbein und Willi Unsoeld stiegen vom Tal des Schweigens aus auf die Westschulter, folgten dem Westgrat, mussten dann aber wegen zu großer technischer Schwierigkeiten auf dem Grat in die Nordwand ausweichen. Sie stiegen in der seither „Hornbein-Couloir“ genannten Schlucht der Nordwand zum Gipfel und führten dann die erste Überschreitung des Mount Everest durch, indem sie ihren auf der Südroute angestiegenen Kameraden im Abstieg folgten. Diese Überschreitung war zugleich die erste Überschreitung eines Achttausenders überhaupt. Die vier biwakierten beim Abstieg auf 8600 Metern. === 1970er Jahre === Der Versuch einer Erstbegehung der Südwestwand im Zuge der Ersten Europäischen Mount Expedition 1972 scheiterte etwa 500 Höhenmeter unter dem Gipfel. Die Vormonsunexpedition war von Karl Maria Herrligkoffer organisiert worden. Nachdem die Differenzen innerhalb der Gruppe, der Extrembergsteiger unterschiedlicher Nationen angehörten, zu einer Belastung geworden waren, wurde die Expedition nach einem Schlechtwettereinbruch abgebrochen. Im selben Jahr startete eine britische Nachmonsunexpedition, an der auch Hamish MacInnes und Doug Scott teilnahmen, die wenige Monate zuvor Mitglieder der Ersten Europäischen Mount Everest Expedition gewesen waren. Auch sie erreichten den Gipfel nicht. 1975 gelangten Doug Scott und Dougal Haston erstmals durch die Südwestwand zum Gipfel, allerdings wählten sie im oberen Teil eine andere Route.Am 16. Mai 1975 stand mit der Japanerin Junko Tabei die erste Frau auf dem Gipfel. Wenig später erreichte die Tibeterin Phanthog als Teilnehmerin der chinesischen Nordgrat-Expedition als zweite Frau den Gipfel. Im selben Jahr wurde die Südwestwand, die sich 2500 m aus dem Tal des Schweigens erhebt, von einer britischen Expedition unter Leitung von Chris Bonington durch Doug Scott und Dougal Haston zum ersten Mal bewältigt. An dieser Wand waren zuvor bereits sechs Expeditionen gescheitert. Die Schlüsselstelle in der Route ist die Überwindung eines gewaltigen Felsbandes oberhalb der schneegefüllten Rinne. Doug Scott und Dougal Haston biwakierten beim Abstieg eine Nacht in einer Schneehöhle am Südgipfel (8750 m). Am 3. Mai 1978 war mit Robert Schauer der erste Österreicher auf dem Gipfel. Schauer glückte 18 Jahre später eine zweite und 2004 eine dritte Besteigung. Nur fünf Tage später, am 8. Mai 1978, bestiegen Reinhold Messner und Peter Habeler den Gipfel erstmals ohne zusätzlichen Sauerstoff. Weitere drei Tage später erreichte Reinhard Karl aus derselben Expedition als erster Deutscher den Gipfel. Weitaus weniger bekannt ist, dass im Herbst desselben Jahres Hans Engl als erster Deutscher den Gipfel ebenfalls ohne zusätzlichen Sauerstoff erklomm. Dem Österreicher Franz Oppurg gelang am 14. Mai 1978 die erste Solobesteigung des Mount Everest. Die erste deutsche Frau stand 1979 auf dem Gipfel: Hannelore Schmatz kam aber beim Abstieg ums Leben. Die wohl schwierigste Grat-Route, der direkte Westgrat, wurde ebenfalls 1979 durch eine jugoslawische Expedition gemeistert. Andrej Štremfelj und Jernej Zaplotnik überwanden schwierigste Felspassagen. === 1980er Jahre === In den 1980er Jahren gelangen die erste Winter- und die erste Alleinbegehung sowie neue, schwierige Routen auf den Gipfel. Die erste Winterbegehung der Südsattelroute praktizierte 1980 eine polnische Expedition. Am 17. Februar erreichten Leszek Cichy und Krzysztof Wielicki den Gipfel, wobei sie mit Temperaturen von bis zu −45 °C und Windgeschwindigkeiten von fast 200 km/h zu kämpfen hatten. Im selben Jahr gelang Reinhold Messner die erste Alleinbegehung des Berges im reinen Alpinstil. Zudem wurde die Nordwand von den Japanern Takashi Ozaki und Tsuneo Shigehiro erstmals vollständig durchstiegen. Jerzy Kukuczka war mit einer polnischen Expedition am Südpfeiler erfolgreich. 1982 eröffnete eine sowjetische Expedition eine neue Route über den Südwestpfeiler. Die Ostwand wurde 1983 durch die US-Amerikaner Louis Reichardt, Kim Momb und Carlos Buhler bezwungen. 1986 durchstiegen Erhard Loretan und Jean Troillet das Hornbein-Couloir. Als erster Frau gelang der Neuseeländerin Lydia Bradey die Besteigung ohne zusätzlichen Sauerstoff am 14. Oktober 1988. === 1990er Jahre === 1990 bestieg Andrej Štremfelj den Mount Everest ein zweites Mal zusammen mit seiner Frau Marija. Beide waren das erste verheiratete Paar auf dem höchsten Gipfel der Erde. Am 5. Februar 1990 startete Tim Macartney-Snape aus Australien mit seiner Frau Ann Ward im Golf von Bengalen um jeden Höhenmeter selbst aufzusteigen. Er ging den gesamten Weg von der Insel Sagar im Gangesdelta an der Meeresküste Indiens und erreichte den Gipfel über die Normalroute ohne Unterstützung von Sherpas oder Sauerstoffflaschen. Der Film Everest Sea to Summit von Michael Dillon dokumentiert das Unternehmen. Macartney-Snape gründete danach mit Roland Tysen das Ausrüstungs- und Bekleidungsunternehmen Sea to Summit. Im Jahr 1995 wurde der lange Nordostgrat vollständig bis zum Gipfel begangen. Im gleichen Jahr schaffte es die Schottin Alison Hargreaves als erste Frau ohne zusätzlichen Sauerstoff über die Nordroute auf den Gipfel. 1996 wurde die Saison durch zwölf Todesfälle überschattet, die bis zu diesem Zeitpunkt tödlichste Saison am Mount Everest. In einem am Mittag aufziehenden Höhensturm kamen mehrere Bergsteiger aus der Gipfelzone nicht mehr zurück zu ihren Zelten, unter anderem sehr erfahrene Expeditionsleiter, die zuvor schon mehrfach oben gewesen waren. Einzelheiten dazu stellt der Artikel Unglück am Mount Everest (1996) dar. 1996 brauchte Hans Kammerlander nur 16 Stunden und 45 Minuten, um vom vorgeschobenen Basislager über die Nordroute auf den Gipfel zu steigen. Danach fuhr er teilweise auf Skiern hinab. Der Schwede Göran Kropp (1966–2002) fuhr ab Oktober 1995 mit dem Fahrrad und Anhänger von Stockholm 13.000 km zum Mount Everest und bestieg diesen am 23. Mai 1996. Im Zuge einer weiteren Besteigung 1999 mit seiner Partnerin Renata Chlumska – erste Schwedin und Tschechin am Gipfel – machten beide eine Säuberungsaktion am Berg. Der britische Abenteurer Bear Grylls bestieg 1998 als damals jüngster Brite mit 23 Jahren den Mount Everest. Ebenfalls 1998 war der Brite Tom Whittaker der erste Beinamputierte, der den Gipfel erreichte. Babu Chiri Sherpa verbrachte ein Jahr später 21 Stunden ohne zusätzlichen Sauerstoff auf dem Gipfel (Rekord des längsten Gipfelaufenthalts). Am 27. Mai 1999 schaffte Helga Hengge über die Nordroute als erste deutsche Frau die erfolgreiche Besteigung. === 2000er Jahre === 2000 fuhr Davo Karničar den kompletten Berg mit Skiern hinab. Ein Jahr später erreichte mit Erik Weihenmayer der erste Blinde den Gipfel und Marco Siffredi fuhr das große Couloir mit dem Snowboard ab. Evelyne Binsack erreichte am 23. Mai 2001 als erste Schweizerin den Gipfel. 2004 eröffnete eine russische Expedition eine neue Route durch die Nordwand, die weitgehend eine Direttissima darstellt. Am 30. Mai erreichten Pawel Schabalin, Ilja Tukhvatullin und Andrej Mariew den Gipfel.Im Jahr 2006 stand mit Mark Inglis der erste doppelt Beinamputierte auf dem Gipfel, während der Skyrunner Christian Stangl vom vorgeschobenen Basislager nur 16 Stunden und 42 Minuten für die Besteigung über die Nordroute benötigte.Im Jahr 2007 ließ der Mobilfunkanbieter China Mobile drei Sendemasten auf 5200 m, 5800 m und 6500 m Höhe installieren. Dies sollte ermöglichen, auf der gesamten Aufstiegsroute bis zum Gipfel ein Mobiltelefon zu benutzen, und stand im Zusammenhang mit dem für das folgende Jahr geplanten olympischen Fackellauf. Anlässlich der Olympischen Spiele 2008 in Peking wurde die olympische Fackel während des Fackellaufes am 8. Mai 2008 von Bergsteigern von der tibetischen Seite auf den Gipfel gebracht. Um dies medial besser präsentieren zu können, wurde die Straße zum nördlichen Basislager im Rongpu-Tal befestigt. Das Training chinesischer Bergsteiger für diesen Fackellauf geschah in der Saison 2007 erstmals mit militärischen Absperrmaßnahmen, privilegiertem Zugang und Wachposten am chinesischen Basislager, ein für Bergsteiger ungewohnter und kritisch betrachteter Umstand, den es zuvor an keinem Berg gab. Im Frühjahr 2008 wurden zunächst alle Expeditionen über die Nordroute bis zum 10. Mai untersagt, später schloss sich auch Nepal an und untersagte das Bergsteigen am Mount Everest. Somit gab es im Frühjahr außer der Fackellauf-Expedition kaum Gipfelchancen für auswärtige Bergsteiger. Auch die Besteigung des Cho Oyu wurde bis zum 10. Mai untersagt. Zudem wurde den Bergsteigern die Benutzung von modernen Kommunikationsmitteln sowie das Fotografieren untersagt.Nach mehreren gescheiterten Versuchen beging Park Young-Seok im Jahr 2009 eine neue Route in der Süd-West-Wand. === 2010er Jahre === Als erste Österreicherin erreichte Sylvia Studer gemeinsam mit ihrer Tochter Claudia und ihrem Mann Wilfried am 23. Mai 2010 den Gipfel.Als erste Österreicherin ohne Sauerstoffflaschen stand Gerlinde Kaltenbrunner am 24. Mai 2010 am Gipfel.Der Südkoreaner Kim Chang-ho begann seine Expedition „0 to 8,848 m“ ebenfalls an der Insel Sagar am Golf von Bengalen, paddelte jedoch die ersten 160 km gangesaufwärts bis Kalkutta, radelte die nächsten 1000 km über Dharan und Tumlingtar, wanderte noch 150 km zum Everest Base Camp und kletterte auf der Normalroute am 20. Mai 2013 zum Gipfel mit An Chi-Young, Oh Young-hoon und Seo Sung-ho, der beim Abstieg starb.Am 18. April 2014 kamen auf der nepalesischen Seite 16 Menschen (darunter drei Vermisste) durch eine Lawine im Khumbu-Eisbruch auf 5800 Meter Höhe ums Leben, das bis dahin folgenreichste Unglück in der Besteigungsgeschichte.Aufgrund des Erdbebens vom 25. April 2015 kam es zu Lawinen im Bereich des Basislagers. Dabei kamen mindestens 18 Personen ums Leben, was das bisher schwerste Unglück in der Besteigungsgeschichte darstellt. Zum Zeitpunkt des Unglücks am Samstag hielten sich nach offiziellen Angaben etwa 1000 Bergsteiger und Träger am Mount Everest auf. Nach dem Erdbeben verboten die chinesischen Behörden aufgrund möglicher Gefahren durch locker gewordenes Eis und Gestein die weitere Besteigung des Mount Everest über die Nordroute bis zum Vormonsun 2016. In Nepal wurde kein offizielles Besteigungsverbot erlassen. Da aber der Khumbu-Eisbruch nicht erneut versichert werden konnte, endeten auch auf der Südroute die Besteigungsversuche. Durch das Erdbeben wurde ein Teil des oberen Teils des Hillary Step zerstört.Der aus Bielefeld stammenden Anja Blacha gelang im Mai 2017 mit 26 Jahren als jüngster deutschen Frau die Gipfelbesteigung. In der gleichen Gruppe stieg der blinde österreichische Bergsteiger Andy Holzer auf und erklomm damit die Seven Summits. Sie stiegen unter Zuhilfenahme von Flaschensauerstoff über die Nordroute auf und standen am 21. Mai 2017 auf dem Gipfel.Am 14. Mai 2018 bezwang der 69-jährige Chinese Xia Boyu mit zwei Beinprothesen den Everest. Es war sein 5. Versuch; beim ersten Versuch 1975 erfroren ihm die Füße, sodass sie ihm abgenommen werden mussten. 1996 wurde er beidseits unterhalb der Knie amputiert. Die Regelung aus 2017, dass doppelt Beinamputierte den Everest nicht besteigen dürfen, war von einem Gericht als diskriminierend aufgehoben worden. Als einziger doppelt Beinamputierter hatte zuvor der Neuseeländer Mark Inglis im Jahr 2006 den Mount Everest erreicht. === 2020er Jahre === Als Folge der COVID-19-Pandemie wurde der Berg 2020 von beiden Seiten gesperrt. Für die Zeit ab der Herbstsaison 2020 hat die nepalesische Regierung im Sommer beschlossen, den Berg wieder zu öffnen, jedoch müssen Bergsteiger 4 Meter Abstand zueinander halten. Zusätzlich fordert die chinesische Regierung eine Trennlinie auf dem Gipfel, um das Vermischen der Gruppen zu verhindern und so die Gefahr einer Ansteckung durch einen evtl. Infizierten zu verhindern.In der Saison 2023 bestiegen geschätzt 600 Bergsteiger den Mount Everest. 13 von ihnen starben (darunter Luis Stitzinger) und vier wurden oder werden vermisst. Hubschrauberflüge zu Lager II (6400 m hoch) und Lager III (7000 m hoch) haben das Sterberisiko für erkrankte oder verletzte Bergsteiger erheblich verringert. === Kommerzielle Besteigungen === Seit den 1980er Jahren ist eine regelrechte Everest-Euphorie ausgebrochen, was zu einem deutlichen Anstieg der Zahl der Gipfelbesteigungen geführt hat. Während bis 1979 – also innerhalb von 27 Jahren seit der Erstbesteigung – nur 99 Menschen auf dem Gipfel waren (drei von ihnen zweimal), verdoppelte sich die Zahl der Gipfelbesteigungen zwischen 1980 und 1985 – innerhalb von nur sechs Jahren. 1993 erreichten erstmals mehr als 100 Menschen in einem Jahr den Gipfel. Im Jahr 2003 konnten mit 266 erstmals mehr als 200 Besteigungen gezählt werden. In der Rekordsaison 2007 wurde der höchste Punkt von 604 Bergsteigern erreicht. Da in diesem Jahr einige Bergsteiger mehrmals auf dem Gipfel standen, konnten sogar 630 Besteigungen gezählt werden. Das Spektrum der Gipfelaspiranten reicht von erfahrenen Alpinisten bis zu weniger geübten, die sich auf die von ihren Bergführern gelegten Fixseile verlassen müssen. Die Kosten hierfür betrugen zwischen 13.000 und 65.000 US-Dollar. Im Jahr 2013 stiegen von der nepalesischen Seite 32 Teams auf, mit denen 242 Bergsteiger (davon 34 weiblich) den Gipfel erreichten. Alleine die Gebühren für Genehmigungen für diese 32 Teams betrugen 2.525.000 US-Dollar. Das sind 80 Prozent aller vom Staat eingenommenen Besteigungsgebühren im Jahr 2013 (für einige Berge in Nepal werden die Genehmigungen nicht vom Staat, sondern von der „Nepal Mountaineering Association“ vergeben). Etwa ein Drittel aller Bergsteiger am Everest gehören zu einer kommerziellen Expedition. Nach wie vor sind Besteigungen ohne Flaschensauerstoff selten. Die Anziehungskraft des höchsten Berges der Erde lockt viele, die sich dieser Herausforderung nur stellen können, wenn sie sich umfangreich Hilfe kaufen; Träger, die sie vom Schleppen aller Lasten außer der minimalen persönlichen Ausrüstung entbinden, sogar die Zelte und die Schlafsäcke werden von Sherpas getragen, damit der teuer zahlende Kunde seine Kräfte für den Gipfel aufsparen kann. Von vielen renommierten Bergsteigern wird der Mount Everest wegen des großen Andrangs seit langem gemieden. Nives Meroi machte 2007 die Erfahrung: „Die großen kommerziellen Firmen bereiten alles für ihre Kunden vor, sichern die Routen, besetzen die Hochlager. Für uns als kleine Gruppe von vier Bergsteigern ist kein Platz mehr“.Bei zwei kommerziellen Besteigungen starben 1996 zwölf , weil sie hoch oben von plötzlichen Wetterumschwüngen überrascht wurden. Diese Ereignisse werden in dem IMAX-Film Everest – Gipfel ohne Gnade und in mehreren Büchern dargestellt, darunter der Bestseller In eisige Höhen von Jon Krakauer und Der Gipfel, eine Gegendarstellung von Anatoli Bukrejew. Die Routen auf den hohen Hängen des Mount Everest sind von den Leichen gestorbener Bergsteiger gesäumt: Über 300 Menschen starben beim Versuch der Besteigung oder beim Abstieg vom Gipfel. Die Versuchung, unbedingt auf dem höchsten festen Punkt der Erdoberfläche stehen zu wollen, ist groß für viele nicht ausreichend Erfahrene. Anstrengung und Sauerstoffmangel führen zu schlechteren Reaktionen und eingeschränktem Denkvermögen, das die Entscheidung zur Umkehr bei widrigen Verhältnissen erschwert. Höhenlungenödem und Höhenhirnödem sind lebensbedrohlich; wer beide Ödeme gleichzeitig erleidet stirbt mit hoher Wahrscheinlichkeit. An manchen der jeweils sehr wenigen „Fenstertage“ im Jahr (im Mai, vor dem Aufkommen des Monsuns) stauen sich an den klettertechnisch schwierigeren, mit Fixseilen gesicherten Stellen die Aufstiegswilligen teils mehrere Stunden lang: Die Zeit verrinnt, man kühlt beim Warten aus, und die Gefahr steigt, nicht mehr bei Tageslicht absteigen zu können. Wer hoch oben am Everest in die zweite Nacht gerät (der Endaufstieg muss in der Nacht davor vor Mitternacht beginnen), hat extrem schlechte Aussichten, ohne schwere körperliche Schäden (erfrorene Zehen, Füße, Finger, Nase) wieder vom Berg herabzukommen. Auch die Hilfsmöglichkeiten der Bergführer sind in der extremen Umgebung auf den letzten 2000 Höhenmetern sehr begrenzt. Hilfeleistung unterbleibt oft auch wegen des Risikos eigener gesundheitlicher Schäden oder wegen der Vereitelung der eigenen Gipfelchancen. === Abfallproblematik === Ein weiteres Problem dieser Art von „Tourismus“ ist, dass die Umweltverschmutzung der Lager durch Müll (Zelte, Sauerstoffflaschen, Speisereste, Dosen und Medikamente) rapide zugenommen hat. Der Südsattel wurde schon als „höchste Müllkippe der Erde“ tituliert. Mittlerweile wird von administrativer Seite verstärkt versucht, diese Begleiterscheinungen zu reduzieren. Jede Expedition muss ein Müllpfand hinterlegen, das nur zurückbezahlt wird, wenn die gesamte Ausrüstung und sogar die Fäkalien aus dem Basislager wieder abtransportiert werden. Zudem werden in regelmäßigen Abständen Expeditionen ausgerichtet, die Müll aus den Hochlagern vom Berg herunterholen. Seit dem Frühjahr 2014 sind Bergsteiger sogar verpflichtet, mindestens 8 Kilogramm Altmüll auf dem Abstieg einzusammeln und mitzubringen. Auch private Initiativen versuchen das Problem zu mildern. 1995 organisierte u. a. Scott Fischer eine Reinigungsexpedition, in der den Sherpas für jede heruntergebrachte Sauerstoffflasche eine Prämie bezahlt wurde. Der Japaner Ken Noguchi hat (Stand 2007) fünf Säuberungsexpeditionen ausgerichtet und dabei neun Tonnen Abfälle abtransportiert. Im Jahr 2010 startete eine Initiative von 20 Sherpas unter Leitung von Namgyal Sherpa, die das Ziel hatte, den Berg von mindestens 3000 kg Bergsteiger-Müll (alte Zelte, Seile, Sauerstoffflaschen, Nahrungsmittelverpackungen u. a.) zu säubern. Nebenbei sollten auch die Leichen von mehreren Bergsteigern (u. a. Gianni Goltz † 2008, Rob Hall † 1996) geborgen werden. 2018 konzentrierte sich die Abfallsammelkampagne auf recyclebare Materialien.In der Nähe des Everest sind hotelähnliche Lodges entstanden. Sie befinden sich nicht an den traditionellen Siedlungsschwerpunkten und bieten „Komforttrekkern“ einen gewissen Luxus. (Siehe auch Mount Everest Trek). == Statistik der Besteigungen == === Anzahl der Besteigungen === Seit der Entdeckung von 1852, dass der Everest der höchste Berg der Erde ist, vergingen 101 Jahre bis zu seiner Erstbesteigung. 15 Expeditionen versuchten dies vergeblich; dabei starben 21 Menschen. Bis Ende 2006 gab es über 14.000 Besteigungsversuche, 3057 davon gelangen. Nur etwa einer von fünf Aspiranten gelangte auf den Gipfel. Bis Ende 2010 wurden insgesamt 5104 Gipfelerfolge gezählt. Davon wurden nur 173 Besteigungen ohne Zusatzsauerstoff durchgeführt.Am 23. Mai 2010, dem bis dahin größten Ansturm, standen 169 Menschen auf dem Gipfel. Bis Ende 2018 erhöhte sich die Anzahl der Besteigungen auf 8400. Die meisten Besteigungen hat bisher Kami Rita Sherpa durchgeführt, der mittlerweile 26 Mal (Stand: Mai 2022) auf dem Gipfel stand. === Zeitrekorde === Die schnellste Besteigung gelang dem Sherpa Pemba Dorjee, der am 21. Mai 2004 den Aufstieg vom Basislager zum Gipfel in nur 8:10 Stunden schaffte. Auf der Nordroute hält Christian Stangl seit dem Jahr 2006 mit 16:42 den Rekord, wobei er allerdings am vorgeschobenen Basislager startete. Hans Kammerlander brauchte auf derselben Route zehn Jahre zuvor nur wenige Minuten länger. Bei diesen Schnellbesteigungen ist aber zu beachten, dass der genaue Startpunkt bei jeder Besteigung anders war und sie deshalb kaum miteinander verglichen werden können. === Altersrekorde === Der jüngste Besteiger war der US-Amerikaner Jordan Romero, der im Alter von 13 Jahren und 10 Monaten den Gipfel am 22. Mai 2010 erreichte. Die jüngste Bergsteigerin war die fast gleichalte Inderin Malavath Purna mit 13 Jahren und 11 Monaten, die den Gipfel am 25. Mai 2014 erklomm.Die bisher älteste Frau, die auf dem Everest war, ist die Japanerin Tamae Watanabe. Sie erreichte erstmals am 16. Mai 2002 als schon damals mit 63 Jahren älteste Besteigerin den Gipfel über die Südostroute von Nepal aus. Durch eine erneute Begehung des Gipfels am 19. Mai 2012 über die Nordroute von Tibet aus erhöhte sie ihren eigenen, bis dahin ungeschlagenen Altersrekord auf 73 Jahre.Mit einem Alter von 80 Jahren war der Japaner Yūichirō Miura am 23. Mai 2013 der älteste Mensch auf dem Gipfel. Er war damit auch der älteste Mensch überhaupt, der je auf einem Achttausender stand. Am 6. Mai 2017 starb der 85 Jahre alte Min Bahadur Sherchan vermutlich an einem Herzinfarkt im Basislager auf der Südseite des Berges, bevor er seinen abermaligen Versuch starten konnte, nach seinem Rekord 2008 einen neuen Altersrekord aufzustellen. === Todesfälle === Bis 2013 starben am Everest insgesamt 248 Menschen – 140 auf nepalesischer und 108 auf tibetischer Seite. Bis Ende 2018 erhöhte sich die Anzahl der tödlich verunglückten Bergsteiger auf über 300. Häufige Todesursachen sind Abstürze, Erfrierung, Erschöpfung, Höhenkrankheit und Lawinen. Die meisten Bergsteiger verunglücken oberhalb von 8000 m während des Abstiegs. Besteigungen ohne Flaschensauerstoff sind durchschnittlich nur halb so oft erfolgreich und mit einem doppelt so großen Todesrisiko behaftet wie Besteigungen mit Flaschensauerstoff. Von den Toten wurden bisher etwa nur ein Drittel geborgen. Rund 200 Leichen liegen oft eingeschneit oder in den Gletschern und Eisfeldern eingefroren entlang der Aufstiegsrouten. Da es teuer, aufwändig und gefährlich ist, Leichen zu bergen, werden die Toten daher nur geborgen, wenn sie die häufig genutzten Aufstiegsrouten versperren oder dies von den Familien gefordert wird. Einige Tote dienen hingegen sogar als Wegzeichen, wie etwa (bis 2014) der indische Bergsteiger „Green Boots“: Seine hellgrünen Stiefel signalisierten den Bergsteigern, dass sie bald den Gipfel erreichen würden.Der Everest-Chronist Alan Arnette erstellt regelmäßig Todesfall-Statistiken. Im Jahr 2018 schlüsselte er die 288 Todesfälle bis 2017 zusätzlich danach auf, ob sie sich auf einer der beiden Normalrouten (Südroute und Nordroute) oder auf anderen, schwierigeren Routen ereignet haben. Südroute und Nordroute unterscheiden sich laut der Statistik kaum in ihrem Risiko; die Nordroute erscheint etwas weniger gefährlich. Die Begeher anderer als der Normalrouten sind am meisten gefährdet: Auf diesen schwierigeren Routen ereigneten sich 80 Todesfälle (28 % aller Todesfälle) – obwohl auf ihnen nur 265 Gipfelerfolge von insgesamt 8306 erfolgreichen Besteigungen errungen wurden.Hierbei muss man berücksichtigen, dass die Zahlen derer, die erfolglos versuchen, auf den Gipfel zu kommen, ca. fünf- bis sechsmal höher sind als die Erfolge und niemand diese für eine Statistik erfasst. Wohl weit über 30.000 Menschen versuchten, auf den Gipfel des Everest zu kommen. Es kommen auch Menschen zu Tode am Everest, die niemals oben waren. == Routen == Am Everest gibt es bis heute insgesamt 20 Routen. Die beiden Standardrouten sind die Südroute und die Nordroute. Die weiteren Routen sind technisch deutlich schwieriger und zum größten Teil nur einmal begangen worden. Endpunkt aller Routen ist ein nur etwa zwei Quadratmeter großes Gipfelplateau. Die tibetische Nordroute ist im Vergleich zur nepalesischen Südroute mit etwa 40.000 US$ (Stand 2005) für den zahlenden Kunden um ein Drittel „preiswerter“, wenn man sich einer der zahlreichen geführten Expeditionen anschließt. Der Grund dafür sind logistische Vorteile (niedrigere Gebühren für die staatliche Genehmigung einer Expedition, Zahl der notwendigen Yaks und Träger, Zahl der Sauerstoffflaschen und weiteres). Die prozentuale Erfolgsquote der Nordroute ist jedoch aufgrund der sehr weiten Wege geringer als auf der Südroute. In jedem Fall muss man sich der Gefahren des geringen Luftdrucks (Sauerstoffmangel), plötzlicher Wetterumschwünge und heftiger, äußerst kalter Winde auf den Graten bewusst sein. Der Aufenthalt in der sogenannten „Todeszone“ oberhalb 7500 m ist auf der Nordroute um ein bis zwei Tage länger; dementsprechend ist das Risiko, wegen widrigen Wetters oben festzusitzen oder gar unterwegs in Nebel oder Schneesturm zu geraten, auf der Nordseite höher. === Südroute === Die Südroute gilt als Standardroute und wurde auch bei der Erstbesteigung gewählt. Vom Basislager auf der nepalesischen Südseite auf etwa 5400 m führt sie zunächst durch den Khumbu-Eisbruch (Khumbu Icefall): eine steile Passage, in der das Gletschereis aus dem Tal des Schweigens 600 Meter abfällt und in große Blöcke – sogenannte Séracs – zerbricht, die den Aufstieg sehr erschweren. Da sie aufgrund der Eisbewegung jederzeit umstürzen können, ist es nur zu kühlen Tageszeiten ratsam, sie zu durchklettern. Der Khumbu-Eisbruch wird jeweils zu Saisonbeginn von einem Team aus Sherpas mit Leitern und Fixseilen gesichert. Diese gesicherte Route wird von allen Expeditionen gemeinsam genutzt. Der weitere Verlauf der Route führt durch das Tal des Schweigens (Western Cwm, „kuum“ gesprochen, aus dem Walisischen). Das Western Cwm ist ein von Mount Everest, Lhotse und Nuptse eingeschlossenes Kar mit etwa 3 Kilometer Länge und das höchstgelegene Kar der Erde. Nach Durchquerung dieses Talkessels setzt sich der Weg über die vergletscherte westliche Lhotse-Flanke fort. Sie ist etwa 60 Grad steil und umfasst 1000 Höhenmeter. Im oberen Teil der Wand führt die Route über den Genfer Sporn zum zwischen Lhotse und Everest gelegenen Südsattel (South Col) auf etwa 8000 m Höhe, wo fast alle Expeditionen das Hochlager für die Gipfeletappe einrichten. Es wurden allerdings auch schon noch höher gelegene Lager eingerichtet. Vom Südsattel aus führt der Weg den Grat des Everest hinauf bis zum Südgipfel etwa 100 Höhenmeter unterhalb des eigentlichen Gipfels, dann über das bis 2015 letzte große Hindernis, eine etwa zwölf Meter hohe, fast senkrechte Felskante, den Hillary Step. === Nordroute === Die Alternative zur Südroute ist die Nordroute von der tibetischen Seite aus. Sie beginnt im Rongpu-Tal mit einem Basislager in etwa 5300 m Höhe und führt in einem Zweitagestrek mit Yak-Transport in das Tal des östlichen Rongpu-Gletschers, wo sich am Fuß der Nordsattel-Wand das vorgeschobene Basislager (ABC, advanced base camp) befindet. Dann geht die Tour den Steilhang hinauf auf den Nordsattel (North Col) mit etwa 7000 m Höhe, von wo aus die ausgesetzten Gipfelgrate (Nordgrat und Nordostgrat) den weiteren Aufstieg über geringer geneigte Grate (im Vergleich zur steileren Südroute) ermöglichen. Ernsthaftes kräftezehrendes und klettertechnisches Hindernis ist hinter dem letzten Lager in etwa 8300 m Höhe hoch auf dem oberen Grat die mittlere der drei Felsstufen (Second Step) mit einer Fußhöhe auf etwa 8610 m. Der Second Step weist eine Kletterhöhe von etwa 40 Metern auf, die letzten fünf Meter sind fast senkrecht. Hier wurde von einer chinesischen Expedition im Jahr 1975 eine Leiter befestigt. Von dort führt die zumeist auf dem Grat verlaufende Route noch recht weit und auch über das bis zu 50 Grad steile Gipfelschneefeld. Bei seiner Alleinbegehung des Mount Everest umging Reinhold Messner den Second Step und wählte einen Weg durch das Norton-Couloir. === Direttissime === Zwei der drei Hauptwände wurden bereits in etwa direkter Falllinie zum Gipfel (Direttissima) begangen: 1975 die Südwestwand und 2004 die Nordwand. An der Ostwand (Kangshung-Wand) gibt es zwei erstiegene Routen, die jedoch nicht als Direttissime gezählt werden können. Die Ostwand- oder Kangshung-Direttissima ist somit bislang unbewältigt. Unternähme man diese, so müsste man in einer der – vom Fuß zum Gipfel gerechnet – höchsten Wände der Erde, einen weit mehr als 3500 Meter hohen, steilen und lawinengefährdeten Felsen durchsteigen. == Luftfahrzeuge am Everest == Am 3. April 1933 wurde der Mount Everest erstmals von einem Flugzeug überflogen, einer Westland PV-3 (Kennzeichen: G-ACAZ) und einer sie begleitenden Westland PV-6 (G-ACBR), beide ausgerüstet mit einem Bristol-Pegasus-Motor. Unter der Leitung von Douglas Douglas-Hamilton, Lord Clydesdale und späterer 14. Duke of Hamilton, wurden während des Fluges mit offenen Doppeldeckern wichtige Erkenntnisse über Flüge in großer Höhe gesammelt, die zur weiteren Entwicklung der Druckkabine beitrugen. Am 26. September 1988 flog der französische Alpinist Jean Marc Boivin als erster Mensch mit dem Gleitschirm vom Mount Everest. Das Paragliding steckte damals noch in seinen Kinderschuhen. Der Franzose Didier Delsalle landete am 14. und am 15. Mai 2005 als erster Mensch auf dem Gipfel des Mount Everest: mit einem speziell präparierten Hubschrauber vom Typ Eurocopter AS 350 B-3, mit „Hover Landings“, das heißt bei fast voller Motorleistung, nur eben aufgesetzt, um bei Gefahren oder Böen unmittelbar wieder starten zu können. Er stieg am Gipfel nicht aus und konnte dort auch keine Lasten aufnehmen.2007 überflog Bear Grylls den Mount Everest mit einem Motorschirm.Am 27. Mai 2022 wurde über einen ersten bewilligten Paragleiterflug aus 7960 m Höhe berichtet. Der Südafrikaner Pierre Carter landete nach 20 Minuten Flug in einem Dorf, 6 km vom Basislager entfernt. == Dokumentationen und Spielfilme (Auswahl) == Wings Over Everest – Oscarprämierter Kurzfilm mit Aufnahmen des ersten Überfluges. 1934 Dokumentarfilm „Mount Everest“ über die Schweizer Expedition im Jahr 1952 National Geographic Video – Rückkehr zum Mount Everest. 1984. Robert Markowitz: In eisige Höhen – Sterben am Mount Everest. 1997 Reinhold Messner, Peter Habeler: Mount Everest – Todeszone. 2002. National Geographic – Einzigartiger Everest. 2003. Barny Revill: Everest – Spiel mit dem Tod. Discovery Channel, 2006–2007 Graeme Campbell: Everest – Wettlauf in den Tod. 2007 Victor Grandits: Mount Everest – Der Friedhof meiner Freunde. SWR, 2007. Erster auf dem Everest – Universum. ORF, 2010. Sherpas: Die wahren Helden am Everest, SF Jennifer Peedom: Sherpa – Trouble on Everest. 2015 Baltasar Kormákur: Everest. 2015 == Literatur == Anatoli Boukreev, G. Weston DeWalt: Der Gipfel – Tragödie am Mount Everest. Wilhelm Heyne Verlag, München 1998, ISBN 3-453-15052-X. David Breashears, Audrey Salkeld: Mallorys Geheimnis. Was geschah am Mount Everest? Steiger, München 2000, ISBN 3-89652-220-5. Jochen Hemmleb, Larry A. Johnson, Eric R. Simonson: Die Geister des Mount Everest. Die Suche nach Mallory und Irvine; der Bericht der Expedition, die George Mallory fand. Frederking & Thaler, München 2001, ISBN 3-89405-108-6. Jochen Hemmleb: Everest. Göttinmutter der Erde. AS Verlag & Buchkonzept, Zürich 2002, ISBN 3-905111-82-9. Sir Edmund Hillary: Wer wagt, gewinnt. Frederking & Thaler, München 2004 (2. Auflage), ISBN 3-89405-122-1. Peter Meier-Hüsing: Wo die Schneelöwen tanzen – Maurice Wilsons vergessene Everest-Besteigung. Piper, 2003, ISBN 3-89029-249-6. Jon Krakauer: In eisige Höhen. Das Drama am Mount Everest. Piper, 2000, ISBN 3-492-22970-0 (auch als Hörbuch auf 9 CDs, ISBN 978-3-86974-064-5) Reinhold Messner: Everest – Expedition zum Endpunkt. National Geographic Taschenbuch (März 2008), ISBN 3-89405-857-9. Reinhold Messner: Überlebt – Alle 14 Achttausender. 8. Auflage. BLV Verlagsgesellschaft, ISBN 3-405-15788-9. Reinhold Messner: Mount Everest: Gipfelsturm ohne Maske. In: Geo-Magazin. Nr. 7/1978, S. 26–48 („Reinhold Messners und Peter Habelers spektakuläre Everest-Besteigung“). Laxman Prasad Bhattarai (Chefred.): Mountaineering in Nepal – Facts & Figures. Government of Nepal, Ministry of Tourism & Civil Aviation, Tourism Industry Division, Kathmandu 2010, tourism.gov.np (Memento vom 14. April 2012 im Internet Archive) (PDF; 8 MB) S. 5–83 (englisch). Judy und Tashi Tenzing: Im Schatten des Everest. Die Geschichte der Sherpa. Frederking & Thaler, München 2003, S. 5–83; ISBN 3-89405-601-0. Stephen Venables: Everest: Die Geschichte seiner Erkundung. Frederking & Thaler, München 2007, ISBN 978-3-89405-544-8. Göran Kropp, David Lagercrantz: Allein auf dem Everest. Goldmann, München 1998, ISBN 3-442-15019-1. Woodrow Wilson Sayre: Vier gegen den Everest: Die Geschichte der neuesten Kleinexpedition über die Nordflanke. Albert Müller Verlag, Zürich 1965 Friedrich Otten: Der Kampf um den Riesen (Jugendbuch über die Erforschung des Mount Everest). Berlin 1924 == Weblinks == deutschsprachige Infoseite mit Trekkingrouten und Diashows Informationsportal über den Mt. Everest (englisch) QVTR-Panorama (Fullscreen) vom Mt. Everest National Geographic (englisch) Mount Everest bei himalaya-info.org Über den Mount Everest Dokumentarfilm „Mount Everest“ von Condor Films, Herstellungsjahr: 1952 Everest 3D Mount Everest Webcam (italienisch) Hochaufgelöstes Panorama von David Breashears Claire O’Neill: A 3.8 Billion-Pixel Tour Of Mount Everest. (NPR). Mount Everest auf GeoFinder.ch Offizielle Liste der Mount Everest Besteiger (engl. Full List of Mount Everest Climbers) Liste der Mount Everest Bergsteiger mit Anzahl ihrer Besteigungen (englisch) Video: Flug mit Motorsegler am Mount Everest. Deutsches Zentrum für Luft- und Raumfahrt 2014, zur Verfügung gestellt von der Technischen Informationsbibliothek (TIB), doi:10.5446/12743. DLR-Animation: Virtueller Gipfelsturm – Der Mount Everest in 3D 13. Mai 2011 == Einzelnachweise ==
https://de.wikipedia.org/wiki/Mount_Everest
Salvador Dalí
= Salvador Dalí = Salvador Felipe Jacinto Dalí i Domènech, ab 1982 Marqués de Dalí de Púbol (* 11. Mai 1904 in Figueres, Katalonien, Spanien; † 23. Januar 1989 ebenda), war ein spanischer Maler, Grafiker, Schriftsteller, Bildhauer und Bühnenbildner. Als einer der Hauptvertreter des Surrealismus zählt er zu den bekanntesten Malern des 20. Jahrhunderts. Um das Jahr 1929 hatte Dalí seinen persönlichen Stil und sein Genre gefunden, die Welt des Unbewussten, die in Träumen erscheint. Schmelzende Uhren, Krücken und brennende Giraffen wurden zu Erkennungsmerkmalen in Dalís Malerei. Sein malerisches technisches Können erlaubte es ihm, seine Gemälde in einem altmeisterlichen Stil zu malen, der an den späteren Fotorealismus erinnert. Dalís häufigste Themen sind außer der Welt des Traumes die des Rausches, des Fiebers und der Religion; oft ist in seinen Gemälden seine Frau Gala dargestellt. Dalís Sympathie für den spanischen Diktator Francisco Franco, sein exzentrisches Verhalten sowie sein Spätwerk führten vielfach zu Kontroversen bei der Bewertung seiner Person und seiner Werke bis in die Gegenwart hinein. == Leben == === Kindheit === Salvador Dalí wurde in der Carrer Monturiol 20 in Figueres (Katalonien) als Sohn des angesehenen Notars Don Salvador Dalí y Cusí (1872–1952) und dessen Ehefrau Doña Felipa Domènech y Ferres (1874–1921) geboren und erhielt den Namen seines neun Monate zuvor gestorbenen Bruders Salvador I. (* 21. Oktober 1901; † 1. August 1903). Dadurch wurde in ihm der Wille geweckt, aller Welt zu beweisen, dass er das Original und einmalig sei. Als Kind soll er sich vor dem Grab seines Bruders gefürchtet haben.Das bürgerliche Umfeld und die väterliche strenge Erziehung riefen in Salvador ein starkes Sicherheitsbedürfnis und einen ausgeprägten Sinn für Ordnung hervor, was für sein späteres Leben bestimmend sein sollte. Seine Mutter, die er sehr liebte, glich die Strenge des Vaters aus; sie tolerierte seine frühen Eigenheiten wie Wutausbrüche, Einnässen, Tagträume und Lügen. Dalís Schwester Ana María wurde im Januar des Jahres 1908 geboren, und er litt darunter, die Liebe der Eltern nun teilen zu müssen. Der kleine Salvador nahm Besitz vom Dachboden des Hauses, dem „Waschzimmer“, zu dem die Schwester keinen Zutritt hatte; er war dort oben in seiner Phantasie „Weltenherrscher“ und malte Bilder auf die Deckel von Hutschachteln. In der Grundschule war er unaufmerksam und verlor sich in Träumen. Die Sommerferien verbrachte die Familie im eigenen Haus nahe Cadaqués. Der Sechsjährige soll stundenlang einem Nachbarn, dem Hobbymaler Juan Salleras, beim Malen zugeschaut haben. In diesem Alter entstand sein erstes Bild. In seiner Autobiografie Das geheime Leben des Salvador Dalí beschrieb er seine Zukunftsträume: „Im Alter von sechs Jahren wollte ich Köchin [sic] werden. Mit sieben wollte ich Napoleon sein. Und mein Ehrgeiz ist seither stetig gewachsen.“So entwarf er 1927 ein „Opernpoem“ mit dem Titel Être Dieu („Gott sein“); das Projekt wurde 1974 realisiert. === Ausbildung === Die impressionistische Malerei des spanischen Malers und Nachbarn Ramon Pichot i Gironès inspirierte Dalí, als er zehn Jahre alt war. Mit vierzehn Jahren wurde die „art pompier“, Genremalerei des 19. Jahrhunderts, zum Vorbild bei seinen Malversuchen. Nach dem Volksschulunterricht erhielt er zusätzlich zum Besuch des „Instituto de Figueres“ ab 1916 Unterricht im Kolleg der Maristen, einem privaten Gymnasium. Josep „Pepito“ Pichot, ein Bruder von Ramon Pichot, hatte sein Maltalent erkannt, und auf dessen Anregung durfte Dalí Abendkurse an der Städtischen Zeichenschule belegen. Bereits nach einem Jahr erhielt er dort ein „diploma de honor“. Sein Kunsterzieher war der Direktor des Instituts, Juan Núñez Fernández, der Dalís Kunstbegeisterung förderte. Nach dem Kriegsende 1918 schloss Dalí sich einer Gruppe von Anarchisten an und setzte auf die Entwicklung einer marxistischen Revolution. Im Jahr 1921 gründete er mit Freunden die sozialistische Gruppe „Renovació Social“. Im Juni 1922 beendete Dalí die Schule mit dem Abschluss Bachillerato (Abitur). Im Anschluss an eine erfolgreiche Gruppenausstellung in der Galerie Dalmau im Januar 1922 in Barcelona, die acht Bilder von Dalí enthielt, schickte sein Vater ihn zum Studium an die „Academia San Fernando“ für Malerei, Bildhauerei und Graphik in Madrid, die er ab Oktober 1922 besuchte. Er bezog ein Zimmer in dem Studentenwohnheim „Residencia de Estudiantes“; unter den Studenten waren Luis Buñuel und Federico García Lorca, letzterer ein enger Freund, mit dem er zeitweise das Zimmer teilte. Einer sexuellen Beziehung, die Lorca mit Dalí führen wollte, verweigerte sich Dalí jedoch. Lorca veröffentlichte 1926 in José Ortega y Gassets Zeitschrift Revista de Occidente seine Ode an Salvador Dalí: Um sein Künstlertum zu betonen, kleidete sich Dalí exzentrisch mit einem großen schwarzen Filzhut, Samtjacke und bodenlangem Umhang, trug schulterlange Haare, Koteletten, eine Pfeife im Mundwinkel und führte einen Stock mit vergoldetem Knauf bei sich. Dalí widmete sich mit Lorca und Buñuel den Schriften des Psychoanalytikers Sigmund Freud und nannte die Psychoanalyse eine der Hauptentdeckungen seines Lebens. Nach einem ersten einjährigen Ausschluss 1923 aus der Akademie wurde er zu Unrecht als Anführer von Unruhen in Katalonien angeklagt und vom 21. Mai bis zum 11. Juni inhaftiert. Der wahre Grund für die Inhaftierung soll eine Aktion gegen Dalís Vater gewesen sein, der nach dem Staatsstreich Primo de Riveras eine Eingabe wegen Wahlbetrugs gemacht hatte. Im Jahr 1924 kehrte Dalí an die Akademie zurück. Im April 1926 reiste er zum ersten Mal nach Paris und lernte Pablo Picasso kennen. Am 20. Oktober 1926 wurde er auf königlichen Erlass hin endgültig wegen ungebührlichen Betragens von der Akademie verwiesen. Er hatte sich geweigert, am Examen teilzunehmen, da er die Lehrer für unfähig hielt, ihn zu beurteilen. Dalís Malstil wies nach der frühen impressionistischen Phase jetzt kubistische, pointillistische und futuristische Einflüsse auf. Er schrieb 1927 und 1928 kunstkritische Texte, die bereits eine surrealistische Thematik wie Der heilige Sebastian behandelten. Im Jahr 1927 fand die Uraufführung des Theaterstücks Mariana Pineda von García Lorca in der Bühnendekoration von Dalí statt. 1928 verfasste Dalí das Gelbe Manifest zusammen mit Lluís Montañya und Sebastià Gasch. === Paris, Hochzeit mit Gala === Sein erstes als surrealistisch geltendes Gemälde war Honig ist süßer als Blut aus dem Jahr 1927. Die Werke Ana María und Sitzendes junges Mädchen von hinten wurden 1928 im Carnegie Institute von Pittsburgh ausgestellt. Nach einer ersten, von lokalen Kunstkritikern positiv bewerteten Einzelausstellung 1925 in der „Galerie Dalmau“ in Barcelona folgte dort eine zweite vom 31. Dezember 1926 bis zum 14. Januar 1927. Im Jahr 1928 reiste Dalí zum zweiten Mal nach Paris. Dort arbeitete er zusammen mit Luis Buñuel an den Drehbüchern der surrealistischen Filme Un chien andalou (Ein andalusischer Hund) im Jahr 1929 und an L’Âge d’Or (Das goldene Zeitalter) ein Jahr später. Die Aufführung von L’Âge d’Or führte zu einem Skandal, dem ein Aufführungsverbot folgte, und zerstörte die Freundschaft mit Buñuel. Der Film war von Marie-Laure de Noailles, einer exzentrischen Kunstsammlerin und -förderin, gemeinsam mit ihrem Mann, dem Vicomte de Noailles, finanziert worden und hatte in der Villa Noailles seine Uraufführung. Das Aufführungsverbot wurde erst im Jahr 1981 aufgehoben. Auf Anregung von Joan Miró schloss sich Dalí 1929 der Gruppe der Surrealisten in Paris an und begegnete beispielsweise Hans Arp, André Breton, Max Ernst, Yves Tanguy, René Magritte, Man Ray, Tristan Tzara sowie Paul Éluard und dessen Frau, die russische Immigrantin Helena, genannt Gala. Dalí verliebte sich in Gala, sie gab den Umwerbungen des zehn Jahre jüngeren Mannes nach und wurde seine Lebensgefährtin, was zum Bruch mit Dalís Vater führte, da dieser keine uneheliche Verbindung dulden wollte. Obgleich Dalí angab, vollkommen impotent und sexuell unerfahren zu sein, war er sein Leben lang in lustbetonter Abhängigkeit an Gala gefesselt. Dalís sexuelle Obsessionen spiegeln sich in seinen Bildern wider, beispielsweise in Die Anpassung der Begierden aus demselben Jahr, das die Begierden in Form von Löwenköpfen zeigt. Das Paar heiratete nach der Scheidung Galas von Éluard im Jahr 1934, die kirchliche Trauung mit Dalí wurde jedoch erst 1958, sechs Jahre nach Éluards Tod, vollzogen. Gala wurde seine Muse, sie ersetzte ihm die Familie, organisierte seine Ausstellungen und führte Verkaufsgespräche als seine Managerin. Sie gab seinem Leben einen Richtungswechsel, holte den Narziss Salvador aus seinen Visionen und vermittelte ihm die Realität. Dalí signierte eine Zeit lang seine Bilder mit „Gala Dalí“ und zeigte auf diese Weise seine Verbundenheit mit ihr. Sie inspirierte ihn zu immer neuen Bildern in verschiedenen Themenkreisen, stand ihm Modell als Venus oder Madonna, und er porträtierte oder bildete sie als Akt ab. Die Jahre 1930 bis 1932 verbrachten sie gemeinsam in Paris. Mit den steigenden Verkaufserlösen seiner Bilder bauten sie ihr Haus in Portlligat aus, eine Verbindung mehrerer ehemaliger Fischerkaten in einer kleinen Bucht nahe Cadaqués, von denen sie die erste 1930 gekauft hatten. Es war Gala zu verdanken, dass Dalí finanziell zum erfolgreichsten Künstler seiner Zeit wurde. Dank eines von Picasso gewährten Darlehens, das jedoch nie zurückgezahlt wurde, konnten Dalí und Gala 1934 eine erste Reise in die USA antreten. === Dalí und die Surrealistengruppe === Im Jahr 1931 malte Dalí eines seiner berühmtesten Werke, Die Beständigkeit der Erinnerung, auch Soft Watches oder Melting Clocks genannt. Es zeigt vier zerfließende Taschenuhren, die in der katalanischen Landschaft vor den schroffen Felsen von Cap de Creus arrangiert sind. 1954 griff Dalí das Motiv erneut auf und verarbeitete das Uhrenthema in Auflösung der Beständigkeit der Erinnerung. Breton schätzte Dalís frühe surrealistische Bilder wie Der große Masturbator von 1929 und schrieb die Einleitung zu Dalís erster Einzelausstellung in der Galerie Goemans in Paris. In seiner Autobiographie Das geheime Leben bekannte sich Dalí dazu, ein zwanghafter Masturbator zu sein – in der damaligen Zeit ein großer Tabubruch –, und beschrieb, wie eng seine Kunstbegeisterung mit Sexualität in Verbindung stehe. In der von Breton redaktionell betreuten surrealistischen Zeitschrift Minotaure veröffentlichte er 1933 den berühmten Artikel Von der schaurigen und eßbaren Schönheit, von der Jugendstil-Architektur und erneuerte so das Interesse an der Kunst der Jahrhundertwende. Der Aufsatz endete mit der Erklärung: „Die Schönheit wird eßbar sein oder gar nicht sein.“1934 kam es zu Spannungen zwischen der kommunistisch ausgerichteten surrealistischen Gruppe und Dalí; der Streit eskalierte wegen Dalís Bild Das Rätsel Wilhelm Tells, das einen knienden Lenin ohne Hose mit stark vergrößerter Arbeiterkappe und einer monströsen rechten Gesäßbacke zeigt. Wilhelm Tell stellt zugleich nach eigener Aussage Dalís Vater als Kannibalen dar und bildet sein gestörtes Verhältnis zu ihm ab: Das kleine Kind auf seinem Arm ist Salvador, die Nuss zu Füßen Tells enthält das winzige Kind, das Gala darstellt und vom Zertreten bedroht ist.André Breton warf Dalí in einem Brief, der auf den 23. Januar 1934 datiert ist, folgende fünf Punkte vor: Antihumanismus, Verteidigung des Neuen und Irrationalen im Phänomen Hitler, sein Plädoyer für die akademische Malerei zu Ungunsten der Moderne, die späte Verteidigung väterlicher Autorität und familiärer Werte und bezüglich des Bildes ultrabewusste Malerei und Streben nach Erfolg. Dalí antwortete in einem achtseitigen Schreiben, wahrscheinlich vom 25. Januar, indem er die gegen ihn vorgebrachten Anschuldigungen zurückwies. Bezüglich des Hauptanklagepunktes, des Faschismusvorwurfes, legte Dalí mit Verweis auf seine Bilder dar: „Ich bin also weder tatsächlich noch von der Neigung her ein Hitler-Anhänger.“Schließlich kam es zu einem Ausschluss Dalís von den Gruppensitzungen der Surrealisten um Breton, der sich den Führungsanspruch der Gruppe nicht nehmen lassen wollte. Eine surrealistische „Generalversammlung“, die Breton für den 5. Februar 1934 in seiner Wohnung einberufen hatte, beschloss: „Dalí hat sich wiederholt konterrevolutionärer Aktionen, die zur Verherrlichung des Hitler-Faschismus neigen, schuldig gemacht. Daher schlagen die Unterzeichner, trotz seiner Erklärung vom 25. Januar, vor, ihn als ein faschistisches Element aus dem Surrealismus-Kreis auszuschließen und mit allen Mitteln zu bekämpfen.“ Der Beschluss wurde von neun Mitgliedern signiert: Victor Brauner, André Breton, Max Ernst, Herold, Hugnet, Meret Oppenheim, Peret, Yves Tanguy und Caillos. Einzig Pierre Yoyotte gab sein Verständnis für die Standpunkte Dalís zu Protokoll.Dalí beteiligte sich jedoch weiter erfolgreich an Ausstellungen der Gruppe und Breton wusste, dass sie auf den Publikumsmagneten nicht verzichten konnte. Zu den Vorwürfen, er sei ein Anhänger des Faschismus und Adolf Hitlers, nahm Dalí in seiner Autobiographie Stellung: Am 11. Januar 1935 hielt er im Museum of Modern Art (MoMA) einen Vortrag in französischer Sprache über Surrealistische Gemälde und paranoische Bilder. Weiterhin verfasste er Essays wie Der gespenstische Surrealismus des Ewigweiblichen in der präraffaelitischen Kunst und Die Eroberung des Irrationalen, in der er seine „paranoisch-kritische Methode“ als irrationales Wissen, basierend auf einem „Delirium“ der Interpretation, beschrieb. Sie stellt seinen für den Surrealisten neuen und einzigartigen Weg der Weltanschauung dar, die Ausdrücke wie Paranoia und Delirium aufgreift, um das Irrationale, Unbewusste dieser Kunst zu unterstreichen.Während der von Roland Penrose organisierten International Surrealist Exhibition vom 11. Juni bis zum 4. Juli 1936 in den New Burlington Galleries in London legte Dalí am 1. Juli seine „paranoisch-kritische“ Methode in einer Rede dar. Um dem Begriff des Unterbewussten Nachdruck zu verleihen, hielt er den Vortrag, begleitet von zwei Barsois, in einem Tiefseetaucheranzug, über dem ein Autokühler angebracht war. Dabei hielt er einen Billardstock in der Hand. Während der Rede bekam Dalí in dem schweren Anzug plötzlich Atemnot und drohte zu ersticken. Er wurde im letzten Moment von David Gascoyne gerettet, einem jungen surrealistischen Dichter, den Dalí protegierte. Gascoyne zerschnitt den Taucheranzug und befreite den keuchenden Dalí von dem Helm. Das Publikum applaudierte ob dieser vermeintlichen Schaueinlage, glaubte, es handele sich um eine perfekte Inszenierung des Selbstdarstellers.Zu dieser Zeit lebten Dalí und Gala 1936 in London bei Edward James, einem Multimillionär, Kunstsammler und Mäzen Dalís. Es entstand Dalís Holztafel Der anthropomorphe Kabinettschrank. Das kleinformatige Werk zeigt eine den ganzen Bildraum ausfüllende Frau; im Hintergrund eine Straßenszene, eine hell erleuchtete Häuserzeile mit Menschen. Sechs Schubladen sind aus dem aufgerichteten Oberkörper der Frau herausgezogen. Aus der mittleren Schublade fällt ein Tuch heraus. === Spanischer Bürgerkrieg === Wegen des Spanischen Bürgerkriegs verließen die Dalís 1936 Portlligat und reisten durch Europa. Eine Zeit lang lebten sie im faschistischen Italien. Der Einfluss der Renaissance-Gemälde in den Museen von Florenz und Rom prägte seine künftigen Werke. In Dalís Bildern Weiche Konstruktion mit gekochten Bohnen (auch genannt Vorahnung des Bürgerkrieges), Brennende Giraffe und Die Erfindung der Ungeheuer, die zu dieser Zeit entstanden, spiegelt sich seine beobachtende, aber unpolitische Haltung wider. Er sah im Krieg ein naturgeschichtliches Phänomen, während Picassos Guernica ihn als politisches Ereignis zeigt. In London erhielt Dalí die Nachricht von der hinterhältigen Ermordung seines Freundes Federico García Lorca im August 1936 durch franquistische Falangisten in Spanien, was ihn in schwere Depressionen verfallen ließ. Auf einer zweiten Amerikareise bereiteten die US-amerikanische Presse und die Öffentlichkeit Dalí als „Mister Surrealism“ einen triumphalen Empfang. Dalís Konterfei, eine Fotografie von Man Ray, zierte im Dezember 1936 die Titelseite des Time Magazine. Im Februar 1937 traf Dalí in Hollywood die Marx Brothers und malte ein Porträt von Harpo Marx, ausgeschmückt mit einer mit Löffeln versehenen Harfe und Saiten aus Stacheldraht. Ein gemeinsamer Film, dessen Drehbuch er schrieb, kam nicht zustande. === Surrealistenausstellung in Paris === Im Januar 1938 beteiligte sich Dalí an der Exposition Internationale du Surréalisme in der Galerie des Beaux-Arts von Georges Wildenstein, Paris, wo sein Kunstobjekt Taxi pluvieux (Regentaxi) gezeigt wurde. In einem alten, von Efeu um- und durchranktem Automobil, saß in dessen Fond eine weibliche Schaufensterpuppe in Abendrobe mit einer Nähmaschine auf dem Nebensitz. Chauffeur war eine Gliederpuppe, deren Augen von einer dunklen Brille verdeckt und deren Kopf von einem knöchernen Haifischmaul umrahmt war. Das Innere wurde kontinuierlich mit Wasser berieselt, sodass die Abendtoilette der „Dame“ verschmutzt wurde und die blonde Perücke in filzigen Strähnen herabhing, während Weinbergschnecken ihre schleimigen Spuren hinterließen. === Besuch bei Sigmund Freud === Durch die Vermittlung von Edward James und Stefan Zweig kam es am 19. Juli 1938 zu der lang gewünschten Begegnung mit Sigmund Freud in dessen Londoner Haus, wo er seit kurzer Zeit im Exil lebte. Dalí erklärte Freud anhand des Gemäldes Metamorphose des Narziss, zu dem er ein Gedicht mit gleichem Titel geschrieben hatte, wie die surrealistische Malerei das Unbewusste vergegenwärtigt und malte das Bildnis Sigmund Freud. Gleich nach dieser Begegnung am 20. Juli 1938 schrieb Sigmund Freud an Stefan Zweig: === Endgültiger Bruch mit der Surrealistengruppe === Mit dem zweiten surrealistischen Manifest (1930) hatte André Breton die Grundideen dieser Künstlergruppe um denselben gesellschaftskritischen Aspekt erweitert, der schon den Dadaismus kennzeichnete. 1939 kam es zum endgültigen Bruch mit der Surrealistengruppe. Dalí hatte alle theoretischen Ansätze des Surrealismus mittlerweile für sich endgültig auf das reduziert, was er „paranoische Inspiration“ nannte.In seinem Artikel Jüngste Tendenzen surrealistischer Malerei schrieb Breton: „Im Februar 1939 sagte Dalí […], dass alle gegenwärtigen Unruhen in der Welt rassischen Ursprungs seien, und die beste Lösung bestünde in einer Übereinkunft aller weißen Rassen, die dunklen in Sklaverei zu zwingen … Ich sehe von nun an keine Möglichkeit, wie in Kreisen unabhängiger Geister seine Botschaft noch ernst genommen werden könnte.“ Um 1942 schuf Breton aus Dalís Namen das bissige Anagramm „Avida Dollars“ (deutsch: „hungrig auf Dollars“). Dalí schien ungerührt von Bretons Spott und signierte einige seiner Bilder unter diesem Namen. 1965 malte er in Anspielung auf das Anagramm Die Apotheose des Dollar. === Exil in den Vereinigten Staaten === 1939 kehrten die Dalís aus den Vereinigten Staaten zurück und lebten für eine kurze Zeit in Arcachon, Südfrankreich, wohin viele Künstler und Intellektuelle wie Marcel Duchamp und Leonor Fini vor Hitlers Truppen geflüchtet waren. Als Frankreich im Zweiten Weltkrieg 1940 von deutschen Truppen besetzt wurde, verließ Dalí mit seiner Frau Europa; sie reisten erneut in die Vereinigten Staaten und wurden dort zusammen mit anderen Gästen wie Henry Miller auf dem Anwesen von Caresse Crosby in Bowling Green, Virginia, aufgenommen, wo Dalí seine Autobiografie schrieb. Bis 1948 blieb Dalí mit Gala in den Vereinigten Staaten und wohnte in New York und Pebble Beach in Kalifornien. Es begann Dalís „klassische Zeit“, in der er Motive der großen klassischen Meister wie Raffael, Velásquez oder Ingres aufgriff. Dalí kommentierte seinen Stilwechsel mit den Worten: „Für immer ein Surrealist zu bleiben ist wie wenn man sein ganzes Leben Augen und Nasen malt.“Am 18. November 1941 eröffnete das Museum of Modern Art in New York eine große Retrospektive der spanischen Surrealisten Dalí und Miró, in der Dalí mit über 40 Gemälden und 17 Zeichnungen vertreten war. In Form einer Wanderausstellung wurden die Bilder in acht Städten, beispielsweise in Los Angeles, Chicago und San Francisco gezeigt. Zudem malte er zahlreiche Porträts der weiblichen amerikanischen High Society; unter anderem entstanden Bildnisse von Mona von Bismarck und Helena Rubinstein, die er 1943 öffentlichkeitswirksam in der New Yorker Knoedler Galleries ausstellte.Die Bekanntschaft mit dem Schriftsteller Maurice-Yves Sandoz trug dem Künstler den Auftrag zur Illustrierung von dessen Büchern ein. Er arbeitete ebenfalls für Walt Disney, insbesondere 1945/46 in neunmonatiger Arbeit zusammen mit John Hench an dem Drehbuch und dem Storyboard für den surrealistischen Kurzfilm Destino. Das Projekt scheiterte, es wurde erst 2003 fertig gestellt und 2004 mit einer Oscarnominierung bedacht. 1942 erschien unter dem Titel The secret Life of Salvador Dalí (Das geheime Leben des Salvador Dalí) Dalís über 400 Seiten umfassende Autobiografie, in der er die Zeit von seiner Kindheit bis zu seiner Ausreise in die USA 1940 beschreibt. Sein erstes in den USA gemaltes Werk war Spinne am Abend – Hoffnung. Weitere Projekte waren Entwürfe für Schmuckstücke und Vasen, Bühnenbilder, die Mitarbeit bei bekannten Zeitschriften wie Vogue und Harper’s Bazaar sowie die Entwicklung von Parfüms und Modeaccessoires für Elsa Schiaparelli. Selbst einen Roman schrieb er innerhalb kurzer Zeit, Hidden Faces (Verborgene Gesichter), der 1944 bei Dial Press, New York, erschien. Im selben Jahr verpflichtete Alfred Hitchcock Dalí zur Mitarbeit an seinem Film Spellbound (Ich kämpfe um dich), für den er Traumsequenzen mit scharfen Konturen entwarf. Spellbound war einer der ersten Hollywood-Filme, die sich mit Freuds Psychoanalyse beschäftigten. Dalí war schockiert über den Abwurf der ersten Atombombe über Hiroshima am 6. August 1945; er verarbeitete das schreckliche Ereignis in den Werken wie Melancholische Atom- und Uranidylle, Die Apotheose des Homer und Die drei Sphyngen von Bikini. Seine „nukleare“ oder „atomare Malerei“ fand ihren Höhepunkt in der 1949 vollendeten Leda Atomica. 1948 entstand seine Schrift Fünfzig magische Geheimnisse, die eine Abhandlung über seine Mal- und Kreativitätstechniken ist. === Rückkehr nach Spanien === Salvador und Gala Dalí lebten seit 1948 wieder in ihrem Haus in Portlligat an der spanischen Mittelmeerküste. Spanien stand weiter unter der Diktatur General Francos. Dalí nahm Abstand vom Atheismus und wandte sich erneut dem katholischen Glauben zu; am 23. November 1949 wurde er von Papst Pius XII. in einer Privataudienz empfangen. Es entstand Die Madonna von Portlligat, die eine ganze Reihe von Gemälden mit religiösen Themen einleitete.Im selben Jahr malte er die Leda Atomica, die, wie die Madonna, seine Frau Gala darstellt. Dalí bemerkte zu dem Bild: „Die Leda Atomica ist das Schlüsselbild unseres Lebens. Alles ist in den Raum gehängt, ohne dass irgendetwas irgendetwas anders berührte. Der Tod selbst hebt sich von der Erde ab in die Höhe.“ Und: „In einem genialen Überschäumen von Ideen beschloß ich, mich an die bildnerische Lösung der Quantentheorie zu begeben, und ich erfand den Quantenrealismus, um der Schwerkraft Herr zu werden. Ich begann mit dem Bild Leda Atomica, einer Verherrlichung Galas, der Göttin meiner Metaphysik, und es gelang mir, den schwebenden Raum zu schaffen.“ Dalís Schwester Ana María Dalí veröffentlichte 1949 in Barcelona ein Buch über ihren Bruder: Dalí As Seen By His Sister (Salvador Dalí aus der Sicht seiner Schwester), in dem sie ihn als undankbaren Sohn darstellt, der mit Blasphemien nicht gespart und eine geschiedene Frau geheiratet habe. Dalí reagierte empört mit einer öffentlichen „Richtigstellung“: „1930 wurde ich von meiner Familie ohne einen Pfennig vor die Tür gesetzt. Meinen weltweiten Triumph habe ich einzig der Hilfe Gottes […] und der heldenhaften täglichen Aufopferung einer unvergleichlichen Frau, meiner Ehefrau Gala, zu verdanken.“ Seit 1950 verbrachte Dalí mindestens einen Monat im Jahr im Luxushotel Hôtel Le Meurice in der Rue de Rivoli, Paris, wo er stets eine Suite im ersten Stock belegte. Er irritierte Gäste und Belegschaft, indem er eine Herde Schafe in seine Suite bestellte und sich Fliegen im Park fangen ließ. Das schon von Königin Victoria geschätzte Hotel wurde durch Dalí noch berühmter. Der Designer Philippe Starck stattete das Hotel „Le Meurice“ 2008 im „Dalí-Stil“ neu aus.Das Mystische Manifest, in dem er die Bildungsprinzipien der Form aufzeigt, schrieb Dalí 1951. Seine Hauptstichworte waren Quantenphysik und Morphologie. Die surrealistische Gestaltungskunst setzt auf eine Art Selbstregulierung, die in der Dynamik eines entstehenden Werks ihr eigenes Prinzip findet und entwickelt, unter Ausschaltung bewusster Steuerung. Mit seiner „korpuskularen Periode“ in dieser Zeit stellte er unter dem Eindruck der Atomphysik Bildelemente in dreidimensionalen Bruchstücken dar. Ebenfalls im Jahr 1951 begann Dalí, Dantes Göttliche Komödie mit Aquarellen zu illustrieren. Die italienische Regierung wollte mit diesem Auftrag den 700. Geburtstag des italienischen Dichters ehren. Doch als im Jahr 1954 in Italien bekannt wurde, dass ein Spanier den Auftrag bekommen hatte, wurde das Projekt unter dem Druck der Öffentlichkeit fallen gelassen. Erst später erschienen unterschiedliche Editionen in mehreren Verlagen, beispielsweise die 1961 von Joseph Foret in Paris herausgegebene Edition. Ab 1956 schuf Dalí Illustrationen im Steindruck zu Cervantes Don Quijote, wobei er eine eigene Art von Tachismus schuf. Der „Kampf gegen die Windmühlenflügel“ aus dem Zyklus entstand, indem Dalí zwei Rhinozeroshörner mit Litho-Tusche befüllte und mit diesen zeichnete. Eine weitere Technik entwickelte Dalí mit Schüssen aus einer Arkebuse (Büchse aus dem 15./16. Jahrhundert) von einer Pontonbrücke in Paris über die Seine: Im Gegensatz zur Beständigkeit der Erinnerung aus dem Jahr 1931 integrierte Dalí in dem 1954 geschaffenen Gemälde Die Auflösung der Beständigkeit der Erinnerung die Entwicklungen unserer Zeit in das Werk. Es zeigt die durch das Atomzeitalter veränderte Welt. Die Blöcke repräsentieren die atomare Kraftquelle. Das zerfließende Etwas ist ein großer Felsen bei Cap de Creus, den Dalí „den großen Masturbator“ nannte. Die erneut erscheinenden Felsen über der Bucht von Cullero und der verlassene Ölbaum verbinden die Szene mit seinen früheren Gemälden von Cap de Creus. Damit greift er eine wichtige Tatsache aus dem Leben des zwanzigsten Jahrhunderts auf: Entdeckungen der Kernforschung haben die Gelassenheit von Portlligat und der ganzen Welt aufgewühlt.Mit Robert Descharnes, Fotograf und Filmemacher, den Dalí 1950 auf einer Überfahrt in die USA kennengelernt hatte, drehte er 1954 den Film Die ungewöhnliche Geschichte von der Spitzenklöpplerin und dem Rhinozeros, der Dalís Theorie über die logarithmische Spirale, die sich mathematisch selbst regeneriert, zum Inhalt hatte. Jan Vermeers Spitzenklöpplerin hatte Dalí schon früh fasziniert und zu dem Gemälde Paranoisch-kritisches Gemälde der Spitzenklöpplerin von Vermeer angeregt. In dem Film lässt er das Gemälde in Form von Rhinozeroshörnern explodieren. Descharnes wurde später enger Vertrauter und Mitarbeiter des Malers und ist einer seiner bekanntesten Biographen. Bei einem Happening präsentierte Dalí am 12. Mai 1958 im Theâtre de l’Étoile in Paris ein 15 Meter langes Brot. Brot wird in mehreren seiner Werke abgebildet, beispielsweise in den Gemälden Der Brotkorb von 1926 und 1945, Anthropomorphes Brot von 1932, und ein Brot schmückt den Kopf der Retrospektiven Frauenbüste aus dem Jahr 1933. === Verbindung mit Amanda Lear === In den 1960er-Jahren begannen Gala und Salvador Dalí, getrennte Wege zu gehen. Dalí versammelte einen „Hofstaat“ von jungen Menschen um sich, während Gala viele Affären mit jüngeren Männern einging. 1965 machte Dalí die Bekanntschaft der damals jungen Amanda Lear. Sie trat als Model und Popsängerin in Nachtclubs auf. Lear stand Dalí Modell, half im Atelier und nahm bei ihm Malunterricht. Galas anfängliche Eifersucht wandelte sich rasch in Akzeptanz der neuen Muse Dalís, die ihn über längere Zeit auch bei gesellschaftlichen Auftritten begleitete. Lear veröffentlichte 1984 ihr von Dalí autorisiertes Buch Le Dalí d’Amanda (15 Jahre mit Salvador Dalí). Für Gala erwarb Dalí 1969 ein altes Schloss in Púbol, das er restaurieren und mit seiner neuen „Kitschkunst“ ausstatten ließ. In Púbol erhielt er nur Zutritt, wenn Gala es gestattete. === Dalís Historienmalerei und stereoskopische Werke === Die kleinformatigen Gemälde der früheren Jahre wichen seit 1958 pompösen Werken mit geschichtlichen Themen wie Die Schlacht von Tetuán aus dem Jahr 1962, das ein Format von 308 × 406 cm aufweist. Das Bild beschreibt die spanische Eroberung Tétouans in Marokko im Jahr 1860. Dalí malte ein Monumentalgemälde pro Jahr, das bekannteste ist Die Entdeckung Amerikas durch Christoph Columbus von 1959. Meisterwerke der letzten Periode sind Der Thunfischfang (1966/67) und Halluzinogener Torero, gemalt zwischen 1968 und 1970. Dalís Einkünfte erlaubten ihm und Gala, ein Leben in Luxus zu führen. Ab 1960 stellten sie einen Geschäftsführer für Dalís Merchandising-Unternehmen ein, John Peter Moore, der es in dieser Tätigkeit zum Multimillionär brachte. Er erhielt zehn Prozent Provision bei allen von ihm ausgehandelten Aufträgen. Sein Nachfolger, Enrique Sabater, resümierte: „Ich habe bei Dalí mehr verdient als der Präsident der Vereinigten Staaten.“ Das verschwenderische Leben sorgte dafür, dass Dalís Bankkonto zum Zeitpunkt seines Todes stark geplündert war, so, wie sein Vater es ihm vorausgesagt hatte. Von 1966 bis 1973 entwarf Dalí Illustrationen zu einer Luxusausgabe von Alice im Wunderland für den Verlag Random House. Im Jahr 1969 malte Dalí sein erstes Deckengemälde mit drei Metern Durchmesser; ein Jahr darauf folgte das zweite, das er Gala schenkte. Ab 1970 beschäftigte er sich mit stereoskopischen Bildern und schuf (unterstützt von Selwyn Lissack) holographische Arbeiten. Sein bekanntestes stereoskopisches Gemälde aus den Jahren 1972/73 ist Dalí von hinten, Gala von hinten malend, die von sechs virtuellen, sich vorübergehend in sechs echten Spiegeln widerspiegelnden Hornhäuten verewigt, das auf zwei Tafeln gemalt ist. === Das Teatre-Museu in Figueres === Um sein Werk repräsentativ darzustellen, wollte Dalí sich einen eigenen Tempel errichten, und seine Wahl fiel auf das zerstörte Stadttheater von Figueres. Der Grund, warum er gerade dieses Gebäude wählte, ist einfach: Im Jahr 1918, als Dalí 14 Jahre alt war, fand dort seine erste Ausstellung statt. Nachdem das um 1850 von Roca i Bros gebaute Theater durch ein Feuer gegen Ende des spanischen Bürgerkriegs 1939 zerstört worden war, schlug Figueres’ Bürgermeister Ramon Guardiola 1961 Dalí vor, dort ein Museum zu errichten. Im Juni 1970 beschloss das spanische Kabinett, Gelder für den Umbau bereitzustellen. Als Dach schwebte Dalí eine Glaskuppel in der Art des amerikanischen Architekten Richard Buckminster Fuller vor. Der spanische Architekt Emilio Pérez Piñero konstruierte die Kuppel nach Dalís Vorstellungen; mit ihrer außergewöhnlichen Form ist sie zum Wahrzeichen Figueres’ geworden. Die Details des Museums als Gesamtkunstwerk hatte Dalí selbst entworfen, von den monumentalen Eiern auf dem Dach des Gebäudes bis zu den Toiletten. Architekt war Joaquin de Ros y de Ramis, der jedoch immer nur in Übereinstimmung mit dem „Göttlichen“, wie Dalí sich mittlerweile nannte, arbeiten durfte. Der Bau begann am 13. Oktober 1970; bereits ein Jahr später nahm Dalí die Arbeit am Deckengemälde für das Teatre-Museu in Angriff. Am 28. September 1974 wurde die Umgestaltung des Theaters von Figueres als Dalí-Museum mit tausend geladenen Gästen im Beisein der Freunde Ernst Fuchs und Arno Breker eröffnet. Beide begründeten ein Jahr später gemeinsam mit Dalí die Künstlerfreundschaft „Goldenes Dreieck“; Dalí stellte fest: „Breker-Dalí-Fuchs. Man kann uns wenden wie man will, wir sind immer oben.“ Im Jahr 1975 hatte Dalí seinem Freund, dem deutschen Bildhauer und Architekten Breker, zu seinem 75. Geburtstag eine Hommage gewidmet, während Breker eine realistische Bronzebüste des Surrealisten schuf. Es entstanden drei Versionen; Dalí sparte nicht mit seinem Lob: „Breker hat meine Seele eingefangen.“Dalís Werke sind im ganzen Gebäude verteilt; der Besucher findet Gemälde, stereoskopische Fotografien, ein biegsames Metallkruzifix, das Regentaxi aus der Exposition Internationale du Surréalisme mit Fuchs’ Großskulptur Esther auf dem Dach, einen Mae West-Saal als Environment, in dem Dalí sein Mae-West-Gemälde aus den Jahren 1934 bis 1935 dreidimensional nachgebildet hat, sowie Werke anderer Künstler wie Breker, Fuchs, Wolf Vostell und Marcel Duchamp. Ein Raum ist Dalís Freund, dem katalanischen Maler Antoni Pichot, dem Neffen von Ramon Pichot, gewidmet. Antoni Pichot wurde nach Dalís Tod Direktor des Museums. Die in klassischer Manier gefertigten Decken- und Wandgemälde ergänzen das Interieur. Kunst, Kitsch und Karikatur sind im ganzen Museum in verwirrend pompöser Eintracht verbunden.Im Jahr 1975 schlugen ihm in seinem Heimatland nach den vorangegangenen Würdigungen Verachtung und Feindschaft entgegen. Staatschef Franco hatte kurz vor seinem Tod am 27. September 1975 fünf mutmaßliche Terroristen exekutieren lassen, und Dalí befürwortete dies in einem Interview mit der „Agence France-Presse“ im Hinblick auf Spaniens Zukunft, „wo es in ein paar Monaten keinen Terrorismus mehr geben wird, weil Attentäter wie die Ratten vertilgt werden. Wir brauchen dreimal mehr Exekutionen. Aber für den Augenblick reichen sie.“ Nach Anschlägen auf sein Haus und Drohbriefen fürchtete Dalí um seine Sicherheit und flüchtete für kurze Zeit in die USA.1979 wurde im Centre Georges Pompidou in Paris eine große Dalí-Retrospektive eröffnet, die 169 Gemälde und 219 Zeichnungen, Grafiken und Objekte des Künstlers zeigte. Eine besondere Attraktion war das Environment Heroische Kirmes, das die untere Etage füllte: Ein Citroën hing unter der Decke mit katalanischen Botifarra, einer Wurstspezialität, darunter ein Löffel von 32 Metern Länge, in den Wasser aus dem Kühler floss. In den 1980er Jahren schlug der befreundete Künstler Wolf Vostell, den Dalí bereits 1978 kennengelernt hatte, ein Gemeinschaftsprojekt vor. Dieses wurde als eines der letzten Projekte von Dalí im Jahr 1988, kurz vor seinem Tod, realisiert. Vostell führte eine Arbeit Dalís aus, die Dalí bereits in den 1920er Jahren erdacht hatte. El fin de Parzival besteht aus 20 Motorrädern der Guardia Civil aus der Zeit des Franco-Regimes, die jeweils zu fünft übereinander befestigt sind und mit der Musik von Richard Wagners Oper Parzival hinterlegt sind. Ursprünglich waren von Dalí Fahrräder vorgesehen. Diese Ergänzung erfolgte durch Vostell. Im Gegenzug realisierte Wolf Vostell die Skulptur TV-Obelisk (1979) in dem Teatre-Museu in Figueres mit 14 TV-Geräten und Dalí ergänzte die Skulptur mit einem von ihm gestalteten Frauenkopf auf der Spitze. In dem Frauenkopf befindet sich eine Videokamera, die Bilder des Himmels aufzeichnet, welche auf den TV-Geräten übertragen werden. === Krankheit und Tod === Ab 1981 litt Dalí an der Parkinson-Krankheit mit starkem Tremor. Zum Trost verlieh ihm Spaniens König Juan Carlos I. im Juli 1982 den Titel „Marqués de Dalí de Púbol“. Dalí hatte den König bereits 1973/74 in dem Gemälde Der Prinz des Schlafes dargestellt. Nach dem schmerzlichen Verlust seiner geliebten Frau Gala († 1982) lebte er ab 1983 allein und zurückgezogen in Púbol, wo er im Mai des Jahres 1983 sein letztes Gemälde Der Schwalbenschwanz schuf. Auf den Tod seiner Frau reagierte er mit Nahrungsverweigerung; durch die daraufhin erfolgende Dehydratation konnte Dalí nicht mehr schlucken und musste bis zu seinem Lebensende durch eine Nasensonde ernährt werden. Seine Stimme versagte, er konnte sich nur noch flüsternd mitteilen. 1984 erlitt Dalí schwere Verbrennungen bei einem Feuer, das durch einen Kurzschluss im Klingelsystem seines Schlafzimmers entstanden war. Nach einem Klinikaufenthalt in Barcelona zog er in ein Gebäude neben seinem Teatre-Museu, das er 1985 als „Torre Galatea“ umgestalten ließ. Namensgeber für den Turm war Galatea, die Statue, die von Aphrodite auf Pygmalions Gebete hin zum Leben erweckt wurde, denn Gala war für Dalí zur Gala-tea geworden, die in sein Leben getreten war.Nach diesem Vorfall erlaubte ihm sein Gesundheitszustand keine künstlerischen Aktivitäten mehr. Salvador Dalí starb im Jahr 1989 im Alter von 84 Jahren an Herzversagen. Auf eigenen Wunsch wurde er in der Krypta unter der Glaskuppel seines Teatre-Museu in Figueres beigesetzt, nicht an der Seite Galas in der Gruft von Schloss Púbol. Sein Körper wurde einbalsamiert, um mindestens 300 Jahre überdauern zu können; er ist in eine Tunika gehüllt, die mit der Krone eines Marquès geschmückt und mit einer Borte verziert ist, die die Doppelhelix darstellt. Heute ist das Museum eine Touristenattraktion ersten Ranges und fasziniert Besucher aus aller Welt. === Erbe === Offiziell starb Dalí 1989 kinderlos. Als Erben der prachtvollen Häuser und vieler Gemälde setzte er den spanischen Staat ein. Nach einer Vaterschaftsklage der 1956 geborenen Wahrsagerin Pilar Abel Martínez wurde im Juni 2017 jedoch gerichtlich verfügt, die sterblichen Überreste Dalís für einen Vaterschaftstest zu exhumieren. Daraufhin wurde Dalís Grab im Theater-Museum von Figueres am 20. Juli 2017 unter Ausschluss der Öffentlichkeit geöffnet. Anfang September 2017 teilte die Dalí-Stiftung mit, dass der Test negativ ausgefallen sei, die Wahrsagerin sei nicht Dalís Tochter. Der Leichnam wurde am 16. März 2018 wieder bestattet. == Werk == === Frühe Periode (1917–1927/28) === Die erste Ausstellung von Dalís Bildern fand 1917 im Haus seiner Eltern statt. Beeinflusst von Ramon Pichot, Maler und Bruder von Josep Pichot, entwickelte der junge Dalí einen impressionistischen Malstil, ein Beispiel ist sein Gemälde Ansicht von Cadaqués mit dem Schatten des Berges Pani (1917). Während seiner Ausbildungszeit an der Akademie San Fernando malte er seine ersten kubistischen, pointillistischen und divisionistischen Bilder, beeinflusst von Juan Gris und den italienischen Futuristen. Bis auf wenige Ausnahmen verwendete er darin im Gegensatz zur Farbigkeit der Bilder vorangegangener Jahre nur die Farben Schwarz, Weiß, Siena und Olivgrün. 1923 schuf er sein Kubistisches Selbstbildnis, das im Teatre-Museu in Figueres gezeigt wird. In seinen in den Jahren 1925 bis 1928 entstandenen Werken bekannte Dalí sich zu den Lehren der „Metaphysischen Schule“ („Scuola Metafisica“), der Malerei, die von Giorgio de Chirico und Carlo Carrà angeführt wurde. Pablo Picassos wuchtige Körperskulpturen aus den Anfängen der 1920er-Jahre beeinflussten ihn in den Gemälden Venus und ein Matrose (1925), Gestalt zwischen den Felsen und Schlafende Frauen am Strand (1926). Außerdem entstanden realistische Bilder wie die 1925 gemalten Werke Bildnis meines Vaters und Mädchen am Fenster, letzteres zeigt Ana María Dalí. === Surrealistische Periode (1929–1940) === Häufig werden zwei Strömungen des Surrealismus unterschieden der „veristische“ oder „paranoisch-kritische“ Surrealismus: Vereinigung nicht zusammengehöriger Dinge, verdrehte Perspektiven, wie bei Salvador Dalí erkennbar, und der „abstrakte“ oder „absolute“ Surrealismus: dasselbe Prinzip wie oben genannt, nur ohne jeglichen Realismus, wie zum Beispiel in Bildern Joan Mirós.Dalí wollte das Rätselhafte, das Unfassbare sichtbar machen; der Surrealismus ist für ihn „eine Revolution des Lebens und der Moral“. Er setzte in seinen surrealistischen Bildern die von ihm meisterhaft beherrschten Techniken ein und malte „Trompe-l’œil-Fotografien“. Er war damit 25 Jahre der Kunst der Hyperrealisten voraus. Beispiele sind Ungestillte Begierde (1928), Der große Masturbator (1929) und Die Beständigkeit der Erinnerung (1931), sein bekanntestes Werk, in dem Dalí symbolistische Motive verwendete. Zerfließende, weiche Uhren illustrieren die Unsicherheit über die Zeit, die vor Einstein als für alle unter allen Umständen gleich schnell dahinfließend angenommen wurde und im menschlichen Alltag auch heute noch so erlebt wird, die in Einsteins Relativitätstheorie jedoch nicht unter allen Umständen gleich schnell dahinfließt. Die Idee, diese Uhren zu malen, ist Dalí nach eigener Aussage beim Anblick eines weichen Camembert gekommen. Sein starker Hang zur Verwendung skatologischer Elemente entsetzte Breton, wie Dalí in seinem Tagebuch eines Genies berichtet: „Ich stieß hier wieder auf die gleichen Verbote wie bei meiner Familie. Das Blut war mir gestattet. Ein bißchen Kacke durfte ich daraufsetzen. Aber Kacke allein, das gab’s nicht. Die Darstellung des Geschlechts wurde mir bewilligt, aber keine analen Phantasien.“ Ein Beispiel ist das Gemälde Das finstere Spiel, auch Unheilvolles Spiel genannt, aus dem Jahr 1929, das so schwelgerisch realistisch kotbeschmutzte Unterhosen zeigt, dass seine Freunde sich fragten, ob er Koprophage sei oder nicht. Nach Dalís Aussage in seiner Autobiographie verabscheute er diese Abirrung und bezeichnete das Skatologische als Schockelement wie Blut und seine Heuschreckenphobie.In den Jahren 1929 bis 1939 hat Dalí etwa 700 Ölgemälde, meist in kleinem Format, geschaffen; das entspricht etwa der Hälfte seines Gesamtwerks. Es sind seine bekanntesten Bilder mit den Motiven „gebratene Spiegeleier“, „weiche Uhren“, „brennende Giraffe“, „Venus mit Schubladen“ und „langbeinige Elefanten“. Charakteristisch für ihn ist sein von den „Altmeistern“ übernommener flacher Farbauftrag, die Methoden der Wiederholung, Streckung, Dehnung, Umkehrung, Aushöhlung und Drehung. Die Werke aus Dalís klassischer surrealistischer Phase sind bei Kunsthistorikern, -kritikern und -liebhabern gleichermaßen geschätzt. In den Anthologien der Kunst des 20. Jahrhunderts erscheinen hauptsächlich seine Arbeiten aus dieser Zeit. Die Betrachter erleben die Erfahrung des unendlichen Raums und der angehaltenen Zeit. Sie „sehen“ gleichsam das Paradox des unendlichen Augenblicks. === Klassische Periode (1941–1983) === Im Ausstellungskatalog der Einzelausstellung in der Galerie Julien Levy, New York, vom 22. April bis zum 23. Mai 1941, dessen Umschlag mit Dalís Selbstporträt mit gebratenem Speck versehen ist, erklärte der Künstler, er lüde ein „zu seinem letzten Skandal, dem Beginn seiner klassischen Malerei“. Diese Neubesinnung mit Akzentverschiebung sah man den neuen Werken nicht sofort an. Die politische Situation des aufbrechenden Chaos forderte Dalí zufolge Halt und Orientierung, eine Rückbesinnung auf die Werte der mittelalterlichen Epoche: „In diesem bevorstehenden Mittelalter wollte ich der erste sein, der, mit vollem Verständnis für die Gesetze von Leben und Tod der Ästhetik in der Lage sein würde, das Wort ‚Renaissance‘ auszusprechen.“ In der Ästhetik der italienischen Renaissance malte er beispielsweise religiöse Werke wie Die Madonna von Portlligat oder Leda Atomica; darin verarbeitete er die Proportionen des Goldenen Schnitts. In den 1960er-Jahren wendete er sich der Historienmalerei des 19. Jahrhunderts in der Art des Katalanen Marià Fortuny und des Franzosen Ernest Meissonier zu. Sein riesiges Gemälde Die Schlacht von Tetuan von 1962 nach dem gleichnamigen Werk von Fortuny wurde von seinen Gegnern als Kitsch bezeichnet, er selber nannte es Dalís Pop Art. In seinen bis zu drei mal vier Meter großen historischen Gemälden (insgesamt malte er 18 Bilder in dieser Größe) und in der Ausgestaltung von Decken und Wänden seiner Häuser erreiche er die Grenze zwischen Kitsch und Kunst, so der Tenor der immer wieder geführten Diskussionen darüber. In dem Gemälde Galacidalacidesoxiribunucleicacid aus dem Jahr 1963 konzentrierte sich Dalí auf das religiöse Thema der „Auferstehung“ und verband es mit seinem Interesse an moderner Wissenschaft und seinem Bewusstsein für zeitgenössische Ereignisse. Der Titel des Werkes bezieht sich auf die Entdeckung des DNS-Moleküls durch Francis Crick und James Watson im Jahr 1953 und ist beiden Wissenschaftlern gewidmet. Das DNA-Molekül mit seiner spiralförmigen Gestalt ist die Grundform des Lebens. Dalí sprach in den frühen 1950er-Jahren oftmals von der Verbindung zwischen Spiralformen und dem Leben, noch bevor das DNA-Molekül entdeckt war.Mit dem großformatigen Gemälde Der Thunfischfang (1966/67) vereinigte Dalí seine verschiedenen Stilrichtungen wie den Surrealismus, den „überfeinerten Pompierismus“, Pointillismus, Action-Painting, Tachismus, die geometrische Abstraktion, Pop Art, Op-Art und psychedelische Kunst. Es sollte nach Dalís Meinung die Wiederbelebung der gegenständlichen Malerei, die in der avantgardistischen Kunst vernachlässigt wurde, wiedergeben. Stereoskopische und holographische WerkeIn den 1970er-Jahren erweckten stereoskopische Bilder von Gerard Dou, einem Zeitgenossen von Vermeer van Delft, das Interesse Dalís, in dessen Gemälden er ein doppeltes Bild meinte sehen zu können. Ausgerüstet mit einer Fresnel-Linse, schuf er verschiedene stereoskopische Werke. Ein bekanntes Beispiel ist Dalí von hinten, Gala von hinten malend, die von sechs virtuellen, sich vorübergehend in sechs echten Spiegeln widerspiegelnden Hornhäuten verewigt von 1972/73, dargestellt auf zwei Tafeln. Holos! Holos! Velásquez! Gabor!, ein Hologramm von 1972/73, ist Dalís erste dreidimensionale Collage, entstanden in Zusammenarbeit mit dem New Yorker Holographen Selwyn Lissack. Es bildet eine Verbindung zwischen Velásquez Las Meninas und einem Reklamebild mit Kartenspielern für eine Biermarke. Für den Künstler war diese Technik mit der Hoffnung verknüpft, den dreifachen Aspekt totaler Vision zu realisieren. Der Kubismus stellte, so wird interpretiert, den ersten Versuch in diese Richtung dar. === Plastik === Dalís bildhauerisches Interesse begann mit einem Modell der Venus von Milo, die er bereits als Kind nach einem Bild auf einer Federtasche imitierte. Sein plastisches Werk begann er als surrealistischer Künstler in den 1930er-Jahren und führte es sein Leben lang fort. Auch in seinen bildhauerischen Werken stellte Dalí das Unbewusste sowie Träume und Gefühle dar und verwendete wie Marcel Duchamp mit seinen Ready-mades ungewöhnliche Materialien. Er schuf beispielsweise Objekte mit einer symbolischen Funktion wie die Retrospektive Frauenbüste aus dem Jahr 1933, die aus dem bemalten Porzellanmodell einer Hutmacherin, einem Baguette und anderen Altmaterialien bestand, wählte später jedoch traditionellere Techniken. So formte er aus weichem Wachs die gewünschte irrationale Form seiner Eingebung und goss diese sodann in Bronze unter Anwendung des Wachsausschmelzverfahrens. Die Plastiken bilden einen wesentlichen Teil von Dalís surrealistischem Werk und zeigen sein Interesse an der Dreidimensionalität. === Grafik === Im Bereich der Druckgrafik gehören Dalís Lithografien, Serigrafien, Radierungen und Holzschnitte zu den meistverkauften Objekten des internationalen Kunstmarkts. Allen Grafiken gingen aufwändige Vorarbeiten voraus. Grafische Zyklen für Buchillustrationen entstanden, beispielsweise für Dante Alighieris Die Göttliche Komödie 1963, Lewis Carrolls Alice im Wunderland 1969, Giovanni Boccaccios Das Dekameron 1972, Pedro Calderón de la Barcas Das Leben ein Traum 1975, Ernest Hemingways Der alte Mann und das Meer 1974, John Miltons Paradise Lost 1974 und Francisco de Goyas Les Caprices 1977. Zur Fälschungsproblematik von Dalís Grafik wird unter „Rezeption“ Stellung genommen. Dalí unterscheidet sich von vielen anderen Künstlern, die sich verschiedener Dienstleister wie Lithografen oder Radierer bedient haben, um ihre Werke in der jeweiligen Technik umsetzen zu lassen. Er beherrschte nahezu jede Technik in Perfektion selbst. Bei seiner ersten Lithografieserie Don Quichotte de la mancha (1956/57) schoss er beispielsweise mit Arkebusen (Musketen) auf die Lithosteine, ließ Frösche über die Steine springen und Eier auf die Steine fallen oder versetzte die Steine in Rotation. Bei der Kaltnadelradierung bearbeitete er die Kupferplatte mit der Nadel, der Roulette oder anderen Gegenständen, um sein Werk entstehen zu lassen. Beispiele dafür sind die Kaltnadelradierungen zu Faust/Walpurgisnacht (1968) oder die Farbkaltnadelradierungen der Serie Tristan und Isolde (1970). Bei seiner Serie 10 Rezepte zur Unsterblichkeit (Dix Recettes d’immortalité, 1973) schuf er die erste stereoskopische Grafik der Kunstgeschichte. „Die Stereoskopie verewigt und legitimiert die Geometrie, denn dank ihr verfügen wir über die dritte Dimension der Sphäre“ schrieb Dalí im Begleittext zu dem Werk. === Beispiele kunsttheoretischer und autobiografischer Schriften === Die kunsttheoretische Schrift Das gelbe Manifest verfasste Dalí 1928 zusammen mit den Kunstkritikern Lluis Montañya und Sebastià Gasch. Diese Proklamation wurde zur wichtigsten Aktion der katalanischen und spanischen Avantgarde-Bewegung gegen die klassizistische und akademische Kultur und warb für eine neue Modernität. Besonders faszinierte Dalí der systematische, konstruktive Aspekt der Paranoia. Er nennt sie die „paranoisch-kritische Methode“, die tendenziell alle Bereiche der Wirklichkeit ihrem wahnhaften Deutungssystem zu unterwerfen vermag. Ein daran ausgerichtetes Verfahren müsste daher geeignet sein, „zum Ruin der Wirklichkeit beizutragen“, schrieb er 1930 in seiner ersten surrealistischen Programmschrift Der Eselskadaver. Der rational geordneten, mit technischen Geräten ausgestatteten Welt der Moderne, die dem Realitätsprinzip gehorcht, setzt Dalí eine andere entgegen, eine pflanzlich wuchernde, in der das Lustprinzip gilt und selbst Uhren weiche Gebilde sind. Daher tritt er für den Jugendstil und die „paranoische“ Architektur Antoni Gaudís ein.Dalí, der sich in seiner klassischen Periode als Ex-Surrealist bezeichnete, dennoch mehr denn je Surrealist blieb, lieferte mit seiner Schrift Fünfzig magische Geheimnisse aus dem Jahr 1948 eine Abhandlung zur Maltechnik. Er führte darin aus, dass man heute zwar wisse, wie man eine Atombombe baue, niemand kenne aber „heute mehr die Zusammensetzung des geheimnisvollen Saftes, des Malmittels, in das die Brüder van Eyck oder Vermeer van Delft ihre Pinsel eintauchten“. In seinen eigenen Rezepten befasste er sich mit dem Material: fünf verschiedene Pinsel, die fünf Bewegungsarten entsprechen. Der Maler solle nicht nur „sehen“, sondern „metaphysisch sehen“. In seinem „System“ der gelenkten Träume lautet der Rat: „Wenn Sie malen, denken Sie immer an etwas anderes.“ Er untermauert seine Ratschläge mit technischen Tricks, die er Schriften seiner Vorgänger entnommen hatte, wie beispielsweise Cennino Cenninis, dessen Libro dell’arte seit dem 14. Jahrhundert als das Handbuch der Malkunst galt, sowie Luca Paciolis und der italienischen Renaissance-Meister.Im Jahr 1942 erschien Dalís erste Autobiografie Das geheime Leben des Salvador Dalí, bei Dial Press, New York, in der er seine Erlebnisse, Erinnerungen und Gefühle bis in die Zeit der späten 1930er Jahre vorstellt. Die Fortsetzung Tagebuch eines Genies (Diario de un Genio) erschien 1964. Dieses Selbstporträt erklärt dem Leser die Intentionen des Künstlers und führt hin zum Verständnis seiner Werke. 1970 erschien bei Harry. N. Abrams Inc., New York, Dalí by Dalí (So wird man Dalí) mit Illustrationen, die der Künstler zu verschiedenen Gruppen zusammenfasste: der „planetarische“, der „molekulare“, der „monarchische“, der „halluzinogene“ und der „futuristische“ Dalí, versehen mit Dalís Texten zu den einzelnen Sujets. === Film, Theater und Ballett === Dalís bekannteste Filme in Zusammenarbeit mit Luis Buñuel finden sich in den Hauptartikeln Un chien andalou (Ein andalusischer Hund) und L’Âge d’Or (Das goldene Zeitalter). Eine Auswahl weiterer Filme sowie Beteiligungen im Theater- und Ballettbereich sind unter „Ausgewählte Werke“ aufgeführt. === Dalí und die Fotografie === Dalí arbeitete mit bekannten Fotografen zusammen wie Man Ray, Brassaï, Cecil Beaton und Philippe Halsman. Einige Arbeiten aus dem Jahr 1933 mit Man Ray, dem Fotografen der Surrealistengruppe, wurden wie auch Werke von Brassaï im Magazin Minotaure veröffentlicht. Im Jahr 1941 traf Dalí Philippe Halsman und arbeitete mit ihm bis zu dessen Tod 1979 zusammen. Das erste Foto aus dem Jahr 1942 zeigt Dalí als Embryo in einem Ei. Halsmann erklärte die Faszination, die Fotoarbeiten auf Dalí ausübten, mit dessen auf die Spitze getriebenem Surrealismus: „Er will, daß auch die kleinste seiner Handlungen überrascht und schockiert.“ Halsmans Foto von 1948, Dalí Atomicus, zeigt einen fliegenden Stuhl, drei fliegende Katzen, einen Wasserschwall und den fliegenden Salvador Dalí. Der Titel des Fotos bezieht sich auf Dalís Gemälde Leda Atomica, das rechts im Hintergrund zu sehen ist. Halsman und Dalí veröffentlichten als Ergebnis ihrer Zusammenarbeit 1954 das Buch Dali’s Mustache, das 28 unterschiedliche Fotos seines Schnurrbarts zeigt. === Dalís Handschrift in Mode und Gebrauchskunst === Ende der 1930er-Jahre entwarf Dalí für die Modeschöpferin Elsa Schiaparelli Stoffdessins, Kleider und Hüte. Weitere Gebrauchskunst war unter anderem in den 1950er-Jahren die Gestaltung des Covers für Jackie Gleasons Plattentitel Lonesome Echo. In den 1960er-Jahren gründete er sein eigenes Merchandise-Unternehmen und stellte nach John Peter Moore und Enrique Sabater im Jahr 1982 Robert Descharnes als Geschäftsführer des Unternehmens ein, das den Namen Demart trug. Zu den unter seinem Namen hergestellten Artikeln gehörten unter anderem Krawatten, die Brandyflasche Conde de Osborne Dalí für das Traditionshaus Osborne, Kalender, Tapisserien und Schmuckstücke. Auch in der Gegenwart bieten Firmen Waren à la Dalí an wie Poster, Kalender, Leuchter, Tassen und Teller mit surrealistischen Akzenten. Seit 1983 gibt es das heute noch erhältliche Parfum Dalí in surrealistischen Flakons mit der Form einer Nase, eines Mundes und seit 1987 als Herrenparfüm in der Form eines ausgeprägten Kinns mit aufgesetztem Stöpsel in Form eines Mundes. Diese Kommerzartikel machten das Kunstgenie Dalí noch bekannter, da sich die breite Masse nun einen „Dalí“ leisten konnte. === Beispiele für Symbole in Dalís Werk === Dalí benutzte oft Symbole in seinem Werk, so die berühmten schmelzenden Uhren. Krücken kommen in vielen seiner Werke vor, beispielsweise im Gemälde Rätsel des Wilhelm Tell. Dalí malte viele Schubladen in leicht geöffnetem Zustand, ein Hinweis darauf, dass ihre Geheimnisse bekannt sind und nichts mehr zu befürchten ist. Beispiele zeigen die Gemälde Brennende Giraffe und Der anthropomorphe Kabinettschrank. Dalís Elefanten sind in der Regel mit langen, fast unsichtbaren Beinen dargestellt; sie tragen Objekte auf dem Rücken, die ebenfalls symbolträchtig sind. Diese Elefanten stehen für die Zukunft und sind gleichermaßen ein Symbol der Stärke. Ihre Last besteht oft aus Obelisken, Symbolen von Macht und Herrschaft, die phallische Bezüge aufweisen. Beispiele finden sich in den Gemälden Traum, verursacht durch den Flug einer Biene um einen Granatapfel, eine Sekunde vor dem Aufwachen und Die Versuchung des Heiligen Antonius. Das Ei ist ein weiteres beliebtes Motiv Dalís. Das Dach seines Museums in Figueres ist mit riesigen Eiern geschmückt. Auch ausschwärmenden Ameisen wie in Das Rätsel der Begierde – Meine Mutter, meine Mutter werden verwendet. Eine große Heuschrecke ist auf seinem bekannten Gemälde Der große Masturbator zu sehen.Brot findet sich häufig als sehr langes Baguette in seinen Werken, gleichwohl nicht als hilfreiches Brot, sondern als „antihumanitäres“, wie Dalí es in seinem Buch Das Geheime Leben beschreibt. Es war nicht als Beitrag zum Unterhalt für große Familien gedacht, sondern sollte zeigen, wie der Luxus der Phantasie sich am Nützlichkeitsdenken der Welt der praktischen Vernunft rächte. Ein voluminöses Brot ziert Die retrospektive Frauenbüste. Weitere Beispiele sind das Gemälde Anthropomorphes Brot sowie das Brot auf seinem Museumsdach, dem Teatre-Museu Dalí in Figueres. == Rezeption == === Zeugnisse von Zeitgenossen === Luis Buñuel erinnerte sich 1983 an die frühere Freundschaft mit Dalí nicht ohne Bewunderung: André Breton schrieb 1929 anlässlich der Ausstellung von Dalís Werken in der Galerie Goemans enthusiastisch: Der Bruch Mitte der 1930er-Jahre veränderte die Sicht Bretons drastisch; Dalí zog sich die Feindschaft der Surrealisten zu. Nach der Veröffentlichung von Dalís Essay Das mystische Manifest im Jahr 1951 und der entsprechenden Thematik seiner Werke schrieb Breton in der Neuauflage seiner Anthologie des Schwarzen Humors im Jahr 1953: === Gala Dalís Einfluss auf Salvador Dalí === Ruth Kastner zitiert anlässlich Dalís 100. Geburtstag 2004 Claire Goll, die den starken Einfluss Gala Éluard Dalís auf deren Mann hervorhebt, die ihn vom schüchternen jungen Mann mit rebellischen Zügen zum zynischen Clown gemacht habe: === Dalís Beziehung zum Diktator Franco === Zum selben Ereignis sendete der NDR Fakten und Vermutungen zur Einstellung Dalís gegenüber dem Diktator General Franco und erörterte, ob er tatsächlich ein blinder Gefolgsmann des faschistischen Regimes gewesen sei. Dalí sei 1938 aufgrund von „Sympathien für den Nationalsozialismus“ aus der Surrealisten-Bewegung ausgeschlossen worden und habe noch 1975 dem altersschwachen Diktator ein Glückwunschtelegramm anlässlich der Exekution von fünf ETA-Terroristen geschickt. Dazwischen habe der „Hofnarr Francos“ dem Faschistenführer bei jeder Gelegenheit geschmeichelt. Dagegen, so der NDR weiter, deute der Architekt Òscar Tusquets diese Tatsachen in seinem Buch Dalí y otros amigos als Ironie und meine, dass die enthusiastischen Lobpreisungen Francos derart übertrieben gewesen seien, dass Dalí sie gar nicht ernst gemeint haben könne und er sich quasi auf surrealistische Art über den Diktator lustig gemacht habe. Dalí habe außerdem einen ausgewachsenen Widerspruchsgeist gehabt und auch mit seinen politischen Äußerungen nur provozieren wollen gemäß seinem Zitat: „Ich bin nicht nur Provokateur von Berufs wegen, sondern auch aus Veranlagung.“ === Kritik am Spätwerk Dalís === Der Literaturwissenschaftler Peter Bürger nannte die Gründe für Dalís umstrittenes Ansehen bei Kunstkritikern und -historikern in der Wochenzeitung Die Zeit. Er betonte, die erste Documenta in Kassel, die 1955 einen Kanon moderner Kunst aufstellen wollte, habe Werke der surrealistischen Maler André Masson, Joan Miró und Max Ernst gezeigt, nicht jedoch von Salvador Dalí. Nachdem dieser 1940 in die USA gezogen sei, habe er sich mehr und mehr dem „Design“ zugewendet: Werbezeichnungen für Haute-Couture-Modelle, Titelblätter für die Zeitschrift Vogue sowie Muster für Krawatten und Schmuck entworfen und Angehörige der High Society porträtiert. Auch seien seine Hitler-Obsession und die Polemik gegen die Ästhetik der Moderne ein Anlass zu Kritik. Der Jugendstil sei von ihm gegen die funktionalistische Baugesinnung der Moderne, die er als „Architektur der Selbstbestrafung“ bezeichnete, ausgespielt worden. Doch seit den 1950er- und frühen 1960er-Jahren sei eine Wandlung eingetreten, da die Pop Art die Grenzen zwischen hoher und trivialer Kunst aufgelöst habe. So habe beispielsweise in Italien Achille Bonito Oliva mit dem Begriff der Transavantgarde für die Rückkehr zu traditionellen Malweisen die Ästhetik der Moderne herausgefordert. === Dalís gefälschte Druckgrafiken === Dalís Druckgrafiken gehören zu den Spitzenreitern der gefälschten Kunstwerke. Christiane Weidemann beschreibt in ihrem Buch über Dalí 2007 die Probleme mit gefälschten Grafiken des Künstlers, die den Kunstmarkt bis in die Gegenwart verunsichern. Etwa 1965 hatte Dalí nämlich angefangen, Zehntausende von Papierbogen blanko zu signieren: === Dalís Opernpoem Être Dieu (Gott sein) === Salvador Dalí ist der einzige Maler, der ein Libretto für ein surreales Operngedicht, Être Dieu, eine Reflexion über Gottes Beschaffenheit, geschrieben hat. Er verfasste es im Jahr 1927 gemeinsam mit Federico García Lorca. 1974 ließ Dalí die Oper in Paris auf Schallplatte aufnehmen. Igor Wakhevitch schrieb die Musik, und der spanische Schriftsteller Manuel Vázquez Montalbán brachte den Text in Übereinstimmung mit dem Künstler zu Papier. Während der Aufnahme lehnte Dalí es jedoch ab, dem Wortlaut Montalbans zu folgen und improvisierte: „Salvador Dalí wiederholt sich nie“. == Ehrungen und Auszeichnungen == 1964: Orden de Isabel la Católica (Großkreuz der Königin Isabella von Spanien) für seine Verdienste um die Kunst 1967: Verleihung der Ehrendoktorwürde der Académie de la Fourrure 1973: Ernennung zum Mitglied der Real Academia de Bellas Artes di San Fernando, Madrid 1978: Ernennung zum ausländischen Ehrenmitglied der Académie des Beaux-Arts, Paris (Aufnahme und Antrittsrede am 9. Mai 1979) 1981: Großkreuz Karls III 1982: Ernennung zum „Marqués de Púbol“ durch den König von Spanien Juan Carlos I. 1982: Goldmedaille der Autonomen Regierung Kataloniens Der Asteroid des äußeren Hauptgürtels (2919) Dali ist nach ihm benannt. == Ausgewählte Werke == === Gemälde === 1917: Ansicht von Cadaqués mit dem Schatten des Berges Pani (Dalí Museum, St. Petersburg, Florida) 1924: Bildnis Luis Buñuel (Museo Reina Sofía, Madrid) (Abb.) 1925: Bildnis meines Vaters (Museu d’Art Modern, Barcelona) (Abb.) 1925: Mädchen am Fenster (Museo Español de Arte, Madrid) (Abb.) 1927: Blut ist süßer als Honig (Privatbesitz) (Abb.) 1927: Apparat und Hand (Sammlung E. und A. Reynolds Morse, Leihgabe an das Salvador Dalí Museum) (Abb.) 1928: Ungestillte Begierde, auch Dialog am Strand genannt (Privatbesitz) 1929: Der große Masturbator (Schenkung Dalís an den spanischen Staat) (Abb.) 1929: Das Rätsel der Begierde – Meine Mutter, meine Mutter, meine Mutter (Pinakothek der Moderne, München) (Abb.) 1929: Das finstere Spiel oder Unheilvolles Spiel, Le Jeu lugubre (Privatbesitz) 1929: Die ersten Tage des Frühlings, Les premiers jours du printemps (Privatbesitz) (Abb.) 1931: Die Beständigkeit der Erinnerung (Museum of Modern Art, New York) (Abb.) 1932: Die Geburt der flüssigen Begierden (Sammlung Guggenheim, Venedig) 1933: Bildnis Galas mit zwei Lammkoteletts im Gleichgewicht auf der Schulter (Fundació Gala-Salvador Dalí, Figueres) Abb. 1933: Das Rätsel Wilhelm Tells (Moderna Museet, Stockholm) (Abb.) 1933/34: Atavismus des Zwielichts (Kunstmuseum Bern) 1934: Rätselhafte Elemente einer Landschaft, Fundació Gala-Salvador Dalí, Figueres 1934/35: Gesicht der Mae West (kann als surrealistisches Lippensofa benutzt werden). Gouache auf Zeitungspapier (Art Institute of Chicago) (Abb.) 1935: Der Angelus von Gala (Museum of Modern Art, New York) (Abb.) 1935: Spectre du soir sur la plage (Abb.) 1936: Die brennende Giraffe (Kunstmuseum Basel) (Abb.) 1936: Der anthropomorphe Kabinettschrank 1936: Weiche Konstruktion mit gekochten Bohnen (The Philadelphia Museum of Art, Philadelphia) (Abb.) 1936: Morphologisches Echo (Dalí Museum, Cleveland, Ohio) 1936: Frau mit Schubladen 1936: Der Apotheker von Ampurias auf der Suche nach absolut Nichts (Museum Folkwang, Essen) (Abb.) 1937: Die Metamorphose des Narziss (Tate Gallery, London) (Abb.) 1937: Das Rätsel Hitlers (Schenkung Dalís an den spanischen Staat) (Abb. (Memento vom 14. August 2014 im Internet Archive)) 1937: Die Erfindung der Ungeheuer (Art Institute of Chicago) (Abb.) (Memento vom 1. November 2013 im Internet Archive) 1937: Schwäne spiegeln Elefanten (Cavalieri Holding Co. Inc., Genf) (Abb.) 1938: Strand mit Telefon (Tate Gallery, London) (Abb.) (Memento vom 13. Januar 2003 im Internet Archive) 1939: Shirley Temple, das jüngste geheiligte Ungeheuer des zeitgenössischen Kinos (Museum Boijmans van Beuningen, Rotterdam) (Abb.) 1940: Sklavenmarkt mit unsichtbarer Büste Voltaires (Abb.) 1941: Weiches Selbstporträt mit gebratenem Speck (Privatbesitz) (Abb.) 1941: Honig ist süßer als Blut (Le miel est plus doux que le sang) (Santa Barbara Museum of Art, Santa Barbara) (Abb.) 1944: Traum, verursacht durch den Flug einer Biene um einen Granatapfel, eine Sekunde vor dem Aufwachen (Museo Thyssen-Bornemisza, Madrid) (Abb.) 1944/45: Galarina (Teatre-Museu Dalí, Figueres) 1944/45: Die Apotheose des Homer (Bayerische Staatsgemäldesammlungen, Staatsgalerie moderner Kunst, München) (Abb.) 1946: Die Versuchung des Heiligen Antonius (Königliche Museen der Schönen Künste, Brüssel) (Abb.) 1948: The Elephants (Abb.) 1949: Leda Atomica (Fundació Gala-Salvador Dalí, Figueres) (Abb.) (Memento vom 4. Mai 2006 im Internet Archive) 1950: Madonna von Portlligat (Minami Museum, Tokio) (Abb.) 1951: Der Christus des Hl. Johannes vom Kreuz (Kelvingrove Kunstgalerie und Museum, Glasgow) 1954: Die Auflösung der Beständigkeit der Erinnerung (Dalí Museum, St. Petersburg, Florida) (Abb.) 1954: Crucifixion (Corpus Hypercubus) (Link) 1954/55: Paranoisch-kritisches Gemälde der Spitzenklöpplerin von Vermeer (The Solomon R. Guggenheim Museum, New York) (Abb.) 1955: Das Abendmahl (The National Gallery of Art, Washington) 1958: Die meditative Rose (Link) 1959: Die Entdeckung Amerikas durch Christoph Columbus (Dalí Museum, St. Petersburg, Florida) (Abb.) (Memento vom 6. Juli 2001 im Internet Archive) 1960: Das ökumenische Konzil (Dalí Museum, St. Petersburg, Florida) 1962: Twist im Atelier von Velasquez 1962: Die Schlacht von Tetuán (Minami Museum, Tokio) (Abb.) 1963: Galacidalacidesoxiribunucleicacid (Dalí Museum, St. Petersburg, Florida) 1965: Der Bahnhof von Perpignan (Museum Ludwig, Köln) 1966/67: Der Thunfischfang (Stiftung Paul Ricard, Île de Bendor, Frankreich) (Abb.) 1969: Odysseus und Telemach (Abb.) 1968–1970: Der halluzinogene Torero (Dalí Museum, St. Petersburg, Florida) (Abb.) 1972: La Toile Daligram 1972/73: Dalí von hinten, Gala von hinten malend, die von sechs virtuellen, sich vorübergehend in sechs echten Spiegeln widerspiegelnden Hornhäuten verewigt (Fundació Gala-Salvador Dalí, Figueres) (Abb.) (Memento vom 17. Oktober 2007 im Internet Archive) 1976: Gala Contemplating the Mediterranean Sea which at Twenty Meters becomes a Portrait of Abraham Lincoln (Dalí Museum, St. Petersburg, Florida) 1978: Kybernetische Odaliske (Teatre-Museu Dalí, Figueres) 1983: Der Schwalbenschwanz (Schenkung Dalís an den spanischen Staat) === Skulpturen, Objekte, Environments === 1933: Gala am Fenster, Skulptur von Dalí in Marbella 1933: (1970 Rekonstruiert) Retrospektive Frauenbüste (Privatbesitz) 1936: Hummer- oder Aphrodisisches Telefon, (Museum für Kommunikation Frankfurt), Abb. 1936: Venus mit Schubladen (Museum Boijmans van Beuningen, Rotterdam) 1936/37: Mae-West-Lippensofa, ausgeführt durch Green and Abbott, London 1938: Regentaxi (heute im Dalí-Museum, Figueres) 1954: Das Engelskreuz (Minami Museum, Tokio) 1956: Das Rhinozeros, Skulptur von Dalí in Marbella Um 1970: Gala Gradiva, Skulptur von Dalí in Marbella 1974: Mae-West-Saal, Environment im Teatre-Museu in Figueres 1979: Heroische Kirmes, Environment im Centre Georges Pompidou 1985: Homage à Newton, 1985, UOB Plaza, Singapur 1988: El fin de Parzival, Skulptur realisiert durch Wolf Vostell im Museo Vostell Malpartida === Schriften === Das gelbe Manifest (1928; mit Lluis Montañya und Sebastià Gasch) La femme visible. Edition Surréalistes, Paris, 1930 L’amour et la mémoire. Editions Surréalistes, Paris, 1931 La conquête de l’irrationnel. Editions Surréalistes und Julien Levy, Paris und New York, 1935 Métamorphose de Narcisse. Editions Surréalistes und Julien Levy, Paris und New York, 1937 Les Cocus du vieil art moderne (Dalí on Modern Art). Fasquelle éditeurs, Collection Libellés, Pari, 1956 Le Mythe Tragique de l’Angélus de Millet. Jean-Jacques Pauvert, Paris, 1963 Les Dîners de Gala. Draeger, Paris, 1973 Unabhängigkeitserklärung der Phantasie und Erklärung der Rechte des Menschen auf seine Verrücktheit (darin enthalten Der Eselskadaver). Verlag Rogner und Bernhard, München 1974, ISBN 3-8077-0079-X (Originalausgabe 1939) Les Vins de Gala. Draeger, Paris, 1977 Das geheime Leben des Salvador Dalí. Autobiographie, Übers. u. Nachw. von Ralf Schiebler, Schirmer/Mosel Verlag 1984, ISBN 3-88814-137-0; 1990, ISBN 3-88814-896-0, Jubiläumsausgabe 2004, ISBN 3-8296-0133-6 (Originalausgabe 1942 Dial Press, New York) Diario De Un Genio. 1952–1964. Tusquets, Barcelona 2002, ISBN 84-7223-974-8 (Originalausgabe 1964) Salvador Dali und Philippe Halsman: Dali’s Mustache. A Photographic Interview, 1. Auflage Simon & Schuster, New York (1954); erneuert 1982 Salvador Dali, Yvonne Halsman, Jane Halsman Bello und Irène Halsman; frz. 1985 Les Éditions Arthaud, Paris; 1994 Éditions Flammarion, Paris; ISBN 2-08-012433-1. Salvador Dali, André Parinaud: So wird man Dali (Zusammenstellung von Texten). Moewig Verlag 1974, ISBN 3-217-05018-5 (Originalausgabe Comment on devient Dali 1973, übersetzt von Franz Mayer) Verborgene Gesichter. S. Fischer Verlag 1983, ISBN 3-596-25382-9 (Originalausgabe Hidden Faces 1944) 50 Secrets of Magic Craftsmanship. Dover Publications, 1992, ISBN 0-486-27132-3 (Originalausgabe 1948) Dt. Fünfzig magische Geheimnisse, DuMont Reiseverlag, Ostfildern 1986, ISBN 3-7701-1982-7 Aufzeichnungen eines werdenden Genies. Tagebücher 1919–1920. Schirmer/Mosel Verlag 2001, ISBN 3-88814-325-X === Filme, Bühnenbilder und Ballett von Dalí === 1928: Ein andalusischer Hund, Film. Co-Autor und Darsteller; Regie: Luis Buñuel 1930: Das goldene Zeitalter, Film. Co-Autor; Regie: Luis Buñuel 1932: Babaouo, Filmscript, damals nicht verfilmt; geplant als letzter Film der Trilogie Ein andalusischer Hund und Das Goldene Zeitalter. Michel Cussó-Ferrer hat im Jahr 2000 einen Film unter diesem Titel gedreht, der zum einen dokumentarisch über Dalís Filme berichtet, zum anderen eine Adaption des originalen Scripts zeigt. 1939: Bacchanal, Ballett. Libretto und Bühnenbild von Dalí, Choreographie von Léonide Massine 1944: Sentimental Colloquie, Ballett. Bühnenbild, Kostüme 1945: Spellbound/Ich kämpfe um dich. Film. Künstlerische Gestaltung der Traumsequenz; Regie: Alfred Hitchcock 1946/2003: Destino 1948: William Shakespeare: Rosalinda o Come vi Piace / As You Like It (Theaterstück). Bühnenbild, Kostüme; Regie: Luchino Visconti; Premiere: 26. November 1948, Teatro Eliseo, Rom 1949: Richard Strauss: Salome. Oper. Bühnenbild; Regie: Peter Brook 1950: Vater der Braut. Film. Bühnenbild für die Traumsequenz; Regie: Vincente Minnelli 1952: José Zorrilla: Don Juan Tenorio. Drama. Kostüme und Bühnenbild; Regie: Alejandro Perla 1954: Film zusammen mit Robert Descharnes: Die ungewöhnliche Geschichte von der Spitzenklöpplerin und dem Rhinozeros 1961: Le Ballet de Gala: Idee, Bühnenbild und Kostüme von Dalí, Choreographie von Maurice Béjart, Musik von Alessandro Scarlatti 1975: Impressionen aus der inneren Mongolei, Film, inszeniert von Dalí === Von Dalí illustrierte Werke der Literatur === 1934: Comte de Lautréamont: Les Chants de Maldoror (Die Gesänge des Maldoror). Albert Skira, Paris 1934: Georges Hugnet: Onan. Éditions Surréalistes, Paris 1938: Paul Éluard: Cours Naturel. Sagittaire, Paris 1944: Maurice Sandoz: Fantastic Memories. Doubleday, New York 1945: Maurice Sandoz: The Maze. Doubleday, New York 1946: Miguel de Cervantes: The Life and Achievements of the Renowned Don Quixote de la Mancha. Random House, New York 1947: Michel de Montaigne: Essays. Doubleday, New York 1948: Billy Rose: Wine, Women and Words. Simon and Schuster, New York 1948: Benvenuto Cellini: The Autobiography of Benvenuto Cellini. Doubleday, New York 1948: Maurice Sandoz: Das Haus ohne Fenster. Morgarten, Zürich 1950: Maurice Sandoz: On the Verge. Doubleday, New York 1950–1952: Dante Alighieri: Commedia 102 Aquarelle 1951: Maurice Sandoz: La Limite. La Table Ronde, Paris 1954: Eugenio d’Ors: La verdadera historia de Lydia de Cadaqués. José Janés Editor, Barcelona 1957: Miguel de Cervantes: Don Quijote. Joseph Foret, Paris 1959: Pedro Antonio de Alarcon: Il Sombrero de tres picos (Der Dreispitz). Editions du Rocher, Monaco 1960: L’Apocalypse de Saint Jean. Joseph Foret, Paris 1963: Dante Alighieri: La Divine Comédie (Die Göttliche Komödie). Les Heures claires, Paris (Hinweise) 1963–1967: Die Bibel. Otus Verlag, ISBN 3-907194-31-4 1966: H. Chr. Andersen: Märchen Gerschmann, Schweden 1967: Dalí illustre Casanova 1967: Apollinaire: Poèmes secrets 1968: Pierre de Ronsard: Les Amours de Cassandre P. Argillet, Paris 1969: Johann Wolfgang von Goethe: Faust (Abb.) 1969: Lewis Carroll: Alice im Wunderland (Alice’s Adventures in Wonderland). Maecenas Press, Random House, New York (Abb.) 1970: André Mary: Tristan et Iseut. Michèle Broutta und andere 1970: Leopold von Sacher-Masoch: Venus im Pelz – La Vénus aux Fourrures. Pierre Argillet, Paris 1970: Prosper Merimée: Carmen 1972: Giovanni Boccaccio: Das Dekameron (Abb.) 1973: André Malraux: Roi, je t’attends à Babylone Skira, Genf 1974: Ernest Hemingway: Der alte Mann und das Meer 1974: Le Bestiaire de La Fontaine Les Maîtres Contemporains, Paris 1974: E. J. Tristan de Corbière: Les Amours Jaunes Pierre Belfond und andere 1974: John Milton: Paradise Lost 1975: Sigmund Freud: Der Mann Moses und der Monotheismus (frz. Übers.) Art et Valeur, Paris == Dalí-Museen == Salvador Dalí ist neben Pablo Picasso ein Künstler, für den es bereits zu Lebzeiten zwei Museen gab, die ausschließlich seinen Werken gewidmet waren. Das erste Museum, das Dalí Museum, wurde von den Dalí-Sammlern A. Reynolds Morse und Eleanor Morse gegründet und von Dalí am 7. März 1971 persönlich eröffnet. Das Ehepaar hatte über Jahrzehnte eine umfangreiche Sammlung aufgebaut und in einem Gebäude in der Nähe ihrer Residenz in Cleveland (Beachwood), Ohio, ausgestellt. Ende 1980 brachte man die Werke nach Saint Petersburg in Florida, wo 1982 ein neues Museum am Hafen eröffnet wurde. Es beherbergt 96 Ölgemälde Dalís, über 100 Aquarelle und Zeichnungen, 1300 Grafiken, Fotografien, Skulpturen, Schmuck sowie ein umfangreiches Archiv. Ein hurrikansicherer Neubau des Museums wurde in 22 Monaten von den Architekten Hellmuth, Obata + Kassabaum fertiggestellt und im Januar 2011 eröffnet.Das zweite Museum, das Teatre-Museu Dalí in seiner Heimatstadt Figueres in Spanien, war das frühere Theater der kleinen Gemeinde. Ab 1970 ließ Dalí es zu einem eigenen Museum umbauen, um sich selbst zu würdigen und aus Figueres wieder einen Anziehungspunkt zu machen. Es wurde 1974 eröffnet. In Spanien gibt es seit Mitte der 1990er-Jahre zwei weitere Museen. Es handelt sich um das Castell de Púbol, das seit 1970 der Wohnsitz seiner Frau war – schon 1930 hatte Dalí Gala versprochen, ein Schloss nur für sie allein einzurichten. Nach ihrem Tod 1982 war dieses Schloss für zwei Jahre Dalís Wohnsitz, bis er es nach einem Brand im Schlafzimmer 1984 verließ. Auch das Wohnhaus in Portlligat in der Gemeinde Cadaqués ist der Öffentlichkeit als Museum Casa-Museu Salvador Dalí zugänglich. In Paris zeigt das Espace Dalí in einer permanenten Ausstellung hauptsächlich seine Skulpturen und Radierungen. Das Museum nahe dem Place du Tertre auf dem Montmartre hat 300 Originalwerke in seiner Sammlung. Seit dem 5. Februar 2009 zeigte das Museum Dalí – Die Ausstellung am Potsdamer Platz am Leipziger Platz in Berlin über 450 Werke des spanischen Künstlers. Die Exponate – Grafiken, Illustrationen, Künstlerbücher sowie Arbeitsmappen und andere Dokumente – sind allesamt Originale, die von privaten Sammlern zur Verfügung gestellt wurden. Bis zum 20. Dezember 2021 war das Museum für den Publikumsverkehr geöffnet. Eine Wiedereröffnung an anderem Ort ist geplant. == Sekundärliteratur == Robert Descharnes, Gilles Néret: Salvador Dalí. 1904–1989. Originalausgabe Taschen, Köln 1989. Ausgabe 2006 bei Taschen unter der ISBN 3-8228-5005-5 (Zitate nach dieser Ausgabe). Meredith Etherington-Smith: Dalí, eine Biographie. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2002, ISBN 3-596-12880-3. Wolfgang Everling: Salvador Dalí als Autor, Leser und Illustrator. Zusammenhang von Texten und Bildern. Königshausen & Neumann, Würzburg 2007, ISBN 978-3-8260-3640-8. Herbert Genzmer: Dalí und Gala. Der Maler und die Muse. Rowohlt Verlag, Reinbek 1998, ISBN 3-87134-338-2. Ian Gibson: Salvador Dalí. Die Biographie. Deutsche Verlags-Anstalt, Stuttgart 2002, ISBN 3-421-05133-X. Carlton Lake: In Quest of Dali. Putnam, New York 1969; Neuausgabe Paragon House 1990, ISBN 1-55778-386-1. Amanda Lear: Dalí – 15 Jahre mit Salvador Dalí. Goldmann Verlag, München 1985, ISBN 3-442-06805-3. Detlef Lehmann: Die göttlichen Düfte – Salvador Dalí und seine Parfums (Katalog zur Museums-Ausstellung The divine Fragrances), Hrsg. John G. Bodenstein, EKS-Verlag Europäische Kultur Stiftung/Marco Verlag, Bonn-Paris-New York 2004, ISBN 978-3-921754-39-9. Conroy Maddox: Dalí. Benedikt Taschen Verlag, Köln 1985, ISBN 3-8228-0012-0. Wolfgang Maier-Preusker: Dalí als Illustrator. 100 ausgewählte Illustrationen 1944–1948. Wien 2005, ISBN 3-900208-27-1. Wolfgang Maier-Preusker: Dokumentation der Zustandsdrucke zu Dalís Farbholzstich „Luzifer“ aus der Suite: Dante-Die Göttliche Komödie von 1960–1963. Wien 2002, ISBN 3-900208-25-5. Wolfgang Maier-Preusker: Salvador Dalí. Die Farbholzstich-Illustrationen zum Dante-Zyklus ‚Die Göttliche Komödie’ im Bestand der Maecenas Sammlung. Museumspublikation. Wien 2004, ISBN 3-900208-19-0. George Orwell: Benefit of Clergy: Some Notes on Salvador Dalí, deutsch Zu Nutz und Frommen der Geistlichkeit: Einige Bemerkungen über Salvador Dalí. In: Ders.: Rache ist sauer, Essays, Diogenes Verlag, Zürich 1975, ISBN 3-257-20250-4, S. 39–52. Torsten Otte: Salvador Dalí – Eine Biographie mit Selbstzeugnissen des Künstlers. Königshausen & Neumann, Würzburg 2006, ISBN 3-8260-3306-X. Lisa Puyplat (Hrsg.): Salvador Dalí. Facetten eines Jahrhundertkünstlers, Königshausen & Neumann, Würzburg 2005, ISBN 3-8260-3021-4. Linde Salber: Salvador Dalí. Rowohlt Verlag, Reinbek 2004, ISBN 3-499-50579-7. Ralf Schiebler: Dalí – Die Wirklichkeit der Träume. Prestel Verlag, München 2004, ISBN 3-7913-2979-0. Wieland Schmied: Salvador Dalí – Das Rätsel der Begierde. Serie piper Galerie, Piper, München 1991, ISBN 3-492-11206-4. Christiane Weidemann: Salvador Dalí. Prestel Verlag, München 2007, ISBN 978-3-7913-3815-6 (Reihe LIVING ART). Volker Zotz: André Breton. Rowohlt Verlag, Reinbek 1990, ISBN 3-499-50374-3.Werkverzeichnisse Albert Field: The Official Catalog of the Graphic Works of Salvador Dalí, Salvador Dalí Archives Ltd., New York 1996, ISBN 0-9653611-0-1 Ralf Michler und Lutz W. Löpsinger: Salvador Dalí. Das druckgraphische Werk I: Oeuvrekatalog der Radierungen und Mixed-Media-Graphiken 1924–1980. Prestel Verlag, München 2. Auflage 1995, ISBN 3-7913-1285-5 und Ralf Michler und Lutz W. Löpsinger: Salvador Dalí. Das druckgraphische Werk II: Lithographien und Holzschnitte 1956–1980. Prestel Verlag, München 1995, ISBN 3-7913-1492-0 == Filme über Dalí == 1965: Dalí in New York, Doku-Film, Regie: Jack Bond 1967: L’autoportrait mou de Salvador Dalí, Regie: Jean-Christophe Averty 1970: The Soft Self Portrait of Salvador Dali, Sprecher Orson Welles 1992: Die geheime Sammlung des Salvador Dalí, fiktionale Dokumentation. Buch und Regie: Otto Kelmer 2009 Little Ashes, Film über die jungen Jahre Dalís, insbesondere seine Beziehung zu Lorca und Buñuel. Hauptrollen: Robert Pattinson, Javier Beltrán, Matthew McNulty und Arly Jover. 2014: Dalí & I. The Surreal Story. Regie: Andrew Niccol, Hauptrollen: Cillian Murphy und Al Pacino. Der Film erzählt die Lebensgeschichte des spanischen Malers nach dem gleichnamigen Buch von Stan Lauryssens. == Weblinks == Salvador Dalí bei Google Arts & Culture Literatur von und über Salvador Dalí im Katalog der Deutschen Nationalbibliothek Werke von und über Salvador Dalí in der Deutschen Digitalen Bibliothek Linkkatalog zum Thema Salvador Dalí bei curlie.org (ehemals DMOZ) Dalí Paris – Museum in Paris The Dalí Museum, St. Petersburg, Florida Museen in Púbol und Portlligat Stiftung Gala-Salvador Dalí Salvador Dalí auf kunstaspekte.de Materialien von und über Salvador Dalì im documenta-Archiv Dalí – Die Ausstellung am Potsdamer Platz (Berlin) Andrea Kath: 11. Mai 1904 - Geburtstag des Malers Salvador Dalí. WDR ZeitZeichen (Podcast) Salvador Dali on "What's My Line?" Dalí bei einem Live-Auftritt in einer US-Fernseh-Quizshow (Anfang der 1960er). YouTube, abgerufen am 23. November 2020 (englisch) == Einzelnachweise ==
https://de.wikipedia.org/wiki/Salvador_Dal%C3%AD
Olympische Spiele
= Olympische Spiele = Olympische Spiele (von altgriechisch τὰ Ὀλύμπια ta Olýmpia „die Olympischen Spiele“ neugriechisch ολυμπιακοί αγώνες olymbiakí agónes „olympische Wettkämpfe“) ist die Sammelbezeichnung für regelmäßig ausgetragene Sportwettkampfveranstaltungen, die „Olympischen Spiele“ und „Olympischen Winterspiele“. Bei diesen treten Athleten und Mannschaften in verschiedenen Sportarten gegeneinander an. Organisiert werden sie vom Internationalen Olympischen Komitee (IOC). Die Olympiade (von ολυμπιάδα) bezeichnet einen sich wiederholenden Zeitraum von vier Kalenderjahren, der erstmals am 1. Januar 1896 begonnen hat. Die Sommerspiele werden nach ihnen benannt, so beispielsweise die Olympischen Sommerspiele 2020, die offiziell Spiele der XXXII. Olympiade (die XXXII. Olympiade begann am 1. Januar 2020 und wird bis 31. Dezember 2023 dauern) heißen. Die Olympischen Spiele sind in ihrem Umfang stetig gewachsen, so dass mittlerweile fast jedes Land der Welt mit Sportlern vertreten ist. Neben den Fußball-Weltmeisterschaften gelten sie als das größte Sportereignis der Welt. Die Einführung der Olympischen Spiele der Neuzeit wurde 1894 als Wiederbegründung der antiken Festspiele in Olympia auf Anregung von Pierre de Coubertin beschlossen. Als „Treffen der Jugend der Welt“ sollten sie dem sportlichen Vergleich und der Völkerverständigung dienen, sie ersetzten die seit 1856 stattfindenden Olympien. Seit 1896 finden alle vier Jahre Olympische Spiele und seit 1924 Olympische Winterspiele statt. Seit 1994 alternieren Winter- und Sommerspiele im zweijährigen Rhythmus. Eine Ausnahme bilden die 32. Olympischen Sommerspiele in Tokio. Diese hätten turnusgemäß 2020 stattfinden sollen, wurden aber wegen der COVID-19-Pandemie auf das Jahr 2021 verschoben. Das IOC übernimmt auch die Schirmherrschaft für die Paralympics als Wettkämpfe behinderter Sportler, der Deaflympics, Special Olympics und der World Games für nichtolympische Sportarten. Darüber hinaus gibt es seit 2010 die Olympischen Jugendspiele, die für Jugendliche im Alter von 14 bis 18 Jahren bestimmt sind. == Olympische Spiele der Antike == Der Ursprung der Olympischen Spiele der Antike liegt vermutlich im 2. Jahrtausend v. Chr. Die Siegerlisten reichen bis ins Jahr 776 v. Chr. zurück und wurden im 4. Jahrhundert v. Chr. rekonstruiert. Die Zählung nach Olympiaden war ein Zeitmaß im gesamten antiken Griechenland. „Olympiade“ ist somit – entgegen einem heute weit verbreiteten Irrtum – nicht synonym mit „Olympische Spiele“, sondern bezeichnet den Zeitraum von vier Jahren, der mit den Spielen beginnt. Die Olympischen Spiele, benannt nach ihrem Austragungsort Olympia im Nordwesten der Halbinsel Peloponnes, waren Teil eines Zyklus, der drei weitere Panhellenische Spiele umfasste: Die Pythischen Spiele in Delphi, die Nemeischen Spiele in Nemea und die Isthmischen Spiele auf dem Isthmus von Korinth.In der Anfangszeit gab es nur einen Wettlauf über die Distanz des Stadions (192,24 Meter). Die Spiele erhielten mit der Zeit eine immer größere Bedeutung. Sie waren aber keine „Sportveranstaltung“ in unserem heutigen Sinne, sondern ein religiöses Fest zu Ehren des Göttervaters Zeus und des göttlichen Helden Pelops. In ihrer Blütezeit dauerten die Spiele fünf Tage – der erste Tag war bestimmt von kultischen Zeremonien wie Weihehandlungen und dem Einzug der Athleten, Betreuer, Schiedsrichter und Zuschauer in den heiligen Hain von Olympia. Neben den Wettkämpfen – zuletzt waren es 18 in den Sportarten Leichtathletik, Schwerathletik, Pentathlon und Reiten – waren musische Wettbewerbe ebenso wichtig. Nicht der Sport als solcher stand im Mittelpunkt, sondern die religiöse Komponente.Die eigentlichen Spiele begannen mit dem Umzug aller Beteiligten zum Tempel des Zeus. Hier schworen die Athleten, sich an die Regeln der Spiele zu halten. Die Sieger erhielten einen Siegeskranz (Kotinos) sowie ein Stirnband. Man sah sie als „von den Göttern begünstigt“ an und verewigte sie mit Gedichten und Statuen. Jede Niederlage, sogar schon ein zweiter oder dritter Platz, galt als untilgbare Schmach. Die Verlierer kehrten auf Schleichwegen in ihre Heimat zurück, um dem Spott zu entgehen, der sie erwartete. Als berühmtester Olympionike der Antike gilt der Ringer Milon von Kroton, der erste namentlich bekannte ist Koroibos.Die antiken Spiele waren aus heutiger Sicht außerordentlich brutal, jeder Teilnehmer in den klassischen Kampfsportarten (Boxen, Ringen, Stockfechten, Pankration) musste auch mit dem Tod rechnen und teilweise wurden Kämpfer für ihr Durchhalten zum Sieger erklärt, nachdem ihr Tod im Kampf festgestellt worden war.Als die Römer im Jahr 148 v. Chr. Griechenland eroberten, verloren die Olympischen Spiele ihren panhellenischen Charakter. Von nun an war es auch nichtgriechischen Athleten gestattet, teilzunehmen. Im Jahr 393 wurden alle heidnischen Zeremonien, darunter auch die Olympischen Spiele, vom römischen Kaiser Theodosius I. verboten. Der Kultbetrieb in Olympia wurde aber wohl bis zum Anfang des 5. Jahrhunderts n. Chr. aufrechterhalten. Erst Theodosius II. verbot die Olympischen Spiele im Jahr 426 endgültig. Es gibt allerdings Anzeichen dafür, dass anschließend die Wettkämpfe heimlich und auf niedrigerem Niveau fortbestanden, bis Naturkatastrophen die Kultstätte im 6. Jahrhundert zerstörten. == Die Olympischen Spiele der Neuzeit == === Vorläufer === Die olympische Idee ging nicht ganz verloren. So fanden im Westen Englands zu Beginn des 17. Jahrhunderts erstmals die Cotswold Olympick Games statt. Ein weiterer Versuch, die Olympischen Spiele wiederzubeleben, waren die Olympiades de la République, die von 1796 bis 1798 jährlich im revolutionären Frankreich ausgetragen wurden. Auf diese Veranstaltung geht auch die Verwendung des metrischen Systems im Sport zurück. 1850 führte die landwirtschaftliche Lesegesellschaft von Much Wenlock in der englischen Grafschaft Shropshire eine „olympische Klasse“ ein. Daraus entwickelten sich zehn Jahre später die Wenlock Olympian Games, die bis heute unter der Bezeichnung Wenlock Olympian Society Annual Games fortgeführt werden. 1866 organisierte William Penny Brookes, der Vorsitzende der Wenlock Olympian Society, nationale Olympische Spiele im Londoner Crystal Palace.Das griechische Interesse an der Wiedereinführung der Olympischen Spiele erwachte nach der Griechischen Revolution gegen die Herrschaft des Osmanischen Reiches. Der Dichter und Verleger Panagiotis Soutsos machte den ersten entsprechenden Vorschlag in seinem 1833 veröffentlichten Gedicht „Dialog der Toten“. Als wichtigster Vorläufer der modernen Olympischen Spiele gelten die Olympien, die ihrerseits das Münchner Oktoberfest zum Vorbild hatten. Sie wurden vom wohlhabenden griechischen Kaufmann Evangelos Zappas ins Leben gerufen und durch eine königliche Verfügung von Otto I. als eine nationale Aufgabe von hohem Rang angesehen, die auch internationale Beachtung erfuhr. Die erste Ausgabe fand 1859 im Stadtzentrum Athens statt. Zappas ließ das Panathinaiko-Stadion instand setzen, das bis 1889 Austragungsort weiterer Olympien war. === Wiederbelebung der Spiele === Nachdem 1766 die Sport- und Tempelanlagen von Olympia wiederentdeckt worden waren, begannen 1875 groß angelegte archäologische Ausgrabungen unter der Leitung des deutschen Archäologen und Althistorikers Ernst Curtius. Um diese Zeit kam in Europa die romantisch-idealistische Antiken-Rezeption immer mehr in Mode; der Wunsch nach einer Wiedererweckung des olympischen Gedankens verbreitete sich. Beispielsweise beim Volksfest „Die Lust am Drehberge“ bei Dessau 1776 bis 1799. So sagte Baron Pierre de Coubertin damals: „Deutschland hatte das ausgegraben, was vom alten Olympia noch vorhanden war. Warum sollte Frankreich nicht die alte Herrlichkeit wiederherstellen?“ Nach de Coubertins Meinung war die mangelnde körperliche Ertüchtigung der Soldaten eine der Hauptursachen für die Niederlage Frankreichs im Deutsch-Französischen Krieg von 1870/71 gewesen. Er strebte danach, diesen Zustand durch die verbindliche Einführung von Sportunterricht an den Schulen zu verbessern. Gleichzeitig wollte er nationale Egoismen überwinden und zum Frieden und zur internationalen Verständigung beitragen. Die „Jugend der Welt“ sollte sich bei sportlichen Wettkämpfen messen und sich nicht auf den Schlachtfeldern bekämpfen. Die Wiederbelebung der Olympischen Spiele schien in seinen Augen die beste Lösung zu sein, um diese Ziele zu erreichen. Die Wenlock Olympian Games, die de Coubertin 1890 besuchte, bestärkten ihn in der Ansicht, dass eine Wiedereinführung der Olympischen Spiele im großen Rahmen möglich sei. Er griff Brookes und Zappas’ Ideen auf und fügte selbst das Prinzip der Rotation zwischen verschiedenen Austragungsländern hinzu. De Coubertin präsentierte einer internationalen Zuhörerschaft seine Vorstellungen auf einem Kongress, der vom 16. bis 23. Juni 1894 in der Sorbonne-Universität in Paris stattfand und als erster Olympischer Kongress in die Geschichte einging. Am letzten Tag des Kongresses beschlossen die Teilnehmer, dass die ersten Olympischen Spiele der Neuzeit 1896 in Athen stattfinden sollten, also im Ursprungsland. Um die Spiele zu organisieren, wurde das Internationale Olympische Komitee (IOC) gegründet. Erster Präsident wurde der Grieche Dimitrios Vikelas, während de Coubertin zunächst als Generalsekretär amtierte.Die ersten Spiele der Neuzeit erwiesen sich als großer Erfolg. Obwohl nur rund 250 Athleten teilnahmen, waren sie ein großes sportliches Ereignis. Die griechischen Offiziellen waren vom Erfolg derart begeistert, dass sie den Vorschlag machten, die Spiele zukünftig immer in Griechenland stattfinden zu lassen. Doch das IOC hielt am Rotationsprinzip zwischen verschiedenen Ländern fest.Nach dem Anfangserfolg geriet die olympische Bewegung in eine Krise. Die Spiele von 1900 in Paris und 1904 in St. Louis waren in die parallel stattfindenden Weltausstellungen eingebettet. Die Wettkämpfe zogen sich über mehrere Monate hin, waren schlecht organisiert und wurden kaum beachtet, zudem nahmen in St. Louis nur wenige Ausländer teil. Bei den Olympischen Zwischenspielen 1906 in Athen standen die sportlichen Wettkämpfe wieder im Vordergrund. Das IOC stimmte der Austragung zwar widerstrebend zu, erkannte die Resultate jedoch nie offiziell an. Von manchen Sporthistorikern werden diese Spiele als Rettung der olympischen Idee angesehen, da sie das Absinken in die Bedeutungslosigkeit verhinderten. === Weitere Entwicklung === Die Wintersportart Eiskunstlauf stand 1908 und 1920 auf dem Programm von Sommerspielen, Eishockey 1920. Das IOC wollte diese Liste erweitern, um andere winterliche Aktivitäten abzudecken. Am Olympischen Kongress 1921 in Lausanne fiel der Beschluss, dass die Organisatoren der Sommerspiele 1924 zusätzlich eine „internationale Wintersportwoche“ unter der Schirmherrschaft des IOC veranstalten sollten. Diese „Woche“ (eigentlich waren es elf Tage) in Chamonix erwies sich als großer Erfolg, weshalb das IOC 1925 beschloss, sie rückwirkend als I. Olympische Winterspiele anzuerkennen und weitere Veranstaltungen dieser Art zukünftig im selben Jahr wie die Sommerspiele auszurichten.1986 beschloss das IOC, beginnend mit 1994 einen separaten Zyklus zu eröffnen und die Winterspiele „im zweiten Kalenderjahr, das jenem folgt, in dem die Spiele der Olympiade abgehalten werden“ auszutragen. Ludwig Guttmann strebte danach, die Rehabilitierung körperlich behinderter Soldaten des Zweiten Weltkriegs zu fördern und sie so in die Gesellschaft zu integrieren. Er organisierte 1948 einen mehrere Sportarten umfassenden Wettstreit zwischen verschiedenen Spitälern. Diese Stoke Mandeville Games entwickelten sich zu einem jährlich ausgetragenen Sportereignis. Guttmann und andere verstärkten ihre Öffentlichkeitsarbeit, bis schließlich 1960 die ersten Paralympics stattfanden. Diese werden seither alle vier Jahre ausgetragen (seit 1976 auch im Winter). Seit 1988 sind die Austragungsorte der Paralympics und der Olympischen Spiele identisch. Ebenfalls vom IOC anerkannt sind die seit 1968 durchgeführten Special Olympics für Menschen mit geistiger Behinderung, die 1924 eingeführten Deaflympics für Gehörlose und die seit 1981 stattfindenden World Games für nichtolympische Sportarten mit hoher weltweiter Verbreitung. Die Olympischen Jugendspiele für jugendliche Sportler im Alter von 14 bis 18 Jahren gehen auf eine Idee von IOC-Präsident Jacques Rogge zurück. 2007 fiel der Beschluss zur Einführung, 2010 fanden in Singapur erstmals Olympische Jugend-Sommerspiele statt, die Olympischen Jugend-Winterspiele wurden erstmals 2012 in Innsbruck ausgetragen.Von 1912 bis 1948 fanden zusätzlich olympische Kunstwettbewerbe statt. In den Jahren 1924, 1932 und 1936 wurde mit dem Prix olympique d’alpinisme auch ein Preis für herausragende Leistungen im Bergsteigen vergeben. === Wachstum === An den ersten Olympischen Spielen der Neuzeit hatten 1896 rund 250 Athleten aus 14 Ländern teilgenommen. Im Laufe der Jahre stiegen die Teilnehmerzahlen ständig. Beispielsweise nahmen an den Sommerspielen 2008 in Peking über 11.000 Athleten aus 204 Ländern an 302 Wettbewerben teil. Die Anzahl der Teilnehmer bei Winterspielen ist im Vergleich dazu bedeutend geringer, bei den Winterspielen 2006 in Turin waren etwas mehr als 2.500 Athleten aus 80 Ländern gemeldet, die in 84 Wettbewerben an den Start gingen. Die Zahl der Mitgliedsländer des IOC beträgt 205 (vgl. Liste im Artikel Nationales Olympisches Komitee). Sie ist höher als jene der Länder, die von den Vereinten Nationen anerkannt werden (momentan 193). Das bedeutet, dass es 13 weitere IOC-Mitglieder gibt. Der Grund dafür ist, dass auch Nationen zugelassen sind, die nicht die strikten Anforderungen für politische Souveränität erfüllen, wie dies von den meisten anderen internationalen Organisationen verlangt wird. Als Folge davon besitzen mehrere Kolonien bzw. abhängige Gebiete eigene Delegationen, die getrennt von ihren Mutterländern teilnehmen. == Organisation == === Olympische Bewegung === Eine Vielzahl nationaler und internationaler Sportorganisationen und -verbände, anerkannte Medienpartner sowie Athleten, Betreuer, Schiedsrichter und jede andere Person oder Organisation, die sich zur Einhaltung der Olympischen Charta verpflichtet hat, bilden zusammen die so genannte olympische Bewegung. Ihre Dachorganisation ist das Internationale Olympische Komitee (IOC) mit Sitz in Lausanne, das seit 2013 von Thomas Bach präsidiert wird. Das IOC hält die Schirmherrschaft über die olympische Bewegung und beansprucht alle Rechte an den olympischen Symbolen sowie den Spielen selbst. Seine Hauptverantwortung liegt in der Betreuung und Mitorganisation der Olympischen Spiele und der Paralympics, der Auswahl der Austragungsorte und der Sportarten sowie der Vermarktung der Übertragungsrechte.Die olympische Bewegung besteht aus drei Hauptkomponenten: Internationale Sportverbände wie z. B. die FIFA, die FIS oder die UCI sind für die Einhaltung der Regeln in ihren jeweiligen Sportarten zuständig. Nationale Olympische Komitees vertreten das IOC in den einzelnen Mitgliedsländern und selektieren die Athleten, die an den Spielen teilnehmen. Organisationskomitees der Olympischen Spiele planen und überwachen die Ausrichtung der Veranstaltungen in den einzelnen Olympiastädten. Sie bestehen nur ein paar Jahre und werden jeweils nach Ende der Veranstaltung aufgelöst, sobald der offizielle Schlussbericht vorliegt.Englisch und Französisch sind die offiziellen Sprachen der olympischen Bewegung. Hinzu kommt bei jeder Austragung die Amtssprache des jeweiligen Austragungslandes. Jede Proklamation geschieht in diesen drei Sprachen oder in den zwei Hauptsprachen, falls die Amtssprache eines Landes Englisch oder Französisch ist.In den Delegationen einiger Nationen reist geistlicher Beistand mit. Für die deutsche Mannschaft waren das 2004 in Athen, 2008 in Peking und 2012 in London die Geistlichen Hans-Gerd Schütt und Thomas Weber. === Austragungsorte === Die Gastgeberstadt von Olympischen Spielen wird sieben Jahre vor der Austragung bestimmt. Der Auswahlprozess umfasst zwei Phasen, die sich über zwei Jahre erstrecken. Eine Stadt bewirbt sich zunächst beim NOK ihres Landes. Falls mehr als eine Stadt im selben Land eine Kandidatur einreicht, führt das NOK eine interne Selektion durch, da dem IOC nur eine Stadt pro Land präsentiert werden darf. Nach Ablauf der Vorschlagsfrist beginnt die erste Phase. Die Organisationskomitees der Städte werden aufgefordert, einen detaillierten Fragebogen zu verschiedenen Schlüsselkriterien in Bezug auf die Organisation von Olympischen Spielen auszufüllen. Die Bewerberstädte müssen versichern, dass sie die Olympische Charta und andere vom Exekutivkomitee des IOC aufgestellte Vorschriften einhalten werden. Ein spezialisierter Ausschuss prüft anhand der Fragebögen die Projekte aller Bewerber und deren Potenzial, die Spiele auszurichten. Basierend auf dieser Evaluation bestimmt das IOC-Exekutivkomitee jene Bewerber, die in die zweite Bewerbungsphase vorrücken.In der zweiten Bewerbungsphase müssen die Städte dem IOC eine umfangreichere und detailliertere Projektpräsentation vorlegen. Jede Stadt wird von der Evaluationskommission eingehend analysiert. Die Kommissionsmitglieder besuchen die Kandidatenstädte, wo sie Vertreter lokaler Behörden befragen und die Standorte der vorgesehenen Sportanlagen inspizieren. Einen Monat vor der endgültigen Entscheidung des IOC veröffentlicht die Kommission einen Bericht mit ihren Beurteilungen. Während der zweiten Phase müssen die Städte auch finanzielle Garantien abgeben. Nach Vorliegen des Evaluationsberichts stellt das IOC-Exekutivkomitee die endgültige Liste der Kandidaten zusammen. Die Vergabe der Spiele findet bei der Generalversammlung der IOC-Mitglieder statt; diese treffen sich in einer Stadt, die nicht in einem Land mit einer Kandidatur liegt. In geheimer Abstimmung wird schließlich der Austragungsort bestimmt. Nach der Wahl unterzeichnet das erfolgreiche Organisationskomitee (zusammen mit dem NOK des entsprechenden Landes) einen Vertrag (Host City Contract) mit dem IOC. == Symbole und Zeremonien == === Symbole === Die olympische Bewegung verwendet mehrere weltweit (in Deutschland durch das Olympiaschutzgesetz) geschützte Symbole, die durch die Olympische Charta festgelegt werden. Das bekannteste ist die olympische Flagge mit den fünf verschiedenfarbigen, verschlungenen Ringen auf weißem Feld. Die sechs Farben Weiß, Rot, Blau, Grün, Gelb und Schwarz wurden deshalb gewählt, weil die Flagge jedes Landes der Welt mindestens eine dieser Farben aufweist. Weiterhin steht die Anzahl der Ringe für die fünf Erdteile (klassische Zählweise). Die Flagge wurde 1914 entworfen und wird seit den Sommerspielen 1920 in Antwerpen gehisst.Das offizielle Motto der olympischen Bewegung lautet citius, altius, fortius (Latein für „schneller, höher, stärker“). De Coubertins Ideale spiegeln sich am besten im olympischen Credo wider: „Das Wichtigste an den Olympischen Spielen ist nicht der Sieg, sondern die Teilnahme, wie auch das Wichtigste im Leben nicht der Sieg, sondern das Streben nach einem Ziel ist. Das Wichtigste ist nicht, erobert zu haben, sondern gut gekämpft zu haben.“ Einige Monate vor den Spielen wird an historischer Stätte in Olympia in einer an antike Rituale angelehnten Zeremonie die olympische Fackel entzündet. Eine als Priesterin verkleidete Schauspielerin entfacht die Fackel mittels eines Parabolspiegels und übergibt sie dem ersten Läufer des anschließenden Staffellaufs. Dieser Lauf führt von Olympia bis zum Hauptstadion der jeweiligen Gastgeberstadt, wo die Flamme während der Dauer der Veranstaltung brennt. Das erste Mal wurde bei den Sommerspielen 1928 in Amsterdam ein olympisches Feuer entzündet. Es gab jedoch damals weder einen Fackellauf vor der Eröffnungsfeier, noch wurde das Feuer von einer bestimmten Person entzündet. Nach einer Idee von Carl Diem fand der erste Fackellauf vor den Sommerspielen 1936 in Berlin statt, 1952 in Oslo der erste Fackellauf anlässlich von Winterspielen.Die Übergabe einer eigenen Olympiafahne an den nächsten Ausrichter der Spiele ist seit 1924 in Paris üblich und fester Bestandteil der Olympischen Spiele. Zunächst wurde die sogenannte Antwerpen-Fahne innerhalb der Schlussfeier an den Ausrichter der gegenwärtigen Spiele übergeben. Bei den ersten Spielen nach dem Zweiten Weltkrieg, 1948 in London, übergab zunächst ein Offizier der schottischen Garde die Fahne an den damaligen Präsidenten Edström, der sie an den Bürgermeister von London weiterreichte. Dieses Zeremoniell wurde 1960 in die Eröffnungsfeier verschoben. Durch die Weigerung der damaligen Sowjetunion, an den Spielen 1984 teilzunehmen, erhielt der Bürgermeister der Stadt Los Angeles die Antwerpen-Fahne aus den Händen des damaligen IOC-Präsidenten Samaranch. Bei der Schlussfeier wurde die Fahne an die Delegation von Seoul übergeben. Aufgrund der zunehmenden Beanspruchung der historischen Fahne wurde in Seoul eine neue Fahne in Auftrag gegeben, die seitdem weitergereicht wird. Seit den Winterspielen 1968 in Grenoble gibt es zu Promotionszwecken ein offizielles olympisches Maskottchen, üblicherweise eine heimische Tierart der Austragungsregion, seltener auch eine menschliche Figur, die das kulturelle Erbe repräsentiert. === Eröffnungsfeier === Die Eröffnungsfeiern der Olympischen Spiele umfassen eine Reihe traditioneller Elemente, die in der Olympischen Charta festgelegt sind. Die Feier beginnt üblicherweise mit dem Hissen der Flagge und dem Abspielen der Nationalhymne des Gastgeberlandes. Es folgen verschiedene künstlerische Darbietungen (Musik, Gesang, Tanz, Theater), die die Kultur des Gastgeberlandes repräsentieren. Deren Größe und Komplexität sind mit den Jahren stetig gewachsen, da jedes Gastgeberland danach strebt, die früheren Feiern zu übertreffen und einen bleibenden Eindruck zu hinterlassen. So betrugen die Kosten der Eröffnungsfeier der Sommerspiele 2008 in Peking über 100 Millionen Dollar.Anschließend beginnt der Einmarsch der teilnehmenden Athleten ins Stadion, jeweils ein Athlet geht einige Schritte vor dem Rest seiner Mannschaft und trägt dabei die Flagge seines Landes. Bei den Olympischen Spielen Tokio 2020 im Jahr 2021 trug erstmals ein Duo aus Laura Ludwig und Patrick Hausding gemeinsam die deutsche Flagge. Seit 1928 marschiert stets die Mannschaft Griechenlands als erste ins Stadion, um an die antike Tradition zu erinnern. Danach folgen die weiteren teilnehmenden Nationen in alphabetischer Reihenfolge der Hauptsprache des Gastgeberlandes. Falls die Sprache des Gastgeberlandes kein Alphabet mit fester Reihenfolge kennt, verläuft der Einmarsch gemäß der englischen oder französischen Sprache. 2008 in Peking war die Zahl der Striche des chinesischen Schriftzeichens für den Ländernamen maßgeblich. Den Abschluss des Einmarschs bildet die Mannschaft des Gastgeberlandes.Sind alle Athleten eingetroffen, hält der Vorsitzende des Organisationskomitees eine kurze Rede. Auf diesen folgt der Präsident des IOC, der am Ende seiner Rede das Staatsoberhaupt des Gastgeberlandes vorstellt. Dieses wiederum eröffnet formell die Spiele. Als Nächstes wird die olympische Hymne gespielt, während die olympische Flagge ins Stadion getragen wird (seit 1960). Danach versammeln sich die Flaggenträger aller teilnehmenden Länder um ein Podium. Auf diesem sprechen ein Athlet (seit 1920) und ein Schiedsrichter (seit 1972) den olympischen Eid, mit dem sie das Einhalten der Regeln versprechen.Zuletzt trägt der vorletzte Läufer des Staffellaufs die olympische Fackel ins Stadion und übergibt sie an den letzten Läufer. Dieser, oftmals ein sehr bekannter und erfolgreicher Sportler des Gastgeberlandes, entzündet dann mit der Fackel das Feuer in einer großen Schale. Ab 1920 wurden auch Friedenstauben freigelassen; man strich diesen Programmpunkt jedoch wieder, nachdem 1988 in Seoul einige Tauben im olympischen Feuer verbrannt waren. === Medaillenverleihungen === Athleten (oder Mannschaften), die sich in einem olympischen Wettbewerb an erster, zweiter oder dritter Stelle klassieren, erhalten Medaillen als Auszeichnung überreicht. Bei der Verleihung stehen die Sportler auf einem Podest und die Nationalhymne des Siegerlandes wird gespielt. Der Sieger erhält eine Goldmedaille. Dabei handelt es sich um Silbermedaillen mit einem goldenen Überzug; das IOC schreibt vor, dass die Medaille zu mindestens 92,5 % aus Silber bestehen und sechs Gramm Gold enthalten sein müssen. Der Zweitplatzierte erhält eine Medaille aus mindestens 92,5 % Silber, der Drittplatzierte eine aus Bronze. In einigen Wettbewerben, die im K.-o.-System ausgetragen werden (beispielsweise Boxen), werden beiden Halbfinalverlierern Bronzemedaillen überreicht. 1896 und 1900 wurden nur die zwei Besten mit Medaillen ausgezeichnet (Silber für den Ersten und Bronze für den Zweiten). 1904 erhielt erstmals der Sieger eine Goldmedaille, die anderen Medaillenfarben versetzte man um einen Platz nach unten. Seit 1948 erhalten die Athleten auf den Plätzen 4 bis 6 olympische Diplome (seit 1976 auch die drei Medaillengewinner). Seit 1984 erhalten auch die Siebt- und Achtplatzierten Diplome. Damit sollten nicht nur alle Teilnehmer eines Viertelfinales gewürdigt werden, es entfiel auch die Notwendigkeit, in Wettkämpfen mit K.-o.-System Platzierungskämpfe um die Plätze 5 bis 8 auszutragen. === Schlussfeier === Die Schlussfeier findet statt, wenn alle sportlichen Wettkämpfe abgeschlossen sind. Seit 1956 sind die Schlussfeiern weit weniger formell und strukturiert als die Eröffnungsfeiern. Erneut marschieren die Athleten ins Stadion ein, diesmal jedoch nicht nach Ländern geordnet, sondern bunt gemischt. Damit wird die Verbundenheit der Athleten nach Ende der Wettkämpfe symbolisiert. Der IOC-Präsident hält eine Rede, in der er den Erfolg der Spiele betont. Danach übergibt er Mitgliedern des Organisationskomitees den Olympischen Orden und erklärt die Spiele für beendet; gleichzeitig ruft er „die Jugend der Welt“ auf, sich in vier Jahren erneut zu versammeln. Traditionell werden drei Flaggen gehisst, jene Griechenlands, des aktuellen und des nächsten Gastgeberlandes. Darüber hinaus wird seit 1984 in Los Angeles dem Bürgermeister der nächsten Olympiastadt die olympische Flagge übergeben. Zuvor war dies bei der Eröffnungsfeier der Fall gewesen, nur dass da die vorangegangene Stadt die Flagge an den aktuellen Ausrichter übergeben hat. Zuletzt werden die olympische Hymne gespielt und das olympische Feuer gelöscht. Anschließend stellt sich der Gastgeber der nächsten Olympischen Spiele mit einer kurzen kulturellen Darbietung vor. Ende des 20. Jahrhunderts hat es sich eingebürgert, dass im Anschluss ein Rock- und Popkonzert folgt, das aber nicht mehr zum offiziellen Teil gehört. == Sport == === Olympische Sportarten === Das aktuelle Programm der Olympischen Spiele umfasst insgesamt 35 Sportarten, davon 28 im Sommer und sieben im Winter. Bei dieser Zählweise des IOC werden die Sportarten nach Sportverbänden zusammengefasst. Werden diese wie üblich aufgeteilt, ergeben sich 41 Sommersportarten und 15 Wintersportarten (siehe olympische Sportarten). Im Programm sämtlicher Sommerspiele enthalten waren Leichtathletik, Schwimmen, Fechten und Kunstturnen. Bei sämtlichen Winterspielen wurden Wettkämpfe im nordischen Skisport, Eisschnelllauf, Eiskunstlauf und Eishockey ausgetragen, die beiden letztgenannten vor 1924 auch bei Sommerspielen. Bis 1992 wurden oft auch Wettkämpfe in so genannten Demonstrationssportarten durchgeführt. Absicht war es, diese Sportarten einem größeren Publikum vorzustellen. Die Gewinner dieser Wettbewerbe gelten nicht als offizielle Olympiasieger. Manche Sportarten waren nur in den jeweiligen Gastgeberländern populär, andere hingegen werden weltweit betrieben. Einige dieser Demonstrationssportarten wie Curling und Taekwondo wurden schließlich ins offizielle Programm aufgenommen. Reglementiert werden die olympische Sportarten von internationalen Sportverbänden, die das IOC als globale Aufsichtsbehörden anerkennt. Zurzeit sind 35 Sportverbände im IOC vertreten. Darüber hinaus erkennt das IOC aufgrund weltweiter Verbreitung und Einhaltung bestimmter Standards diverse Sportverbände an, die nicht im offiziellen Wettkampfprogramm mit Wettbewerben vertreten sind (siehe Liste der vom IOC anerkannten internationalen Verbände). Im Rahmen einer Programmrevision anlässlich einer IOC-Session können solche Sportarten mit einer Zweidrittelmehrheit der IOC-Mitglieder ins offizielle Programm aufgenommen oder auch ausgeschlossen werden.2004 bildete das IOC eine Kommission (Olympic Programme Commission), die mit der Beurteilung des olympischen Programms und aller nichtolympischen Sportarten der anerkannten Verbände beauftragt wurde. Ziel war es, für die Planung des Programms zukünftiger Olympischer Spiele ein systematisches Vorgehen festzulegen. Die Kommission legte sieben Kriterien fest, an denen eine aufzunehmende Sportart gemessen wird: Geschichte und Tradition der Sportart, Verbreitung, Beliebtheit, Gesundheit der Athleten, Entwicklung des zuständigen Sportverbandes und Kosten der Ausrichtung. Erstmals kam dieses Verfahren 2005 zur Anwendung, als das IOC-Exekutivkomitee anlässlich der Session in Singapur fünf Sportarten empfahl. Squash und Karate kamen in die engere Auswahl, erhielten jedoch nicht die notwendige Zweidrittelmehrheit, um ins offizielle Programm aufgenommen zu werden. Erfolgreich waren vier Jahre später am Olympischen Kongress 2009 in Kopenhagen die Sportarten Golf und 7er-Rugby, die seit 2016 Teil des Programms sind.An seiner Session in Mexiko-Stadt im Jahr 2002 beschloss das IOC, das Programm der Olympischen Sommerspiele auf 28 Sportarten, 301 Wettbewerbe und 10.500 Athleten zu begrenzen. Drei Jahre später wurde in Singapur die erste umfassende Programmrevision vorgenommen. Dabei fiel der Beschluss, Baseball und Softball aus dem Programm der Sommerspiele 2012 zu streichen. Da sich die IOC-Mitglieder nicht über die Aufnahme zweier anderer Sportarten als Ersatz einigen konnten, standen 2012 nur 26 Sportarten auf dem Programm. Mit der Aufnahme von Golf und Rugby sind es seit 2016 wieder 28. Ab 2020 werden auch Wettbewerbe im Skateboarden durchgeführt werden. === Amateurstatus und Profisport === Pierre de Coubertin war maßgeblich vom Ethos der Aristokratie beeinflusst, das an englischen Privatschulen vorgelebt wurde. Ihrer Ansicht nach bildete Sport einen wichtigen Teil der Erziehung; eine Haltung, die in der Redewendung mens sana in corpore sano (lat.: „ein gesunder Geist in einem gesunden Körper“) zum Ausdruck kommt. Gemäß diesem Ethos war ein Gentleman eine Person, die vieles gut kann, nicht jedoch der beste auf einem bestimmten Gebiet sei. Vorherrschend war auch das Konzept der Fairness, das Üben oder Training mit Betrug gleichsetzte. Profisportler hatten somit den Ruf, sich gegenüber Amateuren einen unfairen Vorteil zu verschaffen. Der Ausschluss von Profis von der Teilnahme an Olympischen Spielen hatte zur Folge, dass es immer wieder zu Kontroversen und aufsehenerregenden Konflikten um die Ausgrenzung oder Zulassung von Sportlern kam. Beispielsweise wurde Jim Thorpe, der Olympiasieger von 1912 im Fünfkampf und im Zehnkampf, disqualifiziert, nachdem bekannt geworden war, dass er zuvor halbprofessionell Baseball gespielt hatte; erst 1983 rehabilitierte ihn das IOC. Skiläufer aus der Schweiz und Österreich blieben den Winterspielen 1936 fern, um damit ihre Solidarität mit den Skilehrern zu bekunden, die gemäß Weisung des IOC als Profisportler nicht teilnahmeberechtigt waren. IOC-Präsident Avery Brundage schloss den österreichischen Skiläufer Karl Schranz kurz vor den Winterspielen 1972 in Sapporo wegen eines Verstoßes gegen den Amateurstatus aus. Als Schranz nach Wien zurückkehrte, bereiteten ihm mehrere Zehntausend Menschen einen heroischen Empfang.Die aristokratisch geprägten Amateurregeln wurden immer offensichtlicher von der Entwicklung des Sports überholt und galten zunehmend als Heuchelei. Insbesondere waren Athleten aus kommunistisch regierten Ländern eigentlich Staatsangestellte („Staatsamateure“), die effektiv die Möglichkeit erhielten, sich vollständig dem Sport zu widmen und deshalb nur dem Namen nach Amateure waren. Weiterhin hatten Sportler in westlichen Ländern die Möglichkeit, sich als Sportsoldaten ausschließlich auf das Training zu konzentrieren. Auch Sportler aus finanziell abgesicherten sozialen Schichten waren in der Lage, sich ohne berufliche Tätigkeit der Wettkampfvorbereitung zu widmen. Dennoch hielt das IOC lange unbeirrt am Amateurstatus fest.Ab Ende der 1970er Jahre wurden die Amateurregeln gelockert und in den 1990er Jahren schließlich ganz aufgehoben. Das sichtbarste Zeichen für diesen Sinneswandel war die Zulassung des „Dream Team“, das gänzlich aus gutbezahlten NBA-Stars zusammengesetzt war und 1992 überlegen die Basketballgoldmedaille gewann. Von 2004 bis 2016 war Boxen die einzige Sportart, in der keine Profis zugelassen waren, wobei selbst hier der Amateurstatus sich auf die Kampfregeln bezog und nicht auf die Bezahlung. Seit 2016 dürfen auch Profiboxer antreten. Im Fußballturnier der Männer (jedoch nicht in jenem der Frauen) ist die Anzahl der über 23-jährigen Spieler auf drei pro Mannschaft begrenzt. == Wirtschaftliche Bedeutung == Das IOC wehrte sich ursprünglich gegen die Finanzierung durch Sponsoren. Erst nach dem Rücktritt des als sehr prinzipientreu geltenden Avery Brundage im Jahr 1972 begann das IOC, das Potenzial des Mediums Fernsehen und den damit verbundenen lukrativen Werbemarkt auszuloten. Unter der Präsidentschaft von Juan Antonio Samaranch passte sich das IOC immer mehr den Bedürfnissen internationaler Sponsoren an, die ihre Produkte mit den olympischen Namen- und Markenzeichen bewerben wollten. Die Vermarktung der olympischen Markenzeichen ist umstritten. Hauptkritikpunkt ist, dass die Olympischen Spiele nicht mehr von anderen kommerzialisierten Sportspektakeln unterschieden werden können. Das IOC wurde kritisiert, dass insbesondere während der Sommerspiele 1996 und 2000 eine Marktsättigung eingetreten sei und die Gastgeberstädte von Unternehmen und Händlern überflutet worden seien, die ihre Olympiaprodukte verkaufen wollten. Das IOC versprach, in Zukunft der Übervermarktung entgegenzuwirken. Eine weitere Kritik spricht die Tatsache an, dass Olympische Spiele von den Gastgeberstädten und den Regierungen der entsprechenden Staaten finanziert werden. Das IOC kommt nicht für die Kosten auf, kontrolliert aber alle Rechte, profitiert von den olympischen Symbolen und beansprucht einen Anteil an allen Sponsoren- und Medieneinnahmen. Städte bewerben sich aber weiterhin um das Recht, Olympische Spiele auszutragen, obschon sie keine Gewissheit haben, dass ihre Kosten gedeckt sein werden. Wichtig ist ihnen vor allem die weltweite Ausstrahlungskraft. === Budget === In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts verfügte das IOC nur über ein kleines Budget. Avery Brundage lehnte jegliche Versuche ab, die Olympischen Spiele mit kommerziellen Interessen zu verbinden. Er war davon überzeugt, die Interessen der Unternehmen würden unannehmbare Auswirkungen auf die Entscheidungen des IOC haben. Brundages Ablehnung dieser Einnahmequelle bedeutete, dass die Organisationskomitees einzelner Spiele selbst Sponsorenverträge aushandelten. Als er 1972 zurücktrat, hatte das IOC ein Vermögen von 2 Millionen USD. Acht Jahre später war diese Zahl auf 45 Millionen USD angewachsen, da das IOC gegenüber Sponsoring und dem Verkauf der Übertragungsrechte mittlerweile eine weitaus liberalere Haltung einnahm. Als Juan Antonio Samaranch 1980 das Präsidentenamt übernahm, war er fest entschlossen, das IOC finanziell unabhängig zu machen.Die Sommerspiele 1984 in Los Angeles markierten einen Wendepunkt. Dem von Peter Ueberroth angeführten Organisationskomitee LAOOC gelang es, durch den Verkauf exklusiver Vermarktungsrechte einen zuvor unvorstellbaren Überschuss von 225 Millionen USD zu erwirtschaften. Das IOC strebte danach, diese Sponsoreneinnahmen für sich selbst zu sichern. Samaranch schuf 1985 das exklusive Sponsorenprogramm The Olympic Program (TOP). Die Teilnehmer an TOP erhalten für ihre Produktekategorie weltweite Vermarktungsrechte und können die olympischen Symbole in ihrer Werbung verwenden. === Medien === Für die Gastgeberstädte und -länder bieten die Olympischen Spiele eine prestigeträchtige Gelegenheit, sich der Welt zu präsentieren und für sich zu werben. Die Sommerspiele 1936 in Berlin waren die ersten, die im Fernsehen übertragen wurden, die Reichweite über den Fernsehsender Paul Nipkow war jedoch gering. Als erste erreichten die Winterspiele 1956 in Cortina d’Ampezzo ein internationales Publikum und 1960 bezahlten Fernsehsender erstmals für die Übertragungsrechte. In den folgenden Jahrzehnten entwickelten sich die Olympischen Spiele zu einer ideologischen Front im Kalten Krieg. Durch die Konkurrenz der politischen Systeme auf sportlicher Ebene stieg das Medieninteresse, wovon das IOC wiederum profitierte. Der Verkauf von Übertragungsrechten ermöglichte es ihm, die Olympischen Spiele bekannter zu machen und dadurch noch mehr Interesse zu generieren. Dies wiederum war attraktiv für Unternehmen, die Werbezeit im Fernsehen kauften. Durch diesen Kreislauf konnte das IOC immer höhere Gebühren für diese Rechte verlangen.Von den 1960er Jahren bis Ende des Jahrhunderts stieg die Zuschauerzahl exponentiell an. Für die Sommerspiele 1968 in Mexiko-Stadt werden 600 Millionen Fernsehzuschauer geschätzt. Bis 1984 in Los Angeles stieg diese Zahl auf 900 Millionen an, 1992 in Barcelona betrug sie bereits 3,5 Milliarden. Bei den Sommerspielen 2000 in Sydney verzeichnete NBC jedoch die tiefsten Einschaltquoten seit 1968. Dies war auf zwei Faktoren zurückzuführen: Einerseits die größere Konkurrenz durch Kabelsender, andererseits das Internet, das Bilder und Resultate in Echtzeit liefern konnte. Insbesondere amerikanische Fernsehsender setzten noch immer auf zeitverschobene Übertragungen, im Informationszeitalter ein rasch veraltendes Konzept. Angesichts der hohen Kosten der Übertragungsrechte und der Konkurrenz durch neue Medien forderte die Fernsehlobby Konzessionen ein. Das IOC reagierte mit diversen Änderungen am Wettkampfprogramm. Beispielsweise wurden die beliebten Schwimm- und Turnwettbewerbe auf mehr Tage verteilt. Schließlich konnte die amerikanische Fernsehlobby in einzelnen Fällen auch diktieren, zu welcher Zeit bestimmte Wettbewerbe stattfanden, so dass sie live während der Prime Time in den USA gezeigt werden konnten. == Politische Bedeutung == Entgegen Pierre de Coubertins Hoffnungen verhinderten die Olympischen Spiele nicht den Ausbruch von Kriegen. Tatsächlich konnten mehrere Veranstaltungen nicht ausgetragen werden: Die Sommerspiele 1916 entfielen wegen des Ersten Weltkriegs, die Sommer- und Winterspiele von 1940 und 1944 wegen des Zweiten Weltkriegs. Die Nationalsozialisten benutzten erfolgreich die Winterspiele 1936 in Garmisch-Partenkirchen und die Sommerspiele 1936 in Berlin als Propagandaforum, um das Ansehen Deutschlands im Ausland zu verbessern und um guten Willen und Friedensbereitschaft vorzutäuschen. Auch sollte die angebliche Überlegenheit der „arischen Rasse“ demonstriert werden, was angesichts der Erfolge von Jesse Owens jedoch nicht gelang. Antisemitische Parolen wurden vorübergehend entfernt und das Hetzblatt Der Stürmer durfte für die Dauer der Spiele nicht öffentlich in Kiosken ausliegen.Die Sowjetunion nahm bis 1952 nicht an Olympischen Spielen teil. Hingegen organisierte sie ab 1928 Spartakiaden. Während der Zwischenkriegszeit fanden mehrmals Arbeiterolympiaden statt. Diese Veranstaltungen waren Alternativen zu den Olympischen Spielen, die als kapitalistisch und aristokratisch galten. Mehrere kürzlich unabhängig gewordene (meist sozialistische) Staaten veranstalteten in den 1960er Jahren vom IOC nie anerkannte Gegenveranstaltungen. Sie trugen den Namen GANEFO (Games of the New Emerging Forces, dt.: „Spiele der neu aufstrebenden Kräfte“) und fanden 1963 in Jakarta sowie 1966 in Phnom Penh statt. Die chinesische Kulturrevolution verhinderte die dritte Austragung 1969.Zehn Tage vor der Eröffnung der Sommerspiele 1968 in Mexiko-Stadt kam es zum Massaker von Tlatelolco, als bei der brutalen Niederschlagung von Studentenprotesten zwischen 300 und 500 Studenten getötet wurden. Ein demgegenüber vergleichsweise kleinerer politischer Zwischenfall ereignete sich bei diesen Spielen, als die zwei US-amerikanischen Leichtathleten Tommie Smith und John Carlos während der Siegerehrung des 200-Meter-Laufs ihre Fäuste mit schwarzen Handschuhen in die Höhe streckten. Es handelte sich dabei um das Symbol der Bewegung Black Power, die sich gegen die Diskriminierung der afroamerikanischen Bevölkerung in den USA richtete. Das IOC stellte das Olympische Komitee der USA (USOC) vor die Wahl, entweder die beiden Athleten nach Hause zu schicken oder die ganze Leichtathletikmannschaft zurückzuziehen. Das USOC entschied sich für ersteres. Während der Sommerspiele 1972 in München nahm die palästinensische Terrororganisation Schwarzer September elf Mitglieder der israelischen Mannschaft gefangen, wovon zwei gleich von den Terroristen ermordet wurden. Eine missglückte Befreiungsaktion auf dem Flugplatz Fürstenfeldbruck führte zum Tod aller Geiseln, fünf der Terroristen und eines Polizeibeamten. Die Geiselnahme von München blieb weltweit als „München-Massaker“ in Erinnerung. IOC-Präsident Avery Brundage setzte sich für die Fortführung der Spiele ein, berühmt geworden ist sein Ausspruch „The games must go on“ („Die Spiele müssen weitergehen“). Das tragische Ereignis wurde mehrmals verfilmt, beispielsweise durch Kevin Macdonald (Ein Tag im September, 1999) und Steven Spielberg (München, 2005). Die Sowjetunion versuchte die Sommerspiele 1984 in Los Angeles zu sabotieren. Sie schickte den Nationalen Olympischen Komitees von elf asiatischen und afrikanischen Nationen Drohbriefe, die angeblich vom Ku-Klux-Klan stammen sollten und den Athleten, besonders den Dunkelhäutigen, mit Erschießung und Lynchmord drohten. Dass die Briefe gefälscht waren, konnte jedoch schnell nachgewiesen werden.Im Centennial Olympic Park von Atlanta explodierte während der Sommerspiele 1996 eine Bombe. Dabei starben zwei Menschen und 111 wurden verletzt. Die Bombe war von Eric Rudolph gelegt worden, der der rassistischen Christian-Identity-Bewegung nahesteht. Nach einer fast siebenjährigen Flucht konnte er 2003 verhaftet werden. Zunächst war der Wachmann Richard Jewell beschuldigt und in einer beispiellosen Medienkampagne vorverurteilt worden.Der Kaukasuskrieg zwischen Georgien und Russland brach am Eröffnungstag der Sommerspiele 2008 in Peking aus. Beim Luftpistolenschießen der Frauen gewann die Russin Natalja Paderina die Silber- und die Georgierin Nino Salukwadse die Bronzemedaille. Beide Frauen umarmten und küssten sich demonstrativ auf dem Siegerpodest und setzten so ein viel beachtetes Zeichen gegen den Krieg. === Boykotte === Mit dem Schlagwort Olympiaboykott bezeichnet man die Entscheidung einzelner Länder oder Ländergruppen, nicht an Olympischen Spielen teilzunehmen. Die Olympischen Spiele der Neuzeit wurden mehrmals aus meist politischen Gründen von einem oder mehreren Staaten boykottiert. Den ersten Versuch eines Olympiaboykotts gab es bereits im Vorfeld der Spiele von 1896. Unter dem Motto „Olympiateilnahme ist Vaterlandsverrat“ versuchten nationalistische Kreise eine deutsche Olympiateilnahme zu verhindern, was jedoch scheiterte. Durch die deutsch-französische Erbfeindschaft ideologisch geprägt, störten sie sich an der Person Pierre de Coubertins und an der damals noch ungewohnten Idee internationaler Sportveranstaltungen. Aufgrund der Machtübernahme der Nationalsozialisten gab es Bestrebungen in den verschiedensten Ländern die Olympischen Spiele 1936 zu boykottieren. Am intensivsten war die Diskussion in den USA, wo am Ende der amerikanische Sportbund AAU nur mit drei Stimmen Mehrheit die Teilnahme beschloss. Ohne Unterschrift des Sportverbandes wäre die Teilnahme kaum möglich gewesen, da nur der Verband die Amateureigenschaft des Sportlers bestätigen konnte. Die Niederlande, Spanien und die Schweiz boykottierten die Sommerspiele 1956 in Melbourne aus Protest gegen die Niederschlagung des ungarischen Volksaufstands durch die Sowjetunion. Wegen der Sueskrise im selben Jahr blieben auch Ägypten, der Irak, Kambodscha und der Libanon dieser Veranstaltung fern.1972 und 1976 drohte eine große Anzahl afrikanischer Staaten mit einem Boykott, falls das IOC sich weigern sollte, Südafrika und Rhodesien von den Spielen auszuschließen. Das IOC gab in beiden Fällen nach, um damit ein Zeichen gegen die Rassendiskriminierung zu setzen. 1976 forderten die Afrikaner auch den Ausschluss Neuseelands von den Spielen. Die neuseeländische Rugby-Union-Nationalmannschaft hatte in Südafrika gespielt und damit den Sportbann gegen das Apartheid-Regime gebrochen. Weil jedoch Rugby Union damals keine olympische Sportart war, lehnte das IOC den Ausschluss aller neuseeländischen Sportler ab. 28 afrikanische Staaten zogen daraufhin ihre Mannschaften aus Montreal zurück (einige Athleten waren bereits im Einsatz gewesen). Lediglich der Irak und Guyana solidarisierten sich mit den Afrikanern. Auf Druck der Volksrepublik China teilte die kanadische Regierung der Mannschaft der Republik China mit, dass sie nicht unter diesem Namen antreten dürfe. Der Kompromissvorschlag Taiwan stieß auf Ablehnung und die Republik China verzichtete auf eine Teilnahme. Erst seit 1984 nimmt sie unter der Bezeichnung Chinesisch Taipeh wieder teil, mit einer vom IOC eigens für diesen Zweck gestalteten Flagge. 1980 und 1984 boykottierten die Supermächte des Kalten Kriegs gegenseitig die Spiele im Land des Gegners. Die USA weigerten sich, an den Sommerspielen 1980 in Moskau teilzunehmen; Grund war die sowjetische Invasion in Afghanistan ein Jahr zuvor. Mit der Bundesrepublik Deutschland, Kanada, Norwegen und der Türkei folgten vier der 15 verbündeten NATO-Staaten dem Aufruf der US-Amerikaner, ebenso wie 37 weitere NOK hauptsächlich von Dritte-Welt- bzw. islamisch geprägten Ländern. Dagegen entschieden sich der Großteil der westlichen Staaten wie Großbritannien, Italien, Frankreich, Spanien oder Österreich gegen einen Boykott und für eine differenzierte Form des Protests, beispielsweise der Nichtteilnahme an Eröffnungs- oder Abschlussveranstaltung oder der Verwendung der olympischen Flagge statt ihrer Nationalflagge. Weitere 24 NOK verzichteten aus finanziellen oder sportlichen Gründen auf eine Teilnahme oder ließen die Einladung unbeantwortet, so dass am Ende 66 Staaten den Spielen von Moskau fernblieben.Die Sowjetunion wiederum nahm nicht an den Sommerspielen 1984 in Los Angeles teil. Sie begründete dies mit angeblich mangelnder Sicherheit ihrer Athleten angesichts der feindseligen Stimmung und der antisowjetischen Hysterie in den USA. Tatsächlich gab es dort spätestens nach dem Abschuss der südkoreanischen Passagiermaschine durch die sowjetische Luftwaffe am 1. September 1983 vermehrt Aktionen antikommunistischer Gruppierungen, die schließlich im Zusammenschluss der Koalition „Ban the Soviets“ gipfelte. Darüber hinaus wurde im kalifornischen Kongress sowie im kalifornischen Senat eine Resolution gegen die „sowjetische Aggression“ einstimmig gebilligt, die unter anderem einen Ausschluss der sowjetischen Athleten von den kommenden Olympischen Spielen anstrebte. Trotz weiterer Konfrontationen, so wurde dem sowjetischen Olympia-Attaché die Akkreditierung wegen angeblicher KGB-Mitgliedschaft verweigert, gab es seitens zweier US-Präsidenten die Garantie, dass alle vom IOC akzeptierten Sportler ungehindert einreisen konnten. Letzten Endes behielt die sowjetische Führung ihren Kurs bei, der jedoch auch hier unter den Verbündeten alles andere als unumstritten war. So sicherte Rumänien als Ostblock-Land dem IOC seine Teilnahme zu, auch die DDR versuchte bis zuletzt eine Umgehung des sowjetischen Beschlusses, beugte sich aber schließlich, um die zu diesem Zeitpunkt angespannten Beziehungen zu Moskau nicht weiter zu strapazieren. Am Ende schlossen sich 19 NOK dem Boykott an, der 1982 vom Iran eingeleitet worden war. Die boykottierenden Staaten trugen 1984 die Wettkämpfe der Freundschaft als Gegenveranstaltung aus. Nach dem mittlerweile dritten großen Boykott der Olympischen Spiele verabschiedete das IOC in einer außerordentlichen Versammlung Anfang Dezember 1984 eine Resolution, in der es als „prinzipielle Pflicht eines Nationalen Olympischen Komitees“ bezeichnet wurde, die Teilnahme der Athleten seines Landes bei Olympischen Spielen zu sichern. Ein bereits 1976 vorgelegter Vorschlag Griechenlands, die Olympischen Spiele künftig ständig auf einem neutralen Territorium auf Griechenlands Staatsgebiet auszutragen, um künftigen politischen Einmischungen vorzubeugen, wurde hingegen abgelehnt. Trotzdem konnte nicht verhindert werden, dass Nordkorea die kommenden Sommerspiele 1988 in der südkoreanischen Hauptstadt Seoul boykottierte, weil das Land entgegen früheren Zusagen nicht als Co-Gastgeber berücksichtigt worden war. Verhandlungen über die Austragung einzelner Wettbewerbe in Nordkorea hatten sich über drei Jahre hingezogen und waren schließlich ergebnislos gescheitert. Äthiopien, Kuba und Nicaragua blieben aus Solidarität mit Nordkorea ebenso fern. Vor den Sommerspielen 2008 in Peking gab es in verschiedenen Ländern Boykottaufrufe wegen der gewaltsamen Tibet-Politik der Volksrepublik China und der dortigen Unterdrückung der Menschenrechte, letztlich aber ergebnislos. === Ausschlüsse von Staaten === 1920 – Antwerpen: Deutschland, Österreich, Türkei, Bulgarien, Ungarn 1924 – Paris: Deutschland 1924 – Chamonix: Deutschland 1948 – London: Deutschland, Japan 1948 – St. Moritz: Deutschland, Japan 1964 – Tokio: Südafrika 1964 – Innsbruck: Südafrika 1968 – Mexiko-Stadt: Südafrika, Rhodesien 1968 – Grenoble: Südafrika, Rhodesien 1972 – München: Südafrika, Rhodesien 1972 – Sapporo: Südafrika, Rhodesien 1976 – Montreal: Südafrika, Rhodesien 1976 – Innsbruck: Südafrika, Rhodesien 1980 – Moskau: Südafrika 1980 – Lake Placid: Südafrika 1984 – Los Angeles: Südafrika 1984 – Sarajevo: Südafrika 1988 – Seoul: Südafrika 1988 – Calgary: Südafrika 1992 – Barcelona: Jugoslawien 1994 – Lillehammer: Jugoslawien 2014 – Sotschi: Indien (während der Spiele wieder aufgehoben) 2016 – Rio de Janeiro: Kuwait 2018 – Pyeongchang: Russland 2021 – Tokio: Russland 2022 – Peking: Russland == Betrugsfälle == === Korruption === Das stetige Wachstum und die zunehmende internationale Bedeutung der Olympischen Spiele führte auch zu zahlreichen zwischenstaatlichen Problemen. So geriet in der Vergangenheit das IOC verstärkt unter Druck. Es wurde als unbewegliche, unflexible, kommerzielle und intransparente Organisation kritisiert. Besonders kontrovers waren die Präsidentschaften von Avery Brundage und Juan Antonio Samaranch. Brundage musste sich die Kritik gefallen lassen, er sei rassistisch und antisemitisch. Unter Samaranch galt das IOC als autokratisch und korrupt. Auch seine engen Beziehungen zum Franco-Regime und seine lange Amtszeit von 21 Jahren (er trat erst im Alter von 81 Jahren zurück) gaben Anlass zur Kritik. Ebenfalls Anlass zu Kritik gab die Tatsache, dass zahlreiche IOC-Mitglieder in sehr fortgeschrittenem Alter waren und teilweise bis zu ihrem Tod im Amt blieben. 1998 wurde bekannt, dass mehrere IOC-Mitglieder bestochen worden waren, damit sie bei der Wahl des Austragungsortes der Winterspiele 2002 ihre Stimme der Stadt Salt Lake City gaben. Das IOC führte eine Untersuchung durch, in deren Folge vier Mitglieder zurücktraten und sechs weitere ausgeschlossen wurden. Die Aufarbeitung des Skandals zog Reformen nach sich. Unter anderem wurde das Auswahlverfahren geändert, um weitere Bestechungen zu vermeiden. Das IOC ernannte zahlreiche aktive und ehemalige Athleten zu Mitgliedern und beschränkte die Amtszeit.Im August 2004 strahlte der britische Fernsehsender BBC eine Dokumentation mit dem Titel Buying the Games („Wie die Spiele gekauft werden“) aus. Er untersuchte dabei Korruptionsvorwürfe im Zusammenhang mit der Vergabe der Sommerspiele 2012 und wies nach, dass es noch immer möglich sei, IOC-Mitglieder zu bestechen, damit sie sich für eine bestimmte Stadt entscheiden. === Doping === Eines der Hauptprobleme im Sport im Allgemeinen ist die unerlaubte Leistungssteigerung durch Doping. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts begannen zahlreiche Athleten Drogen zu sich zu nehmen; so war die Verwendung von Kokain weit verbreitet. Thomas Hicks, Gewinner des Marathonlaufs der Sommerspiele 1904, erhielt von seinem Trainer während des Rennens Brandy, der mit Strychnin angereichert war. Als Athleten und Betreuer zu immer extremeren Mitteln griffen, wurde den Verantwortlichen allmählich bewusst, dass diese Methoden nicht mehr mit dem Ideal von „Gesundheit durch Sport“ zu vereinbaren waren. Nicht zuletzt aufgrund dieses Vorfalls begannen mehrere Sportverbände Mitte der 1960er Jahre mit Dopingtests, das IOC folgte 1967 diesem Beispiel. Der erste positiv auf verbotene Substanzen getestete Athlet war 1968 der Schwede Hans-Gunnar Liljenwall, der seine Bronzemedaille im modernen Fünfkampf wegen der Einnahme von Alkohol zurückgeben musste. Seither wurden Dutzende Athleten überführt, darunter mehrere Medaillengewinner. Für den größten Skandal sorgte der Kanadier Ben Johnson: Er war 1988 mit neuem Weltrekord Olympiasieger im 100-Meter-Lauf geworden, wurde dann aber positiv auf Stanozolol getestet. Trotz der Tests verwendeten viele Athleten Doping, ohne je überführt worden zu sein. Im Jahr 1990 aufgetauchte Dokumente zeigten, dass zahlreiche Athleten aus der DDR auf Anweisung der Regierung gezielt von ihren Betreuern mit anabolen Steroiden und anderen Mitteln gedopt worden waren.Ende der 1990er Jahre begann das IOC, den Kampf gegen das Doping besser zu organisieren; die Welt-Anti-Doping-Agentur (WADA) nahm 1999 ihre Arbeit auf. Die strengeren Kontrollen durch die WADA führten ab 2000 dazu, dass deutlich mehr Sportler überführt werden konnten, insbesondere im Gewichtheben und im Skilanglauf. Die vom IOC vorgegebenen Standards in der Dopingbekämpfung dienen mittlerweile weltweit als Vorbild für weitere Sportverbände und finden auch in Anti-Doping-Gesetzen verschiedener Staaten Einzug.Nach den Olympischen Winterspielen 2014 deckten Journalisten in Russland ein System des Staatsdopings auf. Daraufhin beauftragte die WADA den unabhängigen Ermittler Richard McLaren, einen Untersuchungsbericht anzufertigen. Der McLaren-Report wurde am 18. Juli 2016 veröffentlicht und bestätigte russisches Staatsdoping. Daraufhin empfahl die WADA den kollektiven Ausschluss Russlands von den Olympischen Spielen 2016. Trotzdem erteilte das IOC 271 der 389 russischen Athleten eine Starterlaubnis, lediglich in der Leichtathletik und im Gewichtheben durften keine russischen Athleten antreten. Die russische Whistleblowerin Julija Igorewna Stepanowa erhielt hingegen keine Starterlaubnis, da sie laut IOC nicht die ethischen Anforderungen an eine olympische Athletin erfüllte. Die Entscheidung des IOC, russische Athleten, die in der Vergangenheit bereits wegen Dopings gesperrt gewesen waren, von den Spielen auszuschließen, wurde vom Internationalen Sportgerichtshof (CAS) gekippt. Die russische Schwimmerin Julija Jefimowa, die bereits zweimal wegen Dopings gesperrt gewesen war, wurde daraufhin zum Ziel des internationalen Protests, nachdem sie über 100 m Brust die Silbermedaille gewonnen hatte. Während der Spiele beschuldigten sich mehrere Schwimmer gegenseitig des Dopings. == Olympiasieger und Medaillengewinner == Die Olympischen Spiele bieten zuvor weniger bekannten Athleten die Möglichkeit, national und international zu viel beachteten Sportlern aufzusteigen. Weil die Olympischen Spiele nur alle vier Jahre ausgetragen werden, genießen sie bei Zuschauern und Athleten ein höheres Prestige als Weltmeisterschaften, die oft im jährlichen oder zweijährigen Rhythmus stattfinden. Viele Athleten wurden nach einem Olympiasieg zu Prominenten in ihren jeweiligen Ländern, manche sogar weltweit. Ein Vergleich der Leistungen von Athleten in verschiedenen Sportarten und zu verschiedenen Zeiten ist von begrenzter Aussagekraft. Legt man jedoch die Anzahl der Goldmedaillen zugrunde, so können die folgenden Athleten als die erfolgreichsten angesehen werden (die Olympischen Zwischenspiele 1906 werden dabei nicht mitberücksichtigt): Erfolgreichste Medaillengewinner der deutschsprachigen LänderDie erfolgreichste deutsche Athletin ist Birgit Fischer, die von 1980 bis 2004 acht Gold- und vier Silbermedaillen im Kanufahren gewann. Der erfolgreichste Österreicher ist Felix Gottwald mit drei Goldmedaillen, einer Silbermedaille und drei Bronzemedaillen von 2002 bis 2010 in der nordischen Kombination. Georges Miez gewann die meisten Medaillen für die Schweiz (4 Gold, 3 Silber, 1 Bronze im Gerätturnen von 1924 bis 1936). Hanni Wenzel ist die erfolgreichste Athletin aus Liechtenstein (2 Gold, 1 Silber, 1 Bronze im alpinen Skisport an den Spielen 1976 und 1980). Josy Barthel ist der erfolgreichste Athlet aus Luxemburg (1 Gold in der Leichtathletik 1952 in Helsinki). == Siehe auch == Bewerbungen für Olympische Sommerspiele Bewerbungen für Olympische Winterspiele Liste der Listen der olympischen Medaillengewinner Liste der teilnehmenden Mannschaften an Olympischen Sommerspielen Liste der teilnehmenden Mannschaften an Olympischen Winterspielen Olympiade Paralympische Spiele Olympische Jugendspiele Olympische Sportarten == Literatur == Helmut Altenberger, Herbert Haag, Martin Holzweg: Olympische Idee – Olympische Bewegung – Olympische Spiele. 2., überarbeitete Auflage. Hofmann, Schorndorf 2006, ISBN 978-3-7780-3102-5. Horst Callies: Über Olympia, die Olympischen Spiele und die Politik im Altertum. In: Gerhard Hecker (Hrsg.): Sportpädagogik. Diesterweg, Frankfurt am Main 1996, ISBN 3-425-05129-6, S. 5 ff. Fabian Clemens (Hrsg.): Die Chronik der Olympischen Spiele. Chronik Verlag, Gütersloh, München 2004, ISBN 3-577-14632-X. Wolfgang Decker u. a. (Hrsg.): 100 Jahre Olympische Spiele. Der neugriechische Ursprung. (= Katalog zur gleichnamigen Sonderausstellung in der Deutschen Sporthochschule Köln). Ergon, Würzburg 1996, ISBN 3-928034-99-5. Natalie Eßig: Nachhaltigkeit von olympischen Sportbauten. Analyse der Umsetzbarkeit und Messbarkeit von Nachhaltigkeitsaspekten bei Wettkampfstätten von Olympischen Spielen. (= Forschungsergebnisse aus der Bauphysik. Band 5). Fraunhofer-Verlag, Stuttgart 2010, ISBN 978-3-8396-0168-6. Horst Hilpert: Die Olympischen Spiele der Antike und Moderne im Rechtsvergleich. Dike, Stuttgart u. a. 2014, ISBN 978-3-03751-643-0. Bernd Jordan, Alexander Lenz, Joachim Schweer: Die Olympischen Spiele 1896–1996. Athleten, Rekorde, Hintergründe aus 100 Jahren. Rowohlt, Reinbek bei Hamburg, ISBN 3-499-19448-1. Frank Kutschke (Hrsg.): Ökonomie Olympischer Spiele. (= Sportökonomie. Band 7). Hofmann, Schorndorf 2006, ISBN 978-3-7780-8367-3. Holger Kühner (Hrsg.): Das Olympia-Buch. Delius Klasing Verlag, Bielefeld 2004, ISBN 3-7688-1545-5. Uwe Mosebach: Sportgeschichte. Von den Anfängen bis in die moderne Zeit. Meyer & Meyer Verlag, Aachen 2017, ISBN 978-3-8403-7535-4, S. 33–46, 270 ff. Ulrike Prokop: Soziologie der Olympischen Spiele. Sport und Kapitalismus. Carl Hanser, München 1971, ISBN 3-446-11503-X. Heinz Schöbel: Olympia und seine Spiele. Sportverlag, Berlin 2000, ISBN 3-328-00866-7. Michael Steinbrecher: Olympische Spiele und Fernsehen. Programmgestalter im Netz olympischer Abhängigkeiten? UVK, Konstanz 2009, ISBN 978-3-86764-136-4. Stephan Wassong (Hrsg.): Internationale Einflüsse auf die Wiedereinführung der Olympischen Spiele durch Pierre de Coubertin. (= Schriftenreihe des Deutschen Pierre de Coubertin-Komitees. Band 1). Agon, Kassel 2005, ISBN 978-3-89784-999-0. David C. Young: The Modern Olympics – A Struggle for Revival. Johns Hopkins University Press, Baltimore 1996, ISBN 0-8018-5374-5 (englisch). Klaus Zeyringer: Olympische Spiele. Eine Kulturgeschichte von 1896 bis heute. Band 1: Sommer. S. Fischer, Frankfurt am Main 2016, ISBN 978-3-10-002248-6. Klaus Zeyringer: Olympische Spiele. Eine Kulturgeschichte von 1896 bis heute. Band 2: Winter. S. Fischer, Frankfurt am Main 2018, ISBN 978-3-10-002249-3. == Weblinks == Offizielle Website der Olympischen Spiele (englisch, französisch) Olympische Spiele. In: Olympics.com Olympische Spiele. In: DOSB.de David C. Young, Harold Maurice Abrahams: Olympische Spiele. In: Encyclopædia Britannica (englisch) Marie-Hélène Guex: Olympische Bewegung. In: Historisches Lexikon der Schweiz. Suche nach Olympische Spiele. In: Deutsche Digitale Bibliothek Literatur von und über Olympische Spiele im Katalog der Deutschen Nationalbibliothek Statistiken zu den Medaillengewinnern aller Olympischen Spiele. In: olympics-statistics.com == Einzelnachweise ==
https://de.wikipedia.org/wiki/Olympische_Spiele
Pluto
= Pluto = Pluto ist der größte und zweitmassivste bekannte Zwergplanet des Sonnensystems und das am längsten bekannte Objekt des Kuipergürtels. Er bewegt sich auf einer noch exzentrischeren Bahn um die Sonne als der Planet Merkur. Sein Volumen entspricht etwa einem Drittel des Erdmondes. Die astronomischen Symbole des Pluto sind ♇ und ; sie sind heute in der Astronomie selten, in der Astrologie jedoch weit verbreitet. Pluto ist nach dem römischen Gott der Unterwelt benannt. Nach dem Zwergplaneten wiederum wurden die neuen Klassen der Plutoiden und der Plutinos benannt. Von seiner Entdeckung am 18. Februar 1930 bis zur Neudefinition des Begriffs „Planet“ am 24. August 2006 durch die Internationale Astronomische Union (IAU) galt Pluto als der neunte und äußerste Planet des Sonnensystems. Nachdem immer mehr Plutoiden – also ähnlich große Körper des Kuipergürtels – gefunden worden waren, wurde eine präzisere Begriffsdefinition entwickelt. Seither wird er der Kategorie Zwergplanet zugeordnet und erhielt die Kleinplanetennummer (134340) Pluto. Im Januar 2006 wurde mit New Horizons erstmals eine Raumsonde zu Pluto ausgesandt; sie passierte ihn am 14. Juli 2015 in 12.500 km Entfernung. == Umlaufbahn und Rotation == === Bahn === Pluto benötigt für eine Sonnenumrundung 247,94 Jahre. Im Vergleich zu den Planetenbahnen ist die Umlaufbahn Plutos deutlich exzentrischer, mit einer Exzentrizität von 0,2488. Das heißt, der Abstand zur Sonne ist bis zu 24,88 % kleiner oder größer als die große Halbachse. Der sonnenfernste Punkt der Plutobahn, das Aphel, liegt bei 49,305 AE, während der sonnennächste Punkt, das Perihel, mit 29,658 AE näher an der Sonne liegt als die viel kreisförmigere Bahn Neptuns. Beide Bahnen verlaufen nicht in derselben Ebene, die Ebene der Plutobahn ist stärker gegen die Ekliptik geneigt als die der Neptunbahn. Die Bahnkurven schneiden sich nicht, der Abstand der beiden Himmelskörper bleibt stets größer als etwa 17 AE. Vom 7. Februar 1979 bis zum 11. Februar 1999 durchlief Pluto zum letzten Mal den Bereich, in dem er der Sonne näher ist als die Neptunbahn. Das Perihel passierte Pluto 1989. Das nächste Aphel wird er im Jahr 2113 erreichen. Dort beträgt die Sonnenstrahlung nur etwa 0,563 W/m². Auf der Erde ist sie 2430-mal so hoch. Vom Pluto aus betrachtet hat die Sonne einen scheinbaren Durchmesser von nur etwa 50″ und sieht damit wie ein blendend heller Stern etwa der −19. Größenklasse aus (150-mal heller als der Vollmond). Sie schwankt während eines Plutojahres um etwa 1,1 Größenklassen. Wegen Plutos stark exzentrischer Bahn und der unterschiedlichen Albedo seiner zwei Hemisphären ändert sich seine Helligkeit, von der Erde aus gesehen, zwischen 13,8 mag (Erdnähe) und 16,5 mag (Erdferne). In der Zeit, in der Neptun dreimal die Sonne umrundet, bewegt sich Pluto genau zweimal um die Sonne. Man spricht daher von einer 3:2-Bahnresonanz. Viele Kuipergürtelobjekte befinden sich wie Pluto in einer solchen 3:2-Bahnresonanz mit Neptun, und sie werden deswegen als Plutinos bezeichnet. Dass deren typischerweise sehr exzentrische Umlaufbahnen über Jahrmillionen stabil sind, lässt sich mit Methoden der Himmelsmechanik zeigen. Pluto galt bis zur Entdeckung vieler anderer, ähnlicher Objekte als ein entwichener Mond des Neptun. Seine ausgeprägt exzentrische und mit 17° stark gegen die Ekliptik geneigte Bahn und geringe Größe ließen das vermuten. Der große Neptunmond Triton soll von Neptun eingefangen worden sein und dabei das ursprüngliche Mondsystem beträchtlich gestört haben: Pluto sei dadurch aus dem Neptunsystem herauskatapultiert worden und die erhebliche Bahnexzentrizität des Neptunmondes Nereid sei entstanden. Für das Einfangen des Triton spricht dessen rückläufiger Umlaufsinn, weshalb das nach wie vor die gängige Theorie für Triton ist. Jedoch wurde die Hypothese des entwichenen Pluto mittlerweile fallengelassen. Die Entdeckung zahlreicher weiterer transneptunischer Objekte im Sonnensystem hat erwiesen, dass Pluto der größte und jedenfalls der hellste Vertreter des Kuipergürtels ist, einer Anhäufung von tausenden Asteroiden und Kometenkernen in einer scheibenförmigen Region hinter der Neptunbahn. Die Entstehungsgeschichte von Pluto ist demnach eng mit der des Kuipergürtels verknüpft, der aus Resten der Bildung des äußeren Planetensystems besteht. Auch Triton soll vor seinem vermuteten Einfang ein Mitglied dieses Gürtels gewesen sein. === Rotation === Pluto rotiert in 6,387 Tagen einmal um seine Achse. Die Äquatorebene ist um 122,53° gegen die Bahnebene geneigt, somit rotiert Pluto rückläufig. Seine Drehachse ist damit noch stärker geneigt als die des Uranus. Im Unterschied zum Uranus und zur Venus ist der Grund dafür allgemein ersichtlich, ebenso die Ursache für Plutos im Vergleich zu anderen Himmelskörpern große Rotationsperiode, denn die Eigendrehung des Zwergplaneten ist durch die Gezeitenkräfte an die Umlaufbewegung seines sehr großen Mondes Charon gebunden. Pluto und Charon waren die ersten und über längere Zeit die einzigen bekannten Körper im Sonnensystem mit einer doppelt gebundenen Rotation, bis im Kuipergürtel sowie im Asteroidengürtel ähnlich geartete Systeme gefunden wurden, wie etwa (90) Antiope mit deren Begleiter Antiope B. Die Bestimmung der Pole erfolgte für den Zwergplaneten so, dass sein Nordpol jener Drehpunkt ist, an dem die Drehung der Oberfläche gegen den Uhrzeigersinn läuft. Durch Plutos retrograden Rotationssinn weist die Achsenrichtung seines Nordpols somit, im Unterschied zu den Planeten, südlich der Ekliptik. == Aufbau == Mit einem Durchmesser von lediglich 2374 km ist Pluto deutlich kleiner als die sieben größten Monde im Sonnensystem. Sein Aufbau ähnelt vermutlich dem des größeren und noch kälteren Triton. Er ist von ähnlicher Dichte, besitzt eine sehr dünne Atmosphäre aus Stickstoff, ist ebenso von einer eher rötlichen Färbung, hat Polkappen, und in Richtung des Äquators herrschen dunklere Gebiete vor. === Innerer Aufbau === Plutos mittlere Dichte beträgt 1,860 g/cm³; bei einer Dichte von rund 2 g/cm³ ist eine Zusammensetzung aus etwa 70 % Gestein und 30 % Wassereis wahrscheinlich.Nach dem aktuellen Modell von Plutos Aufbau hat sich sein Inneres durch die Wärme von radioaktiven Zerfallsprozessen in eine Kern-Mantel-Struktur differenziert. Der Kern besteht zum größten Teil aus Gestein und misst 70 % von Plutos Durchmesser. Unter der Oberfläche aus vorherrschendem Stickstoffeis wird der Kern von einem Mantel aus Wassereis umhüllt. In der Übergangszone zwischen Kern und Mantel könnte sich durch die inneren Schmelzvorgänge ein möglicherweise heute noch existierender, globaler extraterrestrischer Ozean gebildet haben. === Oberfläche === Plutos Oberfläche entspricht mit ihrer Größe von 17,6 Millionen Quadratkilometern knapp der Fläche von Südamerika. Sie zeigt nach der des Saturnmondes Iapetus unter allen übrigen Körpern des Sonnensystems die größten Helligkeitskontraste. Das erklärt die ausgeprägten Helligkeitsschwankungen, die schon von 1985 bis 1990 bei Verfinsterungen Plutos durch seinen großen Mond Charon gemessen wurden. Ab 2004 wurden Pluto und Charon mit dem Spitzer-Weltraumteleskop im thermischen Infrarot beobachtet. Die Lichtkurven zeigten, dass Pluto mit rund 40 Kelvin etwa 10 Kelvin kälter ist als Charon. Ursachen sind eine höhere Albedo, wodurch weniger Sonnenlicht absorbiert wird, und eine größere thermische Trägheit, wodurch die Rotation mehr Wärme auf die Rückseite transportiert.Durch den Vorbeiflug von New Horizons konnten von Plutos Oberfläche die Nordhalbkugel und die südliche Äquatorialzone abgelichtet werden; über den Rest herrschte die jahreszeitliche Polarnacht. Die detailreichsten Aufnahmen wurden von den Bereichen gewonnen, die inmitten der vom Mond Charon ständig abgewandten Seite um den 180. Längengrad liegen. Dort fällt eine helle, näherungsweise herzförmige, homogen erscheinende Region auf. Sie liegt zum flächenmäßig größeren Anteil nördlich des Äquators und hat nach dem Entdecker des Plutos, Clyde Tombaugh, den Namen Tombaugh Regio erhalten. Innerhalb der Tombaugh-Region befindet sich ein Bereich, der Sputnik Planitia getauft wurde. Die Sputnik-Tiefebene – benannt nach dem ersten künstlichen Satelliten Sputnik 1 – ist eine sehr große Eisfläche, die die westliche Hälfte der Tombaugh-Region einnimmt. Da sie frei von Einschlagkratern ist, gehen manche Forscher davon aus, dass sie weniger als 100 Millionen Jahre alt und möglicherweise noch in einem Zustand aktiver geologischer Formung begriffen ist. Ihr Anblick erinnert im ersten Moment an gefrorenen Schlamm. Sichtbare Schlieren in diesem Bereich könnten durch Winde verursacht sein. Andere Forscher gehen dabei von einer geologisch inaktiven, alten Oberfläche aus, auf die sich lediglich Vorgänge der Atmosphäre auswirken und niederschlagen. Stickstoffeis fließt in Gletschern aus einem hellen Bereich von Osten her in die Sputnik Planitia. Man nimmt an, dass es zuvor im Zentrum der Sputnik-Ebene verdampft ist und sich östlich der Ebene niedergeschlagen hat, von wo es zurückfließt.Die auffällige Tombaugh-Region liegt vermutlich nicht zufällig an dem Punkt des Äquators, der von Charon genau abgewandt ist. Nach der bevorzugten Erklärung müssen sie die Fliehkraft von Plutos Rotation und die Gezeitenkraft Charons in diese spezielle Position gebracht haben. Die Sputnik Planitia ist als Tiefebene jedoch von negativer Topologie und käme demnach durch einen Mangel an Masse für eine positive Schwerkraftanomalie, an denen diese Kräfte angreifen könnten, auf den ersten Blick nicht infrage. Bei der Tiefebene handelt es sich vermutlich um ein weniger als 100 Millionen Jahre altes Einschlagbecken, durch dessen durchlöcherten Boden Wasser eines möglichen verborgenen Ozeans eindringen konnte. Die Eisschicht, die das aufgestiegene Wasser gebildet hat, ist zwar dünner als die umgebende Eiskruste, hat aber eine höhere Massendichte, sodass dennoch eine positive Schwerkraftanomalie entstand. Nachfolgende Ablagerungen von Stickstoffeis haben diesen Effekt noch verstärkt.Am Südrand der Sputnik-Ebene ragen bis in eine Höhe von 3500 Metern die Norgay Montes, benannt nach Tenzing Norgay, neben Edmund Hillary einer der beiden Erstbesteiger des Mount Everest. Etwas weiter nördlich, am Westrand der Sputnik-Ebene, erheben sich die Hillary Montes bis 1500 Meter über ihre Umgebung. Die hohen Berge bestehen aller Wahrscheinlichkeit nach aus Wassereis, da dieses bei den niedrigen Temperaturen hart wie Fels ist. Methan- und Stickstoffeis, die den größten Teil von Plutos Oberfläche bedecken, sind für solche Gebilde nicht stabil genug – obgleich ihr Gewicht auf dem Zwergplaneten nur ein Fünfzehntel dessen beträgt, das sie auf der Erde haben würden. Die Ursache ihrer Entstehung liegt noch völlig im Dunkeln, denn der Zwergplanet steht nicht unter dem gravitativen Einfluss eines noch massereicheren Himmelskörpers, der seine Kruste derart verformen könnte. Im Umfeld der Norgay-Berge befinden sich zwei 3 und 5 Kilometer hohe Erhebungen, Wright Mons und Piccard Mons, mit zentralen Einsenkungen, wahrscheinlich Eisvulkane.In der östlichen Nachbarschaft der Tombaugh-Region liegt die Region Tartarus Dorsa – benannt nach dem Tartarus in der griechischen Mythologie, dem tiefsten Teil der Unterwelt. Das Terrain dieser Bergrücken erhielt wegen seines sonderbaren Reliefs von den Bildauswertern den Spitznamen „Schlangenhaut“. Die zerklüfteten Tartarus-Bergrücken erstrecken sich über Hunderte von Kilometern und werden von annähernd parallel verlaufenden Rillen durchzogen, die durch tektonische Bewegungen entstanden sein könnten. Die Rücken sind von klingenartigen Graten überzogen, die sich möglicherweise über längere Zeit durch flüchtiges und wiederholt gefrorenes Material herausgebildet haben.Auf der mit der höchsten Auflösung aufgenommenen Hemisphäre wurden 1070 Einschlagkrater gezählt. Sie zeigen sehr verschiedene Erhaltungszustände. Die Gebiete mit der höchsten Kraterdichte werden auf ein Alter von vier Milliarden Jahren geschätzt.Für die Benennung von Plutos Formationen hat die IAU im Rahmen ihrer Nomenklatur die Möglichkeiten auf mythologische Namen für die Unterwelt und mit ihr verbundene Götter, Zwerge, Heroen und Entdecker, auf Raumfahrzeuge sowie auf Schriftsteller, Wissenschaftler und Ingenieure, die mit Pluto und dem Kuipergürtel in Verbindung gebracht werden, eingeschränkt. Die ersten Namen wurden am 21. September 2017 offiziell bestätigt. === Atmosphäre === Plutos sehr dünne Atmosphäre besteht zum größten Teil aus Stickstoff, außerdem aus etwas Kohlenstoffmonoxid und etwa 0,5 % Methan. Nach Messungen am James Clerk Maxwell Telescope war die Atmosphäre im Jahr 2011 3000 km hoch und das in ihr enthaltene Kohlenstoffmonoxid hatte eine Temperatur von −220 °C. Der atmosphärische Druck an Plutos Oberfläche beträgt laut der US-Weltraumbehörde NASA etwa 0,3 Pa und laut der Europäischen Südsternwarte (ESO) um 1,5 Pa. Vermutungen über das Ausfrieren der Plutoatmosphäre nach der Passage des sonnennäheren Bahnbereiches konnten bislang nicht bestätigt werden. Aus dem Vergleich spektroskopischer Messungen von 1988 und 2002 wurde sogar eine geringe Ausdehnung der Gashülle abgeleitet. Auch eine doppelt so große Masse wird vermutet.Nach Absorptionsmessungen der New-Horizons-Mission reicht die Atmosphäre bis in eine Höhe von 1600 Kilometern. Wie die ESO am 2. März 2009 mitteilte, existiert auf Pluto größtenteils eine durch das atmosphärische Methan verursachte Inversionswetterlage, wodurch die Temperatur um 3 bis 15 K je Höhenkilometer zunimmt. In der unteren Atmosphäre beträgt die Temperatur −180 °C und in der oberen −170 °C, während am Boden nur etwa −220 °C herrschen. Es wird vermutet, dass dieser niedrige Wert unter anderem durch die Verdunstung von Methan verursacht wird, das vom festen in den gasförmigen Zustand übergeht.Neuerlich nachgewiesen wurde das Vorhandensein einer Atmosphäre am 29. Juni 2015 mit Hilfe des Stratosphären-Observatoriums für Infrarot-Astronomie, als der Stern UCAC 4347-1165728, von der Erde aus gesehen, von Pluto 90 Sekunden lang bedeckt wurde. Jedoch zeigen die ersten Daten von New Horizons, dass es eine Diskrepanz gibt zwischen dem von der Sonde gemessenen Atmosphärendruck und dem von der Erde beobachteten und errechneten Atmosphärendruck. Der bisherige Atmosphärendruck wird bei der Erdbeobachtung in etwa 50 bis 75 km Höhe gemessen und unter ungesicherten Annahmen auf die Plutooberfläche heruntergerechnet. So erhält man einen Druck von 2,2 Pa, während New Horizons direkt auf der Oberfläche messen konnte und so einen Wert von 0,5 Pa erhielt.Nach ersten Bildern des Vorbeiflugs entdeckte New Horizons in der Plutoatmosphäre Aerosole bis in 130 km Höhe. Diese konzentrieren sich hauptsächlich auf zwei Nebelschichten, die erste etwa 50 km über Boden und die zweite in etwa 80 km Höhe. Inzwischen sind über 12 Nebelschichten bekannt, wobei die erste sich in unmittelbarer Bodennähe befindet. Außerdem verliert die Plutoatmosphäre fortwährend Stickstoff, der ionisiert vom Sonnenwind weggeblasen wird. == Monde == Von Pluto sind fünf natürliche Satelliten bekannt. Ihre Umlaufbahnen sind annähernd kreisförmig und zueinander komplanar. Sie liegen in Plutos stark geneigter Äquatorebene, nicht in seiner Bahnebene. Zur Umlaufperiode des dominierenden Charon sind die Umlaufperioden der übrigen, äußeren Monde annähernd resonant; die Verhältnisse betragen rund 1:3:4:5:6. Mit Charon hat Pluto einen verhältnismäßig großen Mond, daher wird mitunter vom „Doppelsystem Pluto-Charon“ gesprochen. Das Größenverhältnis ist noch geringer als das des Erde-Mond-Systems und beträgt in Bezug auf den Durchmesser weniger als 2:1. Bedingt durch das Massenverhältnis von gut 8:1 und einen Abstand von knapp 15 Plutoradien liegt der gemeinsame Schwerpunkt, das Baryzentrum des Systems, außerhalb von Pluto. Damit umkreisen Charon und Pluto einander. Die vier kleineren Trabanten bewegen sich näherungsweise um den gemeinsamen Schwerpunkt von Pluto und Charon, daher ist auf lange Sicht wahrscheinlich bei allen die Umlaufbahn nicht vorhersagbar (Dreikörperproblem). Durch die ungleichförmig zusammenwirkenden Gravitationsfelder von Pluto und Charon haben sie auch keine gebundene Rotation wie Charon; zudem sind ihre Rotationsachsen sehr stark geneigt und ihr Rotationsverhalten ist über längere Zeit hinweg ebenfalls nicht konstant. Die Gestalt von Kerberos und Hydra spricht für eine Verschmelzung von jeweils zwei kleineren Körpern.Die Entstehung der Plutomonde wird nach dem Vorbild der Kollisionstheorie zur Entstehung des Erdmondes durch den streifenden Zusammenstoß von Pluto mit einem anderen großen Körper des Kuipergürtels erklärt, durch den Trümmer in Umlaufbahnen um Pluto gerieten, aus denen sich dort die Monde bildeten. Diese gängige Theorie wurde schon für Charon vor der Entdeckung der vier kleinen herangezogen. Für eine gemeinsame Entstehung aller Plutomonde sprechen die komplanaren Bahnen mit den annähernd resonanten Umlaufzeiten sowie die farblich einheitlichen Oberflächen. Bei einem Einfang wäre eher eine unterschiedliche Färbung zu erwarten gewesen. Pluto und seine Monde sind im Kuipergürtel einem dauernden Bombardement von Minimeteoriten ausgesetzt, die Staub- und Eispartikel aus den Oberflächen herausschlagen. Während die Gravitation von Pluto und Charon dafür sorgt, dass alle Trümmerstücke auf die Himmelskörper zurückfallen, reicht die Anziehungskraft der kleineren Monde dafür nicht aus. Daher vermuten die Wissenschaftler, dass diese in astronomischen Zeiträumen durch weitere Einschläge so viel Material verlieren, dass sich allmählich ein Staubring um Pluto bilden wird. Die Entdeckung weiterer Plutomonde kam unerwartet, da jenseits des Neptuns bis dahin kein Himmelskörper mit mehr als einem Satelliten beobachtet worden war; jedoch wurde bereits einen Monat später auch bei (136108) Haumea ein zweiter Mond gefunden. Da Pluto und Charon mit einiger Berechtigung als Doppel(zwerg)planet aufgefasst werden können, kann man Nix und Hydra auch als ersten Nachweis für zirkumbinäre Satelliten mit einigermaßen stabilen Bahnen in einem Doppelsystem sehen. Mit New Horizons wurde vor dem Vorbeiflug aus Sicherheitsgründen nochmals intensiv nach Trabanten und Staubringen gesucht; es konnten jedoch keine weiteren Plutomonde entdeckt werden. Sollte es sie dennoch geben, könnten sie höchstens etwa ein Viertel der Helligkeit des kleinen, dunklen Kerberos haben. Bemerkung Max.: Pluto-Perihel, Konjunktion, hellste Seite der Erde zugewandtMin.: Pluto-Aphel, Opposition, dunkelste Seite der Erde zugewandt == Erforschung == === Entdeckung === Die Entdeckungsgeschichte des Pluto ähnelt in gewisser Weise der des gut 83 Jahre zuvor gefundenen Neptun. Bei beiden Himmelskörpern wurde versucht, ihre Entdeckung anhand von Bahnstörungen des Nachbarplaneten vorherzusagen. Im Falle Plutos gilt das tatsächliche Auffinden eines Objektes im entsprechenden Suchgebiet jedoch letztlich als reiner Zufall, da die Masse Plutos für die der Rechnung zugrundeliegenden Störungen nicht ausreicht.Pluto wurde am 18. Februar 1930 am Lowell-Observatorium durch Vergleiche einiger Himmelsaufnahmen am Blinkkomparator nach rund 25-jähriger Suche entdeckt, allerdings nicht an genau der vorausgesagten Position. Der junge Entdecker Clyde Tombaugh war erst kurz zuvor für die fotografische Suche nach dem legendären Transneptun angestellt worden. Der Marsforscher Percival Lowell hatte seit 1905 selbst nach einem solchen Himmelskörper gesucht und das Lowell-Observatorium finanziert. Wie sich später herausstellte, war auf zwei der fotografischen Platten, die Lowell 1915 angefertigt hatte, Pluto bereits zu erkennen. Da Lowell nach einem viel helleren Objekt Ausschau hielt, war ihm diese Entdeckung entgangen. Die Entdeckung wurde der äußerst interessierten Öffentlichkeit am 13. März 1930 verkündet, dem 149. Jahrestag der Entdeckung des Uranus durch William Herschel 1781 und dem 75. Geburtstag von Percival Lowell, der bereits 1916 verstorben war. Nun suchte man nach einem passenden Namen. Das Vorrecht der Namensgebung lag beim Lowell-Observatorium. Dort traf recht bald eine große Menge an Vorschlägen ein. Der Name des Herrschers der Unterwelt für diesen Himmelskörper so fern der Sonne wurde von Venetia Burney vorgeschlagen, einem elfjährigen Mädchen aus Oxford, das sich sehr für klassische Mythologie interessierte. Von der Meldung über die Entdeckung und Namenssuche in der Times erfuhr sie durch ihren Großvater, Falconer Madan, schon am Morgen nach der Verkündung der Entdeckung. Er war pensionierter Bibliothekar der Bodleian Library und fand ihren Vorschlag so gut, dass er davon Herbert Hall Turner, einem befreundeten Astronomen und Professor für Astronomie an der Universität Oxford, erzählte. Über diesen gelangte er per Telegramm am 15. März an das Lowell-Observatorium, wo er im Mai desselben Jahres angenommen wurde. Nach dem Reglement der IAU hatte die Namensgebung nach mythologischen Gesichtspunkten zu erfolgen. Venetias Großonkel Henry Madan, Science Master am Eton College, hatte schon die Namen Phobos und Deimos für die Monde des Mars vorgeschlagen. Der Namensvorschlag Pluto für den gesuchten neunten Planeten kam erstmals bereits 1919 von dem französischen Arzt und Amateurastronomen P. Reynaud, doch daran konnte sich 1930 außerhalb von Frankreich anscheinend kaum mehr jemand erinnern. Für den Autor Richard Buschick galt jedoch nur drei Jahre vor Plutos Entdeckung dessen zukünftiger und heutiger Name schon als gegeben. Bei der letztendlichen, offiziellen Namenswahl dürfte auch eine Rolle gespielt haben, dass sich das astronomische Symbol aus den Initialen Lowells zusammensetzen ließ. Zuvor war von seiner Witwe schon Percival, Lowell und sogar ihr eigener Name Constance vorgeschlagen worden.Wegen seiner relativen Nähe und Größe wurde Pluto mehr als 60 Jahre früher entdeckt als das nächste eigenständige transneptunische Objekt: (15760) Albion. Über die seinerzeit festgestellten Bahnabweichungen von Neptun und Uranus wird mittlerweile vermutet, dass sie nur durch eine kleine, unvermeidliche Messabweichung vorgetäuscht wurden. Außerdem wurde die Masse von Neptun vor dem Vorbeiflug von Voyager 2 falsch eingeschätzt. Seit die genaue Masse von Neptun bekannt ist, können die Bahnen der äußeren Planeten gut erklärt werden, das heißt, ein weiterer Planet müsste sehr viel weiter entfernt sein. === Erdgebundene Erforschung === Mit seinem Winkeldurchmesser von weniger als 0,1″ entzog sich Pluto lange Zeit einer direkten Bestimmung seines Durchmessers, da er im Fernrohr nur als Punkt zu erkennen war. Bis in die 1960er Jahre hinein wurde sein Durchmesser mit 14.000 km postuliert, damit man die Bahnstörungen von Neptun halbwegs erklären konnte, die eine Masse von 2 bis 11 Erdenmassen erforderten, allerdings auf Rechenfehler und falschen Annahmen beruhten (Pickering und Lowell). Um dies mit seiner scheinbaren Helligkeit von 15m zu vereinbaren, wurde Pluto mit einer Albedo von 2 % als extrem dunkles Objekt eingestuft. Kuiper beobachte im Jahr 1950 Pluto und bestimmte den Scheibchendurchmesser mit 0,23″ ± 0,01″ und damit den Durchmesser mit knapp 6000 km. Unklar ist die Quelle der Genauigkeit und warum der 0,58″ entfernte Charon nicht erkannt wurde. Eine Sternbedeckung im Jahr 1966 (Halliday u. a.) ließen sich nur mit einem Durchmesser von maximal 6800 km vereinbaren. Weitere Zweifel kamen 1976 durch spektroskopische Untersuchungen von Dale P. Cruikshank, David Morrison und Carl B. Pilcher, die durch charakteristische Absorptionslinien auf Methaneis und ein eher sehr helles Objekt mit einer Albedo von eher 50 bis 80 % hinwiesen und damit nur noch Durchmesser von weniger als 3000 km zuließen. Mit der Entdeckung von Charon im Jahr 1978 und den in den Jahren 1985 bis 1990 erfolgten Bedeckungen von Pluto durch Charon wurde der Durchmesser weiter auf 2306 km korrigiert, Werte die im Wesentlichen 1994 durch das Hubble-Weltraumteleskop (HST) mit 2390 km bestätigt wurden. Seit New Horizon ist der Durchmesser mit 2370 km ziemlich genau bekannt. Mit der Entwicklung leistungsstarker Teleskope mussten Durchmesser und Masse des Pluto kontinuierlich nach unten revidiert werden, zunächst um 1950 nach Messungen der Sternwarte Mount Palomar auf halbe Erdgröße. Bald scherzte man, dass Pluto bei Extrapolation der Messwerte wohl bald völlig verschwinden werde. Unkonventionelle Theorien wurden postuliert: Pluto sei in Wirklichkeit groß, man sehe aber nur einen kleinen, hellen Fleck auf der Oberfläche. Der Astronom Fred Whipple errechnete erstmals eine genaue Umlaufbahn. Dazu konnten Fotoplatten herangezogen werden, auf denen sich Pluto bis in das Jahr 1908 zurückverfolgen ließ. Die Entdeckung des Mondes Charon im Jahr 1978 ermöglichte dann eine genaue Massebestimmung mittels der Gravitationsdynamik des Systems. Von 1985 bis 1990 kam es zu wechselseitigen Bedeckungen zwischen den beiden, mit denen der Durchmesser von Pluto schließlich auf 2390 km bestimmt wurde. Spätere Messungen mit adaptiver Optik, mit dem Hubble-Weltraumteleskop und bei Bedeckungen von Sternen haben Werte von etwa 2280 bis 2320 km ergeben. Aufnahmen der Raumsonde New Horizons ergaben im Juli 2015 einen Durchmesser von 2370 km.Kombinationen von Aufnahmen mit dem Hubble-Weltraumteleskop haben gezeigt, dass Plutos Nordhemisphäre in den Jahren 2002 und 2003 heller geworden ist und der Zwergplanet insgesamt rötlicher wirkt.Die NASA veröffentlichte 1994 die ersten globalen Bilder von Pluto, bei denen Aufnahmen des Hubble-Weltraumteleskops zu einer Oberflächenkarte verrechnet wurden. Mit sehr großem Aufwand generierten Wissenschaftler um Marc W. Buie 2010 eine Oberflächenkarte von Pluto, die für gut fünf Jahre die genaueste Karte des Zwergplaneten war. Dafür verwendeten sie 384 nur wenige Pixel große Aufnahmen des Hubble-Weltraumteleskops, die zwischen 2002 und 2003 erstellt worden waren. Mittels Dekonvolution und weiterer ausgefeilter Algorithmen wurde daraus innerhalb von 4 Jahren auf 20 Computern eine Oberflächenkarte von Pluto errechnet. === Erforschung mit Raumsonden === Die NASA plante bereits seit Anfang der 1990er Jahre unter dem Namen „Pluto Fast Flyby“ eine rasche Vorbeiflug-Mission zum Pluto, bevor seine dünne Atmosphäre ausfriert – seinen sonnennächsten Bahnpunkt hatte Pluto schon 1989 durchschritten und wird ihn erst 2247 wieder erreichen. Zeitweise war geplant, zwei Sonden zu verwenden, um beide Seiten von Pluto und Charon untersuchen zu können. Nachdem erste Konzepte an technischen Schwierigkeiten sowie an mangelnder Finanzierung gescheitert waren, wurde 2001 die Umsetzung der nun „New Horizons“ getauften Mission im Rahmen des New-Frontiers-Programms genehmigt. Die Raumsonde startete am 19. Januar 2006 und flog am 14. Juli 2015 an Pluto und Charon vorbei. Aufnahmen der Sonde im April 2015 übertrafen bereits die des Hubble-Teleskops. Es wurden globale Karten des Zwergplaneten und seines Mondes erstellt, mit spektraler Auflösung im Sichtbaren und IR, die Atmosphäre des Pluto in Transmission studiert, mit spektraler Auflösung im UV-Bereich, Hochauflösungsfotos mit bis zu 25 m pro Pixel Auflösung gewonnen, das elektrische und magnetische Feld sowie Ionen, Neutralteilchen und Staub gemessen.Die komplette Übertragung aller Daten dauerte länger als 15 Monate und endete am 25. Oktober 2016. == Debatte um Planetenstatus und Aberkennung == Die Diskussion darüber, ob Pluto überhaupt die Bezeichnung „Planet“ verdiene, begann bereits, als man außer seiner stark elliptischen und sehr geneigten Umlaufbahn auch seine geringere Größe erkannt hatte. Nachdem im September 1992 mit 1992 QB1 nach Pluto und Charon das dritte transneptunische Objekt gefunden worden war, entdeckten die Astronomen ein Jahr später binnen vier Tagen vier weitere Plutinos. Damit steigerte sich die Debatte um Plutos Status. Der Vorschlag von Brian Marsden vom MPC aus dem Jahr 1998, Pluto einen Doppelstatus zu verleihen und ihn zusätzlich als Asteroiden mit der herausragenden Nummer 10000 einzuordnen, um dadurch einer durch Neuentdeckungen sich ständig ändernden Planetenanzahl vorzubeugen, fand keine Zustimmung. Im Laufe der Zeit wurden Hunderte weitere Objekte des Kuipergürtels entdeckt, darunter manche von plutoähnlicher Größe. Solch herausragende Entdeckungen, wie vor allem von Eris, wurden von den Medien häufig als „zehnter Planet“ bezeichnet. Mit der ersten wissenschaftlichen Begriffsbestimmung eines Planeten wurde zusammen mit Pluto keines dieser Objekte als solcher bestätigt. Stattdessen wurde von der IAU im Jahr 2006 für derartige Körper die neue Klasse der Zwergplaneten definiert. Innerhalb dieser neuen Klasse ist Pluto nach Ceres das zweite Objekt, das erst als Planet gegolten hat. Ceres wurde Mitte des 19. Jahrhunderts zusammen mit weiteren Objekten in die neu geschaffene Klasse der Asteroiden herabgestuft, als immer deutlicher wurde, dass es sich bei den Mitgliedern eines Gürtels zwischen Mars und Jupiter um zahlreiche kleinere Objekte handelt. In Bezug auf Pluto als den über sieben Jahrzehnte gewohnten neunten Planeten hält jedoch nach dieser Entscheidung die Kontroverse unter den Astronomen weiter an. Die verabschiedete Definition mit dem Zusatz, nach der ein Körper nur dann ein Planet ist, wenn seine Masse die Gesamtmasse aller anderen Körper in seinem Bahnbereich übertrifft, berücksichtigt, dass Pluto seinen Bahnbereich nicht in dem Maße von anderen Körpern geräumt hat. Als Maß für dieses Verhältnis ist die planetarische Diskriminante eingeführt worden. Als das größte Plutino entspricht Pluto eher der Rolle des Asteroiden (153) Hilda, des größten Mitglieds der Hilda-Gruppe. Hilda und mindestens 56 weitere Objekte bewegen sich ein Stück außerhalb des Hauptgürtels der Asteroiden analog in einem 2:3-Verhältnis zur in diesem Fall längeren Umlaufzeit des benachbarten Riesenplaneten. Auf der 26. Generalversammlung der IAU im August 2006 in Prag wurde zuvor eine etwas andere Definition ohne jenen Zusatz vorgeschlagen. Ein Planet wäre demnach ein Himmelskörper, dessen Masse ausreicht, um durch seine Eigengravitation eine hydrostatische Gleichgewichtsform („nahezu runde“, das heißt annähernd sphäroidale Form) anzunehmen, und der sich auf einer Bahn um einen Stern befindet, selbst aber kein Stern oder Mond eines Planeten ist. Demnach wäre nicht nur Pluto ein Planet, sondern auch Ceres, Charon und Eris. Charon kam durch eine Ergänzung mit hinzu, nach der es sich um einen Doppelplaneten handelt, wenn der gemeinsame Schwerpunkt außerhalb des Hauptkörpers liegt.Gleichzeitig wurde die Definition einer neuen Klasse von Planeten vorgeschlagen, der sogenannten „Plutonen“, zu der Planeten gehören sollten, die für einen Umlauf um den Stern länger als 200 Jahre brauchen, und zu der dann auch Pluto gehört hätte. Dieser Vorschlag für die Planetendefinition konnte sich auf der Generalversammlung jedoch nicht durchsetzen, sodass am 24. August 2006 durch Abstimmung die Entscheidung fiel, Pluto den Planetenstatus abzuerkennen und ihn in die neue Klasse der Zwergplaneten einzustufen. Die Klasse der Plutonen wurde zwar definiert (mit Pluto als Prototyp), blieb aber vorerst unbenannt, da die Bezeichnung als Plutonen wie auch andere Vorschläge verworfen wurde. Im Juni 2008 wurde für diese vorher unbenannte Unterklasse der Zwergplaneten die Bezeichnung „Plutoiden“ festgelegt. Seit September 2006 hat Pluto die Kleinplanetennummer 134340. Eine solche eindeutige Nummer wird in der Regel fortlaufend vergeben, sobald die Bahn eines Asteroiden oder Zwergplaneten durch genügend viele Beobachtungen genau genug bekannt ist. Plutos Bahn war zwar schon lange hinreichend bestimmt, aber aufgrund seiner vorangegangenen Einstufung als Planet kam für ihn rund 76 Jahre lang keine Kleinplanetennummer in Frage. Die letzten vor Pluto entdeckten Asteroiden erhielten die Nummern 1143 und 1144. 2009 beschloss der Senat von Illinois, dem Heimatbundesstaat des Pluto-Entdeckers Clyde Tombaugh, Pluto weiterhin als Planeten zu betrachten. Nicht angenommen hingegen wurde ein entsprechender Resolutionsentwurf im Senat von Kalifornien, der u. a. damit begründet war, dass Pluto den gleichen Namen wie Kaliforniens berühmtester Trickfilmhund hat, dass die Änderung Millionen kalifornischer Schulbücher unbrauchbar machen würde und dass sie psychologische Schäden bei Kaliforniern verursachen werde, die ihren Platz im Universum in Frage stellen würden. Der NASA-Administrator Jim Bridenstine erklärte im Jahr 2019 ebenfalls, dass er Pluto weiterhin als Planeten betrachte. == Sichtbarkeit == Um Pluto sehen zu können, ist ein Teleskop mit einer Öffnung von mindestens 200 mm nötig. Derzeit wandert er durch das Sternbild Schütze und wird 2023/2024 in den Steinbock wechseln. Da Pluto am 5. September 1989 im Perihel war, entfernt er sich seither auf seiner elliptischen Umlaufbahn von der Sonne; daher finden aufeinanderfolgende Oppositionen bis zum Jahr 2113 bei immer größerer Entfernung, mit immer geringerer scheinbarer Größe und mit immer geringerer Helligkeit des Zwergplaneten statt. == Rezeption == Im Entdeckungsjahr 1930 erfand Disney den Zeichentrickhund Pluto, der nach dem neuen Himmelskörper benannt wurde. Im Jahr 1942 erhielt nach dem als Planet geltenden astronomischen Zuwachs das neue chemische Element 94 den Namen Plutonium. 1955 wurde der Pluto-Gletscher auf der antarktischen Alexander-I.-Insel nach dem astronomischen Objekt benannt. 2012 lief in den USA ein halbtauchendes U-Boot mit dem Namen des Zwergplaneten vom Stapel. 1987 erschien von Kim Stanley Robinson der Science-Fiction-Roman Die eisigen Säulen des Pluto, nach der Originalausgabe Icehenge von 1984. In ihm entdecken Raumfahrer Mitte des dritten Jahrtausends auf dem Pluto ein rätselhaftes, riesiges Monument aus Eis.Im Jahr 2000 komponierte Colin Matthews als Ergänzung zur Orchestersuite The Planets (Die Planeten, 1914–1916) von Gustav Holst den achten Satz Pluto, the Renewer (Pluto, der Erneuerer). == Größenvergleich == == Siehe auch == Liste der Zwergplaneten des Sonnensystems Liste von transneptunischen Objekten Liste der Monde von Planeten und Zwergplaneten Liste der Monde von Asteroiden Liste der Entdeckungen der Planeten und ihrer Monde == Literatur == Alan Stern, Jaqueline Mitton: Pluto and Charon. Ice Worlds on the Ragged Edge of the Solar System. University of Arizona Press, Tucson, AZ 1997, ISBN 0-8165-1840-8; 2. erweiterte Auflage, Wiley-VCH, Weinheim 2005, ISBN 3-527-40556-9 (englisch). S. Alan Stern, Jeffrey M. Moore, William M. Grundy u. a. (Hrsg.): The Pluto System After New Horizons (University of Arizona Space Science). 2021, ISBN 978-0-8165-4094-5. David A. Weintraub: Is Pluto a Planet? A Historical Journey through the Solar System. Princeton University Press, Princeton NJ 2007, ISBN 978-0-691-12348-6 (englisch). Leif Allendorf: Planet Pluto. Die Geheimnisse des äußeren Sonnensystems. Avinus, Berlin 2007, ISBN 978-3-930064-76-2. Silvia Protopapa: Surface characterization of Pluto, Charon and (47171) 1999 TC36. Copernicus Publishing, Katlenburg-Lindau 2009, ISBN 978-3-936586-96-1. Dissertation Technische Universität Braunschweig. 2009 (englisch). Sue Ward: Das Fundament der Astrologie. Wie die alten Herrscher und die neuen Planeten zu ihrer astrologischen Deutung kamen. Übersetzt von Reinhardt Stiehle. Chiron, Tübingen 2011, ISBN 978-3-89997-195-8. Tilmann Althaus: Erste Details von Pluto. In: Sterne und Weltraum. September 2015, S. 26–37. (Abstract, abgerufen am 21. Dezember 2021). == Dokumentarfilme == Zwergplanet Pluto – Entdeckung einer fernen Welt. TV-Dokumentation in HD von Alastair Duncan, Original-Titel: Pluto – Back From the Dead. GB 2020, deutsche Bearbeitung: ZDF 2020, zuletzt ausgestrahlt auf ZDFinfo am 27. April 2022. == Weblinks == Pluto-Website der NASA. Solar System Exploration. Pluto. In: NASA.gov. Abgerufen am 21. Dezember 2021 (englisch). Offizielle Webseite der NASA zur Pluto-Mission New Horizons mit aktuellen Informationen (englisch). Inoffizielle Infoseite zu New Horizons, Teil des Webauftritts des APL (englisch). Spektrum.de: Pluto, ein überraschend dynamischer Eiszwerg. 18. Februar 2020. Martin Holland: Pluto doch ein Planet? – Neue Kritik an „Degradierung“. In: Heise.de. 1. November 2021. == Einzelnachweise ==
https://de.wikipedia.org/wiki/Pluto
Thomas Jefferson
= Thomas Jefferson = Thomas Jefferson (* 2. Apriljul. / 13. April 1743greg. in Shadwell bei Charlottesville, Colony of Virginia; † 4. Juli 1826 auf Monticello bei Charlottesville, Virginia) war einer der Gründerväter der Vereinigten Staaten, von 1801 bis 1809 der dritte amerikanische Präsident und der hauptsächliche Verfasser der Unabhängigkeitserklärung sowie einer der einflussreichsten Staatstheoretiker der Vereinigten Staaten. Von 1797 bis 1801 war er außerdem der zweite amerikanische Vizepräsident. Jefferson war einer der Gründer der Demokratisch-Republikanischen Partei der Vereinigten Staaten. In seine Zeit als Präsident fielen der Kauf von Louisiana, die Lewis-und-Clark-Expedition und ein fehlgeschlagenes Handelsembargo gegen Großbritannien und Frankreich. Er gilt als „Vater der Universität von Virginia“, und seine Privatbibliothek war der Grundstock für den Wiederaufbau der Library of Congress nach dem Krieg von 1812. Sein Denken und Handeln war von den Prinzipien der Aufklärung bestimmt. Er setzte sich für eine Trennung von Religion und Staat, für eine große Freiheit des Einzelnen und für eine starke föderale Struktur der Vereinigten Staaten ein. Zur Sklaverei hatte Jefferson ein zwiespältiges Verhältnis: Er besaß selbst Sklaven, äußerte sich aber mehrfach gegen die Institution. Auch seine Ansichten bezüglich der Indianer waren zwiespältig. Darüber hinaus trat Jefferson als Architekt hervor. Bekannte Bauten sind sein Wohnsitz Monticello und die Universität von Virginia, die beide seit 1987 zum UNESCO-Welterbe gehören. == Werdegang == === Familie und Erziehung === Thomas Jefferson wurde als Sohn einer wohlhabenden und alteingesessenen Familie in Virginia geboren. Sein Vater war der Pflanzer Peter Jefferson (1708–1757), seine Mutter Jane Randolph Jefferson (1720–1776) entstammte der einflussreichen Familie der Randolphs (siehe unter anderem Peyton Randolph). Zu ihren Vorfahren gehörte der Augsburger Täufermärtyrer Eitelhans Langenmantel (1480–1528). Die Vorfahren des Vaters von Thomas Jefferson stammten ursprünglich aus Wales.Jefferson hatte neun Geschwister, von denen zwei tot auf die Welt kamen. Er hatte ein gutes Verhältnis zu seinem Vater und war stolz auf ihn. Anfangs wurde er von Privatlehrern unterrichtet und besuchte Privatschulen. 1760 wechselte er zum College of William & Mary in Williamsburg, das er 1762 abschloss. Anschließend studierte er Jura bei dem bekannten Anwalt und Politiker George Wythe. Ab 1767 praktizierte er selbst als Anwalt. Im Jahre 1772 heiratete er Martha Wayles Skelton (1748–1782). Sie hatten sechs Kinder, von denen vier früh verstarben und mit Martha „Patsy“ Jefferson Randolph (1772–1836) und Mary „Polly“ Jefferson Eppes (1778–1804) zwei das Erwachsenenalter erreichten. Seine Frau verstarb 1782 nach zehn Jahren Ehe, 33 Jahre alt. Wegen ihrer Kinder hatte sie Jefferson gebeten, nicht mehr zu heiraten; sie selbst hatte schlechte Erfahrungen mit ihren eigenen Stiefmüttern gemacht. Er zog die Kinder in seiner Zeit als Botschafter in Paris groß. Nach dem Tod seiner jüngeren Tochter Mary im Alter von nur 25 Jahren verband ihn eine enge Beziehung mit seiner älteren Tochter Martha, die zwischen 1801 und 1809 als First Lady galt. Später trennte sie sich von ihrem Ehemann Thomas Mann Randolph und lebte bei Jefferson in Monticello. In seinen letzten Jahren kümmerte sie sich aufopferungsvoll um ihren Vater. Historische Forschung und mehrere DNA-Untersuchungen zu Ende des 20. Jahrhunderts belegen, dass Jefferson während der langjährigen Zeit seiner Witwerschaft mehrere Kinder mit seiner Haussklavin Sally Hemings zeugte. === Politische Karriere bis zum Ende des Unabhängigkeitskrieges === In den 1770er Jahren erwarb sich Jefferson einen guten Ruf als Anwalt und Politiker. Er war Abgeordneter im House of Burgesses, der zweiten Kammer des virginischen Parlamentes. 1774 veröffentlichte er A Summary View of the Rights of the British America. Diese Streitschrift, die als Instruktion für die virginischen Delegierten beim Kontinentalkongress gedacht war, machte ihn zu einem einflussreichen Vordenker der amerikanischen Patrioten, die sich gegen bestimmte Formen der britischen Besteuerung wandten. 1774 wurde Jefferson zum Abgesandten Virginias im Kontinentalkongress ernannt. Dort gehörte er dem Komitee an, das die Unabhängigkeitserklärung der Kolonien ausarbeiten sollte. Dieses Komitee beauftragte Jefferson, einen ersten Entwurf der Erklärung anzufertigen. Einige Verbesserungsvorschläge zu diesem Entwurf kamen von John Adams und Benjamin Franklin, und auch der Kongress selbst beschloss einige Änderungen. Trotzdem ist Jefferson der Hauptautor der Erklärung.Ende 1776 kehrte Jefferson nach Virginia zurück, wo er wieder in das Bürgerhaus gewählt wurde. Als Abgeordneter arbeitete er auf eine groß angelegte Reform des virginischen Rechtssystems hin. Er verfasste in drei Jahren 126 Gesetzesentwürfe und setzte sich dabei unter anderem für die Abschaffung der Primogenitur, für Religionsfreiheit und für eine Reform des Strafrechts sowie des Bildungswesens ein. Unterstützt wurde er dabei unter anderem von George Wythe, James Madison und George Mason.1779 wurde er zum Gouverneur von Virginia gewählt. Seine Amtszeit von 1779 bis 1781 war geprägt von den Auswirkungen des Unabhängigkeitskrieges. Die Briten marschierten zweimal in den Staat ein und besetzten für kurze Zeit die spätere Hauptstadt Richmond. Vom Vorwurf, nicht genug für die Sicherheit der Stadt getan zu haben, sprach ihn eine parlamentarische Untersuchungskommission frei. Danach zog er sich zunächst aus der Politik auf sein Anwesen Monticello zurück. Dort verstarb seine Frau am 6. September 1782 bei der Geburt ihres sechsten Kindes Lucy Elisabeth. 1784 öffnete er in Virginia einen indianischen Grabhügel und führte damit die erste systematische archäologische Ausgrabung in den Vereinigten Staaten durch, die er im 11. Kapitel seiner „Notes on the State of Virginia“ ausführlich beschrieb. === Botschafter und Außenminister === Die Jahre 1785 bis 1789 verbrachte Jefferson als Botschafter in Paris. Aus diesem Grund war er an der Diskussion um die Verfassung der Vereinigten Staaten und die Federalist Papers nicht direkt beteiligt. Die von der Philadelphia Convention ausgearbeitete Verfassung gefiel ihm im Großen und Ganzen sehr (besonders das System der Checks and Balances). Er vermisste allerdings eine Bill of Rights zum Schutz des Einzelnen. Auch kritisierte er, dass die Anzahl der Amtsperioden eines Präsidenten keinen Beschränkungen unterlag. In Paris verliebte sich Jefferson im August 1786 in die verheiratete Malerin Maria Cosway. Es kam nie zu einer Beziehung, die beiden führten jedoch eine lebenslange Brieffreundschaft. 1787 wurde Jefferson in die American Academy of Arts and Sciences gewählt. Der Diplomat nutzte seinen Aufenthalt in Europa für Reisen durch Südfrankreich und Oberitalien, wo er vor allem die Architektur sehr genau studierte, außerdem zur Atlantikküste sowie durch das heutige Belgien, die Niederlande und Teile Deutschlands, wo er sich sehr für das politische System des Heiligen Römischen Reiches interessierte.Mit Sympathie stand Jefferson der Französischen Revolution gegenüber. Er unterstützte die Revolutionäre, soweit es sein Status als Diplomat zuließ. Unter anderem half er dabei, die Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte zu entwerfen. Ende September 1789 verließ er Paris und reiste zurück in die USA. Nach seiner Rückkehr wurde Jefferson im März 1790 von George Washington zum Außenminister der Vereinigten Staaten ernannt. Bis dahin hatte John Jay noch für ihn amtiert. In dieser Funktion war er, zusammen mit dem Finanzminister Alexander Hamilton, einer der wichtigsten Berater Washingtons. Mit der Zeit gab es jedoch Konflikte zwischen Hamilton und Jefferson. Während Hamilton beispielsweise die Errichtung einer nationalen Zentralbank befürwortete, war Jefferson der Auffassung, dass die Verfassung der Regierung nicht die dazu nötige Vollmacht gebe. Der New Yorker Hamilton wollte außerdem vor allem die Industrie fördern und schützen. Das Hauptaugenmerk des Virginiers Jefferson galt der Landwirtschaft. Zudem entzweiten sich die beiden Politiker hinsichtlich der Außenpolitik: Jefferson war eher profranzösisch, Hamilton trat für eine engere Bindung an Großbritannien ein. Die politischen Streitigkeiten zwischen den beiden Männern führten schließlich zur Bildung der ersten Parteien der USA: Um Jefferson und seine Vertrauten (unter ihnen James Madison und James Monroe) bildete sich die Republikanische Partei (später Demokratisch-Republikanische Partei genannt), um Hamilton formierte sich die Föderalistische Partei. Die Konflikte zwischen den beiden Fraktionen dauerten trotz Vermittlungsversuchen durch den Präsidenten an. Jefferson zog sich schließlich 1793 enttäuscht aus der Politik zurück und widmete sich dem Ausbau von Monticello. === Vizepräsidentschaft === Doch auch diese Abwendung von der Politik war nicht von Dauer. Drei Jahre später wurde er von den Republikanern zu ihrem Kandidaten für die Präsidentschaft gekürt. Im Gegensatz zur heutigen Verfahrensweise wurden Präsident und Vizepräsident damals, auch wenn jeder Wahlmann je eine Stimme für diese Ämter zu vergeben hatte, noch nicht in getrennten Abstimmungen der Wahlmänner gewählt. Stattdessen wurde der Kandidat mit den meisten Wahlmännerstimmen Präsident, derjenige mit den zweitmeisten Stimmen Vizepräsident. Es konnte also vorkommen, dass zwei Kandidaten verschiedener Parteien gewählt wurden. Genau dies geschah 1796: John Adams, der bisherige Vizepräsident und Kandidat der Föderalisten, erhielt die meisten Wahlmännerstimmen (71) und wurde zum Präsidenten gewählt. Sein Kandidat für das Amt des Vizepräsidenten, Thomas Pinckney aus South Carolina, erhielt dagegen nur 59 Stimmen und damit neun weniger als Jefferson, der Vizepräsident wurde. Aaron Burr, Jeffersons Kandidat für die Vizepräsidentschaft, wurde mit 30 Stimmen Vierter.Als Vizepräsident war es Jeffersons Hauptaufgabe, über die Sitzungen des Senats zu präsidieren. In dieser Zeit schrieb er ein Handbuch über die Regeln und Prozeduren des Senats, A Manual of Parliamentary Practice (bekannt als Jefferson’s Manual). Während Adams’ Zeit als Präsident verschlechterten sich die Beziehungen zwischen den USA und Frankreich zunehmend, und 1798 kam es zum sogenannten Quasi-Krieg. Vor diesem Hintergrund verabschiedete der Kongress die Alien and Sedition Acts. Sie erlaubten dem Präsidenten unter anderem, Ausländer, die aus feindlichen Staaten kamen oder als gefährlich betrachtet wurden, abzuschieben oder in Haft zu nehmen. Außerdem wurde die Veröffentlichung „falscher, schändlicher und bösartiger“ Schreiben gegen die Regierung und ihre Beamten zum verbrecherischen Akt erklärt.Die Republikaner sahen diese vor allem von den Föderalisten propagierten Gesetze als Angriff auf die Freiheit an. Für Jefferson beispielsweise verstießen sie gegen den Ersten Verfassungszusatz, der das Recht auf freie Rede und freie Presse garantierte. Er und James Madison verfassten deswegen 1798 zwei Beschlüsse für die Parlamente von Virginia und Kentucky, die sogenannten Kentucky and Virginia Resolutions. In den von Jefferson verfassten Beschlüssen des Parlaments von Kentucky wurde die Union als ein „Pakt“ zwischen den Staaten und der Zentralgewalt bezeichnet. Wie schon beim Streit mit Hamilton über die Zentralbank argumentierte Jefferson, dass der Bund nur dort Kompetenz habe, wo sie ihm von der Verfassung eindeutig zugesprochen sei. Sollte er diese Kompetenz auch in anderen Bereichen beanspruchen, so wären diese Beschlüsse ungültig. Kentucky blieb jedoch der einzige Staat, der die von Jefferson geschriebenen Beschlüsse verabschiedete. Virginia verabschiedete eine von James Madison verfasste, etwas mildere Version. Auch diese wurde von keinem weiteren Staat der USA unterzeichnet. Zwei Jahre später standen wieder Wahlen für das Amt des Präsidenten an. Die Kandidaten der Republikaner waren dieselben wie vier Jahre zuvor, Jefferson und Burr, während die Föderalisten mit Adams und Charles Cotesworth Pinckney antraten. === Präsidentschaft === ==== Die Wahl 1800 ==== Der Wahlkampf 1800 war einer der am aggressivsten geführten in der Geschichte der Vereinigten Staaten. Die Republikaner, verbittert über Adams’ Politik (vor allem über die Alien and Sedition Acts), warfen den Föderalisten monarchistische Tendenzen vor. Aus Sicht der Föderalisten hingegen war die Politik der Republikaner zu radikal. Der amtierende Präsident Adams war jedoch auch in den eigenen Reihen nicht unumstritten, da man ihn für zu gemäßigt hielt. Alexander Hamilton beispielsweise versuchte die Föderalisten zu überzeugen, Adams zugunsten von Pinckney aufzugeben, und veröffentlichte einen Brief, in dem er Adams kritisierte. Von dieser Uneinigkeit der Föderalisten profitierten die Republikaner und gewannen die Wahl nach Stimmen. Aufgrund der Besonderheiten des damaligen Wahlverfahrens verfügten sowohl Jefferson als auch sein designierter Vizepräsident, der New Yorker Aaron Burr, im Wahlmännerkollegium über jeweils 73 Stimmen. Nun fiel verfassungsgemäß dem Repräsentantenhaus die Aufgabe zu, diese Pattsituation in einer Stichwahl zu entscheiden. Die Föderalisten verfügten hier jedoch über eine Sperrminorität und wählten bei der Abstimmung Burr, um so Jeffersons Wahl zum Präsidenten zu verhindern. Es kam zu mehreren Wahlgängen, und jedes Mal verfehlte Jefferson die nötige Mehrheit knapp. Schließlich fanden einige Föderalisten eine Möglichkeit, dem Stillstand ein Ende zu setzen und gleichzeitig ihr Gesicht zu wahren: Sie blieben der nächsten Abstimmung, der insgesamt 36., fern, wodurch Jefferson die erforderliche Mehrheit erreichte und zum Präsidenten gewählt wurde. Seinem Vizepräsidenten Burr misstraute Jefferson spätestens seit dieser Wahl, da er vermutete, Burr habe geplant, während der Wahl zu den Föderalisten zu wechseln und sich mit ihren Stimmen zum Präsidenten wählen zu lassen. Das Verhältnis zwischen den beiden verschlechterte sich während ihrer Amtszeit zusehends; nach vier Jahren hatte sich Burr der republikanischen Partei so entfremdet, dass er 1804 nicht wieder zur Wahl nominiert wurde. Unter dem Eindruck der Wahl von 1800 wurde das Wahlverfahren bei der Präsidentschaftswahl durch den 12. Verfassungszusatz geändert. Seither wird im Wahlmännerkollegium getrennt für den Präsidenten und den Vizepräsidenten abgestimmt. Mit der Wahl von 1800 stellte die demokratisch-republikanische Partei erstmals den Präsidenten und sollte dies ununterbrochen für das folgende Vierteljahrhundert tun. Die Wahl ist deswegen auch als die „Revolution von 1800“ bekannt. ==== Erste Amtsperiode ==== Ein wichtiges Ereignis in Jeffersons Amtszeit als Präsident war der Kauf der französischen Kolonie Louisiana. Jefferson sandte 1801 Robert R. Livingston nach Frankreich, um dort über einen Kauf der Stadt New Orleans zu verhandeln, was aber in Paris auf Ablehnung stieß. Zu Livingstons Unterstützung entsandte Jefferson auch James Monroe nach Paris. Doch noch vor dessen Ankunft hatten Napoleon und sein Außenminister Talleyrand den Amerikanern ein anderes, viel weitreichenderes Geschäft angeboten: Sie waren bereit, nicht nur New Orleans, sondern die ganze Kolonie Louisiana zu verkaufen. Durch diesen Kauf hätten die Vereinigten Staaten ihr Territorium praktisch verdoppelt, und dies zu einem Preis von 15 Millionen Dollar, was etwa sieben Dollar pro Quadratkilometer entsprach. Jefferson und sein Außenminister James Madison waren sich anfangs nicht sicher, ob die Verfassung ihnen das Recht gab, Land zu kaufen. Jefferson entwarf sogar einen dafür nötigen Verfassungszusatz. Er entschied sich schließlich dafür, das Angebot ohne Ergänzung der Verfassung anzunehmen. Der Vertrag wurde am 30. April 1803 unterzeichnet. Der Senat ratifizierte ihn am 20. Oktober. Um das neue Gebiet zu erforschen, sandte Jefferson seinen einstigen Privatsekretär Meriwether Lewis und den Offizier William Clark auf eine Expedition, die sie durch ganz Amerika bis an den Pazifischen Ozean führen sollte. Lewis und Clark sollten einen Wasserweg zum Pazifik finden und die Geologie und die Tierwelt des neuerstandenen Territoriums erforschen. Außerdem sollten sie freundschaftliche Beziehungen zu den Indianerstämmen aufbauen. Dank der mehrjährigen Expedition, die von Mai 1804 bis September 1806 dauerte, gewannen die USA umfassende Erkenntnisse über die Geographie, Flora und Fauna des von ihnen erworbenen Gebietes. Lewis und Clark entdeckten mehrere Hundert bis dato unbekannte Tier- und Pflanzenarten und brachten zahlreiche Proben davon nach Osten. Ein weiteres außenpolitisches Ereignis während Jeffersons erster Amtsperiode war der Amerikanisch-Tripolitanische Krieg im Mittelmeer gegen die Barbareskenstaaten. Die Barbaresken kontrollierten mit ihren Schiffen das Mittelmeer und forderten von ausländischen Handelsschiffen Tribut. Als britische Kolonie waren die amerikanischen Schiffe durch die Royal Navy vor solchen Bedrohungen geschützt worden, doch nach der Unabhängigkeit kam es vermehrt zu Angriffen auf amerikanische Schiffe und zu Lösegeld- beziehungsweise Tributforderungen. 1801 forderte der Pascha von Tripolis 225.000 $ von der amerikanischen Regierung, was aber von Jefferson abgelehnt wurde. Daraufhin kam es zum Krieg zwischen den USA und Tripolis sowie dessen Verbündeten. Nach mehreren Gefechten im Mittelmeer gelangten beide Seiten 1805 zu einer Einigung, und die Vereinigten Staaten bezahlten Tripolis 60.000 $. Im Gegenzug wurden 100 tripolitanische gegen 300 amerikanische Gefangene ausgetauscht. Innenpolitisch war es Jeffersons erklärtes Ziel, die Schulden der jungen Republik abzubauen. Tatsächlich war sein Finanzminister Albert Gallatin hierbei erfolgreich: Gallatin war bis 1814 im Amt (also fünf Jahre länger als Jefferson) und reduzierte in dieser Zeit die Schulden von 80 Millionen Dollar auf 45 Millionen.Eine innenpolitische Niederlage erlitt Jefferson im Kampf gegen die von Föderalisten dominierte Rechtsprechung. Am 13. Februar 1801, kurz vor Jeffersons Wahl, hatte der damals noch von Föderalisten beherrschte Kongress ein neues Gerichtsgesetz (Judiciary Act of 1801) verabschiedet. Der Judiciary Act schuf eine Reihe neuer Bundesgerichte, die durch die Föderalisten kontrolliert werden sollten. Kurz vor Jeffersons Amtseinführung am 2. März 1801 hatte Adams noch 42 Föderalisten zu Richtern an diesen Gerichten ernannt. Adams’ Außenminister John Marshall (selbst kurz vor der Amtseinführung als Oberster Richter des Supreme Courts) konnte jedoch nicht alle Ernennungsurkunden bis zum Ende von Adams’ Amtsperiode zustellen. Jefferson sah diese Ernennungen deswegen als nichtig an. William Marbury, einer der davon betroffenen Richter, legte daraufhin Klage beim Obersten Gerichtshof ein und wollte Jeffersons Außenminister James Madison gerichtlich dazu zwingen, ihm die Urkunde auszuhändigen. In der daraus resultierenden Entscheidung Marbury v. Madison erklärte sich der Oberste Gerichtshof für nicht zuständig. Bevor er dies feststellte, gelang es dem Obersten Richter John Marshall in seiner Erklärung, Jeffersons Regierung aufgrund der Nichtaushändigung der Urkunde des Rechtsbruchs zu bezichtigen. Damit konnte er zwar nicht dafür sorgen, dass Marbury seine Urkunde erhielt, doch stärkte er mit seinem Spruch die Position des Obersten Gerichtshofs, indem er den Vorrang der Verfassungsgerichtsbarkeit etablierte. Die Republikaner befürchteten, dass die von Föderalisten kontrollierten Gerichte sich Jefferson und seiner Regierung in den Weg stellen würden, und versuchten, mehrere Richter mittels Impeachment ihrer Ämter zu entheben. Dies gelang ihnen jedoch nur im Fall von John Pickering. ==== Wiederwahl 1804 und zweite Amtsperiode ==== Zur Präsidentschaftswahl 1804 trat Jefferson mit seinem neuen Vizepräsidenten George Clinton an. Aaron Burr hatte sein Amt niederlegen müssen, da er in einem Duell Alexander Hamilton tödlich verwundet hatte und daraufhin in zwei Bundesstaaten wegen Mordes angeklagt worden war. Die Kandidaten der Föderalisten waren Charles C. Pinckney und der New Yorker Senator Rufus King. Jefferson und Clinton gewannen die Wahl mit überwältigender Mehrheit; beide erreichten 162 Wahlmännerstimmen, ihre Gegner nur jeweils 14. Jeffersons zweite Amtszeit erwies sich dennoch als schwieriger als die erste. So bildete sich um John Randolph innerhalb der Demokratisch-Republikanischen Partei eine Opposition gegen ihn und seine Politik. In den Augen von Randolph und seinen Parteigängern, die sich „Tertium Quid“ nannten, hatte sich Jeffersons Politik immer stärker der Position der Föderalisten angenähert. So kritisierten die Tertium Quids beispielsweise den Kauf von Louisiana, da die Verfassung dem Kongress nicht die Vollmacht gebe, Land zu kaufen. Aus demselben Grund stellten sie sich auch gegen einen Versuch Jeffersons, den Spaniern Teile von Florida abzukaufen.Ein weiteres innenpolitisches Problem für Jefferson stellte sein ehemaliger Vizepräsident Aaron Burr dar. Nach dem Duell mit Hamilton und seinem erzwungenen Rückzug aus der Politik machte Burr durch seine Umtriebe im Westen des Landes von sich reden. Bald drangen Gerüchte nach Washington, er plane eine Verschwörung und wolle im Südwesten der USA ein eigenes Reich aufbauen, das einige US-Staaten und von den Spaniern zu eroberndes Gebiet umfassen solle. Nachdem er im Februar 1807 festgenommen worden war, ließ Jefferson ihn unter dem Vorwurf des Landesverrats vor ein Bundesgericht stellen. Burr wurde jedoch nicht für schuldig befunden.Außenpolitisch verfolgte Jefferson einen strikten Kurs der Nichteinmischung in europäische Kriege. Aus diesem Grund, und in der Absicht, Großbritannien von Übergriffen auf amerikanische Schiffe abzubringen, initiierte Jefferson 1807 den Embargo Act, der den Export amerikanischer Güter nach Europa unterbinden sollte. Das Gesetz erzielte jedoch nicht die beabsichtigte Wirkung. Zahlreiche amerikanische Seeleute verloren ihre Arbeit, Neuengland war aufgrund der aus dem Embargo resultierenden wirtschaftlichen Probleme in Aufruhr, aber weder Großbritannien noch Frankreich änderten ihre Politik gegenüber den Vereinigten Staaten. Das Gesetz wurde schließlich 1809 zurückgenommen. Die britischen Übergriffe gegen den amerikanischen Handel sollten drei Jahre später zum Krieg von 1812 führen. Am Ende seiner zweiten Amtszeit erklärte Jefferson schließlich, bei der Präsidentschaftswahl 1808 nicht mehr für eine dritte kandidieren zu wollen. Nachdem James Madison ihn am 4. März 1809 abgelöst hatte, zog er sich nach Monticello zurück. Thomas Jefferson gehört zu den sieben US-Präsidenten, die während ihrer Amtszeit kein einziges Mal von ihrem Vetorecht Gebrauch machten. Er unterzeichnete sämtliche ihm zugeleiteten Gesetzesentwürfe. === Ruhestand === Zurück auf Monticello bei seiner Familie, kümmerte sich Jefferson in den nächsten Jahren vor allem um den Ausbau seines Heims, das um 1769 nach seinen Plänen entstanden war. Als Vorlage für Monticello hatten ihm Andrea Palladios Villa La Rotonda und das Pantheon in Rom gedient. Jefferson pflegte auch eine umfangreiche Korrespondenz mit vielen bedeutenden Persönlichkeiten seiner Zeit. Um sich das Briefeschreiben zu erleichtern, hatte er einen Vorläufer des Kopierers, den von John Isaac Hawkins erfundenen Jefferson-Polygraphen, erworben, mit dem man beim Verfassen eines Briefes direkt eine Abschrift anfertigen konnte. Jefferson bezeichnete das Gerät in einem Brief als „die erlesenste Erfindung dieses Zeitalters“ und schrieb später, nicht mehr ohne den Polygraphen leben zu können.Bis Ende des 18. Jahrhunderts hatte Jefferson eine enge Freundschaft mit John Adams und seiner Frau Abigail verbunden, die später unter den politischen Ereignissen der Zeit gelitten hatte. Nun, da beide im Ruhestand waren, nahmen sie ihre Korrespondenz wieder auf.Ein weiteres „Großprojekt“ Jeffersons, dem er viel Bedeutung zumaß, war die Gründung der University of Virginia in Charlottesville. Die Idee, auf Bundesstaatsebene eine neue virginische Universität zu gründen, hatte er bereits in den 1770er Jahren gehabt, und auch danach hatte er diesen Wunsch oft geäußert. Nach dem Ende seiner Präsidentschaft widmete er sich intensiv diesem Thema. Auf Betreiben Jeffersons und des ihn unterstützenden Politikers Joseph C. Cabell beschloss das Parlament von Virginia, eine weitere staatliche Universität einzurichten. Eine Kommission wurde einberufen, die für den Aufbau der neuen Hochschule zuständig war, und Jefferson wurde 1818 deren Vorsitzender. In dieser Funktion hatte er großen Einfluss sowohl auf den äußeren als auch den inneren Aufbau der neuen Universität. Er konnte sich nicht nur bei der Wahl des Ortes, der Berufung zahlreicher Professoren und dem Umfang des Fächerkanons durchsetzen, sondern entwarf auch die Pläne für das Universitätsgebäude – mit Anregungen vor allem von Benjamin Latrobe. Die neue Universität entsprach schließlich sowohl architektonisch als auch ideologisch seinen Vorstellungen. Sie war geprägt von seinem Wunsch nach Trennung von Kirche und Staat. Ihren Mittelpunkt bildete nicht, wie bei anderen Universitäten der damaligen Zeit, eine Kirche, sondern eine Bibliothek. Außerdem bot die Universität ihren Studenten ein großes Ausmaß an Freiheit und Vielfalt bei der Wahl ihrer Fächer.Seine Kartensammlung, die Thomas Jefferson Collection, wurde 1815 von der Library of Congress erworben, wo sie 1851 bei einem Brand teilweise vernichtet wurde. === Letzte Jahre === Gegen Ende seines Lebens plagten Jefferson besonders finanzielle Probleme. Zeitweise hatte der Wert seines Besitzes (auf heutige Verhältnisse umgerechnet) 212 Millionen Dollar betragen; doch hatte er auch stets als großzügiger virginischer Gentleman gelebt und Unsummen in den Bau und Ausbau von Monticello investiert. Die Übernahme der Bürgschaft für einen Freund führte zu noch mehr Schulden, so dass er schließlich einen Großteil seines Besitzes verkaufen und die Gewissheit akzeptieren musste, dass auch seine Erben Monticello nicht würden halten können.Aber auch die Politik der Vereinigten Staaten bereitete ihm große Sorgen. Vor allem der Missouri-Kompromiss von 1820 weckte ihn „wie die Feuerglocke in der Nacht“, so schrieb er im April 1820 an John Holmes. Seiner Ansicht nach erlaubte es die Verfassung der Zentralregierung nicht, die Verbreitung der Sklaverei zu verhindern. Weiter heißt es in dem Brief: „Ich bedauere es, nun in dem Glauben zu sterben, dass die vergebliche Selbstaufopferung der Generation von 1776, um Selbstverwaltung und Glück für ihr Land zu erringen, von den unklugen und unwürdigen Leidenschaften ihrer Söhne weggeworfen werden soll.“Schließlich kamen auch noch gesundheitliche Probleme hinzu, und Jefferson musste eine Einladung von Roger Weightman für eine Feier anlässlich des 50. Jahrestages der Verkündung der Unabhängigkeitserklärung absagen. In seinem Antwortbrief an Weightman wandte er sich aber noch ein letztes Mal an das amerikanische Volk. Die allgemeine Verbreitung des „Lichts der Wissenschaft“, so schrieb er, habe bereits die augenfällige Wahrheit jedem offenbar gemacht, „dass die breite Masse der Menschheit nicht mit Sätteln auf ihren Rücken geboren sind, noch einige wenige gestiefelt und gespornt, bereit, rechtmäßig, durch die Gnade Gottes, auf ihnen zu reiten.“ Etwas mehr als eine Woche später starb Jefferson am 4. Juli 1826, dem 50. Jahrestag der Verkündigung der von ihm verfassten Unabhängigkeitserklärung. Am selben Tag starb auch sein Vorgänger im Amt des Präsidenten, politischer Gegner und langjähriger Freund John Adams. == Überzeugungen und Ansichten == === Ideale === Jeffersons Überzeugungen standen in der Tradition der Aufklärung. Er bezeichnete einmal John Locke, Francis Bacon und Isaac Newton als „die drei größten Männer, die die Welt je hervorgebracht hat.“ Sein Ideal von Amerika war das einer Nation von freien, unabhängigen Bauern. So war er der Ansicht, dass jede Familie im Lande „eine Manufaktur für sich“ ist und in der Lage alle „gröberen und mittleren Materialien für die eigne Kleidung und den Haushaltsbedarf selbst herzustellen.“ Er setzte sich dafür ein, dass jeder Amerikaner ein Stück Land erwerben könne. Jefferson war auch ein Vertreter des freien Handels. So hatte er als Gesandter in Europa ein Handelsabkommen mit Preußen abgeschlossen. Sein Bekenntnis zu Landwirtschaft und freiem Handel war auch einer der Hauptgründe für seinen Streit mit Alexander Hamilton. Hamilton wollte die heimische Wirtschaft und Industrie notfalls durch Zölle vor europäischen Importen schützen. Hier zeigt sich bereits im Verhältnis dieser beiden Männer, des Virginiers Jefferson und des New Yorkers Hamilton, die spätere Kerndiskrepanz zwischen dem landwirtschaftlich geprägten Süden und dem industrieorientierten Norden. Diese Spaltung zwischen Nord und Süd vertiefte sich in den folgenden Jahren immer mehr und fand schließlich im Sezessionskrieg ihren Höhepunkt. Zudem war Jefferson als aufgeklärter Politiker ein Vorkämpfer für Demokratie und Menschenrechte, wie beispielsweise die berühmte Formulierung von den „selbstverständlichen Wahrheiten“ in der Unabhängigkeitserklärung zeigt. Auch während seiner Zeit als Diplomat in Frankreich, zu Beginn der Französischen Revolution, setzte er sich stark für die Menschenrechte ein und half dabei, die Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte zu entwerfen. In seiner Rede zur ersten Amtseinführung erklärte er außerdem: „Manchmal wird gesagt, man kann einem Menschen nicht die Gewalt über sich selbst anvertrauen – kann man ihm dann die Gewalt über andere anvertrauen?“Was die Vereinigten Staaten betraf, so war Jefferson für eine enge Auslegung der Verfassung und ein eifriger Verfechter der Rechte der Einzelstaaten. In den Kentucky Resolutions vertrat er die Meinung, die USA seien ein Bund der Einzelstaaten mit einer Zentralmacht. Letztere hatte seiner Ansicht nach nur dort Befugnisse, wo die Verfassung sie ihr eindeutig zuschrieb: „Immer, wenn die Zentralregierung sich Machtbefugnisse anmaßt, die ihr nicht übertragen wurden, sind ihre Gesetze unverbindlich, ungültig und wirkungslos.“ Jefferson sprach sich auch für die Nullifikation aus: „Wo Machtbefugnisse [seitens der Zentralregierung] in Anspruch genommen werden, die nicht übertragen wurden, ist Nullifikation die rechtmäßige Abhilfe.“ Seiner Meinung nach sollten die Einzelstaaten und nicht die Zentralgewalt das letzte Wort bei Verfassungskonflikten haben. Bei den Auseinandersetzungen um die Verfassungsauslegung münzte Jefferson nach Ansicht von David Sehat die ursprünglich eher konsolidierende Haltung der Verfassung von 1787 in die die Rechte der Einzelstaaten betonenden „Prinzipien von 1798“ um. Auch diese wurden nach seinem Tod aber oft auf verschiedene Weise interpretiert. Jeffersons strikte Auslegung der Verfassung und sein Eintreten für die Rechte der Einzelstaaten waren die wichtigsten Gründe dafür, dass er die Errichtung der Zentralbank und die Alien und Sedition Acts ablehnte. Es zeigte sich aber, dass Jefferson die Verfassung als Präsident weniger eng auslegte, als er es als Oppositioneller getan hatte. So tätigte er beispielsweise den Kauf von Louisiana, obwohl die Verfassung an keiner Stelle der Bundesregierung die Befugnis gab, Land zu erwerben. Ein ähnliches Beispiel ist das Handelsembargo gegen Ende seiner Präsidentschaft. Während seiner Präsidentschaft setzte Jefferson teilweise Methoden ein (Einsatz von Armee und Marine im Innern, Beschlagnahmen von Waren ohne Durchsuchungsbefehle), die er 40 Jahre zuvor dem britischen König vorgeworfen hatte und die gegen die Bill of Rights verstießen. Diese Kluft zwischen Realpolitik und Idealen ist ein Grund dafür, weshalb Jefferson später über viele Jahre, auch von einander entgegengesetzten politischen Gruppierungen, je nach politischer Lage verehrt oder gehasst wurde. === Haltung zur Sklaverei === Wie viele südstaatliche Grundbesitzer seiner Zeit besaß Jefferson zahlreiche Sklaven. Seine zwiespältige Haltung gegenüber der Institution der Sklaverei lässt sich aus heutiger Sicht nur schwerlich mit seinen Überzeugungen von Freiheit und Gleichheit vereinen. Zwischen seinen naturrechtlichen Vorstellungen vom Recht jedes einzelnen Menschen auf Leben, Freiheit und Glück und der Tatsache, dass er diese Rechte den eigenen Sklaven vorenthielt, zeigt sich ein großer Widerspruch. Diese Diskrepanz zwischen politisch-sozialen Überzeugungen und tatsächlichem Handeln war zu Jeffersons Zeit aber keineswegs ungewöhnlich. Ein Großteil der Gründerväter der Vereinigten Staaten hielt Sklaven, darunter auch Benjamin Franklin, James Madison und George Washington. Schwarze galten zu jener Zeit vielen als Angehörige minderwertiger Rassen, mithin nicht als vollwertige Menschen.Jefferson selbst war sich dieses Widerspruchs durchaus bewusst. Bekannt ist sein Ausspruch, bei der Sklaverei zu bleiben, sei dasselbe, wie einen Wolf an den Ohren zu halten: Man wolle gerne loslassen, könne es aber nicht aus Angst, gefressen zu werden. 1769, noch im House of Burgesses, hatte Jefferson vergeblich die Emanzipation der Schwarzen in Virginia angeregt. Er selbst entließ aber nur wenige seiner Sklaven in die Freiheit. Besonders augenfällig wird sein persönlicher Zwiespalt in seinem Buch Notes on the State of Virginia, in dem er einerseits die Sklaverei als Institution angreift, an anderer Stelle jedoch die These vertritt, dass die Schwarzen den Weißen unterlegen seien. Für die Unabhängigkeitserklärung schrieb Jefferson einen Paragraphen, der den britischen König für den Transport der Sklaven verurteilte. Der Kontinentalkongress strich jedoch diesen die Sklaverei verurteilenden Punkt aus dem Dokument, da es die Zustimmung der Bürger aus den sklavenhaltenden Kolonien finden sollte. Besonders brisant wird seine Haltung zur Sklaverei durch die Sally-Hemings-Kontroverse. Sally Hemings war eine Sklavin von Jeffersons Frau Martha Wayles Jefferson und als Mulattin vielleicht sogar ihre Halbschwester. Bereits 1802 behauptete der politische Pamphletist James T. Callender, dass Jefferson der Vater ihrer Kinder sei. Diese Diskussion wurde lange Jahre hitzig geführt. Heute wird, auch aufgrund von DNA-Analysen, überwiegend die Meinung vertreten, dass Jefferson tatsächlich der Vater von Hemings Kindern war. Dies ist auch deswegen bemerkenswert, weil er 1785 gefordert hatte, die Rassen zu trennen, um eine Vermischung zu vermeiden. === Haltung zu den Indianern === Die Westexpansion der Vereinigten Staaten fand mit dem Kauf von Louisiana einen ersten Höhepunkt. Unweigerlich kamen die Vereinigten Staaten dabei in Konflikt mit den dort sesshaften Indianern. Für deren Kultur hatte Jefferson bereits früh ein enormes Interesse und teilweise Bewunderung gezeigt. Eine Rede des Indianerhäuptlings Logan bezeichnete er beispielsweise als den Ansprachen von Marcus Tullius Cicero und Demosthenes ebenbürtig, und seit 1780 sammelte er indianische Vokabellisten. Die nordamerikanischen Indianer hielt er, wie viele Zeitgenossen, aufgrund ihrer teilweise nomadischen Lebensweise für „Wilde“, und in Briefen an sie bezeichnete er sie als „meine Kinder“.Anders als viele Menschen seiner Zeit war er jedoch der Meinung, die Indianer seien dem weißen Mann körperlich und geistig gleichwertig. Er drängte die Indianer deswegen in zahlreichen Briefen, ihre bisherige Art zu leben aufzugeben und sich der Zivilisation des weißen Mannes anzunähern. Andernfalls, so fürchtete er, würden sie von der Erde verschwinden. Als Präsident versuchte er, diese Entwicklung durch Friedensverträge und Handelsabkommen zu beschleunigen. Um die Integration der Indianer in die weiße Gesellschaft zu erleichtern, gab Jefferson sogar seinen strengen Laizismus auf und sandte christliche Missionare nach Westen. Jeffersons Assimilierungspolitik, die zuvor auch George Washington betrieben hatte, scheiterte jedoch an den Massen von weißen Siedlern, die nach Westen strebten und die Indianer verdrängten. === Haltung zur Religion === Weniger zwiespältig war Jeffersons Haltung zur Religion. Er trat vehement für eine Trennung von Staat und Kirche und für religiöse Freiheit ein. In einem Brief verlieh er seiner Überzeugung Ausdruck, dass ein Mensch niemandem „Rechenschaft für seinen Glauben oder seinen Gottesdienst schuldet, dass die gesetzgebende Macht der Regierung sich nur auf Handlungen erstreckt, nicht auf Meinungen“. Jefferson war der Autor des Virginia Statute for Religious Freedom (geschrieben 1777, verabschiedet 1786), das die Bekenntnisfreiheit in Virginia garantierte. Auch bei der Errichtung der Universität achtete er streng auf die Trennung von Bildung und Kirche. Er selbst war bei seinem Tode Mitglied der Episkopalkirche, hatte sich aber auch positiv über die Unitarier geäußert. Auch versuchte er, eine neue Fassung des Neuen Testaments zu erstellen, bei der er beispielsweise auf die Erzählung von Wundergeschichten verzichtete. Dieses Buch wurde erst nach seinem Tod veröffentlicht und ist seither als Jefferson Bible bekannt. == Universalgelehrter == Jefferson war sowohl auf naturwissenschaftlichem als auf geisteswissenschaftlichem Gebiet umfassend gebildet. Er war seit 1780 Mitglied der American Philosophical Society, der er 1797 bis 1815 außerdem als Präsident vorstand. Überdies gilt er als Pionier der amerikanischen Archäologie, da er Indianergräber in der Umgebung von Monticello auf ihr Alter untersuchte. Dabei setzte er erstmals eine Methode ein, die als Vorläufer der Dendrochronologie angesehen werden kann: Er zählte die Jahresringe der auf den Grabhügeln stehenden Bäume. Ihn zum geistigen Ahnherrn der Archäologie zu erheben ist kritisiert worden, weil er weniger Interesse am Verständnis der indigenen Kultur als an deren Zerstörung hatte. Besonders ausgeprägt war sein Interesse an der Biologie. So schärfte er seinem Privatsekretär Meriwether Lewis vor dessen Expedition zum Pazifischen Ozean ein, sein Augenmerk auch auf Tier- und Pflanzenwelt, Klima, Landschaft und vulkanische Aktivitäten des Territoriums, das er durchreisen sollte, zu richten. Bereits 1822 wurde ein prähistorisches Bodenfaultier nach ihm benannt (Megalonyx jeffersoni), dessen Fossilreste er 1799 erstmals beschrieben hatte.Aufgrund seiner architektonischen Leistungen – neben Monticello und der Universität von Virginia war er maßgeblich am Kapitol von Virginia in Richmond beteiligt – wird er darüber hinaus als „Vater (wahlweise auch als Taufpate) der amerikanischen Architektur“ bezeichnet. Auch als Erfinder tat sich Thomas Jefferson hervor und erfand unter anderem eine Art bewegliche Garderobe für seine Kleidung. Des Weiteren entwickelte er ein Chiffriergerät, den „Wheel Cypher“, der später auch als „Jefferson-Walze“ bekannt wurde. Diese Erfindung wird als herausragende Leistung auf dem Gebiet der Kryptologie angesehen. Jefferson selbst hat sein Gerät nie eingesetzt, später wurde es allerdings häufig verwendet, eine etwas abgeänderte Version war noch während des Zweiten Weltkrieges im Gebrauch der amerikanischen Streitkräfte.Ferner versuchte Jefferson nach seiner Rückkehr aus Frankreich in Monticello Wein anzubauen. Bereits während seiner Zeit als Botschafter in Frankreich setzte er sich mit dem europäischen Weinbau auseinander. So beschrieb und strukturierte er während einer Reise 1788 mehrere Weinberge im Rheingau – bereits hier kaufte er Weinstöcke für sein geplantes Projekt. Als Weinliebhaber hatte er in dieser Zeit zahlreiche Weingebinde edelster Gewächse aus dem Bordelais erworben. Er soll sie mit seinen Initialen „Th. J.“ markiert haben und ließ sie dann in die USA verschiffen. Heutzutage sind solche Flaschen bei Sammlern sehr begehrt, jedoch wegen Fälschungsverdachts in neuerer Zeit teils auch Gegenstand von gerichtlichen Auseinandersetzungen.Sein Wissensdurst manifestierte sich in seiner mehr als 6.500 Bände umfassenden Bibliothek. Als während des Krieges von 1812 die Kongressbibliothek im August 1814 dem Brand von Washington zum Opfer fiel, bot Jefferson seine Privatbibliothek, die rund 3.500 Bände mehr als die ursprüngliche Kongressbibliothek umfasste, dem Kongress zum Kauf an, was dieser schließlich akzeptierte. Der Erlös aus dem Verkauf verbesserte Jeffersons prekäre wirtschaftliche Situation zumindest zeitweilig. == Wirkung == Jefferson, schon zu Lebzeiten oft kontrovers beurteilt, wurde auch nach seinem Tod auf verschiedene Weise betrachtet. Nach Ansicht von David Sehat war es Thomas Jefferson, der bei den Auseinandersetzungen um die Auslegung der Verfassung das bis heute bestehende Motiv in die amerikanische Politik einführte, sich auf den Willen der Gründerväter zu berufen. Er benutzte in seinen Reden oft die Worte von „the true principles of the Revolution“ und warf seinen Gegnern Häresie und Untreue gegenüber diesen Idealen vor. In diesem Verhalten zeigte sich auch sein Muster, normale inhaltliche Differenzen zum Streit über Prinzipien zu eskalieren und sein Gegenüber zu dämonisieren. Bis Jefferson waren diese Methoden zwischen den ursprünglichen Mitstreitern der Republik laut Sehat nicht vorhanden gewesen.Darüber hinaus wurden Jefferson und seine Prinzipien auch selbst zu einem politischen Begriff und Erbe. Besonders die von Andrew Jackson geführte Demokratische Partei erhob ihn in den 1820er und 1830er Jahren zu ihrem Idol. Doch wurde Jefferson später auch zur Identifikationsfigur für Jackson-Gegner. So kam es dazu, dass im Verlauf der 1830er Jahre sowohl Demokraten als auch Whigs Anspruch auf das Erbe Jeffersons erhoben und der jeweils anderen Partei vorwarfen, gegen die alten Prinzipien zu verstoßen. Bei der Diskussion um die Rechte der Einzelstaaten war Jefferson allgegenwärtig. Bereits 1832/33 im Zuge der Nullifikationskrise war er von mehreren Seiten zur Symbolfigur erhoben worden. Die Verfechter der Nullifikationsdoktrin versuchten, diese auf der Basis von Jefferson Eintreten für die Rechte der Einzelstaaten zu begründen. Besondere Bedeutung kam dabei den Kentucky Resolutions von 1798 zu. Dort, so die Argumentation der Nullifizierer, habe Jefferson selbst die Nullifikation empfohlen. Widerstand gegen diese Auslegung der Resolutions kam unter anderem von Jeffersons engem Vertrauten James Madison, der die Nullifikationsbewegung kritisierte. Jene Doktrin, so Madison, gebe sieben von 24 Staaten die Macht, über Recht und Verfassung der anderen 17 zu entscheiden. Auch wenn Jefferson selbst ebenfalls den Willen der Mehrheit hochgehalten hatte (so zum Beispiel in seiner ersten Amtseinführungsrede als Präsident, in der er aber auch zugleich den Schutz der Rechte der Minderheiten betonte), wurde er während der Nullifikationskrise vor allem im Süden zu einer Symbolfigur für die Rechte der Einzelstaaten und für Nullifikation. Diese Auslegung hielt in den Südstaaten an, als die Debatte um die Rechte der Einzelstaaten immer mehr mit der Sklavereifrage verknüpft wurde. Während die Abolitionisten auf die Unabhängigkeitserklärung und andere die Sklaverei verurteilende Schriften Jeffersons verwiesen, stellten die Befürworter der Sklaverei weiterhin Jeffersons Eintreten für die Rechte der Einzelstaaten in den Vordergrund. Als sich Mitte der 1850er Jahre die neue Republikanische Partei bildete, bezog sich diese sowohl programmatisch als auch namentlich („Republikanisch“) auf Jefferson. Horace Greeleys New York Daily Tribune schrieb 1860: „Die Doktrinen von Jefferson, die Lehren seines Beispiels […] werden viel öfter in republikanischen als in demokratischen Versammlungen zitiert und mit Applaus bedacht.“ Die Republikaner identifizierten sich vor allem mit Jeffersons publizierter Verurteilung der Sklaverei. Beim Widerstand gegen das Dred-Scott-Urteil vom März 1856, welches die Rechte der Sklavenhalter stärkte, und gegen das Sklavenfluchtgesetz zeigte man Parallelen zu Jeffersons Positionen gegenüber den Rechten der Einzelstaaten und den Befugnissen der Judikative auf. Gleichzeitig bezogen sich aber auch die Demokraten weiterhin auf Jefferson. Ein Wandel ergab sich mit Ausbruch des Sezessionskrieges. Die Südstaatler und ihre Unterstützer im Norden, wie z. B. Clement Vallandigham, sahen sich nicht als Revolutionäre, sondern als Bewahrer der alten, föderativen Republik an. Der Copperhead Vallandigham erklärte 1861: „Ich wünsche mir nichts sehnlicher als die Wiederherstellung der Union – der Bundesunion – so wie sie vor 40 Jahren gewesen ist.“ Andere Südstaatler bezogen sich auf Jeffersons „Prinzipien von 1798“, um ihr Sezessionsrecht zu untermauern. Im Gegenzug erwuchs im Norden eine Stimmung gegen Jeffersons politische Ideen. Andrew Dixon White schrieb: Nach dem Krieg während der nationalen Konsolidierung wandten sich immer mehr Republikaner dem davor fast in Vergessenheit geratenen Alexander Hamilton zu, dessen Ideen und politische Überzeugungen nun wieder an Bedeutung gewannen und zeitgemäßer zu sein schienen. Hamiltons ehemaliger Gegenspieler Thomas Jefferson dagegen schien nicht nur politisch überholt, auch sein Ideal eines landwirtschaftlichen Amerikas schien in einer Zeit industriellen Wachstums nicht mehr zeitgemäß. Ein Umdenken setzte Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts ein. Man begann sich vermehrt für den Privatmann Jefferson zu interessieren und schätzte sein Engagement für das öffentliche Bildungswesen. Die Demokratische Partei bezog sich nun wieder verstärkt auf ihn, und überall im Land entstanden Demokratische Clubs, die das Bild von Jefferson hochhielten und mitunter regelrechte Pilgerfahrten nach Monticello veranstalteten. Bei der Diskussion um den Spanisch-Amerikanischen Krieg argumentierten Gegner wie Befürworter einer Expansion unter anderem mit jeffersonschen Argumenten: Die Antiimperialisten verwiesen auf sein Ideal von Unabhängigkeit und Selbstbestimmung, während die Expansionisten sich auf den Kauf von Louisiana bezogen, der den Grundstein der amerikanischen Ausdehnung bildete.Angeführt von Woodrow Wilson versuchten die Demokraten im ersten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts eine Neuinterpretation Jeffersons, indem sie jeffersonsche Ideale mit moderneren Methoden umsetzen wollten. Diese Neuinterpretation wurde allerdings erst mit Franklin D. Roosevelts Präsidentschaft und dem New Deal Realität. Obgleich die Methoden von Roosevelts Programm eher an Hamilton als an Jefferson denken ließen, sahen viele Demokraten in Roosevelt einen „neuen Jefferson“ mit einer neuen, modernen Version der alten jeffersonschen Demokratie. Gleichzeitig versuchten aber auch die konservativen Gegner Roosevelts, sich politisch auf Jefferson zu beziehen. Die „Prinzipien von 1798“ und Jeffersons strikte Auslegung der Verfassung erlangten dabei wieder einmal besondere Bedeutung. Die demokratische Auslegung setzte sich jedoch durch. Jefferson wurde nach Roosevelts Reformen nicht mehr als Ratgeber für die politische Realität, sondern vielmehr als großer Demokrat und Vordenker eines freien Amerikas betrachtet. Der Jefferson-Biograph Merrill Peterson sah deswegen im New Deal das Ende der politischen Tradition Jeffersons: Der Demokrat Jefferson galt darüber hinaus auch als Gegenbild zu den totalitären Systemen in Europa. In dieser Zeit großer Popularität wurde sein Abbild am Mount Rushmore in Stein gehauen und auf die Fünf-Cent-Münze geprägt. Auch auf der Zwei-Dollar-Note ist sein Abbild zu sehen. 1943 wurde schließlich in Washington, D.C. das Jefferson Memorial eingeweiht. Trotz dieser großen Zuneigung und Bewunderung wurde Jefferson auch in späteren Jahren durchaus kritisch beurteilt. Im Zuge der schwarzen Bürgerrechtsbewegung erfuhren Jeffersons Haltung zur Sklaverei und seine Beziehung zu Sally Hemings besondere Aufmerksamkeit. Die Beziehung zu einer Sklavin und die Tatsache, dass Jefferson mehr als 600 Sklaven besaß, führten auch später immer wieder zu Diskussionen um die Erinnerungskultur. 2021 beispielsweise entschied ein Ausschuss des Stadtrates von New York, eine Statue Jeffersons aus dem Sitzungssaal zu entfernen.Bei aller Kritik spielt Jefferson dennoch weiterhin eine wichtige Rolle im Selbstverständnis der Amerikaner. John F. Kennedy begrüßte 1962 die Nobelpreis-Gewinner der westlichen Hemisphäre bei einem Dinner im Weißen Haus mit den Worten „I think this is the most extraordinary collection of talent, of human knowledge, that has ever been gathered together at the White House, with the possible exception of when Thomas Jefferson dined alone“. (Ich glaube, dass dies die außergewöhnlichste Ansammlung von Talent und menschlichem Wissen ist, die je im Weißen Haus versammelt war – vielleicht abgesehen von Thomas Jefferson, wenn er alleine aß.) Nach Ansicht von Jimmy Carter hatte er „die Fähigkeit, das, was die Leute um ihn herum sagten, einzukapseln und daraus die höchsten Ideale der Hoffnungen und des Charakters unserer Nation herauszuziehen und es in fließenden und inspirierenden Worten auszudrücken“, und für Abraham Lincoln waren die Prinzipien Jeffersons „die Axiome einer freien Gesellschaft“.Besonders hervorzuheben ist die von ihm verfasste Unabhängigkeitserklärung. Zahlreiche Redner zitierten Passagen aus ihr oder machten sie zu Themen ihrer Reden, so zum Beispiel Abraham Lincoln in seiner Gettysburg-Ansprache, Martin Luther King in seiner I-Have-a-Dream-Rede oder Bill Clinton in seiner ersten Amtseinführungsrede. Aufgrund dieser Nachwirkung wurden nach ihm auch viele Städte benannt, deren bekannteste Jefferson City ist, die Hauptstadt des Bundesstaats Missouri. Jefferson selbst wünschte, seinem von ihm selbst verfassten Epitaph zufolge, vor allem für drei Dinge in Erinnerung zu bleiben: Autor der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung, des Gesetzes von Virginia für religiöse Freiheit und Vater der Universität von Virginia. == Siehe auch == Kabinett Jefferson == Werkausgaben == Die maßgebliche Ausgabe der Werke Jeffersons ist: Julian P. Boyd (Hrsg.): The Papers of Thomas Jefferson. Princeton University Press, 1950–.Sie wurde 1950 begonnen und ist auf etwa 40 bis 50 Bände angelegt; bislang sind 36 Bände erschienen, die alle Schriften Jeffersons bis zum März 1802 umfassen. Ältere Werkausgaben sind mindestens für die weiteren Jahre noch heranzuziehen:Paul Leicester Ford (Hrsg.): The Works of Thomas Jefferson. 12 Bände. G. P. Putnam’s Sons, New York 1904. (die sogenannte „Federal Edition“; Digitalisat) Andrew A. Lipscomb, Albert Ellery Bergh (Hrsg.): The Writings of Thomas Jefferson. 20. Bände. Thomas Jefferson Memorial Association of the United States, Washington, D.C. 1903–1904. (die sogenannte „Memorial Edition“; Digitalisat)Eine gängige einbändige Ausgabe der wichtigsten Schriften Jeffersons ist: Merrill D. Peterson (Hrsg.): Jefferson: Writings. Library of America, New York 1984.In deutscher Übersetzung sind erschienen: Auswahl aus seinen Schriften, übersetzt und herausgegeben von Walter Grossmann. Schoenhof, Cambridge 1945 Betrachtungen über den Staat Virginia, herausgegeben und mit einem einführenden Essay von Hartmut Wasser. Manesse, Zürich 1989, ISBN 3-7175-8158-9 / ISBN 3-7175-8159-7. Jeffersons Rheintour oder das ökonomische Himmelbett, übers. und kommentiert von Willi Dittgen. Mercator, Duisburg 1991, ISBN 3-87463-175-3. == Filme == Life Portrait of Thomas Jefferson auf C-SPAN, 2. April 1999, 150 Minuten (englischsprachige Dokumentation und Diskussion mit den Historikern Andrew Burstein und Annette Gordon-Reed sowie geführte Tour durch Monticello) == Literatur == Joyce Appleby: Thomas Jefferson (= The American Presidents Series. Hrsg. von Arthur M. Schlesinger, Sean Wilentz. The 3rd President). Times Books, New York City 2003, ISBN 0-8050-6924-0. R.B. Bernstein: Thomas Jefferson. Oxford University Press, New York u. a. 2005, ISBN 0-19-518130-1 John B. Boles: Jefferson: Architect of American Liberty. Basic Books, New York 2017, ISBN 978-0-465-09468-4. Francis D. Cogliano: Thomas Jefferson: Reputation and Legacy. University of Virginia Press, Charlottesville 2008, ISBN 978-0-8139-2733-6. Noble E. Cunningham: Jefferson vs. Hamilton. Confrontations that shaped a nation. Bedford, Boston MA 2000, ISBN 0-312-08585-0 Joseph J. Ellis: American Sphinx. The Character of Thomas Jefferson. Knopf, New York 1997, ISBN 0-679-44490-4 William G. Hyland Jr.: Martha Jefferson: An Intimate Life with Thomas Jefferson. Rowman & Littlefield Publishers, Lanham MD 2015, ISBN 978-1-4422-3983-8 Ekkehart Krippendorff: Jefferson und Goethe. Europäische Verlagsanstalt, Hamburg 2001, ISBN 3-434-50210-6 Dumas Malone: Jefferson and His Time. 6 Bände. Little, Brown, Boston 1948–1981: Band I: Jefferson The Virginian (1948) ISBN 0-316-54472-8 Band II: Jefferson and the Rights of Man (1951) ISBN 0-316-54473-6 Band III: Jefferson and the Ordeal of Liberty (1962) ISBN 0-316-54469-8 Band IV: Jefferson the President: First Term, 1801–1805 (1970) ISBN 0-316-54466-3 Band V: Jefferson the President: Second Term, 1805–1809 (1974) ISBN 0-316-54464-7 Band VI: The Sage of Monticello (1981) ISBN 0-316-54463-9 Jon Meacham: Thomas Jefferson: The Art of Power, Random House 2012, ISBN 978-1-4000-6766-4. Merrill D. Peterson: The Jefferson Image in the American Mind. Oxford University Press, New York 1960; Reprint mit neuer Einleitung: University of Virginia Press, Charlottesville und London 1998, ISBN 0-8139-1851-0 Hartmut Wasser (Hrsg.): Thomas Jefferson. Historische Bedeutung und politische Aktualität. Zum 250. Geburtstag des „Weisen von Monticello“. Schöningh, Paderborn 1995, ISBN 3-506-79633-X (Digitalisat) == Weblinks == Literatur von und über Thomas Jefferson im Katalog der Deutschen Nationalbibliothek Werke von und über Thomas Jefferson in der Deutschen Digitalen Bibliothek Zeitungsartikel über Thomas Jefferson in den Historischen Pressearchiven der ZBW Thomas Jefferson in der National Governors Association (englisch) Texte von Thomas Jefferson (englisch) Creating a Virginia Republic – Thomas Jefferson (Library of Congress Exhibition) (englisch) Library of Congress: The Thomas Jefferson Papers (englisch) Thomas Jefferson Encyclopedia (englisch) American President: Thomas Jefferson (1743–1826). Miller Center of Public Affairs der University of Virginia (englisch, Redakteur: Peter Onuf) Thomas Jefferson im Biographical Directory of the United States Congress (englisch) The American Presidency Project: Thomas Jefferson. Datenbank der University of California, Santa Barbara mit Reden und anderen Dokumenten aller amerikanischen Präsidenten (englisch) Allan Little: America’s first principles (BBC, 27. Oktober 2008 – Über die Bedeutung der „Jeffersonian Principles“ für das Selbstverständnis der USA; als Stream und als Download – MP3, 23:31 Min., 10,8 MB, englisch) Thomas Jefferson in der Datenbank von Find a Grave (englisch)Vorlage:Findagrave/Wartung/Verschiedene Kenner im Quelltext und in Wikidata == Anmerkungen ==
https://de.wikipedia.org/wiki/Thomas_Jefferson
Toronto
= Toronto = Toronto (englische Aussprache [təˈɹɒn(t)oʊ̯]; regional auch [təˈɹɒnə] oder [ˈtɹɒnoʊ̯]) ist mit 2,96 Millionen Einwohnern die größte Stadt Kanadas und die Hauptstadt der Provinz Ontario. Sie liegt im Golden Horseshoe (Goldenes Hufeisen), einer Region mit über 8,1 Millionen Einwohnern, die sich halbkreisförmig um das westliche Ende des Ontariosees bis zu den Niagarafällen erstreckt. Rund ein Drittel der Bevölkerungszunahme des ganzen Landes lebte in den letzten Jahren in diesem Großraum. Die Einwohnerzahl der Metropolregion (Census Metropolitan Area) stieg von 4,1 Millionen im Jahr 1992 auf 5,6 Millionen im Jahr 2011. Die Greater Toronto Area hatte 2010 über 6,2 Millionen Einwohner.Die Stadt liegt am nordwestlichen Ufer des Ontariosees, dem mit 18.960 km² Fläche kleinsten der fünf Großen Seen. Durch die Eingemeindung einer Reihe von Vorstädten, die bereits mit Toronto verschmolzen waren (Etobicoke, Scarborough, York, East York und North York), wurde Toronto Ende der 1990er Jahre mehrfach vergrößert. Das Zentrum mit dem Einkaufs- und Bankendistrikt befindet sich in der Nähe des Sees. Die Haupteinkaufsstraße ist die Yonge Street. Toronto ist seit ungefähr den 1970er Jahren, nachdem Montreal über Jahrzehnte hinweg diese Rolle zugefallen war, Kanadas Wirtschaftszentrum und weltweit einer der führenden Finanzplätze. == Geographie == === Lage === Toronto liegt am Nordwestufer des Ontariosees und ist Teil des Québec-Windsor-Korridors, des am dichtesten besiedelten Gebiets Kanadas. In seiner unmittelbaren Nachbarschaft liegen westlich die Orte Mississauga und Brampton, die zur Regional Municipality of Peel gezählt werden. Etwas weiter im Osten befindet sich die Regional Municipality of Halton mit ihrem Hauptsitz in Milton. Im Norden liegen Vaughan und Markham (Regional Municipality of York). Im Osten liegt die Stadt Pickering, die zur Regional Municipality of Durham gehört. Zur Metropolregion Greater Toronto Area (GTA) gehören außer dem Stadtgebiet diese vier Regionalverwaltungen (Regional Municipality). Das Stadtgebiet umfasst eine Fläche von 630,18 km² und erstreckt sich in Nord-Süd-Richtung auf 21 und in Ost-West-Richtung auf 43 Kilometern. Die Fläche ist etwas kleiner als die von Hamburg (755 km²). Die Stadtgrenze bildet im Süden der Ontariosee, im Westen der Etobicoke Creek und der Highway 427, im Norden die Steeles Avenue und im Osten der Rouge River. Das Hafengebiet am Ufer des Sees bildet eine Küstenlinie von insgesamt 46 Kilometern Länge. Nördlich des Stadtgebiets erstreckt sich von der Niagara-Schichtstufe bis etwa nach Peterborough das rund 1900 km² umfassende Gebiet der Oak Ridges-Moräne, ein ökologisch bedeutsamer Grünzug. === Topographie === Toronto wird vom Humber River am westlichen Rand, vom Don River östlich der Downtown auf der gegenüberliegenden Seite des Hafens und von zahlreichen Nebenflüssen durchflossen. Der Naturhafen hat sich durch Sedimentation herausgebildet, die auch die Toronto Islands entstehen ließ. Die Vielzahl von Bächen und Flüssen, die von Norden her durch das Gebiet fließen und in den Ontariosee münden, haben zahlreiche bewaldete Schluchten geschaffen. Diese Schluchten beeinflussen die Stadtplanung derart, dass manche Verkehrsstraßen wie die Finch Avenue, die Leslie Street, die Lawrence Avenue und die St. Clair Avenue auf der einen Seite der Schlucht enden und sich auf der anderen fortsetzen. Der fast 500 Meter lange Prince Edward Viaduct überspannt die vom Don River gebildete 40 Meter tiefe Schlucht. Während der letzten Eiszeit lag der niedrigere Teil des Stadtgebietes unter dem Glacial Lake Iroquois, einem Eisstausee. Geländeabbrüche, die auf diese Zeit zurückgehen, sind von der östlich der Stadtmitte verlaufenden Victoria Park Avenue an der Mündung des Highland Creek zu erkennen. Die Scarborough Bluffs sind schroffe Felsklippen bis zu einer Höhe von 65 Metern auf einer Länge von 14 Kilometern entlang der Uferlinie des Ontariosees. Toronto hat keine nennenswerten Erhebungen. Der niedrigste Punkt liegt am Ufer des Ontariosees auf 75 Metern über dem Meeresspiegel, der höchste auf 270 Metern nahe der York University im Norden der Stadt. === Wasserversorgung === Die Wasserwirtschaft Torontos basiert, ebenso wie die der Region York, auf dem Ontariosee. Von 1843 bis 1873 stellte ein privates Unternehmen die Wasserversorgung sicher, seit 1873 übernimmt die städtische Verwaltung diese Aufgabe. Sie lässt heute durchschnittlich 2,9 Millionen Kubikmeter Wasser pro Tag durch das Versorgungsnetz pumpen. Seit 1949 haben die Stahlrohre mindestens einen Durchmesser von 750 mm und sind mit Zement und Beton eingeschlossen. Da der See genügend Wasser führt, kommt Toronto mit wenigen Reservoiren aus. Der Großteil des Wassers wird im Leitungssystem selbst gelagert. Toronto hat mit dem DLWC-Projekt ein neues Verfahren für die Klimatisierung von Bürogebäuden entwickelt. Da die Wassertemperatur am Grund des sehr tiefen Ontariosees das ganze Jahr über konstant bei vier Grad Celsius liegt, lässt es sich zur Kühlung der Innenstadt verwenden. === Klima === Aufgrund seiner Lage im äußersten Süden Kanadas herrscht in Toronto ein für das Land sehr moderates Klima (effektive Klimaklassifikation: Dfa). Die vier Jahreszeiten sind sehr ausgeprägt mit beträchtlichen Temperaturunterschieden, besonders in den kalten Monaten. Aufgrund der Nähe zum Wasser schwanken die Temperaturen besonders in dicht bebauten und ufernahen Gebieten tagsüber wenig. In bestimmten Zeiten des Jahres kann das mäßigende Klima des Sees in extreme lokale und regionale Wettersituationen umschwenken, wie beispielsweise den sogenannten Lake effect snow, der den Frühlingsbeginn hinauszögert und für herbstliche Bedingungen sorgt. Die Winter in Toronto sind kalt, mit kurzen Phasen, die extreme Temperaturen von unter −10 °C mit sich bringen, die durch den Wind als noch kälter empfunden werden. Die tiefste Temperatur wurde am 10. Januar 1859 mit −32,8 °C gemessen. Mit Schnee muss in Toronto von November bis Mitte April gerechnet werden. Neben Schneestürmen und Eisregen sind milde Abschnitte mit Temperaturen zwischen 5 und 14 °C möglich. Die Sommer sind durch lange Phasen feuchten Klimas charakterisiert. Die durchschnittliche Tagestemperatur variiert zwischen 20 und 29 °C. Sie kann jedoch auch bis 35 °C ansteigen. Die höchste gemessene Temperatur betrug am 8. Juli 1936 40,6 °C. Herbst und Frühling überbrücken die Hauptjahreszeiten mit milden bzw. kühlen Temperaturen und wechselnden Trocken- und Feuchtperioden. Die Niederschläge verteilen sich auf das ganze Jahr. Der Schwerpunkt liegt für gewöhnlich im Sommer, der feuchtesten Jahreszeit; der Großteil des Niederschlags fällt in Gewittern. Durchschnittlich beträgt die jährliche Gesamt-Schneehöhe 133 Zentimeter. Die größte Schneemenge wurde am 11. Dezember 1944 mit 48,3 Zentimeter Höhe gemessen. Die jährliche Sonnenscheindauer beträgt im Durchschnitt 2038 Stunden. === Stadtgliederung === Siehe auch: Liste der Ortsteile von Toronto Aufgrund der Diversität und in vielen Fällen auch recht ausgeprägten Identität von Torontos zahlreichen Stadtteilen wird die Stadt mitunter als City of Neighbourhoods („Stadt der Stadtteile“) bezeichnet. Bis zu 240 Teile hatte das Alte Toronto (englisch: Old City of Toronto) oder Downtown bis 1997, als es in Metropolitan Toronto eingegliedert wurde. Die Old City ist der am dichtesten besiedelte davon; in ihr befindet sich auch das Geschäfts- und Verwaltungszentrum. Seit dem 1. Januar 1998 besteht die Metropole aus den sechs Stadtbezirken (Gemeinden) Old Toronto (untergliedert in Downtown Core (Central), North End, East End, West End), North York, Scarborough, Etobicoke, York und East York, die wiederum in insgesamt 140 Stadtteile (englisch: neighbourhoods, hier: „Viertel“ oder „Wohngegenden“) untergliedert sind. Die 140 Stadtteile werden in insgesamt 44 Verwaltungsbezirke (englisch ward) zusammengefasst, denen ein Ratsherr (englisch councillor) vorsteht. Für Sitzungen werden die 44 Wards in die vier Gemeinderäte Etobicoke York Council, North York Community Council, Toronto and East York Community Council und Scarborough Community Council gegliedert. Die Community Councils wurden 1997 im Rahmen der Neugliederung geschaffen und bilden ein Gremium des City Council. Die Aufgabe der Gemeinderäte besteht darin, dem Stadtrat Vorschläge zu unterbreiten, sofern diese ihre Stadtteile betreffen. == Geschichte == === Voreuropäische Besiedlung === Die ältesten Spuren menschlicher Besiedlung im Raum der heutigen Stadt Toronto sind 11.000 Jahre alt. Prä-indianische Völker zogen nach der letzten Eiszeit von Süden an das Nordufer des Ontariosees. Die Wyandot nannten den Ort Tarantua, abgeleitet von tkaronto aus der Sprache der Mohawk, die zu den Irokesen gehören. Es bedeutet Ort, an dem Bäume am Wasser stehen und später Ort der Zusammenkünfte oder Treffpunkt. Die Bezeichnung geht auf den Lake Simcoe, an dem die Wyandot Bäume pflanzten und fischten und auf eine viel genutzte Portageroute vom Lake Simcoe zum Lake Huron (Toronto Carrying-Place Trail) zurück. Das heutige Stadtgebiet war die Heimat einer Reihe von First Nations, die am Ufer des Ontariosees lebten. Zu Beginn der europäischen Besiedlung lebten in der Nähe von Toronto die Neutralen, die die Franzosen so nannten, weil sie sich zu dieser Zeit aus den Kriegen heraushielten. Sie wurden Mitte des 17. Jahrhunderts von den Irokesen vernichtet. Daher lebten im Großraum Toronto Seneca, Mohawk, Oneida und Cayuga, die zu den Irokesen zählten. Unmittelbare Nachbarn waren die Senecadörfer Teiaiagon und Ganatsekwyagon. === Europäische Entdeckung und Besiedlung === Französische Handelskaufleute gründeten an der Stelle des heutigen Exhibition Place 1750 Fort Rouillé, das bereits 1759 wieder abgerissen wurde. Während des Amerikanischen Unabhängigkeitskrieges strömten britische Siedler in die Region. 1787 kam der sogenannte Toronto Purchase zu Stande, eine Vereinbarung zwischen der britischen Monarchie und der Mississaugas of the New Credit First Nation. Dabei tauschte die Mississaugas of New Credit 101.528 Hektar Land im Gebiet des heutigen Toronto gegen 140 Barrel an Gütern und 1700 britische Pfund. Dieser Handel wurde jedoch 1805 wieder rückgängig gemacht.Im 18. Jahrhundert nutzten die Pelzjäger den Treffpunkt recht erfolgreich für ihre Geschäfte, bis der britische Gouverneur Simcoe den wirtschaftlichen Umschlagplatz in ein Fort umbauen ließ und damit 1793 York gründete. Die Siedlung entwickelte sich nur langsam; der damalige Regierungssitz von Oberkanada war noch in Niagara-on-the-Lake. (→ Geschichte Ontarios) Erst 1797 wurde York Hauptstadt Oberkanadas. Während des Britisch-Amerikanischen Krieges kam es am 27. April 1813 zur Schlacht von York zwischen dem Vereinigten Königreich und den Vereinigten Staaten. Rund 1700 Amerikaner fielen in York ein. Der sechsstündige Kampf endete, nachdem die britische Seite ihr Munitionslager in die Luft gesprengt und sich nach Kingston zurückgezogen hatte. Nach der für beide Seiten verlustreichen Schlacht besetzten die Amerikaner sechs Tage lang York. Dass sie sich nicht dauerhaft behaupten konnten, wird als ein Grund dafür gesehen, dass sich die Briten in Kanada halten konnten. In der Folge kam es zu weiteren kriegerischen Auseinandersetzungen, die erst 1815 endeten. (→ Krieg und Einfluss mit den USA) === Nach der Umbenennung von York in Toronto === König Georg IV. gründete am 15. März 1827 das heute als University of Toronto bekannte King’s College, mit dem die Stadt weiter an Bedeutung gewann, nachdem bereits 1819 eine Bank geöffnet hatte, die Bank of Upper Canada, die bis 1866 bestand. Im Jahr 1832 wechselte der Regierungssitz Oberkanadas von Kingston nach York. Am 6. März 1834 wurde York zur besseren Unterscheidung von New York in Toronto umbenannt. Erster Bürgermeister wurde im selben Jahr William Lyon Mackenzie. Er war ein radikaler Reformer in Oberkanada. Dies gipfelte am 5. Dezember 1837 darin, dass er Rebellen gegen die Provinzregierung führte. Doch zwei Tage später musste er sich mit seinen Gefolgsleuten ergeben. Am 10. Februar 1841 entstand aus den britischen Kolonien Niederkanada und Oberkanada die Provinz Kanada, deren Hauptstadt 1849 bis 1852 und 1856 bis 1858 Toronto war. Mit der Gründung der kanadischen Konföderation am 1. Juli 1867 bildete sich die Provinz Ontario, deren Hauptstadt von Beginn an Toronto war. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts entwickelte sich in der Stadt die Industrialisierung. So wurde am 19. Dezember 1846 von Toronto aus auch Kanadas erste telegrafische Nachricht verschickt, Ziel war das rund 60 Kilometer entfernte Hamilton. Zehn Jahre später, am 27. Oktober 1856, wurde die Eisenbahnverbindung zwischen Toronto und Montreal eröffnet. 1861 verkehrten die ersten Straßenbahnen entlang der Yonge Street, der King Street und der Queen Street. Um den wachsenden Bedarf zu decken, verkehrten vor der Elektrifizierung der öffentlichen Nahverkehrsmittel über 200 Straßenbahnwagen, die von rund 1000 Pferden gezogen wurden. Aufgrund der guten Verkehrsanbindung wurde die überregionale Landwirtschaftsmesse Canadian National Exhibition seit 1879 jährlich in Toronto abgehalten. In den 1850er Jahren stammten die Einwohner dieser britischen Kolonie überwiegend aus dem Vereinigten Königreich und mit rund 73 % waren die Einwohner damals mehrheitlich protestantisch. Die britische Dominanz hielt noch etwa ein weiteres halbes Jahrhundert an. Der Protestantismus war keine homogene Glaubensgemeinschaft, sondern teilte sich unter anderem in Anhänger der evangelischen Baptisten und der anglikanischen Gemeinschaft auf. Die religiösen Unterschiede führten zu heftigen Spannungen, die sich in den Jahren von 1867 bis 1892 in mehreren Unruhen niederschlugen. An den Auseinandersetzungen waren vor allem die Katholiken und die aus Irland stammenden Protestanten beteiligt. Aus der Volkszählung 1901 ging hervor, dass acht Prozent der Bevölkerung Torontos nicht aus dem Vereinigten Königreich stammten. Die größte Gruppe davon kam mit 6866 Einwanderern aus Deutschland, gefolgt von 3015 aus Frankreich; 3090 Personen hatten jüdische Vorfahren, 1054 kamen aus Italien, 737 aus den Niederlanden, 253 aus Skandinavien, 219 aus Asien und 142 aus Russland. Die Stadt hatte inzwischen gut 208.000 Einwohner. Die multikulturelle Gesellschaft Torontos war zur Wende ins 20. Jahrhundert bereits im Ansatz vorhanden. Wirtschaftlich hatte Toronto Quebec bereits in den 1870er Jahren überholt und war nach Montreal die zweitgrößte Kraft im Dominion Kanada. Am 19. April 1904 zerstörte der Großbrand von Toronto über 100 Gebäude in der Innenstadt. 1906 begann mit der Stromgewinnung an den Niagarafällen die Elektrifizierung der Stadt. Innerhalb von 20 Jahren stieg die Bevölkerung auf mehr als das Doppelte an und erreichte 1921 über 522.000 Einwohner. Danach schwächte sich die Wachstumsrate etwas ab. In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts entstand eine Reihe wichtiger Bauwerke und Einrichtungen. So wurde im Juni 1913 das Toronto General Hospital an der College Street eröffnet und zwei Jahre später, am 19. März 1914, das 1912 gegründete Royal Ontario Museum. Allerdings bereitete die Integration der Rückkehrer vom europäischen Kriegsschauplatz ab 1918 enorme Probleme; allein etwa 100.000 von ihnen stammten aus dem Großraum Toronto. Mit dem Vorwand des späten Kriegseintritts Griechenlands entlud sich die Wut auf die Griechen. Diese waren mit 3000 Personen eine kleine Gruppe, waren jedoch im Stadtbild mit Betrieben und Restaurants sehr präsent. Am 2. August kam es zu den Griechenfeindlichen Ausschreitungen in Toronto 1918. Mehrere 10.000 Torontoer stürmten das griechische Viertel in der Yonge Street und zerstörten allein 20 Restaurants. Etwa 50.000 Menschen waren an den Straßenkämpfen beteiligt, die erst nach drei Tagen endeten. Bis in die 1920er Jahre gab es zum Teil konkurrierende Gesellschaften für die öffentlichen Nahverkehrssysteme. Diese wurden 1921 von der Stadt unter der Toronto Transportation Commission zusammengefasst, der späteren Toronto Transit Commission. Gleichzeitig stieg auch der Individualverkehr stark an. 1910 gab es rund 10.000 Automobile – diese Zahl erhöhte sich bis 1928 auf das Achtfache. Im Juni 1929 wurde das Royal York Hotel eröffnet, dessen Gebäude mit 28 Stockwerken und 124 Metern damals das höchste Bauwerk der Stadt war. Von den 1930er Jahren an veränderte sich die Skyline durch eine Vielzahl von Hochhäusern erheblich. Während der Weltwirtschaftskrise stieg bis 1933 die Arbeitslosenquote auf bis zu 30 % an, Kapital und persönliche Vermögen wurden vernichtet. Gleichzeitig sanken die durchschnittlichen Monatslöhne um über 40 %. Die Zahl der Eheschließungen und die Geburtenrate sank ebenfalls um 40 %. Selbst 1939 erreichte die Wirtschaftskraft noch nicht wieder den Stand von vor 1929. 1934 feierte die Stadt, die damals 629.285 Einwohner zählte, dennoch ihren 100. Geburtstag.Ähnlich wie im Ersten Weltkrieg war Kanada auch im Zweiten Weltkrieg Gegner des Deutschen Reiches, vor allem als Lieferant von Kriegsmaterial. Entbehrungen in Form von Lebensmittelrationierungen und Sperrzeiten für Strom und Wasser kennzeichneten die Kriegswirtschaft, die zahlreiche Arbeitsplätze in der Produktion von Kriegsmaterialien hervorbrachte. Nach 1945 musste die Wirtschaft wieder auf zivile Produkte umgestellt werden. Am 17. September 1949 kam es im Hafen von Toronto zu einer Katastrophe, als der Passagierdampfer Noronic, der während einer Große-Seen-Kreuzfahrt über Nacht an Pier 9 ankerte, in Flammen aufging und innerhalb kurzer Zeit ausbrannte. 122 Passagiere kamen ums Leben. === Entwicklung zur Millionenstadt === Bereits in den 1950er Jahren erreichte Torontos Bevölkerung die Millionengrenze. Die Zuwanderung aus dem europäischen und asiatischen Raum ist vor allem auf die dortigen Zerstörungen im Zweiten Weltkrieg zurückzuführen. Mit dieser Entwicklung verlagerten sich Wohn- und Arbeitsräume deutlich außerhalb der Stadtgrenzen: Bis 1946 befanden sich 90 % der Industriebetriebe von York County in der Stadt. 1954 waren es noch 77 %. Diesem Trend folgten die immer besser werdenden Verkehrs- und Transportwege und verstärkten ihn noch. Allerdings stand die Stadt in Kanada sowohl hinsichtlich der Bevölkerungszahl als auch der Wirtschaftskraft nach wie vor nur an zweiter Stelle hinter Montreal. Am 1. Januar 1954 wurde die Metropolregion Municipality of Metropolitan Toronto geschaffen. Das Gebilde bestand aus der Innenstadt, den Bezirken New Toronto, Mimico, Weston, Leaside, Long Branch, Swansea und Forest Hill sowie den Stadtgemeinden Etobicoke, York, North York, East York und Scarborough. Die neu gegründeten Verkehrsbetriebe Toronto Transportation Commission trieben den Ausbau des Torontoer U-Bahn-Netzes voran und eröffneten eine Reihe neuer Buslinien. Meilensteine in der Stadtentwicklung waren die Fertigstellung des letzten Abschnittes des Highway 401 und die Eröffnung des Gardiner Expressway. Bereits 1965 hatten in Toronto mehr nationale Behörden ihren Hauptsitz als in Montreal. Zudem förderte der Separatismus in Québec die Abwanderung von Wirtschaftsunternehmen nach Toronto. Die Einwohnerzahl der Metropolregion Toronto überflügelte 1976 nach den Ergebnissen der Volkszählung erstmals die von Montreal. Mit dem Eintritt Kanadas in die Gruppe der Acht (damals G7) im selben Jahr rückte die Stadt auch international auf die politische Bühne. 1988 war Toronto Austragungsort der 14. Konferenz der G7. Am 1. Januar 1998 wurden die Stadtbezirke tiefgreifend reformiert, wobei autonome Stadtgemeinden mit der Stadt Toronto verschmolzen wurden. Seitdem ist Toronto Kanadas bevölkerungsreichste und wirtschaftlich stärkste Stadt. Sir Peter Ustinov bemerkte einmal, Toronto sei sauber und sicher wie ein von Schweizern geführtes New York. Toronto gilt als die sicherste Stadt Kanadas. (→ Kriminalität) Am 10. August 2008 ereignete sich im Stadtbezirk North York auf dem Gelände der Propangasanlage von Sunrise Propane Industrial Gases eine schwere Explosion. Rund 100 Häuser blieben in der Folge unbewohnbar. (siehe Explosion von Toronto 2008) Vom 26. bis zum 27. Juni 2010 fand der vierte G20-Gipfel in Toronto statt. Einen Tag zuvor wurde der 36. G8-Gipfel in Huntsville abgehalten, der ursprünglich auch das G20-Treffen hätte beherbergen sollen. == Politik == === Politische Strukturen === Torontos Stadtverwaltung ist einstufig, das Regierungssystem besteht aus Bürgermeister und Stadtverordneten. Diese Verwaltungsstruktur ist im City of Toronto Act festgeschrieben. Erst seit der Umbenennung von York in Toronto hat die Stadt offiziell einen Bürgermeister. Davor stand der Chairman of the General Quarter Session of Peace dem Ort vor. Der Bürgermeister wird durch die Stadtbevölkerung direkt gewählt und ist Vorsitzender der Stadtregierung. Der Toronto City Council ist eine aus einer Kammer bestehende Legislative mit 44 Stadträten, welche die Stadtbezirke repräsentieren. Der Bürgermeister und die Stadträte werden seit der Wahl im Jahr 2006 für eine vierjährige Legislaturperiode gewählt, vorher war sie dreijährig. Rob Ford war von 2010 bis 2014 der 64. Bürgermeister. Im November 2013 wurde Ford durch die Stadtverordneten der meisten seiner Amtsbefugnisse enthoben. Vorher waren seit Jahren Vorwürfe von Vetternwirtschaft erhoben worden, im Jahr 2013 wurde zudem bekannt, dass er Crack-Kokain konsumierte und im Kontakt zu bekannten Kriminellen stand. Ford blieb formal im Amt und konnte repräsentativen Aufgaben nachgehen, hat aber keine politischen Funktionen mehr. Von 2014 bis zum 17. Februar 2023 war John Tory der 65. Bürgermeister. Er wurde mit 40,27 % der Stimmen als Nachfolger von Rob Ford gewählt. Infolge einer außerehelichen Affäre trat er vorzeitig zurück. Am 26. Juni 2023 finden in Toronto Nachwahlen zum Stadtoberhaupt statt. Die Amtsgeschäfte bis zur Neuwahl führt einstweilen, allerdings mit eingeschränkten Befugnissen, die stellvertretende Bürgermeisterin Jennifer McKelvie. Seit Beginn der Legislaturperiode im Jahr 2007 besteht die Stadtregierung aus sieben Kommissionen mit je einem Vorsitzenden, einem Stellvertreter und vier Stadträten, die alle vom Bürgermeister benannt werden. Ein Exekutivkomitee besteht aus den Kommissionsvorsitzenden, dem Bürgermeister, seinem Stellvertreter und vier anderen Stadträten. Die Räte überwachen auch die Verkehrsbetriebe der Stadt Toronto (Toronto Transit Commission) und den Polizeidienst der Stadt (Toronto Police Services Board). Die Stadtregierung hat ihren Sitz im Neuen Rathaus am Nathan Phillips Square. Es gibt rund 40 Unterkommissionen, Beratungsstäbe und Runde Tische, die ebenfalls der Stadtregierung angehören. Diese Institutionen werden von Stadträten und von freiwilligen Bürgern gebildet. Dazu kommen vier weitere Gemeinderäte, die den Stadträten Empfehlungen geben, allerdings keine eigenständigen Entscheidungsvollmachten haben. Jedem Stadtrat ist ein Mitglied aus dem Gemeinderat unterstellt. Toronto verfügte 2006 über einen Haushalt in Höhe von 7,6 Milliarden Dollar. Die Stadt wird von der Provinzregierung Ontario durch Steuern und Abgaben finanziert. Die Ausgaben der Stadt verteilen sich wie folgt: 36 % fließen in Programme der Provinz, 53 % dienen städtischen Aufgaben wie beispielsweise der öffentlichen Bücherei (Toronto Public Library) und dem Zoo von Toronto, elf Prozent werden für Fremdfinanzierungen und nicht zweckgebundene Aufwendungen verwendet. === Wappen und Flagge === Die Flagge der Stadt Toronto wurde vom damals 21-jährigen Studenten Rene De Santis entworfen. Dieser Entwurf gewann einen Designwettbewerb im Jahr 1974. Die Flagge zeigt stilisiert die beiden Türme der City Hall auf blauem Grund mit dem kanadischen Nationalsymbol, dem roten Ahornblatt, an seiner Basis. Nach der Gebietsreform 1997 hielt die Stadtregierung vergeblich nach einem neuen Design Ausschau. Daraufhin wurde der Vorschlag umgesetzt, kleinere Veränderungen an dem Entwurf von 1974 vorzunehmen, die im Oktober 1999 zur nun gültigen Flagge führten. Der Freiraum oberhalb und zwischen den Türmen stellt den Buchstaben „T“ dar, die Initiale der Stadt Toronto. Das Wappen der Stadt Toronto wurde von Robert Watt geschaffen und im Zuge der Gebietsreform 1998 eingeführt. Es zeigt auf der linken Seite einen Biber und auf der rechten einen Bären, die sich gegenüberstehen und den Stadtschild halten. Beide Tiere stehen auf einem begrünten Hügel mit einem blauen T für Toronto auf goldenem Grund. Auf dem Wappen befinden sich außerdem eine Krone und ein Adler. Unterhalb des Wappens symbolisieren drei blaue senkrechte Wellenlinien die Flüsse Humber, Don und Rouge. Darunter ist eine waagerechte Wellenlinie für den Ontariosee dargestellt, in den die drei Flüsse münden. Unter dem Stadtwappen befindet sich ein Band mit dem Motto „Diversity Our Strength“ (deutsch: „Vielfalt ist unsere Stärke“), von zwei kanadischen, roten Ahornblättern umrahmt. Das Motto wurde anlässlich der Gebietsreform 1998 eingeführt.Neben dem Wappen und der Flagge wird die Silhouette des Rathauses auch für das Stadtsignet verwendet. === Partnerstädte === Städtepartnerschaften bestehen mit: China Volksrepublik Chongqing, China. Chongqing und Toronto haben im Mai 2006 drei Handelsverträge im Wert von 50 Millionen US-Dollar geschlossen. Die Partnerschaft besteht seit dem 27. März 1986.Vereinigte Staaten Chicago, Illinois, Vereinigte Staaten. Der frühere Bürgermeister Art Eggleton und der Chicagoer Bürgermeister Richard M. Daley unterzeichneten in der Börse von Chicago 1991 den Partnerschaftsvertrag. Deutschland Frankfurt am Main, Deutschland. Mit Frankfurt am Main werden seit Anbeginn der Partnerschaft regelmäßige Austauschprogramme betrieben, für die der Vertrag am 26. September 1989 vom damaligen Frankfurter Oberbürgermeister Volker Hauff und dem Torontoer Bürgermeister Art Eggleton im Frankfurter Rathaus Römer unterschrieben wurde. Im Mai 1991 spielte beispielsweise das Toronto Symphony Orchestra in der Jahrhunderthalle. Neben dem kulturellen Austausch gibt es auch auf wissenschaftlicher Ebene Kooperationen durch Studienaufenthalte von Professoren und Studenten und gemeinsame Seminare. Die Universität von Toronto und die Goethe-Universität in Frankfurt am Main haben 2012 einen formalen Kooperationsvertrag abgeschlossen, um ihre Zusammenarbeit in Forschung, Lehre und Verwaltung zu intensivieren. Italien Mailand, Italien, seit dem 30. Juni 2003Nicht mehr bestehende Städtepartnerschaften hatte Toronto mit den Städten Amsterdam, Wuxi und Indianapolis. Freundschaftlich verbunden ist Toronto mit Ho-Chi-Minh-Stadt (Vietnam), Kiew (Ukraine), Rostow am Don (Russland), Quito (Ecuador), Sagamihara (Japan) und Warschau (Polen). == Bevölkerung == === Bevölkerungsentwicklung === 1820 hatte Toronto 1.250 Einwohner, viele Indianerdörfer waren erheblich größer. Doch gelang es Toronto zum einen, die starke Stellung Montreals im Bankenwesen zu brechen, zum anderen förderte die Stadt früh die Industrialisierung. 1833 wurden in Toronto mit 80 Beschäftigten erstmals Dampfmaschinen hergestellt, ab 1857 wurden Lokomotiven produziert und ein breites Spektrum an zuliefernden Betrieben entstand. Zugleich förderte die Regierung die Einwanderung, sodass die Bevölkerungszahl steil anstieg. Größter Gewinner war dabei Toronto, das um 1850 mit 31.000 Einwohnern bereits die größte Stadt im Westen war und in den folgenden zehn Jahren seine Einwohnerzahl mehr als verdoppelte. Es konnte seine Waren unter Umgehung Kingstons nach Montreal bringen, und dabei den Weg über den Ontariosee nutzen. Gleichzeitig war es mit New York verbunden, wohin bereits 1847 eine Telegrafenverbindung bestand. Das Kapital zum Bau der Eisenbahnen, die Kanadas Metropolen zwischen Halifax und Vancouver verbanden, stammte überwiegend aus Großbritannien, woher auch die meisten Einwanderer stammten. Damit stemmten sich London und später Ottawa erfolgreich gegen den politischen Anschluss Kanadas an die USA. Toronto profitierte dennoch von den dortigen Absatzmöglichkeiten. Zugleich veranlasste der zunehmende Separatismus der frankophonen Kanadier viele Unternehmen, nach Toronto zu gehen. Als Montreal Zentrum der Eisenbahnindustrie wurde, begann die Hauptstadt Ontarios in den Jahrzehnten um die Jahrhundertwende auf Elektroindustrie und Autobau, später Flugzeugbau zu setzen. Damit war Toronto einer der Nutznießer der Kriegswirtschaft im Zweiten Weltkrieg. Versandhäuser wie Eaton’s versorgten einen wachsenden, bald auch internationalen Markt, der Ausbau der Infrastruktur erforderte neue Arbeitskräfte. Nach dem Krieg sprengte die Zuwanderung die Stadtgrenzen und größere organisatorische Einheiten, wie die Metropolregion, entstanden. Die Kernstadt hatte von 1901 bis 1951 ihre Einwohnerzahl verfünffacht. Schließlich stieg der Anteil der Beschäftigten in den Dienstleistungsgewerben stark an, die bald zu den mit Abstand größten Arbeitgebern wurden. Da viele dieser Gewerbe ohne ausgebildetes Personal auskamen, zudem ausländisches Kapital in die Stadt floss, kamen zunehmend Einwanderer aus wirtschaftlich aufstrebenden Ländern mit starkem Bevölkerungswachstum. Zwischen 1951 und 2001 vervierfachte sich die Zahl der Bewohner der Metropolregion. === Ergebnisse der Volkszählung 2001 und Bevölkerungsentwicklung bis 2006 === Bei der Volkszählung aus dem Jahr 2001 wurden 2.481.494 Einwohner ermittelt, 2006 wurde die Einwohnerzahl auf gut 2,6 Millionen geschätzt. Im Großraum Toronto lebten etwa 5,5 Millionen Menschen. Mit 2,5 Millionen lebt knapp die Hälfte in der Kernstadt, der Rest verteilt sich auf 24 Gemeinden mit einer Gesamtfläche von 7.125 Quadratkilometern. In den Jahren 1996 bis 2006 wuchs die Stadt jährlich um 1,8 % und gehört damit zu den am schnellsten wachsenden Ballungsräumen in Kanada. Absolut entspricht dies einem Zuzug von fast 100.000 Bewohnern jährlich. Wegen der hohen Dichte im Stadtkern wachsen vor allem die Gemeinden des Umlands. Brampton, Vaughan, Richmond Hill, Markham, Ajax, Whitby verzeichneten von 2001 bis 2006 insgesamt eine Zunahme von 20 %. Das starke Wachstum beruht vor allem auf der internationalen Zuwanderung. In den Jahren 2001 bis 2006 wanderten 447.900 Menschen aus dem Ausland in die Stadtregion ein. Der Anteil der im Ausland geborenen Einwohner machte 45,7 % bzw. 2,32 Millionen (2006) aus; die Stadt ist damit das bedeutendste kanadische Zuwanderungsziel. Die größten Einwanderungsgruppen stammen aus Indien mit 77.800 und China mit 63.900 Menschen. Die hohe Zuwanderungsrate wirkt sich verteuernd auf den Wohnungsmarkt aus, weshalb Immigranten sich heute verstärkt in den umliegenden Städten niederlassen. Die höchsten Anteile an nicht in Kanada geborenen Bürgern haben die benachbarten Städte Markham mit 56,5 % und Mississauga mit 51,6 %.Laut einer Erhebung im Jahr 2001 stammen 43,7 % der Stadtbevölkerung nicht aus Kanada; dieser Anteil stieg in den letzten Jahren stetig – 1991 betrug der Anteil noch 38 %. Die Vielzahl der Bevölkerungsgruppen spiegelt sich in den vielen von einer Gruppe geprägten Stadtvierteln wie z. B. Chinatown, Little Italy, Greektown oder Koreatown wider. Dabei bilden die Einwohner, die aus Südasien stammen mit 12,0 % den größten Anteil; gefolgt von Chinesischstämmigen mit 11,4 % und Afroamerikanern mit 8,4 %. === Volkszählungsergebnis 2011 === Beim Zensus 2011 gaben 14,1 % der Stadtbevölkerung an, von englischen Einwanderern abzustammen. 13,2 % gaben als das Herkunftsland ihrer Familie Kanada an. Weitere bedeutende Abstammungsgruppen waren die Chinesisch- (10,8 %), Indisch- (10,3 %), Schottisch- (9,9 %), Irisch- (9,8 %) und Italienischstämmigen (8,6 %) sowie die Deutschstämmigen (4,8 %). Laut Zensus 2011 gehörten 42,9 % der Bevölkerung Torontos „visible minority groups“ (sichtbare Minderheit, d. h. alle Nicht-Weiße mit Ausnahme von First Nations, Inuit und Métis) an: 15,1 % der Gesamtbevölkerung waren südasiatischer Herkunft, 9,6 % chinesischer Herkunft, 7,2 % Schwarze und 4,2 % Filipinos. === Sprachen === Die vorherrschende Sprache in der Stadt ist Englisch. Kanadas zweite Amtssprache, Französisch, ist hingegen die Muttersprache von nur etwa 1,4 % der Bevölkerung. Weitere Sprachen mit einer bedeutenden Zahl von Sprechern in Toronto sind vor allem Chinesisch, Portugiesisch und Italienisch. Lediglich eine Minderheit von 2,1 % beherrscht die Zweisprachigkeit von Englisch und Französisch. === Jüdische Immigranten und Flüchtlinge === Juden lassen sich in Toronto seit den 1830er Jahren nachweisen, in den 1850er Jahren lebten 18 Familien in der Stadt. 1856 entstand die erste Synagoge. Pogrome veranlassten osteuropäische Juden, nach Kanada auszuwandern. Entsprechend den Herkunftsländern entstanden (ausschließlich orthodoxe) Kongregationen, Yiddish Theatres, Nachmittagsschulen und eine Zeitung. Dabei lebten die aus Großbritannien Eingewanderten östlich der Yonge Street, die Osteuropäer im wenig angesehenen Quartier St. John’s Ward. Bis in die 1950er Jahre blieb das Gebiet um Spadina Avenue/Kensington Market das Kerngebiet der zersplitterten jüdischen Gemeinde, viele zogen danach weiter nordwärts. Dennoch bleibt die jüdische Gemeinde in Downtown verankert, wo auch das Miles Nadal Jewish Community Centre entstand. Es besteht zudem ein eigenes Downtown Jewish Community Council.Mit der Weltwirtschaftskrise schränkte die konservative Regierung unter Richard Bedford Bennett Anfang der 1930er Jahre die Immigration, die vorher gefördert worden war, drastisch ein. Damit ging ein selektives Prinzip einher, nach dem Immigranten aus Nord- und Westeuropa sowie Bürger aus den USA bevorzugt wurden. 1931 waren von den 631.207 Bewohnern 45.305 Juden. Die allgemeine Beschränkung und ein latenter Antisemitismus in Kanada führten dazu, dass zwischen 1930 und 1940 nur rund 12.600 jüdische Immigranten in Kanada aufgenommen wurden; 4000 davon kamen aus Deutschland. In Toronto waren die Juden die größte ethnische Gruppe, die vor allem während der Krisenzeiten als Sündenbock diente. Ihnen wurde teilweise der Zugang zu Restaurants oder Veranstaltungen untersagt, es kam sogar zum Boykott jüdischer Geschäfte. Keine Universität war bereit, ihr Kursangebot auf Internierte auszuweiten, lediglich die Queen’s University in Kingston nahm eine kleine Gruppe auf, die vor allem an Ingenieurkursen interessiert war. Die Ablehnung hielt auch während des Krieges an. Noch im Oktober 1945 war der Status der Flüchtlinge und Internierten nicht abschließend geklärt. Bis zu diesem Zeitpunkt hatte Kanada rund 3500 Flüchtlinge einschließlich 966 Internierter aufgenommen. === Religion === Entsprechend der multikulturellen Einwohnerstruktur gibt es in der Stadt eine Vielzahl von unterschiedlichen Religionszugehörigkeiten. Die christlichen Konfessionen bilden dabei die größte Gruppe mit gut 50 %. Die römisch-katholische Kirche gehört zum Erzbistum Toronto. Der Anteil der Konfessionslosen beträgt 18,7 %.Die Religionszugehörigkeit verteilt sich nach Erhebungen des Jahres 2011 wie folgt: Katholische Kirche: 30,4 % Alle anderen christlichen Glaubensrichtungen: 9,1 % Islam: 7,7 % Hinduismus: 5,9 % Judentum: 3,0 % Buddhismus: 2,2 % Sikhismus: 2,9 % Keiner Religion angehörig: 21,1 %Siehe auch: Kirche Hl. Sava (Toronto), serbisch-orthodox === Soziale Probleme === In Toronto gab es 2003 rund 552.300 Haushalte unterhalb der Armutsgrenze. Mehr als 250.000 Familien mussten über 30 % ihres Einkommens für die Miete ausgeben, 20 % zahlten mehr als 50 % ihres Einkommens. Diese Entwicklung ist auf die stark steigenden Mietpreise zurückzuführen, die sich allein zwischen 1997 und 2001 um 31 % erhöhten. Rund 71.000 Haushalte warteten auf die Errichtung von staatlich geförderten Wohnungen. Im Gegensatz zu den 1980er und frühen 1990er Jahren stagnierte trotz der steigenden Bevölkerung das Angebot an Mietwohnungen. Allein im Jahr 2002 waren 31.985 Menschen mindestens einmal in einem Obdachlosenasyl gemeldet. Seit den 1990er Jahren hat sich diese Zahl um 21 % erhöht und seit 1988 sogar um 40 %. 1988 waren dabei 91,3 % von ihnen Einzelpersonen, doch sank diese Zahl bis 1999 auf 81,3 %. Gleichzeitig stieg die Zahl der Familien von 1,7 % (1988) auf 9,6 % (1999).Die Provinzregierung und die Stadt versuchen durch Investitionen in den Wohnungsbau den Problemen entgegenzuwirken. Dazu wurde unter anderem das Wohnungsbauprojekt Let’s Build ins Leben gerufen, in das bis zum Jahr 2001 rund 10,6 Millionen Dollar flossen. Infolgedessen entstanden 384 erschwingliche Wohnungen für rund 660 Mieter mit geringem Einkommen. Nach Beendigung des Projekts setzte die Stadt Let’s Build mit rund 11,8 Millionen Dollar fort. Darüber hinaus gab es weitere Maßnahmen, welche die Bekämpfung von Armut und die flächendeckende medizinische Versorgung von Obdachlosen vorsahen. === Kriminalität === Eine niedrige Kriminalitätsrate hat der Stadt den Ruf als einer der sichersten Großstädte Nordamerikas eingebracht. 1999 lag die Rate der Tötungsdelikte bei 1,9 pro 100.000 Menschen. Zum Vergleich lag diese Rate im selben Jahr bei 34,5 in Atlanta, 5,5 in Boston, 7,3 in New York, 2,8 in Vancouver und 45,5 in Washington D. C. Das bisherige Maximum an Tötungsdelikten verzeichnete Toronto 1991 mit 3,9 pro 100.000 Einwohnern. Auch bei den Raubdelikten liegt die Stadt, verglichen mit anderen nordamerikanischen Großstädten, sehr niedrig mit 115,1 Überfällen pro 100.000 Einwohner. Dallas hatte im Vergleich 583,7 Delikte pro 100.000 Einwohner, 397,9 waren es in Los Angeles, 193,9 in Montreal. Die generelle Kriminalitätsrate lag bei 48 Delikten auf 100.000 Einwohner. Auch diese Vergleichsgröße liegt deutlich niedriger als in anderen Großstädten, wie beispielsweise Cincinnati mit 326, Los Angeles mit 283, New York mit 195 und Vancouver mit 239. == Wirtschaft und Infrastruktur == === Finanz- und Wirtschaftshauptstadt Kanadas === Bereits im 19. Jahrhundert war Toronto ein wichtiger Wirtschafts- und Handelsplatz. Die Stiefbrüder James Worts und William Gooderham gründeten 1830 am Hafen die Brennerei Gooderham and Worts, die neben Spirituosen auch Frostschutzmittel herstellte. Sie entwickelte sich zur größten Brennerei Kanadas und stieg in den 1860er Jahren zur weltweit größten Whiskeybrennerei auf. 1862 produzierte das Unternehmen zum ersten Mal das ganze Jahr und stellte rund 700.000 Imp.gal. her, was einem Viertel der damaligen Gesamtproduktion an Spirituosen in Kanada entsprach. In den Folgejahren wuchs die Produktion auf zwei Millionen Imp.gal., was das Unternehmen zum bekanntesten des Landes und zum größten im Britischen Empire werden ließ. 1987 wurde die Firma an einen britischen Konzern verkauft, 1990 die Brennerei geschlossen und das 52.000 Quadratmeter große Areal in die Fußgängerzone Distillery District verwandelt. Das historische Industriequartier, bestehend aus über 40 Backsteingebäuden und zehn Straßen, wurde restauriert und dient als Entertainment-Zentrum mit Lokalen, Musikkneipen und Galerien. Toronto ist Kanadas wichtigstes Handels- und Finanzzentrum und gehört auch weltweit zu den bedeutendsten. In der Stadt sind viele Banken und Investmentfirmen im Finanzdistrikt an der Bay Street konzentriert. Die Toronto Stock Exchange ist nach ihrer Marktkapitalisierung die achtgrößte Börse der Welt und in Nordamerika auf Platz drei. (→ Geschichte der Börse von Toronto) Die fünf größten Banken des Landes haben hier ihren Hauptsitz. Darüber hinaus betreiben über 40 ausländische Banken Niederlassungen in der Stadt. Im Bereich Medien, Verlagswesen, Telekommunikation (z. B. Telus Tower), Informationstechnologie und Filmindustrie hat die Stadt ebenfalls eine führende Rolle eingenommen. Eine eigene Behörde (Toronto’s Film and Television Office) hat die Aufgabe, die Film- und Fernsehproduktion zu fördern und zu unterstützen. Zu den bekanntesten Firmen gehören Thomson Corporation, CTVglobemedia, Rogers Communications, Alliance Films, Celestica, sowie die Hotelkette Four Seasons Hotels und Manulife Financial. Insgesamt haben über 80.000 Unternehmen ihren Sitz in der Stadt. Das Handelsunternehmen Hudson’s Bay Company ist das älteste eingetragene Unternehmen in Kanada und zählt auch weltweit zu den ältesten Unternehmen. Es verlegte 1957 seinen Hauptsitz von York Factory nach Toronto. Unter anderen haben folgende Unternehmen ihren Hauptsitz in Toronto: Hudson’s Bay Company, RioCan Investment Trust, Canadian Imperial Bank of Commerce, Manulife Financial, TD Canada Trust, Royal Bank of Canada, Scotiabank, Bank of Montreal, Celestica, Four Seasons Hotels and Resorts, Nortel, Citibank Canada, Fairmont Hotels and Resorts, Oxford Properties Group und Rogers Communications. Die meisten Industrien und Fertigungsbetriebe befinden sich zwar außerhalb der Stadtgrenzen, allerdings haben die meisten Großhändler und Distributoren dieser Wirtschaftszweige ihren Sitz in der Stadt. Die strategische Bedeutung der Stadt im Québec-Windsor-Korridor begünstigt die nahegelegenen Produktionsstandorte von Motorfahrzeugen, Eisen, Stahl, Lebensmitteln, Maschinen, Chemie und Papier. In Ergänzung dazu ist Toronto seit 1959 durch den Sankt-Lorenz-Strom vom Atlantischen Ozean aus erreichbar. Mit rund 8000 Fabriken ist die Stadt nicht nur führend im Dienstleistungsbereich, sondern auch im produzierenden Sektor. Die fünf größten privaten Arbeitgeber sind nach der Anzahl ihrer Beschäftigten (Zahlen aus dem Jahr 2001): Toronto-Dominion Bank (14.000), Canadian Imperial Bank of Commerce (12.000), Rogers Communications (11.600), Royal Bank of Canada (11.000) und Bank of Montreal (8400).Der veranschlagte Bruttobetriebsaufwand der Stadt belief sich im Jahr 2008 auf 8,17 Milliarden Dollar. Die Haushaltseinnahmen kamen überwiegend aus der Grundsteuer, mit 3,322 Milliarden Dollar. Die Arbeitslosenquote lag 2007 bei 7,87 % und war damit höher als der Durchschnitt in der Provinz Ontario, der bei 6,38 % lag. 2008 ist die Arbeitslosenquote auf 7,52 % leicht gesunken. Ein durchschnittlicher Haushalt hatte ein Jahreseinkommen von 68.120 Dollar. === Bildungseinrichtungen === In Toronto gibt es eine Reihe von Universitäten: Die auf verschiedene Zweigstellen im Stadtgebiet verteilte University of Toronto, die York University, die Ryerson University, das Ontario College of Art & Design sowie die University of Guelph-Humber. Die 1827 gegründete University of Toronto ist die größte Ontarios und zählt weltweit nach der Harvard University und Yale University zu den renommiertesten auf dem Gebiet der biomedizinischen Forschung. Außerdem beherbergt die Universität das drittgrößte Bibliothekensystem Nordamerikas, zu der auch die Robarts Library gehört. Die York University befindet sich in North York, im Norden Torontos. Sie verfügt über die größte Rechtsbibliothek im Commonwealth. Daneben hat Toronto eine Reihe weiterer Hochschulen, wie das Seneca College, das Humber College, das Centennial College und das George Brown College. In der Stadt unterhält auch das frankophone Collège Boréal eine Zweigstelle. In der Nähe von Oshawa, das zum Großraum Torontos gehört, ist das Durham College und das University of Ontario Institute of Technology beheimatet. Die Faculty of Music und das Royal Conservatory in Downtown bieten Konzert- und Opernprogramme an. Der Filmemacher Norman Jewison gründete 1988 das Kanadische Filmzentrum Canadian Film Centre, Kanadas größtes Institut für professionelle Ausbildung im Bereich Film, Fernsehen und Neue Medien. Das Tyndale University College and Seminary ist ein überkonfessionelles Institut und Kanadas größtes Predigerseminar. Die Schulbehörde Toronto District School Board (TDSB) unterhält insgesamt 558 öffentliche Schulen, davon 451 Grundschulen und 102 Schulen der Sekundarstufe. Damit ist die TDSB die größte Schulbehörde Kanadas. Die Schulbehörde erhielt 2008 für die Bemühungen um die Chancengleichheit und Integration den Carl-Bertelsmann-Preis verliehen. Konfessionell an die katholische Kirche gebundene Schulen werden von einer eigenen Behörde, dem Toronto Catholic District School Board, verwaltet. Darüber hinaus verfügt Toronto über mehrere private Schulen, wie beispielsweise Greenwood College School, Upper Canada College, Crescent School, Toronto French School, University of Toronto Schools, Havergal College, Bishop Strachan School, Branksome Hall oder St. Michael’s College School. Die Stadtbibliothek von Toronto ist die größte Bücherei im Land mit 99 Zweigstellen und über elf Millionen Medien. === Tourismus === Der Fremdenverkehr spielt eine wichtige Rolle für die Wirtschaft von Toronto. Mit knapp 4,5 Millionen ausländischen Besuchern stand Toronto 2016 auf Platz 29 der meistbesuchten Städte weltweit. Touristen brachten im selben Jahr Einnahmen von 2,2 Milliarden US-Dollar. Die meisten ausländischen Besucher kamen aus den USA und Asien. === Medien === Toronto ist Sitz einer Vielzahl von Printmedien. Der Toronto Star hat seinen Sitz in der Yonge Street 1 und ist mit rund 400.000 Exemplaren Kanadas auflagenstärkste Zeitung. Die Druckausgabe wird vornehmlich in Ontario gelesen. Weitere wichtige Zeitungen in Toronto sind die 1844 gegründete Tageszeitung The Globe and Mail, die konservative Zeitung National Post sowie die Toronto Sun. Darüber hinaus gibt es Zeitungen in chinesischer und hebräischer Sprache und eine Vielzahl von Magazinen und Zeitschriften. Neben dem lokalen Fernsehsender CITY-TV sind auch die landesweit ausstrahlenden Sender wie u. a. CFMT-TV, CFTO-TV, CTV Television Network und CBC Television in der Stadt ansässig. Weitere Fernsehsender sind der Nachrichtensender CP 24 – Toronto’s Breaking News, der Wirtschaftssender Business News Network (BNN) und der Musiksender MuchMusic. Zu den mehr als 30 Radiosendern, wie u. a. CHUM-FM, CKIS-FM gehören auch solche für den chinesischen Bevölkerungsanteil mit einem Programm in kantonesischer Sprache. Der englischsprachige Teil der staatlichen Rundfunkanstalt Canadian Broadcasting Corporation hat seinen Sitz in der Downtown von Toronto. Weitere größere Medienunternehmen sind Entertainment One sowie Rogers Media. === Verkehr === ==== Flugverkehr ==== Toronto verfügt mit dem Toronto Pearson International Airport über den größten Flughafen des Landes, auf dem ein Drittel des kanadischen Luftverkehrs abgewickelt wird. Ursprünglich weit außerhalb der Stadt, befindet er sich heute unmittelbar am nordwestlichen Stadtrand, rund 20 Kilometer vom Zentrum entfernt, überwiegend auf dem Gebiet der benachbarten Stadt Mississauga. Ein kleiner Flughafen, der Flughafen Toronto-City, liegt auf den der Stadt vorgelagerten Toronto Islands. Der Toronto/Downsview Airport, ein früherer Luftwaffenstützpunkt, wird seit 1994 überwiegend als Testflughafen von Bombardier Aerospace benutzt. Insgesamt liegen auf der Greater Toronto Area neun Flughäfen und zehn Heliports. ==== Öffentliches Nahverkehrssystem ==== Toronto besitzt nach New York City und Mexiko-Stadt das drittgrößte öffentliche Nahverkehrssystem Nordamerikas.Die Toronto Transit Commission (TTC) betreibt im Stadtgebiet drei U-Bahn-Linien (Subway), eine Stadtbahnlinie (Scarborough-Linie), elf Straßenbahnlinien (Toronto Streetcar) und ca. 140 Buslinien. Die Straßenbahn- und Buslinien sind überwiegend rasterförmig angeordnet. Die unmittelbar an das Stadtgebiet angrenzenden Vorstädte werden von Buslinien anderer Unternehmen bedient, die an das Netz der TTC anschließen. Ausgehend vom Hauptbahnhof Union Station gibt es ein aus sieben Linien bestehendes Schnellbahnsystem von GO Transit, ergänzt durch eigene Buslinien. Mit den doppelstöckigen Zügen erreicht man Entfernungen von rund 60 Kilometern im Umkreis der Downtown. Seit dem 6. Juni 2015 verbindet der Union Pearson Express (UP Express) den internationalen Flughafen Toronto Lester B. Pearson mit der Innenstadt. Die Dieseltriebzüge dieser Linie fahren im 15-Minuten-Takt mit einer Fahrzeit von 25 Minuten vom Terminal 1 über die Bahnstationen Bloor und Weston zum Hauptbahnhof der Stadt, der Union Station. ==== Schiffs- und Fährverkehr ==== Neben der Pendelfähre zum Flughafen Toronto-City existieren Fährverbindungen zu den Toronto Islands. Vom Queen’s Quay an der Bay Street steuern die Fähren die Stationen Hanlan’s Point, Centre Island und Ward’s Island an. Am 24. Juni 2004 wurde die Linie Toronto–Rochester (USA) eingeweiht. Das Boot Spirit of Ontario I absolvierte die 152 km lange Strecke in einer Geschwindigkeit von 83 km/h. Mangels Auslastung wurde diese Fährverbindung allerdings im Januar 2006 wieder eingestellt. ==== Zugverkehr ==== Toronto ist Ausgangspunkt des transkontinentalen Fernverkehrszuges The Canadian. Eisenbahn-Fernverkehrszüge der VIA Rail Canada verkehren ausgehend vom Hauptbahnhof Union Station in Richtung Montreal–Quebec, Ottawa, Windsor, Sarnia, Niagara Falls–New York (zusammen mit Amtrak betrieben) und Greater Sudbury–Winnipeg–Edmonton–Vancouver. Die Ontario Northland Railway setzt Fernzüge in Richtung Cochrane–Moosonee ein, Amtrak einen Zug nach New York. ==== Individualverkehr ==== Für den Individualverkehr existieren mehrere Autobahnen in Ost-West- und in Nord-Süd-Richtung. Die Hauptverkehrsader bildet der etwas nördlich des Stadtzentrums gelegene Highway 401, der in bestimmten Abschnitten die höchste Verkehrsdichte in Nordamerika aufweist. Am Ufer des Ontariosees verbindet die Stadtautobahn Gardiner Expressway die westlichen Vororte mit der Innenstadt. Am Ostende verbindet der Don Valley Parkway den Gardiner Expressway mit dem Highway 401. Parallel zum Highway 401 verläuft der mautpflichtige Highway 407 ETR. Die 108 km lange Autobahn verbindet die Städte Burlington mit Pickering; die Maut wird mit Hilfe von automatischer Nummernschilderkennung und Funksendern erhoben. 401 und 407 werden von den nordwärts verlaufenden Highways 400 und 404 gekreuzt. Ebenfalls in Nord-Süd-Richtung verläuft der 21 km lange Highway 427. Er leitet vom Gardiner Expressway nordwärts am Toronto Pearson International Airport vorbei bis nach Vaughan. Eine weitere Verzweigung des 427 an dessen Südende mündet in den Queen Elizabeth Way (QEW), der am Ostufer des Ontariosees nach Niagara Falls führt. Entlang der Yonge Street tragen zur besseren Orientierung in der Innenstadt die in Ost-West-Richtung verlaufenden Straßen den Zusatz East bzw. West. === Öffentliche Einrichtungen === Von den über 20 Krankenhäusern gehört seit 1999 rund die Hälfte zum Netzwerk des Universitätsklinikums. Das 1812 gegründete Toronto General Hospital ist das Hauptkrankenhaus der Unikliniken. Die Feuerwehr in Toronto, die Toronto Fire Services, wurde im Jahr 1874 eingerichtet. Vor dieser Zeit führten Freiwillige die Brandbekämpfung durch. Mit der Gebietsreform 1998 bilden die Feuerwehren der Stadtteile eine Organisationseinheit. Die Feuerwehr Torontos ist mit rund 3100 Einsatzkräften, 81 Stationen und weit über 100 Fahrzeugen die größte Kanadas und nach New York City, Chicago und Los Angeles die viertgrößte Nordamerikas.Torontos Polizei besteht seit 1834. Der Toronto Police Service ist in 17 Einheiten mit 5710 Polizisten gegliedert.Die Legislativversammlung von Ontario hat ihren Sitz im Parlamentsgebäude am Queen’s Park. Die 107 Mitglieder werden mit Mehrheitswahl in den einzelnen Wahlkreisen Ontarios bestimmt. Die Stadt hat drei Gerichte, die für Verstöße gegen das Provinzrecht von Ontario zuständig sind. == Kultur und Sehenswürdigkeiten == Toronto gilt als eines der drei größten Kulturzentren Kanadas. === Stadtbild und Architektur === Torontos Architekturtradition setzte Mitte des 19. Jahrhunderts ein. Viele der führenden Architekten haben in Toronto Bauwerke gestaltet, wie beispielsweise der aus Toronto stammende Frank Gehry, Daniel Libeskind, Norman Foster, Will Alsop, Ieoh Ming Pei, Ludwig Mies van der Rohe und Santiago Calatrava. Einige architektonische Stile wurden in Toronto entwickelt, wie der sogenannte Bay-and-Gable-Stil. Dabei handelt es sich um sehr schmale, teilweise nur sechs Meter breite, halb freistehende Reihenhäuser aus rotem Backstein. Der Begriff bay-and-gable beschreibt zwei Charakteristika: Die Häuser besitzen einen Erker (englisch: bay window) und einen spitzen Giebel (englisch: gable). Die Häuser im viktorianischen Stil enthalten manchmal auch neogotische Elemente. Die meisten Bay-and-Gable-Häuser findet man in den Vierteln The Annex, Cabbagetown und Little Italy. Das Straßensystem ist größtenteils schachbrettförmig angelegt. Eine der wichtigsten Straßen ist die Yonge Street. Gedacht war sie als militärische Nachschublinie; heutzutage spielt sich das wirtschaftliche und kulturelle Leben hauptsächlich entlang dieser Straße ab. Sie beginnt in einer Entfernung von mehr als 1800 Kilometern im Hinterland, endet am Ontariosee und ist damit eine der längsten Straßen Nordamerikas. Das Stadtzentrum (Central Business District) dehnt sich im Norden bis zur Bloor Street, im Süden bis zum Viertel Harbourfront, im Westen bis zur Spadina Avenue und im Osten bis zur Parliament Street aus. Zwischen dem Hauptbahnhof Union Station und der Harbourfront verläuft die mehrspurige Stadtautobahn Gardiner Expressway. Im Bereich der Downtown verläuft die Stadtautobahn aus Platzgründen meist auf einer Brückenkonstruktion. Außerhalb des Stadtkerns prägen kleine Häuser das Stadtbild. Der Stadtkern besteht vor allem aus hohen Bauwerken. Im Metropolraum Greater Toronto Area gibt es nahezu 2000 Gebäude, die 30 Meter übersteigen; damit besitzt Toronto nach New York City die zweithöchste Anzahl an Hochhäusern auf dem nordamerikanischen Kontinent. Allein in Downtown Toronto gibt es über 100 Wolkenkratzer, die höher sind als 100 Meter. Der höchste Wolkenkratzer Torontos ist mit 298 Metern der First Canadian Place an der Ecke King Street und Bay Street. Anfang des Jahres 2009 stieg die Zahl der Wolkenkratzer deutlich an, außerdem befanden sich mehrere hundert Hochhäuser in der Planungs- oder Bauphase. Südlich der Innenstadt befinden sich die Toronto Islands, vier künstlich erweiterte Inseln im Ontariosee und schirmen den Hafen vom See ab. Auf der westlichsten Insel liegt ein kleiner Flughafen (Flughafen Toronto-City), der über eine Fährverbindung von der Innenstadt aus zu erreichen ist. Die übrigen Inseln sind als Park mit kleineren Seen, Wasserläufen, Seebrücke, Strand und Vergnügungseinrichtungen gestaltet. Die Inseln sind für den motorisierten Individualverkehr gesperrt und vom Queen’s Quay Terminal mit Personenfähren in etwa zehn Minuten erreichbar. ==== CN Tower ==== Höchstes freistehendes Bauwerk des amerikanischen Doppelkontinents, städtebauliche Dominante und Wahrzeichen ist der 1976 fertiggestellte Canadian National Tower, kurz CN Tower. Von seiner Fertigstellung bis zum Richtfest des Canton Tower im Mai 2009 war er mit 553 Metern der höchste Fernsehturm der Welt. Der Turm zählt mit jährlich rund zwei Millionen Besuchern zu den meistbesuchten Gebäuden Kanadas, wobei er ursprünglich nur für die Funkübertragung geplant worden war. Bis zum 12. September 2007 war der CN Tower auch das höchste freistehende Bauwerk der Erde. Diesen Rang nimmt mittlerweile der Burj Khalifa in Dubai mit 828 Metern ein. Neben einem Drehrestaurant und einer Aussichtsplattform auf 342 und 346 Meter Höhe hat der Turm eine zweite Aussichtsplattform (Sky Pod) unterhalb des Antennenmastes auf einer Höhe von 447 Metern, bis 2008 die höchste Aussichtskanzel der Welt. ==== Sportstätten und Veranstaltungshallen ==== Benachbart zum CN Tower ist das 1989 eröffnete und am 2. Februar 2005 in Rogers Centre umbenannte frühere SkyDome. Die 54.000 Plätze fassende Arena ist die Heimat der BlueJays (Baseball) und der Argonauts (Canadian Football) und verfügte bei seiner Eröffnung als erste Sportarena der Welt über ein komplett zurückfahrbares Dach und über die größte Videotafel der Welt. In dem Gebäude befinden sich das Renaissance Toronto Hotel Downtown (früher: SkyDome Hotel), das 70 zweigeschossige Suiten mit Sicht aufs Spielfeld anbietet und ein Restaurant (bis 2009 Hard Rock Cafe), gleichfalls mit Ausblick auf das Spielfeld. Östlich des Rogers Centre steht auf der Südseite der Bahnlinien die Mehrzweckhalle Air Canada Centre, die neben Konzerten und Theatervorführungen auch als Heimspielarena der Basketballmannschaft Toronto Raptors, der Eishockeymannschaft Toronto Maple Leafs, der Lacrossemannschaft Toronto Rock und der Footballmannschaft Toronto Phantoms dient. Je nach Veranstaltung bietet die Halle bis zu 19.800 Zuschauern Platz. Westlich der Downtown befindet sich das im April 2007 fertiggestellte, größte reine Fußballstadion Kanadas, das BMO Field, für rund 20.000 Zuschauer. ==== Downtown ==== Gegenüber der Union Station an der Front Street befindet sich das Luxushotel Fairmont Royal York. Das 1929 fertiggestellte Gebäude ist 124 Meter hoch, hat 28 Stockwerke und unterschiedlich hoch abgestufte Gebäudeteile. Es war bis 1931 das höchste Gebäude der Stadt. Unter dem Stadtteil befindet sich das über 28 Kilometer lange Tunnelnetz PATH, das unterirdisch Bürokomplexe und über 1200 Geschäfte und Ämter miteinander verbindet. Die Nord-Süd-Achse dieses Netzes reicht vom Royal York Hotel und der Union Station bis weit über die Queen Street West hinaus. In der Ost-West-Achse bilden die U-Bahn-Stationen der gelben Linie St. Andrew und King die äußersten Punkte dieser weltgrößten Untergrundstadt. Ebenfalls ans PATH angeschlossen ist der Brookfield Place (ehemals BCE Place), ein Büro- und Gewerbekomplex, der aus den zwei Wolkenkratzern Bay Wellington Tower (207 Meter) und TD Canada Trust Tower (261 Meter) besteht. Geplant wurde dieser Komplex von dem Torontoer Architekturbüro Bregman + Hamann Architects unter Mitwirkung von Santiago Calatrava, der die sechsstöckige Allen Lambert Galleria entwarf. Diese Galerie, einschließlich eines großen, lichtdurchfluteten Atriums, das von einer bogenartigen Strebenkonstruktion abgeschlossen wird, verbindet beide Wolkenkratzer. Östlich des Brookfield Place steht das 1892 errichtete Gooderham Building, ein markantes Bügeleisengebäude. Das Toronto-Dominion Centre ist ein von Ludwig Mies van der Rohe zwischen 1967 und 1969 erbauter Gebäudekomplex aus sechs Hochhäusern. Die markantesten Bauwerke sind zwei schwarze Wolkenkratzer, der höchste von ihnen ist mit 222 Metern der Toronto-Dominion Bank Tower. In der Nähe des IBM Tower befindet sich die Börse von Toronto. Das in den 1970er Jahren eröffnete Eaton Centre ist ein sechsstöckiges Einkaufszentrum mit über 300 Geschäften, 17 Kinos, Diskotheken und einem Luxushotel, das wöchentlich von bis zu einer Million Menschen frequentiert wird. Es wurde nach dem irischen Einwanderer Timothy Eaton benannt, der 1869 an dieser Stelle einen Gemischtwarenladen eröffnete. Aus diesem entstand ein in ganz Kanada bekanntes Versandhaus. Der südliche Eingang befindet sich an der Ecke Queen Street West und Yonge Street; das Einkaufszentrum zieht sich nördlich bis zum Dundas Square hin und ist unterhalb der Oberfläche auch mit dem PATH verbunden. Das Eaton Centre wurde unter Mitwirkung des deutschen Architekten Erhard Zeidler zusammen mit Bregman + Hamann Architects entworfen. Östlich vom Südeingang des Eaton Centre, an der Ecke von Queen Street West und Bay Street, befindet sich der von dem finnischen Architekten Viljo Revell Anfang der 1960er Jahre errichtete avantgardistische Gebäudekomplex des Neuen Rathauses von Toronto. Die beiden Gebäude sind 20- bzw. 27-geschossige Hochhäuser mit gebogenem Grundriss. Über einem unteren muschelförmigen Plenarsaal sind die zwei Hochhäuser miteinander verbunden. Das Gebäude dient seit 1965 als Rathaus und befindet sich gegenüber dem Alten Rathaus. Westlich des Rathauses schließt sich die Osgoode Hall an. Das ehemalige Gerichtsgebäude wurde zwischen 1835 und 1855 errichtet und ist nach dem ersten Oberrichter William Osgoode von Oberkanada benannt. Die St.-James-Kathedrale ist mit knapp 93 Metern höchster Kirchenbau Torontos und nach dem St.-Josephs-Oratorium in Montreal der zweithöchste Kanadas. Die 1844 fertiggestellte anglikanische Kirche gehört zur ältesten Kirchengemeinde der Stadt und steht etwas abseits der Innenstadt an der Church Street, an der sich viele weitere Kirchen Torontos befinden. Südlich des St.-James-Parks befindet sich der St. Lawrence Market mit einem Süd- und einem Nordbau. Das südliche Gebäude diente der Stadt zwischen 1845 und 1904 als Rathaus; heute informieren wechselnde Ausstellungen über die Stadtgeschichte. Der erste Stock war früher eine Polizeistation. Heute bieten vor allem in der nördlichen Markthalle über 120 Händler ihre Erzeugnisse an. ==== Außerhalb Downtown ==== Nördlich des Stadtzentrums befindet sich Casa Loma, ein Schloss in „europäischem“ Stil, das Sir Henry Pellatt Anfang 1900 baute. Es ist heute ein Museum mit 98 Zimmern, Geheimgängen, einem alten Schwimmbad und einem botanischen Wintergarten. Die Chinatown von Toronto gehört zu den größten in Nordamerika. Wie auch die anderen zeichnet sie sich durch zweisprachige Straßenschilder und zahlreiche chinesische Geschäfte und Restaurants aus. Sie befindet sich im Bereich der Dundas Street West und der Spadina Avenue unmittelbar westlich der Yonge Street. Das Viertel geht bis in das Jahr 1878 zurück. Damals halfen hunderte eingewanderte Chinesen den Canadian Pacific Railway zu bauen. Den größten Zuwachs an chinesischen Einwanderern verzeichnete Toronto in den Jahren 1947 bis 1960. Als 1961 der Bau des neuen Rathauses am Nathan Phillips Square begann, verlagerte sich das Chinesenviertel von der Kreuzung zwischen Queens Street und Bay Street in westliche Richtung. Östlich des Don Valley Parkway liegt Greektown (Toronto), ein Stadtviertel an der Danforth Avenue gelegen, in dem vornehmlich griechische Einwanderer leben. In den 1970er und 1980er Jahren galt das Viertel als das größte Griechenviertel Nordamerikas. In dem Viertel entlang der Danforth Avenue Ecke Pape befinden sich zweisprachige Straßenschilder auf Englisch und Griechisch. Mit rund 125.000 Griechen ist Greektown heute die zweitgrößte griechische Gemeinschaft außerhalb Griechenlands. An der mit griechischen und kanadischen Flaggen gesäumten Danforth Avenue sind zahlreiche Restaurants und Cafés mit griechischer Küche und Musik zu finden. Auf drei künstlichen Inseln im Ontariosee befindet sich der etwa 566.000 Quadratmeter große, am 22. Mai 1971 eröffnete Freizeitpark Ontario Place. Er liegt rund vier Kilometer westlich der Downtown. Neben verschiedenen Wildwasserbahnen und Wasserrutschen gehört ein großes IMAX-Kino zu den Attraktionen. === Park- und Gartenanlagen === Im Stadtgebiet befinden sich weit über 200 Parkanlagen und Gärten mit über 90 Kilometer Spazierwegen. Der mit 161 Hektar größte Park ist der High Park im Westen nördlich der Humber Bay. Er erstreckt sich südlich der Bloor Street West und westlich des Parkside Drive, östlich der Ellis Park Road. Er ist eine Mischung aus Naherholungsgebiet und Naturpark mit einem Zoo. Allan Gardens ist ein botanischer Garten, den der frühere Bürgermeister George William Allan stiftete. Sechs Gewächshäuser zeigen beispielsweise seltene tropische Pflanzen und Palmen. Die Universität verlegte 1931 ihr Gewächshaus in die Allan Gardens. Der rund 15 Hektar große Trinity Bellwoods Park zwischen dem Gebiet nördlich der Queen Street West und der Dundas Street enthält Spielflächen für diverse Sportarten wie Tennis, Fußball oder Volleyball. Der HTO Park in der Harbourfront südlich des Rogers Centre ist ein 2007 am Ufer des Ontariosees eröffneter Stadtstrand. Im Nordosten der Stadt befindet sich der 287 Hektar große Zoologische Garten, der Toronto Zoo. Der Neubau wurde 1970 aufgrund einer Bürgerinitiative begonnen und am 15. August 1974 eröffnet. Er ist flächenmäßig der drittgrößte Zoo der Welt mit über zehn Kilometer Fußwegen und beherbergt rund 5000 Tiere und 460 Arten. Sein Vorgänger, der Riverdale Zoo, wurde 1888 eröffnet. Jährlich verzeichnet der Zoo rund 1,2 Millionen Besucher.In unmittelbarer Nähe des Zoos befindet sich der Rouge National Urban Park, ein Nationalpark. Die mit Fähren erreichbaren vorgelagerten Toronto Islands bieten auf 230 Hektar weitläufige Spazierwege, Strände und Sportanlagen. Über 1,2 Millionen Besucher nutzen jährlich die Möglichkeiten des Toronto Island Parks. === Musik und Theater === Die Stadt besitzt eine Konzerthalle namens Roy Thomson Hall für das Toronto Symphony Orchestra, die Massey Hall (Vorgängerin der Roy Thomson Hall), weitere Konzertsäle sowie eine Anzahl von Gebäuden für Oper, Ballett, Operette und Schauspiel. Nach London und New York hat Toronto die drittgrößte Theaterszene im englischsprachigen Raum. Besondere Bekanntheit erlangte das 1907 eröffnete Royal Alexandra Theatre. In Anlehnung an den Hollywood Walk of Fame wurde 1998 in 13 Straßenzügen rund um das Royal Alexandra Theatre Canada’s Walk of Fame eröffnet. Dort werden derzeit 131 berühmte kanadische Sportler, Sänger und Stars aus der Medienwelt mit einem Gedenkstein im Bürgersteig gewürdigt.Am 14. Juni 2006 wurde das Four Seasons Centre eröffnet, ein über 2000 Sitze fassendes Opernhaus südlich des neuen Rathauses. Der für 181 Millionen Dollar errichtete Bau ersetzte das große Opernhaus aus dem Jahr 1874. Dort tritt das kanadische Nationalballett und die Canadian Opera Company auf. Toronto ist der Heimatort des renommierten Barockorchesters Tafelmusik. Neben einer weitgefächerten Musikindustrie ballt sich hier die englischsprachige Literaturszene. Viele Literaten studierten an der University of Toronto, wie Stephen Leacock, Margaret Atwood und Michael Ondaatje (Der englische Patient). === Kunst und Museen === Die Stadt besitzt mehrere bedeutende Museen. Die Art Gallery of Ontario (AGO) mit den Sammlungsschwerpunkten Kanadische Malerei, Europäische Malerei und Skulpturen von Henry Moore ist eines der größten Kunstmuseen Nordamerikas. Das meist nur ROM genannte Royal Ontario Museum ist das größte Museum Kanadas. Es verfügt über Sammlungen zur Naturwissenschaft, Archäologie, Kunst- und Kulturgeschichte sowie zu den First Nations. Durch seine Kunstsammlung aus Fernost wurde es weltbekannt. Seit Juni 2007 wartet das ROM mit zehn erweiterten Galerien auf. Der Neubau und der Altbau wurden dabei ineinander verschachtelt. Die neue Außenfassade The Crystal hat eine dem Dekonstruktivismus zuzuordnende, zerklüftete, kristallähnliche Form, die zu 25 % aus Glas und zu 75 % aus Aluminium besteht. In der zur Bloor Street West zeigenden Fassade befindet sich der Haupteingang des Museums. Der von dem Architektenbüro Bregman + Hamann und Daniel Libeskind entworfene Neubau kostete 270 Millionen Dollar. Das Museum of Contemporary Canadian Art präsentiert zeitgenössische Kunst. Im 2012 eröffneten Ryerson Image Centre (RIC) werden Ausstellungen zu Fotografie, Neuen Medien, Installationskunst und Film gezeigt. Die internationale Hockey Hall of Fame (HHOF) ist eine Institution, die die besten Eishockeyspieler in einem Eishockeymuseum ehrt. An der Bloor Street West befindet sich das Bata Shoe Museum, ein Schuhmuseum, das zum Bata-Konzern gehört. Das 1979 gegründete Museum zeigt über 12.000 Schuhe, die ältesten Exponate stammen aus der Zeit von etwa 2500 v. Chr. Insgesamt zehn verschiedene Häuser, Schulen, Industriegebäude und sonstige Bauten sind zu historischen Stätten erklärt worden. Eine der bedeutendsten ist die Fort York National Historic Site. Sie befindet sich an dem Ort, an dem Toronto 1793 gegründet wurde und an dem am 27. April 1813 der Höhepunkt des Britisch-Amerikanischen-Krieges als Schlacht von York stattfand. Etwa elf Kilometer nordöstlich der Downtown befindet sich das Ontario Science Centre, ein 1969 eröffnetes Wissenschaftsmuseum. Es zeigt naturwissenschaftliche Zusammenhänge anhand von Experimenten, die von den Besuchern selbst durchgeführt werden können. Es verzeichnet jährlich rund 1,5 Millionen Besucher. === Sport === Toronto ist mit Ausnahme der National Football League (NFL) in allen großen nordamerikanischen Profisportligen mit jeweils einer Mannschaft vertreten. In der Eishockeyliga National Hockey League (NHL) zählen die Toronto Maple Leafs mit 13 Gesamtsiegen und 21 Finalteilnahmen beim Stanley Cup zu den erfolgreichsten Eishockeymannschaften Nordamerikas. Als Farmteam für die Toronto Maple Leafs fungieren die Toronto Marlies in der Eishockeyliga American Hockey League (AHL). In der Basketballliga der National Basketball Association (NBA) spielen die Toronto Raptors als einzige Basketballmannschaft außerhalb der Vereinigten Staaten. Wie auch die Toronto Maple Leafs, tragen die Toronto Raptors ihre Spiele in der Scotiabank Arena aus. Die Baseballmannschaft der Toronto Blue Jays, ebenfalls die einzige Mannschaft der Baseballliga Major League Baseball (MLB) außerhalb der Vereinigten Staaten, und die im Canadian Football aktiven Toronto Argonauts spielen im weithin sichtbaren und mitten im Stadtzentrum befindlichen Rogers Centre. Die Meisterschaft der Canadian Football League (CFL), der Grey Cup, fand bereits 48 Mal in Toronto statt. Aufgrund dieser Sonderstellung in den wichtigsten Profisportligen der Vereinigten Staaten gilt Toronto als die – sportlich gesehen – amerikanisierteste Stadt Kanadas. Weitere erwähnenswerte Mannschaften der Stadt sind die Toronto Rock, die in der National Lacrosse League (NLL) das in Kanada äußerst beliebte Lacrosse spielen, sowie der Toronto FC, der neben den ebenfalls aus Kanada stammenden Vancouver Whitecaps in der Fußballliga Major League Soccer (MLS) spielt. Darüber hinaus ist Toronto eine Hochburg des Rugby in Kanada. Im gesamten Ballungsraum existieren über 70 traditionsreiche Rugbyclubs. Überregionale Bedeutung besitzen die Ontario Blues, die im heimischen Canadian Rugby Championship (CRC) sowie dem internationalen Americas Rugby Championship (ARC) gegen Mannschaften aus Nord- und Südamerika antreten und mit den Toronto Arrows ein eigenes Franchiseteam innerhalb der Rugbyliga Major League Rugby (MLR) stellen. Mit insgesamt sieben Traditionsvereinen und weiteren akademischen Riegen ist Toronto überdies ein Zentrum des kanadischen Rudersports, der an der sogenannten Hanlanbucht im Ontariosee seinen Ursprung hat. Toronto war Austragungsort zahlreicher internationaler Sportveranstaltungen. Nachdem die Olympischen Sommerspiele 1976 nach Montreal vergeben worden waren, war die Stadt Ausrichter der Paralympischen Sommerspiele 1976. Für die Olympischen Sommerspiele 1996 und 2008 bewarb sich die Stadt, unterlag allerdings gegen Atlanta bzw. Peking. Das Kanadische Olympische Komitee (COC) mit Sitz in Toronto erwog daraufhin, sich ein drittes Mal zu bewerben. Die Stadt richtete 1997 zusammen mit Collingwood die 6. Special Olympics World Winter Games aus. Die 6. Special Olympics World Winter Games fanden vom 1. bis 8. Februar 1997 in Toronto und Collingwood statt. Dies war das erste und bislang einzige Mal, dass Kanada Gastgeber für Special-Olympics-Weltspiele war. Bis dahin hatten alle Spiele mit Ausnahme der Special Olympics World Winter Games 1993 in den USA stattgefunden. Fast 2.000 Athleten aus 73 Ländern und mehr als 5.000 Freiwillige waren an den Spielen beteiligt. Bei der Veranstaltung waren fünf Wettkampfsportarten und eine Demonstrationssportart vertreten: Eiskunstlauf: Toronto, Hallenhockey: Toronto, Ski Alpin: Blue Mountain Resort, Collingwood, Skilanglauf: Highlands Nordic, Collingwood, Eisschnelllauf: Toronto. Als Demonstrationssportart war Schneeschuhlaufen dabei. Auch Eisstockschießen wurde laut einer anderen Quelle angeboten.Seit 1990 findet im jährlichen Wechsel mit Montreal das Rogers Masters in Toronto statt, das zu den Turnieren der ATP Masters Series zählt. 1993 fanden dort die 4. Leichtathletik-Hallenweltmeisterschaften statt. Ein Jahr später war Toronto neben Hamilton Austragungsort der Basketball-Weltmeisterschaft. 2000 wurden die Du Maurier Open 2000 in Toronto abgehalten. Ebenfalls seit 2000 findet im Herbst jährlich der Toronto Waterfront Marathon im Stadtzentrum statt. Toronto war ferner gemeinsam mit der Region des Golden Horseshoe Austragungsort für die Panamerikanischen Spiele 2015. === Regelmäßige Veranstaltungen === Das Toronto International Film Festival Anfang September ist eines der größten Filmfestivals Nordamerikas. Es findet seit 1976 mit der Verleihung der Genie Awards (seit 1980) und der Gemini Awards (seit 1986) statt. Das an unterschiedlichen Orten stattfindende internationale Filmfestival IFCT Festival fand 2002 in Toronto statt. Im Februar findet seit 1974 jährlich die Canadian International AutoShow im Metro Toronto Convention Centre und im Rogers Centre statt. Sie ist mit 79.000 Quadratmetern Ausstellungsfläche die größte Automobilausstellung Kanadas. Die seit 1981 im März (ab 2014: im Mai) stattfindende viertägige Canadian Music Week ist ein Musikfestival und eine Musikkonferenz. Seit 1968 findet Anfang Juni in Toronto das ethnisch-kulturelle Volksfest International Caravan statt. Es besteht aus musikalischen und folkloristischen Veranstaltungen in Form von Konzerten und Theateraufführungen in mehr als 30 Pavillons im Stadtgebiet. Die Pride Week Ende Juni jeden Jahres gehört zu den größten Gay-Pride-Festivals weltweit. Höhepunkte sind der Dyke March und die Pride Parade, an der bis zu über eine Million Menschen teilnehmen.Seit 1989 findet jährlich im Sommer viertägige Beaches International Jazz Festival als Freiluft-Veranstaltung im Viertel The Beaches von Old Toronto statt, der Hauptact jeweils auf einer Bühne im Kew Garden. Parallel dazu spielen Bands auf einer Strecke von zwei Kilometern entlang der Queen Street East. Außerdem gibt es seit 1987 das Toronto Jazz Festival im Juni/Juli. Im Juni gibt es seit 1995 das Musik- und Kulturfestival North by Northeast (NXNE). Seit 1994 findet in der Greektown jährlich im August das Festival Taste of the Danforth statt. Einst nur ein lokales Straßenfest mit griechischen Spezialitäten, zieht es heute weit über 1,5 Mio. Besucher an. Das Canadian National Exhibition ist eine Mischung aus Jahrmarkt und Landwirtschaftsmesse. Die Veranstaltung findet seit 1879 von Mitte August bis zum Labour Day auf dem Exhibition Place, einem Platz westlich der Downtown statt. Sie ist mit jährlich etwa 1,3 Millionen Besuchern Nordamerikas fünftgrößte Messe. Neben den Ausstellungen gibt es auch Sport- und Musikveranstaltungen sowie eine Flugschau. Die Toronto Santa Claus Parade ist eine seit 1905 stattfindende Weihnachtsparade Mitte November. Mehr als eine halbe Million Menschen schauen jeweils der Parade auf sechs Kilometer der Innenstadt Torontos zu. Sie wird seit 1952 landesweit im Fernsehen übertragen. == Toronto in den Medien == Wegen seiner wichtigen Stellung im Bereich Medien und Film wird Toronto auch als das „Hollywood des Nordens“ bezeichnet. So ist die Stadt häufig Dreh- oder Handlungsort von internationalen Filmen. Im Jahr 2007 gaben Filmproduktionsgesellschaften insgesamt 791 Millionen Dollar für Dreharbeiten in Toronto aus. Die für Film und Fernsehen zuständige städtische Behörde Toronto Film and Television Office berichtet von etwa 200 Produktionen im Jahr 2005, darunter 39 Spielfilme, 44 Fernsehfilme und 84 Fernsehserien.Besonders das aus den 1960er Jahren stammende, futuristisch anmutende Rathaus (Toronto City Hall) diente schon vielen Filmen als Kulisse. In dem amerikanischen Thriller The Sentinel – Wem kannst du trauen? ist das Rathaus Schauplatz eines G8-Gipfels, daneben spielt der Film u. a. am Nathan Phillips Square, wo das Finale stattfindet. In dem Horrorfilm Resident Evil: Apocalypse (2004) dient die Toronto City Hall als Rathaus der fiktiven Stadt Raccoon City, das Exhibition Place wird in dem Film als National Trade Centre bezeichnet. In der Episode All Our Yesterdays (1969) aus der Science-Fiction-Fernsehserie Raumschiff Enterprise ist das Rathaus ein Portal der Außerirdischen. Und in der Actionkomödie The Tuxedo – Gefahr im Anzug dient es als Hauptquartier eines Nachrichtendienstes. Die Filmdramen M. Butterfly (1993) von Regisseur David Cronenberg und Das süße Jenseits (1997) unter der Regie von Atom Egoyan spielten teilweise in Toronto ebenso wie Take This Waltz von Sarah Polley (2011). M. Butterfly hatte beim Toronto Film Festival seine Weltpremiere. Die Kinokomödienreihe Police Academy wurde teilweise in Toronto gedreht, der dritte Teil fast vollständig. Der Film soll zwar offenbar in einer US-amerikanischen Großstadt spielen, man sieht aber mehrfach die markante Skyline Torontos. Der Titel des Films Am Highpoint flippt die Meute aus bezieht sich auf den Turmkorb des CN Tower, wo der Showdown stattfindet. Um den Absturz des Antagonisten darzustellen, sprang der Stuntman Dar Robinson mit einem Fallschirm vom Turm. Die aus Toronto stammenden Cowboy Junkies haben den Stil des Alternative Country maßgeblich geprägt. Am 27. November 1987 nahmen sie das Album The Trinity Session in der Torontoer Kirche der Heiligen Dreifaltigkeit (Church of the Holy Trinity) auf. Die erfolgreiche Alternative-Rock-Band Barenaked Ladies wurde 1988 in Scarborough gegründet und nahm auch ihre Alben in Toronto auf. Der Rapper Snow beschreibt in seinem bekanntesten Song Informer Anfang der 1990er Jahre seine Herkunft aus Toronto. Der Film Rot spielt in Toronto. == Persönlichkeiten == Toronto ist Geburtsort zahlreicher prominenter Persönlichkeiten, zu denen der für die Gründung Kanadas wichtige Politiker Robert Baldwin (1804–1858) zählt. Als kanadische Hauptstadt für Film, Musik und Medien sind besonders viele Persönlichkeiten aus diesem Bereich vertreten. In Toronto sind folgende Filmschaffende geboren: Raymond Massey, Michael Ironside, Mike Myers, Harland Williams, Will Arnett, die Schauspielerin Jessica Steen und der Regisseur David Cronenberg, der vor allem für seine Horrorfilme bekannt geworden ist. Weltweit bekannt ist vor allem der gebürtige Torontoer Rockmusiker Neil Young. Nicht aufgewachsen in Toronto ist der Komiker und Schauspieler Jim Carrey. Er trat bereits mit 15 Jahren auf verschiedenen Bühnen von Clubs in Toronto auf. Zum Teil in Toronto aufgewachsen ist die portugiesisch-kanadische Sängerin Nelly Furtado. Aus Toronto stammt die Rockband Rush und ihr Sänger und Bassist Geddy Lee. Der bedeutende Pianist und Musikautor Glenn Gould wurde in Toronto geboren und starb dort mit 50 Jahren nach einem Schlaganfall. Der weltweit als Architekt und Designer tätige Frank Gehry wurde 1929 ebenfalls in Toronto geboren. Der Pritzker-Preis-Träger erhielt 1998 von der University of Toronto die Ehrendoktorwürde. Die Universität benannte sogar einen eigenen Lehrstuhl für jährlich wechselnde Gastprofessoren nach ihm. Das einzige Werk Gehrys in Toronto ist die Neugestaltung des Art Gallery of Ontario im Jahr 2008. Der frühere Premierminister Lester Pearson wurde 1897 in dem heutigen Torontoer Bezirk Newtonbrook geboren und wuchs in Toronto auf. Er studierte am Victoria College und an der University of Toronto. 1957 erhielt er als Initiator der Beendigung der Sueskrise den Friedensnobelpreis. Der von 2006 bis 2015 amtierende kanadische Premierminister Stephen Harper wurde in Toronto geboren und ist in der Stadt aufgewachsen. Ebenfalls aus Toronto stammt Newcomer Shawn Mendes. Dieser lebt mit seinen Eltern und seiner Schwester in einem Vorort Torontos. In Toronto wirkte auch eine Reihe berühmt gewordener Wissenschaftler. Der Arzt Frederick Banting studierte und arbeitete dort. Für die Entdeckung des Insulins erhielt er 1923 zusammen mit dem ebenfalls in Toronto forschenden John James Richard Macleod den Nobelpreis für Medizin. Arthur L. Schawlow, der 1941 sein Studium der Mathematik und Physik an der University of Toronto abschloss, erhielt 1981 wegen seiner Mitwirkung an der Entwicklung des Lasers den Nobelpreis für Physik. Ebenfalls den Physik-Nobelpreis erhielt Bertram Brockhouse, der an der Universität in Toronto diplomierte. John C. Polanyi ist Hochschullehrer in Toronto und erhielt 1986 den Nobelpreis für Chemie. Der Physiker Walter Kohn wurde 1946 Master in Angewandter Mathematik an der University of Toronto und erhielt 1998 den Nobelpreis für Chemie. Der Schriftsteller und Literaturnobelpreisträger Ernest Hemingway wohnte Anfang der 1920er Jahre in Toronto und begann seine Karriere als Journalist beim Toronto Star. Die in Montreal geborene Journalistin und Ikone der Globalisierungskritik Naomi Klein lebt mit Familie in Toronto. == Literatur == Englischsprachige Literatur A. Rodney Bobiwash: The History of Native People in the Toronto Area. An Overview, in: Frances Henderson, Heather Howard-Bobiwash (Hrsg.): The Meeting Place. Aboriginal Life in Toronto, Native Canadian Centre of Toronto, Toronto 1997, S. 5–24 ISBN 978-0-9682546-0-8. G.P. deT. Glazebrook: Story of Toronto. University of Toronto Press, Toronto 1971, ISBN 0-8020-1791-6. Derek Hayes: Historical Atlas of Toronto, Douglas & McIntyre 2008, ISBN 978-1-55365-290-8. Key Porter Books Limited (Hrsg.): Toronto: A City Becoming, Key Porter Books 2008, ISBN 978-1-55263-949-8. Sean Stanwick, Jennifer Flores: Design City Toronto, Academy Press 2007, ISBN 978-0-470-03316-6. E. R. A. Architects: Concrete Toronto, Univ. of Chicago Press 2007, ISBN 978-1-55245-193-9. Ronald F. Williamson: Toronto: A Short Illustrated History of Its First 12,000 Years, James Lorimer & Company Ltd., 2008, ISBN 978-1-55277-007-8. Julie-Anne Boudreau, Roger Keil, Douglas Young: Changing Toronto Governing Urban Neoliberalism, University of Toronto Press 2009, ISBN 978-1-4426-0133-8.Deutschsprachige Literatur Heike Schiewer: Stadtplanung in einer multikulturellen Gesellschaft: Planerisches Rollenverständnis und Planungsprozesse in Toronto/Kanada, Informationskreis f. Raumplanung 1999, ISBN 978-3-88211-108-8. Julia Czerniak: Downsview Park Toronto, Prestel 2002, ISBN 978-3-7913-2536-1. Genevieve Susemihl: '… and it became my home.'. Die Assimilation und Integration der deutsch-jüdischen Hitlerflüchtlinge in New York und Toronto, Lit-Verlag 2004, ISBN 978-3-8258-8035-4. Detlev Ipsen: Toronto – Migration als Ressource der Stadtentwicklung, Universität Kassel 2005, ISBN 978-3-89117-152-3. Marc Degens: Toronto. Aufzeichnungen aus Kanada, Mairisch Verlag 2020, ISBN 978-3-938539-59-0.Reiseführer Leonie Senne: Kanada Osten, Iwanowski’s Reisebuchverlag 2007, ISBN 978-3-923975-40-2. Helmut Linde: Kanada, Osten, Baedeker Allianz Reiseführer, ISBN 978-3-8297-1125-8. Christian Heeb, Margit Brinke, Peter Kränzle: Highlights Kanada, Bruckmann Verlag 2008, ISBN 978-3-7654-4760-0. Kurt Ohlhoff: Kanada und seine Provinzen, Komet Verlag Köln, ISBN 978-3-89836-767-7. Sara Benson: Toronto, Lonely Planet 2004, ISBN 978-1-74104-179-8. Natalie Karneef, Charles Rawlings-Way: Toronto. City Guide, Lonely Planet 2007, ISBN 978-1-74059-835-4. == Weblinks == Toronto (englisch) – Offizielle Website der Stadt Toronto. Toronto Info Center (englisch) – Toronto Informationszentrale Toronto. In: The Canadian Encyclopedia. Abgerufen im 1. Januar 1 (englisch, français). Toronto Reiseinformationen (englisch) Toronto – Fototour (englisch) NZZ Online (13. September 2008): Toronto: Baukünstlerische Neuerfindung The B1M: This City is the Next New York auf YouTube, 18. Mai 2022 (englisch). == Einzelnachweise ==
https://de.wikipedia.org/wiki/Toronto
North Carolina
= North Carolina = North Carolina (englische Aussprache [ˈnɔɹθ ˌkæɹəˈlaɪ̯nə] ) ist ein an der Atlantikküste gelegener Bundesstaat im Osten der Vereinigten Staaten von Amerika. Er grenzt im Süden an South Carolina und Georgia, im Westen an Tennessee und im Norden an Virginia. Der Staat lässt sich aufgrund seiner geografischen Lage in drei klimatische Zonen aufteilen, die gemäßigte Küstenregion im Osten, das Piedmontplateau und die kühlere Bergregion der Appalachen. Die Flora und Fauna ist vielfältig und reicht vom flachwurzelnden Bewuchs der Küste und den dort lebenden amerikanischen Alligatoren bis hin zu den von Schwarzbären und Weißwedelhirschen bewohnten Nadelwäldern im Westen. Der heutige Bundesstaat geht auf eine 1663 gegründete Kronkolonie zurück und ist nach dem englischen König Karl I. benannt. Im Jahre 1776 war North Carolina eine der Dreizehn Kolonien, die sich in der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung vom Mutterland lossagten, und ist damit einer der Gründungsstaaten der Vereinigten Staaten. Seit 1792 ist Raleigh Hauptstadt des Staates, ihren Namen erhielt die Stadt zu Ehren des Entdeckers der Küste North Carolinas, Sir Walter Raleigh. Während des Amerikanischen Bürgerkrieges von 1861 bis 1865 trat North Carolina aus den Vereinigten Staaten aus und schloss sich den Konföderierten Staaten von Amerika an. Die Wiederaufnahme in die Vereinigten Staaten erfolgte 1868 in dem dem Krieg folgenden Prozess der Reconstruction. Danach begann die bis in die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts dauernde Umwandlung vom landwirtschaftlich geprägten Staat zu einer Industrieregion. Nach dem New Deal in den 1930er Jahren entwickelte sich North Carolina zu einem Zentrum der amerikanischen Finanzwirtschaft und der Forschung und Entwicklung in verschiedenen Hochtechnologie-Branchen. Der Bundesstaat zeichnet sich durch ein stetiges Bevölkerungswachstum aus und gehört zu den zehn bevölkerungsreichsten Bundesstaaten des Landes. Im Juli 2009 wurde die Bevölkerung des Staates auf 9.380.884 Menschen geschätzt, etwas über ein Fünftel der Bewohner sind afroamerikanischer Abstammung, acht Stämme indigener Völker (Indianer) leben innerhalb der Staatsgrenzen. North Carolina ist Teil des Bible Belts (deutsch „Bibelgürtel“), die Bevölkerung ist mehrheitlich protestantisch. Ursprünglich gehörte North Carolina zum Kernland der Demokraten; in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts verschob sich die allgemeine politische Ausrichtung zugunsten der Republikaner. Erst bei der Präsidentschaftswahl 2008 konnte nach 30 Jahren ein demokratischer Kandidat den Staat wieder für sich gewinnen. North Carolina ist Teil der kulturellen Großregion der Südstaaten, sowohl die regionale Musik, die typische Küche als auch die traditionellen Freilichttheater sind dadurch geprägt, während sich in der Architektur des Bundesstaates unterschiedliche Einflüsse finden. Von überregionaler Bedeutung sind eine Reihe von Museen und insbesondere natur- und denkmalgeschützte Gebiete und Einzelgebäude. Der Great-Smoky-Mountains-Nationalpark, der meistbesuchte Nationalpark der Vereinigten Staaten zieht einen Großteil der Besucher North Carolinas an. Ein weiterer Anziehungspunkt sind die jährlich veranstalteten NASCAR-Automobilrennen und die zwischen den Hochschulen ausgetragenen Wettkämpfe in den Collegesportarten. == Geografie == === Lage und Ausdehnung === North Carolina liegt an der Südostküste der Vereinigten Staaten und grenzt an die Bundesstaaten South Carolina und Georgia im Süden, Tennessee im Westen und Virginia im Norden. Im Osten liegt der Atlantik. Die Nordgrenze des Staats verläuft auf dem Breitengrad von 36°35′10″ im Westen bis 36°32′27″ im Osten. Die Westgrenze verläuft entlang des Kamms des Appalachen-Gebirges. Der südlichste Punkt des Staates liegt bei 33°50′57″ nördlicher Breite; seine Nord-Süd-Ausdehnung misst 300,3 Kilometer, die West-Ost-Ausdehnung zwischen 75°27′15″ und 84°19′01″ westlicher Länge beträgt 807,4 Kilometer. Der Staat umfasst eine Fläche von 139.389 Quadratkilometern, wovon 125.919 Quadratkilometer Landfläche sind, und ist damit etwas größer als Griechenland. === Regionen === Geografisch und geologisch lässt sich North Carolina von Ost nach West in drei wesentliche Teile gliedern: die Küstenebene am Atlantik, das Piedmont-Plateau im Hinterland und die Bergregion der Appalachen. Etwa zwei Drittel des Bundesstaates werden von der atlantischen Küstenebene eingenommen. Die Böden der sehr flachen Ebene sind sandig und sind von dichten Wäldern bewachsen, die überwiegend aus Kiefern und anderen immergrünen Bäumen bestehen. Die Böden eignen sich besonders für den Anbau von Tabak, Soja, Melonen und Baumwolle. Diese Region, zu der die Inner Banks gehören, ist die ländlichste North Carolinas, mit nur wenigen größeren Städten und Gemeinden. Dem Land vorgelagert sind die Outer Banks, eine Kette schmaler und variabler Düneninseln, die eine Barriere zwischen dem Atlantik und den im Landesinneren gelegenen Wasserwegen bilden. Die Outer Banks umschließen die zwei größten Lagunen der Vereinigten Staaten, den Albemarle Sound im Norden und den Pamlico Sound im Süden, deren Fläche jene des Staates Connecticut übersteigt. An North Carolinas Küste mangelt es an einem geeigneten natürlichen Hafen, weshalb sich nie ein bedeutender Seehafen wie beispielsweise Charleston in South Carolina oder Savannah in Georgia entwickelte. Der einzige größere Hafen des Staates, Wilmington, liegt etwa 25 Kilometer im Landesinneren am Cape Fear River. Die Küstenebene ist der größte und zugleich jüngste geologische Abschnitt des Staates. Sie besteht hauptsächlich aus Sedimentgestein, meist Sand und Lehm, im Süden der Küstenebene findet sich auch Kalkstein. Das wirtschaftlich bedeutsamste Mineral des Staates, für Dünger verwendbares Phosphat, wird in dieser Region abgebaut. Die Küstenebene wird durch die 90 Meter über dem heutigen Meeresspiegel liegende drei Millionen Jahre alte Küstenlinie begrenzt, die auch als fall zone (dt. Wasserfall-Gegend) bezeichnet wird; dort fällt das Piedmont Plateau aus relativ steil zur Küstenregion hin ab und die in den Appalachen entspringenden Flüsse des Staates weisen hier Stromschnellen und Wasserfälle auf.Die Piedmont-Region im Zentrum des Staates ist die am stärksten urbanisierte und am dichtesten besiedelte Region North Carolinas. Das Piedmont ist eine hügelige Landschaft, die häufig durch kleinere Ausläufer der Berge sowie durch von Flüssen geformte Täler unterbrochen wird und aus beinahe völlig erodierten Überresten höherer Berge entstanden ist. Die geologischen Strukturen werden durch den Inner Piedmont Belt mit einem Alter von 750 bis 500 Millionen Jahren der Kings Mountain Belt, Milton Belt, Charlotte Belt, Carolina Slate Belt, Raleigh Belt und dem Eastern Slate Belt geprägt, die alle ein Alter zwischen 650 und 300 Millionen Jahren aufweisen. Ebenfalls Teil des Piedmont sind die mit 200 bis 190 Millionen Jahren deutlich jüngeren Triassic Basins, ehemalige Senkungsgräben, die durch Schlamm und ausgespülte Sedimente der angrenzenden höheren Gebiete aufgefüllt wurden. Im Carolina Slate Belt wurde 1799 der erste Goldfund der USA dokumentiert und zu Beginn des 19. Jahrhunderts Minen zur Goldgewinnung betrieben, heute werden neben Lithium und Ton in dieser Region vor allem Granit, Gneis und andere Materialien für das Baugewerbe abgebaut. Die Höhe des Piedmonts reicht von etwa 90 Metern im Osten bis hin zu 300 Metern über dem Meeresspiegel im Westen. Die Böden bestehen überwiegend aus dünnen steinigen Schichten auf Lehmbasis; nur am östlichen Rand des Plateaus finden sich sandige Hügel, die eine frühere Küstenlinie mit ihren Dünen und Stränden markieren. Auf den gut durchfeuchteten Böden werden vor allem Pfirsiche und Melonen angebaut, für die die Region bekannt ist. Durch die seit den 1970ern schnell voranschreitende Verstädterung der Landschaft wurde und wird die Landwirtschaft weitgehend verdrängt und weicht einer suburbanen Struktur. Die Gebirgskette der Appalachen bildet die Westgrenze des Staates. Die Berge auf dem Gebiet North Carolinas lassen sich in vier Bergzüge einteilen. Die Blue Ridge Mountains sind der größte Gebirgszug und verlaufen in einer gewundenen Linie durch den Westen des Staates mit gelegentlichen hohen Ausläufern über das umliegende Terrain; Der Mount Mitchell ist mit 2037 m die höchste Erhebung des Staates und zugleich der höchstgelegene Punkt der Vereinigten Staaten östlich der Rocky Mountains. Die Great Smoky Mountains, die auch als die Smokies bezeichnet werden, bilden die Westgrenze des Staates und sind der zweithöchste Gebirgszug North Carolinas. Das mit rund anderthalb Milliarden Jahren älteste Gestein findet sich im Westen des Staates. Der als Blue Ridge Belt bezeichnete Gürtel, zu dem auch die kleineren Abschnitte Murphy Belt und Grandfather Mountain Window gezählt werden, besteht aus magmatischen, sedimentären und metamorphen Gesteinen, die Feldspat, Glimmer und Quarz enthalten. Die Brushy Mountains sind deutlich kleiner und niedriger, ihr höchster Gipfel ist der Pores Knob. Er liegt 817 Meter über dem Meeresspiegel. Die Uwharrie Mountains sind der östlichste sowie zugleich älteste und niedrigste Gebirgszug North Carolinas. Die höchste Erhebung dieses Gebirgszugs ist der High Rock Mountain mit nicht einmal 350 Metern über den Meeresspiegel. Zwischen den Bergen liegen fruchtbare Täler, die mit zahlreichen Flüssen und Bächen durchzogen sind. Die Berge selbst sind mit üppigen Wäldern bewachsen, lediglich einige wenige Gipfel sind kahl mit einer prärieartigen Vegetation. Obwohl die Landwirtschaft in dieser Region noch eine wichtige Rolle spielt, nimmt die Bedeutung des Tourismus stetig zu und ist zum wichtigsten Wirtschaftszweig der Bergregion geworden. === Gewässer === Die Flusssysteme North Carolinas lassen sich im Wesentlichen in zwei Gruppen aufteilen. Die östliche Hauptwasserscheide Nordamerikas verläuft entlang des Kamms der Appalachen. Nur die Flüsse im äußersten Westen des Staates entwässern über den Mississippi zum Golf von Mexiko, die Flüsse, die an der Ostflanke des Gebirges entspringen, münden in den Atlantik. Letztere werden noch hinsichtlich ihrer Mündung unterteilt, die sich entweder auf dem Staatsgebiet North oder South Carolinas befindet. Die Trennung zwischen den Flusssystemen, die im Atlantik münden, wird durch eine Erhebung verursacht, die sich von den Ausläufern der Blue Ridge Mountains in südöstlicher Richtung fast bis zur Hafenstadt Wilmington entlang der Grenze zu Virginia zieht. Der Catawba River und der Yadkin River fließen mit ihren Zuflüssen durch etwa 30 Countys des Staates. Sie ziehen sich wie ein Fächer durch das Land und entwässern einen großen Teil des Piedmont, bevor sie über die Grenze nach South Carolina fließen und dort die Küste erreichen. Chowan, Roanoke, Tar, Neuse und Cape Fear River münden in North Carolina und waren vor Erbauung der Eisenbahnrouten wichtige Handelswege. Nur einer der Flüsse fließt direkt ins Meer, die anderen fächern sich in der Küstenebene immer weiter auf und münden in den Sounds. Diese Lagunen und die dort mündenden Flüsse schaffen ein Netzwerk von Wasserwegen mit einer Länge von etwa 1800 Kilometern, das sich für die Dampf- und Segelschifffahrt eignet. Die Ufer der Flüsse werden im Oberlauf von Auwäldern mit Pappeln, Weiden und Erlen, im flachen Unterlauf von Wäldern mit Sumpfzypressen gesäumt. In ihrem Verlauf von den Hochplateaus zu den Niederungen überwinden sie Höhenunterschiede von mehreren hundert Metern durch Stromschnellen und Wasserfälle. In der kolonialen Vergangenheit nutzten vielfach Baumwollmühlen und andere Betriebe wie Sägewerke dieses Gefälle und begünstigten damit den Aufstieg vieler Städte und Ortschaften. Die Sounds und die flacher verlaufenden Flüsse in der niedrig gelegenen Küstenebene bieten reiche Fischbestände und Kolonien von Wasservögeln.In North Carolina finden sich überall kleinere natürliche Seen; durch die Eindämmung der Flüsse durch Energieversorgungsfirmen sind aber auch größere Stauseen und Reservoirs entstanden, die neben der Flutkontrolle und der Energiegewinnung auch als touristische Ziele, Naherholungsgebiete und Jagd- und Angelregionen dienen. Ein größeres Seengebiet entstand beispielsweise durch den Rückstau des Yadkin River an den Ausläufern der Uwharrie Mountains: die Uwharrie Lakes. Der größte dieser Seen ist der High Rock Lake. Der größte durch Menschenhand in North Carolina geschaffene See ist mit einer Fläche von 129 Quadratkilometern der Lake Norman, ein Stausee am Catawba River, an dessen Ufer der Lake Norman State Park entstanden ist. === Klima === Im größten Teil des Staates herrscht warmgemäßigtes Regenklima vor; ausgenommen sind die höher gelegenen Gebiete in den Appalachen, die zur Zone des vollfeuchten borealen Klimas gerechnet werden. Die Berge dienen oft als „Schild“ der Piedmont-Region, der niedrige Temperaturen und Stürme aus dem Mittleren Westen abhält. Die durchschnittliche Tagestemperatur in den meisten Gebieten des Staates liegt im Juli um 32 °C. Im Januar liegen die Temperaturen im Mittel bei 10 °C. Die Küstenebene wird klimatisch vom Atlantischen Ozean beeinflusst, der im Winter für mildes und im Sommer für mäßig warmes Wetter sorgt. Die Tageshöchsttemperatur an der Küste liegt im Sommer bei 31 °C, während die Temperaturen im Winter selten unter 4 °C fallen. Die durchschnittliche Tageshöchsttemperatur in den Wintermonaten liegt in der Küstenebene um 15 °C, Temperaturen unter dem Gefrierpunkt sind äußerst selten. In der Küstenebene fallen jährlich etwa zwei Zentimeter Schnee, viele Winter sind völlig schnee- und eisfrei. Im Piedmont hingegen sind die Sommer wärmer und die Winter kälter als in der Küstenregion. Die Tageshöchsttemperaturen liegen im Sommer durchschnittlich bei über 32 °C, steigen aber selten über 37 °C. Im Winter liegen die Tagestemperaturen im Mittel um 10 °C und fallen nachts oft unter den Gefrierpunkt. Die jährlichen Schneefälle betragen zwischen 7 und 20 Zentimeter. Das Winterwetter im Piedmont ist bekannt für Graupelschauer und Eisregen, der in manchen Stürmen so heftig ausfallen kann, dass Bäume und Stromleitungen unter der Last zusammenbrechen. Die jährlichen Niederschlagsmengen und die Luftfeuchtigkeit im Piedmont sind niedriger als an der Küste oder in den Bergen, jährlich werden etwa 1000 Liter pro Quadratmeter Niederschläge gemessen. Das kühlste Gebiet North Carolinas sind die Appalachen; dort steigt die Temperatur im Sommer selten über 26 °C. Die durchschnittlichen Tagestemperaturen liegen im Winter zwischen −1 °C und 5 °C, oft sinken sie unter −9 °C. Es fällt zwischen 36 und 51 Zentimeter Schnee pro Jahr, in den höheren Region meist mehr.Wegen der exponierten Lage an der Atlantikküste im äußersten Südosten wird North Carolina durchschnittlich einmal pro Jahrzehnt mit großer Wucht von einem Hurrikan getroffen, weitere tropische Stürme treffen den Staat etwa alle drei bis vier Jahre. In manchen Jahren kann North Carolina mehrmals von einem Hurrikan und weiteren tropischen Stürmen heimgesucht werden oder die Auswirkungen der Ausläufer dieser Stürme in der Küstenebene spüren. Nur die Bundesstaaten Florida, Texas und Louisiana werden häufiger von Hurrikans getroffen als North Carolina. Durchschnittlich werden an 50 Tagen pro Jahr Gewitter verzeichnet, einige davon so schwer, dass sie Hagel und Windböen von Orkanstärke verursachen. Obwohl die meisten Hurrikans Schäden in den Küstenregionen des Landes anrichten, können sie durchaus das Landesinnere erreichen und dort große Zerstörungen verursachen. Im Jahresdurchschnitt erlebt North Carolina weniger als 20 Tornados, die meisten werden durch Hurrikans oder tropische Stürme in der Küstenebene verursacht. Aus Gewitterstürmen entstehende Tornados kommen in den östlichen Teilen des Staates vor, während das westliche Piedmont oft durch die Berge vor solchen Stürmen geschützt wird. Ein weiteres Wetterphänomen namens Cold Air Damming, der Aufstau kalter Luftmassen, findet im Westen des Staates gelegentlich statt. Das kann die Stürme abschwächen, führt aber auch zu starkem Eisregen im Winter. === Fauna und Flora === Die Fauna und Flora des Staates bietet ein sehr vielfältiges Bild, das von dem sparsamen und flachwurzelnden Bewuchs der Küstenregion und den dort lebenden amerikanischen Alligatoren bis hin zu den von Bären und Weißwedelhirschen bewohnten Nadelwäldern in den Appalachen reicht. Dabei sind im Flachland die typischen Pflanzen und Tiere des Südostens vertreten, während in den höheren Lagen mehr nördlich verbreitete Arten vorkommen. Insgesamt etwa 300 Baumarten und -unterarten sowie etwa 3000 verschiedene blühende Pflanzen wurden gezählt. Etliche der in North Carolina vorkommenden Pflanzen und Tierarten gelten als gefährdet, teilweise bezieht sich das auf das Vorkommen im Staat, aber auch landesweit gefährdete Arten haben ihren Lebensraum in North Carolina, beispielsweise verschiedene Walarten und die Blue-Ridge-Goldrute.In der Küstenregion siedeln sich in den Salzwiesen und Marschen vor allem das Schlickgras Spartina patens und das Gras Distichlis spicata an, auf Küstendünen wächst das hohe Gras Uniola paniculata (sea oats). An Bäumen wachsen vor allem virginische Zedern und Kiefern, in den Schwarzwassersümpfen der Region finden aber auch Sumpfzypressen, Sumpf-Magnolien und Tupelobäume gute Wachstumsbedingungen. Weltweit ausschließlich in den Pocosin-Mooren um Wilmington ist die Venusfliegenfalle verbreitet. Neben verschiedenen Salz- und Süßwasserfischen leben auch Austern, Seeschildkröten und die geschützten amerikanischen Alligatoren in den Flüssen, Seen und an der Küste des Staates. Eine Besonderheit der Outer Banks sind die Bank Ponys, die halbverwildert auf der Inselkette leben. Im Piedmont können die Bäume tiefer wurzeln, die Wälder werden von verschiedenen Eichen- und Hickory-Arten dominiert, früher auch von Amerikanischer Kastanie. Verschiedene Arten von Pappeln, Birken, Linden, Rosskastanien und Ahorn wachsen dort, dazu kommen beispielsweise der Carolina-Schierling und verschiedene Orchideenarten. Verbreitete Tierarten sind neben Waschbären und Eichhörnchen auch Opossums, einige von Aussterben bedrohte Fledermausarten und Biber. Die Flüsse und Seen werden von Barschen, Welsen und anderen Fischen besiedelt, außerdem gibt es eine Vielzahl verschiedener Wasservögel, vor allem Enten- und Gänsearten. Zu den Bergen hin geht die Vegetation in Nadelwälder über, teilweise überschneiden sich hier die Lebensräume der Tiere mit dem Piedmont. Bereits ausgerottet sind Grauwölfe und Berglöwen, allerdings kommen Rotluchse in den Wäldern North Carolinas vor. Im Bereich der Great Smoky Mountains leben außerdem Schwarzbären, die inzwischen eine Touristenattraktion darstellen. Die erst im 19. Jahrhundert eingeführten Wildschweine treten verbreitet auf, genauso wie Weißwedelhirsche. In den klaren Flüssen der Berge leben Forellen und Barsche. == Bevölkerung == === Bevölkerungsdichte === Die Bevölkerungsdichte des Staates beträgt 63,8 Einwohner pro Quadratkilometer. Die großen Städte North Carolinas befinden sich fast ausschließlich in drei Metropolregionen, in denen mehr als die Hälfte der Gesamtbevölkerung des Staates lebt: Die grenzüberschreitende Agglomeration „Metrolina“ im Gebiet der Städte Charlotte, Gastonia und Salisbury (North Carolina) auf dem Gebiet North und South Carolinas mit rund 2,2 Millionen Einwohnern. Das „Triangle“, ein Dreieck zwischen den Städten Raleigh, Durham und Cary mit über anderthalb Millionen Einwohnern. Die „Piedmont Triad“ zwischen Greensboro, Winston und Salem-High Point mit ca. 1,5 Millionen Einwohnern.Die drei größten Städte sind Charlotte mit 842.051, Raleigh mit 375.806 und Greensboro mit 247.183 Einwohnern. Weitere Städte und Orte sind in der Liste der Städte in North Carolina aufgeführt. === Bevölkerungsentwicklung === Die Bevölkerung North Carolinas wächst seit Jahrzehnten stetig und erhöhte sich zwischen 1990 und 2000 von 6,6 Millionen auf 8 Millionen Einwohner. Nach Angaben des U.S. Census Bureau lebten am 1. Juli 2009 9.380.884 Einwohner auf dem Staatsgebiet, dies ist ein Anstieg um 16,7 % beziehungsweise 1.340.334 Einwohnern seit dem Jahr 2000. Dieser Wert übersteigt deutlich die durchschnittliche Wachstumsrate der USA, die etwa 8 % beträgt. Das Wachstum enthält einen natürlichen Bevölkerungsanstieg um 412.906 Menschen, es wurden 1.015.065 Kinder geboren und 602.159 Menschen starben. Im selben Zeitraum migrierten 591.283 Menschen aus anderen Bundesstaaten nach North Carolina, 192.099 Einwanderer kamen aus dem Ausland. Zwischen 2005 und 2006 überholte North Carolina den Bundesstaat New Jersey und rangiert nun auf Platz 10 der bevölkerungsreichsten Staaten.Die Bewohner North Carolinas ordnen sich selbst folgenden Bevölkerungsgruppen zu: 74 % Weiße, 21,7 % Afro-Amerikaner, 7,0 % Mittel- bzw. Lateinamerikaner, 1,9 % Asiaten, 1,2 % Indianer. 6,7 % der Bevölkerung ist jünger als 5 Jahre, 24,4 % sind unter 18 und 12 % sind 65 Jahre alt oder älter. Der geschätzte Anteil der Frauen an der Bevölkerung beträgt 51,1 %. === Bevölkerungsgruppen === ==== Afroamerikaner ==== Etwas über ein Fünftel der Bevölkerung des Staates ist afroamerikanischer Abstammung; seit den 1970er Jahren steigt ihr Anteil an der Mittelschicht aufgrund eines verbesserten Zugangs zur Bildung. Die afroamerikanische Bevölkerung lebt vorwiegend in der im Osten gelegenen Küstenebene und in Teilen des Piedmont Plateaus, historisch eine Region, in der Schwarze gearbeitet haben und in der noch heute die meisten Arbeitsplätze entstehen. Afroamerikanische Gemeinden existieren zu Hunderten in den ländlichen Countys im zentralen Süden und im Nordwesten des Staates; Stadtteile mit überwiegend schwarzer Bevölkerung gibt es in den Städten Charlotte, Raleigh, Durham, Greensboro, Fayetteville, Wilmington und Winston-Salem. Die Familiengeschichte derer, die beim staatlichen Zensus zwischen 1790 und 1810 als „andere freie Personen“ erfasst wurden, zeigt, dass diese zu 80 % von den migrierten freien Schwarzen aus dem kolonialen Virginia abstammten. Die meisten stammten von freien afroamerikanischen Familien aus Verbindungen zwischen freien weißen Frauen oder Vertragsarbeiterinnen und freien, in Arbeitsverträgen gebundenen oder versklavten afrikanischen Männern ab. Indianer, die englische Gebräuche annahmen, wurden Teil der afroamerikanischen Gemeinden und heirateten in diese Familien ein. Einige hellhäutigere Abkömmlinge bildeten ihre eigenen, von den anderen getrennten Gemeinschaften und bezeichneten sich selbst oft als „Indianer“ oder „Portugiesen“, um den negativen Konsequenzen einer schwarzen Abstammung zu entgehen. In den Bergregionen und dem ländlichen Piedmont leben nur wenige Afroamerikaner, in einigen Countys in den Appalachen betrug die Zahl der schwarzen Bewohner in der Vergangenheit nie mehr als ein paar Dutzend Bürger. ==== Asiatische Amerikaner ==== Der früheste Nachweis asiatischer Immigration geht auf die Anwerbung aus China stammender Arbeiter in der Landwirtschaft Mitte des 18. Jahrhunderts zurück. Die berühmten chinesisch-malaiischen siamesischen Zwillinge Chang und Eng Bunker ließen sich 1839 in Wilkesboro nieder. Japanische, philippinische, und koreanische Amerikaner siedelten sich ab dem Beginn des 20. Jahrhunderts in North Carolina an. Der Staat beherbergt eine der am schnellsten wachsenden asiatisch-amerikanischen Bevölkerungsgruppen des Landes, diese setzt sich vor allem aus Indoamerikanern (Desi) und vietnamesischen Amerikanern zusammen. Deren Bevölkerungszahlen haben sich in den Jahren zwischen 1990 und 2002 nahezu vervierfacht. Die Zahlen der aus dem Volk der Hmong stammenden Personen ist in North Carolina seit den 1980ern auf 12.000 gestiegen. ==== Europäische Amerikaner ==== Die zuerst besiedelte Küstenregion zog vor allem englische Immigranten an, darunter viele Schuldknechte, die in die Kolonien transportiert wurden, und Nachkommen der Einwanderer aus Virginia. Hinzu kamen protestantische Einwanderer aus Kontinentaleuropa, besonders Hugenotten und Deutschschweizer, die sich in New Bern niederließen. Walisische Einwanderer siedelten im 18. Jahrhundert, gemeinsam mit anderen Gruppen von den britischen Inseln, östlich des heutigen Fayetteville. Amerikaner schottisch-irischer und englischer Abstammung leben überall in North Carolina, während historisch der Piedmont und das Hinterland von den schottisch-irischen und nord-englischen Einwanderern besiedelt wurde. Sie waren die letzte und zahlreichste Gruppe der englischen Einwanderer, die vor dem Unabhängigkeitskrieg in North Carolina eintraf. Sie besiedelten den Süden der Bergregion und konnten dort ihre althergebrachte unabhängige Lebensweise, meist als selbstständige Farmer, führen.In der Region um Winston-Salem stammt ein beträchtlicher Teil der Bevölkerung von deutschsprachigen Einwanderern aus Böhmen ab. Diese wanderten im Zuge einer Immigrationswelle der protestantischen Herrnhuter Brüdergemeine Mitte des 18. Jahrhunderts nach North Carolina ein. Während des frühen 20. Jahrhunderts siedelte sich eine Gruppe orthodoxer Einwanderer aus der Ukraine in Pender County an. ==== Hispanics und Latinos ==== Seit 1990 steigt die Zahl der Hispanics und Latinos in North Carolina rapide an. Ursprünglich Wanderarbeiter, arbeiten sie meist als ungelernte Hilfskräfte. Der Zugang zu diesem Bereich wurde vereinfacht und infolgedessen siedeln sich immer mehr Hispanics im Staat an. Sie stammen überwiegend aus Mexiko, Zentralamerika und der Dominikanischen Republik. Inzwischen gibt es in vielen Städten hispanische Viertel, es gibt größere Zahlen kubanischer Amerikaner und Puerto Ricaner. Das Pew Hispanic Center schätzte 2005 basierend auf den Zahlen des U.S. Census Bureaus, dass etwa 65 % der Latinos in North Carolina, also 300.000 Menschen, als illegale Einwanderer in das Land eingereist seien. Die spanischstämmige Bevölkerung ist damit von 77.726 Menschen im Jahre 1990 auf 517.617 gewachsen, ein Anstieg von 13,5 % pro Jahr. ==== Nordamerikanische indigene Völker ==== Nur in fünf anderen Bundesstaaten, namentlich Kalifornien, Arizona, Oklahoma, New Mexico und Texas, leben mehr amerikanische indigene Völker als in North Carolina. Insgesamt gibt es in den USA 2.824.751 Personen indianischen beziehungsweise alaskanischen Ursprungs, das sind 0,95 % der Gesamtbevölkerung. In North Carolina lebten 2007 nach Schätzungen 111.853 Indianer. Der Bundesstaat erkennt acht Stämme innerhalb seiner Grenzen an, von denen allerdings nur einer auch auf Bundesebene als federally recognized tribe anerkannt ist. federally recognized Indian tribe die Eastern Band of Cherokee Indians wurde von den Vereinigten Staaten im Jahre 1868 und von North Carolina 1889 anerkannt. Sie leben mit etwa 13.400 eingetragenen Stammesmitgliedern überwiegend im östlichen Anteil der Countys Swain, Graham und Jackson. Die meisten leben im Reservat Qualla Boundary, das ein 230 km² großes Gebiet umfasst, Hauptstadt und Verwaltungssitz der Eastern Band of Cherokee ist Cherokee.state recognized Indian tribes der Haliwa-Saponi Indian Tribe erhielt 1965 die staatliche Anerkennung und umfasst etwas mehr als 3.800 eingetragene Mitglieder, sind Nachkommen der Sioux-sprachigen Saponi, Occaneechee, Tutelo, Keyauwee, Enoke (Eno), Shakori, der Stuckanox sowie der Algonkin-sprachigen Nansemond und Irokesisch-sprachigen Tuscarora, Verwaltungssitz ist Hollister, leben heute im Nordosten der Countys Halifax und Warren. die rund 2000 Stammesmitglieder des Waccamaw Siouan Tribe leben in den Countys Bladen und Columbus an der Atlantikküste. Sie wurden von North Carolina 1971 anerkannt. Sie sind nicht mit den ebenfalls state recognized Waccamaw Indian People (of Conway) (auch Chicora Waccamaw) in South Carolina zu verwechseln. der Coharie Indian Tribe, repräsentiert durch das Coharie Intra-tribal Council, Verwaltungssitz ist Clinton, besitzen Land im Gebiet der Countys Sampson und Harnett, sind Nachkommen der Neusiok, wurden 1911 von den USA bereits anerkannt, jedoch wurde diese Anerkennung zunächst von North Carolina nicht akzeptiert. Ein weiteres Anerkennungsverfahren im Jahre 1971 war erfolgreich. der Sappony Tribe wurde von North Carolina 1911 als Stamm anerkannt, umfasst etwa 850 eingetragene Mitglieder, Verwaltungssitz befindet sich in High Plains Indian Settlement, war früher als Indians of Person County, North Carolina bekannt, änderte 2003 den Namen in Sappony Tribe, um auf ihre Herkunft und Kultur zu verweisen. die Occaneechee Band of the Saponi Nation (bis 1995 Eno-Occaneechi Indian Association genannt), Nachkommen der Occaneechee, Enoke (Eno) und Saponi, lebt mit 800 Mitgliedern in den Countys Orange und Alamance, wurde am 4. Februar 2002 als achter Stamm von North Carolina staatlich anerkannt. der Meherrin Indian Tribe, verwandt mit den einst benachbarten irokesisch-sprachigen Tuscarora und den nördlich lebenden Irokesen, lebt überwiegend in den ländlichen Gebieten der Countys Hertford, Bertie und Gates im Nordosten North Carolinas in der Nähe des gleichnamigen Flusses an der Grenze zu Virginia, wurde 1986 von North Carolina staatlich als Stamm anerkannt und umfasst rund 900 Mitglieder, Verwaltungssitz befindet sich im Ort Winton, heute der kleinste Stamm in North Carolina. der Lumbee Tribe of North Carolina leben größtenteils in den Countys Robeson, Hoke, Cumberland und Scotland im Südosten des Staates, Kultur- und Verwaltungszentrum ist die Stadt Pembroke. Sie stellen einen Sonderfall dar. Die USA erkannten mit dem sog. Lumbee Act of 1956 diese auf Bundesebene zwar als Stamm an, verweigerten ihnen jedoch alle Rechte und Unterstützungen, die offiziell von der Bundesregierung anerkannten Stämmen zustehen. Vom Bundesstaat North Carolina unter dem Namen Croatan Indians bereits 1885 als indianisches Volk anerkannt, änderte die Regierung 1911 den Stammesnamen in Indians of Robeson County sowie 1913 in Cherokee Indians of Robeson County. 1953 wurde der Name in Lumbee Tribe of North Carolina umbenannt, Nachkommen von meist Cheraw und verwandten Sioux-sprachigen Stämmen sowie Afro-Amerikanern (meist entflohenen Sklaven) und Weißen, werden sie von Forschern daher heute zu den tri-racial isolate, also als isolierte Bevölkerungsgruppe, die von drei Ethnien abstammt (Indianern, Afro-Amerikanern und Weißen) gerechnet. Mit etwa 55.000 Mitgliedern sind die Lumbee der achtgrößte Indianerstamm der USA, der größte östlich des Mississippi sowie von North Carolina. === Religionen === North Carolina ist Teil des Bible Belt, in dem die Bevölkerung traditionell mit einer überwältigenden Mehrheit protestantisch war und im späten 19. Jahrhundert die Southern Baptists dominierten. Durch den Zuzug von Bürgern aus den nördlichen Staaten und Immigranten aus Lateinamerika steigt der Anteil der Katholiken und der Juden kontinuierlich, 2007 betrug der Anteil der Katholiken 7 %, der der Juden 1 %. Der Wechsel ist vor allem in den urbanen Gebieten des Staates sichtbar, dort haben sich die meisten der Einwanderer niedergelassen und die Bevölkerung stammt aus den unterschiedlichsten Kulturkreisen. Auf dem Land bleibt die baptistische Kirche mit 38 % die vorherrschende christliche Denomination, gefolgt von der zweitgrößten protestantischen Kirche, den Methodisten mit 9 %. Diese sind im nördlichen Piedmont stark vertreten, vor allem in Guilford County. Dort und im Nordosten des Staates gibt es auch einen beträchtlichen Anteil von Quäkern. Die Mitglieder der presbyterianischen Kirche, ursprünglich schottischer und irischer Abstammung, machen 3 % der Gläubigen aus. Sie sind in Charlotte und in Scotland County besonders stark vertreten. Andere Denominationen im Staat sind unter anderen die Lutheraner, die Kongregationalisten, Mormonen und die Church of God. Der Anteil nicht religiöser Bewohner des Staates, beziehungsweise von Atheisten und Agnostikern, beträgt 10 %.Die wichtigsten Religionsgemeinschaften im Jahr 2010: 1.513.059 Southern Baptist Convention, 659.064 United Methodist Church, 565.051 Protestantismus ohne konfessionelle, 428.860 Katholische Kirche (Bistum Charlotte/Bistum Raleigh), über 300.000 Pfingstbewegung, 185.669 Presbyterian Church (U.S.A.). Es gibt viele andere, vor allem protestantisch geprägte Konfessionen. == Geschichte == === Indigene Völker und englische Besiedlung === Die indianische Besiedlung North Carolinas reicht bis in die paläoindianische Ära ins 10. Jahrtausend v. Chr. zurück. Jäger und Sammler lebten wohl zuerst im Piedmont. Aus der archaischen Periode, die etwa von 7500 bis 1000 v. Chr. andauerte, finden sich gebietstypische Projektilspitzen, die nach einem Fundort in den Uwharrie Mountains als Hardaway bezeichnet werden. Es ist der bedeutendste Fundplatz der Ostküste, denn er war mehrere Jahrtausende lang bewohnt und war bis zur Ausgrabung ungestört. Die nacheiszeitliche Tundrenlandschaft wich dichten Wäldern, die Lebensweise änderte sich insofern, als die Einwohner nicht mehr den Karibuherden folgten, sondern zunehmend große Schweifgebiete bevorzugten. Nüsse und andere Vegetabilien sowie Fische machten einen zunehmenden Anteil an der Ernährung aus, die Bevölkerung wuchs. Steinerne Gefäße und Holzwerkzeuge waren Handelsobjekte, gewaltige Mengen von Rhyolith wurden aus dem Morrow Mountain gebrochen und im Umkreis von 75.000 km² gehandelt; schließlich entstand eine Art Gartenbau, bei dem der Kürbis eine zentrale Rolle spielte. Hinzu kamen Eicheln und Hickory-Nüsse. Zwischen 6000 und 3000 v. Chr. herrschte ein ausgesprochen warmes Klima vor, das ein starkes Bevölkerungswachstum ermöglichte, die Territorien der Einzelstämme schrumpften dramatisch, immer mehr Dörfer entstanden an den Flüssen, wo vor 3000 v. Chr. zunehmend Gartenbau betrieben wurde. Die Jagd wurde nur noch saisonal ausgeübt, Fernhandel brachte Muscheln vom Golf von Mexiko und Kupfer von den Großen Seen in das Gebiet und es entstand ein weitläufiges Wegenetz. Diese Kultur veränderte sich um 1000 v. Chr. durch die Woodland- und die Mississippi-Kultur, wobei bis etwa 1000 n. Chr. eine große Kontinuität bestand. Besonders wichtig war der einsetzende Gebrauch von Keramik, die sogenannte Swannanoa ware, wobei unklar ist, ob Gruppen eingewandert sind oder ob ansässige Gruppen diese Technik übernommen haben. Auf die nun ansässigen Gruppen gehen in jedem Falle die historischen Stämme zurück, die die ersten Europäer antrafen. Von etwa 300 v. bis 200 n. Chr. datiert man das Pigeon, dieser Phase folgte bis etwa 600 das Connestee.Vom Mississippi kamen starke Einflüsse. Diese riesigen Gebiete wurden als Hopewell Interaction Sphere nach der Hopewell-Kultur benannt. North Carolina wurde dadurch kulturell zweigeteilt. Während im Küstenbereich und im nördlichen Piedmont ab etwa 1000 die als Late Woodland bezeichnete Kultur vorherrschte, die an die der Vorgänger anknüpfte und offenbar eine egalitäre politische und gesellschaftliche Struktur aufwies, waren die Gebirgszonen und der südliche Piedmont durch eine ausgeprägte Schichtung der Gesellschaft gekennzeichnet. Eine wohl erbliche Führungsschicht nutzte die Fernhandelsnetze zur Beschaffung von Luxuswaren, wie Muscheln oder seltene Steine. Als neues Handelsgut kam Glimmer hinzu. Die Mounds Nununyi und Town Creek gehen auf diese Einflüsse zurück und zeigen ein verändertes Verhältnis zum Tod. Der oben abgeflachte Town Creek Indian Mound ist die am häufigsten besuchte archäologische Stätte in North Carolina. Sie birgt einen Mound und sakrale wie herrschaftliche Gebäude. Sie ist Überrest einer Kultur, die um 950 bis 1400 blühte und die als Pee Dee bezeichnet wird (nicht nach dem gleichnamigen Stamm, sondern nach dem dortigen Fluss). Sie verschwand endgültig vor 1600. Bereits ab 900 setzte intensiver Maisanbau ein, nach 1200 wurden aus den kleinen Ansiedlungen Großdörfer von vielleicht 150 Einwohnern in 15 bis 20 Häusern, die um einen zentralen Platz errichtet wurden und deren Zahl und Größe ab etwa 1400 erheblich zunahm. An der Küste hingegen lässt sich entlang des Neuse River eine kulturelle Teilung zwischen Nord und Süd erkennen. Südlich des Flusses herrschten bereits ab 2000 v. Chr. wohl aus Georgia übernommene Lehmgefäße vor, die durch Pflanzenfasern verstärkt waren (Stallings ware), nördlich davon jedoch echte Tonwaren. Die meisten Mounds finden sich südlich des Neuse River. Die Bewohner North Carolinas dürften weitgehend sesshaft geworden sein und sie pflegten einen zunehmend bäuerlichen Lebensstil (Eastern Agricultural Complex), ohne dass es jedoch zu einem radikalen Wandel gekommen wäre. Immerhin integrierten sie den Anbau von Bohnen, Mais und Kürbissen, während die Dominanz der Nüsse zurückging. Als dritte kulturelle Region gilt die Gebirgsregion, die später von den Cherokee bewohnt war (Pisgah, um 1000 bis 1450, danach Qualla). Auch dort bauten die größeren Dörfer Mounds. Im Norden wanderten bereits ab etwa 800 irokesische Gruppen ein (Cashie, bis 1750). Als 1524 der erste Europäer, Giovanni da Verrazzano, die Region auf der Suche nach einer Passage in den Pazifik betrat, besiedelten Stämme der Cherokee, Tuscarora, Muskogee, Cheraw, Tutelo, Catawba und einige kleinere, mit den Irokesen und den Algonkin verwandte Stämme, das Land. 1584 verlieh Königin Elisabeth I. Walter Raleigh eine Charta zur Gründung einer englischen Kolonie. Der erste Besiedlungsversuch scheiterte jedoch. Der zweite Versuch begann im Frühjahr 1587. Eine Gruppe von 110 Personen besiedelte die Insel Roanoke. Dort wurde am 18. August 1587 Virginia Dare geboren, das erste in der Neuen Welt geborene Kind englischsprachiger Siedler. Als der Anführer der Siedler nach einer Reise nach 1590 wieder auf der Insel eintraf, fand er dort nur die Überreste der Siedlung vor. Es konnte nie geklärt werden, was in der Siedlung geschehen war. Dieser zweite gescheiterte Besiedlungsversuch ist als „Verlorene Kolonie“ (Lost Colony) in die Geschichtsschreibung eingegangen. Das spurlose Verschwinden ihrer Bewohner gibt bis heute Anlass zu Spekulationen. === Trennung in North und South Carolina === Nach der Restauration des Hauses Stuart 1663 erteilte König Karl II. acht Getreuen eine Urkunde zur Gründung einer neuen Kolonie, die sie als Eigentümer verwalten sollten. Zu Ehren seines Vaters Karl I. (lat. Carolus) wurde sie Carolina benannt. Im Gebiet um den Albemarle Sound im heutigen North Carolina hatten sich bereits um 1650 aus Virginia vordringende Siedler niedergelassen, doch schritt die weitere Besiedlung nur langsam voran. Bis 1700 hatten weiße Siedler die Küste südwärts bis zum Pamlico River besiedelt, 1722 bis zum Bogue Sound nahe dem heutigen Jacksonville. Vom anderen Siedlungsschwerpunkt der Kolonie rund um die Hafenstadt Charleston blieben diese Siedler jedoch lange isoliert, so dass sich im Norden und Süden Carolinas vom Beginn der Besiedlung an zwei grundlegend verschiedene Regierungs- und Verwaltungssysteme herausbildeten, die auch von 1664 bis 1691 von zwei Gouverneuren geleitet wurden. Eine Legislative für Albemarle trat ebenfalls erstmals 1664 zusammen. Erst 1701 erkannten die Eigentümer, die Lord Proprietors, der Kolonie ihre de facto längst vollzogene Trennung in North und South Carolina an; erst ab 1712 führte jedoch der Verantwortliche für die nördlichen Siedlungen den Titel „Gouverneur von North Carolina“. 1729 wurden die beiden Carolinas in Kronkolonien umgewandelt und die Trennung so zementiert.Gesellschaftlich wie politisch ähnelte North Carolina zur Kolonialzeit mehr dem nördlichen Nachbarn Virginia als South Carolina. Während sich in South Carolina im 18. Jahrhundert eine vor allem auf Sklaverei bauende politisch und wirtschaftlich führende Schicht von Reispflanzern herausbildete, lebte der Großteil der Bevölkerung im Norden auf kleinen Bauernhöfen, die außer Tabak vor allem Getreide anbauten und Viehhaltung betrieben. Stellten Schwarze im Süden im Jahr 1710 rund 38 % der Bevölkerung, so waren es in North Carolina nur 6 %. Im Gegensatz zum Süden entwickelte sich im Norden mit der Gründung von counties und einigen Städten auch eine einheitliche lokale Verwaltungsstruktur. 1705 wurde Bath als erste Stadt im heutigen North Carolina inkorporiert. === North Carolina während der amerikanischen Revolution === In den späten 1760er Jahren entstanden Spannungen zwischen den aus den unteren Bevölkerungsschichten stammenden Landwirten des Piedmont und den wohlhabenden Pflanzern der Küstenregion. Die offensichtliche Verschwendung öffentlicher Gelder durch Gouverneur William Tryon zum Bau eines neuen Regierungssitzes, des Tryon Palace in New Bern, brachte das Fass zum Überlaufen und die Farmer erhoben sich im Aufstand der Regulatoren. Tryon siegte am 17. Mai 1771 in der Schlacht von Alamance und beendete damit den sieben Jahre andauernden Konflikt. Einige Historiker sehen in diesem Aufstand einen der begünstigenden Faktoren für den Ausbruch – oder bereits einen der ersten militärischen Akte – des Amerikanischen Unabhängigkeitskrieges.In Charlotte wurde von den Einwohnern des Mecklenburg County am 20. Mai 1775 angeblich die erste Unabhängigkeitserklärung während der Amerikanischen Revolution abgegeben, allerdings gibt es keinen Nachweis für eine solche Erklärung. Das Datum der Mecklenburg Declaration of Independence wird aber dennoch vom heutigen Bundesstaat North Carolina in Siegel und Flagge geführt. Am 12. April 1776 wurde im Provincial Congress, dem Kongress der Provinz North Carolina, beschlossen, die Unabhängigkeit von der britischen Krone zu erklären. Damit war North Carolina die erste Kolonie, die ihre zum zweiten Kontinentalkongress abgeordneten Delegierten durch die sogenannten Halifax Resolves ermächtigte, sich von England loszusagen. An dieses Ereignis wird ebenfalls durch das Datum im Siegel und der Flagge North Carolinas erinnert.North Carolina blieb in den ersten Jahren des Unabhängigkeitskrieges weitgehend von Kriegshandlungen verschont, wurde jedoch in den Jahren 1780 und 1781 ein wichtiger Kriegsschauplatz. Einen wesentlichen Sieg errangen die amerikanischen Patrioten gegenüber den englandtreuen Loyalisten am 7. Oktober 1780 in der Schlacht von Kings Mountain. Nach dem Sieg über die Briten am 17. Januar 1781 in der Schlacht von Cowpens lockte Nathanael Greene die britischen Truppen in das Kernland. Er schnitt sie damit von den englischen Vorratslagern in Charleston ab. Dieses Manöver wurde als „The Race to the Dan“ (engl. für „Das Rennen zum Dan“) bekannt.Die Truppen der Generäle Greene und Cornwallis trafen am 15. März 1781 in der Schlacht von Guilford Court House aufeinander. Obwohl die britischen Truppen siegten, wurden sie durch die erlittenen Verluste stark geschwächt. Dies führte letztlich zur endgültigen Niederlage 1781 in der Schlacht von Yorktown. Der Sieg der amerikanisch-französischen Armee stellte die Unabhängigkeit Amerikas von der britischen Krone sicher. Die Kriegsparteien unterzeichneten im September 1783 den Pariser Frieden und Amerika wurde von England als souveräner Staat anerkannt. === Zwischen den Kriegen (1783–1861) === Der 1787 vorgelegte Entwurf zur Verfassung der Vereinigten Staaten wurde in North Carolina unterschiedlich aufgenommen. Erst ein Jahr später einigten sich die Delegierten in Fayetteville auf die Zustimmung, und North Carolina ratifizierte als zwölfte und vorletzte der früheren 13 Kolonien die Verfassung. Im Jahr 1790 unterstellte North Carolina die westlichen Landstriche der Regierung; diese Gebiete wurden zwischen 1790 und 1796 als Tennessee Territory bezeichnet. Im Jahr 1796 wurde daraus schließlich Tennessee gebildet, der 16. Bundesstaat der Union. Der Wohlstand und das ökonomische Wachstum des stark ländlich geprägten Staates basierten auf Sklavenarbeit, in den Anfangsjahren vor allem im Bereich des Tabakanbaus. Nach der Revolution bemühten sich Quäker und Mennoniten, die Sklavenbesitzer zur Befreiung ihrer Sklaven zu überreden. Die Zahl freier Schwarzer in North Carolina stieg jedoch während der ersten Jahrzehnte nach dem Unabhängigkeitskrieg stetig an. Obwohl die Sklavenhaltung weniger verbreitet war als im Tiefen Süden, waren nach der 1860 durchgeführten Volkszählung mehr als 330.000 Menschen, 33 % der Bevölkerung, in Sklaverei lebende Afroamerikaner.Im Jahre 1840 wurde das heute noch erhaltene Regierungsgebäude in Raleigh fertiggestellt. Anders als in vielen anderen Bundesstaaten im Süden entwickelte sich in North Carolina keine dominierende „Baumwoll-Aristokratie“, sondern der Staat und seine Regierung wurde überwiegend durch unabhängige Farmer aus der Mittelschicht kontrolliert. Mitte des 19. Jahrhunderts wurden die ländlichen Regionen North Carolinas durch die 208 Kilometer lange „Bahn der Bauern“ (engl. „farmer’s railroad“) verbunden. Sie führte von Fayetteville im Osten nach Bethania, nordwestlich von Winston-Salem und bestand aus Holzschienen. === Amerikanischer Bürgerkrieg und Wiedereingliederung === 1860 blickte North Carolina auf eine lange Tradition der Sklavenhaltung zurück. Trotzdem stimmte es anfangs nicht für den Beitritt zur Konföderation; erst der Aufruf des Präsidenten Abraham Lincoln, in den Schwesterstaat South Carolina einzumarschieren, veranlasste North Carolina, sich den Konföderierten anzuschließen. Selbst nach der Sezession verweigerten einige North Carolinier den Konföderierten ihre Unterstützung, überwiegend waren dies Farmer, die nicht zu den Sklavenhaltern gehörten. Trotzdem waren Männer aus allen Teilen North Carolinas als Teil der Army of Northern Virginia, eines der wichtigsten Großverbände der Konföderierten Armee, an den wesentlichen Schlachten des Sezessionskrieges beteiligt. Die größte Schlacht auf dem Gebiet North Carolinas war die Schlacht von Bentonville im Frühjahr 1865. Sie war ein erfolgloser Versuch des konföderierten Generals Joseph E. Johnston, den Vormarsch der Unionstruppen unter Generalmajor William T. Sherman durch die Carolinas aufzuhalten. Damit kapitulierte der letzte größere Kampfverband der Konföderierten, was die militärischen Auseinandersetzungen beendete. Wilmington als letzter Hafen der Konföderation fiel ebenfalls im Frühsommer des Jahres 1865. North Carolina wurde nach Verabschiedung einer neuen Verfassung, die sich durch die Förderung der Bildung, das Verbot der Sklaverei, das allgemeine Wahlrecht und die Schaffung sozialer Einrichtungen auszeichnete, am 4. Juli 1868 wieder in den Staatenbund aufgenommen. Der 14. Zusatzartikel zur Verfassung der Vereinigten Staaten, der die Gleichbehandlung der Bürger nach dem Bürgerkrieg regelte, wurde ebenfalls ratifiziert. Während dieser schwierigen Phase der Reconstruction war Andrew Johnson, ein gebürtiger North Caroliner, in den Jahren 1865 bis 1869 Präsident der Vereinigten Staaten. === Entwicklung North Carolinas nach dem Bürgerkrieg === Im späten 19. Jahrhundert entwickelte sich im Piedmont die Baumwoll- und Textilindustrie; die Entwicklung dieser Industrien half dem Staat, eine Alternative zur bislang überwiegenden Landwirtschaft zu entwickeln. Am 17. Dezember 1903 starteten die Gebrüder Wright den ersten erfolgreichen bemannten Motorflug der Menschheit in Kitty Hawk, North Carolina. Als Reaktion auf die Rassentrennung, die Entrechtung und die Schwierigkeiten in der Landwirtschaft verließen zehntausende Afroamerikaner in der ersten Welle der afroamerikanischen Bevölkerungswanderung zwischen 1910 und 1930 North Carolina. Sie zogen in der Hoffnung auf bessere Lebensbedingungen und Arbeit vor allem in die Großstädte im Norden des Landes.Anfang des 20. Jahrhunderts begann North Carolina mit einer großangelegten Bildungsinitiative und Straßenbau, um die Wirtschaft des Staates anzukurbeln. Das staatliche Straßenbauprojekt begann in den 1920ern, nachdem das Automobil sich zu einem beliebten Fortbewegungsmittel entwickelt hatte. Während der ersten Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts wurden etliche wichtige Einrichtungen der amerikanischen Streitkräfte, beispielsweise Fort Bragg, in North Carolina angesiedelt. === North Carolina nach dem New Deal === Nach dem New Deal, einem Programm zu Wiederbelebung der Binnenkonjunktur von Franklin D. Roosevelt, entwickelte sich North Carolina im Bereich der Bildung und der Produktion besonders stark. Während des Zweiten Weltkrieges versorgte North Carolina die Streitkräfte des Landes mit etlichen lokal produzierten Waren. North Carolina legte darüber hinaus einen Schwerpunkt auf die Forschung und die universitäre Entwicklung.1931 bildete sich in Raleigh die Negro Voters League, die sich für die Wahlregistrierung afroamerikanischer Bürger einsetzte. Die Arbeit im Bereich der Aufhebung der Rassentrennung und der Wiederherstellung der Bürgerrechte für die afroamerikanische Bevölkerung wurde im ganzen Staat fortgesetzt. Afroamerikanische Studenten der North Carolina Agricultural and Technical State University begannen die Greensboro-Sit-ins, diese Form des Widerstandes verbreitete sich über den ganzen Süden. Nach der Verabschiedung des Civil Rights Act von 1964 und dem Voting Rights Act von 1965 begann die afroamerikanische Bevölkerung des Staates sich in vollem Umfang an dem politischen Leben zu beteiligen. 1973 schrieb Clarence Lightner mit seiner erfolgreichen Kandidatur um das Amt des Bürgermeisters von Raleigh amerikanische Geschichte: Er war der erste Afroamerikaner, der in den südlichen USA zum Bürgermeister gewählt wurde und obendrein der erste schwarze Bürgermeister in einer Gemeinde mit überwiegend weißer Bevölkerung.1971 wurde die dritte Verfassung des Bundesstaates North Carolina ratifiziert, ein Zusatz von 1997 gibt dem Gouverneur das Veto-Recht über die meisten legislativen Entscheidungen. Während der Demokrat Jim Hunt 1996 zum vierten Mal als Gouverneur wiedergewählt wurde und damit einen Rekord im traditionell republikanisch wählenden North Carolina aufstellte, wurde mit Elaine Marshall erstmals eine Frau in das Amt des Secretary of State und damit in ein Amt mit bundesstaatlicher Bedeutung gewählt. == Politik == === Politische Struktur === Wie in den anderen US-Bundesstaaten sieht die Verfassung von North Carolina die Gewaltenteilung zwischen Legislative, Exekutive und Judikative vor. ==== Legislative ==== Die Legislative besteht aus einer Generalversammlung im Zweikammersystem, der North Carolina General Assembly. Diese besteht aus einem Repräsentantenhaus mit 120 vom Volk für zwei Jahre gewählten Abgeordneten sowie einem Senat mit 50 Mitgliedern. Die Senatoren werden für eine Amtszeit von zwei Jahren gewählt. Der Vizegouverneur des Staates ist in North Carolina ex officio zugleich auch der Präsident des Senates. Als stellvertretender Präsident des Senats fungiert analog der Amtsbezeichnung in der Union der President pro tempore of the North Carolina Senate. Seit 1992 wird dieses Amt durch Marc Basnight wahrgenommen, ein Mitglied der Demokratischen Partei. Der Sprecher des Repräsentantenhauses, Speaker of the North Carolina House of Representatives ist Joe Hackney, ebenfalls ein Demokrat. ==== Exekutive ==== An der Spitze der Exekutive steht der Gouverneur, der für eine Amtszeit von jeweils vier Jahren gewählt wird. Amtierender Gouverneur des Bundesstaates ist seit 2017 der Demokrat Roy Cooper, Mark Keith Robinson ist der Vizegouverneur. Die als Council of State bezeichnete Regierung wird durch den Gouverneur, den Vizegouverneur sowie acht gewählte Minister gebildet. Zehn weitere Minister werden vom Gouverneur ernannt und bilden, analog zum Kabinett der Vereinigten Staaten, das Kabinett North Carolinas. Siehe Liste der Gouverneure von North Carolina und Liste der Vizegouverneure von North Carolina ==== Judikative ==== An der Spitze der Rechtsprechung steht der Oberste Gerichtshof von North Carolina mit Sitz in der Hauptstadt Raleigh. Das sieben Richter umfassende Supreme Court ist das höchste Appellationsgericht des Bundesstaates. Unterhalb des Supreme Courts steht als einziges Berufungsgericht der North Carolina Court of Appeals. Es besteht aus 15 Richtern, die in einem rotierenden System Recht sprechen. Es entscheiden jeweils fünf Gruppen zu drei Richtern. Diese beiden Gerichte, der Supreme Court und der Court of Appeals, bilden gemeinsam das Berufungssystem des Staates. Prozesse werden vor dem Superior Court und dem untergeordneten District Court geführt, alle Strafprozesse wegen Kapitalverbrechen, Zivilklagen mit einem Streitwert über 10.000 US-Dollar und Berufungen zu Gesetzesübertretungen und Ordnungswidrigkeiten aus den District Courts werden vor dem Superior Court verhandelt, dabei werden Strafrechtsprozesse vor einer zwölfköpfigen Jury gehört. Zivilrechtliche Prozesse, beispielsweise Scheidungen, Sorgerechts- und Unterhaltspflichtregelungen, werden vom District Court entschieden, wobei hier auch minderschwere Fälle aus dem Strafrecht verhandelt werden. Strafrechtsprozesse vor dem District Court werden immer ohne Jury verhandelt, ebenso finden vor diesen Gerichten alle Jugendgerichtsverhandlungen statt, solange die Kinder und Jugendlichen als Straftäter unter 16 Jahre alt und als Opfer beispielsweise einer Vernachlässigung oder eines Kindesmissbrauchs unter 18 Jahre alt sind. Friedensrichter nehmen Schuldbekenntnisse in minderschweren Fällen und bei Verkehrsübertretungen an, sie akzeptieren Verzichtserklärungen und dürfen zivilrechtliche Verhandlungen bis zu einer Summe von 4.000 US-Dollar führen und Zwangsräumungen anordnen. Sie führen außerdem standesamtliche Eheschließungen durch. === Mitglieder im 117. Kongress === === Vertretung im Kongress === North Carolina wird derzeit von 13 Abgeordneten im Repräsentantenhaus der Vereinigten Staaten in Washington vertreten und von zwei Senatoren im Senat der Vereinigten Staaten. Dem seit 2019 amtierenden 116. Kongress der Vereinigten Staaten gehören zwölf Republikaner und drei Demokraten an, darunter die beiden Senatoren Richard Burr (Senior Senator, Republikaner) und Thom Tillis (Junior Senator, Republikaner). Die ehemaligen Senatoren des Staates werden in der Liste der Senatoren von North Carolina aufgeführt. === Politische Entwicklung === North Carolina war, wie ursprünglich der ganze Süden, lange eine Hochburg der Demokratischen Partei. Erst seit der Wahl von 1968 verschoben sich die Mehrheiten zugunsten der Republikaner. Heute ist zwar in North Carolina der Wandel von der Plantagenwirtschaft hin zur Dienstleistungs- und Zukunftsindustrie weitgehend vollzogen, die konservative Grundhaltung blieb jedoch besonders im ländlichen Raum und unter der weißen Bevölkerungsmehrheit bestehen. Insbesondere zeigt sich dies im jüngst verabschiedeten Gesetz zur Toilettenbenutzung Transsexueller, das als „Diskriminierungsgesetz“ kritisiert wird. Erstmals seit Jimmy Carters Sieg 1976 konnte Barack Obama 2008 North Carolina bei einer Präsidentschaftswahl wieder für die Demokraten gewinnen. 2004 hatten noch die Republikaner gewonnen, und das, obwohl der Vizepräsidentschaftskandidat der Demokraten, John Edwards, diesen Staat im Senat repräsentiert hatte. Im Electoral College konnte North Carolina seine Stellung wegen der Bevölkerungszunahme ausbauen: 1988 waren es 13 Stimmen, 1992 14 und 2004, 2008, 2012 und 2016 15 Stimmen. Im Jahr 2020 gewann Donald Trump knapp vor Joe Biden in North Carolina. Auch der Senatssitz bleibt republikanisch. Thom Tillis gewann auch da knapp vor seinem demokratischen Herausforderer Cal Cunningham. === Regionale Verwaltungsbezirke === North Carolina ist seit 1911 in 100 Countys untergliedert. Im Schnitt sind die Countys 1394 Quadratkilometer groß, der kleinste der Countys ist mit etwa 350 Quadratkilometern Clay County, der größte ist Dare County mit rund 2500 Quadratkilometern. Im bevölkerungsärmsten Verwaltungsbezirk, Tyrrell County, leben 4149 Menschen, im bevölkerungsreichsten County Mecklenburg leben 695.454 Menschen. Mecklenburg County verfügt zugleich auch mit 510,2 Einwohnern pro Quadratkilometer über die höchste Bevölkerungsdichte des Staates, am wenigsten besiedelt ist Hyde County mit 3,67 Einwohnern pro Quadratkilometer. Alle Countys des Bundesstaates werden in der Liste der Countys in North Carolina aufgeführt. === Staatssymbole === Neben der Flagge und dem Siegel North Carolinas hat der Staat eine Reihe weiterer offizieller Staatssymbole, die als Wahrzeichen des Staates dienen. Darunter sind die Sumpfkiefer, der Staatsbaum North Carolinas, die Staatsblume ist der Blüten-Hartriegel, der Rotkardinal als Staatsvogel und das verbreitete Grauhörnchen ist das Staatstier. Die traditionell verzehrten Süßkartoffeln und Scuppernongs gehören zu den Staatslebensmitteln, ebenso symbolisieren die Farben Rot und Blau als Staatsfarben North Carolina. North Carolina trägt die Beinamen The Old North State und Tar Heel State – Alter Nord-Staat oder Staat der Teerfersen, die Einwohner werden als „Tar Heels“ bezeichnet. Die genaue Herkunft des Ausdrucks ist unklar, aber die meisten Experten vermuten, dass die Ursprünge in der Gewinnung von Teer, Pech und Terpentin aus den weitläufigen Kiefernwäldern der ehemaligen britischen Kolonie liegen. == Kultur == === Museen und Ausstellungen === Von zentraler Bedeutung ist das seit 1947 existierende North Carolina Museum of Art in Raleigh, das einzige Museum des Staates, das mit öffentlichen Geldern aufgebaut wurde und das die größte Kunstsammlung North Carolinas unterhält. Im Gegensatz zu den meisten anderen Kunstmuseen des Bundesstaates beschäftigt sich dieses auch mit außeramerikanischer Kunst und Kunstgeschichte. Viele Orte verfügen über ein Arts Council, einen von Bürgern organisierten Kunstverein, der sich mit der Förderung der regionalen Künstler und der Organisation von deren Ausstellungen beschäftigt. Die meisten Museen North Carolinas beschäftigen sich jedoch überwiegend mit der Geschichte, der Natur und den Künstlern des Staates selbst und sind in privater Trägerschaft häufig direkt an die entsprechenden historischen oder militärischen Stätten, an Naturparks oder Universitäten angeschlossen. Einen Gesamtüberblick über die Naturgeschichte des Staates gibt das North Carolina Museum of Natural Sciences, das Museum ist das größte naturhistorische Museum im Südosten des Landes und hat überregionale Bedeutung. Zur Gruppe der naturwissenschaftlichen Museen gehört auch das von der University of North Carolina unterhaltene North Carolina Arboretum im Pisgah National Forest, ein weitläufiger öffentlicher Garten, in dem unter anderem die Folgen der Umweltverschmutzung und die aussterbenden Pflanzenarten des Staates dargestellt werden. Zur weiteren Museenlandschaft gehören vor allem kleinere Museen wie das Graveyard of the Atlantic Museum in Hatteras, das sich mit den Schiffswracks in den Outer Banks befasst oder das Museum of the Cherokee Indian in Cherokee, in dem die Geschichte des Eastern Band of Cherokee Indians für den Besucher aufbereitet wird. Vielfach werden historische Bauten wie das Graves-Florance-Gatewood House aus dem Jahre 1822, die Buckner Hill Plantation von 1855 oder die 1767 entstandene Old Mill of Guilford restauriert und der Öffentlichkeit zugänglich gemacht oder für Ausstellungen zu regional wichtigen Ereignissen genutzt. === Theater und Musik === North Carolina verfügt über eine Reihe professioneller Theater, darunter auch das seit 1952 bestehende Staatstheater in Flat Rock, das Flat Rock Playhouse, in dem sowohl Musicals, wie auch Theaterstücke aufgeführt werden. Das North Carolina Theatre in Raleigh zeigt vor allem Musicals und Broadway-Shows während sich das North Carolina Shakespeare Festival in Highpoint seit 1977 mit den Werken William Shakespeares beschäftigt. Einen besonderen Schwerpunkt in der Theaterlandschaft des Staates bilden die Freilichttheater, in denen historische Ereignisse dargestellt werden. Seit 1937 wird im Waterside Theatre in der Fort Raleigh National Historic Site das Stück „The Lost Colony“ aufgeführt, das als erstes und ältestes Outdoor Drama (engl. für Freilichtdrama) der Vereinigten Staaten gilt. Seit 1948 wird im Mountainside Theatre die Geschichte der Cherokee im Stück „Unto These Hills“ gezeigt, in Boone erzählt das Stück „Horn in the West“ seit 1952 die Geschichte der Besiedlung der Blue Ridge Mountains. Die North Carolina University in Chapel Hill unterhält ein Institute of Outdoor Drama, das sich mit den Aufführungen in Freilufttheatern beschäftigt, das einzige seiner Art in den USA. North Carolina ist für seine Tradition der Old-Time Music bekannt, einflussreiche Künstler der frühen Country-Musik waren die North Carolina Ramblers in den 1920ern. Wie in den benachbarten Staaten Tennessee und Kentucky ist der Bluegrass verbreitet, aus North Carolina stammende bedeutende Künstler dieser Musikrichtung waren Earl Scruggs, Doc Watson und Del McCoury. North und South Carolina gelten als Ausgangspunkt des traditionellen ländlich geprägten Blues, im Piedmont entstand eine eigene Stilrichtung, der Piedmont Blues, der unter anderen von Blind Boy Fuller geprägt wurde. Aus der Region um Chapel Hill, Raleigh und Durham stammen verschiedene Rock-, Metal- und Punkbands, darunter die Flat Duo Jets, Corrosion of Conformity, Superchunk, Safehouse, Sleeping Giant, The Popes, Queen Sarah Saturday, Purple Schoolbus und Barefoot Servant. === Bauwerke und Architektur === In North Carolina sind über 2600 Gebäude, Stadtteile und Orte historischen Interesses im National Register of Historic Places gelistet und stehen unter Denkmalschutz. Im Bundesstaat hat sich aufgrund der Lage zwischen Nord und Süd sowie der Reihe unterschiedlichster Einwanderer kein eigenständiger architektonischer Stil entwickelt, sondern er spiegelt eine Vielzahl der an der Ostküste verbreiteten Baustile wider. Erhaltene Bauwerke aus der neoklassizistischen Antebellum-Periode im Federal und Georgianischen Stil sind beispielsweise das James Iredell House (1759) und das John Wright Stanly House (1779). Die in anderen Südstaaten ebenfalls verbreitete Architektur der Revolutionszeit zeigt sich besonders ausgeprägt in den Plantagengebäuden wie der Orton Plantation aus dem Jahre 1735, die im Greek-Revival-Stil erbaut wurde. Eine Reihe denkmalgeschützter Gebäude, insbesondere Kirchen, stammen aus der Neogotik; zwei außergewöhnlich gut erhaltene Anwesen, zum einen Blandwood Mansion and Gardens im Italianate-Stil und das Biltmore Estate im Châteauesque-Stil zeigen die Einflüsse der Neorenaissance im Süden. Ende des 19. Jahrhunderts verbreiteten sich die Stilrichtungen Second Empire und Queen Anne, im 20. Jahrhundert auch der American Craftsman Style. Aus der Moderne stammen einige Hochhäuser und die elliptische Dorson Arena. Neben einzelnen Bauwerken stehen einige architektonisch bedeutsame Stadtbezirke unter Schutz, unter anderem die Old Salem National Historic Site, die sich innerhalb des restaurierten Stadtteils der ehemaligen mährischen Siedlung in Winston-Salem befindet. Einen Überblick über die verschiedenen Baustile und die innerstädtische Entwicklung von 1870 bis 1940 gibt beispielsweise der Apex Historic District, der die Altstadt von Apex umfasst. === Parks, Monumente und Sehenswürdigkeiten === North Carolina verfügt über eine Reihe von touristisch genutzten Schutzgebieten, die sich in unterschiedlicher Trägerschaft sowohl mit dem Schutz der Natur wie auch mit der Erhaltung historischer Stätten widmen und diese Besuchern zugänglich machen. Der in den Appalachen teilweise in Tennessee gelegene und vom National Park Service (NPS) verwaltete Great-Smoky-Mountains-Nationalpark ist der meistbesuchte Nationalpark der Vereinigten Staaten; jährlich besuchen über 9 Millionen Menschen das 1934 unter Schutz gestellte Gebiet, das seit 1983 auch zum Weltnaturerbe gehört. Neben einem der größten zusammenhängenden Urwaldgebiete im Osten der USA, stellen über 90 historische Stätten und Gebäude innerhalb des Parks ein bedeutendes Zeugnis der Besiedlung der Bergregion dar. In den Park führen die ebenfalls von NPS unterhaltenen Routen des Blue Ridge Parkway, ein 755 Kilometer langer National Scenic Byway und der Appalachian National Scenic Trail, ein etwa 3440 Kilometer langer Fernwanderweg der einen Teil des National Trails System bildet. Ebenfalls in den Bergen verläuft der durch Privatinitiativen entstandene Overmountain Victory National Historic Trail, der entlang der Route der Overmountain Men von der Westseite der Appalachen bis zum Kings Mountain National Military Park führt. In North Carolina beginnt der vom NPS verwaltete Trail of Tears National Historic Trail, der durch neun Bundesstaaten führt und an die Vertreibung der Indianer während des 19. Jahrhunderts erinnert.An der Ostküste sind zwei Küstenabschnitte als National Seashore ausgezeichnet, der Cape Hatteras National Seashore und der Cape Lookout National Seashore. Beide verfügen über historische Gebäude, Leuchttürme und seltene Tierarten. Bedeutende historische Stätten auf dem Gebiet North Carolinas sind beispielsweise die Carl Sandburg Home National Historic Site, die an den Lyriker und Historiker erinnert; das dem ersten Flug der Wright Brothers gewidmete Wright Brothers National Memorial. Schlachtfelder und Ausflugsziele sind die Fort Raleigh National Historic Site, der Guilford Courthouse National Military Park und das Moores Creek National Battlefield. Neben den Schutzgebieten mit überregionaler Bedeutung, die durch den NPS verwaltet werden, betreut der State Park Service North Carolinas eine Reihe weiterer natur- und denkmalschutzbedürftiger Gebiete, die in der Liste der State Parks in North Carolina aufgeführt werden. === Medienlandschaft === In North Carolina wird eine Reihe kleinerer Fernsehsender, Regionalstudios und Spartenkanäle betrieben, die Unterhaltungs-, Sport- und Regionalprogramme anbieten. Die meisten Fernsehstationen gehören oder kooperieren mit einem der großen landesweiten Sender wie der CBS Corporation oder der American Broadcasting Company. Die Sendestationen werden zumeist in den Metropolregionen betrieben. Mehrere Radiosender decken ein breites Unterhaltungs- und Regionalprogramm ab, darunter sind auch sehr kleine Sender, die beispielsweise von den Universitäten oder Kleinstädten betrieben werden. Zeitungen erscheinen in beinahe jeder größeren Stadt, in vielen Kleinstädten erscheinen die Lokalnachrichten jedoch nur an zwei bis drei Tagen pro Woche. Die älteste Zeitung des Staates ist der Fayetteville Observer, der seit 1816 ununterbrochen erscheint. Der News and Observer, der in Raleigh verlegt wird, ist das auflagenstärkste Blatt North Carolinas und gehörte 2008 zu den 100 größten Zeitungen der Vereinigten Staaten. Viele Städte unterhalten zusätzlich ein Weblog, um die Einwohner mit lokalen Nachrichten zu versorgen. === Essen und Trinken === Die Südstaatenküche ist die traditionelle Küche des Staates, zu den wichtigsten gesellschaftlichen Ereignissen gehört das Barbecue. Bei der Zubereitung in North Carolina wird beinahe ausschließlich Schweinefleisch verwendet, im Osten üblicherweise in Stücken, im Westen am Stück. Die Frage der dazugehörigen Saucen trennt das Land in Anhänger des Eastern Style, basierend auf Essig oder Senf, und des Lexington Style, einer Essig-Pfeffer-Sauce, der Ketchup zugesetzt wird. Typische Beilagen sind Kartoffeln oder Süßkartoffeln sowie Hushpuppies. Ein regionales Gericht des Piedmont ist das Livermush, das aus Schweineleber, Teilen des Schweinekopfes und Maismehl besteht. Moravian Cookies (engl. für Moravier-Kekse) oder Pfirsichkuchen werden als Nachtisch gereicht. In North Carolina verbreitet ist die Traubenart Scuppernong, aus der sowohl Saft und Wein als auch Marmelade hergestellt werden. Zu den Getränken gehört neben dem traditionell bevorzugten Pepsi, das 1898 in North Carolina entwickelt wurde, auch Moonshine, der selbst- und meist auch schwarz gebrannte Whisky aus der Bergregion des Staates. == Bildung == Die öffentlichen Einrichtungen der elementaren und sekundären Bildung, von der Grundschule bis zur High School, werden durch das North Carolina Department of Public Instruction und dessen Vorsitzenden, den North Carolina Superintendent of Public Instruction, überwacht. Der Superintendent ist zugleich auch der Sekretär des North Carolina State Board of Education, in dem die öffentliche Bildungspolitik entschieden wird. Das öffentliche Schulsystem des Staates ist in 115 lokale Einheiten unterteilt, jede wird durch eine örtliche Schulkommission, das School Board, überwacht. Insgesamt gibt es in North Carolina 2338 öffentliche Schulen. 1795 eröffnete North Carolina die erste staatliche Universität der Vereinigten Staaten, die University of North Carolina at Chapel Hill, die heute zu den besten staatlichen Universitäten des Landes, der Gruppe der Public Ivies, gerechnet wird. Mehr als 200 Jahre nach der Gründung der ersten Universität umfasst der tertiäre Bildungsbereich mit der University of North Carolina 16 staatliche Universitäten, darunter auch die fünf größten des Staates: Die North Carolina State University, die University of North Carolina at Chapel Hill, die East Carolina University, die University of North Carolina at Charlotte und die Appalachian State University. Zum staatlichen Universitätssystem gehören außerdem einige der historischen afroamerikanischen Bildungseinrichtungen, die als Historically Black Colleges and Universities bezeichnet werden und während der Segregation entstanden sind. Beispiele hierfür sind die North Carolina Agricultural and Technical State University, die North Carolina Central University und die Fayetteville State University. North Carolina verfügt darüber hinaus über 58 staatliche Colleges, die im North Carolina Community College System zusammengefasst werden. Die bekanntesten privaten Hochschulen sind die Wake Forest University und die 1924 gegründete Duke University, die zu den führenden Universitäten des Landes gehört. Die Duke gehört nicht zur Ivy League, wird aber als die südlichste der amerikanischen Eliteuniversitäten an der Ostküste auch „Harvard of the South“ (engl. für Harvard des Südens) genannt. Die Universität ist, ebenso wie die University of North Carolina at Chapel Hill, Mitglied der Association of American Universities, einem seit 1900 bestehenden Verbund führender forschungsorientierter nordamerikanischer Universitäten. Weitere Hochschulen sind in der Liste der Universitäten in North Carolina verzeichnet. == Sport == === Verhältnis zum College- und Profisport === Die sportinteressierten Bewohner North Carolina haben traditionell eine Vorliebe für den Hochschulsport sowie Stock-Car-Rennen, was durch das früher fehlende Engagement im professionellen Sportbetrieb erklärt wird. Denn obwohl North Carolina rund zehn Millionen Einwohner hat und die Metropolregionen über entsprechende Mittel verfügen, war Profisport in North Carolina lange Zeit kein Thema. Der erste Verein einer Profi-Liga kam 1974 nach North Carolina: Als Mitglied der kurzlebigen World Football League zogen die vormaligen New York Stars dorthin um und nannten sich Charlotte Stars. In der Folgesaison, die allerdings gleichzeitig die letzte war, starteten sie als Charlotte Hornets. Eine merkliche Entwicklung im Bereich des Profisports setzte in den späten 1980ern und seit Mitte der 1990er Jahre ein, als zunächst 1988 ein NBA-, 1995 ein NFL- und schließlich 1997 ein NHL-Team ihre Heimat fanden. Trotz intensiver Bemühungen konnte bis heute kein Major-League-Baseball-Team nach North Carolina gelockt werden; der Versuch, die Florida Marlins 2006 umzusiedeln, scheiterte. Hingegen werden die hart umkämpften Meisterschaften zwischen den Universitäten in North Carolina im ganzen Staat sehr aufmerksam und leidenschaftlich verfolgt. North Carolina verfügt seit Februar 1963 über die North Carolina Sports Hall of Fame, welche die Handelskammer der Stadt Charlotte sponserte. Die Sports Hall of Fame hat ihren Sitz in Raleigh. Die ersten fünf Sportler wurden im Dezember 1963 aufgenommen. === Profisport === Die Charlotte Hornets spielen als einzige Basketballmannschaft aus North Carolina seit 2005 in der National Basketball Association, bis 2014 unter dem Namen Charlotte Bobcats. Sie füllten die Lücke der von 1988 bis 2002 dort spielenden aber nach New Orleans abgewanderten alten Charlotte Hornets (heute New Orleans Pelicans). Die National Football League wird durch die Carolina Panthers repräsentiert, die ebenfalls in Charlotte ihre Heimspiele austragen. Das erfolgreichste National Hockey League Team North Carolinas sind die in Raleigh beheimateten Carolina Hurricanes, die am 19. Juni 2006 den Stanley Cup gewannen. Damit sind sie das erste Franchise North Carolinas, das je die wichtigste Meisterschaft seines Sportes erringen konnte. In North Carolina existieren auch einige professionelle Fußballmannschaften. In der zweithöchsten amerikanischen Profiliga, der North American Soccer League, spielen die Carolina RailHawks aus Cary. Mit den Charlotte Eagles und den Wilmington Hammerheads spielen zwei weitere Mannschaft in der drittklassigen USL Professional Division. In der Amateurliga, der USL Premier Development League, spielen die Carolina Dynamos aus Greensboro. Von den 1930ern bis in die 1990er hatte die Mid Atlantic Championship Wrestling, ein Verband für professionelle Wrestler, ihren Sitz in Charlotte. Mid Atlantic gehört zu den langjährigen Mitgliedern der National Wrestling Alliance (NWA) und ihre Stars sind bei der NWA, sowie später bei der World Championship Wrestling oder World Wrestling Federation aufgetreten. Heute leben viele ehemalige und aktive Wrestler in der Region um Charlotte und Lake Norman, darunter Ric Flair, Ricky Steamboat, Matt und Jeff Hardy.Das professionelle Bullenreiten hat in North Carolina Tradition. Der Weltmeister von 1995 (PRCA World Champion Bull Rider), Jerome Davis, stammt aus North Carolina und viele Manager, Veranstalter sowie Bullenbesitzer kommen ebenfalls aus dem Staat, beispielsweise Thomas Teague von Teague Bucking Bulls. Das Hauptquartier der Southern Extreme Bull Riding Association hat seinen Sitz in Archdale. Zwei Motocross-Rennen der Grand National Cross Country (GNCC) werden in North Carolina ausgetragen, das eine in Morganton das andere in Yadkinville. === Hochschulsport === Der in North Carolina sehr beliebte Collegesport ist in der National Collegiate Athletic Association organisiert. Die Sportteams der Universitäten treten in rund 20 verschiedenen Sportarten gegeneinander an, die wichtigste der Sportarten ist dabei der College Football. Jede Universität verfügt über ein Sportteam, deren Name für alle Sportarten gleich ist, beispielsweise heißt das Sportteam der Appalachian State University in allen Sparten Mountaineers. Die Mannschaften der Duke, Wake Forest, North Carolina at Chapel Hill und North Carolina State University sind Teil in der Atlantic Coast Conference, die Appalachian State ist Teil der Southern Conference. Die Universitäten unterhalten in der Regel professionell ausgestattete Sportstätten für ihre Teams, die bis zu 40.000 Zuschauer aufnehmen können und deren Spiele im Fernsehen übertragen werden. Besondere Aufmerksamkeit erhalten dabei die sogenannten Rivalrys (engl. für Rivalität), die zwischen den Universitäten ausgetragen werden. Dazu gehören die verbissen geführten Spiele der Footballteams der University of Virginia und der University of North Carolina at Chapel Hill, die als die South’s Oldest Rivalry bezeichnet werden. Weitere solcher Spiele finden zwischen den Universitäten North Carolina und der North Carolina State in den Sportarten Baseball, Football und Basketball, sowie zwischen der University of North Carolina at Chapel Hill und Duke University im Basketball statt. Die Universitäten selbst, die umliegenden Städte und Regionen identifizieren sich oft sehr stark mit den Collegeteams. Schülern und Studenten wird bei entsprechenden sportlichen Leistungen ein Stipendium verliehen. Da die Universitäten gebührenpflichtig sind, ist dies insbesondere für sozial benachteiligte Schüler eine Chance auf einen höheren Bildungsabschluss an einer renommierten Universität. === Rennsport (NASCAR) === North Carolina ist ein Zentrum des amerikanischen Motorsports, mehr als 80 % aller NASCAR-Rennteams und verwandter Industrien haben ihren Sitz in der Piedmont Region North Carolinas. Entstanden ist das Stockcar-Rennen aus dem Schmuggel von selbstgebranntem Schnaps, des sogenannten „Moonshine“, der in North Carolina eine lange Tradition genießt und der während der Prohibition mit frisierten Autos über die Landstraßen transportiert wurde.Der größte Ovalkurs North Carolinas, der Charlotte Motor Speedway, befindet sich in Concord, dort finden jährlich drei wichtige Rennen für die höchste Motorsportliga, den Monster Energy Cup statt. Die NASCAR Hall of Fame hat ihren Sitz in Charlotte. Rund um Charlotte leben auch viele der bekanntesten Fahrerdynastien der NASCAR, beispielsweise die Familien Petty, Earnhardt, Allison, Jarrett und Waltrip. === Breitensport === Das sportliche Angebot des Staates umfasst eine Vielzahl verschiedener Sportarten. Einer der Schwerpunkte des Breitensports liegt dabei ganzjährig auf den Outdoorsportarten, wie Wandern, Klettern, Mountainbiken, Schwimmen, Golf und Skifahren, aber auch Jagdsport und Angeln haben eine lange Tradition. Der Breitensport wird in North Carolina überwiegend durch den gemeinnützigen Verband der North Carolina Amateur Sports (NCAS) gefördert. Für Amateure finden jährlich die von der NCAS veranstalteten, multidisziplinären Wettbewerbe im Rahmen der State Games of North Carolina statt. Außerdem finden verschiedene allgemeine Fitness- und Radwettbewerbe, wie beispielsweise die Cycle North Carolina, statt. Die NCAS stellt darüber hinaus durch einen Fonds auch Mittel für den Betrieb öffentlich zugängliche Sportstätten, wie Schwimmbädern oder Eislaufhallen, zur Verfügung. == Wirtschaft == === Wirtschaftliche Entwicklung === North Carolina war in seiner Geschichte ein stark landwirtschaftlich geprägter Staat, vielfach wurde auf Plantagen Reis, Baumwolle und Tabak angebaut. Die Forstwirtschaft, die vor allem Teer und Terpentin produzierte, war ebenfalls von Bedeutung. Wie in den meisten Südstaaten begann nach dem Sezessionskrieg erst sehr langsam eine Umstrukturierung hin zu einer industrialisierten Gesellschaft; ein Schwerpunkt der Wirtschaft liegt bis heute in der Landwirtschaft und in der Verarbeitung land- und forstwirtschaftlicher Produkte. Nach dem Verlust vieler Arbeitsplätze im produzierenden Gewerbe im Zuge der Globalisierung hat North Carolina vielfache Anstrengungen unternommen, um Forschungs- und Entwicklungsunternehmen anzusiedeln. Neben der positiven Entwicklung im Finanzsektor gehören heute High-Tech-Unternehmen zu den wichtigsten Arbeitgebern in der ehemaligen Niedriglohnregion. Das reale Bruttoinlandsprodukt pro Kopf lag im Jahre 2018 bei 51.041 US-Dollar. Damit rangiert der Staat im nationalen Vergleich im Mittelfeld, auf Platz 30 von 50 US-Bundesstaaten. Der nationale Durchschnitt beträgt 57.118 US-Dollar. Die Arbeitslosenquote lag im November 2017 bei 4,3 % (Landesdurchschnitt: 4,1 %). Allerdings stieg die Arbeitslosenquote aufgrund der Coronapandemie und lag Ende August 2020 bei 5,1 %. === Land- und Forstwirtschaft === Der Anbau von Tabak ist seit 1633 nachgewiesen, die sandigen und trockenen Böden der Küstenregion sind dafür besonders geeignet. Heute ist North Carolina der größte Tabak produzierende und verarbeitende Bundesstaat der USA. 2005 waren 15,5 % der gesamten landwirtschaftlichen Produktion Tabak, der Umsatz erreichte 2006 einen Wert von 506,2 Millionen Dollar. Große tabakverarbeitende Betriebe wie beispielsweise R.J. Reynolds Tobacco Company und Phillip Morris haben ihren Sitz oder wesentliche Unternehmensteile im Bundesstaat und zählen zu den wichtigsten Arbeitgebern. Weitere wichtige landwirtschaftliche Erzeugnisse sind Mais, Süßkartoffeln, Sojabohnen, Eier, Milch, Baumwolle und Erdnüsse. Auch die Viehwirtschaft, insbesondere die Hühner- und die traditionell verankerte Schweinezucht, sowie Fischereibetriebe sind für den ländlichen Raum von Bedeutung. Mittlerweile gehört der Weinbau in North Carolina ebenfalls zu den wichtigen landwirtschaftlichen Zweigen; North Carolina zählt zu den 10 bedeutendsten Weinbau treibenden Bundesstaaten der Vereinigten Staaten. === Technologie und Forschung === Durch die Schaffung entsprechender Rahmenbedingungen für die Forschungseinrichtungen und Technologieunternehmen ist es dem Staat in den Jahren seit 2000 gelungen, besonders in den sogenannten High-Tech-Branchen wie Biotechnologie und die Informationstechnologie, starke Wachstumsraten von bis zu 15 % zu erzielen. 2009 bestanden im Bundesstaat 520 Biotechnologieunternehmen, unter ihnen GlaxoSmithKline, Merck und Bayer AG mit insgesamt 56.000 Beschäftigten. Begünstigende Faktoren, beispielsweise für die Entwicklung des „Research Triangle“ (Forschungsdreieck) um Raleigh, Durham und Chapel Hill zu einer der führenden und erfolgreichsten High-Tech-Regionen der USA, sind unter anderem die Bereitstellung gut ausgebildeter Fachkräfte, unterstützender Infrastruktur und die Bemühungen der Universitäten, sich an der Forschung und Entwicklung neuer Technologien zu beteiligen. === Industrie === Die wichtigsten Industriezweige des produzierenden Gewerbes sind die Möbel- und Textilproduktion, beide sind traditionell in North Carolina angesiedelt. Die Möbelherstellung ist vor allem im Piedmont Triad ansässig, dort arbeiten mehr als 60 % aller in der Möbelindustrie des Staates beschäftigten Menschen. Beide Branchen haben jedoch insbesondere durch die Verlagerung der arbeitsintensiven verarbeitenden Betriebe in Billiglohnländer stark an Bedeutung verloren. Beispielsweise wurden seit 1990 40 % aller textilherstellenden Betriebe geschlossen, die Anzahl der Arbeitnehmer in der Textilbranche fiel von über 233.000 im Jahre 1990 um mehr als 60 % auf etwas über 80.000 im Jahr 2006. Daneben sind im produzierenden Bereich auch Autohersteller beziehungsweise deren Zulieferbetriebe relevant, in Greensboro ist beispielsweise die USA-Zentrale des Busherstellers Setra, der zur Daimler AG gehört. Die Industrie fing Anfang 2017 an zu boomen, da die teuren Umweltauflagen stark zurückgedreht wurden war. Dieser Aufschwung hielt allerdings nur bis 2020, als die Coronapandemie auch den Bundesstaat wirtschaftlich stark trifft. === Finanz- und Bankwesen === Das Finanz- und Bankenwesen ist maßgeblich am Wirtschaftswachstum North Carolinas in der letzten Dekade des 20. Jahrhunderts und in den ersten Jahren des 21. Jahrhunderts beteiligt. Seit 1997 wurden kontinuierliche Wachstumsraten von 9 % und in den Jahren nach 2002 von über 25 % verzeichnet. Im Jahr 2007 war der Finanzsektor nach der öffentlichen Verwaltung und dem produzierenden Gewerbe der drittstärkste Wirtschaftsfaktor im Staat. Die Zahl der in diesem Sektor verfügbaren Stellen war von knapp 75.000 im Jahre 1998 auf etwa 104.000 gewachsen, während sich die Löhne mehr als verdoppelt hatten. Auf bundesstaatlicher Ebene hat North Carolina im Bankensektor zunehmend an Einfluss gewonnen, einige nationale und regionale Großbanken wie die Bank of America, Wachovia oder die in Wilson gegründete Branch Banking & Trust, haben ihren Sitz in einer der Metropolregionen des Staates. === Militär === Das Militär ist ein Wirtschaftsfaktor im Staat. North Carolina ist ein traditioneller Militärstützpunkt sowie Standort von Zulieferbetrieben der Rüstungsindustrie und steht dem Militär und seinen Einrichtungen sehr positiv gegenüber. Der größte und umfassendste militärische Stützpunkt der Vereinigten Staaten, Fort Bragg, der zugleich das Hauptquartier des XVIII. US-Luftlandekorps, der 82. US-Luftlandedivision und der United States Special Operations Command ist, liegt unweit der Küstenstadt Fayetteville. Ebenfalls in der Nähe der Kleinstadt liegt die Pope Air Force Base, die als Flughafen für Fort Bragg dient. Die US Air Force unterhält das 4th Fighter Wing und das 916th Air Refueling Wing auf der Seymour Johnson Air Force Base in Goldsboro. Die United States Coast Guard unterhält eine ihrer größeren Luftbasen mit Trainingscamp, die Coast Guard Air Station in Elizabeth City, gleichzeitig sind dort fünf Coast Guard Commands angesiedelt. Die zentrale Basis für die Schiffseinheiten des Sektors North Carolina, der zu dem District Five der US Coast Guard gehört, ist Fort Macon in Atlantic Beach. Zusätzlich sind einzelne Einheiten in Southport, Wilmington, Wrightsville Beach, Morehead City und Cape Hatteras stationiert.Die weltweit größte Konzentration an militärischen Häfen und Marineinfanterie und -Soldaten befindet sich in dem Gebiet um Jacksonville. Dort sind die Marinebasen MCB Camp Lejeune, MCAS Cherry Point (in Havelock), MCAS New River, MCB Camp Geiger und die MCB Camp Johnson angesiedelt. MCAS Cherry Point ist der Stützpunkt der II. Marine Expeditionary Force, einem von nur drei amphibischen Großverbänden auf Korps-Ebene des US Marine Corps weltweit. == Verkehr == === Straßen === Die Infrastruktur North Carolinas ist, wie in den meisten Regionen Amerikas, auf die Nutzung von Kraftfahrzeugen ausgelegt. Daher ist neben dem gut ausgebauten innerstaatlichen Straßennetz eine sehr gute Anbindung an das landesweite Netz der Fernverkehrsstraßen vorhanden. Durch den Staat führen mehrere Interstates, darunter die 26, 74, 85 sowie die 95, außerdem mehrere U.S. Highways. Unter diesen ist auch eine der wichtigen Nord-Süd-Verbindung des Landes, die U.S. Highway 1, die auf ihrem Weg von Key West, Florida an die kanadische Grenze entlang der Ostküste durch North Carolina führt. Das Highwaynetz ist insgesamt 126.500 Kilometer lang, North Carolina unterhält damit das größte durch einen Bundesstaat finanzierte Autobahnnetz der Vereinigten Staaten. Der Staat unterhält insgesamt 18.540 Brücken mit einer Gesamtlänge von knapp über 606 Kilometern, die mit 8,4 Kilometern längste der Brücken verbindet Roanoke Island mit Manns Harbor. === Schienenverkehr === Die erste Eisenbahn fuhr 1833, ein Jahr später wurde mit der Wilmington and Raleigh Railroad die erste Bahngesellschaft North Carolinas gegründet. Die 1848 gegründete staatseigene North Carolina Railroad verband Charlotte mit dem Atlantik und diente als Rückgrat für die wirtschaftliche Entwicklung des Landes. 2006 umfasste das Schienennetz rund 5200 Kilometer, welches durch 23 Güterbahngesellschaften betrieben wird, darunter die CSX Transportation und Norfolk Southern. Aufgrund der Lage North Carolinas werden die Bahnstrecken vor allem im Transit genutzt; Nord-Süd-Routen verbinden die Ballungszentren New York City, Philadelphia und Washington mit New Orleans und Florida, Ost-West-Strecken führen aus dem Bereich Chicago und Detroit zum Atlantik. Außerdem werden in North Carolina vier touristisch genutzte Bahnen betrieben. In der Projektphase befindet sich der Southeast High Speed Rail Corridor, eine Hochgeschwindigkeitsstrecke zwischen Washington und Charlotte, die bis 2020 realisiert werden soll. Der Personenverkehr wird durch die staatliche Bahngesellschaft Amtrak durchgeführt. Einmal täglich verbindet der „Carolinian“ Charlotte mit New York City. Andere überregionale Züge halten auf der Durchfahrt nach Florida, New Orleans und Savannah. Die „Piedmont“ genannte Intercity-Verbindung verkehrt täglich zwischen Raleigh und Charlotte. Die Gesamtfahrzeit auf der knapp 300 Kilometer langen Strecke beträgt reichlich drei Stunden. === Öffentlicher Personennahverkehr === Die größeren Städte, insbesondere in den Metropolregionen, bemühen sich mehr und mehr um die Förderung des öffentlichen Personennahverkehrs, die Städte verfügen zunehmend über öffentliche Verkehrsverbände, die Verkehrsdienstleistungen anbieten und öffentliche Verkehrsmittel zur Verfügung stellen. Darunter sind städtische Transportsysteme wie das Charlotte Area Transit System (CATS), das sowohl Straßenbahnen als auch moderne Nahverkehrszüge (Light Rail) für entfernter gelegene Vorstädte betreibt. Die Hauptstadt Raleigh unterhält mit ihrem Capital Area Transit nur Busse, nachdem Versuche, ein Stadtbahnsystem zur Verbindung von Durham und Raleigh zu installieren, scheiterten. Ein weiteres großes Bustransportsystem ist die überwiegend staatlich organisierte Triangle Transit Authority, die die Städte der Metropolregion Durham-Raleigh-Cary verbindet. Chapel Hill, die als einzige Stadt einen kostenlosen Busservice anbietet, ist ebenfalls an dieses Netz angeschlossen. === Flugverkehr === Internationale Anbindung an den Flugverkehr erhält North Carolina zum einen durch den Douglas International Airport in Charlotte, der US Airways als Hauptdrehkreuz dient und bei rund 580 abgefertigten Flügen 24 internationale Nonstopverbindungen anbietet. Zum anderen dient der Raleigh-Durham International Airport in Raleigh und Durham mit rund 400 abgefertigten Flügen als internationaler Flughafen, neben nationalen Zielen werden Flüge nach Kanada und England angeboten. Flughäfen für den nationalen und regionalen Flugverkehr sind neben anderen der Piedmont Triad International Airport in Greensboro, Winston-Salem und High Point, der Wilmington International Airport in Wilmington, der Asheville Regional Airport in Asheville, der Pitt-Greenville Airport in Greenville, der Fayetteville Regional Airport in Fayetteville und der Craven County Regional Airport in New Bern. Für den privaten Flugverkehr stehen einige kleinere Flughäfen zur Verfügung, darunter der Albert J. Ellis Airport in Jacksonville und der für Golftouristen konzipierte Moore County Airport in Pinehurst. == Persönlichkeiten == In North Carolina wurden eine Reihe bedeutender Persönlichkeiten geboren, die entscheidenden Einfluss auf einen gesellschaftlichen Bereich des Staates oder des Landes hatten. Dazu zählen beispielsweise die Politiker Richard Dobbs Spaight (1758–1802), einer der Unterzeichner der amerikanischen Verfassung, James K. Polk (1797–1849), der 11. Präsident der Vereinigten Staaten und die 1936 geborene Elizabeth Dole, US-Senatorin sowie Verkehrsministerin unter Ronald Reagan. Ebenfalls aus North Carolina stammt der 1937 geborene Nobelpreisträger für Wirtschaft 2000 Daniel McFadden und der zweifache Pulitzer-Preisträger und Herausgeber des Wall Street Journal, Vermont C. Royster (1914–1996). Sowohl die Schauspielerin Ava Gardner (1922–1990), wie auch ihr Kollege und Gospelsänger Andy Griffith (1926–2012) sind im Bundesstaat geboren, sowie der Hip-Hop-Produzent 9th Wonder (* 1975), die Sängerin Tori Amos (* 1963) und der Jazzmusiker John Coltrane (1926–1967). Der Schriftsteller Charles Frazier (* 1950), der sich in seinen Werken unter anderem mit seiner Heimat auseinandergesetzt hat und der Erweckungsprediger Billy Graham (1918–2018) sind gebürtige North Caroliner. Weitere einflussreiche Bürger North Carolinas sind in der Liste von Persönlichkeiten aus North Carolina aufgeführt. == Dokumentarfilme == Otto Deppe, Kerstin Woldt, Martin Brinkmann: North Carolina – Vom Atlantik zu den Great Smoky Mountains. Real-Film Medien-Vertrieb, Erstausstrahlung am 12. Januar 1997. == Literatur == === Allgemeine Werke und Übersichten === Tracey Boraas: North Carolina. Capstone Press, 2003, ISBN 0-7368-2190-2. William S. Powell, Jay Mazzocchi (Hrsg.): Encyclopedia of North Carolina. The University of North Carolina Press, 25. Oktober 2006, ISBN 0-8078-3071-2. Douglas Orr, Al Stuart (Hrsg.): The North Carolina Atlas: Portrait for a New Century. The University of North Carolina Press, März 2000, ISBN 0-8078-2507-7. Sarah Rafle: North Carolina: The Tar Heel State. Gareth Stevens Publishing, 2002, ISBN 0-8368-5289-3. === Geschichte, Wirtschaft und Politik === Val Atkinson: Southern Racial Politics & North Carolina’s Black Vote, Trafford Publishing, 18. Januar 2007, ISBN 978-1-4120-9324-8. Rob Christensen: The Paradox of Tar Heel Politics: The Personalities, Elections, and Events That Shaped Modern North Carolina. The University of North Carolina Press, 27. März 2008, ISBN 978-0-8078-3189-2. Milton Ready: The Tar Heel State: A History of North Carolina. University of South Carolina Press, Oktober 2005, ISBN 1-57003-591-1. Donald B. Ricky: Indians of North Carolina. Somerset Publishers 1999, ISBN 0-403-09938-2. Richard C. Simmons: The American Colonies. From Settlement to Independence. Norton, New York 1981, ISBN 0-393-00999-8. Michael L. Walden: North Carolina in the Connected Age: Challenges and Opportunities in a Globalizing Economy, The University of North Carolina Press, September 2008, ISBN 978-0-8078-3221-9. W. Buck Yearns: North Carolina Civil War Documentary. The University of North Carolina Press, 2001, ISBN 0-8078-5358-5. H. Trawick Ward, R. P. Stephen Davis Jr.: Time Before History: The Archaeology of North Carolina. Chapel Hill: University of North Carolina Press 1999. === Sport, Bildung und Kultur === Pamela Grundy: Learning to Win: Sports, Education, and Social Change in Twentieth-Century North Carolina. The University of North Carolina Press, 4. Dezember 2000, ISBN 0-8078-4934-0. == Weblinks == Offizielle Website des Staates North Carolina (englisch) Colonial and State Records of North Carolina (Quellen) == Einzelnachweise ==
https://de.wikipedia.org/wiki/North_Carolina
Finnische Sprache
= Finnische Sprache = Finnisch (Eigenbezeichnung suomi [ˈsu⁠ɔ⁠mi] oder suomen kieli) gehört zum ostseefinnischen Zweig der finno-ugrischen Sprachen, die eine der beiden Unterfamilien des Uralischen darstellen. Damit ist es eng mit dem Estnischen verwandt und entfernt mit dem Ungarischen. Finnisch ist neben Schwedisch eine der beiden Amtssprachen in Finnland mit etwa 4,9 Millionen Muttersprachlern (89 % der Bevölkerung, im Jahr 2015). Es ist eine der Amtssprachen in der EU. In Schweden, wo es von ca. 300.000 Menschen gesprochen wird, ist Finnisch als offizielle Minderheitensprache anerkannt. Es gibt kleine finnischsprachige Minderheiten in der nordnorwegischen Finnmark, in der nordwestrussischen Republik Karelien und in Estland. Das Finnische unterscheidet sich als finno-ugrische Sprache erheblich von den indogermanischen Sprachen, zu denen der Großteil der in Europa gesprochenen Sprachen gehört. Der jahrhundertelange Sprachkontakt hat aber im Gebiet der Syntax und des Wortschatzes zu einer gewissen Annäherung des Finnischen an die umliegenden indogermanischen Sprachen geführt. Zu den Besonderheiten der finnischen Sprache gehören der agglutinierende Sprachbau, die große Anzahl (15) an Kasus, eine komplexe Morphophonologie (Vokalharmonie, Stufenwechsel), das Fehlen des grammatikalischen Geschlechts und ein konsonantenarmer Lautbestand. == Sprachverwandtschaft == Das Finnische gehört zur Familie der finno-ugrischen Sprachen, die zusammen mit der kleinen Gruppe der samojedischen Sprachen die uralische Sprachfamilie bilden. Während die meisten in Europa gesprochenen Sprachen der indogermanischen Sprachfamilie angehören, zählen zu den finno-ugrischen Sprachen neben dem Finnischen noch die estnische, die samische und die ungarische Sprache sowie eine Reihe von im europäischen Russland und in Nordsibirien gesprochenen Sprachen. Die Verwandtschaft zwischen den verschiedenen Sprachen dieser Familie lässt sich vielfach über die grammatischen Formen nachweisen, während der Wortschatz zuweilen wenige Ähnlichkeiten aufweist. So sind die Urformen des Finnischen und Ungarischen schon seit vielen Jahrtausenden getrennt, und die Verwandtschaft ist nicht näher als die Beziehung zwischen entfernten indogermanischen Sprachen wie Deutsch und Persisch. Die nächsten Verwandten des Finnischen sind das Estnische, Ischorische, Karelische, Livische, Võro, Wepsische und das Wotische; sie bilden zusammen mit dem Finnischen die Gruppe der ostseefinnischen Sprachen, die als ganze wiederum dem Samischen gegenübersteht. == Geschichte == === Frühgeschichte === Die Zeiträume der frühen Entwicklungsvorgänge lassen sich nur mit großer Schwierigkeit bestimmen, da dies nur durch Rekonstruktion aus der Analyse von Wortschatz und Grammatik der heutigen Sprachen geschehen kann. Es wird jedoch angenommen, dass die Herausbildung des frühen Ostsee-Finnischen mit der Trennung vom Samischen spätestens um 1000 v. Chr. abgeschlossen war. Das Finnische stand bereits in prähistorischer Zeit mit germanischen und baltischen Sprachen im Kontakt und übernahm aus ihnen zahlreiche Lehnwörter. Obwohl die Bewohner des heutigen Finnlands durchweg finno-ugrische Sprachen sprachen, entwickelte sich eine gemeinsame finnische Sprache erst in der Neuzeit. In der vorangegangenen Zeit waren die Bewohner Finnlands in drei Hauptstämme aufgeteilt, die sprachlich wie kulturell erhebliche Unterschiede aufwiesen. Im Südwesten lebte die später als die „eigentlichen Finnen“ (varsinaissuomalaiset) bezeichnete Bevölkerungsgruppe. In dieser Region hatten sich germanischstämmige Zuwanderer aus Skandinavien mit der Bevölkerung vermischt und viele germanische Lehnwörter mitgebracht. Im Osten lebten die Karelier und in den Wäldern des Binnenlandes die Hämeer, die sich anfangs wahrscheinlich noch nicht stark von den Samen unterschieden. Aus einer Vermischung der letztgenannten Bevölkerungsgruppen entstand später, aber noch vor dem Mittelalter, der Savo-Dialekt. === Entwicklung der Schriftsprache === Die Entstehung einer einheitlichen finnischen Sprache, insbesondere der finnischen Schriftsprache, wurde begünstigt durch die Reformation. König Gustav Wasa brach 1524 die Beziehungen zur katholischen Kirche ab und ordnete die Übernahme der lutherischen Lehren an. Zu diesen gehörte es das Wort Gottes in der Sprache des Volkes zu verkünden. In der Folge begannen die Pfarrer die notwendigen liturgischen Texte schriftlich aufzuzeichnen. Die Veröffentlichung der ersten gedruckten Texte in finnischer Sprache geht auf das Werk des späteren Bischofs Mikael Agricola zurück. Der Schüler Martin Luthers begann bereits während seiner Studienzeit mit der Übersetzung religiöser Texte, insbesondere des Neuen Testaments. Das erste gedruckte finnische Buch war die spätestens 1543 veröffentlichte „Fibel“ Abckiria, die sich in erster Linie an Geistliche richtete und einen Katechismus enthielt. Die finnische Übersetzung des Neuen Testaments erschien 1548. Agricola schuf eine Rechtschreibung auf Grundlage des Lateinischen, Deutschen und Schwedischen und legte die Grundlagen für eine finnische Schriftsprache. Er benutzte in erster Linie den in der Gegend von Turku gesprochenen Dialekt, der zur Grundlage der sich entwickelnden gemeinsamen finnischen Sprache wurde. === Von der Bauernsprache zur Kultursprache === Nach der Schaffung einer Schriftsprache blieb die schriftliche Verwendung des Finnischen über Jahrhunderte rudimentär. Ab dem 16. Jahrhundert wurden Gesetze teilweise auf Finnisch geschrieben, ein finnischsprachiges kulturelles Leben gab es jedoch nicht. Im zu Schweden gehörenden Finnland war Schwedisch die Sprache der Verwaltung, der Bildung und der Kultur. Erst nachdem Finnland 1809 als Großfürstentum Finnland unter die Herrschaft des russischen Zaren gekommen war, begann sich ein finnisches Nationalbewusstsein zu entwickeln. Es formierte sich eine als „Fennomanen“ bezeichnete Bewegung, die die finnische Sprache zur Kultursprache entwickeln wollte. Im frühen 19. Jahrhundert fehlten der Sprache hierfür aber noch alle Voraussetzungen. Die Grammatik war nie systematisch erfasst worden, und der Wortschatz spiegelte das Alltagsleben der bäuerlichen Landbevölkerung wider, entbehrte aber fast aller für Verwaltungs- und Kulturzwecke erforderlichen Vokabeln. Das 1835 von Elias Lönnrot veröffentlichte Nationalepos Kalevala bestärkte die Rolle der finnischen Sprache. Durch die Aktivitäten der Fennomanen entstand eine finnischsprachige Literatur und Presse. Viele, muttersprachlich meist schwedischsprachige, Angehörige der gebildeten Oberschicht arbeiteten an einer Weiterentwicklung der finnischen Sprache. In diesem Zusammenhang wurden zahlreiche Wörter geschaffen, die in der finnischen Sprache nicht existiert hatten. Den Idealen der finnischen Nationalbewegung folgend, wurden die neuen Wörter dieser Zeit fast ausnahmslos nicht durch Lehnwörter, sondern gänzlich neu gebildet, oft durch Abwandlungen alter finnischer Wörter. Der in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts begonnene Aufbau eines finnischsprachigen Schulwesens führte bis zur Jahrhundertwende dazu, dass sich eine gebildete finnischsprachige Bevölkerungsschicht entwickelte. Bis zum zweiten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts hatte sich Finnisch zu einer Kultursprache entwickelt, die im Wesentlichen dem heutigen Finnischen entspricht. == Rechtschreibung und Aussprache == Bedingt durch die Entstehungsgeschichte der finnischen Schriftsprache ist das finnische Alphabet identisch mit dem des Schwedischen. Es besteht aus den 26 Buchstaben des lateinischen Alphabets, ergänzt um die Sonderzeichen å, ä und ö. Bei der alphabetischen Sortierung, z. B. in Wörterbüchern, werden die Umlaute in der genannten Reihenfolge am Ende des Alphabetes eingeordnet, nicht wie im Deutschen bei a und o. Der Buchstabe w, der insbesondere in älteren Texten oft frei mit dem gleichklingenden Buchstaben v ausgetauscht wird, wird dagegen bei der Sortierung meist nicht von letzterem unterschieden. Das ü, das etwa in deutschen und estnischen Namen vorkommt, wird identisch zum y einsortiert. Die Buchstaben c, q, w, x, z und å kommen in finnischen Wörtern nicht vor, treten aber zuweilen in Fremdwörtern auf, insbesondere das å auch in den in Finnland häufig vorkommenden schwedischen Namen. Die Buchstaben b und f kommen nur in Lehnwörtern vor. Teilweise wird bei Lehnwörtern für den Laut ​[⁠ʃ⁠]​ ein S mit Hatschek (š) verwendet. Es kann durch sh oder einfach s ersetzt werden (z. B. šakki, shakki oder sakki „Schach“). Noch seltener ist die stimmhafte Entsprechung ž, die bei geographischen Bezeichnungen wie Fidži vorkommt. Das Finnische hat eine fast völlig phonematische Orthographie; das heißt, die Zuordnung von Phonemen (Lauten) und Graphemen (Buchstaben) ist eindeutig. Lehnwörter werden konsequent an die finnische Orthographie angepasst (z. B. filosofia „Philosophie“). Bei folgenden Buchstaben unterscheidet sich der Lautwert vom Deutschen: Zu den wenigen Ausnahmen in der Kongruenz von Buchstabe und Lautwert gehören die Buchstabenkombinationen nk und ng, die [ŋk] und [ŋː] gesprochen werden. Ferner wird ein vor einem p stehendes n durchgängig als m ausgesprochen (z. B. in kunpa gesprochen kumpa, aber auch in haen pallon gesprochen haem pallon). Nach bestimmten Typen von Wörtern tritt bei der Aussprache eine Verdopplung des Anfangskonsonanten des nachfolgenden Wortes oder Wortteiles auf, so nach auf -e endenden Wörtern (tervetuloa, gesprochen tervettuloa) oder nach verneinten Verben (en juo maitoa, gesprochen en juom maitoa). Beginnt das folgende Wort mit einem Vokal, tritt an die Stelle der Konsonantenverdopplung ein Glottisverschlusslaut ​[⁠ʔ⁠]​. In der finnischen Aussprache spielt der Unterschied von langen und kurzen Lauten eine zentrale Rolle. Dieser Unterschied spiegelt sich konsequent in der Schreibweise wider, indem lange Laute durch Doppelbuchstaben dargestellt werden. Dies betrifft sowohl Vokale als auch Konsonanten (tuli „Feuer“; tulli „Zoll“; tuuli „Wind“). Die langen Laute sind in der Regel exakt doppelt so lang wie der einfache Laut. Dabei ist die Qualität der Vokale unabhängig von ihrer Quantität. Anders als im Deutschen wird z. B. o stets ​[⁠ɔ⁠]​ gesprochen, unabhängig davon, ob es lang oder kurz ist. Die Verlängerung der Konsonanten k, p und t geschieht in der Weise, dass der jeweilige Verschlusszustand für kurze Zeit aufrechterhalten wird. Im Finnischen wird stets die erste Silbe eines Wortes betont. Daneben liegt ab der dritten Silbe auf jeder zweiten Silbe eine Nebenbetonung, wobei die letzte Silbe unbetont bleibt. Die Länge der Vokale ist unabhängig von der Betonung. == Phonologie == === Phoneme === Das Finnische verfügt über acht Vokale (angegeben in IPA-Lautschrift): Daneben gibt es im Finnischen je nach Zählweise 16 bis 18 verschiedene Diphthonge, die als Phoneme gewertet werden: ai [ɑi̯], au [ɑu̯], ei [ɛi̯], eu [ɛu̯], ey [ɛy̯], ie [iɛ̯], iu [iu̯], iy [iy̯], oi [ɔi̯], ou [ɔu̯], ui [ui̯], uo [uɔ̯], yi [yi̯], yö [yœ̯], äi [æi̯], äy [æy̯], öi [œi̯] und öy [œy̯]. Der Diphthongstatus von ey und iy ist nicht eindeutig. Generell ist zwischen Diphthongen und zweisilbigen Vokalverbindungen zu unterscheiden, wobei die Grenze nicht immer klar zu ziehen ist. So ist das au in kaula [ˈkɑu̯lɑ] (Hals) ein Diphthong, in kulaus [ˈkulɑus] (Schluck) aber eine Vokalverbindung.Das Finnische verfügt über 14 eigenständige Konsonantenphoneme. Weitere vier Konsonanten (in der Tabelle eingeklammert) kommen nur in Lehnwörtern vor. Das Finnische ist mit nur 14 Konsonantenphonemen eine konsonantenarme Sprache. In einem finnischen Text kommen auf 100 Vokale durchschnittlich 96 Konsonanten (zum Vergleich: im Deutschen sind es 177).Es besteht kein Kontrast zwischen stimmhaften und stimmlosen Lauten. Der Laut [d] nimmt als einziger stimmhafter Plosiv eine Sonderrolle im phonologischen System des Finnischen ein. Er kommt bei echt finnischen Wörtern nur im Inlaut als schwache Stufe von [t] vor. Historisch geht er auf den Frikativ [ð] zurück, der als d oder dh geschrieben wurde. Als der Laut [ð] nicht mehr gesprochen wurde, blieb die Schreibung d beibehalten und wurde, dem schwedischen Beispiel folgend, [d] ausgesprochen. Der Laut [d] kommt in keinem finnischen Dialekt vor, dort ist der ursprüngliche Laut entweder ausgefallen oder hat sich zu [r], [l] oder [j] entwickelt. Während der Zeit der Sprachenstreite im 19. und 20. Jahrhundert gab es Bestrebungen, den Buchstaben d als unfinnisch aufzugeben und jeweils durch ein t zu ersetzen. Diese Schule hat sich jedoch nicht durchsetzen können. Bei traditionellen finnischen Wörtern können am Wortanfang keine Konsonantenverbindungen stehen. Ältere Lehnwörter wurden bei Bedarf angepasst: Bei ihnen ist nur der letzte Konsonant der Verbindung erhalten. koulu (Schule) aus schwedisch skola ranta (Strand) aus schwedisch strandBei neueren Lehnwörtern bleiben die Konsonantenverbindungen erhalten. Die Aussprache fällt allerdings manchen Finnen schwer und sie sprechen nur den letzten Konsonanten. stressi (Stress) wird als ressi, vereinzelt auch als tressi gesprochen professori (Professor) wird dann rofessori ausgesprochenAm Wortende können nur Vokale oder die Konsonanten -n, -t, -l, -r und -s stehen. Neuere Lehnwörter werden meist durch Anhängung eines -i gebildet (z. B. presidentti „Präsident“). === Vokalharmonie === Zu den zentralen Lautgesetzen des Finnischen gehört die Vokalharmonie. Die Hintervokale a, o und u können grundsätzlich nicht innerhalb eines Wortes zusammen mit den Vordervokalen ä, ö und y vorkommen. Endungen und andere Suffixe werden an die im Wortstamm enthaltenen Vokale angepasst: talo (das Haus) – talossa (im Haus) metsä (der Wald) – metsässä (im Wald)Die Vokale e und i sind neutral und können innerhalb eines Wortes mit beiden Gruppen vorkommen. Enthält ein Wort nur neutrale Vokale, werden für die Endungen die vorderen Vokale verwendet: meri (das Meer) – meressä (im Meer)In zusammengesetzten Wörtern werden die Gesetze der Vokalharmonie auf jeden Wortbestandteil getrennt angewendet. Die Vokale der Endung richten sich nach den Vokalen im letzten Wortbestandteil: Pohjanmeri (die Nordsee) – Pohjanmeressä (in der Nordsee)Fremdwörter enthalten manchmal sowohl vordere als auch hintere Vokale. In nachlässiger Aussprache werden dann meist statt der vorderen Vokale die korrespondierenden hinteren gesprochen. Beispielsweise wird Olympia von manchen Sprechern wie Olumpia gesprochen. === Stufenwechsel === Die Konsonanten k, p und t unterliegen in der Deklination wie der Konjugation finnischer Wörter einem Stufenwechsel. Sie kommen in einer „starken“ und einer „schwachen“ Stufe vor. Die starke Stufe steht in offenen, also auf einen Vokal endenden, Silben (z. B. katu „die Straße“) sowie vor langen Vokalen und Diphthongen (z. B. katuun „in die Straße“). Sonst steht die schwache Stufe (z. B. kadun „der Straße“). Bei der Mehrzahl der Wörter steht die Grundform (Nominativ bei Nomina, Infinitiv bei Verben) in der starken Stufe. Manche Wörter unterliegen dem umgekehrten Stufenwechsel, bei dem die Grundform in der schwachen Stufe steht und die flektierten Formen überwiegend die starke Stufe annehmen (z. B. tuote „das Produkt“ – tuotteen „des Produktes“). Man unterscheidet zwischen quantitativem und qualitativem Stufenwechsel. Beim quantitativen Stufenwechsel werden doppelte Konsonanten in der schwachen Stufe zu einfachen reduziert: kk → k: pankki (die Bank) – pankin (der Bank) pp → p: oppia (lernen) – opin (ich lerne) tt → t: katto (das Dach) – katot (die Dächer)Vom qualitativen Stufenwechsel sind die Einzelkonsonanten k, p und t sowie zahlreiche Konsonantenverbindungen betroffen. Diese Art des Stufenwechsels ist nicht mehr produktiv; das heißt, neuere Wörter sind nicht mehr davon betroffen (vgl. katu „die Straße“ – kadun „der Straße“, aber auto „das Auto“ – auton „des Autos“). k → ∅: lukea (lesen) – luen (ich lese) p → v: rapu (der Krebs) – ravun (des Krebses) t → d: katu (die Straße) – kadulla (auf der Straße) nk → ng: Helsinki – Helsingissä (in Helsinki) mp → mm: kampa (der Kamm) – kammat (die Kämme) lt → ll: valta (die Macht) – vallan (der Macht) nt → nn: antaa (geben) – annan (ich gebe) rt → rr: parta (der Bart) – parran (des Bartes)Sonderfälle: hke → hje: rohkenen (ich wage) – rohjeta (wagen) lke → lje: hylkeen (der Robbe) – hylje (die Robbe) rke → rje: särkeä (zerbrechen) – särjen (ich zerbreche) uku → uvu: luku (die Zahl) – luvun (der Zahl) yky → yvy: kyky (die Fähigkeit) – kyvyn (der Fähigkeit) == Grammatik == === Sprachbau === Das Finnische ist eine agglutinierende Sprache. Das bedeutet, dass die verschiedenen grammatischen Merkmale der Wörter durch eine Kette einzelner Affixe ausgedrückt werden, und zwar hier durch Affixe, die am Ende des Wortes angehängt werden (Suffixe bzw. „Nachsilben“). Im Deutschen und anderen indogermanischen Sprachen werden die Funktionen dieser Suffixe in vielen Fällen durch eigenständige Wörter ausgedrückt, zum Beispiel Präpositionen. Im Finnischen kann ein einziges, durch Suffixe erweitertes Wort eine große Informationsfülle aufnehmen. Ein Beispiel ist das Wort taloissanikinko, das von der Grundform talo (Haus) abgeleitet ist und so viel wie „auch in meinen Häusern?“ bedeutet. Das Wort lässt sich folgendermaßen auflösen: Im Gegensatz zu flektierenden Sprachen wie dem Deutschen oder Lateinischen bedeutet agglutinierender Sprachbau, dass jede grammatische Information in einem eigenen Suffix codiert ist. Zum Beispiel wird in der Form taloissa („in den Häusern“) der Kasus Inessiv durch das Suffix -ssa ausgedrückt, und der Plural getrennt davon durch das Suffix -i – hingegen drückt im Deutschen die Artikelform den den Dativkasus und den Plural zugleich aus und ebenso codiert die deutsche Endung -n in der Form Häusern Dativ und Plural zugleich. Eine Ausnahme ist im Finnischen, dass der Plural im Nominativ und Akkusativ durch -t, in den übrigen Fällen durch -i- gekennzeichnet wird. Deutschen Nebensätzen entsprechen ebenfalls oft kompakte Partizipial- oder Infinitivkonstruktionen, „Satzentsprechungen“ genannt. Beispielsweise bedeuten die vier Wörter auf dem nebenstehenden Foto: 1. (Das) Parken; 2. nur; 3. den/einen Platz; 4. für reserviert Habende – also auf gut Deutsch: „Parken nur für diejenigen, die einen Platz reserviert haben“. Allerdings hat sich das Finnische typologisch in vielerlei Hinsicht seinen indogermanischen Nachbarsprachen angenähert. So können die Satzentsprechungen durch konjunktionale Nebensätze ersetzt werden. Im Gegensatz zum Ungarischen oder den meisten anderen agglutinierenden Sprachen nimmt im Finnischen das attributive Adjektiv die gleiche Endung an wie das dazugehörige Substantiv (vgl. ungarisch nagy ház „großes Haus“ – nagy házakban „in großen Häusern“ mit finnisch iso talo – isoissa taloissa). Auch ist die bevorzugte Satzstellung im Finnischen wie im benachbarten Schwedischen Subjekt-Verb-Objekt (SVO) und nicht Subjekt-Objekt-Verb (SOV), wie es bei agglutinierenden Sprachen häufiger der Fall ist. Deshalb verkörpert das Finnische den agglutinierenden Sprachtypus in keiner besonders reinen Form. === Nomina === Zu den Nomina gehören Substantive, Adjektive, Pronomina und Zahlwörter. Die Deklinationsendungen sind für alle Nomina gleich. Allerdings werden sie nach den Veränderungen, die der Wortstamm durchmacht, in verschiedene Typen eingeteilt. Das Finnische kennt weder unbestimmte noch bestimmte Artikel. Talo kann je nach Zusammenhang „das Haus“ oder „ein Haus“ bedeuten. Auch eine Genuskategorie existiert nicht. Sogar bei den Personalpronomina gibt es nur ein Wort hän für „er“ und „sie“. ==== Deklinationstypen ==== Die finnischen Nomen werden in verschiedene Typen eingeteilt. Die Endungen sind für alle Typen gleich, aber die Wortstämme unterliegen bei der Deklination unterschiedlichen Veränderungen. Um ein Nomen deklinieren zu können, muss man den Typ kennen; so ergibt sich der für die jeweilige Endung benötigte Wortstamm. Charakteristisch für die einzelnen Typen sind jeweils: der Nominativ (Grundform) der Vokalstamm (an ihn werden die meisten Endungen wie -n, -lle, -ksi angehängt) der Konsonantstamm (nur wenn der Partitiv -ta/tä an einen Konsonanten gehängt wird) der PluralstammBei der Deklination kann der Wortstamm durch den Stufenwechsel verändert werden. Aus sprachgeschichtlichen Gründen werden diese Veränderungen nicht immer angewendet (vgl. lasi – lasin „Glas“ und vuosi – vuoden „Jahr“). Außerdem gibt es einige Adjektive, die nicht dekliniert werden. Diese Tabelle zeigt beispielhaft einige der wichtigsten Deklinationstypen. Aus den Stammformen können sämtliche Wortbildungen hergeleitet werden. ==== Kasus ==== Im Finnischen gibt es 15 Kasus (Fälle). Die meisten von ihnen übernehmen ähnliche Funktionen wie die Präpositionen im Deutschen. Aufgeteilt werden sie in grammatikalische Kasus, die in ihrer Funktion den deutschen Kasus ähneln, Lokalkasus, die konkrete und abstrakte örtliche Relationen bezeichnen, und die marginalen Kasus, die in der heutigen Sprache nur noch selten benutzt und meist durch Post- oder Präpositionen ersetzt werden. Neben den 15 Kasus gibt es 12 weitere Adverbialkasus, die nur für eine jeweils kleine Anzahl an Wörtern benutzt werden, z. B. den Prolativ, der den Weg ausdrückt, über den eine Handlung ausgeführt wird (z. B. postitse auf dem Postweg, kirjeitse brieflich).Die Kasus werden gebildet, indem die Kasusendungen an den Wortstamm angehängt werden. Die Kasusendungen sind unabhängig vom Worttyp einheitlich. Die Endungen im Plural entsprechen prinzipiell denen im Singular, wobei zwischen Wortstamm und Endung das Pluralkennzeichen -i- tritt (z. B. Singular talossa, Plural taloissa). Der Nominativ Plural wird durch ein angehängtes -t gebildet (talot). 1) Die Form des Akkusativs entspricht im Singular je nach syntaktischer Stellung dem Nominativ oder dem Genitiv, im Plural entspricht er dem Nominativ.2) Diese Endungen unterliegen der Vokalharmonie, d. h. anstelle des a kann ein ä stehen.3) Verdopplung des vorangehenden Vokals + n; endet ein Wort auf einen Doppelvokal, so wird bei einsilbigen Wörtern (maa Land, puu Baum, Holz) einer Verdreifachung des Vokals durch Einfügen eines h vorgebeugt: maahan, puuhun; bei mehrsilbigen Wörtern wird die Silbe -seen angehängt: Porvoo (Ort in Finnland), Porvooseen4) Der Komitativ verlangt bei Substantiven ein Possessivsuffix. ==== Adjektive und Adverbien ==== Adjektivische Attribute stehen vor dem Wort, auf das sie sich beziehen, und kongruieren mit diesem. Der Komparativ wird mit dem Suffix -mpi gebildet (iso „groß“ – isompi „größer“), der Superlativ mit dem Suffix -in (isoin „der größte“). Adverbien werden mit dem Suffix -sti gebildet (vgl. auto on nopea „das Auto ist schnell“ – auto ajaa nopeasti „das Auto fährt schnell“). ==== Pronomina ==== Bei den Personalpronomina der 3. Person wird nicht zwischen männlicher (er) und weiblicher (sie) Form unterschieden, beide lauten hän. Personalpronomina referieren nur auf Menschen. Bei Nichtmenschen werden Demonstrativpronomina verwendet. Für die höfliche Anrede (Siezen) wird die 2. Person Plural Te verwendet. Das Siezen ist in Finnland aber weit weniger verbreitet als im Deutschen. Dagegen gelten neben dem Siezen auch verschiedene unpersönliche Redewendungen als höflich. So wird der Gesprächspartner bei offiziellen Anlässen oft mit dem bloßen Nachnamen (ohne Herr oder Frau) und in der 3. Person angesprochen. Gerne wird eine direkte Anrede durch die Wahl unpersönlicher Formulierungen auch ganz vermieden. Die Demonstrativpronomina können allein oder als Attribut stehen. Die Unterscheidung zwischen Menschen und Nichtmenschen in der 3. Person wird durch die Wahl zwischen den Personal- und Demonstrativpronomina gemacht. Das Fragepronomen lautet kuka (wer) bzw. mikä (was). Die Pronomina werden wie die Nomen dekliniert. Die Personalpronomina haben im Akkusativ eine besondere Endung -t (minut, sinut). ==== Possessivsuffixe ==== Im Gegensatz zum Deutschen werden Besitzverhältnisse nicht allein durch Pronomina (mein, dein), sondern durch an das Wortende angehängte Suffixe angezeigt. Zusätzlich zum Possessivsuffix kann der Genitiv des Personalpronomens treten. Die Possessivsuffixe der 3. Person benötigen meist ein Bezugswort. Ist das Subjekt des Satzes in der 3. Person und gehört das Objekt dem Subjekt, entfällt jedoch das Bezugswort. Beispiel: Hän myi talonsa (Er verkaufte sein [eigenes] Haus). 1) Diese Endung unterliegt der Vokalharmonie, d. h., anstelle des a kann ein ä stehen.2) Verdopplung des vorangehenden Vokals + n. Diese Variante kommt bei der Deklination vor (z. B. Inessiv hänen talossaan „in seinem/ihrem Haus“). Die Possessivsuffixe treten auch bei Postpositionen auf, die ein Bezugswort im Genitiv verlangen. (minun) edessäni (vor mir), (sinun) kanssasi (mit dir).Daneben können die Possessivsuffixe in den so genannten Satzentsprechungen das Subjekt anzeigen. tultuani (nachdem ich gekommen war), haluamattasi (ohne, dass du es gewollt hättest). ==== Zahlwörter ==== Die Bildung der finnischen Zahlwörter geht von den Grundzahlen eins bis zehn aus: yksi (1), kaksi (2), kolme (3), neljä (4), viisi (5), kuusi (6), seitsemän (7), kahdeksan (8), yhdeksän (9) und kymmenen (10). Ganze Zehner werden durch Anhängung von -kymmentä gebildet, also kaksikymmentä für „zwei Zehner“, also Zwanzig. Weitere Zahlen über 20 bilden sich durch einfache Anhängung der Zahl der Einer: kaksikymmentäyksi für Einundzwanzig. Entsprechend wird für Hunderter, Tausender usw. vorgegangen. Die Zahlen von 11 bis 19 weichen von diesem System ab und werden gebildet durch Anhängung von -toista an die Einerzahl, also kaksitoista für Zwölf. Direkt übersetzt bedeutet dies „Zwei vom Zweiten“, also die zweite Zahl des zweiten Zehnerblockes. Dieses Zahlenbildungskonzept wurde früher auch für höhere Zahlen befolgt, so dass 35 als viisineljättä, also „Fünf vom Vierten“, gelesen wurde. Diese Ausdrucksweise ist jedoch aus der Sprache verschwunden; man findet sie nur noch in älteren Texten (z. B. bei den Kapitelangaben in der Kalevala). In ähnlicher Weise wird das Wort für Eineinhalb wie „die Hälfte vom Zweiten“, puolitoista gebildet. Zu den Besonderheiten der finnischen Zahlwörter gehört, dass diese wie Nomen dekliniert werden: Kolmesta talosta für „aus drei Häusern.“ Diese Deklination betrifft bei aus mehreren Teilen zusammengesetzten Zahlwörtern alle Teile: 234 Häuser: kaksisataakolmekymmentäneljä taloa aus 234 Häusern: kahdestasadastakolmestakymmenestäneljästä talostaDie Zahlwörter ab zwei verlangen, wenn sie im Nominativ oder Akkusativ stehen, für die gezählte Sache den Partitiv Singular: yksi auto (ein Auto), kaksi autoa (zwei Autos). In anderen Fällen stehen Zahlwort und gezähltes Wort im gleichen Fall, das Substantiv aber immer im Singular: kahdessa autossa (in zwei Autos). === Verben === Das finnische Verb hat vier Tempora (Präsens, Imperfekt, Perfekt und Plusquamperfekt), vier Modi (Indikativ, Konditional, Imperativ und Potential), mehrere Infinitive und ein Verbalsubstantiv sowie vier Partizipien. Das finnische Passiv unterscheidet sich vom deutschen Passiv und ist eine unpersönliche Form. ==== Konjugationstypen ==== Die finnischen Verben werden in sechs Typen eingeteilt. Diese Einteilung kann noch in verschiedene Untertypen verfeinert werden. Die Endungen sind für alle Typen gleich, aber die Wortstämme unterliegen bei der Konjugation unterschiedlichen Veränderungen. Um ein Verb konjugieren zu können, muss man den Typ kennen; er wird für die jeweilige Endung des Wortstamms benötigt. Charakteristisch für die einzelnen Typen sind jeweils: der Infinitiv (Grundform) der Vokalstamm (an ihn werden die meisten Endungen wie -n, -t, -mme gehängt) der Konsonantstamm (für die Bildung des Partizips) der Passivstamm (für die Bildung des Impersonals)Bei der Konjugation kann der Wortstamm durch den Stufenwechsel verändert werden. Aus sprachgeschichtlichen Gründen werden diese Veränderungen nicht immer angewandt. Diese Tabelle zeigt beispielhaft einige der wichtigsten Konjugationstypen. Kennzeichnend sind jeweils Infinitiv (sprechen) / 1. Person Präsens (ich spreche) / 3. Person Imperfekt (er sprach) / Partizip (gesprochen) / Impersonal Imperfekt (man sprach). Aus diesen Stammformen können sämtliche Wortbildungen hergeleitet werden. ==== Konjugation ==== Konjugation des Verbs puhua (sprechen) im Präsens: 1) Verdopplung des vorangehenden Vokals tritt nur bei Kurzvokal ein, nicht jedoch bei Langvokal oder Diphthong.2) Diese Endung unterliegt der Vokalharmonie, d. h., statt des a kann ein ä stehen. Die Personalpronomina der ersten und zweiten Person können weggelassen werden, da die Person bereits durch die Personalendung eindeutig bestimmt ist. ==== Tempora ==== Das Präsens bezeichnet gegenwärtige oder zukünftige Handlungen. Das Imperfekt (auch Präteritum) bezeichnet die abgeschlossene Vergangenheit. Es wird regelmäßig mit dem Tempuszeichen -i- gebildet. Die Endungen sind dieselben wie im Präsens. puhun (ich spreche) – puhuin (ich sprach)Das Perfekt bezeichnet eine Handlung, die in der Vergangenheit stattgefunden oder angefangen hat, aber noch weiterwirkt oder für die Gegenwart von Bedeutung ist. Es entspricht weitgehend dem englischen Present Perfect. Das Plusquamperfekt bezieht sich auf eine Handlung, die vor einem Vergleichszeitpunkt in der Vergangenheit stattfand. Perfekt und Plusquamperfekt werden mit dem Hilfsverb olla (sein) und dem Partizip Perfekt gebildet. olen puhunut (ich habe gesprochen), olet puhunut (du hast gesprochen). olin puhunut (ich hatte gesprochen), olit puhunut (du hattest gesprochen).Das Futur ist im Finnischen nicht vorhanden. Zukünftige Handlungen werden durch das Präsens ausgedrückt (menen huomenna „ich gehe morgen“, „ich werde morgen gehen“). In den überwiegenden Fällen ist trotz des fehlenden Futurs eine eindeutige temporale Zuordnung möglich, insbesondere weil sich diese oft aus dem verwendeten Kasus erschließt (luen kirjaa „ich lese (gerade) ein Buch“, aber luen kirjan „ich werde ein Buch lesen“). Um den Zukunftsbezug eindeutig zu kennzeichnen, wird in neuerer Zeit manchmal in Übernahme von Konzepten indogermanischer Sprachen auch eine Umschreibung mit dem Verb tulla (kommen) verwendet (tulen menemään huomenna). ==== Modi ==== Der Indikativ ist der Grundmodus und wird zur Darstellung der Wirklichkeit benutzt. puhun (ich spreche), puhut (du sprichst).Der Konditional drückt hypothetische oder bedingte Handlungen aus. Er wird mit dem Moduszeichen -isi- gebildet. puhuisin (ich spräche/würde sprechen), puhuisit (du sprächest/würdest sprechen)Der Imperativ ist die Befehlsform. Neben den Imperativen der 2. Person Singular und Plural gibt es auch in der Umgangssprache heute selten benutzte Imperative für die 3. Person Singular und Plural und die 1. Person Plural. puhu! (sprich!), puhukoon! (er spreche!), puhukaamme! (lasst uns sprechen!), puhukaa! (sprecht!), puhukoot! (sollen sie sprechen!)Der Potential bezeichnet eine wahrscheinliche, aber nicht sichere Handlung. In der heutigen gesprochenen Sprache ist er recht selten. Er wird mit dem Moduszeichen -ne- gebildet. puhunen (ich spreche wohl), puhunet (du sprichst wohl). ==== Passiv ==== Anders als im Deutschen und den meisten anderen indogermanischen Sprachen ist das finnische Passiv keine Umkehrung des Aktivs, sondern eigentlich ein Impersonal, das am ehesten deutschen Formulierungen mit man entspricht. Es bezeichnet Handlungen, bei denen die ausführende Person ungenannt bleibt. Das Passiv könnte als eine Art „4. Person“ aufgefasst werden. Das Kennzeichen des Passivs ist -(t)ta-/-(t)tä-. Es kommt in allen Tempora und Modi vor. Präsens: puhutaan (es wird gesprochen/man spricht) Imperfekt: puhuttiin (es wurde gesprochen/man sprach) Perfekt: on puhuttu (es ist gesprochen worden/man hat gesprochen) Plusquamperfekt: oli puhuttu (es war gesprochen worden/man hatte gesprochen) Konditional: puhuttaisiin (es würde gesprochen werden/man spräche) Imperativ: puhuttakoon! (es werde gesprochen!/man spreche!) Potential: puhuttaneen (es wird wohl gesprochen/man spricht wohl)Das gedachte Subjekt eines Passivsatzes muss stets ein Mensch sein. Ein deutscher Satz wie „Bei dem Unfall wurde ein Mann getötet“ könnte im Finnischen nicht mit einem Passivsatz übersetzt werden, da dieser implizieren würde, eine nicht genannte Person hätte den Mann während des Unfalles umgebracht. ==== Infinitive ==== Finnische Verben haben je nach Auffassung drei, vier oder fünf Infinitive und ein Verbalsubstantiv (die Anzahl der Infinitive variiert in unterschiedlichen Grammatiken). Der 1. Infinitiv (puhua „sprechen“) entspricht dem deutschen Infinitiv und ist die Grundform des Verbs. Die übrigen Infinitive werden dekliniert und dienen zur Bildung zahlreicher temporaler, modaler, finaler Satzkonstruktionen (z. B. puhuessani „während ich spreche“, puhumatta „ohne zu sprechen“, olen puhumaisillani „ich bin nah dabei, zu sprechen“). Das Verbalsubstantiv wird mit dem Suffix -minen gebildet und kann in allen Kasus dekliniert werden. Es entspricht dem substantivierten Infinitiv des Deutschen (puhuminen „das Sprechen“, puhumisen „des Sprechens“.). ==== Partizipien ==== Im Finnischen gibt es vier Partizipien. Es gibt sie in zwei Zeitebenen (Präsens bzw. gleichzeitig und Perfekt bzw. vorzeitig) jeweils als aktive und passive Form. Daneben existiert ein Agenspartizip, das das Partizip Perfekt Passiv ersetzt, wenn das Agens (die handelnde Person) genannt wird. Partizip Präsens Aktiv: puhuva (sprechend) Partizip Präsens Passiv: puhuttava (zu sprechen) Partizip Perfekt Aktiv: puhunut (gesprochen habend – Singular), puhuneet (gesprochen habend – Plural) Partizip Perfekt Passiv: puhuttu (gesprochen) Agenspartizip: puhuma + Genitiv oder Possessivsuffix (von jmd. gesprochen) ==== Verneinung ==== Die Verneinung wird mit dem speziellen Verneinungsverb ei und dem nicht konjugierten Verbstamm gebildet. (minä) en puhu (ich spreche nicht) (sinä) et puhu (du sprichst nicht) hän ei puhu (er spricht nicht) (me) emme puhu (wir sprechen nicht) (te) ette puhu (ihr sprecht nicht) he eivät puhu (sie sprechen nicht)Das verneinte Imperfekt wird anders gebildet als das bejahte, nämlich mit ei und dem Partizip Perfekt Aktiv des Verbs. Das verneinte Perfekt und Plusquamperfekt werden durch Verneinung des Hilfsverbs olla gebildet. puhuin (ich sprach), puhuimme (wir sprachen) – en puhunut (ich sprach nicht), emme puhuneet (wir sprachen nicht). olen puhunut (ich habe gesprochen), olemme puhuneet (wir haben gesprochen) – en ole puhunut (ich habe nicht gesprochen), emme ole puhuneet (wir haben nicht gesprochen). olin puhunut (ich hatte gesprochen), olimme puhuneet (wir hatten gesprochen) – en ollut puhunut (ich hatte nicht gesprochen), emme olleet puhuneet (wir hatten nicht gesprochen)Beim verneinten Imperativ steht das Verneinungsverb in einer speziellen Imperativform älä. puhu! (sprich!), puhukaa! (sprecht!) – älä puhu! (sprich nicht!), älkää puhuko! (sprecht nicht!) ==== Haben ==== Es gibt im Finnischen kein Wort für „haben“, stattdessen eine Konstruktion mit der 3. Person Singular von olla (sein) und dem Adessiv. minulla on auto (wörtlich „bei mir ist ein Auto“: „ich habe ein Auto“) === Syntax === ==== Wortstellung ==== Die übliche Wortfolge eines finnischen Satzes ist Subjekt-Prädikat-Objekt, damit ist das Finnische eine SVO-Sprache. Die Wortstellung ist aber prinzipiell frei, wenn auch nicht beliebig, da sie Bedeutungsnuancen ausdrückt. Neue Informationen treten meist ans Satzende. Vergleiche: Koira puri miestä. – Der Hund biss den Mann. Miestä puri koira. – Den Mann biss ein Hund. Miestä koira puri. – Es war der Mann, den der Hund biss. (und nicht etwa jemand anders) Koira miestä puri. – Es war ein Hund, der den Mann biss. (und kein anderes Tier) Puri koira miestä. – Doch, der Hund biss den Mann. (als Erwiderung eines Zweifels, ob der Hund den Mann biss) Puri miestä koira – Doch, ein Hund biss den Mann. (als Erwiderung eines Zweifels, ob der Mann von einem Hund gebissen wurde) ==== Fragen ==== In Entscheidungsfragen steht das Verb am Satzanfang und wird mit der Fragepartikel -ko/-kö versehen. Wenn die Frage ein anderes Wort fokussiert, steht dieses mit der Fragepartikel am Satzanfang. Fragewörter hingegen werden in der Standardsprache nie mit der Fragepartikel versehen. Die Frage kann auch elliptisch sein. Tuleeko Anna kesällä? – Kommt Anna im Sommer? Annako tulee kesällä? – Ist es Anna, die im Sommer kommt? Kesälläkö Anna tulee? – Kommt Anna im Sommer? (oder irgendwann sonst) Kuka tulee kesällä? Annako? – Wer kommt im Sommer? Anna?Bei der Antwort auf eine Entscheidungsfrage entspricht dem deutschen „ja“ die Wiederholung des Verbs, dem deutschen „nein“ das Verneinungsverb. ==== Subjekt ==== Die Kategorien von Subjekt und Objekt sind im Finnischen weniger deutlich ausgeprägt als im Deutschen. Das Subjekt kann im Nominativ oder Partitiv stehen oder auch völlig fehlen. Der Normalfall als Subjektskasus ist der Nominativ. Tyttö näki linnun. – Das Mädchen sah einen Vogel.Ein Partitivsubjekt kommt in den sogenannten Existentialsätzen („es-gibt“-Sätzen) vor, wenn eine unbestimmte Menge bezeichnet wird. Lasissa on maitoa. – Im Glas ist Milch. Pihalla juoksee poikia. – Auf dem Hof laufen Jungen.Bei Sätzen, die eine Notwendigkeit ausdrücken, steht die finnische Entsprechung des deutschen Subjekts im Genitiv und wird ein Dativadverbial genannt, weil es sich semantisch um einen Dativ handelt. Das grammatikalische Subjekt ist der Infinitiv. Sinun täytyy tehdä se. – Du musst das machen. (wortwörtlich: „Dir ist obligatorisch, das zu machen.“)Sätze, die im Deutschen ein unpersönliches „man“ oder das expletive „es“ als Subjekt haben, stehen im Finnischen ohne Subjekt. Ulkona sataa. – Draußen regnet es. ==== Objekt ==== Das Objekt kann im Akkusativ oder Partitiv stehen. Das Objekt steht stets im Partitiv, wenn der Satz verneint ist. Ostin kirjan. (Akkusativ) – Ich kaufte das Buch. En ostanut kirjaa. (Partitiv) – Ich kaufte das Buch nicht.In bejahenden Sätzen hat die Kasuswahl zwei Aufgaben. Der Akkusativ drückt eine quantitative Bestimmtheit aus, während der Partitiv benutzt wird, wenn eine unbestimmte oder unzählbare Menge gemeint ist. Juon kahvia. (Partitiv) – Ich trinke Kaffee. (unbestimmte Menge) Juon kahvin. (Akkusativ) – Ich trinke den Kaffee. (= Ich trinke diese Tasse Kaffee aus.)Außerdem kann ein Aspektunterschied ausgedrückt werden. Dabei drückt der Akkusativ eine perfektive oder resultative (abgeschlossene) und der Partitiv eine imperfektive oder irresultative (nicht abgeschlossene) Handlung aus. Mies ampui hirveä. (Partitiv) – Der Mann schoss auf den Elch. Mies ampui hirven. (Akkusativ) – Der Mann erschoss den Elch. ==== Satzentsprechungen ==== Bei den Satzentsprechungen handelt es sich um kompakte Infinitiv- oder Partizipialkonstruktionen, die einen Nebensatz ersetzen. Die Infinitivformen werden dabei dekliniert und drücken eine zeitliche, modale oder finale Bedeutung aus. Das Subjekt des Nebensatzes tritt in den Genitiv oder kann als Possessivsuffix angehängt werden. Hän sanoo, että Pekka on sairas. = Hän sanoo Pekan olevan sairas. – Er sagt, dass Pekka krank ist. / Er sagt, Pekka sei krank. Syömme, kun olemme tulleet kotiin. = Syömme tultuamme kotiin. – Wir essen, wenn wir nach Hause gekommen sind. Menin kauppaan, jotta saisin tuoretta maitoa. = Menin kauppaan saadakseni tuoretta maitoa. – Ich ging in den Laden, um frische Milch zu bekommen. Hän lähti ilman että huomasin. = Hän lähti minun huomaamattani. – Er ging, ohne dass ich es bemerkte. == Wortschatz == === Wortbildung === Die finnische Sprache hat ein komplexes Wortbildungssystem, durch das von einem einzelnen Wortstamm zahlreiche unterschiedliche Begriffe abgeleitet werden können. Beispielsweise stammen die folgenden Wörter alle vom selben Wortstamm ab: kirja („Buch“), kirjain („Buchstabe“), kirjaimisto („Alphabet“), kirje („Brief“), kirjasto („Bibliothek“), kirjailija („Schriftsteller“), kirjallisuus („Literatur“), kirjoittaa („schreiben“), kirjoittaja („Autor“), kirjoitus („Schrift“), kirjallinen („schriftlich“), kirjata („buchen“, „eintragen“), kirjasin („Letter“, „Druckbuchstabe“), kirjaamo („Registratur“), kirjoitin („Drucker“), und kirjuri („Schreiber“). Zur Wortbildung tragen viele Endsilben bei, die den Wortstamm in einen bestimmten Zusammenhang bringen. Im obigen Beispiel bedeuten beispielsweise -in ein Werkzeug, -sto eine Ansammlung, -uri einen Gegenstand bzw. einen Menschen, der eine (im Wortstamm steckende) Tätigkeit ausübt und -mo einen Ort, an dem eine (im Wortstamm steckende) Tätigkeit ausgeübt wird. Eine weitere häufig verwendete Silbe zur Ortsbezeichnung ist -la. Durch Verbsuffixe können zahlreiche Bedeutungsnuancen ausgedrückt werden, z. B. nauraa („lachen“), naurahtaa („auflachen“), naureskella („vor sich hin lachen“), naurattaa („zum Lachen bringen“). === Neologismen === Bei Neologismen werden im Finnischen generell eigenständige Wörter Fremdwörtern vorgezogen. Neue Begriffe werden oft auf Grundlage des vorhandenen Wortschatzes geschaffen (z. B. tietokone, wörtlich „Wissensmaschine“ = „Computer“, puhelin von puhua (sprechen) = „Telefon“). Für heute neu in die finnische Sprache zu übertragende Fremdwörter gibt eine staatliche Kommission (Kielitoimisto) regelmäßig Empfehlungen ab, die aber nicht bindender Natur sind. In neuerer Zeit bürgern sich anstelle der eigenständigen finnischen Wortschöpfungen verstärkt auch direkte phonetische Übernahmen aus der jeweiligen Fremdsprache ein (z. B. für Scanner das übliche skanneri anstelle des empfohlenen kuvanlukija, wörtlich „Bildleser“). === Lehnwörter === Im finnischen Wortschatz existieren Entlehnungen aus sehr unterschiedlichen Zeitschichten. Die historische Linguistik kann uralte Lehnwörter nachweisen. So stammt das finnische Zahlwort für „100“, sata, wahrscheinlich aus einer Urform des Indoiranischen und ist mit dem Sanskrit-Wort śatam verwandt. Ebenfalls in prähistorischer Zeit, seit dem 1. Jahrtausend v. Chr., hatten die Vorfahren der Finnen Kontakte zu den Balten, Germanen und Slawen, aus deren Sprachen sie zahlreiche Wörter übernahmen. Die Lautgestalt dieser alten Lehnwörter hat sich im Finnischen oft besser erhalten als in den Ursprungssprachen. So ist das finnische kuningas noch praktisch identisch mit der germanischen Urform *kuningaz, während sich das Wort in den heutigen germanischen Sprachen weiterentwickelt hat (dt. König, engl. king, schwed. konung oder kung). Der größte Teil der Lehnwörter im Finnischen stammt aber aus der schwedischen Sprache. Das heutige Finnland gehörte ab dem 12. Jahrhundert bis ins Jahr 1809 zum Königreich Schweden. Während dieser Zeit und noch bis ins 20. Jahrhundert hinein war die Oberschicht schwedischsprachig. In die finnische Sprache wurden sehr viele Lehnwörter aus dem Schwedischen übernommen, z. B. kuppi (schwed. kopp „Tasse“) oder die Wochentage maanantai, tiistai (schwedisch måndag, tisdag) usw. Auch Lehnübersetzungen wie die Phrase ole hyvä (wie schwedisch var så god, wörtl. „sei so gut“) für „bitte“ sind häufig. Die kurze Zugehörigkeit Finnlands zu Russland hat in der Sprache weit weniger Spuren hinterlassen, zumal Russisch nie Amtssprache war. In neuerer Zeit sind Lehnwörter aus dem Englischen dazugekommen, wenn auch in geringerem Umfang als zum Beispiel in der deutschen Sprache. == Sprachformen == === Umgangssprache === Im Finnischen unterscheiden sich die geschriebene und gesprochene Sprache deutlicher voneinander als in den meisten anderen europäischen Sprachen. Die Unterschiede sind sowohl lautlicher als auch grammatikalischer Natur. Die Schriftsprache wird für fast alle geschriebenen Texte verwendet; eine Ausnahme bilden informelle Nachrichten (E-Mails, SMS-Mitteilungen). In Gesprächssituationen wird dagegen fast ausschließlich die Umgangssprache gesprochen, außer bei besonders formellen Anlässen. Die Umgangssprache variiert je nach dialektalem Hintergrund, Alter und sozialer Stellung des Sprechers, aber auch bei ein und derselben Person je nach Situation. Die finnische Umgangssprache basiert im Wesentlichen auf dem Dialekt von Helsinki. Die wichtigsten Merkmale der Umgangssprache sind: Lautliche Verschleifung: mä oon statt minä olen (ich bin), lukee statt lukea (lesen) Gebrauch der sächlichen Pronomina der 3. Person (Singular se, Plural ne) auch für Personen (statt hän, he) In der 1. und 2. Person werden die Personalpronomina meist genannt: mä kuulen statt kuulen (ich höre) Verlust der Possessivsuffixe zugunsten des Genitivs der Personalpronomina: mun auto statt autoni (mein Auto) Unterschiede in der Konjugation: Ersetzung der 1. Person Plural durch die Passivkonstruktion: me mennään statt me menemme (wir gehen); Anstelle der 3. Person Plural steht die Form der 3. Person Singular: autot ajaa statt autot ajavat (die Autos fahren) Bevorzugung analytischer Konstruktionen: Satzentsprechungen werden durch Nebensätze ersetzt: kun mä olin tullut statt tultuani (als ich gekommen war); Die selteneren Kasus wie der Abessiv werden durch Präpositionen ersetzt: ilman rahaa statt rahatta (ohne Geld) Vor allem im informellen Bereich Abkürzung von Wörtern: telkkari statt televisio (Fernseher) === Dialekte === Die Unterschiede zwischen den finnischen Dialekten sind recht gering, sie unterscheiden sich fast ausschließlich in der Aussprache. Die finnischen Dialekte teilen sich in eine westliche und eine östliche Hauptgruppe. Die Einordnung der im nordschwedischen Torne-Tal gesprochenen Meänkieli ist umstritten. In Finnland wird es meist als Peräpohjola-Dialekt angesehen, während es in Schweden als eigenständige Sprache klassifiziert und auch an Schulen als Schriftsprache gelehrt wird. Gleiches gilt für das in Nordnorwegen gesprochene Kvenisch. Westfinnische Dialekte (Die Ziffern beziehen sich auf die nebenstehende Karte.) Südwestfinnische Dialekte in Varsinais-Suomi und Satakunta Häme-Dialekte in Häme Südösterbottnischer Dialekt in Südösterbotten Mittel- und nordösterbottnische Dialekte in Mittel- und Nordösterbotten Peräpohjola-Dialekte in Lappland, Tornedalen und Finnmark Ostfinnische Dialekte Savo-Dialekte in Savo, Nordkarelien, Mittelfinnland, Kainuu, Järviseutu und Koillismaa Südostfinnische Dialekte in Südkarelien und vor dem Zweiten Weltkrieg auf der Karelischen Landenge Das wichtigste Unterscheidungsmerkmal zwischen westlichen und östlichen Dialekten ist die Entsprechung des schriftsprachlichen d. In den westfinnischen Dialekten ist der Laut meist durch r oder l ersetzt (tehrä statt tehdä), in den ostfinnischen ist er ausgefallen (tehä). In den Südwestdialekten fallen Vokale oft aus, vor allem am Wortende (z. B. snuuks statt sinuksi), während in den östlichen Dialekten Vokale eingefügt werden (z. B. kolome statt kolme). Die östlichen Dialekte verfügen über palatalisierte Konsonanten (z. B. vesj statt vesi). == Sprachbeispiel == Angegeben ist als Textprobe eine Nachrichtenmeldung aus der in Oulu erscheinenden Tageszeitung Kaleva vom 10. April 2008 mit Originaltext, IPA-Lautschrift, Interlinearübersetzung und deutscher Übersetzung: == Literatur == === Grammatiken === Fred Karlsson: Finnische Grammatik. Autorisierte Übersetzung aus dem Finnischen von Karl-Heinz Rabe, bearbeitet von Cornelius Hasselblatt und Paula Jääsalmi-Krüger, 4. Auflage. Buske, Hamburg 2004, ISBN 3-87548-203-4. Eva Buchholz: Grammatik der finnischen Sprache. 4., korrigierte Auflage. Hempen, Bremen 2012, ISBN 3-934106-40-4. Martin Putz: Finnische Grammatik. Praesens, Wien 2002, ISBN 3-7069-0128-5. Durchgesehene Auflage 2008 neu erschienen bei: www.lulu.com, ISBN 978-1-4092-0343-8 (mit zahlreichen diachronen Erklärungen). Hans Fromm: Finnische Grammatik. Universitätsverlag Winter, Heidelberg 1982, ISBN 978-3-8253-3108-5 (Karton) oder ISBN 978-3-8253-3109-2 (Leinen). === Lehrbücher === Annaliisa Kühn: Hei! Moi! Terve! Buske, Hamburg 2018, ISBN 978-3-87548-877-7. Richard Semrau: Langenscheidts Praktisches Lehrbuch Finnisch. Langenscheidt, Berlin 1996, ISBN 3-468-26140-3. Marja-Liisa Steiner: Finnisch für Sie. 4. Auflage. Hueber, Ismaning 1989, ISBN 3-19-005076-7. Senja Riekkinen-Gebbert: Yksi, kaksi, kolme. Finnisch für Deutschsprachige. Lehrbuch. Hempen, Bremen 2003, ISBN 3-934106-23-4. Anna-Liisa Lepäsmaa, Leena Silfverberg: Suomen kielen alkeisoppikirja. ISBN 951-792-034-2 (einsprachig, aber auch für Anfänger). Ritva Bargsten, Liisa Voßschmidt: Hei Suomi – Finnisch für Anfänger. ISBN 3-88839-092-3 (Band 1), ISBN 3-88839-092-3 (Band 2), ISBN 3-88839-098-2 (Band 3). Harald Molan: Grundwortschatz Finnisch. Buske, Hamburg 2010, ISBN 978-3-87548-570-7. Harald Molan: Grammatikübungsbuch Finnisch. Buske, Hamburg 2014, ISBN 978-3-87548-702-2. === Sprachführer === Hillevi Low: Finnisch – Wort für Wort (Kauderwelsch Band 15). 10. Auflage. Reise Know-How Verlag, Bielefeld 2006, ISBN 3-89416-014-4. == Weblinks == Eintrag zur finnischen Sprache in der Enzyklopädie des Europäischen Ostens (PDF-Datei; 388 kB) Fälle im Finnischen (Übersicht, englisch) Aussprache finnischer Namen (mit Ton) == Einzelnachweise ==
https://de.wikipedia.org/wiki/Finnische_Sprache
Lima
= Lima = Lima ist die Hauptstadt des südamerikanischen Andenstaates Peru und die mit Abstand größte Stadt des Landes. Im Verwaltungsgebiet der Stadt, der Provinz Lima, leben 8.574.974 Menschen (Stand 2017). In der Konurbation Limas mit der Hafenstadt Callao leben insgesamt etwa 10.480.000 Einwohner. Beide Städte bilden die Metropolregion Lima (Área Metropolitana de Lima). Lima ist ein wichtiger Verkehrsknotenpunkt sowie das bedeutendste Wirtschafts- und Kulturzentrum von Peru mit zahlreichen Universitäten, Hochschulen, Museen und Baudenkmälern. Die Altstadt von Lima wurde 1991 von der UNESCO zum Weltkulturerbe erklärt. == Geographie == === Geographische Lage === Lima liegt am Río Rímac am Fuße der trockenen Westflanke der zentralperuanischen Anden. Nach Javier Pulgar Vidal befindet sich das Stadtzentrum in der geographischen Zone der Chala, auf rund 160 Metern über dem Meeresspiegel. Das Siedlungsgebiet der Stadtregion erstreckt sich bis in die Höhenzone der westlichen Yunga (ab 500 Metern) und erreicht bei Chosica eine Höhe von knapp 1.000 Metern (Chosicas Hauptplatz befindet sich auf rund 950 Metern).Das Verwaltungsgebiet der Stadt ist mit der Provinz Lima (auch „Municipalidad Metropolitana de Lima“) identisch und hat eine Fläche von 2.672,28 Quadratkilometern (zum Vergleich: Saarland = 2.568,65 Quadratkilometer). Davon gehören 825,88 Quadratkilometer (30,9 Prozent) zur Kernstadt (hohe Bebauungsdichte und geschlossene Ortsform), 1.846,4 Quadratkilometer (69,1 Prozent) bestehen aus Vorstädten und Gebieten mit ländlicher Siedlungsstruktur. Die Metropolregion Lima (Área Metropolitana de Lima) umfasst die 43 Bezirke der Region Lima Metropolitana und die sechs Bezirke der Region Callao. Sie erstreckt sich über eine Fläche von 2.819,26 Quadratkilometer. Das Stadtgebiet (área urbana) von Lima besitzt eine Ausdehnung von etwa 60 Kilometern in Nord-Süd-Richtung und rund 30 Kilometern in Ost-West-Richtung. Das dicht bebaute Stadtgebiet wird im Norden grob durch den Fluss Río Chillón und im Süden durch den Fluss Río Lurín begrenzt, im Osten durch den Zusammenfluss des Río Santa Eulalia mit dem Hauptfluss Río Rímac. Das Stadtzentrum befindet sich etwa 10 Kilometer Luftlinie landeinwärts am Río Rímac, welchem auch die peruanische Eisenbahn – die zweithöchstgelegene der Welt (höchste ist die Lhasa-Bahn) – und die Hauptstraße in Richtung Ticliopass (4.781 Meter) folgen, dem Hauptzugang zum von den Anden geprägten Zentralland Perus. Der Río Rímac hat für Lima größte Bedeutung. Er führt der Stadt Trinkwasser aus reinem Gletscherwasser zu. Der Rückzug des Gletschers, der vermutlich durch den Klimawandel bedingt ist, führt dazu, dass es vorübergehend mehr Wasser gibt. Wären die Gletscher nicht mehr vorhanden, versiegte der Fluss und damit die Lebensgrundlage der Menschen, Tiere und Pflanzen in der Region. Zudem stellt das gesamte Einzugsgebiet des Río Rímac durch seine Wasserkraft (beispielsweise die Elektrizitätswerke von Huampaní, Matucana und Huinco) einen Großteil der Elektrizitätsversorgung für die Stadt sicher. === Stadtgliederung === Das Verwaltungsgebiet der Stadt ist mit der Provinz Lima identisch. Diese gliedert sich in 43 Bezirke (Distritos). Davon entfallen 30 auf die Kernstadt. Diese sind (* Siedlungszentrum unter anderem Namen): Ate (*Vitarte), Barranco, Breña, Cercado de Lima, Chorrillos, Comas, El Agustino, Independencia, Jesús María, La Molina, La Victoria, Lince, Los Olivos, Magdalena del Mar, Miraflores, Pueblo Libre (*Magdalena Vieja), Puente Piedra, Rímac, San Borja, San Isidro, San Juan de Lurigancho, San Juan de Miraflores, San Luis, San Martin de Porres, San Miguel, Santa Anita, Santiago de Surco, Surquillo, Villa El Salvador und Villa María del Triunfo. 13 Bezirke Limas liegen außerhalb der Kernstadt in den Vorstädten und ländlichen Gebieten. Diese sind: Ancón, Carabayllo, Chaclacayo, Cieneguilla, Lurigancho (*Chosica), Lurin, Pachacámac, Pucusana, Punta Hermosa, Punta Negra, San Bartolo, Santa Maria del Mar und Santa Rosa. Siehe auch: Liste der Stadtbezirke von Lima === Klima === Die Stadt befindet sich in der tropischen Klimazone und wird ebenfalls von Carl Troll als tropisch eingeordnet. Auf eine nähere Klimaklassifikation geht die effektive Klimaklassifikation von Koeppen ein, demnach besitzt Lima ein heißes Wüstenklima (BWh), welches typisch für die peruanische Küstenwüste ist. Ebenfalls weist die jährliche Temperaturamplitude von nur 5 Grad Celsius auf ein typisch tropisches Klima hin. Dennoch sind Temperaturwerte und Sonnenstunden für eine in den Tropen gelegene Stadt sehr niedrig. Ein Grund für diese Werte ist der relativ kalte Humboldtstrom, der das Land abkühlt. Ebenso sorgt dieser im Winter als Folge von Kondensation des Wasserdampfes in der Luft über dem relativ kalten Ozean für dichten Küsten- oder Hochnebel, der die ganze Stadt von Mai bis Oktober einhüllen kann. Die daraus resultierende geringere Sonneneinstrahlung trägt zu den niedrigeren Temperaturen noch zusätzlich bei. Besonders deutlich wird das im Vergleich von Winter und Sommer (Juli und Januar). Während die Sonne im Juli durchschnittlich nur 28,6 Stunden scheint, gibt es im Januar etwa 179,1 Sonnenstunden, durchschnittlich 1284 Sonnenstunden pro Jahr. Zum Vergleich: Der Jahresdurchschnitt der Sonnenscheine in Berlin liegt bei 1625,6 Stunden. Der Sommer (Dezember bis März) ist in Lima durch anhaltenden Sonnenschein bei angenehmen Temperaturen gekennzeichnet. Der wärmste Monat ist der Februar mit einem Durchschnittswert von 22,3 Grad Celsius, während im Winter (kältester Monat August) die durchschnittliche Temperatur auf 15,1 Grad Celsius fällt. Die ganzjährige Durchschnittstemperatur beträgt dabei 18,2 Grad Celsius. Die Sonnenscheindauer über das ganze Jahr beträgt etwa 1.284 Sonnenstunden, die hauptsächlich im Sommer liegen. Das sind außergewöhnlich niedrige Werte für die geographische Breite der Stadt. Aufgrund des Wüstenklimas fällt kaum Regen, dieser ist mit 13 Millimeter Niederschlag pro Jahr äußerst gering. Es kommen aber auch längere Perioden mit überhaupt keinem Niederschlag vor. == Zeichen == === Flagge === Während der Kolonie war sie als „Königliche Standarte der Stadt der Könige von Lima“ bekannt. Sie war aus goldfarbenem Seidenstoff gefertigt und in der Mitte mit dem Stadtwappen bestickt. Laut den Protokollen des Cabildo fand sie am 2. Januar 1549 statt. === Wappen === Das Wappen von Lima wurde von der spanischen Krone am 7. Dezember 1537 durch einen in Valladolid von Karl V. (HRR) und seiner Mutter, Königin Johanna von Kastilien, unterzeichneten Wappenbrief verliehen. Es besteht aus einem azurblauen Hauptfeld mit drei goldenen Königskronen in einem Dreieck und einem goldenen Stern darüber, der die drei Kronen mit seinen Spitzen berührt, sowie goldenen Buchstaben in der Spitze, die lauten: „Hoc signum vere regum“: Hoc signum vere regum est (Dies ist das wahre Zeichen der Könige). Auf der Außenseite des Schildes stehen die Initialen I und K (Ioana und Karolus), die Namen der Königin Johanna und ihres Sohnes Karl V. Über den Buchstaben befindet sich ein Stern, der von zwei gekrönten, schwertschwingenden Adlern mit folgendem Wappen umgeben ist. === Hymne === Die Hymne von Lima wurde am 18. Januar 2008 in einer feierlichen Sitzung in Anwesenheit des damaligen peruanischen Präsidenten Alan García, des Bürgermeisters Luis Castañeda Lossio und verschiedener Behörden zum ersten Mal gesungen. Verantwortlich für die Erstellung der Hymne waren die Stadträte Luis Enrique Tord (Texter), Euding Maeshiro (Komponist der Melodie) und der Musikproduzent Ricardo Núñez (Arrangeur). == Geschichte == === Herkunft des Namens === Die Stadt Lima erhielt ihren Namen aufgrund ihrer indigenen Wurzeln; der Name stammt vermutlich vom Jaqaru-Wort lima – limaq oder limaq – wayta, das „gelbe Blume“ bedeutet. Eine zweite Möglichkeit ist, dass der Name sich vom Quechua-Wort rimaq (bzw. Wanka limaq) herleitet, das übersetzt „Sprecher“ bedeutet. Hierfür spricht die Tatsache, dass der Fluss, an dem die Stadt liegt, Río Rímac (Quechua: Rimaq) heißt. === Präkolumbianische Ära === Obwohl die Geschichte der Stadt Lima mit ihrer Gründung durch die Spanier im Jahr 1535 beginnt, war das Gebiet, das von den Tälern der Flüsse Rímac, Chillón und Lurín gebildet wird, von vorinkaischen Siedlungen besetzt, die unter der Herrschaft der Ichma standen. Es war die Lima-Kultur, die in diesen Gebieten eine Identität schuf und formte, was sich im archäologischen Komplex von Maranga in Lima widerspiegelt, einem der wichtigsten im Rimac-Tal. Die Heiligtümer von Lati (dem heutigen Puruchuco) und Pachacámac, dem wichtigsten Wallfahrtsort der Inkazeit, der vom 3. bis zum 15. Jahrhundert von mehreren Zivilisationen erbaut und bis zur Ankunft der spanischen Eroberer genutzt wurde. Pachacámac ist der größte Tempel für den Schöpfergott Pachakamaq. Diese Kulturen wurden vom Wari-Reich auf dem Höhepunkt seiner imperialen Expansion erobert. Zu dieser Zeit wurde auch das zeremonielle Zentrum von Cajamarquilla errichtet. Als die Bedeutung der Wari abnahm, gewannen die lokalen Kulturen ihre Autonomie zurück, vor allem die Chancay-Kultur. Später, im 15. Jahrhundert, wurden diese Gebiete in das Inkareich eingegliedert, das den Wallfahrtsort Pachacamac in eine bedeutende kaiserliche Stätte verwandelte. Seitdem gibt es überall in der Stadt eine Vielzahl von Wak'as, von denen einige noch erforscht werden. Die wichtigsten und bekanntesten sind Huallamarca, Huaca Pucllana, Cerro Trinidad, Cerro Culebra im Chillón, Catalina Huanca und Mateo Salado, die alle mitten in Limas Stadtvierteln liegen und daher von Geschäfts- und Wohngebäuden umgeben sind. Diese Stätten haben unter der Plünderung und dem Wachstum der Stadt gelitten, aber die erhaltenen sind immer noch beeindruckend. === Gründung von Lima === Im Jahr 1532 nahmen die Spanier und ihre indigenen Verbündeten (aus von den Inkas unterworfenen Volksgruppen) unter dem Kommando von Francisco Pizarro den Monarchen Atahualpa in der Stadt Cajamarca gefangen. Obwohl ein Lösegeld gezahlt wurde, wurde er aus politischen und strategischen Gründen zum Tode verurteilt. Nach mehreren Schlachten eroberten die Spanier ihr Reich. Die spanische Krone ernannte Francisco Pizarro zum Gouverneur der eroberten Gebiete. Nachdem ein Versuch, eine Hauptstadt in Jauja zu errichten gescheitert war, beschloss Pizarro, die Hauptstadt im Tal des Rímac-Flusses zu gründen. Schon vor der Ankunft der Spanier war der Großraum von Lima das am dichtesten besiedelte Gebiet der peruanischen Küste. Am 18. Januar 1535 wurde Lima von dem spanischen Eroberer Francisco Pizarro unter dem Namen Ciudad de los Reyes (Stadt der [Heiligen Drei] Könige) auf einer Eingeborenensiedlung am Südufer des Flusses Rímac gegründet. Für Pizarro waren strategische Überlegungen entscheidend, als er sich für das fruchtbare Tal des Río Rímac entschied. So befand er sich für den Notfall in der Nähe seiner Schiffe und hatte dennoch einen guten Ausgangspunkt, um relativ schnell in die Zentralanden zu gelangen. Er hielt Lima für strategisch günstig gelegen, in der Nähe einer für den Bau von Häfen geeigneten Küstenlinie, aber in vorsichtiger Entfernung davon, um Angriffe von Piraten und fremden Mächten zu vermeiden, auf fruchtbarem Boden und mit einem geeigneten kühlen Klima. So wurde Lima am 6. Januar 1535 als "Stadt der Könige" zu Ehren des Dreikönigsfestes auf Ländereien gegründet, die den Kuraken von Taulichusco gehört hatten. Die Erklärung für diesen Namen ergibt sich aus der Tatsache, dass "die Spanier etwa zur gleichen Zeit im Januar einen Ort suchten, um den Grundstein für die neue Stadt zu legen, [...] unweit des Heiligtums von Pachacámac, in der Nähe des Flusses Rímac. Doch wie die Region, die zunächst Neukastilien und dann Peru hieß, wurde die Stadt Ciudad de los Reyes de Lima (Stadt der Könige von Lima) genannt. Im Laufe der Zeit behielt die Stadt ihren ursprünglichen Namen bei, der sich aus der Quechua-Sprache (rimaq ['li.maq'], gesprächig) von ihrem Fluss, dem Rímac, ableitet... Pizarro legte unter Mitwirkung von Nicolás de Ribera, Diego de Agüero und Francisco Quintero persönlich die Plaza Mayor und den Rest des städtischen Netzes an und errichtete den Palast des Vizekönigs (heute der Palast der peruanischen Regierung, der seinen traditionellen Namen Casa de Pizarro beibehält) und die Kathedrale, deren Grundstein Pizarro mit seinen eigenen Händen legte. Im August 1536 wurde die blühende Stadt von den Truppen des Monarchen Manco Inca Yupanqui und Quizu belagert, aber nach einer sechstägigen Belagerung gelang es den Spaniern und ihren einheimischen Verbündeten, sie zu besiegen. In den folgenden Jahren gewann Lima immer mehr an Prestige und wurde 1543 zur Hauptstadt des Vizekönigreichs Peru und 1542 zum Sitz einer königlichen Audienz ernannt. Die Lage der Küstenstadt wurde durch die einfache Kommunikation mit Spanien bestimmt, und bald wurde eine enge Verbindung mit dem Hafen von Callao hergestellt. Sie wurde zur wichtigsten Hochburg der spanischen Macht in Peru. === Die Ära des Vizekönigreichs === 1542 gründeten die Spanier das Vizekönigreich Peru, das fast ganz Spanisch-Südamerika umfasste. Lima wurde dessen Hauptstadt und die Residenzstadt des Vizekönigs. Über das 16. und 17. Jahrhundert war Lima das religiöse, wirtschaftliche und politische Zentrum der spanischen Kolonien Südamerikas und ein Zentrum kreolisch-mestizischer Kultur. Das Bistum Lima, 1541 gegründet, wurde 1546 zum Erzbistum und Metropolitansitz erhoben. 1551 wurde mit der Universität San Marcos die zweite Universität auf dem amerikanischen Kontinent gegründet. Im nächsten Jahrhundert florierte sie als Zentrum eines riesigen Handelsnetzes, das das Vizekönigreich mit Amerika, Europa und Ostasien verband. Doch die Stadt war nicht ohne Gefahren: heftige Erdbeben zerstörten zwischen 1586 und 1687 einen Großteil der Stadt, was zu einer regen Bautätigkeit führte. Aquädukte, Sternentore und Stützmauern wurden gebaut, bevor die Flüsse anschwollen, die Brücke über den Rímac wurde fertiggestellt, die Kathedrale wurde gebaut, und zahlreiche Krankenhäuser, Klöster und Brunnen wurden errichtet. Infolgedessen begann sich die Stadt um ihre Stadtteile zu drehen. Eine weitere Bedrohung war die Präsenz von Piraten und Freibeuter im Pazifischen Ozean, was den Bau der aus bestehenden Stadtmauern Limas zwischen 1684 und 1687, es hatte zehn Tore. Das Erdbeben von 1687 markierte einen Wendepunkt in der Geschichte Limas, da es mit einer Rezession des Handels aufgrund des wirtschaftlichen Wettbewerbs mit anderen Städten wie Buenos Aires zusammenfiel. Mit der Gründung des Vizekönigreichs Neu-Granada im Jahr 1717 wurden die politischen Grenzen neu geordnet, und Lima verlor nur einige Gebiete, die bereits Autonomie genossen. Im Jahr 1746 wurde die Stadt durch ein schweres Erdbeben schwer beschädigt und der Callao zerstört, was den Vizekönig José Antonio Manso de Velasco zu einem massiven Wiederaufbau zwang. In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts beeinflussten die Ideen der Aufklärung über öffentliche Gesundheit und soziale Kontrolle die Entwicklung der Stadt. In dieser Zeit war die peruanische Hauptstadt von den Reformen der Bourbonen betroffen und verlor das Außenhandelsmonopol und die Kontrolle über die wichtige Bergbauregion Oberperu (das heutige Bolivien); die Silbereinnahmen aus dieser Region wurden von Lima nach Buenos Aires transferiert. Diese wirtschaftliche Schwächung führte dazu, dass die Elite der Stadt von den Positionen abhing, die von der Vizeköniglichen Regierung und der Kirche gewährt wurden, was dazu beitrug, dass sie mehr mit der Krone als mit der Sache der Unabhängigkeit verbunden blieb. Den größten politischen und wirtschaftlichen Einfluss auf die Stadt hatte die Gründung des Vizekönigreichs des Río de la Plata im Jahr 1776, die den Verlauf und die Richtung des neuen Handelsverkehrs veränderte. Zu den Gebäuden, die in dieser Zeit errichtet wurden, gehören der Coliseo de Gallos, die Stierkampfarena von Acho und der Allgemeine Friedhof. Die beiden erstgenannten Gebäude wurden errichtet, um die Aktivitäten des Volkes zu regeln und an einem Ort zu zentralisieren, während der Friedhof der Praxis ein Ende setzte, die Toten in Kirchen zu begraben, die von den Behörden als ungesund angesehen wurden. Die Stadt und ihr Hafen Callao hatten das Monopol für den Warenverkehr zwischen dem Vizekönigreich und dem Mutterland. Das in Peru geförderte Gold und Silber wurde von hier aus über Panama nach Spanien geschifft. Der Reichtum lockte in zunehmendem Maße Piraten an. Einer der bekanntesten, Sir Francis Drake, überfiel 1579 Callao. Erst knapp hundert Jahre später wurde ein Schutzwall gegen die drohenden Übergriffe der Freibeuter errichtet. Zu diesem Zeitpunkt war die Einwohnerzahl Limas bereits auf über 25.000 Bewohner angestiegen. Trotz gelegentlicher Erdbeben – am 20. Oktober 1687 (5.000 Tote) und am 28. Oktober 1746 (18.000 Tote) – wuchs und gedieh die Stadt unvermindert. Im 18. Jahrhundert wurde die Stellung der Stadt durch die Gründung des Vizekönigreichs Neugranada (1717) und des Vizekönigreichs des Río de la Plata (1776) und dem damit verbundenen Gebietsverlust geschwächt. === Unabhängigkeit === Eine gemeinsame Expedition argentinischer und chilenischer Unabhängigkeitskämpfer unter der Führung von General Don José de San Martín landete 1820 südlich von Lima, griff die Stadt jedoch nicht an. Angesichts einer Seeblockade und eines Guerillakrieges auf dem Festland sah sich Vizekönig José de la Serna im Juli 1821 gezwungen, die Stadt zu evakuieren, um die royalistische Armee zu retten. Aus Angst vor einem Volksaufstand und in Ermangelung von Mitteln zur Durchsetzung der Ordnung lud der Stadtrat San Martín ein, die Stadt zu betreten, und unterzeichnete auf seine Bitte hin eine Unabhängigkeitserklärung. Am 28. Juli 1821 rief dort San Martín offiziell die Unabhängigkeit Perus aus, nachdem diese bereits 1820 in Trujillo, wo sich heute das Freiheitsdenkmal „La Libertad“ befindet, erklärt wurde. Am 3. August 1821 wurde San Martín zum Protektor der neuen Republik mit Lima als Hauptstadt erwählt. 1861 lebten in der Stadt etwa 100.000 Menschen. Mitte des 19. Jahrhunderts begann eine Phase der Industrialisierung und 1851 wurde in der peruanischen Hauptstadt die erste Eisenbahnlinie Südamerikas eingeweiht. Wurde Lima die Hauptstadt der neuen Republik Peru. Sie war somit Sitz der Regierung des Befreiers und des ersten verfassungsgebenden Kongresses des Landes. Der Krieg dauerte weitere zwei Jahre, in denen die Stadt mehrmals den Besitzer wechselte und von beiden Seiten mit Gräueltaten überzogen wurde. Als der Krieg am 9. Dezember 1824 in der Schlacht von Ayacucho endete, war Lima stark verarmt. === Republikanische Periode === Nach dem Unabhängigkeitskrieg wurde Lima zur Hauptstadt der Republik Peru, aber die wirtschaftliche Stagnation und die politischen Unruhen im Land lähmten die städtische Entwicklung. Diese Situation änderte sich in den 1850er Jahren, als steigende öffentliche und private Einnahmen aus dem Guano-Export ein rasches Wachstum der Stadt ermöglichten. In den folgenden zwanzig Jahren finanzierte der Staat den Bau großer öffentlicher Gebäude, die die alten vizeköniglichen Einrichtungen ersetzen sollten, darunter der zentrale Markt, der allgemeine Schlachthof, die Nervenheilanstalt, das Zuchthaus und das Krankenhaus Dos de Mayo. Auch die Verkehrsverbindungen wurden verbessert: 1850 wurde eine Eisenbahnlinie zwischen Lima und Callao fertiggestellt, und 1870 wurde eine Eisenbrücke über den Fluss Rímac eingeweiht, die Puente Balta. 1872 wurden die Stadtmauern Limas von dem amerikanischen Ingenieur Henry Meiggs im Auftrag der peruanischen Regierung in Erwartung eines weiteren städtischen Wachstums abgerissen. Diese Zeit der wirtschaftlichen Expansion vergrößerte jedoch auch die Kluft zwischen Arm und Reich und führte zu weit verbreiteten sozialen Unruhen. Während des Salpeterkriegs (1879–1883) besetzten chilenische Truppen vom 17. Januar 1881 bis zum 23. Oktober 1883 (drei Tage nach der Unterzeichnung des Vertrages von Ancón) die Stadt, die chilenische Soldaten nach dem Einmarsch plünderten. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts brachte der Abbau von Guano auf den der Küste vorgelagerten Inseln der Stadt Reichtum und Wohlstand. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts setzte dann ein erneuter Wachstumsschub ein. Im Jahre 1919 lebten 175.000 Menschen in Lima. 20 Jahre später waren es bereits über eine halbe Million. Auch viele ausländische Zuwanderer fanden den Weg an die peruanische Küste. Schon in der Kolonialzeit hatten die Spanier schwarze Sklaven aus Afrika geholt und später kamen Chinesen als Vertragsarbeiter ins Land. So entstand im Laufe der Jahre ein multikulturelles Völkergemisch, das entscheidend zum kosmopolitischen Flair der Stadt beigetragen hat. Die Probleme der Landflucht verschärften sich in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts: Bevölkerungsexplosion, mangelnde Infrastruktur, der Terror des Sendero Luminoso (Leuchtender Pfad) in den 1980er und 1990er Jahren und Naturkatastrophen trieben immer mehr Menschen in die Hauptstadt, aufgefangen von den endlosen Elendsvierteln. Am 17. Oktober 1966 erschütterte ein starkes Erdbeben Lima; mehr als 100 Menschen kamen ums Leben. Am 18. Juni 1986 kam es im Gefängnis Lurigancho, der Frauenstrafanstalt sowie der Gefängnisinsel El Frontón in Callao zu einer Meuterei von 370 vermeintlichen Anhängern des Sendero Luminoso. Die Meuterei wurde von der Regierung mit Waffengewalt niedergeschlagen, in den Männergefängnissen überlebte nur eine Geisel. Insgesamt starben 249 Gefangene; 124 von ihnen wurden erschossen, nachdem sie sich bereits ergeben hatten. Am 17. Dezember 1996 kam es zur Geiselkrise, als 14 Mitglieder des Movimiento Revolucionario Túpac Amaru während eines Empfanges die japanische Botschaft in Lima stürmten und zahlreiche wichtige Persönlichkeiten als Geiseln nahmen. Am 22. April 1997 stürmte die Armee die japanische Botschaft und beendete die Besetzung blutig. Alle 14 Geiselnehmer, eine Geisel und zwei Soldaten kamen dabei ums Leben. 71 Geiseln wurden befreit. In den 1990er Jahren gelangten jährlich bis zu 200.000 Menschen aus ländlichen Regionen nach Lima. Schon einige Jahrzehnte zuvor war die obere Mittelschicht aus dem überfüllten Stadtzentrum weggezogen. Sie gründete neue Stadtviertel wie Miraflores oder San Isidro, während die ganz Reichen in die neuen Viertel Monterrico beziehungsweise La Molina im Osten Limas zogen. In den Vierteln dazwischen leben Angehörige der Mittel- und Unterschicht, aus deren ehemaligen Barackenstädten haben sich nun solide, einfache Wohnviertel entwickelt. === Einwohnerentwicklung === Während die erste Siedlung noch 117 Häuserblocks umfasste, dehnte sich Lima später zunächst hauptsächlich nach Norden aus. 1562 wurde ein weiteres Stadtviertel am anderen Flussufer gebaut. Doch erst im Jahre 1610 wurde die erste Steinbrücke eingeweiht. Zu dieser Zeit hatte Lima etwa 16.000 Einwohner. 1861 überschritt die Bevölkerungszahl die Grenze von 100.000. Bis 1927 hatte sich diese Zahl verdoppelt. Die meisten Zuwanderer kamen jedoch seit den 1950er Jahren. Heute leben rund sieben Millionen Menschen in Lima. Der überwiegende Teil der Zuwanderer siedelt sich an der Peripherie an, so dass sich die Stadt in nördliche und südliche Richtung ausdehnt. Noch in den 1960er Jahren duldete der Staat die Landbesetzungen am Stadtrand, verteilte Besitztitel und sorgte für die nötigsten Infrastrukturleistungen. In den 1970er Jahren wurden dann für viele Menschen mit Wohnsitz an der Peripherie die stundenlangen Busfahrten jeden Tag in das Stadtzentrum zum Problem. Deshalb wurde von der Stadtverwaltung beschlossen, Lima solle sich nicht weiter ausdehnen. Heute lassen sich zahlreiche Wohnungssuchende unerlaubterweise in den öffentlichen Parks, auf Schulgrundstücken oder privatem Besitz nieder, was zu einer Verstärkung des Konfliktes zwischen den armen und reichen Bewohnern führt. Die Einwohnerzahl der Kernstadt (Ciudad de Lima) ohne den Vorortgürtel hat sich in den letzten fünf Jahrzehnten verachtfacht: Lebten 1951 in der Stadt 835.000 Menschen, so waren es bei der Volkszählung 2007 schon 6.960.943 und 2017 8.574.974. Von diesen haben 91 % Spanisch und 8 % Quechua als Muttersprache. Die Bevölkerungsdichte beträgt somit 3209 Einwohner je Quadratkilometer. Im gesamten Verwaltungsgebiet der Stadt, das sich über die gesamte Provinz Lima erstreckt, lebten im Jahr 2017 9.485.405 Menschen. In den Vorstädten und ländlichen Gebieten außerhalb der Kernstadt leben 910.431 Menschen. Die Metropolregion Lima (Área Metropolitana de Lima) umfasst die 43 Bezirke der Provinz Lima (auch Region Lima Metropolitana) und die sechs Bezirke der Region Callao mit zusammen 10.479.899 Einwohnern (2017). Die folgende Übersicht zeigt die Einwohnerzahlen der Kernstadt (ohne ländliche Stadtbezirke von Lima und ohne Callao). Das rasante Bevölkerungswachstum spiegelt sich auch in der kontinuierlichen Expansion des Stadtgebietes wider: === Entwicklung der Wohnsituation === Seit Mitte des 20. Jahrhunderts ist die Einwohnerzahl Limas explosionsartig angestiegen. Die Stadt ist nicht nur mit der Hafenstadt Callao und den früheren Fischerorten an der Pazifikküste zusammengewachsen. Darüber hinaus sind auf den trockenen Böden an der Peripherie große Elendsviertel entstanden (Pueblos jóvenes = „junge Dörfer“ genannt), in denen heute etwa zwei Drittel der Bevölkerung Limas leben. Städtebaulich handelt es sich dabei um informelle Siedlungen. Viele der älteren Siedlungen befinden sich trotz fehlender wichtiger Infrastrukturen (zum Beispiel Leitungswasser) in einem Prozess der allmählichen Konsolidierung. In den letzten Jahren hat sich das Bevölkerungswachstum Limas verlangsamt und der Zustrom aus dem ländlichen Raum konzentriert sich nun verstärkt auf die Mittelstädte Perus. Da der überwiegende Teil des Wachstums der letzten Jahrzehnte durch Landbesetzungen und Eigenbau an der Peripherie der Stadt vonstattenging (informelle Siedlungen), fehlt ein verdichteter Wohnungsbau mit Mehrfamilienhäusern praktisch vollständig. Die ganze Stadt ist, bis auf wenige Ausnahmen, von Einfamilienhäusern mit ein bis drei Stockwerken verschiedener Qualität (vom Villen- bis zum Bastmattenbau) geprägt. Das Stadtzentrum hat in der Vergangenheit an Bedeutung zugunsten anderer Standorte im mittleren Bereich eingebüßt, so dass sich eine polyzentrale Stadtstruktur von ausschließlich mittlerer Dichte herausgebildet hat. Locker bebaute Randbereiche fehlen hingegen fast vollständig. Die Straßenquerschnitte der jüngeren Stadtviertel und damit des größten Teils der Stadt sind durchweg sehr großzügig angelegt worden. == Politik == === Stadtregierung === Der Bürgermeister von Lima ist seit dem 1. Januar 2019 Jorge Muñoz Wells. Sein Vorgänger war von 2015 bis 2018 Luis Castañeda Lossio, der dieses Amt bereits von 2003 bis 2010 innehatte. Im Oktober 2010 war er zurückgetreten, um für die „Alianza Electoral Unidad Nacional“ für die Präsidentschaft zu kandidieren. In der Zwischenzeit war Susana Villarán de la Puente Bürgermeisterin. Sie war erst die zweite Frau, welche dieses Amt bekleidete. Castañeda hatte in seinen vorherigen zwei Amtszeiten vor allem die Verbesserung der unzureichenden Infrastruktur und die Bekämpfung der hohen Kriminalität als Hauptziele. Eine seiner ersten Maßnahmen zu Beginn seiner Amtszeit war die Verbannung der täglich bis zu einem Dutzend Protestveranstaltungen aus dem Stadtzentrum und Regierungsviertel Limas, wobei er die Unterstützung der unter den Protesten leidenden Händler und Geschäftsleute erhielt. Mehrere neuralgische Verkehrsstaupunkte wurden entschärft und einige größere Straßenbauprojekte begonnen. Positiv wurde von den Bürgern das großangelegte Programm zur Begrünung der Stadt aufgenommen, das den Freizeitwert der Stadt erhöhte. Zudem gelang es in seiner Amtszeit, die Müllbeseitigung zu verbessern. Siehe auch: Liste der Bürgermeister der Stadt Lima === Städtepartnerschaften === Lima unterhält Beziehungen unterschiedlicher Art – Städtepartnerschaften, Städtefreundschaften, Kooperationen – mit folgenden Städten: == Kultur und Sehenswürdigkeiten == === Museen === Lima besitzt zahlreiche Museen und Ausstellungszentren. Der archäologische Komplex Huaca Pucllana (auch bekannt als Huaca Juliana) – heute Park und Museum – war zwischen 200 und 700 n. Chr. ein administratives Zeremonialzentrum der Lima-Kultur. Das Instituto Riva-Agüero, 1947 als Forschungszentrum für Gesellschaftswissenschaften der Päpstlichen Katholischen Universität von Peru gegründet, beherbergt unter anderem Sektionen für Archäologie sowie Kunst und Volkskultur. Zum Institut gehören auch das Museum für Kunst und Volkskulturen und das Archäologische Museum Josefina Ramos de Cox. Zu den wichtigsten Museen der Stadt gehört das archäologische Museum Rafael Larco Herrera. Es besitzt die weltweit größte Privatsammlung vorspanischer Kunst. Diese entstand aus den Sammlungen und Fundstücken der Ausgrabungen von Rafael Larco Hoyle. Das Museum Banco Central De Reserva del Perú beherbergt Sammlungen unter anderem der Archäologie, der zeitgenössischen peruanischen Malerei und Volkskunst. Das Museo de Arquelogía y Antropología de la Universitario Mayor de San Marcos (Museum für Archäologie und Anthropologie der Universität San Marcos) wurde 1919 von Julio C. Tello gegründet und war das erste archäologische Museum in Peru, das sich von Anfang an auf die Forschung konzentrierte. Das Goldmuseum (Museo d’Oro) birgt eine Sammlung von Goldornamenten verschiedener vorspanischer Andenkulturen, wie Juwelen und andere Gegenstände, die von Goldschmieden angefertigt wurden. Des Weiteren sind dort eine große Sammlung von Waffen aus der ganzen Welt und bedeutende Stoffe aus der vorinkaischen Zeit ausgestellt. Viele Exponate entstammen zweifelhaften Quellen und sind damit ihrem archäologischen und kulturellen Kontext entzogen. Eine Übersicht über die Geschichte und Geografie von Peru bietet das Nationalmuseum (Museo de la Nación), welches neben archäologischen Fundstücken auch dreidimensionale Modelle bekannter peruanischer archäologischer Orte zeigt (beispielsweise Machu Picchu, Nazca-Linien, Chavín de Huántar). Zurzeit sind allerdings die Dauerausstellungen geschlossen. Das Museo del Banco Central de Reserva del Peru bietet in seiner Ausstellung einen Überblick über präinkaische Kulturen.Das Museo de Arte Italiano präsentiert seit 1923 italienische Kunst. Im Jahre 1981 wurde das Museum der Japanischen Immigration in Peru gegründet. Seit 1997 befährt eine Museumsstraßenbahn einen kurzen Streckenabschnitt auf übrig gebliebenen Straßenbahngleisen in der Avenida Pedro Osma im Stadtteil Barranco. Eingesetzt wird ein restaurierter Breda-Triebwagen aus dem Jahre 1924. Betreiber ist das städtische Elektrizitätsmuseum (Museo de la Electricidad). === Bauwerke === Die Altstadt von Lima mit ihren schachbrettartig angelegten Straßen und prächtigen Bauten aus der Kolonialzeit steht seit 1991 unter dem Schutz der UNESCO und gehört damit zum Weltkulturerbe der Menschheit. Die Kathedrale von Lima, die zwischen 1535 und 1625 erbaut wurde – nach 1746 teilweise restauriert – mit einem Glassarg, in dem der Gründer von Lima, Francisco Pizarro, liegen soll; die Kirche und das Kloster von San Francisco, die durch ihre Größe und Farbe als besterbauter architektonischer Komplex in Lateinamerika betrachtet wird; und Santo Domingo, mit einer wunderschönen Hauptklausur, sind nur einige wenige bekannte Bauwerke von unschätzbarem Wert, die sich in Lima befinden. Neben der Rosenkranz-Basilika befindet sich der Konvent des Dominikanerklosters, der zum großen Teil frisch renoviert ist. Der Kreuzgang ist mit Kacheln aus Sevilla (datiert 1604 und 1606) geschmückt. Ein Kapitelsaal mit Bildern aus der Cusquener Schule und reich geschnitztem Mobiliar stammt von 1730. Dahinter befindet sich ein zweiter Kreuzgang ist mit einem zentralen Brunnen. Unter dem Kapitelsaal ist das Grab der hl. Rosa von Lima und in einer Kapelle das Grab des hl. Martin de Porres. Vom Kirchturm, der schon mehrmals wieder aufgebaut wurde, hat man eine sehr schöne Aussicht über die Altstadt.Den Glanz und Schimmer des Lebens im Vizekönigreich Peru symbolisieren die Häuser Limas wie zum Beispiel das Haus Aliaga, das über dem Göttertempel des Kaziquen Taulichusco errichtet wurde, das Haus Goyoneche oder Rada mit eindeutigem französischen Einfluss, und das Palais des Torre Tagle, einer der schönsten Wohnsitze von 1735. Lima bewahrt auch Erbstücke der vorspanischen Zeit, die an den Ufern des Flusses Rimac und an der Pazifikküste liegen. Das große Heiligtum von Pachacámac ist das wichtigste Erbstück. Es wurde zu Ehren des gleichnamigen Gottes erbaut. Das Heiligtum Pucllana in Miraflores ist ein weiteres Erbstück, welches 400 n. Chr. ein wichtiges administratives Zentrum der Kultur Lima darstellte. Sehenswert sind außerdem die große Plaza Mayor (Plaza de Armas) und das nahe gelegene Rathaus, der Präsidentenpalast von 1938 und einige Sakralbauten aus dem 16. und 17. Jahrhundert wie die Basilika La Merced und San Pedro, die das große Erdbeben von 1746 überstanden. Die Basilika San Pedro wurde nach dem Erdbeben unter der Leitung des Jesuitenpaters Johann Roehr instand gesetzt und erhielt ein von Roehr entwickeltes, in neuartiger Bauweise gemauertes Tonnengewölbe über dem Mittelschiff, das den Erschütterungen eines Erdbebens besser standhält. Das im neokolonialen Stil errichtete erzbischöfliche Palais ist mit Arkaden und Holzbalkonen geschmückt. Die 1794 erbaute Acho-Stierkampfarena – 1945 restauriert – liegt nördlich des Río Rímac. === Parks === Einer der bekanntesten Parks in Lima ist der Universitätspark (Parque Universitario). Im Jahre 1870 wurden die kolonialen Mauern, die Lima umgaben, zerstört und 20.000 Quadratmeter für die Errichtung des Platzes bestimmt. Erst 1921 wurde er mit Pflastersteinen ausgelegt und zum 100. Jahrestag der Unabhängigkeit Perus eine 30 Meter hohe Turmuhr errichtet, welche um 12 Uhr die Nationalhymne spielt. Interessant ist auch Miraflores mit seinen gepflegten Parkanlagen und Gärten. Der Bezirk ist bekannt für seine mit zahlreichen Blumen überfüllten Parks. Erwähnenswert sind dort der Parque Central und der Parque Kennedy. An beiden Parkanlagen vorbei verläuft die Avenida Larco Richtung Meer. Die Strände der Gegend sind ein Teil des „Costa Verde“-Gebietes, wo im Sommer viele Tausende von Surfern ihren Sport ausüben. Einen Besuch wert ist sowohl der Parque del Amor als auch der Parque El Olivar in San Isidro mit seinen Olivenbäumen, die einst im 15. Jahrhundert aus Spanien importiert wurden. Im Süden Limas liegt das Schutzgebiet Refugio de Vida Silvestre Los Pantanos de Villa. Das 263 Hektar große Wasserschutzgebiet ist hauptsächlich für Vogelliebhaber interessant. 154 Vogelarten wurden dort identifiziert, die Hälfte davon Wandervögel. Hinzu kommen 55 Pflanzenarten. Das Sumpfgebiet befindet sich im Bezirk Chorrillos, am Ende der Avenida Huaylas, ganz in der Nähe der Panamericana Sur.Ein weiterer im Süden Limas gelegener Park ist der Reserva Park. In ihm gibt es nachts farbige Wasserspiele, kombiniert mit Lasershows und Skulpturen. === Tapada limeña Mode === Unter Tapada limeña wird eine im 16. Jahrhundert von der spanischen Oberschicht eingeführte Bekleidungsvorschrift für die Mädchen und Frauen von Lima bezeichnet, die bis um 1860 das Erscheinungsbild in den wohlhabenden Quartieren der Stadt prägte. Das Hauptmerkmal dieser Mode war die Verhüllung des Gesichts durch Schleier, jedoch blieb stets ein Auge sichtbar. Die Frauen konnten sich so fast anonym in den Gassen der Stadt bewegen oder von den Fenstern und Balkonen ihrer Wohnung mit Nachbarn sprechen, ihr guter Ruf blieb stets gewahrt, auch konnten körperliche Makel durch die Kleidung verborgen werden. Mit Destapada wurden jene Frauen bezeichnet, die sich dieser Vorschrift widersetzen und ihr Gesicht zur Schau stellten. Erst durch den Einfluss der Pariser Mode verschwand diese Besonderheit Limas in der Mitte des 19. Jahrhunderts. === Sport === Das El Nacional in Lima ist das geschichtsträchtigste Stadion in Peru. Dort spielt für gewöhnlich die peruanische Nationalmannschaft und dort fanden 2004 das Eröffnungsspiel sowie das Finale der Copa América statt. Das Stadion wurde im Jahre 1952 eingeweiht und hat Platz für 45.000 Zuschauer. In den letzten Jahren wurde es mit modernen Kommentatorenkabinen ausgestattet, die Bestuhlung und die elektrischen Installationen sind erneuert worden. Seit dieser Zeit verfügt das Stadion, in dem regelmäßig die beiden Serienmeister des Landes, Alianza Lima und Sporting Cristal, aufeinander treffen, über eine moderne elektronische Anzeigetafel und eine Flutlichtanlage. Eine weitere beliebte Sportart ist der Stierkampf. In der Hauptsaison im Oktober und November kommen international bekannte Toreros nach Lima, in den übrigen Monaten finden meist am Sonnabend- und Sonntagnachmittag Stierkämpfe statt. Diese werden in der Plaza de Acho, der ältesten Stierkampfarena Amerikas, ausgetragen. Interessant sind auch die Hahnenkämpfe, die im Coliseo Tradicional Sandia in Barranco und im El Rosedal in Surco veranstaltet werden. Pferderennen finden im Jockey Club del Perú in Monterrico statt, Radsport im Velódromo de la Videna. === Freizeit und Erholung === In der Nähe von Lima gibt es keine sauberen Strände und die Qualität des Wassers ist sehr schlecht. Für 51 Strände gibt es ein Badeverbot.Die Costa Verde (Grüne Küste) heißt der Küstenstreifen zwischen den Bezirken Miraflores und Chorrillos. Pflanzenbewuchs ist aber nur an wenigen Stellen der Klippen vorhanden. Die Strände bestehen meist aus Kies mit kleineren sandigen Stücken. Zu Miraflores gehören die Surfstrände Punta Roquitas, Pampillas, Miraflores, Makaha und Redondo. Der beliebteste Strand der Costa Verde ist La Herradura in Chorrillos am Fuße des Berges Morro Solar, sowie der Strand Barranquito, welcher zum Bezirk Barranco gehört. Die Buchten verfügen meist nur über eine einfache Infrastruktur, bieten keinen Schatten (auch an bewölkten Tagen ist die Sonneneinstrahlung stark) und die Meeresströmungen des Pazifiks sind recht gefährlich. Trotzdem sind die Strände zwischen Januar und März gut besucht. Beliebt in den Wintermonaten April bis November sind die landeinwärts gelegenen Naherholungsgebiete zwischen den Orten Chaclacayo auf 650 Meter Höhe und Chosica auf 850 Meter Höhe. Sie liegen etwa 25 beziehungsweise 40 Kilometer östlich von Lima entlang der Carretera Central. Dort befinden sich diverse Country Clubs, Restaurants und private Freizeitareale. Eingerahmt ist das Tal auf beiden Seiten von steil aufragenden unbewachsenen Bergketten. Nur im Bereich des Río Rímac ist ein wenig Pflanzenbewuchs zu finden. Auf der Straße nach Chosica steht der rekonstruierte präinkaische Lehmziegelpalast Puruchuco. Er liegt hinter dem gleichnamigen Dorf. Neben Räumen und Gängen stellt ein kleines Museum Fundstücke der Ausgrabungsstätte aus. Weitere Naherholungsgebiete finden sich landeinwärts im Tal des Flusses Lurín, im Bezirk Cieneguilla, mit Freizeitanlagen, Reitmöglichkeiten und Klubs. Eine Zufahrt ist über La Molina, Rinconada und Musa möglich. Auch im Mündungsgebiet desselben Flusses beim Dorf Pachacámac (landeinwärts der Ruinen Pachacamacs bei Lurín) wurden in den letzten Jahren Vergnügungsareale und Parks aufgebaut. 15 Kilometer nordwestlich von Miraflores liegt die Stadt Callao. Dort befinden sich der Hafen, ein Marinestützpunkt und der Aeropuerto Internacional Jorge Chávez. Ein Ausflug von Callao zur Landzunge von La Punta ist lohnend. Von dort können Bootsausflüge zur vorgelagerten Insel Palomino oder Hafenrundfahrten unternommen werden. Zudem befinden sich dort neben der Museumsfestung San Felipe zahlreiche kleine Restaurants, die vorwiegend Meeresfrüchte-Gerichte servieren. === Regelmäßige Veranstaltungen === Eine Prozession zu Ehren der Schutzpatronin Limas, der Heiligen Santa Rosa de Lima (1586–1617), findet jährlich am 30. August statt. Rosa von Lima hieß mit bürgerlichem Namen Isabel de Flores. Ihre Eltern hießen Gaspar de Flores und María de Oliva. Mit 20 Jahren trat sie in den Dritten Orden der Dominikaner ein und nannte sich Rosa a Santa Maria. Sie lebte fortan in einer Hütte in der Nähe des Hauses ihrer Eltern. Mit Weber- und Gärtnerarbeiten verdiente sie ihren Unterhalt. Aus Sühne führte sie ein hartes Büßerleben. Rosa wirkte an der Gründung des ersten kontemplativen Klosters in Südamerika mit, das aber erst nach ihrem Tod 1623 eröffnet werden konnte. Schnell nach ihrem Ableben setzte zunächst in Lima später auch in Peru und schließlich in ganz Lateinamerika ihre Verehrung als Heilige ein. 1671 wurde sie durch Papst Clemens X. offiziell heiliggesprochen und so zur ersten Heiligen Amerikas. Eine weitere wichtige Veranstaltung ist die jährlich am 28. Juli stattfindende Militärparade auf der Plaza Mayor anlässlich des Nationalfeiertages (Fiestas Patrias). Am ersten Sonntag im August wird zu Ehren der Virgen Shiquita, María de la Asunción, mit Umzügen, Prozessionen und Andentänzen in der „Iglesia San José de Barrios Alto“ das Patronatsfest gefeiert. Am 18. Oktober zieht eine Großprozession mit mehreren hunderttausend Gläubigen zu Ehren des Señor de los Milagros, des Herrn der Wunder, durch die Stadt. === Kulinarische Spezialitäten / Restaurants === Besonders im Süden der Stadt, im wohlhabenden Distrikt Miraflores und dem weiter südlich gelegenen Barranco findet sich ein reichhaltiges und diverses Angebot an Restaurants, Cafés und Bars. Eine Spezialität ist die typische Criollo-Küche Limas mit Gerichten mit Fisch und Meeresfrüchten. Zu diesen landestypischen Spezialitäten gehört auch Ceviche – ein Gericht aus rohem Fisch, welcher aber durch die Zugabe von Limettensaft gar ist. Eine weitere Spezialität ist die Causa Limeña, eine kalte Vorspeise, die aus gestampften Kartoffeln fast wie Püree, Thunfisch und Mayonnaise besteht. Die Zutaten werden wie in einer Auflaufform aufeinander gestapelt. Der Turrón de Doña Pepa ist eine sehr dekorative Süßspeise, die besonders im Monat Oktober hergestellt wird, in Verbindung zum kirchlichen Fest des Señor de los Milagros. Weitere Spezialitäten, die man besonders bei kleinen Essständen in den Straßen der Stadt findet, sind: Anticuchos (Spießchen mit mariniertem Rinderherz), Emoliente (Nahrhaftes Getränk aus Leinsamen und weiteren Zutaten) sowie Picarones (Süßspeise aus frittierten Süßkartoffeln mit Zuckersirup). Eine sehr spezielle Mischung verschiedener internationaler Speisen ist die peruanisch-chinesische Küche Chifa, welche in allen Bevölkerungsschichten populär ist und im Gegensatz zur weltweit üblichen China-Küche verschiedene Elemente der andinen und europäischen Küche beinhaltet. Sehr beliebt bei der Stadtbevölkerung sind auch Geflügel am Spieß, genannt Pollo a la brasa, welche in zahlreichen Restaurantketten in allen Preisklassen serviert wird. Im Jahr 2016 waren mit den Restaurants Central, Astrid & Gaston und Maido gleich drei Restaurants in Lima unter die 50 besten Restaurants der Welt gewählt worden. Das Central auf Platz 4, Astrid & Gaston auf Platz 14 und Maido auf Platz 44. === Handel === Das Centro Comercial Jockey Plaza in Surco gehört zu den größten Einkaufszentren der Stadt. Der Konsumtempel wurde im Stil einer US-amerikanischen Mall errichtet. Dort findet man unter anderem Supermärkte, Banken, Boutiquen, Sportgeschäfte, Heimwerkerläden und Restaurants. Das Centro Comercial San Isidro besitzt eine ähnliche Ladenstruktur wie Jockey Plaza, aber kleiner. Das Centro de Entretenimiento Larcomar ist ein modernes, an der Uferpromenade gelegenes Einkaufszentrum mit zahlreichen Restaurants, Cafés, einem großen Kino und Bowlingbahnen. Ein weiteres groß angelegtes Einkaufszentrum ist das Centro Comercial San Miguel, nahe dem wichtigsten Zoo von Lima, dem Parque de las Leyendas, gelegen. Der Mercado Central, ein Obst- und Gemüsemarkt, befindet sich im Zentrum von Lima, zwischen Huallaga und Ucayali. Auf der Rückseite des Parque Reducto erhält man mit dem Ökosiegel „Bio Latina“ ausgezeichnete Bioprodukte wie beispielsweise Vollkornbrot, Eier, Honig und Kaffee. Die Bioferia findet jeden Sonnabendvormittag statt. Der Mercado Indio in Miraflores, das Centro Artesanal Carabaya und das Centro Artesanal Santo Domingo bieten eine große Auswahl von peruanischem Kunsthandwerk (unter anderem Leder, Silber, Holz, Textilien, Keramik). == Wirtschaft und Infrastruktur == === Wirtschaft === Die Hauptstadt ist das größte Wirtschaftszentrum des Landes. Die Metropolregion Lima ist mit rund 7.000 Betrieben der dominierende Schwerpunkt der industriellen Entwicklung geworden. Dazu trägt die große Zahl und höhere Qualität von Arbeitskräften, die Bedeutung des Absatzmarktes, die günstige Infrastruktur und insbesondere die Verkehrserschließung bei. Die bedeutendsten Wirtschaftszweige sind die Textil- und Bekleidungsindustrie sowie Nahrungs- und Genussmittel verarbeitende Industrien. Außerdem werden Chemikalien, Fahrzeuge, Fisch- und Erdölprodukte sowie Lederwaren hergestellt. Siehe auch: Textilzentrum Gamarra Limas Hafen in Callao ist einer der bedeutendsten Fischerei- und Handelshäfen Südamerikas und bewältigt 75 Prozent der Im- und Exporte Perus. Außerdem besitzt er ausgedehnte Kühlhaus-Kapazitäten und mehrere Trockendocks. Wichtigste Exportgüter des Hafens sind Erdöl, Kupfer, Eisen, Silber, Zink, Blei, Baumwolle, Zucker und Kaffee. Diese Rolle soll durch den San Lorenzo Hub Port auf der Isla San Lorenzo weiter ausgebaut werden. Laut einer Studie aus dem Jahr 2014 erwirtschafte der Großraum Lima ein Bruttoinlandsprodukt von 176,4 Milliarden US-Dollar (KKB) was ein bedeutender Teil der gesamten Wirtschaftsleistung des Landes ist. In der Rangliste der wirtschaftsstärksten Metropolregionen weltweit belegte er damit den 70. Platz. Das BIP pro Kopf betrug 16.530 US-Dollar. Das durchschnittliche jährliche Wirtschaftswachstum der letzten fünf Jahre lag zwischen vier und fünf Prozent. Das durchschnittliche Monatseinkommen in Lima beträgt S/.1.238 (ca. 400 Euro) für die männlichen Einwohner, während es für die Frauen S/.839 sind (nur 67,8 % des Einkommens der Männer).Der Fremdenverkehr spielt eine wichtige Rolle für die Wirtschaft von Lima. Mit knapp 4 Millionen ausländischen Besuchern stand Lima 2016 auf Platz 32 der meistbesuchten Städte weltweit und belegte den ersten Platz in Südamerika. Touristen brachten im selben Jahr Einnahmen von 1,4 Milliarden US-Dollar. Die meisten ausländischen Besucher kamen aus Südamerika, Europa und den USA.Lima ist Sitz fast aller großen nationalen Konzerne, Banken und Versicherungen sowie der Bolsa de Valores de Lima (BVL), der Börse von Peru. Die 1860 als „Bolsa de Comercio de Lima“ gegründete Börse erhielt 1971 ihren heutigen Namen. Auch der größte Teil der ausländischen Betriebe in Peru hat sich in Lima angesiedelt. Das hat zu einer starken Konzentration der Industrie, insbesondere des Managements sowie der Forschungs- und Vertriebsabteilungen in Lima geführt. Auch die regionalen Verflechtungen der Industrie werden überwiegend von der Hauptstadt aus bestimmt, so dass die Metropolregion ein ausgeprägtes Zentrum-Peripherie-Verhältnis aufweist. Probleme bereiten die hohe Luftverschmutzung durch den Schadstoffausstoß der Industrie und die Abgase der Kraftfahrzeuge (hohe Ozon- und Kohlenmonoxidwerte) sowie der Verkehrslärm. In der Industrie, die sich im Ballungsgebiet von Lima konzentriert, bestehen nur unzureichende Entsorgungs- und Reinigungskapazitäten für Abwasser, Abgas und Abfälle. Vor allem die Menschen in den Marginalsiedlungen sind durch Infektionserkrankungen gefährdet, die durch unzureichende hygienische Bedingungen und eine mangelhafte Trinkwasserversorgung begünstigt werden. Hinzu kommen Atemwegs- und Hauterkrankungen aufgrund der giftigen Emissionen der zahlreichen Industriebetriebe und des Autoverkehrs. In einer Rangliste der Städte nach ihrer Lebensqualität belegte Lima im Jahre 2018 den 124. Platz unter 231 untersuchten Städten weltweit. Im Vergleich mit anderen südamerikanischen Hauptstädten lag es hinter Montevideo (Platz 77), Buenos Aires (Platz 91), Santiago de Chile (Platz 92) und Brasília (Platz 108) aber noch vor Bogotá (Platz 128) und Caracas (Platz 193). === Verkehr === ==== Fernverkehr ==== Die größte Stadt des Landes ist der wichtigste Verkehrsknotenpunkt Perus mit einem internationalen Flughafen und Anbindung an die Panamericana. Letztere ist die wichtigste Straßenverbindung aus Lima heraus. Sie führt in Richtung Norden (Panamericana Norte; Grenze zu Ecuador) und nach Süden (Panamericana Sur; Grenze zu Chile) entlang der Pazifikküste zur jeweiligen Grenze. Die Fahrtzeit beträgt rund 15 bis 20 Stunden. Die West-Ost-Verbindung in die Anden nennt sich Carretera Central. Sie führt zunächst nach La Oroya, wo sich die Straße gabelt. Richtung Norden gelangt man über Tingo Maria nach Pucallpa, Richtung Süden geht es nach Huancayo. In Lima gibt es 131 Busbahnhöfe, 49 funktionieren ohne behördliche Genehmigung. Zu den offiziellen Busterminals gehören Yerbateros, (Carretera Central, San Luis); Atocongo, (C./Los Álamos, Surco) und Plaza Norte (Av. Túpac Amaru Independencia).Die erste Bahnstrecke in Südamerika wurde am 17. Mai 1851 zwischen Lima und dem 13 Kilometer entfernten Callao in Betrieb genommen. Die heutige Strecke zwischen beiden Städten, Teil der Bahnstrecke Lima–La Oroya, verläuft aber auf einer anderen Trasse. Der „Hauptbahnhof“ von Lima war die Estación de Desamparados in der Javier Ancash, unweit der Plaza Mayor im Zentrum Limas. Da es hier keinen planmäßigen Personenverkehr mehr gibt, wird das repräsentative Empfangsgebäude heute kulturell genutzt. Zwischen April und November verkehrt alle zwei Wochen ein touristischer Zug der Ferrocarril Central Andino zwischen Lima und Huancayo über die Strecke.Der internationale Flughafen von Lima heißt Aeropuerto Internacional Jorge Chávez. Er liegt an der Avenida Faucett, rund 15 Kilometer nordwestlich des Stadtzentrums in Callao. Dort starten und landen alle nationalen beziehungsweise internationalen Flüge. Der Flughafen wurde 1960 eröffnet und verfügt über eine Start- und Landebahn. Seit 2001 wird er von „Lima Airport Partners“ (LAP), einem Joint Venture der Unternehmen „Alterra Partners“ und Fraport AG betrieben. Weiterhin liegt im südlichen Stadtteil San Bartolo der Flugplatz Lib Mandi. ==== Nahverkehr ==== Am 24. März 1878 fuhr die erste Pferdestraßenbahn und am 17. Februar 1904 die erste elektrische Straßenbahn in Lima. Der Betrieb wurde am 18. September 1965 eingestellt. Trolleybusse verkehrten zwischen 1928 und 1931 in der Stadt.In Lima gibt es einen 35 Kilometer langen Abschnitt der am 18. Januar 2003 eröffneten Metro de Lima. Die Metro verkehrt täglich zwischen 6 und 22 Uhr. Eine zweite Linie befindet sich im Bau und soll 2024 fertig gestellt werden. Es verkehren Gliederbusse in eigenen Fahrspuren zwischen dem Süden (Chorrillos) und dem Norden. Die Länge der Busspur beträgt 26 km. Es gibt 38 Haltestellen. Mit dem Bau des „Metropolitano“ genannten Transportsystems wurde 2006 unter Luis Castañeda Lossio begonnen. Es ist seit dem 28. Juli 2010 in Betrieb. Dazu kommen noch Zubringerbusse, welche Passagiere aus den Außenbezirken an die Knotenpunkte bringen. Der öffentliche Nahverkehr wird daneben privat von Bussen, Kleinbussen, Taxis und in einigen Stadtvierteln auch von Mototaxis abgewickelt. Dementsprechend chaotisch ist der Straßenverkehr. Feste Haltestellen finden sich nur an wenigen Stellen. Wer mitfahren möchte, stellt sich an den Straßenrand und macht ein Handzeichen. Auf den Hauptverkehrsachsen der Stadt verkehren Transportmittel im Sekundentakt. Das Fahrtziel steht an der Frontscheibe angeschrieben. In den letzten Jahren hat sich die Anzahl der Taxis auf Limas Straßen vervielfacht. Grund hierfür sind die schlechte wirtschaftliche Lage, die niedrigen Gehälter und die hohe Arbeitslosigkeit. So ist es keine Ausnahme, wenn ein Taxifahrer über einen akademischen Abschluss verfügt oder als Arzt in einem Krankenhaus gearbeitet hat. Viele der privaten Taxifahrer besitzen kein eigenes Fahrzeug und müssen von ihrem niedrigen Arbeitsentgelt die Wagenmiete bezahlen. Teilweise gibt es in Lima Radwege. Dies vor allem in den wohlhabenderen Vierteln wie Miraflores. Umliegende Gebiete und Städte sollen künftig mit Regionalzügen angefahren werden, die an gewissen Punkten an den öffentlichen Nahverkehr in Lima anbinden (z. B. Endhaltestellen der Metro). === Medien === Zu den wichtigsten Tageszeitungen in Lima gehören das Amtsblatt El Peruano, die linksoppositionelle La República, die konservative Zeitung El Comercio, die als regierungsfreundlich geltende Tageszeitung Expreso sowie die Zeitschrift Caretas. Weitere Zeitungen in der Hauptstadt sind Diario Correo, El Bocón, Informalisimo, Ojo und Gestión. Bedeutende Radiostationen sind Radio Alpamayo, Radio América, Radio Nacional, Radio A, Radio Inca Sat, CPN und RPP Noticias 2, die alle ein breites Angebot an Informationen und Musik ausstrahlen. Weitere Rundfunkstationen sind die christlichen Sender Radio Santa Rosa, Radio María, Sol – Frecuencia Primera und La Luz, die Sportsender Radio Ovación und RPP Noticias 1, Radio 100 (erstes peruanisches Radio im FM-Sendebereich), Radio Rítmo Romantica und Panamericana Radio. Die wichtigsten landesweit ausgestrahlten Fernsehstationen sind América Televisión, ATV, Frecuencia Latina, Panamericana und Red Global. Die Sender bieten einen Mix aus Information, Unterhaltung, Sport und Spielfilmen. Kabel- und Satellitenfernsehen ist noch nicht sehr verbreitet und wird fast ausschließlich von Menschen der oberen Einkommensschichten genutzt. === Bildung === Von den 13 Hochschulen in Lima sind die am 12. Mai 1551 eröffnete Universidad Nacional Mayor de San Marcos – die älteste Südamerikas – die 1896 errichtete Universität für Ingenieurwesen (Universidad Nacional de Ingeniería) und die agrarwissenschaftliche Universität (Universidad Nacional Agraria La Molina) von 1902 die bekanntesten. Die Universität San Marcos wurde im Dominikanerkloster von Lima auf Anweisung von Fray Thomas de San Martín gegründet, aber unter der Herrschaft des Vizekönigs Francisco de Toledo (1515–1582) den Dominikanern entzogen und weltgeistlicher Verwaltung unterstellt. Die Mönchsorden stellten weiterhin nach einem Proporzsystem die Hochschullehrer, die in den ordenseigenen Colegios dafür ausgebildet wurden. Im Jahre 2002 waren an der Universität 29.710 Studenten und weitere 3549 postgraduierte Studenten immatrikuliert. Die 1917 eröffnete Katholische Universität (Pontificia Universidad Católica del Perú) ist die älteste private Universität des Landes. Sie gliedert sich in zehn Fakultäten. An diesen werden etwa 40 verschiedene Studiengänge angeboten. === Wasserversorgung === Für die Wasserversorgung ist das in staatlicher Hand befindliche Unternehmen SEDAPAL (Servicio de Agua Potable y Alcantarillado para Lima) verantwortlich. Lima ist nach Kairo die größte in einer Wüste befindliche Stadt. Das Wasser kommt von drei Aufbearbeitungsanlagen aus den Anden (Chillón, Huachipa und y La Atarjea). == Panoramaansichten == == Söhne und Töchter der Stadt == Zu den Söhnen und Töchtern der Stadt Lima gehören u. a. folgende Persönlichkeiten. Politiker: Juan Egaña Risco (1768–1836), chilenischer Politiker peruanischer Herkunft und 1823 Staatsoberhaupt Chiles für eine Woche Felipe Santiago de Salaverry (1806–1836), General und Präsident Perus von 1835 bis 1836 Antonio Arenas (1808–1891), Jurist, Militär, Politiker und von 1885 bis 1886 Präsident von Peru Juan González de la Pezuela y Ceballos (1809–1906), spanischer Politiker und Diplomat Manuel Yrigoyen Arias (1830–1912), Diplomat und Politiker José Pardo y Barreda (1864–1947), Politiker, Präsident Perus von 1904 bis 1908 und von 1915 bis 1919 Pedro Gerardo Beltrán Espantoso (1897–1979), Ökonom, Diplomat, Verleger und Politiker Carlos Moreyra y Paz Soldán (1898–1981), Politiker Fernando Belaúnde Terry (1912–2002), Architekt und Politiker, Präsident Perus von 1963 bis 1968 und von 1980 bis 1985 Fernando Schwalb López Aldana (1916–2002), Politiker Javier Pérez de Cuéllar (1920–2020), Diplomat, Politiker, von 1982 bis 1991 Generalsekretär der Vereinten Nationen und von 2000 bis 2001 peruanischer Premierminister Alberto Fujimori (* 1938), japanisch-peruanischer Politiker, Präsident Perus von 1990 bis 2000 Carlos Ferrero Costa (* 1941), Ministerpräsident Perus und Präsident des Kongresses von Peru Allan Wagner Tizón (* 1942), Diplomat und Politiker Óscar Maúrtua (* 1947), Rechtsanwalt, Diplomat und Politiker Alan García (1949–2019), Rechtsanwalt und Politiker; Präsident Perus von 1985 bis 1990 und von 2006 bis 2011 Pedro Cateriano (* 1958), ehemaliger Verteidigungsminister, PremierministerSportler: Jorge Sarmiento (1900–1957), Fußballspieler Mario de las Casas (1901 oder 1905–2002), Fußballspieler und -trainer José María Lavalle (1902 oder 1911–1984), Fußballspieler Antonio Maquilón (1902–1984), Fußballspieler Domingo García (1904–1986), Fußballspieler Eduardo Astengo (1905–1969), Fußballspieler Alberto Denegri (1906–1973), Fußballspieler und -trainer Plácido Galindo (1906–1988), Fußballspieler Jorge Góngora (1906–1999), Fußballspieler Alberto Soria (1906–1980), Fußballspieler Demetrio Neyra (1908–1957), Fußballspieler Alejandro Villanueva (1908–1944), Fußballspieler Juan Valdivieso (1910–2007), Fußballspieler und -trainer Félix Salinas (* 1939), Fußballspieler Alberto Gallardo (1940–2001), Fußballspieler und -trainer Luis Cruzado (1941–2013), Fußballspieler Nicolás Fuentes (1941–2015), Fußballspieler Oscar Quiñones Carrillo (* 1941), Schachspieler und -lehrer José del Castillo (* 1943), Fußballspieler und -trainer Pedro González (* 1943), Fußballspieler Ramón Mifflin (* 1947), Fußballspieler, -trainer und Sportkommentator Salvador Salguero (* 1951), Fußballspieler Eusebio Acasuzo (* 1952), Fußballspieler César Cueto (* 1952), Fußballspieler Guillermo La Rosa (* 1952), Fußballspieler Ernesto Labarthe (* 1956), Fußballspieler Cecilia Tait (* 1962), Volleyballnationalspielerin Jaime Yzaga (* 1967), Tennisspieler Roberto Carcelén (* 1970), Skilangläufer Claudio Pizarro (* 1978), Fußballspieler Rodrigo Pacheco (* 1983), Badmintonspieler Jefferson Farfán (* 1984), Fußballspieler José Carvallo (* 1986), Fußballspieler Christian Ramos (* 1988), Fußballspieler Aldo Corzo (* 1989), Fußballspieler Carlos Cáceda (* 1991), Fußballspieler Miguel Araujo (* 1994), Fußballspieler Nilson Loyola (* 1994), Fußballspieler Pedro Aquino (* 1995), Fußballspieler Sergio Peña (* 1995), peruanisch-spanischer Fußballspieler Kazuyoshi Shimabuku (* 1999), Fußballspieler Matías Succar (* 1999), FußballspielerMusiker: José Bernardo Alcedo (1788–1878), Komponist Renzo Bracesco (1888–1982), italienischer Komponist und Musikpädagoge Raoul de Verneuil (1899–1975), Komponist und Dirigent Celso Garrido Lecca (* 1926), Komponist Luigi Alva (* 1927), Sänger Pozzi Escot (* 1933), US-amerikanische Komponistin Betty Missiego (* 1945), spanische Schlagersängerin peruanischer Herkunft Ernesto Palacio (* 1946), Tenor und Opern-Agent Lissette (* 1947), kubanische Sängerin, Komponistin und Schauspielerin Lorenzo Palacios Quispe (1950–1994), Sänger und Musiker Juan Diego Flórez (* 1973), peruanisch-österreichischer Opernsänger Jorge Villavicencio Grossmann (* 1973), Komponist und MusikpädagogeSchriftsteller Ricardo Palma (1833–1919), Schriftsteller und Dichter Isabel Allende (* 1942), chilenisch-US-amerikanische Schriftstellerin und Journalistin Alonso Cueto (* 1954), Schriftsteller Álvaro Vargas Llosa (* 1966), Schriftsteller und Publizist == Literatur == Carlos Aguirre, Charles F. Walker (Hrsg.): The Lima Reader: History, Culture, Politics. Duke University Press, Durham 2017, ISBN 978-0-8223-6348-4. Henry A. Dietz: Urban poverty, political participation, and the state. Lima, 1970–1990. University of Pittsburgh Oress, Pittsburgh 1998 (Volltext). Peter Faecke: Lima, die Schöne, Lima, die Schreckliche. Edition Köln, Köln 2005, ISBN 3-936791-16-3. Gustavo Gutierrez (Vorwort), Franz Marcus: Kirche und Gewalt in Peru. Befreiende Pastoral am Beispiel eines Elendsviertels in Lima. LIT, Münster 1998, ISBN 3-8258-3958-3. Eberhard Kross: Die Barriadas von Lima. Stadtentwicklungsprozesse in einer lateinamerikanischen Metropole. Ruhr-Universität, Bochum 1992, ISBN 3-931128-44-X. Stefan Roggenbuck: Straßenkinder in Lateinamerika. Sozialwissenschaftliche Vergleichsstudie – Bogotá (Kolumbien), São Paulo (Brasilien) und Lima (Peru). Peter Lang, Frankfurt am Main 1993, ISBN 3-631-45894-0. Gerhard Stapelfeldt: Verelendung und Urbanisierung in der Dritten Welt. Der Fall Lima/Peru. Verlag für Entwicklungspolitik, Saarbrücken 1990, ISBN 3-88156-477-2. == Weblinks == Website der Municipalidad Metropolitana de Lima Goethe-Institut Lima Eintrag auf der Website des Welterbezentrums der UNESCO (englisch und französisch). == Einzelnachweise ==
https://de.wikipedia.org/wiki/Lima
Carl von Linné
= Carl von Linné = Carl von Linné (latinisiert Carolus Linnaeus; vor der Erhebung in den Adelsstand 1756 Carl Nilsson Linnæus; * 23. Mai 1707 in Råshult bei Älmhult; † 10. Januar 1778 in Uppsala) war ein schwedischer Naturforscher, der mit der binären Nomenklatur die Grundlagen der modernen botanischen und zoologischen Taxonomie schuf. Sein offizielles botanisches Autorenkürzel lautet „L.“. In der Zoologie werden „Linnaeus“, „Linné“ und „Linnæus“ als Autorennamen verwendet. Linné setzte sich als Student in seinem Manuskript Praeludia Sponsaliorum Plantarum mit der noch neuen Idee von der Sexualität der Pflanzen auseinander und legte mit diesen Überlegungen den Grundstein für sein späteres Wirken. Während seines Aufenthaltes in Holland entwickelte er in Schriften wie Systema Naturae, Fundamenta Botanica, Critica Botanica und Genera Plantarum die theoretischen Grundlagen seines Schaffens. Während seiner Tätigkeit für George Clifford in Hartekamp konnte Linné zum ersten Mal viele seltene Pflanzen direkt studieren und schuf mit Hortus Cliffortianus das erste nach seinen Prinzipien geordnete Pflanzenverzeichnis. Nach der Rückkehr aus dem Ausland arbeitete Linné für kurze Zeit als Arzt in Stockholm. Er gehörte hier zu den Gründern der Schwedischen Akademie der Wissenschaften und war deren erster Präsident. Mehrere Expeditionen führten ihn durch die Provinzen seiner schwedischen Heimat und trugen zu seiner Anerkennung bei. Ende 1741 wurde Linné Professor an der Universität Uppsala und neun Jahre später deren Rektor. In Uppsala führte er seine enzyklopädischen Anstrengungen weiter, alle bekannten Mineralien, Pflanzen und Tiere zu beschreiben und zu ordnen. Seine beiden Werke Species Plantarum (1753) und Systema Naturæ (in der zehnten Auflage von 1758) begründeten die bis heute verwendete wissenschaftliche Nomenklatur in der Botanik und der Zoologie. == Leben == === Kindheit und Schule === Carl Linnæus wurde am 23. Mai 1707 in der ersten Stunde nach Mitternacht im kleinen Ort Råshult im Kirchspiel Stenbrohult in der südschwedischen Provinz Småland geboren. Er war das älteste von fünf Kindern des Geistlichen Nils Ingemarsson Linnæus und dessen Frau Christina Brodersonia. Sein Vater interessierte sich sehr für Pflanzen und kultivierte in seinem Garten einige ungewöhnliche Pflanzen aus Deutschland. Diese Faszination übertrug sich auf seinen Sohn, der jede Gelegenheit nutzte, um Streifzüge in die Umgebung zu unternehmen und sich die Namen der Pflanzen von seinem Vater nennen zu lassen. Seine schulische Ausbildung begann im Alter von sieben Jahren durch einen Privatlehrer, der ihn zwei Jahre lang unterrichtete. 1716 schickten ihn seine Eltern auf die neu errichtete Domschule in Växjö mit dem Ziel, dass er später wie sein Vater und Großvater Pfarrer werden sollte. Der junge Linné litt unter den strengen Erziehungsmethoden der Schule. Das änderte sich erst, als er 1719 die Bekanntschaft des Studenten Gabriel Höök machte, der ihn privat unterrichtete. 1724 wechselte er an das Gymnasium. 1726 reiste sein Vater nach Växjö, um den Arzt Johan Stensson Rothman in einer medizinischen Angelegenheit zu konsultieren und sich über die Leistungen seines Sohnes zu informieren. Er musste erfahren, dass sein Sohn in den für das Pfarramt notwendigen Fächern Griechisch, Hebräisch, Theologie, Metaphysik und Rhetorik nur mäßige Leistungen erbrachte und ihnen wenig Interesse entgegenbrachte. Hingegen glänzte sein Sohn in Mathematik und den Naturwissenschaften, aber auch in Latein. Rothman, der das Talent Linnés für eine medizinische Laufbahn erkannte, bot dem schockierten Vater an, seinen Sohn unentgeltlich in sein Haus aufzunehmen und ihn in Botanik und Physiologie zu unterrichten. Rothman machte Linné mit dem Klassifizierungssystem der Pflanzen von Joseph Pitton de Tournefort bekannt und wies ihn auf Sébastien Vaillants Schrift zur Sexualität der Pflanzen hin. === Studium === Im August 1727 ging Linné nach Lund, um an der dortigen Universität zu studieren. Am Ende seiner Schulzeit hatte er vom Rektor des Gymnasiums Nils Krok ein nicht sehr schmeichelhaftes Schreiben für seine Bewerbung in Lund erhalten. Sein alter Freund Gabriel Höök, mittlerweile Magister der Philosophie in Lund, riet ihm, das Schreiben nicht zu verwenden. Er stellte dem Rektor der Universität Lund Linné stattdessen als seinen Privatschüler vor und erreichte so die Immatrikulation an der Universität Lund. Höök überzeugte Professor Kilian Stobæus, Linné in sein Haus aufzunehmen. Stobæus besaß neben einer reichhaltigen Naturaliensammlung eine sehr umfangreiche Bibliothek, die Linné jedoch nicht benutzen durfte. Durch den deutschen Studenten David Samuel Koulas, der zeitweise als Sekretär von Stobæus beschäftigt war, erhielt er dennoch Zugriff auf die Bücher, die er bis spät in die Nacht studierte. Im Gegenzug vermittelte er Koulas seine bei Rothman erlernten Kenntnisse in Physiologie. Verwundert über die nächtlichen Aktivitäten seines Zöglings trat Stobæus eines Nachts unvermittelt in das Zimmer Linnés und fand ihn zu seiner Überraschung in das Studium der Werke von Andrea Cesalpino, Caspar Bauhin und Joseph Pitton de Tournefort vertieft. Fortan hatte Linné freien Zugriff auf die Bibliothek. Während seines Aufenthaltes in Lund unternahm Linné regelmäßig Exkursionen in die Umgebung. So auch an einem warmen Tag Ende Mai 1728, als er mit seinem Kommilitonen Mattias Benzelstierna die Natur in Fågelsång erkundete und von einem kleinen, unscheinbaren Tier, der „Höllenfurie“, gebissen wurde. Die Wunde entzündete sich und konnte nur mit Mühe behandelt werden. Linné entging nur knapp dem Tod. Zur Erholung fuhr Linné im Sommer in seine Heimat. Hier traf er seinen Lehrer Rothman wieder, dem er von seinen Erfahrungen an der Universität Lund berichtete. Durch diesen Bericht gelangte Rothman, der an der Universität Uppsala studiert hatte, zu der Überzeugung, dass Linné sein Medizinstudium besser in Uppsala fortsetzen sollte. Linné folgte diesem Rat und brach am 3. September 1728 nach Uppsala auf. Die Zustände, die Linné an der dortigen Universität vorfand, waren desolat. Olof Rudbeck der Jüngere hielt einige wenige Vorlesungen über Vögel und Lars Roberg philosophierte über Aristoteles. Es gab keine Vorlesungen über Medizin und Chemie, es wurden keine Obduktionen durchgeführt und im alten Botanischen Garten wuchsen kaum zweihundert Arten. Im März 1729 machte Linné die Bekanntschaft von Peter Artedi, mit dem ihn bis zu dessen frühem Tod eine feste Freundschaft verband. Artedis Hauptinteresse galt der Chemie, aber er war auch Botaniker und Zoologe. Die beiden Freunde versuchten sich gegenseitig mit ihren Forschungen zu übertrumpfen. Sie merkten bald, dass es besser wäre, wenn sie die verschiedenen Gebiete der drei Naturreiche entsprechend ihren Interessen unter sich aufteilen würden. Artedi übernahm die Amphibien, Reptilien und Fische, Linné die Vögel und Insekten sowie, mit Ausnahme der Doldenblütler, die gesamte Botanik. Gemeinsam bearbeiteten sie die Säugetiere und die Mineralien. Etwa zu dieser Zeit nahm ihn Olof Celsius der Ältere in sein Haus auf. Linné half Celsius bei der Fertigstellung von dessen Werk Hierobotanicon. Die finanzielle Situation Linnés besserte sich. Im Juni 1729 erhielt er ein Königliches Stipendium (II. Klasse), das im Dezember 1729 (I. Klasse) noch einmal erhöht wurde. Zum Ende des Jahres 1729 entstand seine erste bedeutende Schrift Praeludia Sponsaliorum Plantarum, in der er sich zum ersten Mal mit der Sexualität der Pflanzen auseinandersetzte und die Wegbereiter für sein weiteres Lebenswerk war. Die Schrift wurde schnell bekannt und Olof Rudbeck suchte die persönliche Bekanntschaft Linnés. Zunächst verschaffte er Linné, gegen den Widerstand Robergs, die Stelle des Demonstrators des Botanischen Gartens und stellte ihn als Lehrer seiner drei jüngsten Söhne ein. Mitte Juni zog Linné in Rudbecks Haus. 1730/31 arbeitete Linné an einem Katalog der Pflanzen des Botanischen Gartens von Uppsala (Hortus Uplandicus, späterer Titel Adonis Uplandicus), von dem mehrere Fassungen entstanden. Die Pflanzen waren anfangs noch nach dem Tournefortschen System für die Klassifizierung der Pflanzen angeordnet, an dessen Gültigkeit Linné jedoch immer mehr Zweifel kamen. In der endgültigen Fassung vom Juli 1731, die er in Stockholm beendete, ordnete er die Pflanzen nach seinem eigenen aus 24 Klassen bestehenden System. Während dieser Zeit entstanden die ersten Entwürfe zu seinen frühen Werken, die in Amsterdam veröffentlicht wurden. Ende 1731 sah sich Linné veranlasst, Rudbecks Haus zu verlassen, da die Frau des Universitätsbibliothekars Andreas Norrelius (1679–1750), die in dieser Zeit ebenfalls dort wohnte, Gerüchte über ihn verbreitete, die das gute Verhältnis zu Rudbecks Familie untergruben. Er verbrachte den Jahreswechsel bei seinen Eltern. === Reise durch Lappland === In einem Brief vom 26. Dezember 1731 empfahl sich Linné der Königlichen Gesellschaft der Wissenschaften in Uppsala für eine Expedition in das weitgehend unerforschte Lappland und bat um die notwendige finanzielle Unterstützung. Als er keine Antwort erhielt, unternahm er Ende April 1732 einen weiteren Versuch und senkte den für die Reise notwendigen Geldbetrag um ein Drittel. Dieses Mal wurde ihm der Betrag gewährt und er begann am 23. Mai seine erste große Expedition. Die beschwerliche Reise dauerte knapp fünf Monate. Während der Reise hielt er alle seine Erlebnisse und Entdeckungen in einem Tagebuch fest. Am 21. Oktober 1732 traf er wieder in Uppsala ein. Zu den Strapazen der Reise und den Schulden, die Linné zusätzlich auf sich genommen hatte, kam noch die Enttäuschung, dass die Akademie nur wenige Seiten seiner Ergebnisse publizierte. Sein Buch über die lappländische Pflanzenwelt, Flora Lapponica, wurde erst 1737 in Amsterdam veröffentlicht. Von dieser Reise brachte er erstmals Spielregeln und Spielbrett des zur Wikingerzeit weit verbreiteten Spiels Tablut mit. === Falun und die Reise durch Dalarna === Im Frühjahrssemester 1733 hielt Linné private Kurse in Dokimastik und schrieb eine kurze Abhandlung über das für ihn neue Thema. Er katalogisierte seine Vogel- und Insektensammlung und arbeitete an zahlreichen Manuskripten. Von Clas Sohlberg, einem seiner Studenten, erhielt er eine Einladung, den Jahreswechsel 1733/1734 bei dessen Familie in Falun zu verbringen. Clas’ Vater, Eric Nilsson Sohlberg, war Inspektor der dortigen Minen, und so ergab sich für Linné die Möglichkeit, die Arbeit in den Minen ausgiebig zu studieren. Er kehrte erst im März 1734 nach Uppsala zurück und gab weiter Privatunterricht in Mineralogie, Botanik und Diätetik. Während des Aufenthaltes in Falun machte Linné die Bekanntschaft von Johan Browall, der die Kinder des Gouverneurs der Provinz Dalarna, Nils Reutersholm, unterrichtete. Reutersholm war beeindruckt von den Berichten über Linnés Lapplandreise und plante, eine solche Erkundungsreise in der von ihm verwalteten Provinz durchzuführen. Es fanden sich genügend Geldgeber für das Unternehmen, und die aus acht Mitgliedern bestehende Societas Itineraria Reuterholmiana (Reuterholm-Reise-Gesellschaft), der Linné als Präsident vorstand, wurde gegründet. Die Reise durch die Provinz Dalarna begann am 3. Juli 1734 und dauerte bis zum 18. August 1734. Linnés Reisebericht Iter Dalecarlicum wurde erst posthum veröffentlicht. Linné blieb in Falun und übernahm den Unterricht von Reutersholms Söhnen. Browall überzeugte ihn, ins Ausland zu gehen, um dort seinen Doktorgrad zu erhalten, der ihm bisher aufgrund seiner angespannten finanziellen Situation verwehrt geblieben war. Es fand sich schließlich eine Lösung für die Reisekosten. Linné sollte Clas Sohlberg nach Holland begleiten und unterrichten und dort promovieren. Er kehrte nach Uppsala zurück, um seine Reisevorbereitungen zu treffen, und traf nach einem kürzeren Aufenthalt in Stockholm Ende des Jahres wieder in Falun ein. Zum Jahreswechsel 1734/35 lernte er Sara Elisabeth Moraea kennen, eine Tochter des Stadtarztes von Falun, und machte ihr einen Heiratsantrag. Dieser wurde von ihrem Vater, der auf die wirtschaftliche Unabhängigkeit seiner Tochter bedacht war, unter der Bedingung akzeptiert, dass Linné seinen Doktorgrad erwerben und die Hochzeit innerhalb der nächsten drei Jahre stattfinden würde. === Drei Jahre in Holland === Linnés Reise südwärts führte ihn über Växjö und Stenbrohult. Am 15. April 1735 brach er von Stenbrohult nach Deutschland auf. Anfang Mai erreichte er Travemünde und begab sich sogleich nach Lübeck, von wo er am nächsten Morgen mit der Postkutsche nach Hamburg reiste. Hier lernte er Johann Peter Kohl kennen, den Herausgeber der Zeitschrift Hamburgische Berichte von Neuen Gelehrten Sachen. Er besuchte den umfangreichen Garten des Juristen Johann Heinrich von Spreckelsen, in dem er unter anderem 45 Aloe- und 56 Mittagsblumen-Arten zählte. Auch der Bibliothek von Johann Albert Fabricius stattete er einen Besuch ab. Als Linné unvorsichtigerweise eine siebenköpfige Hydra, die zu einem hohen Preis zum Verkauf stand und dem Bruder des Hamburger Bürgermeisters Johann Anderson gehörte, als Fälschung entlarvte, riet ihm der Arzt Gottfried Jacob Jänisch, Hamburg zügig zu verlassen, um möglichem Ärger aus dem Weg zu gehen. So brach Linné schon am 27. Mai von Altona nach Holland auf. Am 13. Juni kam Linné in Amsterdam an. Hier hielt er sich nur wenige Tage auf und segelte am Abend des 16. Juni nach Harderwijk, um endlich den lang erwarteten Abschluss als Doktor der Medizin zu erhalten. Noch am selben Tag schrieb er sich in das Album Studiosorum der Universität Harderwijk ein. Zwei Tage später bestand er bei Johannes de Gorter seine Prüfung als Candidatus Medicinae und übergab diesem seine Dissertation Hypothesis Nova de Febrium Intermittentium Causa, die er schon in Schweden fertiggestellt hatte. Die verbleibenden Tage bis zu seiner Prüfung verbrachte er botanisierend mit David de Gorter, dem Sohn seines Prüfers. Am Mittwoch, den 23. Juni 1735, bestand er sein Examen und kehrte, nachdem ihm sein Diplom ausgehändigt wurde, schon am nächsten Tag nach Amsterdam zurück. Hier verweilte er nur kurz, denn er wollte unbedingt Herman Boerhaave kennenlernen, der in Leiden wirkte. Das Treffen auf Boerhaaves Landsitz Oud Poelgeest kam erst aufgrund der Unterstützung von Jan Frederik Gronovius zustande, der ihm ein Empfehlungsschreiben ausstellte. Zuvor hatte Linné Gronovius und Isaac Lawson einige seiner Manuskripte gezeigt, darunter einen ersten Entwurf von Systema Naturae. Beide waren von der Originalität des Linnéschen Ansatzes, die drei Naturreiche Mineralien, Pflanzen und Tiere zu klassifizieren, so beeindruckt, dass sie beschlossen, das Werk auf eigene Kosten herauszugeben. Gronovius und Lawson wirkten als Korrektoren für dieses und weitere in Holland entstandene Werke Linnés und überwachten die Fortschritte der Drucklegung. Auf Boerhaaves Empfehlung fand Linné Arbeit und Unterkunft bei Johannes Burman, dem er bei der Zusammenstellung seines Thesaurus Zeylanicus half. In Burmans Haus stellte Linné sein Werk Bibliotheca Botanica fertig und lernte dort auf Empfehlung von Gronovius den Bankier George Clifford kennen. Gronovius hatte Clifford vorgeschlagen, Linné als Kurator seiner Sammlung in Hartekamp einzustellen und von ihm seinen Garten, den Hortus Hartecampensis, beschreiben zu lassen. Am 24. September 1735 begann Linné seine Arbeit in Hartekamp. Nur fünf Tage später erhielt er die Botschaft, dass sein Freund Peter Artedi, den er erst wenige Wochen vorher zufällig in Amsterdam wiedergetroffen hatte, in einem Amsterdamer Kanal ertrunken war. Linné erfüllte das wechselseitige Versprechen der Freunde, das Werk des anderen fortzuführen und zu veröffentlichen, und bearbeitete und verlegte während seiner Zeit in Holland die Werke von Artedi. Bald nach Linnés Ankunft in Hartekamp traf dort der deutsche Pflanzenzeichner Georg Dionysius Ehret ein, der von Clifford eine Zeitlang als Zeichner eingestellt wurde. Linné erklärte ihm sein neues Klassifizierungssystem für Pflanzen, woraufhin Ehret, zunächst für seinen privaten Gebrauch, eine Zeichnung mit den Unterscheidungsmerkmalen der 24 Klassen anfertigte. Die Tafel mit dem Titel Caroli Linnaei classes sive literae wurde gelegentlich mit der Erstausgabe von Linnés Systema Naturae zusammengebunden und war Bestandteil einiger weiterer seiner Werke. In Hartekamp arbeitete Linné an mehreren Projekten gleichzeitig. So entstanden hier seine Werke Fundamenta Botanica, Flora Lapponica, Genera Plantarum und Critica Botanica und gingen Seite für Seite nach der Korrektur zum Drucker. Nebenher gelang es ihm, mit Hilfe des deutschen Gärtners Dietrich Nietzel die in einem der Warmhäuser Cliffords wachsende Bananenpflanze zu Blüte und Fruchtansatz zu bringen. Dieses Ereignis war der Anlass für ihn, die Abhandlung Musa Cliffortiana zu schreiben. Das Werk ist die erste Monografie über eine Pflanzengattung. === England und Frankreich === Im Sommer 1736 wurde Linnés Arbeit in Holland durch eine Reise nach England unterbrochen. In London studierte er Hans Sloanes Sammlung und erhielt von Philip Miller aus dem Chelsea Physic Garden seltene Pflanzen für Cliffords Garten. Während des einmonatigen Aufenthaltes traf er mit Peter Collinson und John Martyn zusammen. Bei einem Kurzaufenthalt in Oxford lernte er Johann Jacob Dillen kennen. Zurück in Hartekamp arbeitete Linné unter dem zunehmenden Druck von Clifford am Hortus Cliffortianus weiter, dessen Fertigstellung sich aber insbesondere aufgrund von Problemen mit den Kupferstichen bis 1738 verzögerte. Im Sommer 1737 wurde ihm von Boerhaave der Posten eines Arztes der WIC, der Niederländischen Westindien-Kompanie in Niederländisch-Guayana angeboten. Er lehnte jedoch ab und empfahl Boerhaave stattdessen den Arzt Johann Bartsch, der ihm bei der Bearbeitung seiner Flora Lapponica geholfen hatte. Zu dieser Zeit hatte Linné bereits Pläne, Holland wieder zu verlassen, und schlug alle Angebote Cliffords aus, auf dessen Kosten zu bleiben. Erst als Adriaan van Royen ihn bat, den Botanischen Garten in Leiden nach seinem System neu zu ordnen und wenigstens noch über den Winter zu bleiben, gab Linné nach. Seine Reisepläne indes standen fest. Über Frankreich und Deutschland, wo er unter anderem Albrecht von Haller in Göttingen zu treffen hoffte, wollte er endgültig nach Schweden zurückkehren. Ein schweres Fieber, an dem er Anfang 1738 mehrere Wochen litt, verzögerte die Abreise jedoch immer weiter. Im Mai 1738 hatte sich Linné so weit erholt, dass er die Reise nach Frankreich antreten konnte. Von Leiden aus reiste er über Antwerpen, Brüssel, Mons, Valenciennes und Cambrai nach Paris. Van Royen hatte ihm ein Empfehlungsschreiben an Antoine de Jussieu mitgegeben. Dieser vertraute ihn aus Zeitmangel der Obhut seines Bruders Bernard de Jussieu an, der zu dieser Zeit den Lehrstuhl für Botanik am Jardin du Roi innehatte. Gemeinsam besichtigten sie den Königlichen Garten, die Herbarien von Joseph Pitton de Tournefort, Sébastien Vaillant und Joseph Donat Surian sowie die Büchersammlung von Antoine-Tristan Danty d’Isnard und unternahmen botanische Exkursionen in die Umgebung von Paris. Während einer Sitzung der Pariser Akademie der Wissenschaften wurde Linné aufgrund eines Vorschlags von Bernard de Jussieu korrespondierendes Mitglied der Akademie. Der Superintendant des Jardin du Roi Charles du Fay versuchte vergeblich, Linné von einem Verbleib in Frankreich zu überzeugen. Linné wollte jedoch endlich in seine Heimat zurückkehren. Er gab den Plan auf, nach Deutschland zu reisen, und schiffte sich nach einem Monat Aufenthalt in Frankreich in Rouen nach Schweden ein. === Rückkehr nach Schweden und Heirat === Über das Kattegat kam Linné in Helsingborg an. Nach einem kurzen Aufenthalt bei seiner Familie in Stenbrohult reiste er nach Falun weiter, wo kurz darauf die Verlobung mit Sara Elisabeth Moraea stattfand. Um sich seinen Lebensunterhalt zu verdienen, ließ er sich im September 1738 in Stockholm als Arzt nieder. Nach anfänglichen Schwierigkeiten erlangte er durch die Bekanntschaft mit Carl Gustaf Tessin recht schnell Zugang zur Stockholmer Gesellschaft. Gemeinsam mit Mårten Triewald, Anders Johan von Höpken, Sten Carl Bielke, Carl Wilhelm Cederhielm und Jonas Alströmer gründete er im Mai 1739 die Königlich Schwedische Akademie der Wissenschaften und wurde ihr erster Präsident. Die Präsidentschaft gab er satzungsgemäß Ende September 1739 bereits wieder ab. Ebenfalls im Mai 1739 wurde er Nachfolger von Triewald am Königlichen Bergwerkskollegium Stockholm, an dem er Vorlesungen über Botanik und Mineralogie hielt, sowie aufgrund einer Empfehlung des Admirals Theodor Ankarcrona Arzt der schwedischen Admiralität. Derart finanziell abgesichert konnte er am 26. Juni 1739 seine Verlobte Sara Elisabeth Moraea heiraten. Aus der Ehe gingen mit Carl, Elisabeth Christina, Sara Magdalena, Lovisa, Sara Christina, Johannes und Sofia sieben Kinder hervor. Sara Magdalena und Johannes starben bereits im Kindesalter. Linnés gleichnamiger Sohn Carl wurde wie sein Vater Botaniker, konnte das Werk des Vaters jedoch nur kurze Zeit fortführen und starb im Alter von 42 Jahren. === Reise durch Öland und Gotland === Einen Monat nach seiner Hochzeit kehrte Linné nach Stockholm zurück. Im Januar 1741 erhielt er vom Ständereichstag das Angebot, die Inseln Öland und Gotland zu erkunden. Linné und seine sechs Begleiter, darunter Johan Moraeus, ein Bruder seiner Frau, brachen am 26. Mai 1741 von Stockholm aus auf. Sie waren zweieinhalb Monate unterwegs und erregten durch ihre Tätigkeit im Vorfeld des Russisch-Schwedischen Kriegs manchmal den Verdacht russischer Spionageaktivitäten. Mit der Veröffentlichung des Reiseberichtes Öländska och Gothländska Resa 1745 hatte Linné zum ersten Mal ein Werk in seiner schwedischen Muttersprache verfasst. Bemerkenswert ist der Index des Werkes, in dem die Pflanzen verkürzt in zweiteiliger Weise benannt waren. Außerdem wurde mit einem numerischen Index auf die Arten in dem im gleichen Jahr erschienenen Werk Flora Suecica verwiesen. === Professor in Uppsala === Im Frühjahr 1740 starb Olof Rudbeck, und dessen Lehrstuhl für Botanik an der Universität Uppsala musste neu besetzt werden. Lars Roberg, Inhaber des Lehrstuhls für Medizin, wollte sich bald zur Ruhe setzen, so dass dieser Lehrstuhl ebenfalls neu zu vergeben war. Neben Linné gab es mit Nils Rosén von Rosenstein und Johan Gottschalk Wallerius zwei weitere Anwärter. In Absprache mit dem schwedischen Kanzler Carl Gyllenborg sollte Rosén die Stelle Rudbecks erhalten und Linné die freiwerdende Position von Roberg. Später sollten sie dann die Lehrstühle tauschen. Linnés offizielle Ernennung zum Professor für Medizin erfolgte am 16. Mai 1741. In seiner „Rede von der Bedeutung, in seinem eigenen Land zu reisen“ anlässlich der Übernahme das Lehrstuhls, die er am 8. November 1741 hielt, betonte er den ökonomischen Nutzen, der sich aus einer Kartierung der schwedischen Natur ergäbe. Jedoch sei es nicht nur wichtig, die Natur zu studieren, sondern auch lokale Krankheiten, deren Heilmethoden und die verschiedenartigen landwirtschaftlichen Methoden. Seine erste öffentliche Vorlesung fand knapp eine Woche später statt. Ende des Jahres tauschten Linné und Rosén die Lehrstühle. Linné unterrichtete Botanik, Diätetik, Materia Medica und hatte die Aufsicht über den Alten Botanischen Garten. Rosén lehrte Praktische Medizin, Anatomie und Physiologie. Für die Gebiete Pathologie und Chemie waren sie gemeinsam verantwortlich. Linné begann mit der Umgestaltung des Botanischen Gartens und beauftragte damit Carl Hårleman. Das zum Garten gehörende Haus von Olof Rudbeck dem Älteren wurde renoviert und Linné zog mit seiner Familie dort ein. Im Garten wurden neue Gewächshäuser errichtet und Pflanzen aus der ganzen Welt angesiedelt. In seinem Werk Hortus Upsaliensis beschrieb Linné 1748 etwa 3000 verschiedene Pflanzenarten, die in diesem Garten kultiviert wurden. In seiner Materia medica, einem 1749 erschienenen Handbuch für Ärzte und Apotheker, beschrieb er Heilpflanzen und ihre praktische Verwendung. 1750 wurde er Rektor der Universität Uppsala. Diese Position übte er bis wenige Jahre vor seinem Tod aus. Vor seinem Amtsantritt als Rektor hatte Linné noch zwei weitere Reisen durch Schweden unternommen. Vom 23. Juni bis 22. August 1746 bereiste er gemeinsam mit Erik Gustaf Lidbeck, der später Professor in Lund wurde, die Provinz Västergötland. Linnés Aufzeichnungen erschienen ein Jahr später unter dem Titel Västgöta Resa. Eine letzte Reise führte Linné vom 10. Mai bis 24. August 1749 durch die südlichste schwedische Provinz Schonen. Sein Student Olof Andersson Söderberg, der im Vorjahr bei ihm promoviert hatte und später Professor in Halle war, ging ihm während der Reise als sein Sekretär zur Hand. Die Skånska Resa wurde 1751 veröffentlicht. Mitte Dezember 1772 hielt er seine Abschiedsrede über „Die Freuden der Natur“. === Species Plantarum === Linnés Reisen durch Schweden ermöglichten es ihm, in den Werken Flora Suecica (1745) und Fauna Suecica (1746) die Pflanzen- und Tierwelt Schwedens ausführlich zu beschreiben. Sie waren wichtige Schritte zur Vollendung seiner beiden bedeutsamsten Werke Species Plantarum (erste Auflage 1753) und Systema Naturae (zehnte Auflage 1759). Linné ermutigte seine Schüler, die Natur unerforschter Regionen selbst zu erkunden, und verschaffte ihnen auch die Möglichkeiten dazu. Die auf Entdeckungsreise gegangenen Schüler nannte er „seine Apostel“. 1744 schickte ihm der dänische Apotheker August Günther fünf Bände des von Paul Hermann von 1672 bis 1677 in Ceylon angefertigten Herbariums und bat Linné, ihm bei der Identifizierung der Pflanzen zu helfen. Linné konnte etwa 400 der zirka 660 herbarisierten Pflanzen verwenden und in sein Klassifizierungssystem einordnen. Seine Ergebnisse veröffentlichte er 1747 als Flora Zeylanica. Ein schwerer Gichtanfall zwang Linné 1750, seinem Schüler Pehr Löfling den Inhalt von Philosophia Botanica (1751) zu diktieren. Das auf seinen in Fundamenta Botanica formulierten 365 Aphorismen aufbauende Werk war als Lehrbuch der Botanik konzipiert. Er stellte darin sein System zu Unterscheidung und Benennung von Pflanzen dar und erläuterte es durch knappe Kommentare. Von Mitte 1751 bis 1752 arbeitete Linné intensiv an der Fertigstellung von Species Plantarum. In der Mitte 1753 erschienenen zwei Bänden beschrieb er auf 1200 Seiten mit ungefähr 7300 Arten alle ihm bekannten Pflanzen der Erde. Besondere Bedeutung hat das Epitheton, das er als Marginalie zu jeder Art am Seitenrand vermerkte und das eine Neuerung gegenüber seinen früheren Werken war. Der Gattungsname und das Epitheton bilden zusammen den zweiteiligen Namen der Art, so wie er in der modernen botanischen Nomenklatur noch heute verwendet wird. === Systema Naturae === Im Veröffentlichungsjahr von Species Plantarum erschien mit Museum Tessinianum eine Aufstellung der Objekte der Mineralien- und Fossiliensammlung von Carl Gustaf Tessin, die Linné angefertigte hatte. Das Sammeln von naturhistorischen Kuriositäten war zu dieser Zeit auch in Schweden sehr verbreitet. Adolf Friedrich hatte in Schloss Drottningholm eine Sammlung seltener Tierarten zusammengetragen und beauftragte Linné mit deren Inventarisierung. Linné verbrachte dafür in den Jahren 1751 bis 1754 insgesamt neun Wochen auf dem Schloss des Königs. Der erste Band von Museum Adolphi Friderici (1754) enthielt 33 Zeichnungen (zwei von Affen, neun von Fischen und 22 von Schlangen). Es ist das erste Werk, in dem die binäre Nomenklatur durchgängig in der Zoologie angewendet wurde. In der 10. Auflage von Systema Naturae übernahm Linné die binäre Nomenklatur endgültig für die Tierarten, die im ersten Band beschrieben sind. Im zweiten Band von Systema Naturae behandelte er die Pflanzen. Ein ursprünglich geplanter dritter Band, der die Mineralien zum Inhalt haben sollte, erschien nicht. 1758, das Erscheinungsjahr von Systema Naturae, markiert damit den Beginn der modernen zoologischen Nomenklatur. Die schwedische Königin Luise Ulrike hatte in ihrem Schloss Ulriksdal ebenfalls eine naturhistorische Sammlung angelegt, die aus 436 Insekten, 399 Muscheln und 25 weiteren Mollusken bestand und in der Abhandlung Museum Ludovicae Ulricae (1764) durch Linné beschrieben wurde. Den Anhang bildete der zweite Band der Beschreibung des Museums ihres Mannes mit 156 Tierarten. === Letzte Jahre === In seinen letzten Lebensjahren war Linné damit beschäftigt, die zwölfte Auflage von Systema Naturae (1766–1768) zu bearbeiten. Es entstanden die als Anhang dazu gedachten Werke Mantissa Plantarum (1767) und Mantissa Plantarum Altera (1771). In ihnen beschrieb er neue Pflanzen, die er von seinen Korrespondenten aus der ganzen Welt erhalten hatte. Im Mai 1774 erlitt er während einer Vorlesung im Botanischen Garten der Universität Uppsala einen Schlaganfall. Ein zweiter Schlaganfall 1776 lähmte seine rechte Seite und schränkte seine geistigen Fähigkeiten ein. Carl von Linné starb am 10. Januar 1778 an einem Geschwür an der Harnblase und wurde im Dom zu Uppsala begraben. == Rezeption und Nachwirkung == Der im 20. Jahrhundert wirkende britische Botaniker William Thomas Stearn fasste Linnés Bedeutung folgendermaßen zusammen: === Lebenswerk === Mit seinen Verzeichnissen Species Plantarum (für Pflanzen, 1753) und Systema Naturae (für Pflanzen, Tiere und Mineralien, 1758/1759 beziehungsweise 1766–1768) schuf Linné die Grundlagen der modernen botanischen und zoologischen Nomenklatur. In diesen beiden Werken gab er zu jeder beschriebenen Art zusätzlich ein Epitheton an. Gemeinsam mit dem Namen der Gattung diente es als Abkürzung des eigentlichen Artnamens, der aus einer langen beschreibenden Wortgruppe (Phrase) bestand. Aus Canna foliis ovatis utrinque acuminatis nervosis entstand so die leicht zu merkende Bezeichnung Canna indica. Das Ergebnis der Einführung zweiteiliger Namen ist die konsequente Trennung der Beschreibung einer Art von ihrer Benennung. Durch diese Trennung konnten neu entdeckte Pflanzenarten unproblematisch in seine Systematik aufgenommen werden. Linnés Systematik umfasste die drei Naturreiche Mineralien (einschließlich der Fossilien), Pflanzen und Tiere. Im Gegensatz zu seinen Beiträgen zur Botanik und Zoologie, deren fundamentale Bedeutung für die biologische Systematik schnell anerkannt wurde, blieben seine mineralogischen Untersuchungen bedeutungslos, da ihm die dafür notwendigen chemischen Kenntnisse fehlten. Die erste chemisch begründete Klassifizierung der Mineralien wurde 1758 von Axel Frederic von Cronstedt aufgestellt.In grundsätzlicher Opposition zu der von Linné vertretenen Auffassung, dass die ganze Natur in eine Taxonomie erfasst werden kann, stand der zeitgenössische Naturforscher Georges-Louis Leclerc de Buffon. Buffon war der Ansicht, dass die Natur zu unterschiedlich und zu reich sei, um sich einem so strengen Rahmen anzupassen. Der Philosoph Michel Foucault beschrieb Linnés Vorgehensweise des Klassifizierens so, dass es ihm darum gegangen sei, „systematisch wenige Dinge zu sehen“. Ihm sei es insbesondere darum gegangen, die Ähnlichkeiten der Dinge in der Welt aufzulösen. So schrieb Linné in seiner Philosophia Botanica: „Alle dunklen Ähnlichkeiten sind nur zur Schande der Kunst eingeführt worden“. Linné ging zudem von der Konstanz der Arten aus: „Es gibt so viele Arten, als Gott am Anfang als verschiedene Gestalten geschaffen hat.“ Er unterteilte die Arten bewusst anhand künstlich ausgewählter Merkmale wie Anzahl, Form, Größenverhältnis und Lage in Klassen und Ordnungen, um ein einfach zu handhabendes und leicht erlernbares System für die Einordnung der Arten zu schaffen. Bei den Pflanzen verwandte er beispielsweise Merkmale der Staubblätter, um die Klasse zu bestimmen, und Merkmale der Stempel, um die Ordnung einer Pflanzenart festzulegen. Auf diese Weise entstand ein „künstliches System“, da es die natürlichen Verwandtschaftsverhältnisse der Arten untereinander nicht berücksichtigte. Die Gattungen und Arten hielt er für natürlich und ordnete sie daher unter Verwendung einer Vielzahl von Kennzeichen entsprechend ihrer Ähnlichkeit. Linné war bestrebt, ein „natürliches System“ zu schaffen, kam jedoch über Ansätze wie Ordines Naturales in der sechsten Auflage von Genera Plantarum (1764) nicht hinaus. Für die Pflanzen gelang es erst Antoine-Laurent de Jussieu, ein solches natürliches System aufzustellen. === Auszeichnungen und Würdigung === Linné wurde am 30. Januar 1747 zum Archiater (Leibarzt) des Königs ernannt. Am 27. April 1753 wurde ihm der Nordstern-Orden verliehen. Ende 1756 wurde Carl Linnaeus vom schwedischen König Adolf Friedrich geadelt und erhielt den Namen Carl von Linné. Den auf den 20. April 1757 datierten Adelsbrief unterzeichnete der König im November 1761. Die Erhebung in den Adelsstand wurde erst Ende 1762 mit der Bestätigung durch das Riddarhuset wirksam. Linné war Mitglied zahlreicher wissenschaftlicher Akademien und Gelehrtengesellschaften. Hierzu zählten unter anderem die Deutsche Akademie der Naturforscher Leopoldina, der er ab dem 3. Oktober 1736 (Matrikel-Nr. 464) unter dem akademischen Beinamen Dioscorides II. angehörte, die Königliche Gesellschaft der Wissenschaften in Uppsala, die Société Royale des Sciences de Montpellier, die Königlich-Preußische Akademie der Wissenschaften, die Royal Society, die Académie royale des Sciences, Inscriptions et Belles-Lettres de Toulouse, die Pariser Akademie der Wissenschaften, die Russische Akademie der Wissenschaften in Sankt Petersburg und die Königliche Großbrittannische Churfürstliche Braunschweigische Lüneburgische Landwirthschaftsgesellschaft Celle. Jan Frederik Gronovius benannte Linné zu Ehren die Gattung Linnaea (Moosglöckchen) der Pflanzenfamilie der Linnaeaceae. Ebenso sind nach ihm der Mondkrater Linné im Mare Serenitatis, der Asteroid Linnaeus sowie das Mineral Linneit benannt. Ferner ist er Namensgeber für die Linnaeus Terrace in der Antarktis. Der Botaniker William Thomas Stearn schlug 1959 das im Dom von Uppsala bestattete Skelett von Carl von Linné zum Lectotypus für die Art Homo sapiens vor. Homo sapiens wurde dadurch nach den zoologischen Nomenklaturregeln gültig als diejenige Tierart definiert, zu der Carl von Linné gehörte. Die Banknote zu 100 Kronen der Schwedischen Krone führte von 2001 bis zum 30. Juni 2017 das Bildnis Carl von Linnés. === Nachlass und Briefwechsel === Nach dem Tod Linnés und dem Tod seines Sohnes Carl bot seine Frau Sara den gesamten Nachlass Joseph Banks für 3000 Guineen zum Kauf an. Dieser lehnte jedoch ab und überzeugte James Edward Smith, die Sammlung zu erwerben. Im Oktober 1784 kam Linnés Sammlung in London an und wurde in Chelsea öffentlich ausgestellt. Linnés Nachlass ist heute im Besitz der Londoner Linné-Gesellschaft, deren höchste Auszeichnung die jährlich vergebene Linné-Medaille ist. Linné unterhielt bis zu seinem Tod einen umfangreichen Briefwechsel mit Partnern in der ganzen Welt. Davon stammten ungefähr 200 aus Schweden und 400 aus anderen Ländern. Über 5000 Briefe sind erhalten geblieben. Allein sein Briefwechsel mit Abraham Bäck, seinem engen Freund und Vertrauten, umfasst weit über 500 Briefe. Wichtige botanische und zoologische Briefpartner waren Herman Boerhaave, Johannes Burman, Jan Frederik Gronovius und Adriaan van Royen in Holland, Joseph Banks, Mark Catesby, Peter Collinson, Philip Miller, James Petiver und Hans Sloane in England, Johann Reinhold Forster, Johann Gottlieb Gleditsch, Johann Georg Gmelin und Albrecht von Haller in Deutschland, Nikolaus Joseph von Jacquin in Österreich, sowie Antoine Nicolas Duchesne und Bernard de Jussieu in Frankreich. === Kritiker === Die von Linné schon 1729 als Student in Praeludia Sponsaliorum Plantarum verwendete Analogie von Pflanzen und Tieren hinsichtlich ihrer Sexualität provozierte etliche seiner Zeitgenossen zur Kritik. Eine erste Kritik zu Linnés Sexualsystem der Pflanzen schrieb Johann Georg Siegesbeck 1737 in einer Anlage zu seiner Schrift Botanosophiae: „[Wenn] acht, neun, zehn, zwölf oder gar zwanzig und mehr Männer in demselben Bett mit einer Frau gefunden werden [oder wenn] dort, wo die Betten der wirklichen Verheirateten einen Kreis bilden, auch die Betten der Dirnen einen Kreis beschließen, so dass die von verheirateten Männern begattet werden […] Wer möchte glauben, dass von Gott solche verabscheuungswürdige Unzucht im Reiche der Pflanzen eingerichtet worden ist? Wer könnte solch unkeusches System der akademischen Jugend darlegen, ohne Anstoß zu erregen?“Julien Offray de La Mettrie spottete in L’Homme Plante (1748, kurz danach Bestandteil von L’Homme Machine) über Linnés System, indem er darin die Menschheit anhand der von Linné eingeführten Begriffe klassifizierte. Die Menschheit bezeichnete er als Dioecia (d. h. männliche und weibliche Blüten auf verschiedenen Pflanzen). Männer gehören zur Ordnung Monandria (ein Staubblatt) und Frauen zur Ordnung Monogyna (ein Stempel). Die Kelchblätter interpretierte er als Kleidung, die Kronblätter als Gliedmaßen, die Nektarien als Brüste und so fort.Selbst Johann Wolfgang von Goethe, der bekannte, „dass nach Shakespeare und Spinoza auf mich die größte Wirkung von Linné ausgegangen [ist], und zwar gerade durch den Widerstreit, zu welchem er mich aufforderte“, urteilte: „Wenn unschuldige Seelen, um durch eigenes Studium weiter zu kommen, botanische Lehrbücher in die Hand nehmen, können sie nicht verbergen, dass ihr sittliches Gefühl beleidigt sei; die ewigen Hochzeiten, die man nicht los wird, wobei die Monogamie, auf welche Sitte, Gesetz und Religion gegründet sind, ganz in vage Lüsternheit sich auflöst, bleibt dem reinen Menschensinn unerträglich.“ == Schriften == === Werke (Auswahl) === Linné hat zahlreiche Bücher verfasst, von denen viele in mehreren Auflagen erschienen. Einige davon sind in digitalisierter Form bei verschiedenen Anbietern wie dem Gallica-Projekt der Französischen Nationalbibliothek, der Online Library of Biological Books, der Niedersächsischen Staats- und Universitätsbibliothek Göttingen, der Botanicus Digital Library und der Google Buchsuche im Volltext verfügbar. Zu den wichtigsten Werken Linnés zählen: Praeludia Sponsaliorum Plantarum. Uppsala, 1729; digitalisierte Fassung Florula Lapponica. In Acta Literaria et Scientiarum Sueciae. Band 3, S. 46–58, 1732 Systema Naturae. Johan Wilhelm de Groot, Leiden 1735; digitalisierte Fassung Bibliotheca Botanica. Salomon Schouten, Amsterdam 1735; digitalisierte Fassung, Volltext Fundamenta Botanica. Salomon Schouten, Amsterdam 1735; digitalisierte Fassung Musa Cliffortiana. Leiden 1736; digitalisierte Fassung Flora Lapponica. Salomon Schouten, Amsterdam 1737; digitalisierte Fassung Genera Plantarum. Conrad Wishoff, Leiden 1737; digitalisierte Fassung der 2. Auflage Critica Botanica. Conrad Wishoff, Leiden 1737; digitalisierte Fassungen: Google-Bücher, ULB Düsseldorf Hortus Cliffortianus, Amsterdam 1738; digitalisierte Fassung Classes Plantarum. Conrad Wishoff, Leiden 1738; digitalisierte Fassungen: Gallica, ULB Düsseldorf Öländska och Gothländska Resa. Gottfried Kiesewetter: Stockholm und Uppsala 1745; digitalisierte Fassung Flora Suecica. Lars Salvius: Stockholm 1745; digitalisierte Fassung Fauna Suecica. Lars Salvius: Stockholm 1746; digitalisierte Fassung Västgöta Resa. Lars Salvius: Stockholm 1747; digitalisierte Fassung Flora Zeylanica. Lars Salvius: Stockholm 1747; digitalisierte Fassungen: Stueber, Bayerische Staatsbibliothek Hortus Upsaliensis. Lars Salvius: Stockholm 1748; digitalisierte Fassung Materia Medica. Lars Salvius: Stockholm 1749; digitalisierte Fassung Skånska Resa. Lars Salvius: Stockholm 1751; digitalisierte Fassung Philosophia Botanica. Gottfried Kiesewetter: Stockholm 1751; digitalisierte Fassung Species Plantarum. Lars Salvius: Stockholm 1753; digitalisierte Fassung Museum Tessinianum. Lars Salvius: Stockholm 1753; digitalisierte Fassung Museum S. R. M. Adolphi Friderici. Lars Salvius: Stockholm 1754; digitalisierte Fassung Systema Naturae. 10. Auflage, Lars Salvius: Stockholm 1758; digitalisierte Fassung Museum S. R. M. Ludovicae Ulricae. Lars Salvius: Stockholm 1764; digitalisierte Fassung Mantissa Plantarum. Lars Salvius: Stockholm 1767; digitalisierte Fassungen: Google-Books, Bayerische Staatsbibliothek Mantissa Plantarum Altera. Lars Salvius: Stockholm 1771; digitalisierte Fassungen: Gallica, Bayerische Staatsbibliothek === Zeitschriftenartikel === Für folgende Zeitschriften hat Linné Artikel verfasst: Acta Societatis Regiae Scientiarum Upsaliensis Kongliga Svenska Vetenskaps Academiens Handlingar Memoires de l’Academie Royale des Sciences de Paris Nova Acta Regiae Societatis Scientiarum Upsaliensis Novi Commentarii Academiae Scientiarum Imperialis Petropolitanae Post- och Inrikes Tidningar === Dissertationen === Unter dem Vorsitz von Linné sind von 1743 bis 1776 insgesamt 185 Dissertationen entstanden, die ihm häufig direkt zugeschrieben werden. Die Dissertationen seiner Doktoranden wurden im zehnbändigen Amoenitates Academicae (Stockholm bzw. Erlangen, 1751–1790) veröffentlicht. == Literatur == === Biographien === Wilfrid Blunt: The Compleat Naturalist: A Life of Linnaeus. 2001. ISBN 0-7112-1841-2 Cecilia Lucy Brightwell: A life of Linnaeus. London 1858 Florence Caddy: Through the fields with Linnaeus. 2 Bände, London 1887 Theodor Magnus Fries: Linné: Lefnadsteckning. 2 Bände, Stockholm, 1903 Heinz Goerke: Linné. Arzt – Naturforscher – Systematiker. Stuttgart 1966 Edward Lee Greene: Carolus Linnaeus. Philadelphia 1912 Benjamin D. Jackson: Linnaeus. London 1923 Lisbet Koerner: Linnaeus: Nature and Nation. Harvard University Press 1999. ISBN 0-674-00565-1 Richard Pulteney: A General View of the Writings of Linnaeus. London 1781 Dietrich Heinrich Stöver: Leben des Ritters Carl von Linné, Verlag Hoffman, Hamburg 1792. Englische Ausgabe: The Life of Sir Charles Linnaeus London 1794 === Bibliografien seiner Schriften === Basil Harrington Soulsby: A catalogue of the works of Linnaeus (and publications more immediately thereto) preserved in the libraries of the British Museum (Bloomsbury) and the British Museum (Natural History – South Kensington). 2. Auflage, London 1933 Johan Markus Hulth: Bibliographia linnaeana. Materiaux pour servir a une bibliographie linnéenne. Uppsala 1907 Felice Bryk: Bibliographia Linnaeana ad Species plantarum pertinens. In: Taxon. Band 2, Nr. 3, Mai 1953, S. 74–84. doi:10.2307/1217345 Felice Bryk: Bibliographia Linnaeana ad Genera plantarum pertinens. In: Taxon. Band 3, Nr. 6, Sept. 1954, S. 174–183. doi:10.2307/1215955 === Briefwechsel === Theodor Magnus Fries, Johan Markus Hulth (Herausgeber): Bref och skrifvelser af och till Carl von Linné. 8 Bände, Stockholm 1907–1922 James Edward Smith (Herausgeber): A Selection of the Correspondence of Linnaeus. 2 Bände, London 1821 Briefwechsel von Carl von Linné === Zur Rezeption seines Werkes === A. J. Boerman: Carolus Linnaeus. A Psychological Study. In: Taxon. Band 2, Nr. 7, Oktober 1953, S. 145–156 (doi:10.2307/1216487). Felix Bryk: Promiskuitat der Gattungen als artbildender Faktor. Zur zweihundertsten Wiederkehr des Erscheinungsjahres der fünften Auflage von Linnés Genera plantarum (1754). In: Taxon. Band 3, Nr. 6, September 1954, S. 165–173 (doi:10.2307/1215954). Carl Johan Clemedson: Semiotik und Krankheitsdiagnostik in den Vorlesungen Carl von Linné’s über sein Systema Morborum. In: Christa Habrich, Frank Marguth, Jörn Henning Wolf (Hrsg.) unter Mitarbeit von Renate Wittern: Medizinische Diagnostik in Geschichte und Gegenwart. Festschrift für Heinz Goerke zum sechzigsten Geburtstag. München 1978 (= Neue Münchner Beiträge zur Geschichte der Medizin und Naturwissenschaften: Medizinhistorische Reihe. Band 7/8), ISBN 3-87239-046-5, S. 255–268. John Lewis Heller: Linnaeus’s Hortus Cliffortianus. In: Taxon. Band 17, Nr. 6, Dezember 1968, S. 663–719 (doi:10.2307/1218012). John Lewis Heller: Linnaeus’s Bibliotheca Botanica. In: Taxon. Band 19, Nr. 3, Juni 1970, S. 363–411 (doi:10.2307/1219065). Otto E. A. Hjelt: Carl von Linné als Arzt und seine Bedeutung für die medicinische Wissenschaft. Ein Beitrag zur Geschichte der Medicin. Wilhelm Engelmann, Leipzig 1882 (online). James L. Larson: Linnaeus and the Natural Method. In: Isis. Band 58, Nr. 3, Herbst 1967, S. 304–320. James L. Larson: The Species Concept of Linnaeus. In: Isis. Band 59, Nr. 3, Herbst 1968, S. 291–299. E. G. Linsley, R. L. Usinger: Linnaeus and the Development of the International Code of Zoological Nomenclature. In: Systematic Zoology. Band 8, Nr. 1, März 1959, S. 39–47 (doi:10.2307/2411606). Karl Mägdefrau: Geschichte der Botanik. Gustav Fischer Verlag, Stuttgart 1992, ISBN 3-437-20489-0, S. 61–77. Staffan Müller-Wille, Karen Reeds: A translation of Carl Linnaeus’s introduction to Genera plantarum. In: Studies in History and Philosophy of Science, Part C: Studies in History and Philosophy of Biological and Biomedical Sciences. Band 38, Nr. 3, September 2007, S. 563–572 (doi:10.1016/j.shpsc.2007.06.003). Staffan Müller-Wille: Collection and collation: theory and practice of Linnaean botany. 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Insel Verlag, Frankfurt am Main 1964 Tagebuch der Reise durch Dalarna Iter Dalekarlicum Auslandstagebuch Iter ad exteros Carl Linné: Des Herrn Archiaters und Ritters von Linné Reisen durch einige schwedische Provinzen. Curt: Halle 1764 Band 1, Westgothland Band 2 Nemesis Divina (auf Schwedisch vollständig ediert 1968; auf Deutsch 1983, von Wolf Lepenies, Lars Gustafsson, Ullstein: Frankfurt/M.) == Weblinks == Literatur von und über Carl von Linné im Katalog der Deutschen Nationalbibliothek Werke von und über Carl von Linné in der Deutschen Digitalen Bibliothek Autoreintrag und Liste der beschriebenen Pflanzennamen für Carl von Linné beim IPNI Lebensdaten der Vorfahren und Nachkommen The Linnaeus Server u. a. mit Museum Adolphi Friderici (englisch) Werke in der Königlichen Bibliothek zu Stockholm u. a. Systema Naturae. 1. Auflage (schwedisch) The Linnean Collections The Linnaean Plant Name Typification Project == Einzelnachweise ==
https://de.wikipedia.org/wiki/Carl_von_Linn%C3%A9
Färöer
= Färöer = Die Färöer [ˈfɛːʁøɐ], umgangssprachlich oft Färöer-Inseln (färöisch Føroyar [ˈfœɹjaɹ], dänisch Færøerne [ˈfɛɐ̯ˌøːˀɐnə], deutsch ‚die Schafsinseln‘), sind ein autonomer Bestandteil des Königreichs Dänemark und bestehen aus einer Gruppe von 18 Inseln im Nordatlantik zwischen Schottland, Norwegen und Island. Entdeckt und besiedelt wurden sie im Mittelalter. Heute sind mit Ausnahme der kleinsten Insel, Lítla Dímun, alle permanent bewohnt. Die über 54.000 Inselbewohner – die Färinger, auch Färöer genannt – betrachten sich mehrheitlich nicht als Dänen, sondern als eigenständiges Volk, das von den Wikingern auf den Färöern abstammt. Sie sprechen die färöische Sprache, die aus dem Altwestnordischen entstanden ist und mit dem Isländischen und dem Norwegischen verwandt ist. Nach dem Vertrag von Fámjin aus dem Jahr 2005 bilden die Färinger, wie auch die Grönländer, eine „gleichberechtigte Nation“ innerhalb des Königreichs Dänemark. Ihre Inseln genießen bereits seit 1948 eine weitgehende Autonomie und haben mit dem Løgting eines der ältesten Parlamente der Welt. Es entsendet regelmäßig zwei Abgeordnete ins dänische Folketing und ist mit zwei Delegierten im Nordischen Rat vertreten. Die Färöer sind anders als das Kernland Dänemark nicht Teil der Europäischen Union und gehören gemäß Art. 4 Abs. 1 des Zollkodex der Union nicht zum Zollgebiet der Union. Deswegen finden sämtliche Verträge über die EU bzw. ihre Arbeitsweise auf die Färöer keine Anwendung. Sie gehören der Paneuropa-Mittelmeer-Zone zur Harmonisierung von Ursprungsregeln von Waren an. Seit dem 1. November 2006 bilden die Färöer eine Wirtschaftsunion mit Island. Bereits seit 1985 arbeiten Island, Grönland und die Färöer im Westnordischen Rat zusammen. Bis ins 19. Jahrhundert war Schafzucht der wichtigste Erwerbszweig und färöische Wolle das bedeutendste Exportgut. Heute dominiert auf den Färöern die Fischerei und die mit ihr verbundene Wirtschaft. Seit Mitte der 1990er Jahre wird in den Gewässern um die Inseln nach Erdöl gesucht; alle bisherigen Probebohrungen waren jedoch erfolglos. Der Wasserfall Múlafossur gilt als eine der größten Attraktionen der Färöer. == Geografie == Die Färöer liegen auf 62° nördlicher Breite und 7° westlicher Länge im Nordatlantik zwischen Schottland (mit den Hebriden im Süden, Shetland und Orkney im Südosten), Norwegen im Osten und Island im Nordwesten. Weiter nördlich befindet sich die norwegische Insel Jan Mayen im Polarmeer. Der Archipel mit seinen 18 Inseln, 11 Holmen und um die 750 Schären besitzt eine Fläche von 1395,7 km². Die Färöer bilden ein südlich spitz zulaufendes Dreieck und sind von Enniberg im Norden bis Sumbiarsteinur im Süden 118 km lang, und von Mykineshólmur im Westen bis Fugloy im Osten 75 km breit. Die zerklüftete und oft senkrecht aus dem Meer ragende Küstenlinie erstreckt sich über 1289 km. Die durchschnittliche Höhe beträgt 300 m über dem Meer. Bei klarer Sicht kann man sämtliche Inseln vom höchsten Berg Slættaratindur (880 m.o.h.) überblicken. Mit Kap Enniberg besitzen die Färöer das höchste Kliff der Welt (754 m), das senkrecht aus dem Meer ragt. Es gibt auf der Erde zwar noch einige höhere Vorgebirge, welche jedoch nicht lotrecht sind. Kein Punkt auf den Färöern ist mehr als 5 km vom Meer entfernt. Fast alle Orte der Färöer liegen an geschützten natürlichen Häfen, in Fjorden und Buchten. In Tälern und auf Hochebenen ist es oft sumpfig und das Land ist durchzogen von vielen kleinen und größeren Bächen, die häufig als Wasserfall zu Tal oder direkt ins Meer stürzen. === Geologie === Die Färöer sind vulkanischen Ursprungs und im Tertiär entstanden. Sie sind etwa 60 Millionen Jahre alt und damit rund dreimal so alt wie Island. Die einzige Thermalquelle Varmakelda erinnert an diese Zeit. Die Inseln bestehen aus Basalt, der sich in charakteristischen Stufen mit weicheren Tuffschichten abwechselt. Zwischen der Entstehung der unteren und der mittleren Basaltschicht gab es eine lange Pause, in der sich eine reiche Vegetation ansiedelte. Erneute vulkanische Tätigkeit vernichtete diese Flora. Bei Hvalba gibt es Steinkohlevorkommen, die von den ehemaligen Wäldern stammen. Bei Tvøroyri und auf Mykines gibt es Säulenbasalte. Während der Eiszeiten im Quartär waren die Färöer ganz von schweren Gletschern bedeckt, was zur heutigen Ausformung der Inseln mit ihren Fjorden, Sunden und Tälern führte. === Klima === Das Wetter auf den Färöern ist maritim, feucht und äußerst wechselhaft. Das bedeutet, dass am selben Tag strahlender Sonnenschein und dichtester Nebel aufeinander folgen können und dass das Wetter an verschiedenen Orten auf dem Archipel völlig unterschiedlich sein kann. Das färöische Wetter dominiert die gesamte Lebenshaltung des Inselvolkes. Wegen der ständigen Wetterwechsel tragen die Färöer den Beinamen Das Land von kanska (kanska ‚vielleicht‘), den ihnen die britischen Soldaten im Zweiten Weltkrieg gaben: Islands of Maybe.Häufiger Regen (selten jedoch den ganzen Tag) und der viele Nebel liefert die Feuchtigkeit für das satte Grün der Gräser. Die Luft ist klar und der oft frische Wind weht meist aus Südwest. Neben dem Regen muss man sich auf Sturm einstellen. Gelegentlich erreichen Ausläufer tropischer Wirbelstürme die Inselgruppe. So brachte 1966 der Hurrikan Faith Windgeschwindigkeiten von 160 km/h mit sich. Bedingt durch die Lage am Golfstrom herrschen auf den Färöern angesichts der geographischen Breite vergleichsweise milde Temperaturen. Die Durchschnittstemperatur im Sommer beträgt 11 °C, im Winter 3 °C. Die Häfen sind ganzjährig eisfrei, und im Winter bleibt gelegentlicher Schnee in den bewohnten niederen Lagen nicht lange liegen. === Vegetation === ==== Überblick ==== Auf den Färöern gibt es hunderte Blütenpflanzen, Flechten, Moose und Pilze. Indes kommen Bäume dort gegenwärtig von Natur aus nicht vor. Ob die Färöer früher – vor dem Beginn der menschlichen Besiedlung – gegebenenfalls in den Tieflagen bewaldet waren, ist nicht abschließend geklärt. Es wird angenommen, dass nur wenige arktische Pflanzenarten auf den Berggipfeln die Eiszeit überdauert haben. Im Wesentlichen fand die Neukolonisation der Pflanzen auf den Färöern von Schottland und Norwegen aus statt. ==== Blütenpflanzen ==== Im Sommer erblühen an vielen Stellen verschiedene wilde Pflanzenarten, die den ansonsten mit Gras bewachsenen Inseln einen unübersehbaren Farbtupfer geben. Nationalblume ist die gelb blühende (Mýru) Sólja, die Sumpfdotterblume (Caltha palustris). Mit der Føroyaskøra, dem Färöischen Frauenmantel (Alchemilla faeroënsis), haben die Inseln einer Pflanzenart ihren Namen gegeben. ==== Bäume ==== Die Kohleschichten auf Suðuroy unter den jüngsten Basaltschichten deuten an, dass es hier früher noch Wald gegeben hat, der vermutlich von Birken dominiert war. 2010 wurde auf Nólsoy erneut ein dicker Baum entdeckt, der seit 55 Millionen Jahren versteinert im Basalt lag. Aus dieser Zeit sind auch Spuren großer Pflanzen und ein Urahn der Nashörner auf Spitzbergen nachgewiesen. Die Färöer sind heute mit ganz wenigen Ausnahmen baumlos und überall dort mit Gras bewachsen, wo es die Berge zulassen. Da es keinen Wald auf den Färöern gibt, ist Holz ein begehrter Importartikel. Geheizt wurde früher mit Torf, denn das Treibholz war knapp und wurde für den Haus- und Bootsbau benötigt. ==== Kulturwald ==== Immer wieder wurde versucht, Bäume anzupflanzen, um die Inseln zu bewalden. Anpflanzungsversuche sind seit mindestens hundert Jahren dokumentiert, wobei Bäume gern zu Zwergwachstum, Verkrüppelung und Verbuschung neigen. Tróndur G. Leivsson ist bereits in dritter Generation Landsskógarvørður, eine Art oberster Forstminister der Färöer. 2005 meldeten die Färöer 100 Hektar Waldfläche nach den Kriterien der Vereinten Nationen, verteilt auf 19 unterschiedlich große Wälder. Das sind etwa 0,7 Promille der Gesamtfläche. Der größte Teil besteht aus Nadelbäumen wie Fichten, Kiefern und Lärchen, aber es gibt auch einige Laubbäume wie Ahorne, Erlen und Birken. Als gut geeignet erwiesen sich einige fremdländische Baumarten aus der subantarktisch beeinflussten gemäßigten Region des südlichen Südamerikas, die vor allem mit kalten Sommern und heftigen, langanhaltenden Winden zurechtkommen: Etwa die immergrünen Bäume Winterrinde und Magellan-Südbuche sowie die sommergrünen Lenga-Südbuchen und Antarktische Scheinbuchen.Inzwischen hat sich auch ein richtiger Baumbewohner, die Hohltaube, angesiedelt, die auf Altholzbestände angewiesen ist und aus Mitteleuropa stammt.Liste der Kulturwälder und Parks: Viðarlundin, der Stadtpark von Tórshavn auf Streymoy, Viðarlundin á Debesartrøð in Tórshavn auf Streymoy, Viðarlundin í Niðara Hoydali in Tórshavn auf Streymoy, Viðarlundin á Selatrað auf Eysturoy, Viðarlundin í Søldarfirði auf Eysturoy, Viðarlund við Gøtugjógv auf Eysturoy Viðarlundin úti í Grøv auf Borðoy, Viðarlundin í Mikladali auf Kalsoy, Viðarlundin í Kunoy auf Kunoy, Viðarlundin í Vági auf Suðuroy, Viðarlundin í Trongisvági auf Suðuroy, Viðarlundin við Suðuroyar Sjúkrahús auf Suðuroy, Viðarlundin við Tvøroyrar kirkju auf Suðuroy, Viðarlundin á Tungu auf Vágar, Viðarlundin á Abbreyt auf Vágar. ==== Kulturpflanzen ==== Der Anbau von Pflanzen beschränkt sich auf Getreide, Gras, Kartoffeln (seit Anfang des 18. Jahrhunderts), Rhabarber (der färöische Rhabarber hat keine Oxalsäure) und einige Gemüsesorten in Gewächshäusern. Obst muss meist importiert werden und ist entsprechend teuer. === Tierwelt === Durch die isolierte Insellage kommen bestimmte Tierarten auf den Färöern von Natur aus nicht vor: Reptilien, Kröten, Süßwasserfische und Säugetiere mit Ausnahmen von Kegelrobben. Die einzigen Wale, die in den Fjorden der Färöer vorkommen, sind Grindwale. Mit der Färöischen Hörnchenschnecke (Polycera faeroensis – färöisch: Bertákna) haben die Färöer auch einer Spezies unter den Meerestieren ihren Namen gegeben. Die färöische Vogelwelt umfasst einschließlich dreier domestizierter Taxa 309 Arten und Unterarten. Die Anzahl der Brutvögel liegt nur bei 85 Arten, 21 Meeresvogelarten brüten hier regelmäßig. 19 Gebiete, sogenannte Important Bird Areas (IBA), sind von der Organisation BirdLife International als wichtig für den Arten- und Biotopschutz für Vögel eingestuft.Der Nationalvogel ist der Austernfischer (Tjaldur). Auf den Färöern befindet sich unter anderem, mit geschätzten 150.000 bis 400.000 Paaren, die wahrscheinlich weltweit größte Kolonie der Sturmschwalbe. Sehr häufig vorkommende Seevögel sind der Eissturmvogel (600.000 Brutpaare), der Papageitaucher (350.000), die Dreizehenmöwe (230.000) und die Trottellumme (175.000). Vier auf den Färöern brütende Unterarten sind Endemiten, der Star Sturnus vulgaris faroensis, die Gryllteiste Cepphus grylle faeroeensis, die Eiderente Somateria mollissima faeroeensis und der Zaunkönig Troglodytes troglodytes borealis. Der Merlin ist der einzige einheimische Greifvogel. Seltene Vögel wie der Riesenalk und der Weißbunte Rabe sind ausgestorben, wobei es letzteren nur auf den Färöern gab. Erst der Mensch brachte Haustiere wie Schafe, Rinder, Pferde (das Färöerpony ist eine eigenständige Rasse), Hunde und Katzen mit. Die Schafe produzieren hier besonders viel Lanolin, das ihre Wolle wasserabweisend macht. In den Seen wurden auch Süßwasserfische wie Forellen und Lachse ausgesetzt. Daneben gibt es eine wilde Vermehrung von Hasen, Ratten und Mäusen. Auf den Färöern bleibt man von Stechmücken verschont, muss aber auch auf Honig einheimischer Bienen verzichten, da diese Insekten hier nicht existieren. Neu ist die Wespe: Vermutlich gelangte sie Ende der 1990er Jahre mit Schiffen auf die Insel, als vom Kontinent Baumaterial für das Fußball-Nationalstadion geliefert wurde. Es wird erzählt, dass die damit unerfahrenen Insulaner allgemein Angst vor Wespen entwickelten. Dasselbe Phänomen tauchte gleichzeitig in Island auf. Dominant ist unter den Insekten der Färöer der Nachtfalter Hepialus humuli, der seit 2004 auch den 200-Kronen-Schein ziert. == Bevölkerung == === Ethnische Zusammensetzung === Von den rund 50.000 Einwohnern der Färöer (verteilt auf über 17.000 Privathaushalte) sind 98 % Reichsbürger, also Färinger, Dänen oder Grönländer. Vom Geburtsort her kann man folgende Herkunft der Einwohner ableiten: Auf den Färöern geboren sind 91,7 %, in Dänemark 5,8 % und in Grönland 0,3 %. Zusammen mit einigen eingebürgerten Menschen stellen diese drei Gruppen die Reichsbürger. Größte Gruppe an Ausländern sind die Isländer mit 0,5 %, gefolgt von Norwegern mit 0,37 %, den Philippinos mit 0,27 %, den Thais mit 0,23 % und den Briten mit 0,2 %. Insgesamt leben auf den Färöern Menschen aus 77 Ländern. Von diesen Zahlen auf die färöischen Muttersprachler zu schließen, ist aus zwei Gründen nicht möglich: Erstens leben sehr viele färöische Muttersprachler in Dänemark, nicht wenige sind dort geboren und kehren im Laufe des Lebens mit ihren Eltern oder als Erwachsene zurück, zweitens gibt es alteingesessene dänische Familien auf den Färöern, die zu Hause Dänisch sprechen. === Demographische Entwicklung === Lebten die ersten Einwohner der Färöer, irische Mönche, als kleine Einsiedlergruppen, so entstand durch die Landnahme der Wikinger eine nennenswerte Population, die sich bei etwa 4000 Einwohnern einpendelte und bis ins 18. Jahrhundert hinein nie die Zahl von 5000 überstieg. Um 1349/50 starb etwa die Hälfte der Bevölkerung an der Pest. Eine weitere Einwanderungswelle aus Skandinavien konnte diesen Bevölkerungsschwund allmählich wieder ausgleichen. Erst mit dem Aufkommen der Hochseefischerei (und damit der Unabhängigkeit von der schwierigen Landwirtschaft) und dem allgemeinen Fortschritt im Gesundheitswesen fand ein rasantes Bevölkerungswachstum auf den Färöern statt. Ab Ende des 18. Jahrhunderts verzehnfachte sich die Bevölkerung innerhalb von 200 Jahren. Anfang der 1990er Jahre kam es zu einer schweren Wirtschaftskrise mit spürbarer Auswanderung, die sich aber in den Folgejahren wieder zu einer Nettozuwanderung umkehrte. Als 2004 die Marke von 48.000 Einwohnern überschritten wurde, hatte die Einwohnerzahl in etwa wieder die Höhe wie zu Beginn der Krise Anfang der 1990er Jahre erreicht. Im April 2015 erreichte die Einwohnerzahl mit 48.795 Einwohnern einen neuen Höchststand, und im August 2015 lebten erstmals in der Geschichte der Färöer mehr als 49.000 Menschen auf den 18 felsigen Inseln im Nordatlantik.Die Färöer sind eines jener Länder der Erde, in denen es mehr männliche als weibliche Bewohner gibt. 52 % männlichen Einwohnern stehen 48 % weibliche gegenüber (1. Januar 2007). In der Altersgruppe der 20- bis 39-Jährigen beträgt der Unterschied 11 %. Das ist vor allem auf die Beschäftigungssituation für junge Frauen zurückzuführen.Färingerinnen bekommen durchschnittlich 2,6 Kinder. Das ist die höchste Geburtenrate der nordischen Länder. Gleichzeitig gibt es hier die wenigsten Scheidungen, die wenigsten Selbstmorde und die wenigsten Abtreibungen. Das Bevölkerungswachstum betrug 2015 +0,8 %. Die Lebenserwartung betrug 2016 insgesamt 80,4 Jahre (Männer: 77,8 Jahre/ Frauen: 83,1 Jahre). Die Darstellung von Grafiken ist aktuell auf Grund eines Sicherheitsproblems deaktiviert. === Sprache === Die aus dem Altnordischen stammende färöische Sprache ist eine der kleinsten germanischen Sprachen. Sie ist am ehesten für Sprecher des Isländischen und westnorwegischer Dialekte verständlich. Ihr nächster Verwandter war das inzwischen ausgestorbene Norn der Shetlandinseln. Durch die Reformation wurde sie um 1540 in allen offiziellen Bereichen durch das Dänische verdrängt und über Jahrhunderte nur mündlich in Form der unzähligen färöischen Balladen weitergegeben. Pioniere wie Jens Christian Svabo und Johan Henrik Schrøter sorgten Ende des 18., Anfang des 19. Jahrhunderts für die erste Verschriftlichung ihrer Sprache. V. U. Hammershaimb und Jakob Jakobsen formten die heutige Orthographie. Das Färöische konnte sich infolge des Sprachenstreits im 20. Jahrhundert als Hauptsprache in allen Bereichen durchsetzen, sodass Dänisch heute nur noch den Charakter einer amtlichen Verkehrssprache hat. Beispielsweise müssen färöische Gesetze immer auch ins Dänische übersetzt werden. Schilder und Durchsagen sind grundsätzlich auf Färöisch, und wenn eine zweite Sprache hinzugezogen wird, ist es Englisch, nicht die offizielle Zweitsprache Dänisch, das in der Schule gelehrt wird und daher von den meisten Färingern – zumindest in Schrift – verstanden wird. Weitere Fremdsprachen sind Deutsch und Französisch. Die von Jóhan Hendrik Winther Poulsen geprägte färöische Sprachpolitik sorgt für eine aktive Neuschöpfung von Begriffen des modernen Lebens. Sie ist ähnlich puristisch wie die auf Island und vermeidet Fremdwörter und Anglizismen. Neben den rund 45.000 ethnischen Färingern auf den Färöern selber gibt es mindestens 15.000 weitere Muttersprachler, zumeist in Dänemark. Im Jahr 1998 erschien mit dem Føroysk orðabók das erste muttersprachliche Wörterbuch. An der Universität der Färöer kann Färöisch studiert werden. Zum seit 1992 wieder geltenden patro- und metronymischen Namensrecht siehe Färöische Personennamen. === Religion === Die Färöer wurden ab 999 durch Sigmundur Brestisson christianisiert. Schon vorher lebten dort irische Mönche als Einsiedler. Nahezu alle Färinger sind Christen. 2017 waren rund 80 % der Einwohner Angehörige der evangelisch-lutherischen Staatskirche. Ungefähr 7–10 % sind Mitglieder der durch das Wirken des Erweckungspredigers William Gibson Sloan entstandenen Brüdergemeinden (färöisch: Brøðrasamkoman). Etwa 5 % gehören anderen christlichen Kirchen an: Neben den Pfingstlern mit ihren sieben Kirchen sind die Adventisten zu nennen, die in Tórshavn eine relativ große allgemeinbildende private Schule betreiben, und die etwa 124 Zeugen Jehovas in vier Gemeinden. Die katholische Kirche auf den Färöern zählt heute rund 270 Mitglieder. Ihre alte Franziskanerinnen-Schule wird inzwischen wieder von der Kommune Tórshavn betrieben. Darüber hinaus gibt es etwa 15 Bahai, die sich an vier verschiedenen Orten treffen. Ahmadiyya-Muslime gründeten 2010 eine eigene Gemeinschaft. Mit 0,04 % sind die Färöer nach der Vatikanstadt das Land mit den wenigsten Muslimen in Europa.Die bekanntesten Kirchenbauten sind unter anderem die Olavskirche und die unvollendete Magnuskathedrale in Kirkjubøur, die Tórshavner Domkirche, die katholische Kirche St. Marien in Tórshavn, die Christianskirkjan in Klaksvík, die Kirche von Fámjin, die achteckige Kirche von Haldórsvík und nicht zuletzt die Gøtu Kirkja in Norðragøta. Bibelübersetzungen auf Färöisch erschienen 1948 (Victor Danielsen, Brüdergemeinden) und 1961 (Jacob Dahl und Kristian Osvald Viderø, Staatskirche). == Geschichte == === Früheste Siedlungen === Die ältesten Spuren menschlicher Besiedlungen stellen verkohlte Gerstenkörner aus Á Sondum dar, die 2013 entdeckt wurden. Sie stammen aus der Mitte des 4. bis zur Mitte des 6. Jahrhunderts, weitere stammen aus der Zeit zwischen dem späten 6. und dem späten 8. Jahrhundert. Dort fand sich auch ein Wikingerhaus aus dem 9. Jahrhundert.Bis dahin galten die Inseln zu dieser Zeit als unbewohnt. === Irische Mönche === Die Färöer wurden um 625 von irischen Mönchen wiederentdeckt und vom Ort Sumba ausgehend besiedelt. Archäologische Zeugnisse gibt es auch in der unmittelbaren Umgebung bei Akraberg, Víkarbyrgi und etwas weiter nördlich in Porkeri. Unter anderem konnte anhand botanischer Untersuchungen auf Mykines nachgewiesen werden, dass dort seit jener Zeit Hafer kultiviert wird. Dabei muss es sich aber um vergleichsweise kleine Einsiedlergruppen gehandelt haben. === Wikinger-Landnahme === Die Haupteinwanderung trat im 9. Jahrhundert durch die Wikinger ein, die von Norwegen aus gen Westen zogen. Gemäß der Färingersaga hieß der erste Siedler Grímur Kamban. Er soll in Funningur gewohnt haben. Es gab zwei große Einwanderungswellen während der nordischen Landnahme: etwa 820–860 kamen Flüchtlinge aus Norwegen, um 880–900 Wikinger aus Irland und Schottland. Die Besiedlung Islands durch die Wikinger fand einige Jahrzehnte später statt. Der Legende zufolge soll ein färöischer Siedler namens Naddoddur bei einer Heimreise aus Norwegen die Färöer verfehlt haben und stattdessen in Island gelandet sein. === Christianisierung === Nachdem sich der norwegische König Olav Tryggvason 994 beim englischen König Aethelred hatte taufen lassen und im Jahr darauf Norwegen missioniert hatte, lud er den angesehenen färöischen Häuptling Sigmundur Brestisson zu sich ein, der dann bekehrt im Jahr 999 auf den Färöern für die Annahme des Christentums durch das färöische Thing, das heutige Løgting, sorgte. Sein Grabstein auf Skúvoy gehört zu den wichtigsten Denkmälern des Archipels aus jener Zeit. Der Nachfolger Olavs, Olav II. Haraldsson von Norwegen, konnte das Christentum in Norwegen und auch auf den Färöern und in Island endgültig durchsetzen. Dafür wird er von den Insulanern heute noch an seinem Todestag, der Ólavsøka, verehrt. Ab 1035 gehörte der Archipel politisch zu Norwegen, konnte sich aber durch die Entfernung zur Zentralmacht ein hohes Maß an Eigenständigkeit erhalten. In der Folge etablierten sich die katholischen Bischöfe in Kirkjubøur, wo sich weitere Kulturdenkmäler wie der Magnusdom (um 1300) befinden, der auf der Antragsliste zum UNESCO-Weltkulturerbe steht. 1298 erhielten die Färöer durch den Schafsbrief des norwegischen Königs ihr „Grundgesetz“, das in Teilen der Außenmarktbewirtschaftung bis heute gültig ist. (siehe dort mehr Details zur mittelalterlichen Geschichte der Färöer) 1380 gelangten die Färöer im Zuge der Personalunion Dänemarks mit Norwegen unter die dänisch-norwegische Krone. Von 1397 bis 1523 waren die Inseln Teil der Kalmarer Union. === Reformation === 1538 erreichte die Reformation die Inseln. Dadurch wurde die Vorherrschaft der dänischen Sprache verewigt. Der Sohn des ersten lutherischen Propstes Heini Havreki war der Seeheld Magnus Heinason, der 1589 in Kopenhagen wegen des Vorwurfs der Piraterie geköpft wurde und seitdem von vielen Färingern als Nationalheld verehrt wird. Als dunkelste Periode für die Färöer erwies sich die Gabelzeit im 17. Jahrhundert. An diesem Status änderte sich auch 1814 nach dem Frieden von Kiel nichts, in dessen Folge die dänisch-norwegische Personalunion aufgelöst wurde und Norwegen einer Personalunion mit Schweden beitreten musste, aber die Färöer zusammen mit Island und Grönland bei Dänemark blieben. === Nationale Bewegung === Ab 1846 entstand durch das Wirken des Sprachforschers V. U. Hammershaimb die neufäröische Schriftsprache auf etymologischer Grundlage. Bis dahin wurde das Färöische mündlich in den eigenen Balladen überliefert. Hammershaimb und seine Nachfolger begründeten die färöische Literatur und erschlossen alte Sprachdenkmäler. Nachdem sich bereits Anfang des 19. Jahrhunderts der Nationalheld Nólsoyar Páll aufgelehnt hatte, wurde 1856 das königlich dänische Handelsmonopol über die Färöer aufgehoben. Auf dem Weihnachtstreffen der Färöer 1888 konstituierte sich die Nationalbewegung im Kampf um die eigene Sprache und nationale Unabhängigkeit. Zunächst war die Nationalbewegung eher kulturell ausgerichtet, aber nach der Gründung der ersten färöischen politischen Parteien 1906 und mit dem Sprachstreit von 1909 bis 1938 wurde sie politisch. === Zweiter Weltkrieg und Autonomie === Im Zweiten Weltkrieg wurden die Färöer aus strategischen Gründen am 12. April 1940 vom Vereinigten Königreich besetzt, um Deutschland zuvorzukommen. Die deutsche Wehrmacht hatte drei Tage zuvor im Unternehmen Weserübung Dänemark und Norwegen besetzt und kam damit knapp einer geplanten und in Vorbereitung befindlichen Besetzung norwegischer Häfen durch Großbritannien zuvor. Die Briten bauten den Flughafen Vágar und weiteten auch die Selbstverwaltung des Løgtings aus, sodass die Färinger 1946 zur Überwindung der Verfassungskrise eine Volksabstimmung über ihre volle Souveränität durchführten und bei einer Wahlbeteiligung von 66,4 % mit knapper Mehrheit (48,7 % zu 47,2 %) für eine staatliche Unabhängigkeit votierten. Dänemark verweigerte die Anerkennung dieses Abstimmungsergebnisses, stimmte aber der Aufnahme von Verhandlungen zu. Seit dem Autonomiegesetz von 1948 genießen die Inseln eine weitgehende politische Selbständigkeit. Die Entscheidungsmacht über die Außen- und Sicherheitspolitik blieb jedoch bis zum Vertrag von Fámjin (2005) bei Dänemark. Von Bedeutung war das vor allem 1952, als Dänemark gegen das Votum des Løgting die Mitgliedschaft der Färöer in der NATO erklärte. Seitdem werden auf den strategisch bedeutsam in der G-I-UK-Lücke gelegenen Inseln militärische Einrichtungen der NATO betrieben (siehe Färöer im Kalten Krieg). Als Dänemark 1973 der Europäischen Gemeinschaft beitrat, vollzogen die Färöer diesen Schritt nicht mit. Die Inselgruppe gehört folgerichtig nicht zur EU. == Politik und staatliche Einrichtungen == === Verwaltungsgliederung === ==== Regionen ==== Allgemein wird zwischen sechs geographischen Regionen unterschieden. Diese sind identisch mit den sýslur (Syssel), die ursprünglich Rechts- und Polizeikreise bildeten, denen jeweils ein Sýslumaður (Sysselmann) vorstand. Heute hat die Polizeidirektion Tórshavn fünf Polizeiabschnitte unter sich. Norðoya sýsla: Die zerklüftetsten Landschaften und meisten der höchsten Berge finden sich auf den sechs Nordinseln im Nordosten. Das sind: Kalsoy, Kunoy, Borðoy, Viðoy, Svínoy und Fugloy ganz im Osten der Färöer. Die Nordinseln-Metropole Klaksvík auf Borðoy ist die zweitgrößte Stadt und wichtigster Standort der Fischindustrie. Viðareiði auf Viðoy ist der nördlichste Ort des Landes mitten in einer einzigartigen Landschaft. Eysturoyar sýsla: Westlich der Nordinseln schließt sich Eysturoy als zweitgrößte Insel des Archipels an. Mit Streymoy zusammen bildet sie das Zentrum der Färöer. Das Ballungsgebiet um Runavík ist dort die größte urbane Siedlung, gefolgt von Fuglafjørður. Für ihre landschaftlichen Reize bekannt sind die beiden nördlichen Orte Eiði und Gjógv. Streymoyar sýsla: Die größte Insel Streymoy ist zugleich die bevölkerungsreichste mit der Hauptstadt Tórshavn als administrativem und kulturellem Zentrum und dem wichtigsten Seehafen des Landes. Die Stadt Vestmanna an der Westküste der Insel ist bekannt für die imposanten Vogelfelsen (Vestmannabjørgini) weiter nördlich. Saksun und Tjørnuvík im Norden sind ebensolche Anziehungspunkte wie Kirkjubøur im Süden. Zur Region der Hauptinsel zählen die vorgelagerten Inseln Nólsoy im Osten, und Hestur und Koltur im Westen. Vága sýsla: Westlich von Streymoy befindet sich Vágar mit dem einzigen Flughafen und dem weiter westlich vorgelagerten Vogelparadies auf der einsamen Insel Mykines, die den westlichen Außenposten des Archipels bildet. Sandoyar sýsla: Südlich von Streymoy liegt Sandoy, die ihren Namen von den relativ seltenen Sandstränden hierzulande hat. Zu dieser Region zählen die kleinen Eilande Skúvoy und Groß-Dimun. Suðuroyar sýsla: Suðuroy schließlich bildet die viertgrößte Insel des Archipels und gleichzeitig den südlichsten Teil des Landes. Dazu wird geographisch Klein-Dimun gezählt. Die Städte Tvøroyri und Vágur sind dort die regionalen Zentren. Sumba ist die südlichste Gemeinde der Färöer. Die spektakuläre Westküste auf dem Landweg dorthin ist besonders leicht zugänglich. ==== Kommunen und Siedlungen ==== Die Färöer sind politisch in 29 Gemeinden eingeteilt, vor dem 1. Januar 2017 waren es 30, vor dem 1. Januar 2009 noch 34. Statistische Daten zur Gemeindegliederung finden sich in der Liste der Kommunen auf den Färöern. Die Besiedlung verteilt sich auf heute 116 Orte, von städtischen Siedlungen bis zu Einzelhöfen. Die Liste der Städte und Orte auf den Färöern umfasst auch einige heute verlassene Wohnplätze. === Politik === Die Färöer sind neben dem Kernland Dänemark und Grönland eines der drei Länder des Königreichs Dänemark. Staatsoberhaupt ist Königin Margrethe II. von Dänemark, die dänische Regierung wird durch die Reichsombudsschaft repräsentiert. Chef der Landesregierung der Färöer ist der Sozialdemokrat Aksel V. Johannesen. Seine Mitte-links-Regierung besteht seit dem 15. September 2015 aus Sozialdemokraten, Sozialisten und Liberalen. Das Parlament ist das Løgting. Am 25. Oktober 2007 wurden die sieben färöischen Wahlkreise (nach den sieben Regionen) zu einem einheitlichen Wahlgebiet zusammengelegt. Neben dem eigenen Parlament entsenden die Färöer wie Grönland auch zwei Abgeordnete ins Folketing, die die färöischen Interessen in dänischen Parlamentsangelegenheiten wahrnehmen sollen. Ein hohes Maß an Autonomie wurde mit dem Gesetz über die Innere Selbstverwaltung am 31. März 1948 erreicht. Die Färöer führen eine eigene Flagge und gelten als „Nation innerhalb der Reichsgemeinschaft mit Dänemark“. Mit dem Vertrag von Fámjin erhielten die Färöer am 29. März 2005 mehr außenpolitische Kompetenzen. Bereits seit Januar 2002 unterhielten die Färöer eine diplomatische Vertretung in London, jedoch als Abteilung der dänischen Botschaft. Der Gesandte der Färöer in London ist gleichzeitig Vertreter bei der Internationalen Seeschifffahrts-Organisation, einer UN-Institution mit Sitz in London, deren assoziiertes Mitglied die Färöer sind. Seit Oktober 2006 ist der färöische Vertreter in London gleichzeitig beim Außenministerium Irlands akkreditiert und hat somit einen weiteren Sitz in der dänischen Botschaft in Dublin. Seit 2007 haben die Färöer auch eine Gesandtschaft in Reykjavík. Schon vorher besaßen die Färöer eigene Vertretungen in Brüssel bei der EU und in Kopenhagen beim Nordischen Rat. Die Vertretung in Kopenhagen ist in der Nordatlantens Brygge untergebracht, die gemeinsam mit Island und Grönland genutzt wird. Das Hoyvíker Abkommen 2005 begründete die Wirtschaftsunion der Färöer mit Island. Später soll auch Grönland beitreten. Bereits seit 1985 kooperieren diese drei Länder im Westnordischen Rat. 2005 kündigte Ministerpräsident Eidesgaard an, dass die Färöer der Europäischen Freihandelsassoziation (EFTA) beitreten wollten. Spätestens 2010 wurde jedoch deutlich, dass dies nicht möglich ist, da die Färöer kein Staat sind.Die Färöer sind im Gegensatz zu Dänemark nicht Mitglied der EU und auch nicht des Schengen-Raums. Sie sind im Nordischen Rat vertreten. Das Ålandsdokument von 2007 sichert den Färöern, Grönland und Åland eine gleichberechtigte Mitgliedschaft im Nordischen Rat zu. Die Färöer wurden am 17. November 2007 beratendes Mitglied der Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation der Vereinten Nationen (FAO). Es gibt einflussreiche Gruppen, die eine vollständige Loslösung von Dänemark anstreben. Das Kräfteverhältnis im färöischen Parteienspektrum von separatistischen Republikanern bis zu pro-dänischen Unionsanhängern ist relativ ausgeglichen. Koalitionen zur Bildung der färöischen Landesregierung umfassen oft beide Lager. === Staatsgewalt === Die Færøernes Politi (färöisch løgregla) wird vom fúti geleitet, er ist gleichzeitig oberster Staatsanwalt. Die offizielle Amtsbezeichnung des Fúti, der ein dänischer Beamter ist, lautet dänisch Landfogeden på Færøerne. Die Polizeibewerber werden auf den Färöern selbst ausgewählt, aber auf der Polizeischule in Kopenhagen ausgebildet. Die NATO betreibt bei Mjørkadalur eine Radar-Frühwarnstation, die zum Netz der Frühwarnsysteme rund um den nördlichen Polarkreis gehört. Die Färöer haben kein eigenes Militär, ihre Bürger unterliegen auch nicht der dänischen Wehrpflicht. Andererseits dienen mehrere Färinger als Berufssoldaten bei den dänischen Streitkräften. Das Færøernes Kommando (ISCOMFAROES) umfasste die für die autonomen Färöer zuständigen dänischen Militäreinheiten. Leiter von ISCOMFAROES war Kapitän zur See Christian A. Nørgaard. Zum 31. Oktober 2012 wurde das Kommando gemeinsam mit Grønlands Kommando zugunsten des neu gebildeten Arktisk Kommando (Arktisches Kommando) mit Sitz in Nuuk (Grönland) aufgelöst. === Bürgerinitiativen === Bedeutend ist die färöische Sektion von Amnesty International mit etwa 1.200 Mitgliedern. Sie wurde 1965 gegründet und gehört zu den ältesten Amnesty-Gruppen der Welt. == Infrastruktur == === Verkehr === 1896 wurde mit dem Dampfschiff Smiril der erste Linienverkehr zwischen den färöischen Inseln eingerichtet. 1918 entstand die erste Straße auf den Färöern, die zwei Orte miteinander verband: Skopun und Sandur auf Sandoy. Wichtigste internationale Drehscheiben der Färöer sind der Hafen von Tórshavn mit der Autofähre Norröna und der Flughafen Vágar mit der einheimischen Fluggesellschaft Atlantic Airways. Beide Verkehrszentren sind seit 2002 durch den Vágatunnilin verbunden, der die Fahrtzeit mit dem Auto auf eine Stunde verkürzt. Als Seefahrernation verfügen die Färöer über sechs Leuchttürme und eine eigene Fischereiflotte. Die meisten färöischen Schiffe entstammen der heimischen Produktion und führen seit 1940 auf den internationalen Gewässern die Flagge der Färöer. Die Handelsmarine hat sieben Schiffe. Daneben ist das Färöboot ein Beispiel, wie das Wikingerschiff als kleines seetüchtiges Ruderboot vervollkommnet werden konnte. Die größte Regionalfähre ist die Smyril, die zwischen Tvøroyri und Tórshavn verkehrt und somit die südlichste Insel Suðuroy mit der Hauptstadt verbindet. Das Straßennetz der Färöer ist fast vollständig asphaltiert und verbindet seit 2004 alle Regionen, die auf Inseln liegen, auf denen es mehr als nur einen Ort gibt. Insgesamt wurden bisher 463 km Landstraße gebaut; die längste ist die Straße 10, sie führt von der Hauptstadt Tórshavn auf Streymoy nach Toftir auf Eysturoy. Hinzu kommen etwa 500 km innerhalb der Ortschaften. Autofähren verbinden diejenigen Inseln, wohin keine Dämme, Brücken oder Tunnel führen, aber Orte mit Straßennetz liegen. Der 2006 eröffnete Norðoyatunnilin verbindet die Nordinseln mit dem Rest des Landes. Damit haben 85 % der Bevölkerung eine feste Straßenverbindung untereinander. 2002 waren über 22.000 Kfz auf den Färöern zugelassen, darunter mehr als 16.000 Pkw, was ziemlich genau einem Pkw pro Haushalt entspricht. Der öffentliche Personennahverkehr ist gut ausgebaut. In Tórshavn verkehren Stadtbusse, die an der roten Farbe zu erkennen sind. Zwischen den Ortschaften fahren Überlandbusse, die blau lackiert sind. Wo weder Busse noch Fähren hinfahren, fliegt der Hubschrauber (siehe: Flughafen Vágar). Das Streckennetz der Färöer kann auf der Website des staatlichen Verkehrsunternehmens Strandfaraskip Landsins eingesehen werden. Im Jahr 2020 wurde der Tunnel Eysturoyartunnilin, der mit 11.238 Metern bis dato längste Straßentunnel, für den Straßenverkehr freigegeben. Er verkürzte die Fahrzeit von Tórshavn nach Klaksvík um die Hälfte, musste zuvor doch der gesamte Straßenverkehr über die einzige Verbindungsbrücke, die Streymin-Brücke, zwischen Streymoy und Eysturoy geführt werden. Bei dem Tunnel handelt es sich nach dem Vágatunnilin (2002) und dem Norðoyatunnilin (2006) um den dritten unterseeischen Tunnel der Färöer. Im Jahr seiner Freigabe war der Eysturoyartunnilin zudem das größte Bauwerk der Färöer. Zu den Besonderheiten des Tunnelsystems in Y-Form zählt, dass er drei Einfahrten hat. Auf der Insel Eysturoy befinden sich in Strendur und bei Runavík jeweils eine Tunneleinfahrt. Die Straßen treffen unter See in einem Verkehrskreisel aufeinander. Von hier aus führt die Straße weiter bis nach Hvítanes in der Nähe der Hauptstadt Tórshavn auf Streymoy. === Telekommunikation === Mit rund 95 % benutzen auf den Färöern fast alle Menschen das Internet und es sind fast alle Menschen ans Festnetz angeschlossen.1905 wurde die erste Telefonleitung auf den Färöern errichtet. 1930 waren alle Orte der Färöer an das Telefonnetz angeschlossen. Nach Suðuroy bestand zunächst allerdings nur eine Funkverbindung mit dem Rest des Landes. 1953 bekam Tórshavn die Selbstwahl, die dann bis 1978 landesweit eingeführt wurde. Ab 1954 existierte eine Funkverbindung mit Dänemark. 1971 folgte das Seekabel zu den Shetlandinseln. Heute sind die Färöer durch zwei Glasfaserkabel mit der Außenwelt verbunden. Seit 1998 ist das Telefonnetz vollständig digitalisiert und es existiert ein flächendeckendes GSM-Netz für die Mobiltelefonie. === Versorgung mit elektrischer Energie === Im Jahr 2014 wurden 51 % des genutzten elektrischen Stroms mit Wind- und Wasserkraft erzeugt. Der wichtigste Energieversorger SEV hat 2015 einen Windpark in Betrieb genommen, um den Anteil auf 60 % zu steigern, und möchte bis 2030 100 % des Stroms mit erneuerbaren Energien gewinnen. Dazu soll 2025 ein Offshore-Windpark in Betrieb genommen werden. SEV betreibt sechs Wasserkraftwerke. 2016 wurde ein Batteriesystem installiert, um Fluktuationen abzumildern. In Sumba wurde 2019 eine 261-kW-Photovoltaikanlage eingeweiht. 2019 wurden nur 40 % des Stroms regenerativ gewonnen (13 % aus Wind und 27 % aus Wasserkraft), da 2019 ein besonders trockenes und windarmes Jahr war. == Wirtschaft == === Überblick === Wichtige Erwerbszweige sind die Fischerei, die Fischzucht (meist Lachse) und der Tourismus. Ein weiterer Faktor im Export sind die Werften und die Briefmarken des Posta P/f. Die Fischereiwirtschaft dominiert mit einem Anteil von etwa 95 % am Exportvolumen. Das CD-Label Tutl und der Wollmodehersteller Sirri sind in ihren jeweiligen internationalen Marktnischen führend. Der Import betrug 2010 4,365 Mrd. Kronen. Die wichtigsten Herkunftsländer sind Dänemark, Norwegen, Schweden und Deutschland. Importwaren sind Rohstoffe, Konsumgüter, Schiffe und Maschinen. Der Export betrug 4,639 Mrd. Kronen; dabei führen Großbritannien, Deutschland, Dänemark und Frankreich die Statistik an. Was die Färöer für sich selbst produzieren können, sind neben der Fischerei nur etwas Landwirtschaft (Schafe, Kartoffeln usw.) und Wasserkraft zur Stromerzeugung. Alle anderen Güter werden importiert und damit durch die Fischerei finanziert. === Fischerei === Die Fischfangzone der Färöer beträgt 200 Seemeilen. Von hier kommt der größte Anteil des färöischen Fangs. Ähnlich ist die Situation beim Nachbarn Island in seinen Gewässern. Beide Nationen erlauben ausländischen Fischfangflotten nur begrenzte Rechte – mit gegenseitiger Ausnahme Islands und der Färöer. Im Nordatlantik sind die Färöer die fünftgrößte Fischereination. In der Welt rangieren sie auf Platz 25. 2005 betrug die Fangmenge 580.823 Tonnen. Jährlich werden über 100.000 Tonnen Fischprodukte verkauft. 2004 waren es 135.244 Tonnen im Wert von 1,15 Mrd. Kronen. Gegenüber 1993 war dies ein Wachstum in der Menge von 90 % und im Wert von 183 %. Etwa 25 % macht dabei der Kabeljau aus, gefolgt von Schellfisch und Seelachs. Im ganzen Land gibt es Fischfabriken. Die Fischereiflotte bestand Anfang 2004 aus 186 Schiffen über 20 BRT. Etwa 3000 Färinger sind in der Fischerei und Fischverarbeitung beschäftigt. Das sind rund 12 % der erwerbstätigen Bevölkerung. Fischereiprodukte machen etwa 95 % des färöischen Exports aus. Zählt man Dienstleistungen zum Exportvolumen hinzu, so sind es noch 82 %. Neben der Hochseefischerei gibt es die Küstenfischerei im typischen Färöboot, wofür ein spezielles Gerät zur Leinenfischerei, die Snella, verwendet wird – eine färöische High-Tech-Erfindung, die auch exportiert wird. === Erdölsuche === Im Mai 2004 fand auf den Inseln der erste internationale Geologen­kongress der Färöer statt, der sich unter anderem mit der Erschließung der unter dem Meer befindlichen Ölvorkommen beschäftigte. Erdöl galt als eine große Zukunftshoffnung für die färöische Wirtschaft. Doch nach Probebohrungen stellte sich heraus, dass eine Förderung nicht wirtschaftlich sinnvoll ist. So gab Equinor das Büro auf den Inseln im Jahr 2015 auf. === Landwirtschaft === Die traditionelle Schafzucht (70.000 Tiere) spielt im Export nur eine untergeordnete Rolle, während färöische Wollprodukte traditionell einen guten Ruf genießen. Schafsfleisch steht auf der heimischen Speisekarte weit oben, rund die Hälfte des Bedarfs muss importiert werden. Neben den Schafen werden Rinder, Hühner und Gänse gehalten. Entsprechend produzieren die Färöer eigene Molkereiprodukte und Eier für den einheimischen Markt. === Walfang === Der umstrittene Grindwal­fang wird von den Färingern nicht mehr kommerziell, sondern als reine Subsistenzwirtschaft betrieben. Dies war jedoch nicht immer so, da zwischen dem späten 19. Jahrhundert und den 1980er Jahren durchaus industrieller Walfang betrieben wurde. Heute zeugt lediglich die einzig erhalten gebliebene ehemalige Walfangstation Við Áir von dieser Zeit. Zwischen 2001 und 2005 wurden 41 Grindwalschulen aufgebracht und dabei insgesamt 3359 Tiere getötet, was einer durchschnittlichen Fangmenge von 672 Grindwalen jährlich entspricht. Die Art und Weise der Treibjagden, die mit motorisierten Booten und mittlerweile unter dem Schutz der dänischen Marine abgehalten wird, wird international verurteilt, da sie als grausam gilt. Bewohner der Färöer und Abgeordnete des dänischen Parlaments bezeichnen die Jagden als „traditionell“. Seit Ende 2008 raten die Gesundheitsbehörden, kein Fleisch von Grindwalen mehr zu verzehren, da es aufgrund der hohen Konzentration an Giftstoffen für den menschlichen Verzehr nicht geeignet ist. === Tourismus === Die Zahl der Übernachtungen in den Hotels und Gästehäusern setzte sich 2003 wie folgt zusammen: 24.405 Gäste kamen aus dem Inland (27,1 %), aus Dänemark 31.571, gefolgt von Norwegen (11.104), Island (5253), dem Vereinigten Königreich und Irland (zusammen 4820) und Deutschland (4149). === Lebensstandard === Die Färöer verfügen über einen als vorbildlich geltenden Sozialstaat. Der durchschnittliche Lebensstandard ist hoch, ebenso das Bildungsniveau der Einwohner. Tarifliche Stundenlöhne 2004: Arbeiter 112,52 Kronen Handwerker 129,93 Kronen Büroangestellte 137,63 Kronen Beamte 175,44 KronenBis Mitte der 1980er Jahre gab es hier Vollbeschäftigung. Ende der 1980er und Anfang der 1990er Jahre erlebten die Färöer eine Wirtschaftskrise. Schwere Anschuldigungen wurden gegen den dänischen Staat erhoben; doch viele meinen, dass sich die Färöer durch ehrgeizige Bauprojekte verhoben haben. Zwischen 2007 und 2009 herrschte auf den Färöern erneut Vollbeschäftigung. Die Arbeitslosenquote war damals mit 1,3 % die niedrigste in Europa außerhalb der EU. Seit Januar 2009 stieg sie jedoch wieder und lag im April 2011 bei 7,7 % und bis Juli 2013 sank sie wieder auf 4,4 %.Die Lebenshaltungskosten bewegen sich auf skandinavischem Niveau. Die Universität der Färöer empfahl ausländischen Studenten für 2005 ein tägliches Budget für Verpflegung von 100 Kronen (zuzüglich Unterkunft), was ungefähr 13,50 Euro entspricht. Darin nicht enthalten sind allerdings Verkehrsmittel, Kulturveranstaltungen, Gastronomiebesuche oder Bücher, die sich vielleicht die meisten Besucher leisten möchten. Ein Tagessatz von 200 Kronen (zzgl. Unterkunft) erscheint daher für Touristen realistisch. == Kultur == === Alltagskultur === Färinger sind bekannt für ihre Liebe zum eigenen Auto. Eine Redensart über die eigenen Landsleute lautet heute daher: Die Färöer haben die wenigsten Gefängnisinsassen pro Kopf auf der Welt, wie eine internationale Untersuchung 2007 ergab. Auf 100.000 Einwohner kommen hier nur 15 Gefangene (umgerechnet auf 48.000 Einwohner ergibt das etwa 7).2006 kamen die Färöer in internationale Negativschlagzeilen durch die zum Teil offene Diskriminierung von Homosexuellen. Junge Schwule und Lesben sehen sich noch immer oft genötigt, ins liberalere Mutterland Dänemark überzusiedeln, da es ihnen auf den Inseln nicht möglich ist, ihre sexuelle Orientierung zu leben und entsprechende Liebesbeziehungen ohne offene Ablehnung durch die Mehrheit der Bevölkerung zu führen. ==== Küche ==== Die Küche der Färöer ist gekennzeichnet durch die abgelegene Lage der Inseln im Nordatlantik. Fisch ist häufiger Teil der Nahrung, ebenso wie die an Land gezüchteten Schafe. Trotzdem muss Schaffleisch importiert werden. Grindwal wird nicht kommerziell bejagt, allerdings werden jährlich mehrere Hunderte Wale oder auch Delphine beim international stark kritisierten, sogenannten „Grindadráp“ getötet. Restaurants sind eine Rarität; man verpflegt sich selbst. Außerhalb der Färöer gibt es nur in Kopenhagen und Aarhus Restaurants mit färöischer Küche, die sich in erster Linie an die eigenen Landsleute richtet. Im 21. Jahrhundert hat die gastronomische Situation sich verbessert; mit dem „KOKS“ unter Poul Andrias Ziska existiert ein Zwei-Sterne-Restaurant. === Kulturbetrieb === Die Färöer sind eine eigenständige Kulturnation innerhalb der nordischen Welt. Durch die geringe Bevölkerungszahl auf der einen und die Erfordernisse einer Nation auf der anderen Seite haben viele Färinger Doppel- und Dreifachfunktionen in der Gesellschaft und sind in ihrer Freizeit Kulturschaffende. Daher verfügen die Färöer über eine erstaunlich reiche literarische, künstlerische und musikalische Produktion und ein ebenso interessiertes Publikum an der eigenen Kultur. Bestimmendes Moment sind neben der eigenen Sprache das Erbe der Wikinger und die färöische Natur. Kulturelles Zentrum ist die Hauptstadt Tórshavn und dort das markante Haus des Nordens (Norðurlandahúsið) als wichtigster Veranstaltungsort des Landes, wo auch regelmäßig Kulturaustausch mit anderen Ländern (meist nordischen) stattfindet. In Tórshavn befinden sich auch das Landestheater, die Musikschule und das Kunstmuseum. Nationalfeiertag und größtes Volksfest mit sportlichem und kulturellem Rahmenprogramm ist die Ólavsøka am 28./29. Juli. Andere Volksfeste sind die Jóansøka um den 24. Juni herum, die Varmakelda Ende Juni/Anfang Juli und die Ovastevna im August. Wie bei der Ólavsøka werden hier die färöischen Kettentänze gepflegt und die Regatten zu den Meisterschaften im färöischen Rudersport abgehalten. === Kettentanz und Balladen === Der färöische Kettentanz mit den dazu vorgetragenen alten Balladen (zum Beispiel die färöischen Sigurdlieder) sind ein Kulturgut ersten Ranges und stehen in Europa alleine da. Kein anderes Land konnte mittelalterliches Brauchtum derart authentisch in die Moderne retten. Die färöische Sprache war seit der Reformation um 1540 als Schriftsprache vollständig verschwunden, und die ununterbrochen tradierten Balladen trugen wesentlich zum Erhalt der Sprache bis in unsere Zeit bei. Jens Christian Djurhuus war ein traditioneller Skalde, der noch im 19. Jahrhundert Balladen nach altem Muster schrieb. Das bekannteste Stück überhaupt ist Ormurin Langi und stammt aus Djurhuus’ Feder. Ein anderes jüngeres Beispiel ist die Grindavísan von Christian Pløyen, einem dänischen Beamten. Obwohl von einem Ausländer und auf Dänisch, gehört es zu jedem Grindadráp (Grindwalfang) dazu. Der färöische Kettentanz findet keineswegs nur zu folkloristischen Darbietungen statt, sondern ist fester Bestandteil der Alltagskultur unserer Zeit. Das heißt, ein Kettentanz findet nicht für ein Zuschauerpublikum statt, sondern ist ein Gemeinschaftserlebnis aller Anwesenden. Die Färöer haben daher auch eine starke Tradition des gemeinsamen Gesanges. So ist es üblich, dass man zu Familienfeiern stundenlang alte und neue Lieder singt. Größtes derartiges Ereignis ist der 29. Juli (Ólavsøka) mitternachts in Tórshavn, wenn Tausende unter freiem Himmel zusammenkommen. === Musik === Die Färöer haben ein eigenes Symphonieorchester, einen bekannten Chor (Havnarkórið) und eine sehr lebendige Musikszene in allen Sparten, wobei einige färöische Musiker auf ihr nationales Erbe der Balladen zurückgreifen und damit eigene Wege gehen können. Die bekanntesten zeitgenössischen färöischen Komponisten sind Sunleif Rasmussen, Kristian Blak, Atli Petersen, Edvard Nyholm Debess und Heðin Meitil. Jedes Jahr im Sommer findet das Festival Summartónar für zeitgenössische und klassische Musik statt. Mit Í Óðamansgarði (Im Garten des Verrückten) von Sunleif Rasmussen wurde am 12. Oktober 2006 im Nordlandhaus die erste färöische Oper uraufgeführt. Klassiker der färöischen Unterhaltungsmusik sind Annika Hoydal und Tey á Kamarinum. Im 21. Jahrhundert treten Solisten wie Eivør Pálsdóttir, Guðrið Hansdóttir, Teitur Lassen, Lena Anderssen, Linda Andrews, Guðrun Sólja Jacobsen, Høgni Lisberg, Petur Pólson, Brandur Enni und Heiðrik hervor. Bekannte Rockgruppen (über die Landesgrenzen hinaus) sind u. a. 200 (Punk), Boys in a Band („Cowboy Rock“), Gestir, Makrel, Marius, Sic (Thrash Metal), Týr (Viking Metal) und die inzwischen aufgelösten Gruppen Clickhaze (Avantgarde) und Moirae. International rezipiert wird der experimentelle Musiker Jens L. Thomsen. Gruppen wie Páll Finnur Páll oder Villmennir haben eher lokale Bedeutung. Große Open-Air-Festivals für Populärmusik mit internationalen und heimischen Stars sind u. a. die Jóansøka jeden Juni in abwechselnd Vágur oder Tvøroyri, das G! Festival in Gøta jeden Juli, das Liveprogramm beim Nationalfeiertag Ólavsøka in Tórshavn und das Summarfestivalur in Klaksvík jeden August. 2009 gibt es erstmals das Festival Við Múrin in Kirkjubøur. Der alle zwei Jahre stattfindende Prix Føroyar war bis 2005 der nationale Talentwettbewerb, aus dem schon viele Stars hervorgegangen sind, die über die Färöer hinaus bekannt wurden. Heute heißt diese Veranstaltung Atlantic Music Event und konzentriert sich mehr auf den Export färöischer Musik. Kristian Blak gilt seit über 30 Jahren als Mentor der aufstrebenden färöischen Musikszene. Er ist Kopf des Jazz-Ensembles Yggdrasil und Gründer des selbstverwalteten Plattenlabels Tutl, bei dem die meisten oben genannten Künstler verlegt werden. === Literatur === Bedingt durch die Schöpfung der neufäröischen Schriftsprache durch V. U. Hammershaimb und die linguistische Arbeit von Jakob Jakobsen entstand die färöische Literatur. Die Dichtung des Klassikers Janus Djurhuus wurde stilprägend für die meisten seiner Nachfolger, während sein jüngerer Bruder Hans A. Djurhuus durch seine Kinderlieder im Alltag aller heutigen Generationen weiter lebt. Der weltweit bekannteste färöische Schriftsteller ist William Heinesen, der selbst nur auf Dänisch schrieb. Sein gleichaltriger, sehr früh verstorbener, Cousin Jørgen-Frantz Jacobsen schrieb ebenfalls auf Dänisch und wurde durch den Roman Barbara auch in Deutschland bekannt. Der erste färöischsprachige Schriftsteller, der in viele Weltsprachen übersetzt wurde, war Heinesens guter Freund Heðin Brú. Zeitgenössische Autoren sind u. a. Jens Pauli Heinesen, Gunnar Hoydal, Jógvan Isaksen, Carl Jóhan Jensen, Hanus Kamban, Jóanes Nielsen, Rói Patursson und Tóroddur Poulsen. Súsanna Helena Patursson begründete die Frauenliteratur der Färöer. Malan Marnersdóttir ist heute die führende Literaturwissenschaftlerin des Landes. Oddvør Johansen gehört heute zu den bekanntesten weiblichen Autoren. In den Büchern Stjørnuakrar – Sternenfelder von Guðrið Helmsdal (2006, ISBN 3-86634-076-1) und (erweitert) Frá Áarstovubrøðrunum til Tórodd – føroysk yrking í hundrað ár / Von Djurhuus bis Poulsen – färöische Dichtung aus 100 Jahren (2007, ISBN 978-3-86703-546-0) erstellt der Herausgeber Paul Alfred Kleinert) zum ersten Mal einen Abriss der färöischen Literaturgeschichte im deutschen Sprachraum. === Bildende Kunst === Die färöische bildende Kunst entstand erst im 20. Jahrhundert infolge der nationalen Erweckungsbewegung. Als bedeutendster färöischer Maler und gleichzeitig „Vater der färöischen Malerei“ gilt Sámal Joensen Mikines, dessen zeitweilige Lebensgefährtin und Ehefrau Elinborg Lützen als erste und wichtigste Grafikerin der Inseln betrachtet wird. Ruth Smiths Selbstporträts werden zu den kostbarsten Gemälden des Landes gezählt. Zu den wichtigsten zeitgenössischen Künstlern gehören Ingálvur av Reyni, der seit 2004 auch im Staatlichen Kunstmuseum Kopenhagen vertreten ist, die Grafik- und Textilkünstlerin Astrid Andreasen und Zacharias Heinesen, von dem unter anderem ein Werk in Deutschland seine Heimat gefunden hat: das Altarbild der Dänischen Kirche von Husum (Nordfriesland). Der erste Bildhauer des Landes ist Janus Kamban. Hans Pauli Olsen und Tróndur Patursson sind heutzutage die produktivsten Bildhauer des Landes. Der Maler Bárður Jákupsson ist der führende Autor über färöische Kunst. Das Kunstmuseum der Färöer, Listasavn Føroya, beherbergt die größte Sammlung färöischer Künstler. Eine Studienreise führte 1890 den Maler Alf Bachmann auf die Färöer und nach Island.1995 malte Ingo Kühl Aquarelle in Gjógv, nach denen der neunteilige Bilder-Zyklus Färöer entstand, welcher 1998 als Bildband veröffentlicht und 2003/2004 in der Königlich Dänischen Botschaft in Berlin ausgestellt wurde. === Bildungswesen === Das färöische Bildungswesen befindet sich auf hohem, skandinavischem Niveau. Es ähnelt dem dänischen Schulsystem, wird aber von der Landesregierung autonom verwaltet. Die Unterrichtssprache ist grundsätzlich Färöisch, was über Jahrzehnte im Sprachenstreit hart erkämpft wurde. Die ersten Pädagogen, die sich für das Färöische als allgemeine Schulsprache starkmachten, waren Símun av Skarði, Jacob Dahl und Andrias Christian Evensen. Es gibt drei Gymnasien. Das Tórshavner Gymnasium ist das älteste und größte und liegt in Hoydalar. Das Gymnasium in Vágur versorgt die Insel Suðuroy, und das in Kambsdalur (mit Außenstelle in Klaksvík) den Osten und Norden des Landes. Die Universität der Färöer bietet neben färöischer Sprach- und Literaturwissenschaft auch Naturwissenschaften und Geschichts- und Gesellschaftswissenschaft an. Es gibt auch eine pädagogische und eine Fischereihochschule. Die Volkshochschule der Färöer spielt in der Geschichte des Landes ebenso eine hervorragende Rolle wie im heutigen Alltag der Bevölkerung. Die Landesbibliothek der Färöer bildet das Rückgrat des gesamten heutigen Schrifttums von den Färöern und über die Färöer. === Medien === ==== Radio und Fernsehen ==== Die Färöer haben 13 UKW-Sendeanlagen sowie eine Mittelwelle-Sendeanlage (531 kHz). Es gibt drei Fernsehsendeanlagen mit 43 kleineren Verstärkerstationen. Im Frühjahr 1957 nahm das färöischsprachige Radioprogramm des öffentlich-rechtlichen Útvarp Føroya (deutsch: Radio Färöer) den Sendebetrieb auf. Der Sender legt seine Schwerpunkte auf Informationen aus Politik, Wirtschaft und Gesellschaft. Nachdem es lange Zeit nur einen Radiosender gegeben hatte, ging Ende 1999 der Privatsender Rás 2 (deutsch: Kanal 2) auf Sendung. Neben Information spielt er vor allem eine Mischung unterschiedlicher Musikrichtungen. Kurz darauf Anfang 2000 kam der christliche Sender Lindin hinzu, der christliche und gesellschaftliche Themen anspricht. Ende 2013 nahm mit VoxPop das erste Hit Radio der Färöer seinen Betrieb auf. Es ist auf die Zielgruppe der unter 35-Jährigen ausgerichtet und spielt überwiegend aktuelle Lieder aus den Musikcharts. Im Frühjahr 2014 kam der Nostalgie-Radiosender KissFM hinzu, der sich auf die Musik der 1980er und 1990er Jahre spezialisiert hat und die mittlere Generation der 35- bis 55-Jährigen ansprechen soll. Alle Sender sind auch über einen Livestream im Internet zu empfangen.Erst 1985 kam mit Sjónvarp Føroya (SVF) das Fernsehen auf die Färöer. Zusätzlich werden meist dänische Fernsehsender eingespeist. Seit Oktober 2002 gibt es auf den Färöern DVB-T. ==== Zeitungen und Newsportale ==== Die drei wichtigsten Zeitungen der Färöer sind Dimmalætting und Sosialurin aus der Hauptstadt Tórshavn und die Wochenzeitung Norðlýsið aus der Nordinseln-Metropole Klaksvík. Während die erstgenannten ihre vollständigen Internetausgaben nur für Abonnenten vorhalten, kann das Norðlýsið von jedermann gelesen werden, der die Sprache versteht oder sich einfach nur an Bildern erfreuen möchte. Das färöische Radio bietet neben dem Livestream auch wöchentlich aufbereitete Textnachrichten auf Englisch an (siehe unten bei den Weblinks). Wichtigstes Newsportal im Internet ist portal.fo. === Sport === Über 13.000 Färinger werden als Aktive in ihren Sportvereinen gezählt. Neben Fußball und Rudern erfreuen sich auf den Färöern vor allem die Hallensportarten Handball, Volleyball und Schwimmen großer Beliebtheit. Organisierter Vereinssport wird darüber hinaus in folgenden Disziplinen betrieben: Turnen, Badminton, Pferderennen, Tischtennis, Leichtathletik und Judo (jeweils über 100 Aktive). Die Färöer bemühen sich um die Aufnahme in das IOC, sind aber bisher nur zu den Paralympics angetreten (olympisches Mannschaftskürzel: FRO). Sie sind ein regelmäßiger Teilnehmer bei den alle zwei Jahre stattfindenden Island Games und konnten dort 2007 mit 24 Goldmedaillen und dem zweiten Platz im Medaillenspiegel ihr bis dahin bestes Ergebnis verbuchen. Special Olympics Färöer-Inseln wurde 2000 gegründet und nahm mehrmals an Special Olympics Weltspielen teil. Der Verband hat seine Teilnahme an den Special Olympics World Summer Games 2023 in Berlin angekündigt. Die Delegation wird vor den Spielen im Rahmen des Host Town Programs von Wilhelmsdorf betreut. ==== Rudern ==== Traditioneller Nationalsport auf den Färöern ist das Rudern im typischen Färöboot. Jährliches Highlight sind die Regatten am 28. Juli zur Ólavsøka in Tórshavn. Bei dieser abschließenden Regatta der Rudersaison werden die nationalen Meister in sechs Klassen ermittelt. Bekanntester färöischer Ruderer war Ove Joensen (1948–1987), der 1986 mit seinem Färöboot Dana Victoria alleine den Weg nach Kopenhagen ruderte und 1987 im eigenen Boot verunglückte. Bekannteste Ruderin ist Katrin Olsen (* 1978), die für die dänische Nationalmannschaft in internationalen Wettkämpfen auftritt und Vizeweltmeisterin von 2006 im Doppelvierer wurde. Im Doppelzweier ist sie Gesamtweltcupsiegerin 2007 mit zweimal Gold. Am 31. August 2007 sicherte sie sich bei den Ruder-Weltmeisterschaften in München den Platz unter den besten sechs der Welt und qualifizierte sich somit als erster Mensch von den Färöern für die Olympischen Spiele in Peking. ==== Fußball ==== Am 13. Mai 1892 wurde auf den Färöern mit dem TB Tvøroyri der erste Fußballverein gegründet. 1904 folgten HB Tórshavn und KÍ Klaksvík als bis heute erfolgreichste Vereine und ewige Rivalen in der Effodeildin. Der Landespokal wird aber einsam von HB dominiert. Andere mehrfache Meister sind TB Tvøroyri, B36 Tórshavn, GÍ Gøta und B68 Toftir. Jeder größere Ort verfügt über einen Fußballplatz. Heute haben die Färöer zwei Stadien für Länderspiele mit Echtrasen: Tórsvøllur in der Hauptstadt und Svangaskarð in Toftir. Seit 1988 sind die Färöer Mitglied der UEFA und FIFA (FIFA-Kürzel: FRO). Seit dem historischen 1:0 über Österreich 1990 von Torkil Nielsen sind die Färöer unter den europäischen Fußballfans bekannt. Der damalige Nationaltorhüter Jens Martin Knudsen ist international bekannt für seine weiße Wollmütze, die er bei jedem Spiel trug. Bei der Qualifikation zur EURO 2004 waren die Färöer mit Deutschland in einer Gruppe, bei der Qualifikation zur EURO 2008 mit Weltmeister Italien und Vize-Weltmeister Frankreich. Am 2. Juni 2007 endete das Spiel in Tórshavn gegen Weltmeister Italien 1:2, was als eine große Sensation durch die färöische Nationalmannschaft gewertet wurde. Das Tor erzielte Rógvi Jacobsen. Am 11. Oktober 2008 erzielten die Färöer bei der Qualifikation zur Fußball-Weltmeisterschaft 2010 ein 1:1 gegen Österreich und erneuerten das Trauma der Österreicher von 1990. Noch in derselben Gruppe konnten die Färöer am 9. September 2009 einen sensationellen 2:1-Heimsieg gegen die Nationalmannschaft aus Litauen verbuchen.Am 14. November 2014 schafften die Färöer bei der Qualifikation für die Fußball-Europameisterschaft 2016 erneut eine Sensation, als sie einen 1:0-Sieg über Griechenland errangen. Den Treffer erzielte Jóan Símun Edmundsson. Der griechische Fußballverband trennte sich in der Folge von Nationaltrainer Claudio Ranieri. Trotzdem konnte Färöer am 13. Juni 2015 die Sensation im Rückspiel mit 2:1 wiederholen. Am 6. September 2021 gelang es den Färingern bei der Qualifikation für die Fußball-Weltmeisterschaft 2022 in Katar mit 2:1 gegen Moldau zu gewinnen. Die Treffer erzielten Klaemint Olsen in der 68. Spielminute und Heini Vatnsdal in der 71. Minute. ==== Schwimmen ==== Größter färöischer Schwimmstar ist spätestens seit seinem dreifachen Europameistertitel der Junioren Pál Joensen (* 1990) aus Vágur. Er schaffte 2008 bei den Junioren-Europameisterschaften auf 800 m nicht nur den färöischen und skandinavischen Rekord, sondern auch einen neuen Europarekord der Junioren. Seine Erfolge werden als die größten Sportleistungen in der Geschichte der Färöer bezeichnet. Bei den Paralympics in Seoul 1988 konnten die vier Schwimmerinnen der Färöer sieben Medaillen erkämpfen, darunter eine in Gold von insgesamt zwölf möglichen. Christina Næss stellte damit gleichzeitig einen Weltrekord über 100 m Rückenschwimmen in der Klasse C3 auf und holte Silber über 400 m Freistil. Bei den Paralympics 1992 in Barcelona konnte Tóra við Keldu an ihre eigenen Erfolge von Seoul anknüpfen und nochmal Silber auf den 100 m Freistil holen. Der Medaillenspiegel von Sydney 2000 weist wieder vier Medaillen für die Färöer aus – alle von der färöischen Schwimmerin Heidi Andreasen gewonnen. Sie wurde 2002 bei der Wahl zur Weltsportlerin des Jahres mit Behinderung Zweite. ==== Schach ==== Schach hat hier eine jahrhundertealte Tradition, und schon frühe Autoren schrieben voller Anerkennung über die Fertigkeiten der hiesigen Spieler, die ihre Figuren in liebevoller Weise schnitzten und ihnen eigene Namen gaben. Die nationalen Schachmeisterschaften haben einen ebenso hohen Stellenwert wie in Island. Helgi Ziska ist mit Stand November 2020 der stärkste Spieler der Inseln und der erste Färinger, dem der GM-Titel verliehen worden ist. == Persönlichkeiten == Astrid Andreasen (* 1948), Künstlerin und wissenschaftliche Illustratorin Heidi Andreasen (* 1985), Schwimmerin im Behindertensport Linda Andrews (* 1973), Sängerin Magdalena Andersdatter (ca. 1590–1650), Kauffrau und Volksheldin Thomas Arge (1942–1978), Maler Andrea Árting (1891–1988), Gewerkschaftsführerin Hanni Bjartalíð (* 1968), Maler Kristian Blak (* 1947), Komponist und Musiker Dorete Bloch Danielsen (1943–2015), Biologin und Hochschullehrerin Rúni Brattaberg (* 1966), Opernsänger (Bass) und Fotograf Sigmundur Brestisson (ca. 961–1005), Wikingerhäuptling, Missionar Beinta Broberg (1667–1752), berühmt als Romanfigur Barbara. Jonas Broncks (* um 1600–1643), Auswanderer, lange Zeit vermuteter Namensgeber der Bronx in New York (USA) Heðin Brú (1901–1987), Schriftsteller Jacob Dahl (1878–1944), Propst und Bibelübersetzer Johan Dalsgaard (* 1966), Entertainer, Musiker, Schauspieler und Parteigründer (Hin Stuttligi Flokkurin, 2004) Helena Dam á Neystabø (* 1955), Politikerin Steffan Danielsen (1922–1976), Maler Victor Danielsen (1894–1961), Missionar der Plymouth-Brüdergemeinde und Bibelübersetzer Marianna Debes Dahl (* 1947), Schriftstellerin Edvard Nyholm Debess, Komponist Hans Andrias Djurhuus (1883–1951), Schriftsteller Janus Djurhuus (1881–1948), Schriftsteller Jóannes Eidesgaard (* 1951), Politiker, Regierungschef seit 2004 Brandur Enni (* 1989), Popstar Hildigunn Eyðfinsdóttir (* 1975), Schauspielerin Niels R. Finsen (1860–1904), Medizin-Nobelpreisträger 1903 Edward Fuglø (* 1965), Grafiker Sigri Mitra Gaïni (* 1975), Schauspielerin und Dichterin Liffa Gregoriussen (1904–1992), Modeschöpferin Absalom Hansen, Landschaftsfotograf, Marathonläufer (Tórshavn) Kristina Hansen (* 1963), Politikerin Hans Hansen (1920–1970), Maler Jetta Hansen (1890–1962), Pionierin des färöischen KFUK (CVJM) V. U. Hammershaimb, Schöpfer der modernen färöischen Schriftsprache ab 1846 Jens Pauli Heinesen (1932–2011), Schriftsteller William Heinesen (1900–1991), Schriftsteller, Dichter, Maler und Grafiker Zacharias Heinesen (* 1936), Maler Guðrið Helmsdal (* 1941), Schriftstellerin Jona Henriksen (* 1924), Politikerin Ebba Hentze (* 1930), Schriftstellerin Nicolina Højgaard Simonsen (1901–1995), Kinderheimleiterin Annika Hoydal (* 1945), Sängerin, Schauspielerin, Komponistin Høgni Hoydal (* 1966), Politiker Elgerda Jacobsen (1905–1991), erste Schulleiterin des Landes, später Schulinspektorin Guðrun Sólja Jacobsen (* 1982), Sängerin Jørgen-Frantz Jacobsen (1900–1938), Schriftsteller Jakob Jakobsen (1864–1918), Sprachforscher Bárður Jákupsson (* 1943), Maler, Autor über färöische Kunst Hanna Joensen (* 1931), Frauenrechtlerin Heri Joensen (* 1973), Metal-Musiker, Vormann von Týr Laura Joensen (* 1946), Schauspielerin Poul F. Joensen (1898–1970), Dichter Oddvør Johansen (* 1941), färöische Schriftstellerin und Organistin Grímur Kamban, erster Siedler zu Beginn der nordischen Landnahme um 800 Janus Kamban (1913–2009), Bildhauer und Grafiker Karin Kjølbro (* 1944), Politikerin Jens Martin Knudsen (* 1967), legendärer Torhüter der färöischen Fußball-Nationalmannschaft, dreifacher Landesmeister im Turnen, Handball-Nationaltorhüter Ernst Krenn-Gjógv (1897–1954), österreichischer Skandinavist, der auf die Färöer spezialisiert war (eigentlich nur Ernst Krenn) Teitur Lassen (* 1977), Liedermacher Rikard Long (1889–1977), Literaturkritiker und Schriftsteller Elinborg Lützen (1919–1995), Grafikerin Malan Marnersdóttir (* 1952), Literaturwissenschaftlerin Christian Matras (1900–1988), Professor der Sprachwissenschaft und Schriftsteller Heðin Meitil, Komponist Sámal Joensen Mikines (1906–1979), Maler Marie Mikkelsen (1877–1956), Übersetzerin Øssur Mohr (* 1961), Maler Johanne Mortensen (1865–1930), Pädagogin, erste gewählte Politikerin auf den Färöern Ebba Müller (1891–1967), Reederin Poul Poulsen Nolsøe (1766–1809), Nationalheld Katrin Ottarsdóttir (* 1957), Filmemacherin Eivør Pálsdóttir (* 1983), Sängerin und Schauspielerin Jóannes Patursson (1866–1946), Dichter und Politiker Súsanna Helena Patursson (1864–1916), Schriftstellerin Sverri Patursson (1871–1960), Schriftsteller Tróndur Patursson (* 1944), Bildhauer Atli Petersen (* 1963), Komponist Anker Eli Petersen (* 1959), Grafiker Karoline Petersen (* 1924), Politikerin Lisbeth L. Petersen (* 1939), Politikerin Marita Petersen (1940–2001), Politikerin, erste Regierungschefin auf den Färöern Jóngerð Purkhús (* 1937), Politikerin Sunleif Rasmussen (* 1961), Komponist Ingálvur av Reyni (1920–2005), Maler Malla Samuelsen (1909–1997), Politikerin Sigrid av Skarði Joensen (1908–1975), Publizistin Czesław Słania (1921–2005), polnischer Briefmarkengraveur (100 Ausgaben für die Färöer) William Gibson Sloan (1838–1914), schottischer Erweckungsprediger auf den Färöern Ruth Smith (1913–1958), Malerin und Grafikerin Sverre Sigurdsson (1149?–1202), norwegischer König Johanna Maria Skylv Hansen (1877–1974), Schriftstellerin Kári Sverrisson, Rock- und Jazz-Musiker, Bandleader der Rockband „Ennek“ (Saltangará) Kristian Osvald Viderø (1906–1991), Vikar, Dichter und Bibelübersetzer Ingeborg Vinter (* 1945), Politikerin, Gewerkschafterin == Siehe auch == Glossar der färöischen geographischen Namen == Literatur == (chronologisch) Lucas Debes: Natürliche und Politische Historie der Inseln Färöe. Kopenhagen/ Leipzig 1757. Neuausgabe: kommentiert und mit einem Nachwort versehen von Norbert B. Vogt, Mülheim a.d. Ruhr 2000. Carl Julian von Graba: Tagebuch, geführt auf einer Reise nach Farö im Jahre 1828. Perthes und Besser, Hamburg 1830. Neuauflage: Wolfgang Butt, Kiel 1993, ISBN 3-926099-26-7 (unter dem Verfassernamen: Carl Julian Graba) Samuel Rathbone, E. H. Greig: A Narrative of the Cruise of the Yacht Maria among the Faroe Islands in the Summer of 1854. England 1855 (illustriert mit Lithographien; damals anonym erschienen) Reise mit der Yacht Maria 1854 zu den Färöern. Deutsche Übersetzung 2004 auf Wikisource. Ernst Krenn: Föroyar. Die Inseln des Friedens. Regensbergsche Verlagsbuchhandlung, Münster (Westf.) etwa 1942. Sydney Norgate: „Kanska“ or the Land of Maybe. Jacobsen, Tórshavn 1943. eine deutsche Übersetzung „Kanska“ oder das Land des „vielleicht“ erschien in TJALDUR, Mitteilungsblatt des DFF Heft 30, 2003, S. 31–37. John F. West: Faroe. The Emergence of a Nation. Hurst, London 1972, ISBN 0-8397-2063-7. Liv Kjørsvík Schei, Gunnie Moberg, illustriert von Tróndur Patursson: The Faroe Islands. Murray, London 1991, ISBN 0-7195-5009-2. Neuauflage mit zusätzlichem Kapitel: Birlinn, Edinburgh 2003, ISBN 1-84158-242-5. Sabine Gorsemann: Die Färöer. Inselwelt im Nordatlantik. DuMont, Köln 1990, ISBN 3-7701-2175-9. Neuauflage mit Christian Kaiser: 1999, ISBN 3-7701-4371-X. Alexander Wachter: Färöer selbst entdecken. Edition Elch, Offenbach am Main 2002, ISBN 3-85862-155-2 (Reiseführer mit Schwerpunkt Wandertouren). Don Brandt: Mehr Briefmarken und Geschichte der Färöer. Postverk Føroya, Tórshavn 2006, ISBN 99918-3-192-4. Verena Stössinger, Anna Katharina Dömling (Hrsg.): Von Inseln weiß ich … Geschichten von den Färöern. Unionsverlag, Zürich 2006, ISBN 3-293-00366-4 (Anthologie mit kurzen Verfasserbiografien und einem Nachwort der Herausgeberinnen). Paul Alfred Kleinert (Hrsg.): Frá Áarstovubrøðrunum til Tórodd – føroysk yrking í hundrað ár. Von Djurhuus bis Poulsen – färöische Dichtung aus 100 Jahren (Anthologie mit bio-bibliographischen Angaben und einem Abriss der färöischen Literaturgeschichte, wissenschaftliche Beratung: Turið Sigurðardóttir), Leipzig 2007, ISBN 978-3-86703-546-0. === Filme === Atlantic Rhapsody – 52 Bilder aus Tórshavn (färöisch: Atlantic rapsodi – 52 myndir úr Tórshavn), 1989 von Katrin Ottarsdóttir, erster färöischer Spielfilm der Geschichte Bye Bye Bluebird, 1999 von Katrin Ottarsdóttir, erster färöischer Roadmovie Färöer – Die Entdeckung der Einsamkeit, Sendereihe Nordsee-Report (45 Minuten) des NDR Fernsehens am 27. Juni 2004, 18 Uhr. Mitschnitte auf VHS und DVD werden vom NDR angeboten. Winter auf den Färöern von Sven Jaax (NDR 2002, 45 Minuten). Singing People von Malte Blockhaus und Philipp Achterberg (2009, 40 Minuten) Nordische Seevögel von Clemens Keck, Dokumentation über die Vogelwelt auf den Färöern. (2011, 45 Minuten) == Weblinks == Faroeislands.fo – offizielle Website der Färöer (englisch) Portal der färöischen Landesregierung (englisch und färöisch) Statistiken über die Färöer (englisch und färöisch) Faroe Island Translate – Online Übersetzer färöisch Landesbibliothek der Färöer (englisch und färöisch) Deutsch-Färöischer Freundeskreis CIA World Factbook: Färöer (englisch) == Einzelnachweise ==
https://de.wikipedia.org/wiki/F%C3%A4r%C3%B6er
Frankfurt am Main
= Frankfurt am Main = Frankfurt am Main () ist mit 773.068 Einwohnern (31. Dezember 2022) die bevölkerungsreichste Stadt des Landes Hessen und die fünftgrößte Deutschlands. Sie ist kreisfrei und bildet das Zentrum des Ballungsraums Frankfurt mit mehr als 2,3 Millionen Einwohnern. In der Metropolregion Frankfurt/Rhein-Main (Rhein-Main-Gebiet) leben etwa 5,8 Millionen Menschen.Seit dem Mittelalter gehört Frankfurt am Main zu den bedeutenden städtischen Zentren Deutschlands. Im Jahr 794 erstmals urkundlich erwähnt, war es seit 1372 Reichsstadt. Bis zum Ende des Heiligen Römischen Reiches 1806 wurden die meisten römisch-deutschen Könige in Frankfurt am Main gewählt und seit 1562 auch zum Kaiser gekrönt. Von 1815 an war die Freie Stadt Frankfurt ein souveräner Mitgliedsstaat des Deutschen Bundes und zugleich dessen politisches Zentrum. Sie war Sitz der Bundesversammlung sowie 1848/49 der Nationalversammlung und der Provisorischen Zentralgewalt. Nach dem Deutschen Krieg 1866 annektierte Preußen die Freie Stadt Frankfurt. Durch die rasche Industrialisierung setzte ein Bevölkerungsschub ein. Seit 1875 zählte die Stadt über 100.000 Einwohner, seit 1928 mehr als 500.000. Als Zeichen der Verpflichtung zur europäischen Einigung nennt sich Frankfurt seit 1998 Europastadt.Frankfurt am Main ist ein internationaler Finanzplatz, bedeutendes Industrie-, Dienstleistungs- und Messezentrum und zählt zu den ökonomischen Weltstädten. Frankfurt am Main ist Sitz der Europäischen Zentralbank, der Deutschen Bundesbank, der Frankfurter Wertpapierbörse, zahlreicher Finanzinstitute (darunter Deutsche Bank, Commerzbank, DZ Bank, KfW), der Aufsichtsbehörden BaFin und EIOPA und der Messe Frankfurt. Die Frankfurter Buchmesse und die Musikmesse gelten als Weltleitmessen ihrer Sparten, die Internationale Automobil-Ausstellung fand hier bis 2019 statt. Die Stadt ist zudem Sitz vieler nationaler Sportverbände, darunter der Deutsche Olympische Sportbund und der Deutsche Fußball-Bund. Dank seiner zentralen Lage ist Frankfurt am Main ein Knotenpunkt im deutschen und europäischen Verkehrsnetz mit dem Flughafen Frankfurt Main, dem Hauptbahnhof und dem Frankfurter Kreuz. Der Internetknoten DE-CIX ist ein bedeutender Austauschpunkt für den Datenverkehr im Internet. Eine Besonderheit für eine deutsche Stadt ist die stetig wachsende Hochhaus-Skyline Frankfurts. Einige markante Wolkenkratzer gehören zu den höchsten Europas. Deshalb wird Frankfurt am Main mitunter ironisch als Mainhattan bezeichnet. Historische Wahrzeichen der Stadt sind die Alte Oper und das teils rekonstruierte Ensemble der Altstadt mit Römerberg samt Rathaus Römer, Dom-Römer-Areal und Kaiserdom. Weitere Wahrzeichen außerhalb der Innenstadt sind u. a. die Höchster Altstadt und die Wohngebiete des Neuen Frankfurt. Mehr als 40 Prozent des Stadtgebiets sind Parks und Landschaftsschutzgebiete, darunter der Frankfurter Grüngürtel mit dem seit 1372 im Besitz der Stadt befindlichen Frankfurter Stadtwald. Das kulturelle Leben der Stadt ist traditionell von bürgerlichen Stiftungen, Mäzenatentum und liberalen Privatinitiativen geprägt. Daraus entstanden die Städtischen Bühnen mit den beiden Sparten Oper Frankfurt und Schauspiel Frankfurt, das Frankfurter Museumsufer, das Senckenberg Naturmuseum, die Schirn Kunsthalle und das Museum für Moderne Kunst, das Historische Museum und Goethes Geburtshaus in der Altstadt, die Alte Oper, das English Theatre, der Zoo und der Palmengarten. Die 1914 durch eine Bürgerstiftung als Königliche Universität gegründete Goethe-Universität brachte mehrere Leibniz- und Nobelpreisträger hervor. Darüber hinaus gibt es in der Stadt sieben weitere Hochschulen mit zusammen über 60.000 Studenten. == Name == Franconofurd oder auch Francorum vadus lautet der Name der Siedlung auf dem Domhügel in den ersten urkundlichen Erwähnungen 794 in altfränkischer und lateinischer Sprache. Beides bedeutet Furt der Franken und bezieht sich auf eine Felsbarriere im Untergrund des Mains, die es ermöglichte, an dieser wahrscheinlich etwas oberhalb der heutigen Alten Brücke gelegenen Stelle den Fluss – der damals viel breiter war als heute – bei normalem Wasserstand gefahrlos zu überqueren. Die Furt hatte in der Römerzeit wohl noch keine strategische Bedeutung gehabt, da die von Mogontiacum aus zum Limes und in das Innere Germaniens führenden Römerstraßen wie die Elisabethenstraße den Domhügel und die sumpfige Mainniederung umgingen. Nach dem Abzug der Römer um das Jahr 260 war der Domhügel von den Alamannen übernommen worden. Etwa um 530 lösten die Franken die Alamannen in der Herrschaft über das Untermaingebiet ab. Wahrscheinlich nutzten die neuen Herrscher die Furt nun als wichtigen Verkehrsweg, den ihre Handelspartner deshalb mit dem Namen Frankenfurt belegten. 1014–1017 schrieb der Chronist Thietmar von Merseburg eine bekannte Legende von der Gründung der Stadt durch Karl den Großen nieder. Er bringt sie in Verbindung mit den Sachsenkriegen: Tatsächlich führte Karl der Große niemals in der Maingegend Krieg gegen die Sachsen. Die Geschichte der Entstehung des Namens von Sachsenhausen, als vermeintlicher Ort der Ansiedlung gefangener Sachsen durch den siegreichen Kaiser, ist eine Legende. Sie geht wahrscheinlich auf eine sagenhafte Vermischung mit der geschichtlichen Tatsache zurück, dass er kurz nach seiner Abreise 794 gegen aufständische Sachsen in Norddeutschland ins Feld zog. Ein anderer Gründungsmythos Frankfurts war bis ins 18. Jahrhundert populär, beispielsweise noch in Zedlers Universal-Lexicon. Heute ist er nur noch wenig bekannt: Helenos, ein Sohn des Priamos, soll sich nach seiner Flucht aus dem zerstörten Troja am Main niedergelassen und eine Stadt namens Helenopolis gegründet haben. Frankfurt hätte demnach den gleichen mythischen Ursprung wie Rom, dessen legendäre Gründer, Romulus und Remus, Nachfahren geflohener Trojaner waren. Um das Jahr 130 nach Christus soll schließlich ein gewisser Francus, ein Herzog der Hogier, die alte Stadt Helenopolis wiederhergestellt und nach seinem Namen Franckenfurt genannt haben. Andere Autoren führten den Namen Helenopolis auf Kaiserin Helena, die Mutter Konstantins des Großen, zurück. Die älteste bekannte Erwähnung des Helenopolis-Mythos ist von dem Humanisten Johannes Trithemius aus dem 15. Jahrhundert überliefert, andere Humanisten folgten wesentlich später. Helenopolis wurde bis ins 18. Jahrhundert häufig als Synonym für Frankfurt verwendet, beispielsweise als Druckort in Büchern, in der Numismatik und als Matrikelangabe von Studenten. Die ursprüngliche Namensform Franconofurd entwickelte sich im Mittelalter zu Frankenfort oder Frankinfort, in der Neuzeit zu Franckfort und Franckfurth weiter. Spätestens seit Anfang des 19. Jahrhunderts hat sich die Schreibweise Frankfurt gefestigt. Der Namenszusatz am Main findet sich bereits in den ältesten Urkunden, seit dem 14. Jahrhundert regelmäßig. Umgangssprachlich wird der amtliche Name meist zu Frankfurt verkürzt, solange keine Verwechslungsgefahr, insbesondere mit Frankfurt (Oder), besteht. Die inoffiziellen Namensformen Frankfurt/Main oder Frankfurt a. M. finden sich häufig, im Eisenbahnverkehr ist Frankfurt (Main) üblich. Weithin sind die Abkürzungen Ffm oder FFM in Gebrauch, daneben der IATA-Flughafencode FRA oder das Kraftfahrzeugkennzeichen F. == Geographie == === Geographische Lage === Die Stadt liegt am nördlichen Rand der Oberrheinischen Tiefebene auf beiden Seiten des Untermains südöstlich des Taunus. Sie bildet mit ihrem Ballungsraum das Zentrum des Rhein-Main-Gebiets. Etwa ein Drittel des Stadtgebiets ist als Landschaftsschutzgebiet Frankfurter Grüngürtel ausgewiesen. Dazu gehört der Frankfurter Stadtwald, einer der größten Stadtwälder Deutschlands. Das Stadtgebiet erstreckt sich in Ost-West-Richtung über 23,4 Kilometer, in Nord-Süd-Richtung über 23,3 Kilometer. Ihren höchsten natürlichen Punkt hat die Stadt an der Berger Warte auf dem Berger Rücken im Stadtteil Seckbach mit 212,6 Metern über Normalnull. Ihr tiefster Punkt liegt am Mainufer in Sindlingen bei 88 Metern über Normalnull. Der Flächenschwerpunkt sowie der geographische Mittelpunkt des heutigen Stadtgebietes liegen im Stadtteil Bockenheim in der Nähe des Westbahnhofes, also außerhalb des historischen Stadtkerns. Dies geht auf die Eingemeindungen Richtung Westen zurück, entsprechend liegt das nicht eingemeindete Offenbach zur Stadtmitte näher als viele Stadtteile Frankfurts. === Nachbargemeinden und Kreise === Frankfurt grenzt im Westen an den Main-Taunus-Kreis (Stadt Hattersheim am Main, Gemeinde Kriftel, Städte Hofheim am Taunus und Kelkheim (Taunus), Gemeinden Liederbach am Taunus und Sulzbach (Taunus), Städte Schwalbach am Taunus und Eschborn), im Nordwesten an den Hochtaunuskreis (Städte Steinbach (Taunus), Oberursel (Taunus) und Bad Homburg vor der Höhe), im Norden an den Wetteraukreis (Städte Karben und Bad Vilbel), im Nordosten an den Main-Kinzig-Kreis (Gemeinde Niederdorfelden und Stadt Maintal), im Südosten an die Stadt Offenbach am Main, im Süden an den Landkreis Offenbach (Stadt Neu-Isenburg) und im Südwesten an den Kreis Groß-Gerau (Städte Mörfelden-Walldorf, Rüsselsheim am Main, Raunheim und Kelsterbach). === Geologie === Das Frankfurter Stadtgebiet gehört größtenteils zur westlichen Untermainebene, im Osten zur Hanau-Seligenstädter Senke, im äußersten Norden bereits zur Wetterau. Geologisch sind im Stadtgebiet die seit dem jüngeren Pliozän und im Pleistozän entstandenen vier Flussterrassen von Main und Nidda erkennbar. Die höchste Terrasse setzt sich aus Taunusgesteinen zusammen und ist im Stadtgebiet nur im Bereich des Berger Rückens anzutreffen. Auf der oberen Terrasse von 170 bis 120 Meter liegen die nördlichen und nordöstlichen Stadtteile, die nach Nordwesten zur Nidda und nach Süden am Bornheimer Hang und am Röderberg steil abfallen, sowie der Süden von Sachsenhausen mit dem Mühlberg und dem Sachsenhäuser Berg. Die mittlere Terrasse liegt in einer Höhenlage zwischen 100 und 115 Metern. Sie ist im Stadtgebiet zum Beispiel in der Kelsterbacher Terrasse und im Steilufer der Altstadt von Höchst zu erkennen. Die unterste Terrasse zwischen 95 und 90 Metern entstand im Holozän. Sie begleitet den Main zu beiden Seiten. Auf ihr liegen der Domhügel, die historische Keimzelle der Stadt, und der Karmeliterhügel. An einigen Stellen im Stadtgebiet, beispielsweise in Bockenheim (Basaltstraße) und im Stadtwald am Schwarzsteinkautweg finden sich im Untergrund Schichten von Vogelsberg-Basalt aus dem Miozän, deren Mächtigkeit bis zu 14 Meter erreicht. === Klima === Die ältesten Temperaturmessungen stammen aus dem Dezember 1695 und sind in der Chronik des Achilles Augustus von Lersner überliefert. Seit 1826 existieren kontinuierliche Messreihen, wenn auch für unterschiedliche Stationen. In Frankfurt bestehen mehrere Wetterstationen des Deutschen Wetterdienstes. Die außerhalb der Kernstadt gelegene Station Flughafen zeichnet schon seit 1949 das Wetter auf. Seit 1985 besteht zudem die Station Westend auf dem Campus Westend der Goethe-Universität Frankfurt, welche die dichter bebaute Innenstadt klimatisch repräsentiert. Bei dem Vergleich der Daten beider Stationen fällt auf, dass die Station Westend häufig höhere Temperaturen verzeichnet, denn durch den Wärmeinseleffekt wird dafür gesorgt, dass es in der Innenstadt Frankfurts oft wärmer ist als im Umland. Bedingt durch die Lage am nördlichen Rand der Oberrheinischen Tiefebene gehört Frankfurt zusammen mit anderen Großstädten wie Freiburg, Karlsruhe, Mannheim oder Darmstadt zu den wärmsten Städten Deutschlands. Die Jahresmitteltemperatur lag an der Wetterstation Flughafen zwischen 1981 und 2010 bei 10,6 °C, an der Wetterstation Westend zwischen 2017 und 2022 sogar bei 12,1 °C. Der Frühling erreicht die Region sehr früh, sodass die Apfelblüte hier häufig schon Anfang bis Mitte April beginnt. Im März werden üblicherweise 10 °C bis 15 °C am Tage erreicht, im Mai über 20 °C. Im März wurden schon Temperaturen um und über 25 °C, im April und Mai über 30 °C erreicht. Oft ist es trocken und sonnig.Im Sommer bewegen sich die Tagesdurchschnittstemperaturen im Schnitt um 18 bis 22 °C, die Tagestemperaturen erreichen normalerweise Werte zwischen 24 und 30 °C. Im Hochsommer sind längere Phasen mit über 30 °C am Tag nicht unüblich, dabei ist es im Sommer verhältnismäßig sehr sonnig. In der Regel gibt es im Jahr 60 bis 80 Sommertage, 2018 waren es sogar 108, und 10 bis 30 Hitzetage. Der Rekord liegt bei 43, der ebenfalls 2018 erreicht wurde. Rund 5 bis 10 Tropennächte sind im Jahr möglich. Die höchste Temperatur von 40,2 °C wurde am 25. Juli 2019 im Westend gemessen.Im Herbst sind, insbesondere im September, noch einige trockene, spätsommerlich warme Tage möglich. Die Höchsttemperaturen reichen von 8 bis 12 °C im November bis 20–24 °C im September, auch über 30 °C wurden im September noch gemessen. Die Winter sind, nach dem Niederrhein um Köln, hier am zweitmildesten. Die Höchsttemperaturen pendeln sich im mittleren einstelligen Bereich ein, Temperaturen unter dem Gefrierpunkt sind nicht so häufig wie in anderen Regionen. Im Westend wurden die letzten Jahre im Schnitt 20 bis 60 Frosttage gemeldet. Eistage gibt es höchstens im niedrigen zweistelligen Bereich, seit 2013 ausschließlich unter 10. Die tiefste Temperatur von −23,8 °C wurde am 19. Januar 1940 im Westend gemessen; die Tiefsttemperatur seit 1985 lag bei −15,0 °C, gemessen am 9. Februar 1986. Schneetage kann es zwischen November und März geben. Die schneereichsten Monate seit 1985 waren der Januar 1997 und der Februar 1986 mit jeweils 23 Tagen. Wesentlich mehr Schneetage werden im Taunus gemessen. Die umliegenden Mittelgebirge, insbesondere der Taunus, wirken für die Region oft als Schutzschild gegenüber Regen und Wolken, weshalb die Stadt Frankfurt mit einem durchschnittlichen Jahresniederschlag von um die 600 mm zu den trockeneren und mit 1600 bis 2000 Sonnenstunden im Jahr zu den sonnigeren Städten Deutschlands gehört. In der Region nordwestlich des Taunushauptkamms gibt es oft signifikant weniger Sonnenstunden als im Rhein-Main-Gebiet.Laut Klimaklassifikation nach Köppen und Geiger ist das ein Klima des in Deutschland dominierenden Typen Cfb. Durch die, im Zuge des Klimawandels, vermehrte Häufung von Sommermonaten mit einer Durchschnittstemperatur von 22 °C ist jedoch in absehbarer Zukunft damit zu rechnen, dass Frankfurt und der Rest des Oberrheingrabens in die wärmere, subtropische Klassifikation Cfa fallen werden. Diese Klassifikation ist typischerweise in Mailand, Norditalien zu finden. === Bioklima und Luftqualität === Der vom Land Hessen aufgestellte Luftreinhalteplan für Frankfurt stammt aus dem Jahr 2005 und wurde 2011 erstmals fortgeschrieben. Nach der Bioklimakarte des Deutschen Wetterdienstes liegt Frankfurt in einem belasteten Verdichtungsraum. Aus lufthygienischer Sicht sind vor allem die oft niedrigen Windgeschwindigkeiten und im Zusammenhang damit die Häufigkeit von Zeiten mit ungünstigem Luftaustausch charakteristisch. Wesentlicher Teil des Luftreinhalteplans war die Einrichtung einer großen Teile des Stadtgebiets umfassenden Umweltzone zum 1. Januar 2012. Der Luftreinhalteplan konnte bis 2018 die Belastungen durch Stickoxide, vor allem Stickstoffdioxid, nicht unter die seit 2010 geltenden Grenzwerte der 39. BImSchV reduzieren. „Hauptemittent ist in Frankfurt am Main der Kfz-Verkehr, gefolgt von Anteilen aus dem Flugverkehr, der Industrie sowie den Gebäudeheizungen. Die vorherrschenden Grenzwertüberschreitungen werden vor allem durch den Kraftfahrzeugverkehr verursacht. An vielbefahrenen Straßen sind dieselbetriebene Personenkraftwagen mit bis zu 80 % Hauptverursacher.“ Der Grenzwert für Stickstoffdioxid kann daher im Stadtgebiet Frankfurt an verkehrsreichen Stellen oft nicht eingehalten werden. Das Verwaltungsgericht Wiesbaden hatte deshalb am 5. September 2018 entschieden: „In den Luftreinhalteplan für die Stadt Frankfurt am Main sind zonenbezogene Fahrverbote für Kraftfahrzeuge mit benzin- oder gasbetriebenen Ottomotoren unterhalb der Abgasnorm Euro 3, sowie für alle Fahrzeuge mit Dieselmotoren unterhalb der Abgasnorm Euro 5 ab dem 01.02.2019, sowie für Kraftfahrzeuge mit Dieselmotoren der Abgasnorm Euro 5 ab dem 01.09.2019 neben einem Konzept zur Parkraumbewirtschaftung und zur kurzfristigen Nachrüstung der im Innenstadtbereich verkehrenden Busflotte mit SCRT-Filtern aufzunehmen.“ Das Dieselfahrverbot träfe etwa 200.000 Fahrzeuge im Ballungsraum Frankfurt. Stadt und Land konnten ein Berufungsverfahren beim Hessischen Verwaltungsgerichtshof in Kassel gegen das Fahrverbotsurteil erwirken und ein Dieselfahrverbot vorläufig abwenden. Mit der am 28. Dezember 2020 in Kraft getretenen zweiten Fortschreibung des Luftreinhalteplans ist ein umfassendes Maßnahmenpaket verbunden, das unter anderem verbesserte Parkraumbewirtschaftung, Austausch von kommunalen Fahrzeugen, Einrichtung von Bus- und Fahrradspuren und eine Geschwindigkeitsbegrenzung auf 40 km/h innerhalb des Anlagenrings vorsieht. Falls die Maßnahmen nicht die Einhaltung der Grenzwerte bewirken, werden mit Wirkung zum 1. Oktober 2021 Verkehrsbeschränkungen für ältere Diesel- und Benzinfahrzeuge in besonders belasteten Bereichen angeordnet. == Stadtgliederung und deren Entwicklung == === Stadtbezirke, Stadtteile und Ortsbezirke === Die Stadt ist statistisch und administrativ in 46 Stadtteile aufgeteilt, die jedoch bis 47 nummeriert werden (die Zahl 23 wird ausgelassen, aus technischen Gründen jedoch dem Stadtteil Praunheim zugeordnet). Diese wiederum setzen sich aus 124 Stadtbezirken, 448 Wahlbezirken und 6.130 Blöcken zusammen.Politisch ist die Stadt in 16 Ortsbezirke aufgeteilt, die jeweils einen Ortsbeirat mit einem Ortsvorsteher als Vorsitzenden haben. Die in den 1970er Jahren eingemeindeten Orte bilden nach wie vor eigene Ortsbezirke. Der größte Stadtteil nach Fläche und Einwohnerzahl ist Sachsenhausen; es folgen nach Einwohnerzahl Nordend und Bockenheim. Die wenigen Einwohner des Stadtteils Frankfurt-Flughafen werden im statistischen Jahrbuch dem Stadtteil Sachsenhausen-Süd zugerechnet. Der kleinste Stadtteil nach Fläche ist die Altstadt. ==== Einwohnerentwicklung in den Stadtteilen ==== ==== Einwohnerentwicklung in der gesamten Stadt ==== Angaben über die Einwohnerentwicklung Frankfurts basieren bis ins 19. Jahrhundert auf ungenauen Schätzungen, erst ab etwa 1810 auf Volkszählungsergebnissen und amtlichen Statistiken. Im Mittelalter gehörte Frankfurt mit rund 10.000 Einwohnern zu den mittelgroßen deutschen Städten. Im 17. Jahrhundert überschritt die Einwohnerzahl 20.000, Mitte des 18. Jahrhunderts 30.000 und um 1810 40.000. Bis zum Ende der Freien Stadt Frankfurt 1866 stieg die Stadtbevölkerung auf über 90.000, von denen rund 78.000 innerhalb der Wallanlagen wohnten. Dort leben noch heute etwa 7000 Menschen. 1875 hatte Frankfurt 100.000 Einwohner. Etwa ab 1880 gehörte es zu den zehn größten Städten Deutschlands. 1910 stand es mit 414.576 Einwohnern an neunter Stelle in Deutschland und an vierter unter den preußischen Großstädten. Bis zum Beginn des Zweiten Weltkriegs stieg die Stadtbevölkerung auf 553.464. Im Zweiten Weltkrieg kamen mehr als 4800 Zivilisten und 12.700 Frankfurter Soldaten ums Leben, fast 12.000 jüdische Einwohner Frankfurts (von ehemals 30.000) wurden im Holocaust ermordet. Ende 1945 lebten noch 358.000 Menschen in der Stadt, in der etwa die Hälfte der Wohnungen durch den Krieg zerstört worden war. 1951 überschritt die Einwohnerzahl wieder den Stand von 1939 und erreichte 1963 mit 691.257 einen vorläufigen Höchststand. Durch Wanderungsverluste ins Umland nahm die Zahl der Einwohner bis 1986 auf 592.411 ab, seitdem stieg sie wieder an auf 773.068 (Stichtag 31. Dezember 2022). Das Bevölkerungswachstum ist eine Folge der wirtschaftlichen Dynamik der Stadt, der Ausweisung neuer Siedlungs- und Wohngebiete sowie der Veränderung der Altersstruktur durch den Zuzug junger Familien. Nach der im Juni 2015 veröffentlichten Regionalisierten Bevölkerungsvorausberechnung bis 2040 erwartet das Bürgeramt Statistik und Wahlen eine Fortsetzung des starken Bevölkerungswachstums der letzten Jahre. Am 18. Februar 2019 hatte Frankfurt erstmals über 750.000 Einwohner. 2020 werden etwa 764.000 Einwohner erwartet, 2030 etwa 810.000 und 2040 etwa 830.000. Durch den anhaltenden Zuzug vorwiegend junger Menschen sinkt das Durchschnittsalter Frankfurts nach einer Studie des Instituts der deutschen Wirtschaft (IW) deutschlandweit am schnellsten. 2017 lag es bei 40,6 Jahren.30 Prozent der am 31. Dezember 2022 in Frankfurt mit Hauptwohnsitz gemeldeten 767.609 Einwohner haben keine deutsche Staatsangehörigkeit. Abgesehen von einigen Umlandgemeinden ist das der höchste Ausländeranteil aller hessischen Kommunen. Laut dem im Juni 2017 vorgestellten Bericht zum Integritäts- und Diversitätsmonitoring des städtischen Amts für multikulturelle Angelegenheiten hatten 2015 51,2 Prozent der Frankfurter einen Migrationshintergrund, von denen jedoch etwa ein Drittel nicht selbst zugewandert ist. === Eingemeindungen === Bis 1866 bestand das Stadtgebiet von Frankfurt am Main aus dem Stadtbezirk mit den heutigen Stadtteilen Altstadt, Innenstadt, Bahnhofsviertel, Gutleutviertel, Gallus, Westend, Nordend, Ostend, Riederwald und Sachsenhausen, einschließlich des Frankfurter Stadtwaldes, sowie aus dem Landbezirk mit den acht Dörfern Bornheim, Hausen, Niederursel (zur Hälfte mit dem Großherzogtum Hessen), Bonames, Nieder-Erlenbach, Dortelweil, Oberrad und Niederrad. Nach der Annexion der Freien Stadt Frankfurt durch Preußen bildete deren ehemaliges Territorium den Stadtkreis Frankfurt am Main. Ab 1877 wurden die Gemeinden des Stadtkreises, 1910 auch des 1885 gebildeten Landkreises Frankfurt, nach und nach in die Stadt Frankfurt eingemeindet. Die letzte Eingemeindung erfolgte 1977. Von den ehemaligen Frankfurter Dörfern gehört nur Dortelweil nicht wieder zum Stadtgebiet. Im heutigen Frankfurter Stadtgebiet liegen einige Wüstungen, also ehemalige Siedlungen bzw. Dörfer, die im Laufe der Zeit aufgegeben wurden. Siehe auch == Stadtbild == === Altstadt und Innenstadt === Wie bei anderen deutschen Großstädten hat sich Frankfurts Stadtbild nach dem Zweiten Weltkrieg radikal geändert. Dies war bedingt durch die Bombenschäden der Luftangriffe auf Frankfurt am Main und den darauf folgenden, den alten Stadtgrundriss oft ignorierenden Wiederaufbau, dem die Stadt ein autogerechtes Straßennetz und eine eher vorstädtisch wirkende Altstadtbebauung im Stil der 1950er und 1960er Jahre verdankt. Von einer der ehemals größten zusammenhängenden Altstädte Deutschlands, die seit dem Hochmittelalter nie durch Kriege oder Großfeuer verwüstet worden war, blieb nur wenig übrig. Von rund 1250 Fachwerkhäusern überlebten nur zwei weitgehend unversehrt, das Haus Wertheim am Fahrtor und das Haus Mainkai 40, das wie die meisten Frankfurter Fachwerkhäuser früher kein Sichtfachwerk zeigt, sondern verputzt ist. Doch schon seit Mitte des 19. Jahrhunderts bis zum Ersten Weltkrieg wurden Straßendurchbrüche geschaffen (Braubachstraße) und ganze Quartiere abgerissen (Judengasse). Im Zentrum der historischen Altstadt liegt der Römerberg, einer der bekanntesten Stadtplätze der Bundesrepublik. Die den Platzrand säumenden Gebäude sind Wiederaufbauten oder Neubauten der 1950er und 1980er Jahre. Die Grenzen des Stadtviertels Frankfurt-Altstadt entsprechen dem Verlauf der alten Stadtmauer des 12. Jahrhunderts, der sogenannten Staufenmauer. Dies entspricht etwa den Straßenzügen Neue Mainzer Straße-Kaiserstraße-Roßmarkt-Zeil-Kurt-Schumacher-Straße. In der Altstadt befinden sich der Frankfurter Kaiserdom und die als Tagungsort der deutschen Nationalversammlung von 1848 bekannte Paulskirche. Ein Grafiker, der das alte Frankfurt des 17. Jahrhunderts detailgetreu in Stadtansichten darstellte, war Matthäus Merian. Für die genaue fotografische Dokumentation Frankfurts war im 19. Jahrhundert Carl Friedrich Mylius sehr bedeutend. Die heutige Innenstadt, ab 1333 als Neustadt erweiterter Teil der Altstadt, erlebte im frühen 19. Jahrhundert starke Veränderungen. Die barocke Stadtbefestigung mit ihren großen Bastionen, die seit dem 17. Jahrhundert die Alt- und die Neustadt umfassten, wurde geschleift und stattdessen die Wallanlagen als ringförmiger Park um die alte Stadt geschaffen. Das sumpfige Fischerfeld wurde trockengelegt und einheitlich bebaut. Der Stadtplaner Georg Heß verfasste ein Statut, in dem geregelt wurde, wie die Neubauten aussehen sollten. Er verlangte, dass sich die Bauherren an den Stil des Klassizismus zu halten hätten. In diesem ebenfalls weitgehend zerstörten Stadtquartier haben sich nur wenige Beispiele für den Frankfurter Klassizismus erhalten, so der ab 1835 entstandene Neubau des Hospital zum Hl. Geist und die 1820 bis 1825 entstandene und 1944 teilweise zerstörte Alte Stadtbibliothek, die als „Literaturhaus“ 2005 originalgetreu wiederaufgebaut worden ist. In der Wallservitut wurde 1827 festgelegt, dass die in Spazierwege umgewandelten Wallanlagen nicht bebaut werden dürften. Diese Bestimmung gilt noch, auch wenn die Stadt einzelne Ausnahmen zugelassen hat (Alte Oper, Schauspielhaus, das ursprünglich als Stadtbad Mitte erbaute Hilton-Hotel). Ende des 19. Jahrhunderts entwickelte sich die Hauptwache zum Mittelpunkt der Stadt. Die Zeil wurde zur Hauptgeschäftsstraße. Die 1678–1681 am Eingang der Zeil errichtete barocke Katharinenkirche, heute die größte evangelische Kirche Frankfurts, ist eng mit der Familie Goethe verbunden. Wiederholte, radikale bauliche Veränderungen prägen die Frankfurter Innenstadt und geben bisher unzugängliche Bereiche der öffentlichen – vor allem merkantilen – Nutzung zurück. So wurde an der Einkaufsstraße Zeil im Februar 2009 auf dem ehemaligen Gelände der Hauptpost Frankfurt am Main und der Telekom zwischen Eschenheimer Tor und Zeil das Einkaufszentrum MyZeil eröffnet, flankiert von zwei Hochhäusern mit Büro- und Hotelnutzung, sowie das zwischen 1737 und 1741 erbaute, stadtgeschichtlich wichtige und 1944 zerstörte Palais Thurn und Taxis in etwas verkleinerter Form originalgetreu rekonstruiert. Für das Palaisquartier genannte Projekt wurde unter anderem das Fernmeldehochhaus, eines der ersten Frankfurter Hochhäuser aus dem Jahr 1956, abgerissen. Das Gebäudeensemble wurde Mitte 2010 fertiggestellt. Auf dem direkt nördlich angrenzenden Grundstück wurde das 1953 errichtete Rundschau-Haus der Frankfurter Rundschau abgerissen, um Wohn- und Geschäftshäusern Platz zu machen. Das ehemalige Degussa-Gelände zwischen Mainkai, Neuer Mainzer Straße und Weißfrauenstraße wurde 2010–2018 komplett umgestaltet. 2018 wurde damit begonnen, das ehemalige Areal der Deutschen Bank am Roßmarkt mit einem von vier Hochhäusern überragten neuen Quartier zu überbauen. Hier wird mit dem Deutsche-Bank-Hochhaus ein Frankfurter Hochhaus der ersten Generation Opfer der Neubebauung. Das Four genannte Projekt soll 2024 abgeschlossen sein, die ersten Gebäude sollen bereits Ende 2023 bezogen werden.Eine weitere große Veränderung leitete 2010 der Abriss des Technischen Rathauses im Altstadtkern zwischen Dom und Römerberg ein. Hier entstand von 2014 bis 2018 im Rahmen des Dom-Römer-Projekts der historische Grundriss mit den Straßenzügen Markt und Hühnermarkt über 70 Jahre nach seiner Zerstörung wieder neu. Unter den 35 Neubauten sind 15 als schöpferische Nachbauten bezeichnete Rekonstruktionen ehemaliger Altstadthäuser, darunter städtebaulich bedeutende Gebäude wie das Haus zur Goldenen Waage, das Neue Rote Haus, das Goldene Lämmchen, ein Teil des Rebstockhofs und das Haus zum Esslinger. Der Archäologische Garten mit den Ausgrabungen einer römischen Niederlassung und der karolingischen Königspfalz wurde mit dem Stadthaus am Markt überbaut, um die ältesten Siedlungsspuren Frankfurts dauerhaft vor der Witterung zu schützen und zugänglich zu halten. === Klassizistische und gründerzeitliche Bezirke === Seit etwa 1830 entstanden außerhalb der Wallanlagen die Stadtteile Westend, Nordend und Ostend. Nach dem Bau des Hauptbahnhofes entstand in den 1890er Jahren das Bahnhofsviertel auf dem Gelände der drei zuvor direkt westlich an den Anlagenring angrenzenden Westbahnhöfe. Als Wohngebiete wuchsen vor allem die drei erstgenannten Stadtteile sowie das südlich des Mains gelegene Sachsenhausen besonders nach der Annexion durch Preußen außerordentlich stark. Es lebt gerade einmal ein Prozent der Bevölkerung innerhalb der ehemaligen Stadtmauern. Die Bebauung erfolgte bis 1866 eher planlos mit Bebauung der sogenannten „Gärtnereizone“ außerhalb der Wallanlagen, die noch an den „krummen“ Straßenführungen und vereinzelt erhaltenen Gartenhäusern der klassizistischen Epoche ablesbar ist. Nachdem dieser Bereich durch ständige Verdichtung erschöpft schien, entwickelte sich die Bebauung entlang der breiten, allesamt Landstraßen genannten Ausfallstraßen in Richtung der Vororte weiter. So an der Eschersheimer Landstraße, der Eckenheimer Landstraße, Friedberger Landstraße oder der Bockenheimer Landstraße. In preußischer Zeit wurde dann auf dem Reißbrett ein schachbrettartiges Straßenraster entwickelt, das zeittypisch vereinzelt von polygonalen Platzanlagen zugunsten besonderer Blickbeziehungen etwa zu Kirchenbauten aufgebrochen ist. Der Anfang des 20. Jahrhunderts unter Oberbürgermeister Franz Adickes erbaute Frankfurter Alleenring fasst als Ringstraße mit breitem, begrüntem Mittelstreifen diese Stadterweiterung ein. Er folgt in weiten Bereichen etwa dem Verlauf der alten Frankfurter Landwehr. Gebaut wurden üblicherweise in der Art des geschlossenen Blockrands mit vier bis fünf Etagen – und dabei die vorhandenen Villen des Klassizismus größtenteils abgerissen und die großen Gartengrundstücke parzelliert. Ausnahmen blieben die Villen der Familien Rothschild, Bethmann (alle im Zweiten Weltkrieg zerstört) und das bereits im 18. Jahrhundert an Stelle einer Wasserburg erbaute Holzhausenschlößchen, deren Parks den Bewohnern der umgebenden Stadtteile willkommene Erholungsmöglichkeiten bieten. Als lokale Besonderheit dominierte noch bis 1880 vielerorts ein zurückhaltender Spätklassizismus und selbst die nachfolgenden, stärker im „wilhelminischen“ Geschmack errichtete Architektur entwickelte beim Geschosswohnungsbau in der eher kaufmännisch denkenden Stadt nie die repräsentative Prachtentfaltung, wie sie aus anderen in jener Zeit stark gewachsenen Städten wie Wiesbaden, Leipzig oder Berlin bekannt ist. Die 1877 und 1895 eingemeindeten Stadtteile Bornheim und Bockenheim wurden ebenso wie Heddernheim, Eckenheim und Eschersheim in die Stadt integriert, erweitert und erhielten Anschluss an die Frankfurter Straßenbahn, konnten sich hingegen als Nebenzentren ihren eigenen Charakter bewahren. Typisch für die Zeit war das West-Ost-Gefälle in Qualität und Anspruch der Bebauung. Während das neuerbaute Bahnhofsviertel um 1900 als nobelstes Geschäftsviertel und das Westend als vornehmstes, großbürgerliches Wohngebiet galten, waren das Nordend, Bornheim und das Ostend Stadtteile des mittleren Bürgertums. Eine gewisse Sonderstellung nahm dabei das Ostend ein, das ebenso wie das Fischerfeld traditionell einen hohen jüdischen Bevölkerungsanteil hatte, und in dem sich viele Einrichtungen der jüdischen Gemeinde konzentrierten, so das Krankenhaus und das Waisenhaus auf dem Röderberg. Die große orthodoxe, 1905 bis 1907 erbaute Synagoge an der Friedberger Anlage (1938 zerstört) galt wie die in den 1920er Jahren errichtete Großmarkthalle als Wahrzeichen des Stadtteils. Die Arbeiterschicht konzentrierte sich in der Nähe der großen Fabriken rund um den Hauptbahnhof im Gutleut- und Gallusviertel sowie dem im Rahmen der Osthafenplanung entstandenen Stadtteil Riederwald. Infolge der Naziherrschaft und der Flächenbombardements des Zweiten Weltkriegs änderten sich diese Verhältnisse grundlegend. Die ehemaligen Bewohner des Westends zog es in die Taunusvororte, das weitgehend zerstörte Ostend erholte sich jahrzehntelang kaum. Ein neues Bürgerbewusstsein entstand im Verlauf des Häuserkampfs der 1960er und 1970er Jahre, als für die Schaffung von Büroraum im Bahnhofsviertel und Westend zahlreiche gründerzeitliche Bauten abgerissen, umgenutzt oder durch Bürohochhäuser ersetzt wurden. Das Nordend und Bornheim entwickelten sich zu Zentren der aufkeimenden grünen Bewegung. Im Zuge der Gentrifizierung sind diese „Szeneviertel“, ebenso wie nach dem Neubau der Europäischen Zentralbank das Ostend in den Focus der Immobilieninvestoren und -entwickler geraten. Durch das auf dem früheren Güterbahnhofsgelände entstehende Europaviertel mit dem Einkaufszentrum Skyline Plaza am Rande des Gallusviertel sind in diesem bisherigen Arbeiterstadtteil entsprechende Entwicklungen absehbar. Neben den Wallanlagen entstanden in der Stadt ab dem 19. Jahrhundert weitere Grünanlagen, die zumeist auf Parks begüterter Frankfurter Familien zurückgehen. Im Stadtteil Nordend-Ost befindet sich zum Beispiel der Bethmannpark mit seinem chinesischen Garten des Himmlischen Friedens. Im Nordend befinden sich der Holzhausenpark und der Günthersburgpark. Weiter westlich im Stadtteil Westend liegt der Grüneburgpark, in dem sich unter anderem eine griechisch-orthodoxe Kirche und ein koreanischer Garten befinden. Der Palmengarten ist ein seit 1871 bestehender international renommierter Botanischer Garten, der etwa 2500 Pflanzenarten kultiviert und Attraktionen wie das Papageno Musiktheater oder die Parkeisenbahn Palmen-Express beherbergt. Direkt nebenan befindet sich der ehemalige Botanische Garten der Universität, der nach Verlagerung des Botanischen Instituts auf den Riedberg in die Obhut des Palmengartens übergegangen ist. Diese drei aneinandergrenzenden Parks bilden die größte innenstadtnahe Grünanlage Frankfurts. Der Ostpark im Ostend war 1907 der erste Volkspark in Frankfurt und wurde als Erholungsort für die Anwohner, wie der Arbeiter der angrenzenden Industriegebiete, konzipiert. === Klassische Moderne: Das Neue Frankfurt === 1925 wurde das Neue Frankfurt als umfangreiches Städtebauprogramm begonnen. Der Oberbürgermeister Ludwig Landmann ernannte 1925 den Architekten Ernst May zum Stadtbaurat, der fortan alle Aktivitäten leitete und sich mit einem Stab junger Architekten, Techniker, Künstler und Designer umgab, um das Projekt nachhaltig in der Stadt zu verankern. Städtebaulich wurde das Zusammenwachsen der eingemeindeten Dörfer gestaltet und die Stadt um Infrastrukturprojekte und Parks bereichert. Darüber hinaus wurden wegweisende Technologien für das Bauwesen und das Industriedesign erprobt und eingesetzt. Bekannte Bauten umfassen die Großmarkthalle und das Gesellschaftshaus des Palmengartens und Siedlungen wie Praunheim, Römerstadt und Westhausen im Norden, die Siedlung Bornheimer Hang im Osten, die Hellerhofsiedlung sowie die Heimatsiedlung im Süden. Herausragende Designleistungen umfassen die Frankfurter Küche und die Schriftart Futura. === Höchst und die äußeren Stadtteile === Zu Beginn des 20. Jahrhunderts wurden in mehreren Schritten die nördlich der Innenstadt gelegenen Stadtteile eingemeindet. Einige dieser Stadtteile hatten bereits bis 1866 zum Besitz der Freien Stadt Frankfurt gehört, andere waren zuvor nie mit Frankfurt verbunden. Um 1914 gehörte Frankfurt zu den flächenmäßig größten Städten Deutschlands. Das Stadtgebiet wuchs 1928 durch Eingemeindungen weiter. Unter anderem kam die Stadt Höchst am Main mit der Altstadt dazu. Die noch gut erhalten und seit 1972 unter Denkmalschutz steht. Hier stehen ungefähr 400 Fachwerkhäuser, wie das älteste Gebäude Frankfurts, die Justinuskirche. Die spätesten Eingemeindungen fanden 1972 und 1977 im Nordosten (Kalbach, Harheim, Nieder-Eschbach und Nieder-Erlenbach; im Osten Bergen-Enkheim) statt. Diese Stadtteile haben zum Teil noch ihren ländlichen Charakter. === Grüngürtel === Der Frankfurter Grüngürtel erstreckt sich ringförmig um den dichtbesiedelten Stadtkern. Er besteht aus drei unterschiedlichen Landschaften, dem Berger Rücken im Nordosten der Stadt, dem Niddatal auf dem gesamten Verlauf im Frankfurter Stadtgebiet im Westen und Norden sowie dem Frankfurter Stadtwald im Süden. Der Grüngürtel umfasst über 8.000 Hektar, was etwa einem Drittel des Frankfurter Stadtgebietes entspricht. Er wurde 1991 als einer der ersten Grüngürtel der Welt mit einer kommunalen Satzung, der Grüngürtel-Verfassung, begründet und ist Teil des seit 1994 ausgewiesenen 10.850 Hektar großen Landschaftsschutzgebiets Grüngürtel und Grünzüge in der Stadt Frankfurt am Main. Das Landschaftsschutzgebiet ist in zwei Zonen eingeteilt, die vor Bebauung und Nutzungsänderungen geschützt sind. Zone I umfasst Grünanlagen und Gärten sowie Sport-, Freizeit- und Erholungsanlagen, Zone II Wald- und Ackerflächen, Gehölze und Brachen, Wiesen sowie Auen- und Feuchtgebiete. Teile des Grüngürtels gehen nahtlos in den noch größeren Schutz- und Erholungsraum Regionalpark RheinMain über. Im Grüneburgpark, am Bornheimer Hang und im Ostpark sowie in der Sinai-Wildnis ziehen sich Ausläufer des Grüngürtels bis fast in die Innenstadt.Der Frankfurter Stadtwald zählt zu den größten innerstädtischen Wäldern in Deutschland und bedeckt die südlichen Teile von Schwanheim, Niederrad, Sachsenhausen und Oberrad sowie den nördlichen Teil des Stadtteils Flughafen. Im Frankfurter Grüngürtel liegen der 1989 für die Bundesgartenschau angelegte Niddapark, die nach dem Ersten Weltkrieg entstandenen Volksparks Lohrberg und Huthpark, der Biegwald und der Niedwald, der Fechenheimer Mainbogen, das Sossenheimer Unterfeld und das Schwanheimer Unterfeld mit dem Naturschutzgebiet Schwanheimer Düne. Weitere Naturschutzgebiete im Grüngürtel sind das Enkheimer Ried, das Seckbacher Ried, das Mühlbachtal von Bergen-Enkheim, das Harheimer Ried und die Riedwiesen. == Geschichte == === Von der Frankenfurt bis zum Ende des Heiligen Römischen Reiches === Frankfurt am Main wurde erstmals am 22. Februar 794 in einer Urkunde Karls des Großen für das Regensburger Kloster St. Emmeram erwähnt. In dem auf Latein verfassten Dokument heißt es: „… actum super fluvium Moin in loco nuncupante Franconofurd“ – „gegeben (ausgestellt) am Flusse Main in einem Orte, genannt Frankfurt.“ Eine Besiedlung des Domhügels ist allerdings schon für die Jungsteinzeit nachgewiesen. Am selben Ort entstanden in der Folge vermutlich ein römisches Militärlager und in merowingischer Zeit ein fränkischer Königshof. Im Juni 794 versammelten sich in der fränkischen Königspfalz wichtige Kirchenvertreter des Reiches in der Synode von Frankfurt. 843 wurde Frankfurt die zeitweise wichtigste königliche Pfalz der Ostfranken und Ort von Reichstagen. 1220 schaffte Kaiser Friedrich II. das Amt des Reichsvogtes in Frankfurt ab. An die Stelle dieses Ministerialen trat der vom Kaiser eingesetzte Reichsschultheiß als Oberhaupt der sonst selbstverwalteten Bürgerschaft. Im Laufe des 13. und 14. Jahrhunderts erlangte die Stadt immer mehr Privilegien und Regalien, beispielsweise 1240 die jährliche Herbstmesse und 1330 die Frühjahrsmesse. 1266 wird der aus 42 Patriziern und zünftigen Handwerksmeistern bestehende Rat der Stadt erstmals erwähnt. Seit 1311 wählte der Rat jährlich zwei Bürgermeister als Stadtoberhäupter. Mit dem Erwerb des Schultheißenamt erreichte Frankfurt 1372 die volle Souveränität als Reichsstadt. Die Goldene Bulle von 1356 bestätigte Frankfurt als rechtmäßige Wahlstadt der römischen Könige, nachdem hier schon seit 1147 die meisten Königswahlen stattgefunden hatten. Ab 1562 fanden die Kaiserkrönungen in Frankfurt statt, zuletzt 1792 die des Habsburgers Franz II. Der Krönungsweg, der vom Kaiserdom St. Bartholomäus über den Markt zum Römer führte, wurde zwischen 2012 und 2018 im Zuge des Dom-Römer-Projekts rekonstruiert. 1742 wurde Frankfurt gar für fast drei Jahre Residenzstadt. Da der aus dem Haus Wittelsbach stammende Kaiser Karl VII. nach seiner Krönung nicht in sein Stammland, das von habsburgischen Truppen besetzte Kurfürstentum Bayern zurückkehren konnte, lebte er notgedrungen bis Oktober 1744 im Palais Barckhaus an der Zeil. Mit dem Ende des Alten Reiches endete die Souveränität Frankfurts als Reichsstadt. Am 12. Juli 1806 fiel es unter die Herrschaft des Fürstprimas Karl Theodor von Dalberg, der es mit dem Fürstentum Regensburg und dem Fürstentum Aschaffenburg sowie der Reichsstadt Wetzlar zu einem selbständigen Staat innerhalb des Rheinbundes vereinigte, dem Staat des Fürstprimas. 1810 trat Dalberg das Fürstentum Regensburg an Bayern ab, erhielt dafür das Fürstentum Hanau und das Fürstentum Fulda und wurde Großherzog von Frankfurt. Im kurzlebigen Großherzogtum Frankfurt bildete die Stadt Frankfurt 1810 bis 1813 eine Mairie und war Hauptstadt des Departement Frankfurt, zu dem auch ihre ehemals reichsstädtischen Dörfer als Land-Districtsmairie Frankfurt gehörten. === Die Freie Stadt Frankfurt === Mit dem Zusammenbruch des napoleonischen Systems dankte Dalberg am 28. Oktober 1813 als Großherzog von Frankfurt ab. Sein Großherzogtum wurde von den siegreichen Alliierten als Generalgouvernement Frankfurt dem Zentralverwaltungsdepartement für die besetzten Gebiete unterstellt. Am 14. Dezember 1813 wurde die Unabhängigkeit der Stadt und ihres Territoriums wiederhergestellt und ihre reichsstädtische Verfassung wieder in Kraft gesetzt. Der bisherige Präfekt Friedrich Maximilian von Günderrode übernahm als Stadtschultheiß die provisorische Leitung der Verwaltung. Auf dem Wiener Kongress plante das Königreich Bayern die Annexion Frankfurts, doch beschloss der Kongress am 8. Juni 1815 die Wiederherstellung Frankfurts als Freie Stadt innerhalb des Deutschen Bundes. Es war damit neben Hamburg, Bremen und Lübeck eine von vier Freien Städten, die ihre traditionelle Stadtfreiheit bis in die Zeit der Moderne behaupten konnten. Die Freie Stadt Frankfurt gab sich eine neue Verfassung, die Konstitutionsergänzungsakte, und den Wahlspruch Stark im Recht. Der Bundestag des Deutschen Bundes richtete sich in Frankfurt ein. 1833 scheiterte der Frankfurter Wachensturm, ein Versuch eine allgemeine Revolution in Deutschland auszulösen. 1848 kam es in den deutschen Staaten zur Märzrevolution. Die einberufene Nationalversammlung tagte in der Frankfurter Paulskirche und erarbeitete mit der Paulskirchenverfassung die erste gesamtdeutsche und demokratische Verfassung Deutschlands. 1863 endete der Frankfurter Fürstentag, ein Versuch zur Reform des Deutschen Bundes, erfolglos. Im Deutschen Krieg 1866 blieb Frankfurt bundestreu. Die öffentliche Meinung stand eher auf Seiten Österreichs und des Kaisers, obwohl es in Frankfurt schon länger Stimmen gab, die aus wirtschaftlichen und außenpolitischen Gründen für einen freiwilligen Anschluss an Preußen plädierten. Am 18. Juli wurde die Stadt während des Mainfeldzugs von der preußischen Mainarmee besetzt und mit schweren Kontributionen belegt. Am 2. Oktober annektierte Preußen die Stadt, die damit endgültig ihre Unabhängigkeit verlor; der Stadtkreis Frankfurt wurde dem Regierungsbezirk Wiesbaden der Provinz Hessen-Nassau zugeordnet, die Zahlung der Kontributionen später erlassen. 1868 führte Preußen in Frankfurt die Magistratsverfassung mit einem Oberbürgermeister als Stadtoberhaupt ein. Als versöhnendes Symbol wurde 1871 in Frankfurt der Deutsch-Französische Krieg mit dem Frankfurter Frieden offiziell beendet. === Von der Gründerzeit bis zur Zerstörung im Zweiten Weltkrieg === Für die wirtschaftliche Entwicklung der Stadt zu einem Industriezentrum mit raschem Bevölkerungswachstum war die Annexion vorteilhaft. Frankfurt gemeindete zwischen 1877 und 1910 in mehreren Etappen zahlreiche umliegende Orte ein und vergrößerte seine Fläche von 70 auf 135 Quadratkilometer. Damit wurde es schließlich sogar Anfang des 20. Jahrhunderts für kurze Zeit Deutschlands flächengrößte Stadt. Mit dem raschen Bevölkerungswachstum baute die Stadt ihre öffentliche Infrastruktur aus, darunter zahlreiche Schulen, mehrere Mainbrücken, Wasserversorgung, Kanalisation, eine moderne Berufsfeuerwehr, Vieh- und Schlachthof, die Markthalle, Straßenbahnen, Bahnhöfe und Häfen. Nachdem sich die Industrie zunächst vor allem in Bockenheim, entlang der Mainzer Landstraße und in Sachsenhausen angesiedelt hatte, entstand 1909 bis 1912 der Osthafen mit einem Industriegebiet, dessen neu erschlossene Fläche so groß war wie das gesamte Ende des 19. Jahrhunderts bebaute Stadtgebiet nördlich des Mains. Neben den traditionellen Frankfurter Branchen, Gießereien und Metallwaren, Schriftgießereien und Druckereien, entstanden nun Brauereien, chemische Fabriken und, nach der Internationalen Elektrotechnischen Ausstellung 1891, auch eine Elektroindustrie. 1914 wurde die von Frankfurter Bürgern gestiftete Universität eröffnet. Im Ersten Weltkrieg blieb Frankfurt von Zerstörungen verschont, litt aber aufgrund seiner Lage als preußische Grenzstadt mit hessischem und bayerischem Hinterland unter einer schlechten Versorgung mit Lebensmitteln und anderen Dingen des täglichen Bedarfs. Infolge der Novemberrevolution 1918 kam es zu Unruhen und zeitweiligen Straßenkämpfen, die bis Ende 1919 anhielten. In den 1920er Jahren erlebte Frankfurt eine kulturelle Blüte, unter anderem durch seine Theater und das städtebauliche Programm des Neuen Frankfurt (weltweit bekannt durch die Frankfurter Küche, den Urtyp der modernen Einbauküche). 1925 fand im neu erbauten Waldstadion die erste internationale Arbeiterolympiade statt. In der Zeit des Nationalsozialismus wurden 11.134 Juden aus Frankfurt deportiert. Nur 367 von ihnen überlebten den Holocaust. Im Zweiten Weltkrieg zerstörten alliierte Luftangriffe auf Frankfurt etwa 70 Prozent der Gebäude, darunter fast die gesamte Alt- und Innenstadt. Das bis 1944 nahezu geschlossen mittelalterliche Stadtbild ging dadurch verloren. Am 26. März 1945 rückten Truppen der 3. US-Armee von Sachsenhausen kommend über die nur teilweise zerstörte Wilhelmsbrücke in die Innenstadt ein. Am 29. März 1945 endeten die Kampfhandlungen im Stadtgebiet und die letzten Wehrmachtseinheiten zogen sich in Richtung Taunus und Wetterau zurück. === Seit 1945: Entwicklung zur multikulturellen Wirtschaftsmetropole === Nach Kriegsende richteten die Streitkräfte der USA ihr europäisches Hauptquartier in Frankfurt ein. Pläne, dem erweiterten Stadtgebiet als selbständigem Distrikt Frankfurt einen Sonderstatus zu verleihen, analog dem District of Columbia, erwiesen sich als nicht praktikabel. 1946 wurde die Stadt dem neugebildeten Land Groß-Hessen zugeordnet. 1947 nahm der Wirtschaftsrat der Bizone, die 1948 zur Trizone erweitert wurde, seinen Sitz in Frankfurt. Bei der Wahl zur Bundeshauptstadt unterlag Frankfurt am 10. Mai 1949 gegen Konrad Adenauers Favoriten Bonn. Ein Parlamentsgebäude war in Frankfurt bereits gebaut worden. Es beherbergt seitdem den Hessischen Rundfunk. Trotz der Niederlage in der Hauptstadtfrage entwickelte sich die Stadt in der Zeit des Wirtschaftswunders erneut zu einer wirtschaftlichen Metropole und zum bedeutendsten Finanzplatz Kontinentaleuropas. Der Wiederaufbau in den 1950er Jahren orientierte sich nicht an den alten städtebaulichen Strukturen. Weite Teile der einstigen Altstadt werden von den damals entstandenen schlichten modernistischen Zweckbauten und Verkehrsachsen geprägt. Infolge der Teilung Deutschlands übernahm Frankfurt Metropolfunktionen als Sitz von Unternehmen, Verbänden und Bundeseinrichtungen. Die Bedeutung der Stadt würdigte der amerikanische Präsident John F. Kennedy mit seinem Besuch und einer Rede in der Paulskirche am 23. Juni 1963.1998 wurde Frankfurt Sitz der Europäischen Zentralbank. === Religionen und Weltanschauungen === In Frankfurt sind alle Weltreligionen vertreten. Bis 2001 gehörte die Mehrzahl der Frankfurter einer der christlichen Konfessionen an. Durch Säkularisierung und Zuwanderung nichtchristlicher Bevölkerungsgruppen sinkt der christliche Bevölkerungsanteil stetig. 2020 waren 19,0 % der Einwohner katholisch, 15,1 % evangelisch und 65,9 % waren konfessionslos oder gehörten anderen Glaubensgemeinschaften an.Die Stadt galt seit der Reformation als traditionell protestantisch, wenngleich das katholische Gemeindeleben niemals ganz erlosch. Durch Zuwanderung und Eingemeindungen nahm der Anteil der Katholiken seit dem 18. Jahrhundert allmählich zu und ist seit 1995 größer als der der Protestanten.Etwa 6500 Frankfurter gehören der jüdischen Gemeinde Frankfurt an. Nach einer 2007 veröffentlichten Schätzung lebten am Jahresende 2006 rund 75.000 Muslime in Frankfurt.Bereits im 7. Jahrhundert existierte an der Stelle des Domes eine kleine Kirche. Seit Ende des 12. Jahrhunderts entstanden in rascher Folge zahlreiche weitere Kirchen und Kapellen, teils als Stiftungen Frankfurter Bürger, teils als Ordensniederlassungen. 1533 führte die Freie Reichsstadt die Reformation ein. Nach dem Augsburger Interim von 1548 wurden die katholischen Stiftskirchen und Klöster in Frankfurt an die katholische Kirche zurückgegeben, um den Konflikt mit dem katholischen Kaiser zu vermeiden und die städtischen Privilegien (vor allem die Messen und die Kaiserwahlen) nicht zu gefährden. Die wenigen verbliebenen Katholiken hatten seit dem Augsburger Religionsfrieden von 1555 Glaubensfreiheit, konnten jedoch bis 1806 nur in Ausnahmefällen das Bürgerrecht erwerben. Aus Frankreich kamen verfolgte Hugenotten, die die erste Gemeinde von Réfugiés in Deutschland im Jahre 1554 entstehen ließen. Protestantische Glaubensflüchtlinge aus England machten zum Dank für die Gastfreundschaft der Stadt 1558 das englische Monument zum Geschenk. Die reformierte Kirche durfte in Frankfurt erst ab 1786 eigene Kirchen errichten. 1866 schlossen sich die lutherischen und die reformierten Gemeinden zu einer Frankfurter Landeskirche zusammen. 1933 vereinigte sich die Frankfurter Landeskirche unter staatlichem Druck mit den evangelischen Kirchen von Hessen-Darmstadt und Nassau zur Evangelischen Landeskirche Nassau-Hessen, die 1947 zur Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau (EKHN) wurde. Das 1976 eingemeindete Bergen-Enkheim gehört weiterhin zur evangelischen Kirche von Kurhessen-Waldeck. Bislang viermal fand der Evangelische Kirchentag in Frankfurt statt, nämlich 1956, 1975, 1987 und 2001. 2021 wurde der dritte Ökumenische Kirchentag in Frankfurt ausgerichtet. Wegen der COVID-19-Pandemie fanden fast ausschließlich digital übertragene Veranstaltungen statt. Bis 1917 bildeten die damals 86.000 Katholiken Frankfurts eine gemeinsame Stadtgemeinde, dann entstanden nach und nach mehrere Pfarreien. Die katholischen Gemeinden gehören überwiegend zum Bistum Limburg, nur Bergen-Enkheim zum Bistum Fulda sowie die 1972 eingemeindeten Stadtteile Harheim, Nieder-Erlenbach und Nieder-Eschbach zum Bistum Mainz. Der Deutsche Katholikentag war bisher dreimal in der Stadt zu Gast, nämlich 1863, 1882 und 1921. Neben den beiden großen Konfessionen sind orthodoxe Kirchen, altorientalische Kirchen, Freikirchen und andere Konfessionen in Frankfurt vertreten, darunter die Altkatholische Kirche, die Neuapostolische Kirche und die Zeugen Jehovas. Etwa 30 evangelikale Gruppen haben sich unter dem Dach der Evangelischen Allianz Frankfurt zusammengeschlossen. Eine jüdische Gemeinde wird in Frankfurt erstmals 1150 erwähnt. Zweimal, 1241 und 1349, wurden die Frankfurter Juden im Mittelalter Opfer von Pogromen. Von 1462 bis 1796 mussten sie in einem Ghetto leben, der Judengasse. 1806 verfügte Fürstprimas Karl Theodor von Dalberg die Gleichberechtigung aller Juden und Christen. 1816 schränkte die Freie Stadt Frankfurt in der Konstitutionsergänzungsakte die Bürgerrechte der Juden teilweise wieder ein. Während der antijüdischen Hep-Hep-Krawalle, bei denen es zwischen August und Oktober 1819 in über 80 Städten und Ortschaften im Deutschen Bund und über seine Grenzen zu zahlreichen Ausschreitungen und Vorfällen kam, war Frankfurt zwischen dem 8. und 12. August 1819 Schauplatz der neben Würzburg schwersten Gewaltexzesse. Über vier Tage befand sich die Stadt durch massive gewaltsame Ausschreitungen im Ausnahmezustand. Erst 1864 gewährte Frankfurt als dritter deutscher Staat nach Hamburg und Baden den Juden die uneingeschränkte Gleichberechtigung. Um 1930 lebten etwa 28.000 Juden in Frankfurt. In der Zeit des Nationalsozialismus wurden fast alle deportiert oder vertrieben, die vier großen Synagogen während der Novemberpogrome 1938 zerstört. 11.134 Frankfurter Juden wurden während des Holocaust deportiert. Bei Kriegsende hatten nur etwa 160 in der Stadt überlebt. Bereits kurz nach Kriegsende wurde von deportierten osteuropäischen Juden eine neue jüdische Gemeinde gegründet. Sie ist heute mit etwa 6500 Mitgliedern eine der großen Gemeinden in der Bundesrepublik. Größte Frankfurter Synagoge ist die Westend-Synagoge. Die 1959 in Sachsenhausen erbaute Nuur-Moschee der Ahmadiyya Muslim Jamaat war die erste Moschee Frankfurts und eine der ersten Deutschlands. Inzwischen gibt es in Frankfurt etwa 35 Moscheen verschiedener islamischer Glaubensrichtungen. Die Kirche Jesu Christi der Heiligen der Letzten Tage (Mormonen) hat ihren Hauptsitz für das Gebiet Europa Mitte in Frankfurt am Main (Eckenheim). Ferner befinden sich zwei Gemeinden in Eckenheim und Höchst. Der Frankfurt-Tempel in Friedrichsdorf (Hochtaunuskreis) war 1987 der erste mormonische Tempel in der damaligen Bundesrepublik. Die aus den Vereinigten Staaten stammende Scientology-Organisation unterhält im Frankfurter Bahnhofsviertel seit 1971 eine Niederlassung. Außerhalb Frankfurts, in Hofheim-Langenhain, liegt seit 1964 das einzige Haus der Andacht der Bahai in Europa. In Frankfurts Innenstadt befindet sich die Weihehalle der 1845 gegründeten und als Körperschaft des öffentlichen Rechts anerkannten Unitarischen Freien Religionsgemeinde mit über 1000 Mitgliedern. == Politik == === Allgemeines === Die Hauptsatzung der Stadt Frankfurt am Main und die Hessische Gemeindeordnung bestimmen den konstitutionellen Aufbau der Stadt. Seit der Kommunalwahl 2021 bilden Grüne, SPD, FDP und Volt eine Koalition in der Stadtverordnetenversammlung. Dem Magistrat gehören neben dem direkt gewählten Oberbürgermeister 12 hauptamtliche und 14 ehrenamtliche Stadträte an. Bei der Oberbürgermeisterwahl in Frankfurt am Main 2023 wurde Mike Josef (SPD) erstmals gewählt. In der Stichwahl am 26. März 2023 erhielt er 51,7 % der abgegebenen Stimmen, sein Gegenkandidat Uwe Becker (CDU) 48,3 %. Am 11. Mai 2023 wurde Josef in sein Amt eingeführt. Er ist der Nachfolger von Peter Feldmann (ehemals SPD), der am 6. November 2022 mit einem Bürgerentscheid abgewählt worden war. Zwischen 11. November 2022 und 11. Mai 2023 hatte Bürgermeisterin Nargess Eskandari-Grünberg (Bündnis 90/Die Grünen) die Amtsgeschäfte kommissarisch geführt. Frankfurt ist seit der Bundestagswahl 2002 in die Wahlkreise 182 und 183 aufgeteilt. Bei der Bundestagswahl 2021 gewann Armand Zorn (SPD) den Wahlkreis 182 und Omid Nouripour (Grüne) den Wahlkreis 183. Über die Landeslisten wurden Joana Cotar (AfD), Deborah Düring (Grüne), Thorsten Lieb (FDP), Kaweh Mansoori (SPD) und Janine Wissler (Linke) in den Deutschen Bundestag gewählt. Bei den Wahlen zum Hessischen Landtag ist die Stadt Frankfurt am Main in die sechs Wahlkreise 34 (Frankfurt I), 35 (Frankfurt II), 36 (Frankfurt III), 37 (Frankfurt IV), 38 (Frankfurt V) und 39 (Frankfurt VI) eingeteilt. Auf Einladung des hessischen Ministerpräsidenten, der 2014/2015 Bundesratspräsident war, fanden die Feierlichkeiten zum 25. Tag der Deutschen Einheit vom 2. bis zum 4. Oktober 2015 in Frankfurt statt. Mehr als 1,4 Millionen Besucher beteiligten sich an dem dreitägigen Bürgerfest, das unter dem Motto „Grenzen überwinden“ stand. Höhepunkt der 300 Veranstaltungen war eine Licht- und Toninszenierung am Mainufer. === Stadtverordnetenversammlung === Die Stadtverordnetenversammlung, die im Römer tagt, ist die kommunale Volksvertretung der Stadt Frankfurt am Main. Über die Vergabe der 93 Sitze entscheiden die stimmberechtigten Bürger alle fünf Jahre in allgemeiner, unmittelbarer (direkter), freier, gleicher und geheimer Wahl. Parteien, die mindestens drei Stadtverordnete stellen, sind zur Bildung einer Fraktion berechtigt. Die Vertreter kleinerer Parteien können sich bestehenden Fraktionen anschließen oder parteiübergreifende Fraktionen bilden. Die Kommunalwahl am 14. März 2021 lieferte folgendes vorläufiges Ergebnis: === Weitere Wahlen === In der folgenden Tabelle sind die Ergebnisse von Bundestags-, Landtags- und Europawahlen in Frankfurt am Main dargestellt. 1 bis 2007: PDS === Hoheitszeichen === Als Hoheitszeichen führt die Stadt Frankfurt am Main ein Dienstsiegel, ein Wappen und eine Flagge. Flaggen der Stadt Frankfurt am Main === Städtepartnerschaften === Städtepartnerschaften bestehen mit folgenden Städten: Frankreich Lyon, Frankreich – seit 1960 Vereinigtes Konigreich Birmingham, Vereinigtes Königreich – seit 1966 Italien Mailand, Italien – seit 1970 China Volksrepublik Guangzhou (Kanton), Volksrepublik China – seit 1988 Ungarn Budapest, Ungarn – seit 1990 Tschechien Prag, Tschechien – seit 1990 Nicaragua Granada, Nicaragua – seit 1991 Polen Krakau, Polen – seit 1991 Japan Yokohama, Japan – seit 2011 Turkei Eskişehir, Türkei – seit 2013 Vereinigte Staaten Philadelphia, Vereinigte Staaten – seit 2015Ferner besteht seit 1967 eine Partnerschaft zwischen dem damals noch selbständigen Stadtteil Nieder-Eschbach und der Stadt Deuil-la-Barre (Frankreich). Freundschaftsverträge bestehen mit folgenden Städten: Agypten Kairo, Ägypten – seit 1979 Israel Tel Aviv-Jaffa, Israel – seit 1980 Kanada Toronto, Kanada – seit 1989 Deutschland Leipzig, Sachsen, Deutschland – seit 1990 Kooperation Vereinigte Arabische Emirate Dubai, Vereinigte Arabische Emirate – seit 2005Städtekontakte in Form von Kooperationsverträgen und Absichtserklärungen bestehen seit 2003 mit Daejeon, seit 2006 mit Shenzhen und Moskau, seit 2013 mit Istanbul und Incheon, seit 2015 mit Shanghai und seit 2019 mit Ho-Chi-Minh-Stadt. === Stadthaushalt === Frankfurt hatte nach einer großzügigen öffentlichen Baupolitik in den 1980er Jahren unter den CDU-Oberbürgermeistern Walter Wallmann und Wolfram Brück den Schuldenstand von 840 Millionen Euro (1977) auf 2,25 Milliarden (1989) erhöht. Unter dem rot-grünen Magistrat stieg die Verschuldung bis 1993 auf einen Höchststand von 3,4 Milliarden. Frankfurt hatte damit zeitweise die höchste Pro-Kopf-Verschuldung unter den großen Städten (ohne Stadtstaaten) Deutschlands. Da die Auflagen der Kommunalaufsicht einen weiteren Anstieg der Nettoverschuldung untersagten, begann die Stadt ab 1994 mit der Haushaltskonsolidierung. Die Verschuldung ging danach deutlich zurück, unter anderem infolge einer drastischen Erhöhung der Gewerbesteuer, einer gemäßigten Ausgabenpolitik und einer zeitweise sehr guten wirtschaftlichen Entwicklung. 2006 lag Frankfurt mit einer Verschuldung von rund 2.200 Euro pro Einwohner auf dem sechsten Platz unter den fünfzehn größten deutschen Städten (Bremen etwa 17.000, Berlin etwa 16.000, Hamburg etwa 13.000, Köln etwa 3.800, München rund 2.700 Euro pro Kopf). Aufgrund guter Steuereinnahmen und hoher Haushaltsüberschüsse sank die Verschuldung bis Ende 2010 auf 983 Millionen Euro. Am 13. Juni 2008 veröffentlichte die Stadt ihre Eröffnungsbilanz zum 1. Januar 2007, mit der die Umstellung auf kaufmännische Buchführung eingeleitet wurde. Die Stadt Frankfurt verfügte demnach über ein Vermögen von 12,52 Milliarden Euro, wovon 11,8 Milliarden auf das Anlagevermögen entfielen. Die Stadt ermittelte an Besitztümern unter anderem: 1145 Kilometer Straße; 44.266 Grundstücke; etwa 1800 Gebäude; 58,6 Kilometer U-Bahn-Gleise; etwa 2500 Pflanzenarten im Palmengarten; etwa 4500 Tiere aus 580 Arten im Zoo; 4902 Hektar Stadtwald. Den höchsten Buchwert aller Gebäude hat der Dom mit 58 Millionen Euro. Das städtische Eigenkapital lag bei 8,29 Milliarden, das entspricht einer Eigenkapitalquote von 66,2 Prozent. Die Verbindlichkeiten lagen bei 1,8 Milliarden, die im Wesentlichen zur Deckung von Pensionsansprüchen gebildeten Rückstellungen bei 1,2 Milliarden.2007 und 2008 erzielte die Stadt Jahresüberschüsse von jeweils über 500 Millionen Euro. Infolge der Weltfinanzkrise sanken die Steuererträge um über 400 Millionen pro Jahr, deshalb ergaben sich von 2009 bis 2011 jährliche Defizite zwischen 180 und 320 Millionen Euro. Die Haushaltsplanung 2013 erwartete bis 2015 ein kumuliertes Defizit von 400 Millionen, bei steigenden Ausgaben für Bildung, Infrastruktur und Wohnungsbau. Die Stadt sah sich daher seit 2012 zu erheblichen Einsparungen gezwungen.Hauptgrund war die Entwicklung der Gewerbesteuer als wichtigste Steuerquelle der Stadt Frankfurt. 2008 wurde ein Rekordwert von 1,64 Milliarden Euro eingenommen. Damit hatte Frankfurt nach München (1,9 Milliarden Euro) die bundesweit höchsten Einnahmen aus der Gewerbesteuer, jedoch ist München gemessen an der Einwohnerzahl fast doppelt so groß wie Frankfurt. Ähnlich große Städte wie Stuttgart oder Dortmund erzielen nur etwa die Hälfte oder ein Fünftel der Frankfurter Einnahmen. 2012 erzielte die Stadt wieder Gewerbesteuereinnahmen von 1,51 Milliarden Euro, 2013 von 1,44 Milliarden Euro, die Defizite verringerten sich auf etwa 52 Millionen Euro sowie auf 61 Millionen Euro für 2013. Nach dem im Mai 2015 vorgelegten Jahresabschluss 2014 stiegen die Gewerbesteuereinnahmen wegen der guten Wirtschaftslage auf 1,73 Milliarden Euro brutto und lagen damit um 187 Millionen Euro höher als erwartet. Mit einem Haushaltsüberschuss von 158 Millionen Euro war 2014 damit das erste Haushaltsjahr seit 2008, das nicht mit einem Defizit endete. Der Zuwachs des Anlagevermögens um etwa 120 Millionen Euro war im Wesentlichen auf Investitionen in Schulen, öffentlichen Nahverkehr und die Mitfinanzierung von Wohnungsbauvorhaben zurückzuführen. 2015 und 2016 schlossen mit Überschüssen von 176 bzw. knapp 114 Millionen Euro ab. Das Ergebnis verbesserte sich infolge steigender Steuererträge, zugleich entfalteten die 2012 beschlossenen und umgesetzten Konsolidierungsmaßnahmen Wirkung. 2017 entstand ein Fehlbetrag von fast 200 Millionen Euro, den die Stadt im Wesentlichen auf steigende Ausgaben infolge des starken Bevölkerungswachstums, beispielsweise für den Bau und die Sanierung von Schulen und öffentlichen Einrichtungen, auf zusätzliche Ausgaben für die Unterbringung von Flüchtlingen und auf gestiegene Personal- und Pensionsaufwendungen zurückführte. Auch 2018 schloss mit einem Fehlbetrag von fast 28 Millionen Euro ab.Frankfurt gehört zu den knapp 30 Kommunen in Hessen, die aufgrund der 2016 eingeführten Neuordnung des kommunalen Finanzausgleichs deutlich weniger Zuwendungen erhalten. Bis 2019 wurde Frankfurt aufgrund der Neuregelung mit mehr als 530 Millionen Euro belastet. Im Dezember 2016 erhob Frankfurt deshalb Klage beim Staatsgerichtshof des Landes Hessen. Der Staatsgerichtshof wies die Klage im Januar 2019 als zulässig, aber unbegründet zurück. Das Gericht kam zu dem „Befund, dass sich ein Sonderbedarf der Antragstellerin aufgrund ihrer Metropolenstellung, also ihres konkreten Aufgabenzuschnitts, aus den dem Gesetzgeber vorliegenden Daten nicht abbilden ließ“. Im Doppelhaushalt für 2020/2021 rechnet die Stadt mit Defiziten von 131 bzw. 192 Millionen Euro und plant Investitionen von 725 bzw. 602 Millionen Euro. Neben Bildung und Nahverkehr ist die Stadtplanung, darunter der Wohnungsbau, größter Investitionsbereich. Für Sozialleistungen werden 822 bzw. 844 Millionen Euro ausgegeben, für Kinderbetreuung, Schulträgeraufgaben, Jugend- und Erwachsenenbildung sowie die Stadtbücherei 876 bzw. 925 Millionen Euro. Der öffentliche Nahverkehr wird mit 211 und 234 Millionen bezuschusst, der Kulturbereich mit 207 und 211 Millionen Euro. == Wirtschaft und Standortfaktoren == === Überblick === Im Jahre 2016 erwirtschaftete Frankfurt am Main, innerhalb seiner Stadtgrenzen, ein Bruttoinlandsprodukt (BIP) von 66,917 Milliarden Euro und belegte damit den vierten Rang in der Rangliste der deutschen Städte nach Wirtschaftsleistung und hält einen Anteil von 24,8 Prozent an der gesamten hessischen Wirtschaftsleistung. Das BIP pro Kopf lag im selben Jahr bei 91.099 Euro pro Kopf (Hessen: 43.496 Euro, Deutschland 38.180 Euro). Frankfurt ist damit die fünftreichste kreisfreie Stadt in Deutschland und die reichste unter den größeren Städten. Das BIP je Erwerbsperson beträgt 97.178 Euro. In der Stadt sind 2016 ca. 688.600 Erwerbstätige beschäftigt. Die Arbeitslosenquote lag im Dezember 2018 bei 4,9 Prozent und damit geringfügig über dem Durchschnitt Hessens von 4,1 Prozent. Frankfurt ist Zentrum des Rhein-Main-Gebietes, die zu den wirtschaftlich leistungsstärksten Regionen des Landes gehört und ein BIP von mehr als 250 Milliarden Euro erwirtschaftet.Laut einer 2001 erstellten Rangliste der Universität Liverpool kann Frankfurt als die produktivste Stadt Europas (nach Bruttoinlandsprodukt pro Kopf) gelten (vor Karlsruhe, Paris und München). Die Stadt ist eine der reichsten und leistungsfähigsten Metropolen Europas. Dies spiegelt sich an der hohen Anzahl internationaler Unternehmensvertretungen wider. In einer jährlichen Studie (European Cities Monitor, 2010) von Cushman & Wakefield hält Frankfurt seit über 20 Jahren den dritten Platz als bester Standort für internationale Konzerne in Europa (nach London und Paris). Für das Land Hessen hat Frankfurt eine zentrale Bedeutung, 40 Prozent der 4,24 Milliarden Euro Gewerbesteuereinnahmen in Hessen stammen aus Frankfurt.In einer Rangliste der wichtigsten Finanzzentren weltweit belegte Frankfurt 2018 den zehnten Platz. === Arbeiten in Frankfurt === Frankfurt ist mit 699.600 Erwerbstätigen (2017), darunter rund 622.000 sozialversicherungspflichtigen Beschäftigten (2017) die Stadt mit der höchsten Arbeitsplatzdichte und den meisten Pendlern in Deutschland. Die Zahl der täglichen Einpendler lag 2017 bei 362.450, während die Zahl der Auspendler 95.074 betrug. Die Zahl der Erwerbstätigen wächst seit Jahren, seit 2010 um über 55.000. Zwischen 2000 und 2005 sank die Zahl der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten von 495.000 auf 463.000, seitdem stieg sie kontinuierlich an. Über 81.000 Menschen arbeiten bei rund 500 Unternehmen am Frankfurter Flughafen, der damit als größte lokale Arbeitsstätte Deutschlands gilt. Größter einzelner Wirtschaftsbereich ist Erbringung von Finanz- und Versicherungsdienstleistungen, der rund 75.600 Menschen beschäftigt. Das stärkste absolute Wachstum weisen die Sektoren Verkehr und Lagerei und Freiberufliche, wissenschaftliche und technische Dienstleistungen auf.Das mittlere Bruttoentgelt von sozialversicherungspflichtigen Vollzeitbeschäftigten in Frankfurt lag im Jahr 2017 bei 4.182 Euro und damit um etwa 1200 Euro höher als im Jahr 2000. Dabei unterscheiden sich die einzelnen Branchen deutlich: Während im Gastgewerbe und bei einfachen Dienstleistungen das mittlere Bruttoentgelt bei 2.340 Euro liegt, verdient ein Vollzeitbeschäftigter in der IT-Branche 5350 und im Finanzgewerbe 6080 Euro im Monat. Dem hohen Durchschnittseinkommen der Vollzeitbeschäftigten stehen 46.367 ausschließlich geringfügig Beschäftigte und etwa 22.108 Arbeitslose gegenüber. Die Arbeitslosenquote liegt bei 5,6 %. 2005 betrug die Zahl der Arbeitslosen noch 35.637 (10,6 Prozent).Die hohe Wirtschaftskraft der Stadt schlägt sich in den Kassen umliegender Städte und Gemeinden des Speckgürtels hauptsächlich im Vordertaunus nieder, die von überdurchschnittlichen Steuerzahlungen ihrer in Frankfurt verdienenden Pendler profitieren, weshalb sich hier zwei der fünf reichsten Landkreise Deutschlands, nämlich der Hochtaunuskreis mit Bad Homburg vor der Höhe als Kreisstadt und der Main-Taunus-Kreis mit Hofheim am Taunus als Kreisstadt befinden. === Lebensqualität === Eine Bürgerbefragung der Stadt Frankfurt im Dezember 2010 ergab, dass 66 Prozent aller Frankfurter Bürger „allgemein zufrieden“ oder „sehr zufrieden“ mit der Stadt seien, lediglich sechs Prozent gaben an, sie seien mit der Stadt „unzufrieden“. Seit 1993 sei damit der Anteil der Zufriedenen um 22 Prozent gestiegen, während der Anteil der Unzufriedenen um 8 Prozent abnahm. 84 Prozent der Frankfurter lebten „gerne“ in ihrer Stadt, 13 Prozent würden „lieber woanders wohnen“. Die Zufriedenheit mit der öffentlichen Sicherheit in Frankfurt betrug 37 Prozent (1993: lediglich neun Prozent), unzufrieden seien 22 Prozent (1993: 64 Prozent). === Kriminalität === Unter allen deutschen Städten über 200.000 Einwohnern wurden in Frankfurt über viele Jahre die meisten Straftaten bezogen auf die Einwohnerzahl registriert. 2013 lag diese Häufigkeitszahl bei 16.292 Delikten auf 100.000 Einwohner. Da die Stadt in der Kriminalstatistik regelmäßig einen Spitzenplatz belegte, wurde sie in den Medien mitunter als „Hauptstadt des Verbrechens“ und „Gefährlichstes Pflaster Deutschlands“ bezeichnet. Nach der am 24. April 2017 veröffentlichten Polizeilichen Kriminalstatistik lag Frankfurt 2016 mit 15.671 Delikten je 100.000 Einwohnern erstmals auf Rang vier hinter Berlin, Leipzig und Hannover.Das Polizeipräsidium Frankfurt warnte davor, die Häufigkeitszahl aller Delikte für einen Vergleich mit anderen Großstädten heranzuziehen, da die Statistik nur die der Polizei bekanntgewordenen und von ihr bearbeiteten Straftaten umfasse. Die Polizei verwies darauf, dass sich durch den bundesweit höchsten Pendlersaldo täglich rund 260.000 Menschen zusätzlich in der Stadt aufhalten. Hinzu kommen noch Besucher und Touristen, rund 1,5 bis 2,5 Millionen Messegäste sowie etwa 53 Millionen Fluggäste jährlich, die sich ebenfalls im Stadtgebiet aufhalten. Rund sechs Prozent aller Straftaten werden am Flughafen registriert, darunter Frachtdiebstähle, Passvergehen sowie Verstöße gegen die Einreisebestimmungen und das Luftverkehrsgesetz. Die hohe Zahl der in Frankfurt entdeckten Delikte sei eine Folge der hohen Kontrolldichte im Stadtgebiet. Die städtischen Behörden und Gremien bemühten sich in ihren eigenen Veröffentlichungen zur Kriminalstatistik um eine andere Interpretation. Bei einer differenzierten Betrachtung nach Deliktgruppen lag Frankfurt demnach nur bei Rauschgiftdelikten und bei Aufenthaltsdelikten an der Spitze der Statistik, bei Betrug, einfachem Diebstahl und Beförderungserschleichung in der Spitzengruppe. Kreditkarten- und Kontobetrug wird am Hauptsitz der Banken registriert, unabhängig vom tatsächlichen Tatort. Die hohe Zahl aufgedeckter Rauschgiftdelikte und Schwarzfahrten (rund 6,7 Prozent aller in Deutschland registrierten Fälle) war eine Folge der intensiven Kontrollen am Flughafen sowie an den Verkehrsknotenpunkten der Innenstadt. Bei den sicherheitsrelevanten Straftaten (Gewaltdelikte wie Mord und Totschlag, Vergewaltigung und sexuelle Nötigung, Raub und Körperverletzung) nahm Frankfurt einen mittleren Rang in der Statistik ein.Eine Studie der Universität Greifswald vom April 2011 über „Subjektives Sicherheitsempfinden der Bevölkerung von Frankfurt am Main“ ergab, dass sich 84 Prozent der befragten Bürger tagsüber „sicher“ oder „sehr sicher“ vor Kriminalität fühlen; nachts seien es 71 Prozent. === Ansässige Unternehmen === In kaum einer anderen deutschen Stadt gibt es derart viele international führende Unternehmen aus den verschiedensten Branchen, darunter Chemiekonzerne, Werbeagenturen, Softwareunternehmen und Callcenter. Die Zentrale des Vorstandsressorts Personenverkehr mit der DB Regio AG sowie der DB Fernverkehr AG, die Konzernentwicklung und weitere bedeutende Abteilungen der Deutschen Bahn AG und die Tochtergesellschaft DB Netz AG befinden sich in der DB-Zentrale im Gallus. Das Pelzhandelszentrum rund um die Niddastraße war nach dem Zweiten Weltkrieg für einige Jahrzehnte der Haupthandelsplatz für Felle und Pelzkonfektion in Deutschland und gehörte zu den drei weltweit wichtigsten Märkten der Branche. Mit einem Umsatz von 536 Millionen trugen die 356 hier ansässigen deutschen Betriebe des Rauchwarenhandels und der Pelzkonfektion knapp 10 Prozent zum Sozialprodukt der Stadt bei. 65 Prozent aller weltweit frei gehandelten Fellwaren nahmen zu der Zeit in irgendeiner Form den Weg über Frankfurt am Main. Frankfurt galt durch die Hoechst AG jahrelang als „Apotheke der Welt“. Der Industriepark Höchst ist einer der drei größten Standorte der chemischen und pharmazeutischen Industrie in Europa. In Frankfurt finden sich die Deutschlandzentralen von großen Lebensmittelkonzernen wie Nestlé und Ferrero sowie der Sitz der größten Brauereigruppe Deutschlands, der Radeberger Gruppe. Mit KPMG hat eine der vier größten Wirtschaftsprüfungsgesellschaften ihren Europasitz in Frankfurt. PricewaterhouseCoopers hat seine Deutschlandzentrale in Frankfurt, Deloitte Touche Tohmatsu eine Filiale und Ernst & Young eine Niederlassung jenseits der Stadtgrenze in Eschborn. Einige der größten Unternehmensberatungen und internationale Anwaltskanzleien sind in Frankfurt vertreten. ==== Finanzsektor ==== Frankfurt am Main ist Sitz der Europäischen Zentralbank und der Deutschen Bundesbank. Die Stadt ist ein bedeutender Finanzstandort und Börsenplatz und zählt nach verschiedenen Ranglisten zu den wichtigsten Finanzzentren weltweit. Beispielsweise klassifizierte das GaWC (Globalization and World Cities Research Network) Frankfurt als einzige deutsche Stadt aufgrund seiner wirtschaftlichen Bedeutung als „Alpha-Weltstadt“. Damit gehört Frankfurt zusammen mit 16 anderen Städten zur dritten Kategorie der Weltstädte.In Frankfurt sind mit den Instituten Deutsche Bank, Commerzbank, KfW und DZ Bank die vier größten deutschen Banken angesiedelt (Stand: 2015). Deutsche Bank und Commerzbank sind als Universalbanken tätig und unterhalten Niederlassungen weltweit. Hauptaufgabe der KfW ist die Förderung des Mittelstands und von Existenzgründern, die DZ Bank ist ein Zentralinstitut des genossenschaftlichen Finanzsektors. Als Tochtergesellschaften der DZ Bank sind Union Investment, DVB Bank und Reisebank in Frankfurt ansässig, zudem hat die Frankfurter Volksbank als zweitgrößte Volksbank Deutschlands hier ihren Sitz. Unter den öffentlichen-rechtlichen Kreditinstituten haben die Landesbank Hessen-Thüringen (Helaba), die DekaBank, die Landwirtschaftliche Rentenbank und die Frankfurter Sparkasse ihren Sitz in Frankfurt. Die größte deutsche Direktbank, die ING-DiBa, ist in Frankfurt beheimatet. Zudem haben einige bedeutende Privatbanken ihren Hauptsitz oder ihre Deutschlandzentrale in Frankfurt wie die SEB AG, das Bankhaus Metzler, Hauck & Aufhäuser, Delbrück Bethmann Maffei, die BHF-Bank und die Corealcredit Bank. Aus dem Kreis der Nachhaltigkeitsbanken ist die Triodos Bank mit ihrer deutschen Niederlassung und die GLS Gemeinschaftsbank mit einer Filiale in Frankfurt vertreten. Ende 2010 hatten zudem 154 Auslandsbanken ihren deutschen Hauptsitz in Frankfurt, weitere 40 waren mit einem Büro vertreten.Mit den von der Deutschen Börse AG betriebenen Handelsplattformen Frankfurter Wertpapierbörse und XETRA ist Frankfurt der zweitgrößte Aktienmarkt Europas und wickelt den Löwenanteil des deutschen Wertpapierhandels ab. Darüber hinaus befinden sich die Deutschlandzentralen der drei großen Ratingagenturen Standard & Poor’s, Moody’s und Fitch Ratings in Frankfurt. Nach einer Studie der Comdirect lag die Stadt 2017 unter den Fintech-Standorten Deutschlands hinter Berlin und München gemeinsam mit Hamburg auf dem dritten Platz. Ende 2017 gab es 84 Fintech-Start-ups in Frankfurt. Wegen der hohen Mieten und des Wettbewerbs um qualifizierte Nachwuchskräfte gelte Frankfurt als schwieriges Pflaster für Fintechs. Zu den in Frankfurt ansässigen Fintechs gehören der digitale Versicherungsanbieter Clark und die Lieferkettenfinanzierungsplattform Traxpay.Zum Finanzplatz Frankfurt gehören auch die hier ansässigen Aufsichtsorgane. Von 1950 bis 2000 hatte der Bundesrechnungshof seinen Sitz in Frankfurt. Es residieren hier die Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht (BaFin), die Bundesanstalt für Finanzmarktstabilisierung (FMSA) sowie zwei Einrichtungen des Europäischen Finanzaufsichtssystems, die Europäische Aufsichtsbehörde für das Versicherungswesen und die betriebliche Altersversorgung (EIOPA) sowie der Europäische Ausschuss für Systemrisiken, der Früherkennung, Prävention und Bekämpfung von systemischen Risiken innerhalb des Finanzmarktes der Europäischen Union vornimmt. Seit Ende 2014 besteht zudem ein Einheitlicher Bankenaufsichtsmechanismus für die 150 größten Banken der Eurozone. ==== Bau- und Immobilienwirtschaft ==== Laut der „Bau- und Immobilienwirtschaft“-Studie der Industrie- und Handelskammer Frankfurt am Main gab es 2012 in ihrem Bezirk 14.589 Unternehmen der Bau- und Immobilienwirtschaft. Allein in Frankfurt gab es 31.265 Beschäftigte in dieser Branche. 1999 hatte die Branche noch über 36.000 Menschen beschäftigt. Zu den größten Unternehmen zählen DTZ Zadelhoff, Jones Lang LaSalle, BNP Paribas Real Estate, Bilfinger Berger, Hochtief, Porr, Techem, Nassauische Heimstätte, ABG Frankfurt Holding, Wayss & Freytag, Wisag, Ed. Züblin und Albert Speer & Partner. Der Umsatz in der Bau- und Immobilienwirtschaft betrug 2011 über 8 Milliarden Euro. Seit 2002 ist er um 7,8 Prozent gestiegen. ==== Einzelhandel ==== Die 600 Meter lange Zeil in der Innenstadt ist die bekannteste und umsatzstärkste Einkaufsstraße in Frankfurt. Mit bis zu 13.120 Passanten pro Stunde war sie 2012 erstmals die meistfrequentierte unter 170 deutschen Einkaufsstraßen. Den zweiten Platz nahm die Zeil 2009 im bundesweiten Mietpreisvergleich für Einzelhandelsflächen ein. Ein Ladenbesitzer zahlte hier bis zu 265 Euro pro Quadratmeter. Im Februar 2009 eröffnete das neue Einkaufszentrum MyZeil im Palaisquartier. Während die auf der Zeil ansässigen Geschäfte in der günstigen bis mittleren Preiskategorie liegen, ist die nahe gelegene Goethestraße für ihre Luxusmarken bekannt. Im Vergleich mit anderen sogenannten Luxusmeilen wie der Düsseldorfer Königsallee lag sie 2012 mit 1520 Passanten pro Stunde mit weitem Abstand auf dem fünften Platz. Weitere wichtige Einzelhandelsstandorte in Frankfurt sind das Nordwestzentrum in der Nordweststadt, eines der größten Einkaufszentren Deutschlands, das Hessen-Center im Stadtteil Bergen-Enkheim und das an der Stadtgrenze gelegene Main-Taunus-Zentrum in Sulzbach (Taunus). Darüber hinaus gibt es diverse Einkaufsstraßen in den Stadtteilen, wie die Berger Straße im Nordend und in Bornheim, die Schweizer Straße in Sachsenhausen, die Leipziger Straße in Bockenheim, die Königsteiner Straße in Höchst oder der Oeder Weg, der sich von der Innenstadt in das Nordend erstreckt. Einen weiteren Einzelhandelsstandort repräsentiert das im August 2013 eröffnete Skyline Plaza. Als Einkaufs- und Kongresszentrum, welches auf dem Gelände des ehemaligen Hauptgüterbahnhofs im Europaviertel errichtet wurde, bietet das Skyline Plaza Platz für 180 Geschäfte. ==== Automobilhersteller ==== Frankfurt ist Sitz zahlreicher Deutschland- und Europazentralen ausländischer Automobilkonzerne wie Fiat Chrysler Automobiles (mit Fiat, Alfa Romeo und Jeep), Honda und Kia. Vor den Toren der Stadt residiert neben Opel in Rüsselsheim am Main noch Jaguar in Schwalbach am Taunus. Im rund 30 Kilometer entfernten Weiterstadt haben Škoda und Seat ihren deutschen Hauptsitz. Der japanische Hersteller Mazda betreibt in Oberursel (Taunus) ein Designzentrum. In Offenbach am Main ist die europäischen Vertriebszentrale von Hyundai. Darüber hinaus ist die Zulieferindustrie stark vertreten. Aus den ehemaligen Frankfurter Firmen TEVES und VDO unterhält die Continental AG Produktions-, Verwaltungs- und Entwicklungsstandorte in Frankfurt, Eschborn, Schwalbach am Taunus, Karben, Babenhausen (Hessen) und Friedberg (Hessen). Die Automobilhersteller und -zulieferer der Region haben sich im Automotive Cluster Rhein Main Neckar zusammengeschlossen. ==== IT- und Telekommunikationsunternehmen ==== Frankfurt ist der Sitz zahlreicher Unternehmen der IT- und Telekommunikationsbranche. Dazu zählen große konzerngebundene Unternehmen wie T-Systems, Finanz Informatik, DB Systel, Fujitsu und Lufthansa Systems. Die Telekommunikationsdienstleister Colt und Level 3 sowie der Telekommunikationsausrüster Avaya haben hier ihre Deutschlandzentralen. Die zentrale Registrierung für Deutschland-bezogene Domainnamen erfolgt bei der in Frankfurt ansässigen DENIC. Das Internationale Netzmanagement-Center (INMC) am Europaturm koordiniert und sichert den Betrieb des globalen Sprach- und Datennetzwerkes der Deutschen Telekom. Die Firmen Deck13, Keen Games und Crytek sind renommierte Entwickler von Computerspielen, ebenso hat Konami Europe hier ihren Sitz. Nintendo of Europe, die europäische Zentrale des weltweit größten Videospielentwicklers Nintendo, ist ebenfalls mit einem Großteil der Abteilungen in Frankfurt angesiedelt, im April 2015 wurde der Hauptsitz aus dem nicht weit entfernten unterfränkischen Großostheim hierher verlegt. Die auf die Ausbildung von Spieleentwicklern spezialisierte Games Academy hat seit 2007 eine Niederlassung in Frankfurt. Eine besonders hohe Konzentration von IT-Unternehmen findet sich in ehemaligen Industriegebieten entlang der Hanauer Landstraße, der Mainzer Landstraße und der Gutleutstraße. Im Großraum Frankfurt finden sich IT-Unternehmen vor allem in Bad Homburg vor der Höhe, Eschborn, Kronberg im Taunus, Langen (Hessen), Neu-Isenburg und Schwalbach am Taunus. Frankfurt ist Teil des IT-Clusters Rhein-Main-Neckar. In Frankfurt befindet sich der sogenannte DE-CIX, der nach Datenverkehr größte Internetknotenpunkt der Welt. Deswegen befinden sich in der Stadt eine große Anzahl an Rechenzentren. === Verbände === Verbände wie der Verband der Chemischen Industrie (VCI), der Zentralverband Elektrotechnik- und Elektronikindustrie (ZVEI), der Verband der Photoindustrie, der Verband Deutscher Maschinen- und Anlagenbau (VDMA), der Verband der Elektrotechnik, Elektronik und Informationstechnik (VDE) mit der angeschlossenen elektrotechnischen Normenkommission (DKE im DIN und VDE), der Verband der Köche Deutschlands, der Designverband Rat für Formgebung, der Bundesverband des Deutschen Versandhandels und das Deutsche Institut für Interne Revision (DIIR) siedelten sich in Frankfurt an. Der Verband der Automobilindustrie (VDA) hatte von 1946 bis 2010 seinen Sitz in Frankfurt und richtete hier bis 2019 alle zwei Jahre die Internationale Automobil-Ausstellung (IAA) aus. Zudem hat der Börsenverein des Deutschen Buchhandels, der die Frankfurter Buchmesse organisiert, seinen Sitz in Frankfurt. Die DECHEMA Gesellschaft für Chemische Technik und Biotechnologie e. V. eine gemeinnützige wissenschaftlich-technische Gesellschaft, verleiht zahlreiche wissenschaftliche Preise und organisiert alle drei Jahre zusammen mit der Messe Frankfurt die Achema, die weltgrößte Messe für Chemische Technik, Umweltschutz und Biotechnologie. === Gewerkschaften === In Frankfurt befinden sich die Hauptsitze der dem Deutschen Gewerkschaftsbund (DGB) angehörigen Gewerkschaften IG Metall, IG Bauen-Agrar-Umwelt und die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW). Außerdem gibt es den Hauptsitz der Gewerkschaft Deutscher Lokomotivführer in Frankfurt. === Messe === Handelsmessen finden in Frankfurt am Main seit dem Mittelalter statt. 1240 gewährte Kaiser Friedrich II. der Stadt das Messeprivileg, unter dessen Schutz sich die alljährlich stattfindende Herbstmesse zur Drehscheibe für den europäischen Fernhandel entwickelte. 1330 kam die Frühjahrsmesse hinzu. Mit Leipzig, dem zweiten großen Messestandort im Heiligen Römischen Reich deutscher Nation, war Frankfurt durch eine Fernstraße, die Via Regia, verbunden. Nach einer Zeit des Niedergangs seit dem 18. Jahrhundert konnte die Stadt nach dem Zweiten Weltkrieg wieder an die alte Messetradition anknüpfen. In der Messe Frankfurt finden unter anderem die Frankfurter Buchmesse, die Achema und die Ambiente statt. Die traditionsreichste Messe, seit einigen Jahren Tendence genannt, hat in den letzten Jahren stark an Bedeutung verloren. Von 1951 bis 2019 fand hier die Internationale Automobilausstellung statt. === Jüngere wirtschaftliche Entwicklung === Eine Studiengruppe von Ökonomen untersucht jährlich im Auftrag von Mastercard die wichtigsten Geschäftszentren der Welt. Frankfurt am Main kam dabei 2007 auf den siebten Platz, weit vor allen anderen deutschen Standorten, da diese mehr national als global ausgerichtet sind. Die Bedeutung der Globalisierung für die wirtschaftliche Entwicklung der Stadt zeigt sich in einem umfassenden Strukturwandel, dem die Frankfurter Wirtschaft in den letzten Jahrzehnten ausgesetzt war. Ab 1988 waren fünf, zwischen 1990 und 1996 sogar sechs von 30 DAX-Unternehmen in Frankfurt ansässig, darunter drei Banken (Commerzbank AG, Deutsche Bank AG, Dresdner Bank AG) und drei Industriekonzerne (Degussa AG, Hoechst AG und Metallgesellschaft). Mitte 2007 gab es in Frankfurt nur noch drei DAX-Konzerne, zwei Banken (Commerzbank und Deutsche Bank) und ein Dienstleistungsunternehmen (Deutsche Börse). Der Strukturwandel hatte in den 1980er Jahren zunächst die in Frankfurt traditionell sehr starke Metall- und Elektrobranche erfasst. Unternehmen wie Hartmann & Braun, Vereinigte Deutsche Metallwerke, Demag, Naxos-Union, Adlerwerke, Tenovis oder VDO legten ihre Frankfurter Werke still oder verlagerten ihren Sitz, zumeist nach Fusionen oder Übernahmen. Der ehemals zweitgrößte deutsche Elektronikkonzern AEG wurde 1982 nach einem Vergleich von Daimler-Benz übernommen und 1996 nach jahrelangem wirtschaftlichem Niedergang liquidiert. Die Degussa verlegte ihren Sitz 2001 nach Düsseldorf und gehört zum Essener Evonik-Konzern. Die Metallgesellschaft firmierte 2005 als GEA Group um und wanderte nach Bochum ab. Obwohl Frankfurt einer der größten Standorte der Chemie- und Pharmaindustrie in Europa ist, hat keiner der großen Konzerne mehr seinen Sitz in Frankfurt. Die Hoechst AG war in den 1970er und 1980er Jahren zeitweise das nach Umsatz größte Chemie- und Pharmaunternehmen der Welt. 1997 spaltete sie sich in mehrere Unternehmen auf, die zu internationalen Konzernen wie Bayer, Celanese, Clariant und Sanofi gehören. Im Industriepark Höchst, einem der drei größten Chemiestandorte Europas mit etwa 22.000 Beschäftigten, werden jährlich über 350 Millionen Euro investiert. Am 26. September 2011 wurde die neue Produktionsanlage der Ticona in Höchst eröffnet. Ihre Verlegung war notwendig geworden, weil das frühere Werk dem Ausbau des Frankfurter Flughafens im Weg stand. Das ehemalige Ticona-Werksgelände in Kelsterbach hatte Fraport für einen Betrag von 650 Millionen Euro erworben. Die Cassella AG in Fechenheim, einst einer der größten Hersteller von Farbstoffen und Tochter von Hoechst, fiel 1997 bei der Aufteilung von Hoechst an Clariant. Das ehemalige Cassella-Werk an der Mainkur besteht weiterhin als Sitz der Allessa GmbH. Der Name des Unternehmens enthält ein Ananym von Cassella. Ein weiterer großer Mittelständler der Pharmabranche in Frankfurt ist Merz Pharma. Die Deutsche Bahn zog infolge der Wiedervereinigung im Jahr 2000 aus politischen Gründen mit ihrer Konzernzentrale nach Berlin. Der Bereich Konzernentwicklung und andere zentrale Abteilungen sowie die Tochtergesellschaften DB Netz und DB Systel bleiben weiterhin in Frankfurt ansässig. Die hohe Gewerbesteuer, die hohen Büromieten und die hohen Grundstückspreise Frankfurts brachten bis in die 1990er Jahre Unternehmen dazu, in den Speckgürtel vor die Tore der Stadt auszuweichen. So errichtete die Deutsche Bank ihr neues Rechenzentrum in den 1990er Jahren in Eschborn, die BHF-Bank ihr Rechenzentrum 1997 in Offenbach. Mittlerweile ist jedoch zu beobachten, dass Unternehmen den Imagevorteil höhergewichten als die geringeren Gewerbesteuersätze, Mattel verlegte seine Deutschlandzentrale wieder in die Stadt. Nach der aktuellen Konjunkturumfrage der Industrie- und Handelskammer Frankfurt am Main erwartet die Wirtschaft im IHK-Bezirk weiterhin eine positive Entwicklung. Der Geschäftsklimaindex lag im Herbst 2017 bei 129 Punkten. Im Zukunftsatlas 2016 belegte die kreisfreie Stadt Frankfurt am Main den zehnten Platz von 402 Landkreisen und kreisfreien Städten in Deutschland und zählt damit zu den Regionen mit „Top Zukunftschancen“ mit besonderer Stärke bei Innovation und dem Arbeitsmarkt. === Kaufkraft === Trotz des Strukturwandels behauptete Frankfurt seine Position beim Bruttoinlandsprodukt pro Kopf und Erwerbstätigen in den Jahren 2002 bis 2007 unter den deutschen Großstädten, ebenso bei der Lebensqualität und der Zuzugsattraktivität (wie oben dargestellt). Der Rückgang klassischer Industrien wurde zum einen kompensiert durch Wachstum im Dienstleistungssektor, darunter Unternehmen wie Fraport und Deutsche Börse, zum anderen durch Neuansiedlungen der Deutschland- oder Europazentralen ausländischer Großunternehmen, so in der Automobil- und IT-Industrie. Die Stadt versucht eine einseitige Ausrichtung auf die Finanzbranche zu vermeiden und unterstützt beispielsweise den Ausbau Frankfurts als Forschungsstandort der Biotechnologie. Bei Kriterien wie Zuwachs an Einwohnern, Arbeitslosenquote oder Bruttoinlandsprodukt pro Einwohner und Erwerbstätigen hat Frankfurt daher seine starke Stellung behalten. Die verfügbaren Einkommen gehören zu den höchsten Deutschlands. Noch höher ist die private Kaufkraft im benachbarten Hochtaunuskreis (Index im Jahr 2020: 142,6) und im Main-Taunus-Kreis (129,9). Dennoch weist Frankfurt mit 113,5 im Jahr 2020 einen überdurchschnittlich hohen Kaufkraftindex des Bundesdurchschnitts auf. === Tourismus === Der Tourismus ist von maßgeblicher und wachsender Bedeutung für Frankfurt. 2015 zählte Frankfurt mehr als 5,1 Millionen Besucher und fast 8,7 Millionen Übernachtungen in 265 Beherbergungsbetrieben. Knapp 57 Prozent der Übernachtungsgäste stammten aus dem Inland. Die Stadt lag damit bei den Übernachtungszahlen im Bundesvergleich hinter Berlin, München und Hamburg auf dem vierten Platz der beliebtesten Städtereiseziele, unter den ausländischen Übernachtungsgästen auf dem dritten Platz, im Reiseaufkommen aus asiatischen Ländern auf dem ersten Platz. Seit 1990 stieg die Zahl der Betten im Beherbergungsgewerbe von 19.373 auf 45.333. Die meisten Übernachtungen sind in den Monaten September und Oktober zu verzeichnen, die wenigsten im Dezember und Januar. Die durchschnittliche Verweildauer liegt bei 1,7 Nächten. Etwa 70 Prozent der Übernachtungen sind geschäftlich veranlasst; beispielsweise fielen 2015 über 1,7 Millionen Übernachtungen im Zusammenhang mit den 73.163 Kongressen und Tagungen in Frankfurt an. == Verkehr und Infrastruktur == === Allgemein === Die Stadt Frankfurt am Main ist dank ihrer zentralen Lage einer der wichtigsten Verkehrsknotenpunkte in Europa. Hier treffen Bahn, Straßenverkehr, Binnenschifffahrt und Luftverkehr aufeinander. Nach einer Untersuchung von Marsh & McLennan Companies (2009) hatte Frankfurt die achtbeste Infrastruktur aller Städte weltweit (bezogen u. a. auf Luftverkehr, öffentlicher Personennahverkehr und Verkehrsbelastung) und lag damit vor Weltstädten wie London, Paris, Sydney, Tokio oder New York. In Deutschland schnitten lediglich München (zweiter Platz) und Düsseldorf (sechster Platz) besser ab. In Frankfurt fand 1909 die Internationale Luftschiffahrt-Ausstellung statt, die ein bedeutender Meilenstein in der internationalen Entwicklung der Verkehrsfliegerei wurde. Noch im selben Jahr wurde hier die erste Fluggesellschaft der Welt (DELAG) gegründet. Mit der Flugpost am Rhein und am Main begann 1912 die kommerzielle Flugpost mit Flugzeugen in Deutschland. === Flughafen === Der 1936 eröffnete Flughafen Frankfurt Main ist der größte Verkehrsflughafen in Deutschland und der viertgrößte in Europa. Beim Frachtaufkommen steht der Frankfurter Flughafen an erster Stelle in Europa. 2018 wurden 69,5 Millionen Passagiere und 2,1 Millionen Tonnen Fracht befördert. Der 1999 eröffnete Flughafen Fernbahnhof gilt mit täglich etwa 23.000 Reisenden als größter Flughafenbahnhof Deutschlands. Der Bahnhof ist Teil des Gebäudekomplexes The Squaire. Der 1993 aus einem ehemaligen Militärstützpunkt hervorgegangene Flughafen Frankfurt-Hahn ist nach Frankfurt benannt, obwohl er etwa 120 Kilometer westlich der Stadt in Lautzenhausen (Rheinland-Pfalz) liegt. Er wird hauptsächlich von Billigfluggesellschaften bedient und beförderte 2018 rund zwei Millionen Fluggäste. Der Flugplatz Frankfurt-Egelsbach liegt ebenfalls nicht im Frankfurter Stadtgebiet, sondern 17 Kilometer südlich in Egelsbach. Zwei ehemalige Flugplätze in Frankfurt sind inzwischen Teil des Frankfurter Grüngürtels: Der Flugplatz Rebstock wurde von 1912 bis 1945 genutzt, das Maurice-Rose-Airfield von 1951 bis 1992 als amerikanischer Militärflugplatz. === Straßenverkehr === Am Frankfurter Kreuz in der Nähe des Flughafens kreuzen sich die Bundesautobahnen A 5 (Hattenbacher Dreieck–Basel) und A 3 (Arnhem–Linz). Es ist mit etwa 320.000 Fahrzeugen pro Tag das meist befahrene Autobahnkreuz in Deutschland. Weitere an Frankfurt angeschlossene Autobahnen sind die A 66, die im Westen bis Wiesbaden und im Osten bis Fulda führt, die kurze A 648 als wichtiger Zubringer zum Messegelände und der Innenstadt sowie die A 661, die in Nord-Süd-Richtung von Oberursel nach Egelsbach verläuft. Die A 5 im Westen, die A 661 im Nordosten und die A 3 im Süden umgeben Frankfurt als Autobahnring. Dieser Autobahnring begrenzt die am 1. Oktober 2008 eingerichtete Umweltzone.Im Einzugsbereich der Stadt liegen ebenfalls die Bundesstraßen B 3, B 8, B 40, B 43, B 44 und B 521. In kommunalen Besitz befinden sich 1145 Kilometer Straße. Frankfurt hat mit 715 Kraftfahrzeugen pro 1000 Einwohner die größte Kraftfahrzeugdichte aller deutschen Großstädte. Durch zahlreiche Stadtautobahnen (teilweise als Bundesautobahn, teilweise als autobahnähnlich ausgebaute Bundes- oder Landesstraßen) ist die Stadtregion für den motorisierten Individualverkehr gut erschlossen. Der Anlagenring ist eine doppelte Ringstraße um die Frankfurter Innenstadt entlang der 1806 bis 1812 demolierten Frankfurter Wallanlagen. Der Innere Ring folgt der ehemaligen Stadtmauer aus dem 14. Jahrhundert und führt als Einbahnstraße in west-östlicher Richtung. Der Äußere Ring, auch Anlagenring, ist im Wesentlichen Einbahnstraße in Ost-West-Richtung. Sein kurvenreicher Verlauf zeichnet die im 17. Jahrhundert angelegten Bastionen nach. Dem Durchgangsverkehr in der Innenstadt dienen der Theatertunnel und die Berliner Straße in Ost-West-Richtung sowie die Kurt-Schumacher-Straße und die Konrad-Adenauer-Straße in Nord-Süd-Richtung. Die äußere Ringstraße ist der Anfang des 20. Jahrhunderts entstandene Alleenring. Er verläuft etwa entlang der mittelalterlichen Frankfurter Landwehr an der Grenze der Freien Reichsstadt Frankfurt. Viele Ausfallstraßen in radialer Richtung beginnen an den ehemaligen Stadttoren, darunter die Mainzer Landstraße, Bockenheimer Landstraße, Eschersheimer Landstraße, Friedberger Landstraße, Hanauer Landstraße und Darmstädter Landstraße. Frankfurts längste Straße ist die an der Friedberger Warte beginnende Homburger Landstraße, vor dem Bau der A 661 die wichtigste Ausfallstraße von und nach Norden. Mit der Liberalisierung des Fernbusverkehrs in Deutschland Anfang 2013 nahm das Verkehrsaufkommen an den Haltestellen südlich des Hauptbahnhofs deutlich zu. Die Stadt Frankfurt am Main ließ deshalb auf einem ehemaligen Großparkplatz im Bereich der Mannheimer Straße, Stuttgarter Straße und Pforzheimer Straße den 2019 fertiggestellten Fernbusbahnhof Frankfurt am Main errichten, an dem sich 14 Haltebuchten sowie ein Kundenzentrum eines Busunternehmens befinden. Eine weitere Fernbushaltestelle befindet sich im Terminal 2 am Flughafen. === Bahnverkehr === Die 1839 eröffnete Taunus-Eisenbahn nach Wiesbaden gehörte zu den ersten Eisenbahnstrecken in Deutschland. 1880 ersetzte der Hauptbahnhof die drei ehemaligen Westbahnhöfe. Er ist einer der verkehrsreichsten Personenbahnhöfe Europas. Die Deutsche Bahn bezeichnet ihn als die wichtigste Verkehrsdrehscheibe im Eisenbahnverkehr in Deutschland. Mit 13 Linien ist er der wichtigste Knotenpunkt im nationalen ICE-Netz. Mit etwa 450.000 Fahrgästen und Besuchern pro Tag belegt er in Deutschland zusammen mit dem Münchener Hauptbahnhof und Hamburger Hauptbahnhof den ersten Platz. Seiner Fläche nach gehört er zusammen mit dem Leipziger Hauptbahnhof und dem Zürcher Hauptbahnhof zu den größten Bahnhöfen Europas. Frankfurts längster Zuglauf war der 2013 eingestellte Zug Basel–Moskau. Seit dem Jahr 2002 ist die ICE-Neubaustrecke nach Köln in Betrieb, die die Fahrzeit zwischen beiden Städten auf 75 Minuten verkürzt. Zudem existiert eine Hochgeschwindigkeitsstrecke nach Paris im Rahmen des Rhealys-Projekts. Passagiere können in weniger als vier Stunden zwischen dem Frankfurter Hauptbahnhof und dem Gare de l’Est in Paris verkehren. Mit dem Flughafen-Fernbahnhof existiert auf dem Stadtgebiet ein weiterer Bahnhof von herausragender Bedeutung vor allem im Hochgeschwindigkeitsnetz. Zusammen mit dem Südbahnhof sorgt er für eine Entlastung des an der Kapazitätsgrenze operierenden Hauptbahnhofs. Der Bahnhof Frankfurt am Main Stadion ist mit 570 Zugbewegungen am Tag der meistbefahrene Bahnknoten Deutschlands. Die Bedeutung des Güterverkehrs auf der Schiene ist stark zurückgegangen: 1996 gab die Deutsche Bahn den Hauptgüterbahnhof im Gallus auf. Seine rund 70 Hektar werden teilweise von der angrenzenden Frankfurter Messe genutzt; zudem entsteht auf dem Areal der neue Stadtteil Europaviertel. Mit dem Ostbahnhof ist nur noch ein kleinerer Rangierbahnhof im Betrieb. === Öffentlicher Nahverkehr === Wichtigster Träger des öffentlichen Personennahverkehrs (ÖPNV) von Frankfurt in die Region ist die S-Bahn Rhein-Main. Von neun S-Bahn-Linien befahren acht den sieben Stationen umfassenden City-Tunnel durch die Innenstadt. Die U-Bahn Frankfurt wurde 1968 als „dritte U-Bahn in Deutschland nach Berlin und Hamburg, und als 35. U-Bahn der Welt“ eröffnet. Mit unterschiedlichen Ausbaustandards von Tunnelstrecken in der Innenstadt und oberirdischen Strecken im Außenbereich entspricht die Frankfurter U-Bahn den Kriterien einer Stadtbahn. Mit neun Linien auf drei Stammstrecken ist sie der wichtigste innerstädtische Verkehrsbetrieb, vor der städtischen Straßenbahn, Stadtbussen sowie mehreren Vorort- und Regionalbahnen. An den Stationen Hauptbahnhof, Hauptwache, Konstablerwache und Südbahnhof bilden S- und U-Bahn gemeinsame unterirdische Schnellbahnknoten. Das größte Verkehrsunternehmen für die lokalen Verkehrsmittel in der Stadt ist die Verkehrsgesellschaft Frankfurt (VGF). Die Lokale Nahverkehrsgesellschaft traffiQ übernimmt die Koordination und Bestellung des lokalen Nahverkehrsangebots. Sie ist Partner des Rhein-Main-Verkehrsverbunds (RMV), der für die regionalen Verkehre und ein einheitliches Tarifsystem zuständig ist. Am Frankfurter Flughafen entstand 1994 die 3,8 Kilometer lange vollautomatische fahrerlose Hochbahn SkyLine. Sie verbindet die beiden Terminals und soll durch eine neue Verbindung zwischen Fernbahnhof und zukünftigem Terminal 3 erweitert werden. === Binnenschifffahrt === Die Geschichte Frankfurts ist eng mit der Bedeutung von Main und Rhein für den Handel verbunden. Bereits in der Antike nutzten die Römer Main und Nidda für den Transport zwischen der Civitas Taunensium und Moguntiacum. Ältester Hafen der Stadt ist der Mainkai. Im Mittelalter verkehrte seit dem 12. Jahrhundert ein tägliches Marktschiff zwischen Frankfurt und Mainz, ab 1602 auch mehrfach wöchentlich zwischen Frankfurt und Hanau. Mit dem Bau der Eisenbahnen ging der Verkehr auf dem Main, auch wegen dessen zunehmender Versandung, drastisch zurück. 1883 bis 1886 wurde der Unterlauf des Mains mit fünf Staustufen kanalisiert und für große Kähne bis 1000 Tonnen Tragfähigkeit ganzjährig schiffbar gemacht. Seitdem ist Frankfurt über den Rhein mit den Industrieregionen an Rhein und Ruhr und den Nordseehäfen Rotterdam und Antwerpen verbunden. Auf dem noch nicht staugeregelten Abschnitt oberhalb Frankfurts wurde von 1886 bis 1936 die Kettenschifffahrt auf dem Main betrieben. Nach dem schrittweisen Ausbau ist der Main seit 1962 stromaufwärts bis Bamberg schiffbar. Seit 1992 ist Frankfurt über den Main-Donau-Kanal mit der Donau und dem südöstlichen Mitteleuropa verbunden. Der Main ist eine Bundeswasserstraße der Klasse Vb und für Schubverbände bis 185 Metern Länge schiffbar. Der Güterumschlag in den Frankfurter Häfen ist wegen des Rückgangs bei Massengütern wie Kohle, Kies und Schrott seit langem rückläufig. Der Höchster Hafen wurde 1982 stillgelegt, der Westhafen 1993 bis 2004 in ein Wohn- und Büroquartier umgestaltet. Es sind noch der Osthafen, der Flusshafen Gutleutstraße und der Hafen des Industrieparks Höchst in Betrieb. === Elektronische Kommunikation === Für das Internet stellt Frankfurt einen wichtigen Standort dar. Unter anderem befindet sich hier der größte deutsche Internetknoten DE-CIX und die DENIC, die Domainregistrierungsstelle für die Top-Level-Domain „de“. Gemessen am gesamten durchschnittlichen Datenverkehr ist der DE-CIX weltweit die Nummer eins. === Krankenhäuser === In Frankfurt am Main gibt es 16 Krankenhäuser mit etwa 6000 Betten für stationäre Behandlung. Die ältesten sind das 1267 erstmals urkundlich erwähnte Hospital zum heiligen Geist, welches ursprünglich nur Fremde, Pilger, Dienstboten und Mittellose aufnahm, und das 1771 gegründete Bürgerhospital, das erstmals Frankfurter Bürger behandelte. 1835 verfügte Johann Theobald Christ testamentarisch, aus seinem Vermögen ein Kinderkrankenhaus und eine Entbindungsanstalt zu errichten. Zum Gedenken an ihre mit 20 Jahren verstorbene Tochter stiftete Louise von Rothschild 1873 das Clementine Kinderhospital. Es fusionierte 1974 mit der Christschen Stiftung zur Clementine Kinderhospital Dr. Christ’schen Stiftung. Das 1914 gegründete Universitätsklinikum ist das größte Krankenhaus in Frankfurt. Einziges Krankenhaus in städtischer Trägerschaft ist das Klinikum Frankfurt Höchst. Mehrere große Krankenhäuser sind aus diakonischen Einrichtungen der evangelischen und der katholischen Kirche hervorgegangen. Die Frankfurter Diakonie-Kliniken mit dem Markus-Krankenhaus in Bockenheim und dem Bethanien-Krankenhaus in Bornheim werden seit 2002 von der in Frankfurt ansässigen Agaplesion gAG geführt. Das Krankenhaus Sachsenhausen wurde 1895 von Carl von Noorden und Eduard Lampé zur Versorgung von Diabetikern gegründet. Seit 1932 befindet es sich in Trägerschaft des Deutschen Gemeinschafts-Diakonieverbandes. Das St. Elisabethen-Krankenhaus in Bockenheim gehört der Dernbacher Gruppe Katharina Kasper, das St. Katharinen-Krankenhaus in Bornheim ist eine Einrichtung der Katharinenschwestern. Die 1962 eröffnete Berufsgenossenschaftliche Unfallklinik in Seckbach ist ein traumatologisches Schwerpunktzentrum für das Rhein-Main-Gebiet und Standort des Rettungshubschraubers Christoph 2. Die Kliniken Maingau im Nordend und Rotes Kreuz im Ostend sind Gründungen der Schwesternschaft zum Roten Kreuz. Mit Bau der Nordweststadt und deren Umfeld wurde im Norden von Frankfurt ein Krankenhaus notwendig. Hierzu erbaute die Stiftung Hospital zum heiligen Geist 1963 das Krankenhaus Nordwest in Praunheim. Anfang des 21. Jahrhunderts gab es in Frankfurt noch etwa 7500 Krankenhausbetten. Im Zuge der Gesundheitsreform wurde seitdem die Kapazität um ein Fünftel reduziert. Zudem wurden mehrere Krankenhäuser geschlossen oder in Tageskliniken, Medizinische Versorgungszentren oder Altenpflegeeinrichtungen umgewandelt, darunter das Brüderkrankenhaus im Ostend, das Mühlbergkrankenhaus in Sachsenhausen, das Diakonissenkrankenhaus und das St. Marienkrankenhaus im Nordend. === Energieversorgung === 1828 gründeten Johann Friedrich Knoblauch und Johann Georg Remigius Schiele die Frankfurter Gasanstalt in der Mainzer Landstraße. Als Rohstoff für die Herstellung von Leuchtgas diente zunächst Rüböl, ab 1829 amerikanisches Harz, ab 1855 Holz. 1844 erhielt die Imperial Continental Gas Association, die bisher Lizenzgeber der Frankfurter Gasanstalt gewesen war, eine Konzession für eine eigene, mit Steinkohle als Rohstoff arbeitende Gasfabrik im Ostend. Die englische Gasgesellschaft versorgte die Innenstadt und Sachsenhausen, die Gasanstalt die äußere Stadt. 1863 wurde deren Betrieb in die Gutleutstraße verlegt und auf Steinkohle als Rohstoff umgestellt. Erst 1909 fusionierten beide Gesellschaften. 1910 errichtete Peter Behrens das Gaswerk Ost als eines der ersten Projekte beim Bau des Osthafens. Mit der Umstellung der Gasversorgung auf Erdgas wurden das Gaswerk und die Kokerei 1969 stillgelegt und der Gasometer abgerissen. Nach dem Erfolg der Internationalen Elektrotechnischen Ausstellung 1891 entschied sich die Stadt Frankfurt zum Aufbau einer zentralen Elektrizitätsversorgung mit Einphasen-Wechselstrom. Die Elektrische Centralanstalt in der Gutleutstraße ging 1894 als eines der ersten Heizkraftwerke in Deutschland in Betrieb. 1926 gab die Stadt den Inselbetrieb auf und schloss sich dem entstehenden Drehstrom-Verbundnetz der Preussischen Kraftwerk Oberweser AG an. Die 1928 eingemeindeten Stadtteile im Frankfurter Westen gehörten bereits zum Versorgungsgebiet der Main-Kraftwerke in Höchst, deshalb treffen in Frankfurt bis heute die Versorgungsnetze der Mainova und der Süwag und die Übertragungsnetze von Tennet TSO und Amprion zusammen. 1963 wurde Frankfurt an das Höchstspannungsnetz der PreußenElektra angeschlossen, zunächst auf der 220-kV-Ebene. Hierfür entstand das Umspannwerk Frankfurt-Nord an der Berger Warte, in das im Kraftwerk Staudinger erzeugte elektrische Energie eingespeist wurde. Von diesem Umspannwerk führte eine weitere 220-kV-Leitung in den Gießener Raum, wo Energie aus dem Kraftwerk Borken eingespeist wurde. Eine dritte 220-kV-Leitung führte seit 1976 vom Umspannwerk Frankfurt-Nord nach Ober-Erlenbach, von dort auf einer bereits für die nächsthöhere Spannungsebene von 380 kV ausgelegten Leitung parallel zur Bundesautobahn 5 zum Umspannwerk Frankfurt-Südwest in Höhe der Europabrücke. Als Anfang der 1990er Jahre durch den altersbedingten Wegfall der Leitung Borken–Frankfurt das Netz umstrukturiert wurde, baute man einen Anschluss der vom Umspannwerk Frankfurt-Südwest kommenden Leitung ab Ober-Erlenbach zum neuen 380-kV-Umspannwerk Karben, das ebenso in eine bestehende Leitung der höchsten Spannungsebene einspeist. Somit wurde das Umspannwerk Frankfurt-Südwest 1991 von 220 auf 380 kV umgestellt, die ehemalige Verbindung von Ober-Erlenbach nach Frankfurt-Nord ist als 110-kV-Leitung in Betrieb. Die Umspannwerke Frankfurt-Nord für 220 Kilovolt an der Berger Warte in Seckbach und Frankfurt-Südwest für 380 Kilovolt in Griesheim werden von Tennet TSO betrieben. Die westlichen Stadtteile und der Industriepark Höchst werden über das Umspannwerk Kelsterbach und das Umspannwerk Kriftel der Amprion auf der 380-kV-Ebene sowie dem 220-kV-Umspannwerk Farbwerke Höchst Süd versorgt. Ab 1928 erzeugten die städtischen Kraftwerke Fernwärme. Nach dem Zweiten Weltkrieg stiegen die Erzeugungskapazitäten durch den Bau neuer Kraftwerke. Zur Wärmeversorgung der Nordweststadt und der Bürostadt Niederrad entstanden in den 1960er Jahren das Müllheizkraftwerk Frankfurt und das Heizkraftwerk Niederrad. Der Industriepark Höchst wird durch ein eigenes Heizkraftwerk versorgt. 1998 schlossen sich die Stadtwerke Frankfurt am Main und die Maingas AG zur Mainova zusammen. === Straßenbeleuchtung === Im Mittelalter und der frühen Neuzeit wurden die Straßen nur ausnahmsweise beleuchtet. Nur bei äußerer und innerer Bedrohung durch Feinde, Aufruhr oder Feuer und bei großen Festen, zum Beispiel anlässlich von Kaiserkrönungen, entzündete man Fackeln oder Laternen und befestigte sie an den Hausfassaden. Erste Versuche einer permanenten Straßenbeleuchtung gab es im 17. Jahrhundert, doch bestand noch kein starkes öffentliches Interesse. Erst als Frankfurt im Siebenjährigen Krieg unter französischer Besatzung stand, ließ der Königsleutnant Graf Thoranc in den Jahren 1761 und 1762 über einigen Straßenkreuzungen dauerhafte, mit Rüböl befeuerte Laternen anbringen. Trotz ihrer nur geringen Lichtstärke führten sie zu einer deutlichen Verbesserung der Verkehrssicherheit und einem Rückgang der nächtlichen Straßenkriminalität. Bis 1783 gab es bereits 604 Laternen in Frankfurt und Sachsenhausen. Die hohen Kosten machten die Einführung einer neuen indirekten Steuer, des Lichtergeldes erforderlich. Um Kosten zu sparen, richtete sich die nächtliche Brenndauer nach Jahreszeit und Mondphasen.1828 machte der Bau der ersten Gasanstalt die Einführung der Gasbeleuchtung möglich, jedoch zunächst nur auf private Veranlassung. Ab Oktober 1845 sorgte die englische Gasgesellschaft mit 670 Gaslaternen für die öffentliche Straßenbeleuchtung der Innenstadt. Bis 1886 stieg die Anzahl der Gasleuchten auf über 4000. Ab 1880 begannen Versuche mit elektrischer Straßenbeleuchtung. Anfang des 21. Jahrhunderts hatte Frankfurt mit ca. 60.000 elektrischen Straßenlaternen und ca. 5500 Gasleuchten nach Berlin und Düsseldorf den höchsten Bestand in Deutschland. Wegen der hohen Betriebskosten und der schwierigen Ersatzteilversorgung beschloss die Stadtverordnetenversammlung 2014, die verbliebenen Gaslaternen innerhalb von zehn Jahren durch LED-Leuchten zu ersetzen. Etwa 1400 Leuchten sollen so umgerüstet werden, dass das äußere Erscheinungsbild erhalten bleibt. === Wasserversorgung === Neben Oberflächengewässern und privaten Brunnen in Häusern und Höfen dienten seit dem 13. Jahrhundert öffentliche Ziehbrunnen auf Gassen und Plätzen der Wasserversorgung. Für jeden Brunnen wurde eine Brunnenrolle geführt, also ein Verzeichnis aller Brunnennachbarn, die den Brunnen nutzen durften und dafür unterhaltspflichtig waren, sowie der jährlich hierfür zu entrichtenden Gebühren (Brunnengeld). Bis zur Neuzeit genügte der Grundwasserzustrom der Brunnen. 1607 entstand die erste Wasserleitung vom Friedberger Feld im heutigen Nordend zum Friedberger Tor, um die rund 30 öffentlichen Brunnen mit Wasser zu versorgen. Im 18. und frühen 19. Jahrhundert wurden die meisten Ziehbrunnen nach und nach durch effektivere Pumpenbrunnen ersetzt. Sie waren sicherer und hygienischer – an den Ziehbrunnen gab es immer wieder Verunreinigungen durch Tierkadaver und Unfälle mit wasserschöpfenden Kindern – und hatten eine höhere Förderleistung von bis zu 40 Litern pro Minute. Das erleichterte die Brandbekämpfung, zu der alle Bürger im Notfall verpflichtet waren. Brunnen aus dieser Zeit mit der typischen Brunnensäule aus rotem Mainsandstein, eisernem Schwengel und Sandsteinbecken sind noch vielfach im Stadtgebiet anzutreffen. Im 19. Jahrhundert erforderten das rapide Bevölkerungswachstum und die steigenden Anforderungen der Trinkwasserhygiene einen stetigen Ausbau der Wasserversorgung. Seit 1834 verlief eine zweite Wasserleitung aus dem Knoblauchsfeld im Nordend in die Stadt, seit 1859 eine dritte von der Seehofquelle in Sachsenhausen. Ein Pumpwerk an der Alten Brücke versorgte ab 1859 die Sachsenhäuser Gärtner mit Gießwasser aus dem Main. 1873 ging die erste Fernwasserleitung aus dem Vogelsberg zum neuen Hochbehälter im Wasserpark an der Friedberger Landstraße in Betrieb. Von dort wurde das Wasser in das städtische Trinkwassernetz eingespeist, an das mehr und mehr Haushalte angeschlossen wurden. 1876 wurden Quellen im Spessart an die Fernwasserleitung angeschlossen. Zwischen 1884 und 1955 entstanden zudem mehrere Wasserwerke im Frankfurter Stadtwald.Etwa 17 Prozent des Frankfurter Trinkwassers werden im Stadtgebiet gefördert, 36 Prozent stammen aus dem Hessischen Ried. Fast die Hälfte des Wassers kommt aus dem Vogelsberg, dem Spessart und dem Kinzigtal. Die etwa 145 städtischen Brunnen im Stadtgebiet haben für die Wasserversorgung keine Funktion mehr. Sie stehen vielfach unter Denkmalschutz. === Kanalisation === Die Ursprünge der Frankfurter Kanalisation liegen in den natürlichen Gewässern – frühere Altarme des Mains und kleinere Bäche – sowie in den nassen Gräben der Staufenmauer im Gebiet der Altstadt. Ab der Mitte des 12. Jahrhunderts überwölbte man sie nach und nach mit Ziegelmauern und nutzte sie als Abwasserkanäle. Der Hauptkanal verlief etwa entlang der heutigen Börnestraße, Holzgraben, Kleiner und Großer Hirschgraben. Die im Mittelalter verlandete Braubach kanalisierte man ab 1468 und nutzte sie zur Entwässerung der Altstadt. Außer diesen ringförmig verlaufenden Hauptkanälen legte man nach und nach bis zu 23 Sammelkanäle an, sogenannte Antauchen, die im rechten Winkel zum Mainufer verliefen und sich dort in den Fluss ergossen. Aufgrund ihres geringen Gefälles, der meist unbefestigten Sohle und des wechselnden Querschnitts neigten sie zu ständiger Verschlammung und Verstopfung. Die an eine Antauche angrenzenden Häuser besaßen das Seßrecht und durften Fäkalien und Abwässer einleiten. Häuser ohne direkten Zugang zu einer Antauche mussten ihre Fäkalien in unterirdischen Sickergruben sammeln und regelmäßig abfahren lassen. Ende des 18. Jahrhunderts erkannte man, dass die Antauchen als ständige Infektionsherde die allgemeine Gesundheit gefährdeten und zudem das Grundwasser verunreinigten, aus dem die städtischen Brunnen einen Teil ihres Wassers bezogen. 1809 verbot das Baustatut von Stadtbaumeister Johann Georg Christian Hess die Einleitung von Abwässern in die Antauchen. Jedes Haus sollte künftig über eine gemauerte Abtrittgrube verfügen. Mit dem Bevölkerungswachstum stieß dieses System im Laufe des 19. Jahrhunderts an seine Grenzen. 1854 entwickelte eine Sachverständigenkommission die ersten Pläne zum Bau einer modernen Schwemmkanalisation nach Hamburger Vorbild, doch begannen die Bauarbeiten erst 1867 nach der preußischen Annexion. Unter Leitung des Ingenieurs William Lindley und seines Sohnes William Heerlein Lindley entstand bis 1899 ein 237 Kilometer langes, alle damaligen Stadtteile umfassendes Kanalnetz, das im Wesentlichen noch betrieben wird. Die Hauptkanäle verliefen in Frankfurt und Sachsenhausen etwa vier bis fünf Meter unter Straßenniveau mit leichtem Gefälle parallel zum Main, die Nebenkanäle im rechten Winkel dazu und mit größerem Gefälle. Das Netz war auf beiden Mainufern in ein oberes und ein unteres System getrennt. Während das obere vollständig über dem höchsten angenommenen Mainhochwasser verlief, mündeten die Vorfluter des unteren Systems erst westlich der Niederräder Brücke, wo der Hochwasserpegel 2,80 Meter unter dem der Alten Brücke lag. Bis auf ein besonders tief gelegenes Viertel der Altstadt kam das gesamte Netz somit ohne Hebeanlage aus.Schon nach wenigen Jahren häuften sich Klagen der mainabwärts gelegenen Anrainer über die unzumutbare Verschmutzung des Flusses durch die eingeleiteten städtischen Abwässer. Für eine Ableitung in Rieselfelder fehlte der Platz, daher entschied sich die Stadt für den Bau einer mechanischen Kläranlage nach englischem Vorbild. Das 1883 bis 1887 am Niederräder Ufer unter Lindleys Leitung errichtete Klärwerk Niederrad war das erste seiner Art in Deutschland. Täglich konnte es 18.000 Kubikmeter Abwasser reinigen. 1902 bis 1904 wurde die Anlage auf 45.000 Kubikmeter täglich erweitert. Die jährlichen Kosten für die Abwasserreinigung beliefen sich 1910 auf etwa 40 Pfennig pro Einwohner. 1956 bis 1965 wurde eine neue Kläranlage in Niederrad errichtet und um eine biologische Behandlungsstufe erweitert. Die alte, unter Denkmalschutz stehende Anlage dient bis heute zur Regenwasserbehandlung. Eine weitere Anlage zur Reinigung der Abwässer aus den westlichen Stadtteilen entstand Anfang der 1960er Jahre in Sindlingen. Beide Anlagen wurden 1985/86 modernisiert und in Sindlingen eine Entwässerungs- und Verbrennungsanlage für den anfallenden Klärschlamm errichtet. Die beiden Frankfurter Kläranlagen sind für eine Kapazität von etwa 2 Millionen Einwohnergleichwerten ausgelegt. Etwa 340.000 Einwohner umliegender Gemeinden von Offenbach bis Hattersheim und von Königstein bis Kelsterbach sind an die Frankfurter Kläranlagen angeschlossen.Das Kanalnetz ist etwa 1.600 Kilometer lang und transportiert bei trockenem Wetter etwa 300.000 Kubikmeter Abwasser täglich. Das Kanalnetz sowie die Kläranlagen gehören mit einem Buchwert von ca. 345 Millionen bzw. 194 Millionen Euro zu den größten Positionen im Anlagevermögen der Stadt. === Abfallentsorgung === Bis in die Mitte des 19. Jahrhunderts waren Hausbesitzer in Frankfurt selbst für die Beseitigung des Hauskehrichts verantwortlich. 1855 erteilte die Stadt mehreren Landwirten und Fuhrunternehmern gegen eine Jahresgebühr von 1500 Gulden die Konzession für die Müllabfuhr und die Reinigung der Straßen und Plätze von Unrat. 1873 musste die Stadt die Müllabfuhr in Eigenregie übernehmen, weil die Verwertung der Abfälle für die Konzessionäre nicht mehr genug Ertrag abwarf. Die städtische Müllabfuhr sammelte und sortierte die Abfälle, verkaufte die als Düngemittel geeigneten Bestandteile an die landwirtschaftlichen Betriebe und deponierte die Reststoffe auf dazu eingerichteten Kehrichtlagerplätzen am Stadtrand. Um 1900 belief sich das jährliche Abfallaufkommen auf 75.000 Kubikmeter; bis 1912 stieg es auf mehr als 120.000 Kubikmeter. Hinzu kamen etwa 75.000 Kubikmeter Klärschlamm, die jährlich im Klärwerk Niederrad anfielen. Die Abfalldeponien beanspruchten nicht nur wertvollen Grund und Boden, sondern führten mehr und mehr zu Beschwerden aufgrund der Geruchsbelästigung. 1902 beschloss die Stadt daher den Bau einer Müllverbrennungsanlage nach englischem Vorbild. Die neue Anlage entstand neben dem Klärwerk Niederrad und ging 1909 in Betrieb. Sie war auf eine Kapazität von 100 Tonnen Hausmüll und 50 Tonnen teilentwässertem Klärschlamm täglich ausgelegt, die bei Temperaturen von 800 bis 1200 Grad Celsius verbrannten. Die heißen Rauchgase wurden zur Trocknung des Klärschlamms sowie zur Dampferzeugung genutzt. Mit dem Dampf wurden zwei Turbogeneratoren von je 360 Kilowatt Leistung betrieben.Nach dem Ersten Weltkrieg sank der Heizwert des in Frankfurt anfallenden Hausmülls dramatisch ab, sodass die Anlage um 1920 stillgelegt werden musste. Der Frankfurter Hausmüll wurde seitdem in einer offenen Deponie im Frankfurter Stadtwald nahe der Stadtgrenze zu Offenbach gelagert. Diese Abfalldeponie war in Frankfurt unter dem Namen Monte Scherbelino bekannt. Sie blieb bis 1968 in Betrieb und nahm insgesamt über 12 Millionen Kubikmeter Abfälle auf. Seitdem wird der Frankfurter Hausmüll im 1968 in Betrieb gegangenen und seitdem mehrfach modernisierten und erweiterten Müllheizkraftwerk Nordweststadt entsorgt. Es kann seit 2010 über 525.000 Tonnen Hausmüll jährlich thermisch verwerten, versorgt dabei über 30.000 Haushalte mit Fernwärme und erzeugt bis zu 49 Megawatt Strom. == Staatliche Einrichtungen und Organisationen == Seit 1957 hat die Deutsche Bundesbank ihre Zentrale in Frankfurt, wie zuvor bereits die 1948 bis 1957 bestehende Bank deutscher Länder. Seit 1998 ist die Europäische Zentralbank, verantwortlich für die Geldpolitik der zwanzig EU-Länder in der Eurozone, hier beheimatet. Seit 2004 ist Frankfurt Sitz der Europäischen Versicherungsaufsicht (von 2004 bis 2011) CEIOPS, seither EIOPA, seit Ende 2014 auch der zentralen europäischen Bankenaufsicht. Daneben haben die KfW und das deutsche Internationale Finanz-Corporation-Büro (als Teil der Weltbankgruppe) ihren Sitz hier. In Frankfurt ansässige Bundesbehörden sind die Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht, die Bundesanstalt für Finanzmarktstabilisierung und das Bundesamt für Kartographie und Geodäsie. Das Bundesamt für Wirtschaft und Ausfuhrkontrolle befindet sich im Vorort Eschborn. Eine Reihe von Behörden, darunter der Bundesrechnungshof, zogen infolge des Berlin/Bonn-Gesetzes nach Bonn um. In Frankfurt wurde 1946 die Deutsche Bibliothek gegründet, heute ein Standort der Deutschen Nationalbibliothek. Die Gerichtsbarkeit ist mit dem für Hessen zuständigen Oberlandesgericht Frankfurt am Main, dem Hessischen Landesarbeitsgericht, dem Landgericht Frankfurt am Main, dem Sozialgericht Frankfurt am Main, dem Arbeitsgericht Frankfurt am Main, dem Verwaltungsgericht Frankfurt am Main und dem Amtsgericht Frankfurt am Main vertreten. Bis zur Auflösung Ende 2003 war Frankfurt zudem Sitz des Bundesdisziplinargerichts. Das Polizeipräsidium Frankfurt am Main ist eines der sieben hessischen Polizeipräsidien. Kommunale Sicherheits- und Ordnungsaufgaben sind der Stadtpolizei Frankfurt am Main (Hilfspolizei im Sinne des § 99 HSOG) übertragen. Frankfurt ist Sitz der Oberfinanzdirektion Hessen. In Frankfurt findet sich ein Hessisches Amt für Versorgung und Soziales. Die 1874 gegründeten Feuerwehr Frankfurt betreibt 12 Wachen der Berufsfeuerwehr und 28 Wachen der Freiwilligen Feuerwehren. Frankfurt ist zudem Sitz von 108 Konsulaten. Nur New York hat mehr ausländische Vertretungen, ohne dabei Hauptstadt eines Staates zu sein. Das Amerikanische Generalkonsulat im Nordend ist mit mehr als tausend Mitarbeitern größte diplomatische Vertretung in Frankfurt und das weltweit größte Konsulat der Vereinigten Staaten von Amerika. == Medien == === Presse, Verlage und andere Publikationseinrichtungen === Frankfurt, eine der ältesten Zeitungsstädte der Welt, ist Sitz von zwei überregionalen Tageszeitungen. Die liberal-konservative Frankfurter Allgemeine Zeitung unterhält Redaktion und Verlagshaus an der Mainzer Landstraße im Gallus. Die linksliberale Frankfurter Rundschau hat beides seit Juli 2005 in Sachsenhausen. Zudem erscheinen in Frankfurt die Börsen-Zeitung und das Handelsblatt. Eine etablierte Lokalzeitung mit großer regionaler Redaktion ist die Frankfurter Neue Presse, im Verlag der Frankfurter Societät in direkter Nachbarschaft zur Frankfurter Allgemeine Zeitung. In Frankfurt erscheint die russischsprachige Wochenzeitung MK-Deutschland als Tochter der russischen Tageszeitung Moskowski Komsomolez. Neben den Tageszeitungen gibt es in der Region Frankfurt noch einige reputative Magazine. Das Stadtmagazin Journal Frankfurt erscheint seit 1990. Die Redaktion hat ihren Sitz im Gallus in der Nähe des Hauptbahnhofes. Auf „ökologische Zeitschriften“ hat sich die Öko-Test AG in Bockenheim spezialisiert, darunter die gleichnamige Testzeitschrift. Ebenfalls in Bockenheim befindet sich die Redaktion der Satire-Zeitschrift Titanic. Die führenden Fachzeitschriften in Deutschland für Betriebsräte (Arbeitsrecht im Betrieb) und für Personalräte (Der Personalrat) erscheinen in dem seit 1997 im Frankfurter Stadtteil Heddernheim ansässigen Bund-Verlag. Frankfurt am Main hat eine lange Geschichte als bedeutender Verlagsstandort für Bücher. Bald nach Erfindung des Buchdrucks wurde die Frankfurter Messe zu einem wichtigen Handels- und Umschlagplatz für Bücher. 1511 richtete Beatus Murner im Barfüßerkloster die erste Druckerei in Frankfurt ein. 1530 wurde Christian Egenolff der erste Verlagsbuchdrucker in der Stadt. Frankfurt blieb bis ins späte 17. Jahrhundert der wichtigste Messe- und Verlagsort für Bücher in Deutschland. Die Zensur der Kaiserlichen Bücherkommission ließ viele Verleger und Drucker nach Leipzig übersiedeln. Erst nach dem Zweiten Weltkrieg lebte die Tradition der Frankfurter Buchmesse wieder auf. Von 1949 bis 2012 hatte der Börsenverein des deutschen Buchhandels seinen Sitz im Großen Hirschgraben neben dem Goethe-Haus. Der Gebäudekomplex wurde 2015 abgerissen, das Areal wird Standort des Deutschen Romantik-Museums. Der Börsenverein hat seinen neuen Sitz in der Braubachstraße. Der mit der Stadt ehemals verbundene Suhrkamp Verlag verlegte seinen Standort 2012 nach Berlin. === Radio, Film und Fernsehen === Frankfurts ältester Rundfunksender war die 1924 gegründete private Südwestdeutsche Rundfunkdienst AG. Das Nachfolgeunternehmen ist der öffentlich-rechtliche Hessische Rundfunk mit seinem „Funkhaus am Dornbusch“ eine der wichtigsten Einrichtungen für Hörfunk und Fernsehen. Hier befinden sich die ARD-Sternpunkte, die die Gemeinschaftsprogramme (beispielsweise Das Erste) über ein Hochleistungsnetzwerk auf die einzelnen Sendeanstalten verteilen. Der US-amerikanische Soldatensender AFN hatte von August 1945 an sein Hauptquartier in Frankfurt. Im Rahmen der Truppenreduzierung wurde aber auch der AFN-Standort Frankfurt aufgegeben: Seit Oktober 2004 sendet das American Forces Network sein Europa-Programm aus Mannheim. Der US-amerikanische Medienkonzern Bloomberg TV hat in der Neuen Mainzer Straße in Frankfurts Innenstadt sein Deutschlandstudio. Hinzu kommt noch das Regionalstudio der RTL Group. Auch reine Radiosender senden von Frankfurt aus, etwa Antenne Frankfurt, die nun die Frequenzen vom ehemaligen Radiosender Energy Rhein-Main nutzen. Ein weiterer privater aber nicht kommerzieller Radiosender ist Radio X. Sein Studio befindet sich unweit der Leipziger Straße. Der älteste und größte private Radiosender der Region, Hit Radio FFH, wurde 1989 in Frankfurt gegründet. Seit 2001 hat er seinen Sitz in der an Frankfurt angrenzenden Stadt Bad Vilbel. Des Weiteren befindet sich in Frankfurt die Sendezentrale des Jugendszene- und Musiksenders IM1-TV. In der Darmstädter Landstraße befindet sich die Deutschlandzentrale des Home Entertainment und Kino-Unternehmens 20th Century Fox. Ebenfalls in Frankfurt befindet sich die deutsche Kino-Abteilung von Universal Pictures. Radio Bob hat in Frankfurt eine Zweigstelle für das Marketing in Teilen der Räume der Frankfurter Rundschau. In Frankfurt beheimatet sind die Nachrichtenagenturen Reuters Deutschland (im Messeturm) und Associated Press Deutschland. Zudem befindet sich die Bildzentrale der Deutschen Presse-Agentur in Frankfurt. Das Mertonviertel ist Sitz des Gemeinschaftswerkes der evangelischen Publizistik mit der Nachrichtenagentur Evangelischer Pressedienst und dem evangelischen Magazin Chrismon. === Bibliotheken === In Frankfurt sind einige der größten Bibliotheken Deutschlands ansässig. Die Deutsche Nationalbibliothek ist die zentrale Archivbibliothek für alle Medienwerke in deutscher Sprache und das nationalbibliografische Zentrum Deutschlands. Ihr Frankfurter Sitz ging aus der von 1947 bis 1990 bestehenden Deutschen Bibliothek hervor. Die 2005 gegründete Universitätsbibliothek Johann Christian Senckenberg vereinigt die Sammlungen zahlreicher städtischer und wissenschaftlicher Bibliotheken, unter anderem der auf das 15. Jahrhundert zurückgehenden Stadtbibliothek, der 1763 gegründeten Senckenbergbibliothek und der 1887 gegründeten Freiherrlich Carl von Rothschild’schen öffentliche Bibliothek. An der Universitätsbibliothek ist auch das Bibliotheksinformationssystem HeBIS angefügt. In der Stadtbücherei Frankfurt am Main sind die kommunalen Bibliotheken Frankfurts zusammengefasst. Sie geht zurück auf den 1845 gegründeten Verein zur Verbreitung nützlicher Volks- und Jugendschriften und die 1894 gegründete Freie Bibliothek und Lesehalle. Der Stadtbücherei gehören drei zentrale Bibliotheken, vier Bibliothekszentren, eine Fahrbibliothek mit über 30 Haltestellen und 12 Stadtteilbibliotheken an. Die Stadtbücherei koordiniert zudem 111 Schulbibliotheken im Stadtgebiet. Seit 2009 stehen in vielen Stadtteilen rund um die Uhr zugängliche öffentliche Bücherschränke, die das kostenlose Austauschen, Ausleihen und Verschenken von Literatur ermöglichen. == Bildung und Forschung == === Hochschulen === In Frankfurt am Main befinden sich zwei Universitäten, zwei Kunsthochschulen sowie mehrere Fachhochschulen. Die bekannteste und älteste Universität der Stadt ist die 1914 gegründete Johann Wolfgang Goethe-Universität mit ihren vier Hauptstandorten Bockenheim, Westend, Riedberg und Universitätsklinikum Niederrad. Die 1971 aus verschiedenen Vorgängereinrichtungen gegründete Fachhochschule Frankfurt am Main – seit 2014 Frankfurt University of Applied Sciences – bietet über 50 Studiengänge mit Schwerpunkt in den angewandten Ingenieurs- und Wirtschaftswissenschaften und im Sozial- und Gesundheitsbereich. Alle Fachbereiche sind auf dem Campus Nibelungenplatz/Kleiststraße im Nordend angesiedelt. Die Philosophisch-Theologische Hochschule Sankt Georgen ist die älteste private wissenschaftliche Hochschule Frankfurts. Sie wird von der Deutschen Provinz der Jesuiten getragen und hat seit 1926 ihren Sitz im Stadtteil Sachsenhausen. Darüber hinaus gibt es mehrere private Hochschulen in Frankfurt. Die Frankfurt School of Finance & Management ist hervorgegangen aus der Bankakademie und der Hochschule für Bankwirtschaft und liegt mit ihrem Campus im Frankfurter Nordend. Seit 2001 betreibt die FOM Hochschule für Oekonomie & Management (FOM) ein Studienzentrum im Westend. Die 2003 gegründete Provadis School of International Management and Technology befindet sich im Industriepark Höchst. Seit 2007 hat die International School of Management einen Studienstandort in Sachsenhausen. Im künstlerischen Bereich verfügt Frankfurt zum einen über die Staatliche Hochschule für Bildende Künste – Städelschule, gegründet 1817 von Johann Friedrich Städel, die später in Besitz der Stadt gelangte und 1942 zur staatlichen Kunsthochschule der freien bildenden Künste erhoben wurde. Die andere bekannte Kunsthochschule ist die aus der 1878 gegründeten privaten Stiftung Dr. Hoch’s Konservatorium – Musikakademie hervorgegangene Hochschule für Musik und Darstellende Kunst. === Allgemeinbildende Schulen === Grundlage des Frankfurter Schulwesens ist der städtische Schulentwicklungsplan, dessen aktuelle Fortschreibung 2018 bis 2024 im Mai 2020 vom Magistrat verabschiedet wurde. 2018/19 bestanden 149 allgemeinbildende Schulen in öffentlicher Trägerschaft, die von knapp 70.000 Schülern besucht wurden. Aufgrund des starken Bevölkerungswachstums wird bis 2024 mit einem Anstieg um etwa 6 Prozent auf 74.000 Schüler gerechnet, vor allem in den Gymnasien und integrierten Gesamtschulen.Das altsprachliche Lessing-Gymnasium und das Goethe-Gymnasium gehen beide auf die 1520 für die Erziehung der Bürgersöhne gegründete städtische Lateinschule zurück. Das ebenfalls altsprachliche Heinrich-von-Gagern-Gymnasium wurde 1888 unter dem Namen Kaiser-Friedrichs-Gymnasium zur Entlastung des städtischen Lessing-Gymnasiums gegründet. Andere städtische Gymnasien wie die 1803 gegründete Musterschule und die Wöhlerschule sind auf Initiativen Frankfurter Bürger entstanden. Ältestes Gymnasium in Höchst ist die Leibnizschule, die auf eine 1817 gegründete Realschule zurückgeht. Das 2009 eröffnete Gymnasium Riedberg war die erste Neugründung eines Gymnasiums seit 1914. Ein 2013 am Riedberg gegründetes Oberstufengymnasium ist 2017 nach Bockenheim umgezogen. Es soll mittelfristig seinen Sitz im Stadtteil Gallus erhalten. Das 2015 gegründete und anfangs provisorisch in Höchst untergebrachte Adorno-Gymnasium zog 2019 in ein neues Provisorium auf dem Universitätscampus Westend um. Langfristig erhält es seinen Standort an der Miquelallee/Eschersheimer Landstraße. Weitere Neugründungen der letzten Jahre waren das Gymnasium Nord in Westhausen und das Gymnasium Römerhof in Bockenheim, das zum Schuljahr 2018/19 seinen Betrieb aufnahm. Insgesamt sieht der Schulentwicklungsplan den Bau von elf zusätzlichen Schulen bis 2024 vor, davon acht Grundschulen, ein sechszügiges Gymnasium im Frankfurter Süden, eine integrierte Gesamtschule und eine kooperative Gesamtschule.Neben den 19 städtischen Gymnasien bestehen zwölf Gymnasien in privater Trägerschaft sowie eine Europäische Schule. Das Philanthropin war von seiner Gründung 1804 bis zur durch die Nationalsozialisten erzwungenen Schließung 1942 die am längsten bestehende und mit zeitweise 1.000 Schülern größte jüdische Schule Deutschlands. Das Gebäude beherbergt die I. E. Lichtigfeld-Schule der Jüdischen Gemeinde Frankfurt. An weiterführenden Schulen bestehen in Frankfurt 15 städtische integrierte Gesamtschulen, drei kooperative Gesamtschulen, 14 Realschulen und neun Hauptschulen. Die Anfang der 1960er Jahre gegründete Ernst-Reuter-Schule ist eine der ersten integrierten Gesamtschulen, das Hessenkolleg Frankfurt eine der ältesten Einrichtungen des zweiten Bildungsweges in Hessen. Die 1969 gegründete Otto-Hahn-Schule in Nieder-Eschbach, eine kooperative Gesamtschule, ist mit über 1.300 Schülern eine der größten Schulen der Stadt. === Berufsbildende Schulen === Unter den 26 weiterführenden beruflichen Schulen in Frankfurt bestehen 16 in städtischer und 10 in privater Trägerschaft. Hierzu zählen der Mediacampus Frankfurt des Börsenvereins des deutschen Buchhandels und die Academy of Visual Arts. === Andere Bildungs- und Forschungseinrichtungen === Des Weiteren existieren in der Stadt die Max-Planck-Institute für Rechtsgeschichte und Rechtstheorie (mpilhlt), Biophysik und Hirnforschung. Die Stadt Frankfurt ist außerdem „Korporativ Förderndes Mitglied“ der Max-Planck-Gesellschaft. Mit der Universität eng verbunden ist das Frankfurt Institute for Advanced Studies, eine von zahlreichen institutionellen und privaten gesponserte interdisziplinäre Einrichtung zur theoretischen Grundlagenforschung in der Physik, Chemie, Biologie, Neurologie und Informatik. Das Leibniz-Institut für Bildungsforschung und Bildungsinformation (DIPF) mit Sitz in Bockenheim ist eine Forschungs- und Serviceeinrichtung auf dem Gebiet der Bildungsforschung. Zu den Aufgaben des DIPF gehört die Konzipierung, Entwicklung und Auswertung aller bei PISA 2015 einzusetzenden Fragebögen. Das DIPF verantwortet außerdem den zweijährlich erscheinenden Nationalen Bildungsbericht „Bildung in Deutschland“.Die Frankfurter Volkshochschule ist als Eigenbetrieb der Stadt Frankfurt organisiert und hat ihre Zentrale im Frankfurter Ostend. Die Katholische Erwachsenenbildung – Landesarbeitsgemeinschaft Hessen, das Diözesanbildungswerk Limburg, und die Bildungswerke Frankfurt, Main-Taunus und Hochtaunus haben ihren Sitz im Haus am Dom. Die Evangelische Akademie Frankfurt, entstanden 2012 aus einer Fusion der Evangelischen Stadtakademie Römer9 und der Evangelischen Akademie Arnoldshain, ist gegenüber dem Historischen Museum auf dem Römerberg angesiedelt. Die Goethe-Universität und die Frankfurt University of Applied Sciences sind am Hessischen Zentrum für Künstliche Intelligenz beteiligt. == Von der Stadt vergebene Auszeichnungen == == Sehenswürdigkeiten und Naturdenkmäler (Auswahl) == === Altstadt === Vier der wichtigsten Sehenswürdigkeiten der Stadt befinden sich nahe beieinander in der Frankfurter Altstadt: Kaiserdom, Römerberg, Paulskirche und Goethe-Haus. Der katholische Kaiserdom St. Bartholomäus mit seinem markanten spätgotischen Westturm war die Wahl- und Krönungsstätte der deutschen Kaiser. Vom Dom zum Römer verlief der Markt, über den der Krönungsweg der frisch gekrönten Kaiser zu den Feierlichkeiten auf dem Platz vor dem Rathaus führte. Vor dem Dom befindet sich der Archäologische Garten mit Ausgrabungen der ältesten Siedlungsspuren Frankfurts aus römischer und karolingischer Zeit. Er wurde im Rahmen des Dom-Römer-Projektes mit dem Stadthaus am Markt überbaut, um ihn vor der Witterung zu schützen. Die mehrstöckigen Häuser am Markt und um den Hühnermarkt vermitteln mit ihren Überhängen und den hohen, steilen Dächern und Giebeln einen guten Eindruck des früheren Stadtbildes. Unter den Neubauten sind 15 Rekonstruktionen zerstörter Altstadthäuser. Der Römerberg ist der zentrale Platz der Altstadt mit dem Rathaus (Römer) aus dem 14. Jahrhundert, der frühgotischen Alten Nikolaikirche und der nach Kriegszerstörung rekonstruierten Häuserzeile auf der Ostseite des Platzes. Auf dem Rathausbalkon des Römers werden die Titelgewinne der regionalen Vereine (Eintracht Frankfurt, Frankfurt Lions) aber auch Fußballweltmeisterschaften mit den Fans zusammen gefeiert. Die Paulskirche wurde 1789 bis 1833 anstelle der 1786 abgerissenen mittelalterlichen Barfüßerkirche erbaut und diente bis 1944 als evangelische Hauptkirche Frankfurts. In dem klassizistischen Rundbau des Architekten Johann Georg Christian Hess tagte 1848/49 die Nationalversammlung. Der Paulsplatz ist ein belebter Stadtplatz mit Straßencafés. Zwischen Römerberg und Liebfrauenberg liegt die Neue Kräme. Am Liebfrauenberg befinden sich die im 14. Jahrhundert erbaute Liebfrauenkirche, der Liebfrauenbrunnen von 1770 und das 1775 errichtete Haus Zum Paradies/Grimmvogel, einer der wenigen erhaltenen Barockbauten in Frankfurt. Die Kleinmarkthalle, ein Neubau von 1954 nach der Kriegszerstörung 1944, ist das kulinarische Zentrum der Stadt. Über 150 Marktstände bieten an jedem Werktag alle Arten von Lebensmitteln an. In der westlichen Altstadt liegt das Goethe-Haus, das Geburtshaus von Johann Wolfgang von Goethe, im Großen Hirschgraben. Der Kornmarkt ist eine ruhige Nebenstraße und war im Mittelalter eine der Hauptverkehrsadern der Stadt. Im Osten der Altstadt an der Fahrgasse finden sich noch Reste der mittelalterlichen Staufenmauer. Weiter östlich liegt der 1180 erstmals erwähnte Jüdische Friedhof Battonnstraße. In den Putz der Friedhofsmauer sind kleine Gedenksteine mit den Namen von 11.957 während der Zeit des Nationalsozialismus ermordeten jüdischen Bürgern Frankfurts eingelassen. === Mainufer und Mainbrücken === Die beiden Mainufer entwickeln sich immer mehr zum attraktivsten Stadtraum Frankfurts. Hierzu tragen Projekte wie die Entwicklung des Museumsufers, die Neugestaltung der Uferanlagen, der Aufbau eines neuen Wohn- und Gewerbegebietes im ehemaligen Frankfurter Westhafen oder die architektonisch anspruchsvollen Mainbrücken bei. Die Alte Brücke (1222 erstmals urkundlich erwähnt) galt jahrhundertelang als bedeutendstes Bauwerk der Stadt. Seit 2006 befindet sich auf der Maininsel die Ausstellungshalle Portikus. Der Eiserne Steg, eine 1869 eröffnete Fußgängerbrücke, ist eines der Wahrzeichen der Stadt. Der Saalhof und die katholische Leonhardskirche am nördlichen Brückenkopf sind zwei Baudenkmäler, deren Ursprünge in die Stauferzeit zurückreichen. Der Blick von einer der östlichen Innenstadt-Mainbrücken auf Altstadt und Skyline wird in den Medien gern als Illustration für Beiträge aus Frankfurt verwendet. In den letzten Jahren entstanden im Osten der Innenstadt zwei große Beach Clubs am nördlichen und südlichen Mainufer. Die Gerbermühle, als Treffpunkt Goethes mit Marianne von Willemer in die Literaturgeschichte eingegangen, ist ein beliebtes Ausflugslokal. Das Naturschutzgebiet Schwanheimer Düne ist eine der wenigen Binnendünen Europas und befindet sich nahe dem Main im Westen des Stadtteils Schwanheim. Es umfasst 58,5 Hektar und beherbergt viele seltene und vom Aussterben bedrohte Tier- sowie Pflanzenarten. === Dotationskirchen === Eine Besonderheit Frankfurts sind die Dotationskirchen. Die Stadt ist seit 1802 Eigentümerin aller neun Kirchen in der Innenstadt und der Dreikönigskirche in Sachsenhausen und durch einen Staatskirchenvertrag seit 1830 zu ihrem Unterhalt verpflichtet. Viermal im Jahr, zu den Hochfesten des Kirchenjahres, findet in den Citykirchen das traditionelle Frankfurter Stadtgeläute statt. === Sachsenhausen === Der 1192 erstmals erwähnte Stadtteil Sachsenhausen auf der südlichen Mainseite wird in Frankfurter Mundart Dribbdebach (dribbe = drüben, jenseits des Flusses) genannt, im Gegensatz zur Hibbdebach (diesseits des Flusses) gelegenen Innenstadt. Seit dem Mittelalter wohnten hier hauptsächlich Fischer, Landarbeiter und Handwerker, deren derbe Sprache und Umgangsformen sprichwörtlich waren. Im 18. und 19. Jahrhundert siedelten sich zunehmend wohlhabende Bürger an. Die Sachsenhäuser Altstadt wurde ein beliebtes Ausgeh- und Kneipenviertel. Doch der Besucherrückgang nach dem Wegfall der amerikanischen Militärstandorte machte Alt-Sachsenhausen zu schaffen. Leerstand und Verfall waren seitdem nicht mehr zu übersehen. Es gibt allerdings noch einige traditionelle und teilweise sehr alte Apfelwein-Kneipen. Die Stadt bemüht sich seit einiger Zeit, das Viertel wieder voranzubringen. Ziel ist es, neben Kneipen auch kleine Geschäfte und Ateliers zu etablieren, um das Viertel tagsüber stärker zu beleben. Das dominierende Bauwerk am Sachsenhäuser Mainufer ist die 1875 bis 1881 errichtete Dreikönigskirche. Entlang des Mains liegen die Museen des Museumsufers. Hier findet jeden zweiten Samstag einer der größten Flohmärkte Deutschlands statt. Die Altbauten im nördlichen Sachsenhausen rund um den Schweizer Platz sind ein beliebtes Wohnviertel mit einer ausgewogenen Mischung aus Einzelhandel und Gastronomie. Neben bekannten Apfelweinlokalen wie dem Wagner und dem Gemalten Haus finden sich moderne Cocktailbars. Weiter im Süden liegen Villenviertel wie der Lerchesberg, der in den 1960er Jahren entstand. In den 1990er Jahren entstand auf dem ehemaligen Schlachthofgelände östlich der Sachsenhäuser Altstadt das Deutschherrnviertel, das sich inzwischen zum beliebten Wohngebiet entwickelt hat. Wahrzeichen des neuen Viertels ist das Hochhaus Main Plaza. Auf Sachsenhäuser Gebiet standen der 2017 abgebrannte Goetheturm im Stadtwald, eines der höchsten Holzbauwerke in Deutschland, und der Henninger-Turm, ein ehemaliges Getreidesilo und bekannt durch das Radrennen Rund um den Henninger-Turm sowie das Drehrestaurant im Turmkorb. Der 1961 eröffnete ursprüngliche Henninger-Turm wurde 2013 abgerissen und 2014 bis 2017 durch ein 140 Meter hohes Wohnhochhaus ersetzt, das dem Original äußerlich ähnelt. === Hauptbahnhof und Bahnhofsviertel === Der Hauptbahnhof, eröffnet 1888, ist nach der Anzahl der Fernverkehrszüge und am Passagieraufkommen gemessen einer der größten seiner Art in Europa. Die riesige fünfschiffige Bahnsteighalle, deren Tragwerk und Dach zuletzt vollständig restauriert wurden, das stilgleich erhaltene Empfangsgebäude und das unüberschaubare Gewirr über- und unterirdischer Anlagen macht ein beeindruckendes Bauwerk aus, das eine Sehenswürdigkeit für sich ist. Das Bahnhofsviertel ist ein Schmelztiegel der Kulturen. Dort befinden sich Geschäfte und Restaurants verschiedenster Art aus den unterschiedlichsten Kulturkreisen. Das Bahnhofsviertel lebt 24 Stunden am Tag, nicht nur wegen des Rotlichtmilieus, das sich vor allem rund um die Taunusstraße erstreckt. Das Viertel kann als ein Musterbeispiel für urbane Gegensätze angesehen werden, die ein internationaler Verkehrsknotenpunkt mit sich bringt. Bettler, Alkoholiker und Junkies sind dort neben den Strömen angestellter Berufspendler ebenso gegenwärtig wie Banker, internationale Messegäste und Tagestouristen. Die Kaiserstraße, auf die der Besucher direkt vom Haupteingang des Hauptbahnhofs aus blickt, ist ein städtischer Boulevard, auf dem Reichtum und Elend, multikultureller Einzelhandel, moderne Bankhochhäuser in nächster Nachbarschaft zu Rotlichtbetrieben in gründerzeitlichen Altbauten zu beobachten sind. === Wolkenkratzer === Frankfurt ist eine der wenigen Städte Europas mit einer ausgeprägten Skyline und wird deshalb manchmal als Mainhattan bezeichnet – eine Anspielung auf Manhattan in New York City. Besonders viele Hochhäuser stehen im sogenannten Bankenviertel, wo die westliche Innenstadt, das östliche Bahnhofsviertel und das südliche Westend aufeinandertreffen. Als älteste Hochhäuser Frankfurts gelten der 1923 bis 1926 errichtete Mousonturm und das Verwaltungsgebäude der I.G. Farben, heute das Hauptgebäude der Universität. Die ersten Hochhäuser über 50 Metern Höhe entstanden in den 1950er Jahren, seit Mitte der 1970er Jahre auch Wolkenkratzer mit über 150 Metern Höhe. Seit 1953 beschäftigte sich die Bauleitplanung in Frankfurt mit der Reglementierung des Hochhausbaus. 1998 wurde der erste Hochhausrahmenplan aufgestellt, der 2008 fortgeschrieben wurde. Er schreibt fest, wo und wie Hochhäuser gebaut werden dürfen. Ziel ist es, Hochhäuser in Gruppen (Pulks) im Bankenviertel, im Europaviertel und an der Mainzer Landstraße zwischen Opernplatz und Platz der Republik anzuordnen, allerdings waren und sind einzelne Ausnahmen möglich, wie die Türme des Palaisquartier in der Innenstadt oder der Neubau der Europäischen Zentralbank im Ostend. Die Höhe der Neubauten stieg seit den 1950er Jahren ständig an. Das 1951 errichtete Junior-Haus erreichte eine Höhe von 35 Metern, das 1953 eröffnete AEG-Hochhaus 45 Meter. 1956 war das Fernmeldehochhaus an der Hauptwache mit 69 Metern das höchste Gebäude der Stadt. Ähnliche Höhen erreichten Anfang der 1960er Jahre das Hotel InterContinental Frankfurt (67 Meter) und das Zürich-Haus (68 Meter). Bis auf das Junior-Haus und das Hotel sind alle diese Gebäude mittlerweile abgerissen und durch höhere Neubauten ersetzt worden. Der Henninger-Turm in Sachsenhausen war 1961 das erste Frankfurter Bauwerk, das mit seiner Höhe von 120 Metern den Westturm des Kaiserdoms (95 Meter) überragte. Weitere Hochhäuser der 1960er Jahre sind das BHF-Bank-Hochhaus (82 Meter) und das Rhein-Main-Center (84 Meter). 1972 war der AfE-Turm der Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt am Main mit 116 Metern das höchste Gebäude der Stadt, 1974 erreichte das City-Haus I eine Höhe von 142 Metern. Die ersten Wolkenkratzer waren das 1976 eröffnete Plaza Büro Center mit 159 Metern und der 1978 errichtete Silberturm der Dresdner Bank mit 166 Metern, damals die höchsten Gebäude der Bundesrepublik. Mit dem Eurotower und dem Helaba-Hochhaus erfolgte eine Verdichtung der Hochhäuser im Stadtzentrum. Die in den 1980er Jahren entstandenen Gebäude überschritten die bisherigen Höhen nicht. Die bekanntesten Gebäude aus dieser Zeit sind die 1984 fertiggestellten 155 Meter hohen Zwillingstürme der Deutschen Bank, die im Volksmund auch Soll und Haben genannt werden. In den 1990er Jahren stellte die zweite Hochhausgeneration erneut neue Rekorde auf: Der Messeturm war 1991 mit seiner Höhe von 257 Metern das höchste Gebäude Europas, 1997 erreichte der Commerzbank Tower 259 Meter. Zwei weitere Gebäude überschritten in dieser Zeit ebenfalls die 200-Meter-Marke: Westendstraße 1 und Main Tower. Der Main Tower ist das einzige Hochhaus in Frankfurt mit einer öffentlich zugänglichen Aussichtsplattform auf dem Dach, darüber hinaus gibt es ein Restaurant in der 25. Etage des Japan Centers und eine Bar in der 22. Etage des Eurotheums. Während des Wolkenkratzer-Festivals, welches in unregelmäßigen Abständen veranstaltet wird (zuletzt im Juni 2013), sind auch andere Hochhäuser für die Öffentlichkeit geöffnet. Im 21. Jahrhundert sind in Frankfurt weitere Hochhäuser entstanden, darunter Tower 185, Opernturm, Skyper, Gallileo, Nextower und Westhafen Tower. 2013 gab es in Frankfurt 14 Gebäude mit einer Höhe über 150 Metern, darunter die zehn höchsten Gebäude Deutschlands. Das Gebäude The Squaire über dem Flughafen-Fernbahnhof ist 660 Meter lang, 65 Meter breit und 45 Meter hoch. Mit 140.000 Quadratmetern Gesamtfläche auf neun Etagen ist es das größte Bürogebäude in Deutschland. Höchstes Bauwerk der Stadt ist seit 1978 der Europaturm (von den Frankfurtern Ginnheimer Spargel genannt), ein Fernmeldeturm der Telekom, mit einer Höhe von 337,5 Metern. Der Europaturm verfügt über Besucherbereiche, die mangels Wirtschaftlichkeit seit 1999 geschlossen sind. Die steigende Immobiliennachfrage, der vollzogene Austritt des Vereinigten Königreichs aus der Europäischen Union und die günstige wirtschaftliche Entwicklung in Deutschland führten ab dem Jahr 2015 zu einer neuen plötzlichen Aufschwungphase von Hochhausbauten. Neben dem 185 Meter hohen Neubau der Europäischen Zentralbank verkörpern Hochhausprojekte wie der Omniturm, das Maintor-Areal und die Bebauung des ehemaligen Deutsche-Bank-Areals mit vier Hochhäusern zwischen 120 und 228 Metern diese Entwicklung. Die neue Generation von Frankfurter Hochhäusern ist vielfach gekennzeichnet durch die Kombination von Wohn-, Hotel- und Büroflächen in einem Gebäude. Mit dem 180 Meter hohen Grand Tower wurde 2020 Deutschlands höchstes reines Wohnhochhaus fertiggestellt. === Stolpersteine === Seit 2003 werden in Frankfurt durch den Künstler Gunter Demnig Stolpersteine für Opfer des Nationalsozialismus verlegt. Bis zum Mai 2015 waren über 1000 Steine in zahlreichen Stadtteilen gesetzt. == Kultur == === Museen und Galerien === Die Stadt bietet ein vielfältiges kulturelles Programm. Dazu zählt die einzigartige Museumslandschaft mit über 60 größeren und kleineren Museen und Ausstellungshäusern, die sich vor allem auf beiden Seiten des Mains angesiedelt hat. Die von Till Behrens bereits 1968 entworfene Frankfurter Grüngürtel-Mainufer-Konzeption, die als Vorlage für das Museumsufer diente, wurde durch die Politik seit Anfang der 1980er Jahre umgesetzt und wird noch verfolgt. Das Museumsufer auf der Sachsenhäuser Mainseite umfasst bekannte Häuser wie das Städel, das Liebieghaus, das Museum für Kommunikation (ehemals: Postmuseum), das Deutsche Architekturmuseum (DAM), das Deutsche Filmmuseum, das Museum der Weltkulturen und das Museum Angewandte Kunst (ehemals: Kunstgewerbemuseum). Hier findet alljährlich das Museumsuferfest statt. An Kunstmuseen und Galerien finden sich das Städel (Gemälde), das Liebieghaus (Skulpturen), das Museum für Moderne Kunst (MMK), die Schirn Kunsthalle, das Deutsche Architekturmuseum (DAM), das Deutsche Filmmuseum und das Museum für Angewandte Kunst. Das Ernst-May-Museum ist auf das Frankfurter Design und die Architektur der 1920er Jahre spezialisiert. Historische Museen sind das Historische Museum (Stadtgeschichte) und das Jüdische Museum, zwischen Kunst- und historischem Museum steht das Archäologische Museum im Karmeliterkloster sowie das Dommuseum Frankfurt, das historische und zeitgenössische Kunst verbindet. Im Großen Hirschgraben neben dem Goethe-Haus öffnete 2022 das Deutsche Romantik-Museum. Technikmuseen sind das Museum für Kommunikation, das Frankfurter Feldbahnmuseum, das Verkehrsmuseum Frankfurt am Main, die Experiminta, die Museumseisenbahn des Vereins Historische Eisenbahn Frankfurt und die Technische Sammlung Hochhut. Im Nordend war 1995 bis 2016 Explora, ein Museum für optische und andere Täuschungen zu finden. Ein naturwissenschaftliches Museum ist das weltberühmte Senckenberg Naturmuseum, in dem unter anderen Fossilienfunde aus der Welterbestätte Grube Messel zu sehen sind, ein ethnologisches Museum das Museum der Weltkulturen. Die Kunstszene befindet sich im Frankfurter Kunstverein gegenüber der Schirn, in der Städelschule (Staatliche Hochschule für Bildende Künste Städelschule), in privaten Kunstgalerien und in einer Reihe von alternativen Ausstellungsräumen. Die Galerien zeigen Kunst von Alter Kunst über verschiedene Spezialgebiete bis hin zur Gegenwart. Von den alternativen Ausstellungsräumen werden viele von Künstlern oder jungen Kunstwissenschaftlern betrieben, u. a. die Ausstellungshalle in Sachsenhausen oder der Ausstellungsraum Eulengasse 65 in Bornheim. === Oper, Konzerthäuser und Bühnen === Frankfurt weist eine lebendige Theaterszene auf. Die Städtischen Bühnen vereinen mehrere Sparten unter einem Dach: Die Oper Frankfurt ist ein weltweit renommiertes Haus und erhielt mehrmals (zuletzt 2015) die Auszeichnung Opernhaus des Jahres. Das Schauspiel Frankfurt machte vor allem in den 1960er Jahren – durch Harry Buckwitz – sowie in den 1970er und 1980er Jahren unter der Leitung von Peter Palitzsch durch sein Mitbestimmungsmodell von sich reden. Zwei weitere Sparten der städtischen Bühnen, das Ballett Frankfurt und das Theater am Turm (TAT), haben im Jahr 2004 geschlossen, jedoch besteht seit 2005 wieder eine Tanzkompanie als privates Ensemble unter dem Namen The Forsythe Company. Die Alte Oper, eröffnet 1881, wurde im Zweiten Weltkrieg zerstört und 1981 als Konzerthaus wiedereröffnet. Die Alte Oper besitzt einen sehr schönen Konzertsaal und hat große Bedeutung als ein wichtiges Musikzentrum in Europa. Weitere bekannte Konzerthäuser sind die Jahrhunderthalle in Unterliederbach, die Festhalle in Bockenheim und der Sendesaal des Hessischen Rundfunks. Die Komödie in der Neuen Mainzer Straße und das Fritz Rémond Theater im Zoo-Gesellschaftshaus sind die zwei bekannten Boulevardtheater Frankfurts. Das Volkstheater Frankfurt pflegte bis zu seiner Schließung zum Ende der Spielzeit 2012/2013 neben klassischen Mundartstücken mundartliche Bearbeitungen von Klassikern und zeitgenössischen Dramen. Ein ähnliches Konzept verfolgt die Fliegende Volksbühne des Schauspielers Michael Quast. Das English Theatre ist die größte englischsprachige Bühne auf dem Kontinent. Die größte und überregional bekannteste Bühne für moderne Darstellungskunst (Performance, Tanz u. a.) in Frankfurt ist das Künstlerhaus Mousonturm im Nordend. Als Spielstätte für Theatergruppen und Ensembles aus der freien Szene fungieren das alteingesessene Gallus Theater in den ehemaligen Adlerwerken im Gallus, die Landungsbrücken Frankfurt als Plattform für modernes Sprechtheater im Gutleutviertel sowie das Kellertheater Frankfurt. Freie Theater mit fester Spielstätte sind Die Dramatische Bühne im Café Exzess in Bockenheim, Michael Herls Stalburg Theater im Nordend, das Theater Willy Praml in der Naxoshalle im Ostend, das Freie Schauspiel Ensemble in Bockenheim, das Frankfurter Autoren Theater in der Brotfabrik in Hausen und das Theater Alte Brücke in Sachsenhausen. Im Bereich Varieté, Kabarett und Kleinkunst haben sich Johnny Klinkes Tigerpalast, die KÄS, Die Schmiere (seit 1950 das selbsternannt „schlechteste Theater der Welt“) im Karmeliterkloster und das Neue Theater im Stadtteil Höchst etabliert. Das Theaterhaus Frankfurt beherbergt zahlreiche Kindertheaterensembles wie die „Grüne Soße“ und zählt neben dem Kinder- und Jugendtheaterzentrum in der Nordweststadt und dem Papageno Musiktheater im Palmengarten zur lebendigen Frankfurter Kinder- und Jugendtheaterszene. Ein besonderes Kindertheater bestand von 1975 bis 2005 mit dem Klappmaul-Puppentheater. === Musiker === In Frankfurt haben zwei große symphonische Orchester ihre Heimat, das 1808 gegründete Frankfurter Opern- und Museumsorchester der städtischen Bühnen und das hr-Sinfonieorchester. Das Ensemble Modern und die Junge Deutsche Philharmonie haben ihren Sitz in Frankfurt. Bekannte Chöre sind der 1818 gegründete Cäcilienchor Frankfurt, die Frankfurter Singakademie und die Frankfurter Kantorei. Tré Cool von Green Day, die Metal-Band Tankard, die Hard-Rock-Band Böhse Onkelz, der Musikproduzent Hans Zimmer, die Techno-DJs Sven Väth und Chris Liebing sowie die Eurodance-Gruppe SNAP! stammen aus Frankfurt. Ebenso war der 2006 verstorbene Mark Spoon ein gebürtiger Frankfurter. Ende der 1990er sowie Anfang der 2000er Jahre entstand in Frankfurt eine Hip-Hop-Szene. Rapper wie Azad, D-Flame, Moses Pelham, Tone, Jonesmann, Illmatic und Sabrina Setlur erlangten deutschlandweit Bekanntheit. Seit Anfang der 2010er Jahre entwickelte sich in Frankfurt und Offenbach eine neue Szene, welche zum großen Teil dem harten Straßenrap zuzuordnen ist, sowie eine Welle an weiteren kommerziell erfolgreichen Rappern. Bekannte männliche Vertreter sind beispielsweise Haftbefehl, das Duo Celo & Abdi, Hanybal, Capo, Ramo, Soufian, Vega, SadiQ, Dú Maroc, Sami, Jeyz, Azzi Memo, Hemso, Reda Rwena, Mourad Kill und Jean & Solé. Bekannte weibliche Vertreter sind Namika, Schwesta Ewa, Rina sowie Liz. === Frankfurt im Film === Der erste nach Kriegsende in Europa gedrehte US-amerikanische Film Berlin-Express, ein Agententhriller, wurde unter der Regie von Jacques Tourneur teilweise in Frankfurt gedreht. Unter anderem dienten das I. G.-Farben-Haus, der Hauptbahnhof und der völlig zerstörte Römerberg als Kulisse. Größtenteils in Frankfurt entstanden weite Teile der Außenaufnahmen des Fernfahrerdramas Nachts auf den Straßen mit Hans Albers und Hildegard Knef, vor allem im Bahnhofsviertel, an der Hauptwache und in Frankfurt-Bockenheim (am Opelrondell und auf dem Autohof). Der 1958 gedrehte Film Das Mädchen Rosemarie behandelt die Lebensgeschichte der Prostituierten Rosemarie Nitribitt, deren Ermordung ein spektakulärer Kriminalfall der frühen Bundesrepublik war. Frankfurt ist einer der Schauplätze in dem Elvis-Presley-Film Café Europa (G. I. Blues) aus dem Jahr 1960. In dem Lied Frankfurt Special wird die Stadt besungen. 1978 drehte Rainer Werner Fassbinder den Film In einem Jahr mit 13 Monden, der als persönliche Abrechnung des Regisseurs mit der Stadt gesehen werden kann. Der 1984 entstandene Thriller Abwärts spielt in einem Frankfurter Bürohochhaus, die Außenaufnahmen wurden im Silberturm gedreht. Eine Szene des 1999 gedrehten Films Der große Bagarozy spielt auf dem Holbeinsteg. Matthias Schweighöfers Komödie What a Man von 2010 erzählt die Geschichte eines jungen Frankfurter Lehrers, der von seiner Freundin verlassen wird. Im Labyrinth des Schweigens (2014) spielt in den 1950er Jahren in Frankfurt und behandelt die Vorgeschichte der Auschwitzprozesse. Zahlreiche Fernsehserien spielen in Frankfurt, darunter 68 Folgen von Tatort, Die Kommissarin, Ein Fall für zwei und die Nachfolgeserie Ein Fall für zwei (2014), sowie mehrere Kriminalfilme um den Kommissar Marthaler, eine Romanfigur von Jan Seghers. === Buchmesse === Die seit dem 15. Jahrhundert stattfindende Frankfurter Buchmesse ist nicht nur ein wirtschaftliches (als größte Buchmesse der Welt), sondern auch ein bedeutendes kulturelles Ereignis. Während der alljährlichen Messe finden in Frankfurt zahlreiche Begleitveranstaltungen statt, als Höhepunkt die Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels in der Paulskirche. === Frankfurt in der Literatur === Abgesehen von Chroniken und Topographien, wie der des Baldemar von Petterweil aus der ersten Hälfte des 14. Jahrhunderts, sind die frühen literarischen Zeugnisse über Frankfurt vorwiegend Reisebeschreibungen, da die Stadt als Messe- und Finanzzentrum sowie als Ort der Kaiserkrönungen viele Fremde anzog. In Shakespeares Kaufmann von Venedig klagt Shylock im dritten Aufzug: Ein Diamant fort, kostet mich zweitausend Dukaten zu Frankfurt! Thomas Coryat beschrieb in seinem 1611 erschienenen Reisebericht ausführlich Frankfurt und gehörte damit zu den Begründern der Grand Tour. Zur Tradition dieser Kavaliersreisen gehörte die Veröffentlichung der Reiseerlebnisse in Buchform. Bekannte Autoren des 18. und 19. Jahrhunderts von Reiseberichten aus Frankfurt sind Victor Hugo, Hector Berlioz, Mark Twain, aus jüngerer Zeit beispielsweise Ricarda Huch und Rudolf G. Binding. Hervorzuheben sind ferner autobiographische Schriften, vor allem Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit, das autobiographische Werk Goethes, in dem er ausführlich das reichsstädtische Leben zur Zeit seiner Kindheit und Jugend beschrieb. Aus dem 19. Jahrhundert stammen die ersten belletristischen Werke, die Frankfurt als Schauplatz wählten. In Johanna Spyris Heidi-Roman bildete die reiche Stadt Frankfurt mit ihrem von Konventionen beherrschten bürgerlichen Leben den Gegenpol zum naturverbundenen, einfachen Leben in den Schweizer Bergen. In Heinrich Heines fragmentarischer Erzählung Der Rabbi von Bacharach beschreibt er das bunte Treiben in der Stadt und in der belebten Judengasse. Turgenews 1871 in Baden-Baden geschriebene Novelle Frühlingswogen handelt im Jahr 1840 unter anderen in einer Frankfurter Konditorei. Andere Romane und Erzählungen knüpfen an historische Ereignisse an, die sich in Frankfurt zugetragen haben, zum Beispiel der Roman Der Jude von Karl Spindler. Die Erzählung Ein Drama in den Lüften von Jules Verne knüpfte an einen historischen Ballonaufstieg an, der Roman Der Schleier im Main von Alexandre Dumas d. Ä. ist eine Kriminalgeschichte, die zur Zeit der preußischen Besetzung der Freien Stadt Frankfurt spielt. Der Fall Maurizius von Jakob Wassermann behandelt einen historischen Kriminalfall. Ebenfalls im 19. Jahrhundert entstand eine Reihe von dramatischen Werken, vorwiegend Lustspielen, die in Frankfurt und Umgebung spielen. Hervorzuheben sind Der alte Bürgerkapitän und Die Landpartie nach Königstein von Carl Malß, Der Königsleutnant von Karl Gutzkow, eine aus Dichtung und Wahrheit entnommene Episode um den Grafen François de Thoranc, der Lokalschwank Alt-Frankfurt von Adolf Stoltze und das Rothschild-Stück Die fünf Frankfurter von Carl Rössler. Im Rahmen der Initiative Frankfurt liest ein Buch wird seit 2010 ein in Frankfurt spielender Roman in zahlreichen Veranstaltungen öffentlich gelesen. Die bisher gelesenen Bücher waren Kaiserhofstraße 12 von Valentin Senger, Abschaffel von Wilhelm Genazino, Straßen von Gestern von Silvia Tennenbaum, Ginster von Siegfried Kracauer, Die Vollidioten von Eckhard Henscheid, Grüße und Küsse an alle. Die Geschichte der Familie von Anne Frank von Mirjam Pressler, Frankfurt verboten von Dieter David Seuthe, Benjamin und seine Väter von Herbert Heckmann, Das siebte Kreuz von Anna Seghers und Westend von Martin Mosebach. Für 2020 wurde der Roman Rosemarie – Des deutschen Wunders liebstes Kind von Erich Kuby ausgewählt. Die Romane der Frankfurt-Tetralogie des Schriftstellers Martin Mosebach – Das Bett, Westend, Eine lange Nacht und Der Mond und das Mädchen – thematisieren in ihren Haupthandlungen wichtige Etappen von der Nachkriegszeit bis zur Jahrtausendwende und schildern am Beispiel der Protagonistenschicksale die Veränderungen der bürgerlichen Stadtgebiete sowie seiner Bewohner im Laufe des 20. Jahrhunderts. Frankfurt am Main ist Schauplatz einer Reihe von aktuellen Kriminalromanen. Frank Demant ließ den Lebenskünstler und ehemaligen Straßenbahnfahrer Simon Schweitzer bis 2018 in zwölf Romanen einer Serie ermitteln, speziell in Frankfurt-Sachsenhausen. In sechs Romanen von Udo Scheu standen Staatsanwalt Schultz, Kriminalkommissar Schreiner und der Journalist Dennis Hauschild im Zentrum der Handlung. Der Schriftsteller Matthias Altenburg veröffentlichte unter dem Pseudonym Jan Seghers sechs Romane um den Kommissar Robert Marthaler. === Dialekt === Die Frankfurter Stadtmundart in ihrer ursprünglichen Form zählt zu den rheinfränkischen Dialekten. Bis ins 20. Jahrhundert war Frankfurt eine südhessische Sprachinsel im mittelhessischen Dialektraum. Noch bis mindestens in die 1980er Jahre hinein konnte bei älteren Einwohnern deutlich unterschieden werden, ob sie aus der ursprünglichen Kernstadt stammten oder zum Beispiel aus den nördlichen, eingemeindeten Stadtteilen. Es gibt ferner zahlreiche Berichte darüber, dass die Einwohner der Altstadt am Sprachklang hören konnten, ob jemand aus Bornheim stammte oder aus Bockenheim. Wie in vielen anderen Großstädten vermischte sich die Frankfurter Stadtmundart, vor allem infolge der Bevölkerungsverschiebungen nach der vollständigen Zerstörung der Frankfurter Altstadt im Zweiten Weltkrieg, mit benachbarten Varianten und aufgrund der intensiveren Hörfunk- und Fernsehnutzung seit den 1950er Jahren auch mit dem Hochdeutschen, wodurch ein Regiolekt entstand, der häufig als Neuhessisch oder selbstironisch als „RMV-Hessisch“ bezeichnet wird. === Nachtleben === Ein traditionsreicher Rockclub in Frankfurt, die 1976 in Eschersheim eröffnete Batschkapp, befindet sich seit Ende 2014 im Industriegebiet an der Gwinnerstraße. Der Jazzkeller Frankfurt existiert seit 1952. Der 1972 gegründete Sinkkasten bestand bis 2011. Eine der populärsten Frankfurter Diskotheken war das von 1978 bis 2000 im Terminal 1 des Flughafens betriebene Dorian Gray. Der King Kamehameha Club bestand von 1999 bis 2013 auf einem ehemaligen Brauereigelände an der Hanauer Landstraße. Zu den bekanntesten Clubs der Frankfurter Technoszene der 1990er und 2000er Jahre gehörten das Omen und das U60311 in der Innenstadt sowie der Cocoon Club in Fechenheim. === Sport === Frankfurt am Main ist Heimat zahlreicher bekannter Sportvereine: Bedeutende, jährlich stattfindende sportliche Ereignisse sind Frankfurt-City-Triathlon (Triathlon im August) Frankfurt-Marathon (Stadtmarathon im Oktober) Rund um den Finanzplatz Eschborn-Frankfurt (1961–2008: Rund um den Henninger-Turm) (Straßenradrennen) Ironman Germany (Triathlon) JPMorgan Chase Corporate Challenge (Firmenlauf) Frankfurter City-Halbmarathon (im März) Hessen tanzt (größtes Tanzsportturnier der Welt)Die wichtigsten Sportstätten der Stadt sind Der Deutsche Bank Park (Fußball – Bundesliga), ursprünglich Waldstadion, unter dem Namen FIFA WM-Stadion Frankfurt am Main einer der Spielorte der Fußball-Weltmeisterschaft 2006 und der Fußball-Weltmeisterschaft der Frauen 2011 sowie künftiger Austragungsort der Fußball-Europameisterschaft 2024 Die PSD Bank Arena am Bornheimer Hang (Fußball – Regionalliga) Das Stadion am Brentanobad (Fußball, Frauen-Bundesliga) Die Ballsporthalle (Basketball- und Volleyball-Bundesliga) Die Eissporthalle Frankfurt (Eishockey – DEL2)Frankfurt ist außerdem Sitz der wichtigsten deutschen Sportverbände, u. a.: Deutscher Olympischer Sportbund (DOSB), ehem. Deutscher Sportbund (DSB) Nationales Olympisches Komitee (NOK) Deutscher Fußball-Bund (DFB) Deutscher Turner-Bund (DTB) Deutscher Motor Sport Bund (DMSB) Deutscher Bandy-Bund (DBB)Ehemalige Sportstätten waren Die Galopprennbahn Niederrad (Pferderennen) === Radfernwege und Fernwanderwege === Am Frankfurter Mainufer treffen sich mehrere Radwanderwege: Der Hessische Radfernweg R3 (Rhein-Main-Kinzig-Radweg) führt unter dem Motto Auf den Spuren des Spätlesereiters entlang von Rhein, Main und Kinzig über Fulda nach Tann in der Rhön. Der Main-Radweg führt von den Quellen des Weißen und des Roten Mains bis nach Mainz zur Mündung in den Rhein. Die D-Route 5 (Saar-Mosel-Main) ist ein Radweg über eine Entfernung von 1021 Kilometer von Saarbrücken über Trier, Koblenz, Mainz, Frankfurt am Main, Würzburg und Bayreuth bis zur tschechischen Grenze. Der Europäische Fernwanderweg E1 quert das Stadtgebiet von Nordwesten nach Süden. Vom Taunus kommend führt der Weg durch die Nordweststadt, den Volkspark Niddatal, den Grüneburgpark, das Westend, die Wallanlagen der Innenstadt, Sachsenhausen und den Stadtwald. Über den Berger Rücken und unterhalb des Bornheimer Hangs verläuft seit 2010 ein Zweig des deutschen Jakobswegs von der Fulda an den Main. Dieser orientiert sich an dem Verlauf der historischen Via Regia von Leipzig nach Frankfurt am Main (Des Reiches Straße). Er führt über 116 Kilometer von Fulda nach Frankfurt und gehört zum europäischen Netz der Wege der Jakobspilger nach Santiago de Compostela. Der Frankfurter Abschnitt verläuft an der Heilig-Kreuz-Kirche vorbei über den Ostpark, den Neubau der Europäischen Zentralbank auf dem Gelände der ehemaligen Großmarkthalle zum Mainufer bis zum Eisernen Steg, von dort auf dem linken Mainuferweg in Richtung Mainz und anschließend weiter nach Trier. Seit 2017 ist Frankfurt eine Etappe des Lutherwegs 1521 von Worms zur Wartburg bei Eisenach. Luther übernachtete auf seiner Reise zum Reichstag zu Worms auf dem Hin- und Rückweg zweimal in Frankfurt. === Regelmäßige Veranstaltungen === Das seit 1988 jährlich im August veranstaltete Museumsuferfest mit seiner Mischung aus Musik und Kultur ist das größte Volksfest im Rhein-Main-Gebiet. 2007 kamen an drei Tagen etwa 3,5 Millionen Besucher. Am Wäldchestag, dem Dienstag nach Pfingsten, ziehen viele Besucher zu einem Volksfest in den Frankfurter Stadtwald. Bis in die 1990er Jahre hatten an diesem Tag die meisten Frankfurter Geschäfte nachmittags geschlossen und die Arbeitnehmer hatten ab 12 Uhr frei. Deshalb wurde der Wäldchestag scherzhaft im Volksmund als Frankfurts Nationalfeiertag bezeichnet. Ein weiteres traditionelles Volksfest ist die Frankfurter Dippemess, die zweimal jährlich für drei Wochen im Frühjahr und für zehn Tage im Herbst jeweils etwa zwei Millionen Besucher anzieht. Die Dippemess geht zurück auf einen seit dem Mittelalter überlieferten Verkaufsmarkt für Haushaltswaren aller Art, insbesondere Keramikschüsseln (Dippe). Der 1393 erstmals urkundlich erwähnte Frankfurter Weihnachtsmarkt findet jährlich in der Adventszeit statt. Er ist mit rund drei Millionen Besuchern einer der großen Weihnachtsmärkte in Deutschland. Über 200 Stände erstrecken sich vom Mainkai über Römerberg, Paulsplatz Neue Kräme, Liebfrauenberg bis zur Zeil. Der Frankfurter Fastnachtsumzug ist mit über 6000 aktiven Teilnehmern, über 300.000 Zuschauern und 1,5 Kilometern Zuglänge der größte Karnevalsumzug in Hessen. Von 2003 bis 2008 fand jährlich im Sommer die Parade der Kulturen statt, ein Demonstrationszug für ein friedliches Miteinander der Menschen verschiedener Kulturen. An der letzten Parade 2008 nahmen etwa 1700 Aktive und 100.000 Zuschauer teil. Ebenfalls seit 2003 findet das Down-Sportlerfestival, eine Veranstaltung, bei der sich mehrere hundert Menschen mit Down-Syndrom (Trisomie 21) in verschiedenen Wettbewerbssportarten messen können, in Frankfurt statt. Weitere regelmäßige Veranstaltungen sind das Mainfest, der Christopher Street Day (CSD), das Rosen- und Lichterfest im Palmengarten, das Opernplatzfest, der Rheingauer Weinmarkt in der Freßgass und das Stöffchefest auf dem Römerberg. Beliebt sind zudem die Nacht der Museen im April mit etwa 40.000 Besuchern und die Nacht der Clubs. Zu den genannten Festen gibt es noch Stadtteilfeste wie das Höchster Schloßfest, das Berger Straßenfest in Bornheim, das Schweizer Straßenfest in Sachsenhausen, den auf das Jahr 1839 zurückgehenden Fastnachtszug in Heddernheim (Klaa Paris) oder das von Oberbürgermeister Walter Kolb 1951 ins Leben gerufene jährliche Lohrbergfest, Frankfurts leichtathletisches Bergsportfest für Kinder und Jugendliche. In unregelmäßigen Abständen findet das sogenannte Wolkenkratzer-Festival statt, zuletzt im Mai 2013 nach einer sechsjährigen Pause. Dabei waren 18 Hochhäuser in der Innenstadt für die Öffentlichkeit zugänglich und zogen 1,2 Millionen Besucher an. Das 1994 bis 2004 alljährlich organisierte Musikfestival Sound of Frankfurt zog bis zu 500.000 meist jüngere Besucher an. === Skurriles === Wie zwischen vielen benachbarten Städten besteht von jeher auch zwischen Frankfurt und Offenbach am Main eine gutnachbarliche Rivalität, die ihren Ausdruck unter anderem in zahlreichen Witzen über die Bewohner der jeweils anderen Stadt findet. Krieh die Kränk, Offebach ist eine traditionelle Verwünschung der Frankfurter für die Offenbacher, die auf eine Anekdote aus dem 19. Jahrhundert zurückgeht. Hintergrund ist hier, dass die beiden Städte Frankfurt und Offenbach historisch unterschiedlicher nicht sein können. Bereits seit dem Mittelalter bestanden Territorialkonflikte zwischen der Reichsstadt Frankfurt und ihren Nachbarstaaten. Nach der Reformation lagen das lutherische Frankfurt und das reformierte Offenbach in konfessionellen Streitigkeiten. Seit dem 18. Jahrhundert förderten die Grafen von Isenburg zudem die Ansiedlung von Manufakturen, die im bürgerlichen Frankfurt nicht erwünscht waren. Im 19. Jahrhundert sah sich Frankfurt weiterhin als reine Handelsstadt, während sich die Industrie in den umliegenden Gemeinden Fechenheim, Griesheim, Höchst und Offenbach ansiedelte. Erst nach der Annexion durch Preußen zog Frankfurt mit der Industrialisierung nach und überflügelte bald seine Rivalen. Im 20. Jahrhundert wuchs Frankfurt vor allem durch Eingemeindungen preußischer Vororte, während Offenbach keine Ausdehnungsmöglichkeiten hatte. Bis 1945 bildete die Grenze zwischen beiden Nachbarstädten zugleich eine Landesgrenze. Eine langjährige sportliche Rivalität pflegen die beiden Fußballvereine Kickers Offenbach und Eintracht Frankfurt sowie ihre jeweiligen Anhänger. Im Laufe der Jahre standen sich beide Mannschaften häufig im sogenannten Mainderby gegenüber, besonders häufig in den 1950er Jahren (zum Beispiel im Finale um die deutsche Fußballmeisterschaft 1959), im DFB-Pokal (zuletzt 2009) und in der Fußball-Bundesliga bis zum Abstieg der Kickers 1984. === Kulinarische Spezialitäten === In Frankfurt entwickelte sich infolge der zahlreichen wohlhabenden Gäste, die während der Kaiserkrönungen und der Messen in die Stadt strömten, bereits im 17. und 18. Jahrhundert eine hochentwickelte Gastronomie- und Hotelkultur. Im 19. Jahrhundert galt Frankfurts Küche neben der Hamburger und der Wiener als führend in Deutschland.In früheren Jahrhunderten gab es trotz fehlender Konservierungsmöglichkeiten in Frankfurt ein ausreichendes Angebot an Gemüse, Frischkräutern und Obst. Hierfür sorgten die Gärtner der umliegenden Küchendörfer Sachsenhausen, Oberrad, Niederrad und Seckbach. Umschlagplatz war der Gemüse- und Kräutermarkt in der Frankfurter Altstadt, wo die sogenannten Hockinnen, wie die Marktweiber in Frankfurter Mundart genannt wurden, frisches Gemüse, Kräuter und Obst feilboten.Zu den ältesten und bekanntesten Delikatessen gehören die seit dem Mittelalter hergestellten Frankfurter Würstchen aus Schweinefleisch. Die Frankfurter Metzger durften bis zur Einführung der Gewerbefreiheit 1864 jede Woche nur eine Sorte Vieh schlachten. In einer Verordnung von 1628 hieß es: „waß er eynen Tag geschlachtet, es sey Viehes Rind, Hammel oder Schwein, er die gantze woche bey stehen bleiben und keine Schaaf bei Hammel schlachte. Er hat aber Macht, alle woch eyn ander Viehe zu schlachten.“ Somit konnten, da es noch keine Kühltechniken gab, auch keine Fleischerzeugnisse aus unterschiedlichen Fleischsorten hergestellt werden. Im 19. und 20. Jahrhundert entstanden weitere lokale Wurstspezialitäten wie die Frankfurter Rindswurst, Frankfurter Gelbwurst und die Zeppelinwurst. Eine besondere Spezialität ist die Frankfurter Grüne Soße (frankfurterisch Frankfurter Grie Soß), auch kurz Grüne Soße bzw. Grie Soß, die traditionell aus sieben Kräutern hergestellt wird: Boretsch, Kerbel, Kresse, Petersilie, Pimpinelle, Sauerampfer und Schnittlauch. Basis der kalten Sauce, die zusammen mit hartgekochten Eiern und Salzkartoffeln gegessen wird oder als Beilage zu verschiedenen Fleisch- und Fischgerichten dient, ist die Frischkräuterkomposition „Frankfurter Grüne Soße / Frankfurter Grie Soß“. Die Zusammenstellung von in der Stadt Frankfurt und den unmittelbar angrenzenden Gemeinden hergestellten Kräutern ist seit 2016 als geschützte geografische Angabe (g.g.A.) eingetragen. Die Grüne Soße ist inzwischen Teil der lokalen Folklore. 2007 wurde ihr ein Denkmal gewidmet, und seit 2008 findet jährlich ein Grüne-Soße-Festival statt. Bekannte Süßigkeiten aus der Frankfurter Küche sind die Frankfurter Brenten und die Bethmännchen, der Haddekuche und der Frankfurter Kranz. Mit dem Niedergang des Weinbaus im 19. Jahrhundert wurde der bis dahin geringgeschätzte Apfelwein (Ebbelwoi) in Frankfurt populär, der hier seit etwa 1600 nachgewiesen ist. Er gilt als Frankfurter Traditionsgetränk, unter anderem durch den Erfolg der Fernsehsendung Zum Blauen Bock. Zum Apfelwein sind vor allem deftige Gerichte beliebt, wie Rippchen mit Kraut und Handkäs mit Musik. Es gibt in Frankfurt mit dem 1,3 Hektar großen Lohrberger Hang noch einen Weinberg. Er ist eine der kleinsten Einzellagen im Rheingau und wird vom Weingut der Stadt Frankfurt am Main bewirtschaftet. Jährlich werden in dieser Lage rund 10.000 Flaschen Riesling erzeugt, der meist trocken ausgebaut wird und in guten Jahren Spätlese-Qualität erreicht. == Persönlichkeiten == == Namenspatenschaften == Ein Einsatzgruppenversorger der Deutschen Marine trägt den Namen Frankfurt am Main. Zuvor waren schon der Kleine Kreuzer SMS Frankfurt der Kaiserlichen Marine während des Ersten Weltkrieges sowie die hölzerne Dampfkorvette Frankfurt der Flotte des Deutschen Bundes nach der Stadt benannt. In der Handelsflotte gab es unter anderem von 1900 bis 1918 den Schnelldampfer Frankfurt des Norddeutschen Lloyd und ab 1954 den Kombifrachter Frankfurt der Hapag, sowie von 1981 bis 2007 die Frankfurt Express der Hapag-Lloyd, welche von 1981 bis 1984 das größte Containerschiff der Welt war. 2010 wurde erneut ein Containerschiff mit dem Namen Frankfurt Express in Dienst gestellt. 1960 übernahm die Stadt Frankfurt eine der ersten Namenspatenschaften für ein Flugzeug der Deutschen Lufthansa. Von 1960 bis 1975 trug die Boeing 707 D-ABOD ihren Namen, von 1975 bis 1985 eine DC-10 und 1985 bis 1990 eine B747-200. 1991 taufte die Lufthansa die B747-430 mit dem Kennzeichen D-ABVF auf den Namen der Stadt, den sie bis Mai 2010 trug. Am 19. Mai 2010 erhielt der erste Airbus A380 D-AIMA der Lufthansa den Namen Frankfurt am Main.Ein 2007 entdeckter Asteroid im Asteroidengürtel trägt den Namen (204852) Frankfurt. == Auszeichnungen == 1969 erhielt die Stadt Frankfurt am Main die Winckelmann-Medaille des Deutschen Archäologischen Instituts (DAI) verliehen. 2015 belegt die Stadt Frankfurt am Main im von der internationalen Planungs- und Beratungsgesellschaft Arcadis und dem Centre for Economic Policy Research (CEPR) in London ermittelten „Sustainable Cities Index“ weltweit den ersten Platz. == Wissenswertes == Auf der letzten Serie der D-Mark-Banknoten fand sich auf der 200-D-Mark-Banknote, links neben dem Porträt des Mediziners Paul Ehrlich, eine Collage verschiedener historischer Bauwerke von Frankfurt. Dort sind die Paulskirche, der Kaiserdom, der Saalhof mit Rententurm, der Hauptbahnhof, der Eschenheimer Turm, das Wohnhaus von Paul Ehrlich in der Westendstraße, die Hauptwache, der Römer und die Römerberg Ostzeile, das Goethe-Haus und der Eiserne Steg zu sehen.Die weibliche Personifizierung Frankfurts ist die Francofurtia, die sich häufig als allegorische Darstellung an Fassaden und Denkmälern oder auf historischen Münzen und Schriftstücken findet. Zum Sammeln geeignete Gegenstände, die sich auf Frankfurt beziehen, bezeichnet man als Francofurtensien. Die Schriftart Futura wird nicht nur im Erscheinungsbild der Stadt verwendet und bei kommunalen Ämtern verwendet, sondern wird als „Frankfurter Schriftart“ von zahlreichen lokalen Vereinen und Organisationen verwendet, darunter beispielsweise die Ernst-May-Gesellschaft. == Siehe auch == == Literatur == === Geschichte === Bernhard Müller: Bilderatlas zur Geschichte der Stadt Frankfurt am Main. Verlag Moritz Diesterweg, Frankfurt am Main 1916, Reprint im Verlag W. Weidlich, Frankfurt am Main 1976, ISBN 3-8035-8904-5. Walter Gerteis: Das unbekannte Frankfurt. 3 Bände. Verlag Frankfurter Bücher, Frankfurt am Main 1960–1963 (populäre, essayistisch-anekdotische Stadtgeschichte). Friedrich Bothe: Geschichte der Stadt Frankfurt am Main. Verlag Wolfgang Weidlich, Frankfurt am Main 1977, ISBN 3-8035-8920-7. Waldemar Kramer (Hrsg.): Frankfurt Chronik. Verlag Waldemar Kramer, Frankfurt am Main 1987 (3. Auflage), ISBN 3-7829-0321-8. Frankfurter Historische Kommission (Hrsg.): Frankfurt am Main – Die Geschichte der Stadt in neun Beiträgen. (= Veröffentlichungen der Frankfurter Historischen Kommission. Band XVII). Jan Thorbecke, Sigmaringen 1991, ISBN 3-7995-4158-6. Lothar Gall (Hrsg.): FFM 1200. Traditionen und Perspektiven einer Stadt. Jan Thorbecke Verlag, Sigmaringen 1994, ISBN 3-7995-1203-9 (Katalog zur 1200-Jahrfeier 1994 mit wiss. Aufsätzen). Ernst Mack: Von der Steinzeit zur Stauferstadt. Die frühe Geschichte von Frankfurt am Main. Verlag Josef Knecht, Frankfurt am Main 1994, ISBN 3-7820-0685-2. Frolinde Balser: Aus Trümmern zu einem europäischen Zentrum: Geschichte der Stadt Frankfurt am Main 1945–1989. Hrsg.: Frankfurter Historische Kommission (= Veröffentlichungen der Frankfurter Historischen Kommission. Band 20). Jan Thorbecke, Sigmaringen 1995, ISBN 3-7995-1210-1. === Architektur === Bau- und Informationsamt Frankfurt am Main: Kunst + Bau in Frankfurt am Main. Text: Günther Vogt, 1971. Heinz Ulrich Krauß: Frankfurt am Main. Daten, Schlaglichter, Baugeschehen. Societäts-Verl., Frankfurt am Main 1997, ISBN 3-7973-0626-1. (Chronik mit Schwerpunkt auf Architektur und Baugeschichte). Ulf Jonak: Die Frankfurter Skyline. Campus, Frankfurt am Main – New York 1997, ISBN 3-593-35822-0. (Kritische Betrachtung des Hochhausbaus). Clemens Jöckle: 100 Bauwerke in Frankfurt am Main, Regensburg, Schnell & Steiner, 1998, ISBN 3-7954-1166-1. Dieter Bartetzko: Frankfurts hohe Häuser. Insel, Frankfurt am Main – Leipzig 2001, ISBN 3-458-34353-9. (Darstellung des Hochhausbaus in Frankfurt). Wolf-Christian Setzepfandt: Architekturführer Frankfurt am Main / Architectural Guide. 3. Auflage. Dietrich Reimer Verlag, Berlin 2002, ISBN 3-496-01236-6. Heinz Schomann: Frankfurt am Main und Umgebung. Von der Pfalzsiedlung zum Bankenzentrum. Dumont Kunstreiseführer. Dumont, Köln 2003, ISBN 3-7701-6305-2. (mit Schwerpunkt Architektur). Matthias Alexander, Gerd Kittel: Hochhäuser in Frankfurt. Societäts-Verlag, Frankfurt am Main 2006, ISBN 3-7973-1000-5. Christof Bodenbach (Hrsg.): Neue Architektur in Frankfurt am Main. Junius Verlag, Hamburg 2008, ISBN 978-3-88506-583-8. Angela Pfotenhauer, Elmar Lixenfeld und Uwe Dettmer: Frankfurt am Main. Deutsche Stiftung Denkmalschutz, 2009, ISBN 978-3-86795-009-1. Christian Freigang, Markus Dauss und Evely Brockhoff: Das „Neue“ Frankfurt, Innovationen in der Frankfurter Kunst vom Mittelalter bis heute. Verlag Waldemar Kramer, Frankfurt am Main 2010, ISBN 978-3-86539-673-0. Christian Grau, André Risto und Willi Bucher (Hrsg.): Frankfurt. Der andere Blick. Theiss Verlag, Stuttgart 2010, ISBN 978-3-8062-2388-0 (Aufnahmen aus der Luft). Philipp Sturm, Peter Cachola Schmal: Hochhausstadt Frankfurt. Bauten und Visionen seit 1945, Prestel, München 2014, ISBN 978-3-7913-5363-0. Philipp Sturm, Peter Cachola Schmal: Die immer Neue Altstadt. Bauen zwischen Dom und Römer seit 1900, Jovis, Berlin 2018, ISBN 978-3-86859-501-7. === Verschiedenes === Ausgewählte Frankfurter Mundartdichtung. Verlag Waldemar Kramer, Frankfurt am Main 1966, ISBN 3-7829-0067-7. Helmut Bode: Frankfurter Sagenschatz. 100 Sagen und sagenhafte Geschichten, nach den Quellen und älteren Sammlungen sowie der Lersnerschen Chronik neu erzählt. 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Konfliktfelder, Orte und soziale Kämpfe, transcript, Bielefeld 2021, ISBN 978-3-8376-5477-6. == Film == Kunststudentin Ursula, Werbefilm für die Stadt Frankfurt am Main, Deutschland, 1956/57, 19:41 min., Herausgeber: Boehner-Film Fritz Boehner KG (Hamburg + Erlangen), Auftraggeber: Stadt Frankfurt am Main, unterstützt durch das Verkehrs- und Wissenschaftsamt, Kunststudentin Ursula in der Deutschen Digitalen Bibliothek So war das alte Hessen – Frankfurt. Dokumentarfilm, Deutschland, 2013, 43:40 min., Buch und Regie: Jörg Adrian Huber, Produktion: Hessischer Rundfunk, Reihe: So war das alte Hessen, Erstsendung: 9. April 2013 bei HR3, Inhaltsangabe von ARD. FRANKFURTinsights – Die 1000 Wunder von Frankfurt, Dokumentarserie, Deutschland, 2014–2015, 8 mal 5 Min., Konzeption und Regie: Thomas Pohl, Produktion: Department Studios Filmproduktion, Auftraggeber: Presse- & Informationsamt der Stadt Frankfurt am Main, Erstsendung: 1. April 2014, u. a. mit Oberbürgermeister Peter Feldmann, Frankfurter Feuerwehr, Liebieghaus, Sprengung des Uniturms, Rettungshubschrauber Christoph 2, Link zu den Filmen == Weblinks == Offizielle Webpräsenz der Stadt Frankfurt am Main Webpräsenz von Frankfurt Tourismus Stadt Frankfurt am Main (Kreis). Historisches Ortslexikon. In: Landesgeschichtliches Informationssystem Hessen (LAGIS). Vereinswiki von Frankfurt am Main Linkkatalog zum Thema Frankfurt am Main bei curlie.org (ehemals DMOZ) Kulturportal der Stadt Frankfurt am Main Literatur über Frankfurt am Main nach Register nach GND In: Hessische Bibliographie Literatur von und über Frankfurt am Main im Katalog der Deutschen Nationalbibliothek == Einzelnachweise ==
https://de.wikipedia.org/wiki/Frankfurt_am_Main
Linux
= Linux = Als Linux (deutsch [ˈliːnʊks] ) oder GNU/Linux (siehe GNU/Linux-Namensstreit) bezeichnet man in der Regel freie, unixähnliche Mehrbenutzer-Betriebssysteme, die auf dem Linux-Kernel und wesentlich auf GNU-Software basieren. Die weite, auch kommerzielle Verbreitung wurde ab 1992 durch die Lizenzierung des Linux-Kernels unter der freien Lizenz GPL ermöglicht. Einer der Initiatoren von Linux war der finnische Programmierer Linus Torvalds. Er nimmt bis heute eine koordinierende Rolle bei der Weiterentwicklung des Linux-Kernels ein und wird auch als Benevolent Dictator for Life (deutsch „wohlwollender Diktator auf Lebenszeit“) bezeichnet. Das modular aufgebaute Betriebssystem wird von Softwareentwicklern auf der ganzen Welt weiterentwickelt, die an den verschiedenen Projekten mitarbeiten. An der Entwicklung sind Unternehmen, Non-Profit-Organisationen und viele Freiwillige beteiligt. Beim Gebrauch auf Computern kommen meist sogenannte Linux-Distributionen zum Einsatz. Eine Distribution fasst den Linux-Kernel mit verschiedener Software zu einem Betriebssystem zusammen, das für die Endnutzung geeignet ist. Dabei passen viele Distributoren und versierte Benutzer den Kernel an ihre eigenen Zwecke an. Linux wird vielfältig und umfassend eingesetzt, beispielsweise auf Arbeitsplatzrechnern, Servern, Mobiltelefonen, Routern, Notebooks, Embedded Systems, Multimedia-Endgeräten und Supercomputern. Dabei wird Linux unterschiedlich häufig genutzt: So ist Linux im Server-Markt wie auch im mobilen Bereich eine feste Größe, während es auf dem Desktop und Laptops eine noch geringe, aber wachsende Rolle spielt. Im Januar 2022 war es in Deutschland auf 4,19 % der Systeme installiert.Linux wird von zahlreichen Nutzern verwendet, darunter private Nutzer, Regierungen, Organisationen und Unternehmen. == Geschichte == === Entwicklungen im Vorfeld === 1983 rief Richard Stallman das GNU-Projekt ins Leben. Ziel war es, ein frei verfügbares Unix-ähnliches, POSIX-kompatibles Betriebssystem zu schaffen. Zwar war Anfang der 90er Jahre bereits eine beachtliche Menge an Software geschrieben worden, doch der eigentliche Betriebssystemkern (GNU Hurd) steckte noch in den Kinderschuhen und entwickelte sich nur langsam. Die ebenfalls freie Berkeley Software Distribution, die sich in den 80er Jahren entwickelt hatte, war in einen Rechtsstreit mit ungewissem Ausgang verwickelt und stellte aus diesem Grund ebenfalls keine Alternative als freies Betriebssystem dar. Somit stand Anfang der 90er Jahre kein vollständiges freies System zur Verfügung, das für Entwickler interessant gewesen wäre. === Historische Entwicklung === 1991 begann Linus Torvalds in Helsinki (Finnland) mit der Entwicklung einer Terminal-Emulation, um unter anderem seinen eigenen Computer besser zu verstehen. Mit der Zeit merkte er, dass sich das System immer mehr zu einem Betriebssystem entwickelte; daraufhin kündigte er es in der Usenet-Themengruppe für das Betriebssystem Minix, comp.os.minix, an. Im September desselben Jahres sollte das System dann auf einem Server den Interessierten zur Verfügung gestellt werden. Dem damaligen FTP-Server-Administrator Ari Lemmke gefiel keiner der von Torvalds vorgeschlagenen Namen Freax oder Buggix, deshalb veröffentlichte er es stattdessen in einem Verzeichnis mit dem Namen Linux. Torvalds war mit diesem Namen zunächst nicht einverstanden, gab seinen Widerstand aber schnell auf, weil er nach eigener Aussage eingestehen musste, dass Linux einfach ein besserer Name war. Linux wurde zu dieser Zeit noch unter einer proprietären Lizenz von Torvalds veröffentlicht, welche die kommerzielle Nutzung verbot. Er merkte jedoch bald, dass das den Fortschritt der Entwicklung behinderte. Er wollte allen Entwicklern deutlich mehr Freiraum geben und stellte Linux deshalb im Januar 1992 unter die GNU GPL. Es war nun möglich, Linux in GNU zu integrieren und dies als das erste freie Betriebssystem zu vertreiben. Dieser Schritt machte das System für eine noch größere Zahl von Entwicklern interessanter, da er die Modifizierung und Verbreitung vereinfachte. === Die Bezeichnung GNU/Linux === Die Bezeichnung Linux wurde von Torvalds anfänglich nur für den von ihm geschriebenen Kernel genutzt. Dieser wurde anfänglich auf Minix verwendet. Torvalds und die anderen Linux-Autoren lizenzierten 1992 Linux unter der GNU GPL, so dass der Kernel in GNU integriert werden konnte. Diese GNU-Variante wurde schnell zur meist genutzten Variante, da es zu dieser Zeit keinen anderen funktionsfähigen freien Kernel gab. Als Torvalds und seine Anhänger später auch das gesamte Betriebssystem als Linux bezeichneten, versuchte der Gründer des GNU-Projekts, Richard Stallman, bald, den Namen GNU/Linux durchzusetzen, um der Rolle von GNU eine in seinen Augen angemessene Geltung zu verschaffen. Diese Forderung stieß auf unterschiedliche Reaktionen. Während das GNU-Projekt und das Debian-Projekt den Namen annahmen, lehnten die meisten Entwickler und anderen Linux-Distributoren dies ab oder widersetzten sich deutlich. Begründet wurde dies einerseits mit Bequemlichkeit, weil der Name Linux als einfacher angesehen wurde, und andererseits mit dem Hinweis, dass mittlerweile eine beachtliche Menge der mit Linux ausgelieferten Software nicht aus dem GNU-Projekt stamme. === Entwicklung === Die Entwicklung des Linux-Kernels wird nach wie vor von Torvalds organisiert. Er ist dafür bei der gemeinnützigen Linux Foundation angestellt. Andere wichtige Entwickler werden oft von verschiedenen Firmen bezahlt. So arbeitet z. B. Andrew Morton im Auftrag von Google am Linux-Kernel und ist im sogenannten Merge Window dafür zuständig, alle Änderungen zu sammeln und an Torvalds weiterzuleiten. Neben der Kernel-Entwicklung haben sich auch andere Projekte um das Betriebssystem gesammelt, die es für eine größere Nutzerzahl interessant machten. So ermöglichen grafische Benutzeroberflächen wie KDE oder Gnome einen hohen Benutzerkomfort beim Einsatz als Desktop-System. Verschiedene auf den Desktop ausgelegte Linux-Distributionen vereinfachten die Installation und Konfiguration von Linux so weit, dass sie auch von Anfängern problemlos gemeistert werden können. Eine weltweite Entwickler- und Anwendergemeinde erstellt eine Vielzahl weiterer Software und Dokumentation rund um Linux, wodurch sich die Einsatzmöglichkeiten enorm erweitert haben. Hinzu kommt, dass Hersteller proprietärer Software zunehmend einen Markt bei Linux-Anwendern erkennen und mit der Zeit immer mehr Programme für Linux anbieten. Die Entwicklung von Freier Software erfolgt dabei sowohl in selbstorganisierten Projekten, die aus ehrenamtlichen und bezahlten Entwicklern bestehen, als auch in Stiftungen, die teilweise von Unternehmen unterstützt werden. Allen Modellen ist gemeinsam, dass sie stark über das Internet vernetzt sind und dort ein Großteil der Organisation und Abstimmung stattfindet. === Streit um Linux === Schon früh kam es rund um Linux zum Streit. 1992 griff Andrew S. Tanenbaum Linux wegen eines aus seiner Sicht veralteten Designs und eines zu liberalen Entwicklungsmodells an. Später kam Tanenbaum erneut ins Spiel, als Ken Brown an seinem Buch Samizdat schrieb und nach Anhaltspunkten suchte, dass Linux nur eine Kopie von Tanenbaums Minix sei. Tanenbaum nahm Linux diesmal in Schutz. Linux habe ein zu schlechtes Design, als dass es abgeschrieben sein könne. Anderen Streit gab es mit erklärten Konkurrenten. Schon früh wurden interne Microsoft-Dokumente (Halloween-Dokumente) bekannt, die aufzeigten, dass Microsoft annahm, Linux sei die größte Gefahr für Windows. Später begann Microsoft mit einer Kampagne, um Windows bei einer Gegenüberstellung mit Linux technisch wie wirtschaftlich gut aussehen zu lassen. Während die Community diese Kampagne recht gelassen sah, starteten vor allem Unternehmen im Linux-Umfeld Gegenkampagnen. Im Herbst 2006 aber kündigten Microsoft und Novell an, bei Interoperabilität und Patentschutz zusammenzuarbeiten, um so die Zusammenarbeit der einzelnen Produkte zu verbessern. Ein anderer Konkurrent, der Unix-Hersteller SCO, erhob wiederum 2003 den Vorwurf, dass bei IBM angestellte Linux-Entwickler Quellcode von SCOs Unix in Linux kopiert hätten. Das Verfahren wurde im Sommer 2007 eingestellt, die SCO Group hat mittlerweile Insolvenz angemeldet und wurde vom Börsenhandel ausgeschlossen. 2013 wurde eine Wiederaufnahme des Verfahrens beantragt. Im Artikel SCO gegen Linux ist der Streit chronologisch dokumentiert. Ebenfalls machte das Markenrecht Linux schon früh zu schaffen. So ließen einige Privatpersonen Mitte der 1990er Jahre den Namen Linux auf sich eintragen, was Torvalds nur mit viel Hilfe wieder rückgängig machen konnte. Er übertrug die Verwaltung der Markenrechte an das Linux Mark Institute, welches wiederum im Jahr 2005 auffiel, als es die Lizenzen für den Markenschutz auf bis zu 5.000 Dollar pro Jahr festlegte. Diese Summe brachte hauptsächlich viele an Community-Projekten beteiligte Gemüter in Wallung, woraufhin sich Torvalds genötigt fühlte, in einem offenen Brief Stellung zu nehmen und klarzustellen, dass das Geld schlichtweg benötigt werde, damit das gemeinnützig arbeitende Linux Mark Institute seine eigenen Kosten decken könne. == Der Kernel == === Technik === Die Bezeichnung Linux wurde von Linus Torvalds anfänglich nur für den Kernel genutzt, dieser stellt der Software eine Schnittstelle zur Verfügung, mit der sie auf die Hardware zugreifen kann, ohne sie genauer zu kennen. Der Linux-Kernel ist ein in der Programmiersprache C geschriebener monolithischer Kernel, wobei einige GNU-C Erweiterungen benutzt werden. Wichtige Teilroutinen sowie zeitkritische Module sind jedoch in prozessorspezifischer Assemblersprache programmiert. Der Kernel ermöglicht es, nur die für die jeweilige Hardware nötigen Treiber zu laden. Weiterhin übernimmt der Kernel auch die Zuweisung von Prozessorzeit und Ressourcen zu den einzelnen Programmen, die auf ihm gestartet werden. Bei den einzelnen technischen Vorgängen orientiert sich das Design von Linux stark an seinem Vorbild Unix. Der Linux-Kernel wurde zwischenzeitlich auf eine sehr große Anzahl von Hardware-Architekturen portiert. Das Repertoire reicht von eher exotischen Betriebsumgebungen wie dem iPAQ-Handheld-Computer, Navigationsgeräten von TomTom oder gar Digitalkameras bis hin zu Großrechnern wie IBMs System z und auch Mobiltelefonen wie dem Motorola A780 sowie Smartphones mit Betriebssystemen wie Android oder Sailfish OS auf dem Jolla. Trotz Modulkonzept blieb die monolithische Grundarchitektur erhalten. Die Orientierung der Urversion auf die verbreiteten x86-PCs führte früh dazu, verschiedenste Hardware effizient zu unterstützen und die Bereitstellung von Treibern auch unerfahrenen Programmierern zu ermöglichen. Die hervorgebrachten Grundstrukturen beflügelten die Verbreitung. === Kernel-Versionen === Alle Kernel-Versionen werden auf kernel.org archiviert. Die dort zu findende Version ist der jeweilige Referenzkernel. Auf diesem bauen die sogenannten Distributionskernel auf, die von den einzelnen Linux-Distributionen um weitere Funktionen ergänzt werden. Eine Besonderheit stellt das aus vier Zahlen bestehende und durch Punkte getrennte Versionsnummernschema dar, z. B. 2.6.14.1. Sie gibt Auskunft über die genaue Version und damit auch über die Fähigkeiten des jeweiligen Kernels. Von den vier Zahlen wird die letzte für Fehlerbehebungen und Aufräumarbeiten geändert, aber nicht für neue Funktionen oder tiefgreifende Änderungen. Aus diesem Grund wird sie z. B. beim Vergleich von Kernel-Versionen nur selten angegeben. Die vorletzte, dritte Ziffer wird geändert, wenn neue Fähigkeiten oder Funktionen hinzugefügt werden. Gleiches gilt für die ersten beiden Zahlen, wobei hier die Änderungen und neuen Funktionen drastischer ausfallen müssen. Ab Version 3.0 (August 2011) wird auf die zweite Zahl verzichtet. === Entwicklungsprozess === Die Entwicklung von Linux liegt durch die GPL und durch ein sehr offenes Entwicklungsmodell nicht in der Hand von Einzelpersonen, Konzernen oder Ländern, sondern in der Hand einer weltweiten Gemeinschaft vieler Programmierer, die sich in erster Linie über das Internet austauschen. In vielen E-Mail-Listen, aber auch in Foren und im Usenet besteht für jedermann die Möglichkeit, die Diskussionen über den Kernel zu verfolgen, sich daran zu beteiligen und auch aktiv Beiträge zur Entwicklung zu leisten. Durch diese unkomplizierte Vorgehensweise ist eine schnelle und stetige Entwicklung gewährleistet, die auch die Möglichkeit mit sich bringt, dass jeder dem Kernel Fähigkeiten zukommen lassen kann, die er benötigt. Eingegrenzt wird dies nur durch die Kontrolle von Linus Torvalds und einigen speziell ausgesuchten Programmierern, die das letzte Wort bei der Aufnahme von Verbesserungen und Patches haben. Auf diese Weise entstehen täglich grob 4.300 Zeilen neuer Code, wobei auch täglich ungefähr 1.800 Zeilen gelöscht und 1.500 geändert werden (Angaben nach Greg Kroah-Hartman als Durchschnitt für das Jahr 2007). An der Entwicklung sind derzeit ungefähr 100 Verantwortliche („maintainer“) für 300 Subsysteme beteiligt. === Beispiele für Details an Kerneländerungen === ==== Neuerungen im Kernel 2.6 ==== Der stabile Kernel 2.6 wurde ab Dezember 2001 auf Basis des damaligen 2.4er-Kernels entwickelt und weist eine Reihe von Neuerungen auf. Die auffälligste Auswirkung dieser Änderungen ist, dass graphische und interaktive Anwendungen deutlich schneller ausgeführt werden. Eine der wichtigsten Änderungen war dabei die Verbesserung des sogenannten O(1)-Schedulers, den Ingo Molnár für den 2.6er-Kernel komplett neu konzipierte. Er hat die Fähigkeit, das Zuweisen von Prozessorzeit zu unterschiedlichen Prozessen unabhängig von der Anzahl der Prozesse in konstanter Zeit zu erledigen. Seit Kernel 2.6.23 kommt allerdings stattdessen der sogenannte Completely Fair Scheduler zum Einsatz. Eine andere Neuerung stellt die Einführung von Access Control Lists dar, mit deren Hilfe ein sehr fein abgestimmtes Rechtemanagement möglich ist, was vor allen Dingen in Umgebungen mit vielen Benutzern sehr wichtig ist. Ebenso verfügt der neue Kernel über ein deutlich verbessertes System der Dateiüberwachung. In der neuen Version, Inotify genannt, gibt die Überwachung bei jeder Operation an einer Datei eine Nachricht ab, was z. B. für Desktop-Suchmaschinen wichtig ist, die daraufhin ihren Index in Bezug auf diese Datei aktualisieren können. == Distributionen == Da der Linux-Kernel allein nicht lauffähig oder benutzbar wäre, muss er zusammen mit Hilfssoftware, wie den GNU Core Utilities und vielen anderen Anwendungsprogrammen verteilt werden. Eine solche Zusammenstellung nennt man „Linux-Distribution“, sie ist eine Zusammenstellung verschiedener Software, die je nach Anforderung unterschiedlich sein kann. Die so entstandenen Distributionen unterscheiden sich zum Teil erheblich. Der Herausgeber einer Linux-Distribution ist der Distributor. === Geschichte der Linux-Distributionen === Die Notwendigkeit von Linux-Distributionen ergab sich durch das Entwicklungsmodell von Linux nahezu sofort. Die Werkzeuge des GNU-Projekts wurden zügig für Linux angepasst, um ein arbeitsfähiges System bereitstellen zu können. Die ersten Zusammenstellungen dieser Art waren 1992 MCC Interim Linux, Softlanding Linux System (SLS) und Yggdrasil Linux. Die älteste heute noch existierende Distribution, Slackware von Patrick Volkerding, folgte 1993 und stammt von Softlanding Linux System ab. Mit der Ausbreitung der Linux-Distributionen bekamen mehr Menschen die Möglichkeit, das System zu testen, des Weiteren wurden die Distributionen immer umfangreicher, so dass ein immer größerer Einsatzbereich erschlossen werden konnte, was Linux zunehmend zu einer attraktiven Alternative zu Betriebssystemen etablierter Hersteller werden ließ. Im Laufe der Zeit änderte sich auch der Hintergrund der Distributionen: Wurden die ersten Distributionen noch der Bequemlichkeit halber und von Einzelpersonen oder kleinen Gruppen geschrieben, gibt es heutzutage teilweise sehr große Gemeinschaftsprojekte Freiwilliger, Unternehmens-Distributionen oder eine Kombination aus beidem. === Moderne Distributionen === Hinter den meisten, vorrangig kleinen Distributionen stehen über das Internet koordinierte Projekte Freiwilliger. Die großen Distributionen werden eher von Stiftungen und Unternehmen verwaltet. Auch die Einsatzmöglichkeiten der einzelnen Distributionen differenzierten sich mit der Zeit stark. Vom Desktop-PC über Server-Installationen und Live-CDs bis hin zu Distributionen zu technischen Forschungszwecken ist alles vertreten. Die Zusammensetzung einer üblichen Linux-Distribution für den Desktop-PC umfasst eine große Zahl von Softwarekomponenten, die das tägliche Arbeiten ermöglichen. Die meisten Distributionen werden in Form fertiger CD- oder DVD-Images im Internet bereitgestellt oder mit Support-Verträgen oder Handbüchern verkauft. Für besondere Anwendungsgebiete existieren oft keine direkt installierbaren Distributionen. Hier werden Frameworks wie OpenEmbedded z. B. für Router oder Handys verwendet, um eine Distribution für den Einsatz auf dem Gerät vorzubereiten. === Vielfalt === Es wird eine große Anzahl an Distributionen angeboten, die dem Benutzer eine sehr feine Abstimmung der Auswahlkriterien auf die eigenen Bedürfnisse ermöglicht. Die Auswahl der geeignetsten Distribution ist für viele unerfahrene Benutzer daher nicht einfach. Die verwendete Software kann mehr Gewicht für Privatanwender haben als für Unternehmen, die wiederum mehr Wert auf die Verfügbarkeit eines offiziellen Kundendienstes („Support“) legen. Auch kann die Politik des Projekts oder die des Unternehmens hinter der Distribution, z. B. in Bezug auf proprietäre Software, ebenso eine Rolle spielen wie die Eigenschaften der Community in diesem Projekt. Die Liste von Linux-Distributionen enthält eine Aufzählung der wichtigsten oder populärsten Distributionen. === Kompatibilität zwischen den Distributionen === Die Vielfalt der Distributionen, die teilweise verschiedene binäre Formate, eigene Verzeichnisstrukturen und ähnliche Unterschiede aufweisen, führt zu einem gewissen Grad an Inkompatibilität zwischen den Distributionen, der bisher auch durch Richtlinien wie den Filesystem Hierarchy Standard und der Linux Standard Base nicht behoben werden konnte. So kann Software, die für die Distribution A bereitgestellt wird, nicht notwendigerweise auch auf der Distribution B installiert werden. Verschiedene Sichtweisen und Lösungsansätze zu dieser Problematik werden im Hauptartikel Linux-Distribution näher beleuchtet. == Einsatzbereiche == Die Einsatzgebiete von Linux sind seit der ersten Version stetig erweitert worden und decken heutzutage einen weiten Bereich ab. === Desktop-Systeme === Linux, beziehungsweise eine Linux-Distribution, lässt sich als allein installiertes Betriebssystem betreiben, aber auch innerhalb eines Multi-Boot-Systems einsetzen oder als Live-System von USB-Stick oder optischen Medien betreiben. Parallel installieren kann man Linux beispielsweise neben Windows oder einem BSD wie FreeBSD oder macOS. Moderne Distributionen wie OpenSUSE, Debian, MX Linux oder Ubuntu führen den Nutzer mit Hilfe von grafischen Benutzeroberflächen durch die Installation auf dem PC und erkennen andere Betriebssysteme nahezu immer selbstständig. Aus weit über tausend kostenlosen Programmen kann eine individuelle Kombination ausgewählt werden. Textverarbeitung, Tabellenkalkulation, Multimedia-Anwendungen, Netzwerktools, Spiele oder wissenschaftliche Anwendungen decken die meisten Anwendungsbereiche ab, die im Büroalltag und im Privatbereich wichtig sind. Trotz des Sicherheitsvorsprungs gegenüber dem am weitesten verbreiteten Betriebssystem Windows und der Möglichkeit der Parallelinstallation und umfangreichen, kostenlosen Softwareangebots wird Linux auf Desktoprechnern nur zögerlich eingesetzt. Auch wenn sich die verbreitetsten Linux-Desktop-Umgebungen ähnlich bedienen lassen wie Windows oder macOS, unterscheiden sie sich durch diverse Systemfunktionen von ihnen. Daher kann wie bei fast jedem Wechsel des Betriebssystems eine gewisse Einarbeitungszeit nötig sein. Die Installation der meisten Distributionen ist einfach und gibt geläufige Einstellungen vor, auch die Installation der Anwendungen läuft meist vollautomatisch ab, da sie üblicherweise von einem Paketmanager übernommen wird. Da das genaue Vorgehen aber nicht bei allen Linux-Distributionen einheitlich geregelt ist, kann ein Wechsel der Linux-Distribution Einarbeitungszeit erfordern. Die Installation von Programmen, die nicht zum Umfang der Distribution gehören, kann unterschiedlich sein: Im Idealfall existiert eine Paketquelle der Programmentwickler, die im Paketmanager eingebunden werden und über diesen dann installiert werden kann. Daneben gibt es für eine Reihe von Programmen Pakete, die auf die Distribution abgestimmt zum Download verfügbar sind. Im ungünstigsten Fall muss die Software als Quellcode bezogen werden und für das jeweilige System kompiliert werden. Anwendungen, die vom Anbieter nur für macOS oder Windows auf den Markt gebracht wurden, kann man i. d. R. unter Linux mittels API-Implementierungen wie Wine, Cedega oder Darling bzw. GNUstep verwenden. In anderen Fällen muss man zu alternativen Anwendungen greifen, die für Linux verfügbar sind. Die beiden weit verbreiteten Desktop-Umgebungen Gnome und KDE haben unterschiedliche Bedienungskonzepte, weshalb viele Distributoren Standards und Richtlinien veröffentlichen, um sowohl Entwicklern als auch Nutzern den Umgang mit verschiedenen Desktop-Umgebungen nahezubringen und ihn zu vereinheitlichen. Bekannt geworden sind größere Migrationen von Unternehmen oder Institutionen, die mehrere hundert oder tausend Rechner auf Linux-Desktops umgestellt haben, wie die Stadt München im Rahmen des LiMux-Projekts oder die Umstellung von 20.000 Desktops bei Peugeot Citroën. Die Stadt Schwäbisch Hall hat ebenfalls die Verwaltung auf Linux umgestellt. Durch die Auslieferung vorinstallierter Systeme durch einige Fachhändler sowie die wachsende Beliebtheit einiger Distributionen wie Ubuntu wuchs die Linux-Verwendung auf Desktoprechnern von Anfang 2007 bis Mitte 2008 um fast 30 Prozent. Weltweit wurde im April 2009 im Market-Share-Report von Net Applications erstmals ein Marktanteil von einem Prozent ermittelt. Nachdem er 2010 gemäß NetMarketShare wieder auf 0,9 % gefallen war, stieg der Marktanteil bis Dezember 2011 auf 1,41 %. Ende 2016 lag der Marktanteil bei 2,2 %. === Server === Aufgrund der Kompatibilität von Linux mit anderen unixoiden Systemen hat sich Linux auf dem Servermarkt besonders schnell etabliert. Da für Linux schon früh zahlreiche häufig verwendete und benötigte Serversoftware wie Webserver, Datenbankserver und Groupware kostenlos und weitgehend uneingeschränkt zur Verfügung stand, wuchs dort der Marktanteil stetig. Da Linux als stabil und einfach zu warten gilt, erfüllt es auch die besonderen Bedingungen, die an ein Server-Betriebssystem gestellt werden. Der modulare Aufbau des Linux-Systems ermöglicht zusätzlich das Betreiben kompakter, dedizierter Server. Außerdem hat die Portierung von Linux auf verschiedenste Hardwarekomponenten dazu geführt, dass Linux alle bekannten Serverarchitekturen unterstützt. Eingesetzt wird es dabei für praktisch alle Aufgaben. Eines der bekanntesten Beispiele ist die Linux-Server-Konfiguration LAMP, bei der Linux mit Apache, MySQL und PHP/Perl (manchmal auch Python) kombiniert wird. Auch proprietäre Geschäftssoftware wie SAP R/3 ist mittlerweile auf verschiedenen Distributionen verfügbar und hat eine Installationszahl von über 1.000 Systemen erreicht. Das Linux Terminal Server Project ermöglicht es, sämtliche Software außer dem BIOS der Clients zentral zu verwalten. Da Linux auf einer Vielzahl von verschiedenen Hardwaretypen betrieben werden kann, ist auch die für Linux-Server genutzte Hardware ähnlich umfangreich. Auch moderne Hardware wie die von IBMs eServer p5 wird unterstützt und ermöglicht dort das parallele Ausführen von bis zu 254 Linux-Systemen (Modell p595). Auf IBM-Großrechnern der aktuellen System-z-Linie läuft Linux wahlweise nativ, mittels PR/SM in bis zu 30 LPARs oder in jeder davon unter z/VM in potenziell unbegrenzt vielen, real einigen zehntausend virtuellen Maschinen. Im Januar 2017 wurden mindestens 34 % aller Websites über einen Linux-Server bereitgestellt. Da sich nicht alle Linux-Server als solche zu erkennen geben, könnte der tatsächliche Anteil um bis zu 31 Prozentpunkte höher liegen. Ein tatsächlicher Marktanteil von bis zu ca. 65 % ist daher nicht auszuschließen. Der Marktanteil der verkauften Linux-Server-Systeme lag im zweiten Quartal 2013 bei 23,2 %. Da es nicht unüblich ist, dass auf Servern vom Kunden selbst ein anderes Betriebssystem installiert wird, gibt diese Zahl nur bedingt Auskunft über die tatsächliche Nutzung von Linux auf Serversystemen. === Smartphone- und Tablet-Systeme === Für Smartphones und Tablets gibt es speziell optimierte Linux-Distributionen. Sie bieten neben den Telefonie- und SMS-Funktionen diverse PIM-, Navigations- und Multimedia-Funktionen. Die Bedienung erfolgt typischerweise über Multi-Touch oder mit einem Stift. Linux-basierte Smartphonesysteme werden meist von einem Firmenkonsortium oder einer einzelnen Firma entwickelt und unterscheiden sich teilweise sehr stark von den sonst klassischen Desktop-, Embedded- und Server-Distributionen. Anders als im Embedded-Bereich sind Linux-basierte Smartphonesysteme aber nicht auf ein bestimmtes Gerät beschränkt, vielmehr dienen sie als Betriebssystem für Geräte ganz unterschiedlicher Modellreihen und werden oft herstellerübergreifend eingesetzt. Die Architektur dieser Smartphone- und Tablet-Distributionen hat neben dem Linux-Kernel teilweise wenig mit den klassischen Distributionen zu tun. So wird von Android nur ein Teil der sonst üblichen GNU-Software-Umgebung genutzt. Die meist auf Linux genutzten UNIX-artigen Dienste und Tools werden teilweise durch eine Java-Laufzeitumgebung ersetzt. Dadurch entstehen neue Programmierschnittstellen, die sich auf beliebigen anderen Plattformen emulieren bzw. umsetzen lassen. Trotzdem wird Android als Linux-Distribution angesehen, die viele Eigenschaften mitbringt, die es mit zahlreichen Embedded-Linux-Distributionen teilt. Andere Smartphone-Distributionen, wie etwa Firefox OS, Ubuntu for phones, Maemo, Tizen, Mer, Sailfish OS und MeeGo nutzen größere Teile der klassischen GNU-Software-Umgebung, so dass diese Distributionen teilweise einfacher mit klassischen Linux-Anwendungen ergänzt werden können und somit eher Linux-Distributionen im klassischen Sinne entsprechen. Das von HP Palm entwickelte WebOS setzt ebenfalls auf dem Linux-Kernel auf, das Userland jedoch besteht aus einer proprietären Entwicklung unter anderer Lizenz. Auch das ehemals von Samsung entwickelte Bada war neben einem RTOS-Kernel auch auf einem Linux-Kernel nutzbar, was aber von Samsung nie in dieser Kombination verkauft wurde. Linux-Systeme haben seit Ende 2010 die Marktführerschaft auf dem schnell wachsenden Smartphone-Markt übernommen. Sie weisen in Deutschland seit Februar 2013 durchgehend einen Marktanteil von über 70 % auf mit einem bisherigen Maximum von über 82 % im Juli 2014 (Anteile Linux-basierter Alternativen zu Android wurden in der Statistik nicht explizit angegeben). Vorwiegend Android-Geräte haben iOS, Windows Phone und Symbian erfolgreich zurückgedrängt. === Supercomputer === Da Linux beliebig angepasst und optimiert werden kann, hat es sich auch in Rechenzentren stark verbreitet, in denen speziell angepasste Versionen auf Großrechnern, Computerclustern (siehe Beowulf) oder Supercomputern laufen. In der TOP500-Liste der schnellsten Supercomputer (Stand Juni 2018) werden alle gelisteten Systeme mit Linux betrieben. Der im Desktop-Bereich größte Konkurrent Windows spielt bei Höchstleistungsrechnern keine Rolle. Im Juni 2011 waren es noch 4 Systeme (darunter Platz 40), die mit dem Betriebssystem Windows liefen. === (Automobil-)Industrie === Linux setzt sich aus vielfältigen Gründen auch immer mehr in der Industrie, speziell in der Automobilindustrie, durch. Das weltweit erste von Linux betriebene Infotainment-System wurde von General Motors in Kooperation mit Bosch entwickelt. Die GENIVI Alliance definiert Anforderungen an eine Linux-Distribution speziell für Infotainment-Systeme in Fahrzeugen. Die größte Marktdurchdringung hat Linux in Japan. Zu den bekannten Unternehmen, die Linux verwenden, gehören: Ashisuto, Aisin AW, JVC KENWOOD Corporation, NTT DATA MSE und Turbo Systems. === Weitere Einsatzbereiche === Ferner können auch NAS-Speichersysteme oder WLAN-Router Linux als Betriebssystem nutzen. Vorteil ist, dass eine sehr aktive Entwickler-Community besteht, auf deren Ressourcen (der Kernel mit den Schnittstellen-, Speicherverwaltungs- und Netzwerkfunktionen, aber z. B. auch umfangreiche Entwicklerprogramme, bereits bestehender Code wie die Benutzeroberflächen OPIE oder GPE Palmtop Environment, Erfahrung etc.) die Hersteller dabei zurückgreifen können. == Sicherheit == === Allgemeines === Die Gründe für die Bewertung von Linux als sicheres System sind verschieden und hängen von dessen Aufgaben und der verwendeten Softwarekonfiguration ab. So verfügt Linux als Desktop-System über eine strenge Unterteilung der Zugriffsrechte, die bei anderen verbreiteten Desktop-Systemen im Normalfall nicht eingehalten wird. Dies führt unter anderem dazu, dass viele Funktionsprinzipien verbreiteter Würmer und Viren bei Linux nicht greifen können beziehungsweise nur den ausführenden Benutzer, jedoch nicht das ganze System, kompromittieren können. Eine Kompromittierung des Nutzers kann gleichwohl zu sensiblen Datenverlusten führen. Bisher traten nur sehr wenige Viren unter Linux auf, beispielsweise Staog und Bliss. Im Vergleich zu anderen Desktop-Systemen hat Linux die erste größere Verbreitung bei Nutzern mit einem sehr technischen und sicherheitsbewussten Umfeld erfahren. Die Entwicklung geschah somit, verglichen mit anderen verbreiteten Desktop-Systemen, unter den Augen eines sehr sicherheitskritischen Publikums. Im Gegensatz zu Desktop-Systemen hängt die Sicherheit bei Serversystemen primär vom Grad der Erfahrung der Administratoren mit dem System selbst ab. Linux punktet dabei durch die freie Verfügbarkeit, die es Administratoren ermöglicht, das System ohne Mehrkosten in verschiedensten Testszenarien zu installieren und dort ausgiebig zu untersuchen. Zudem gibt es eine Reihe von speziell gehärteten Linux-Distributionen, welche besonderen Wert auf Sicherheitsaspekte legen. Initiativen wie SELinux bemühen sich dort um das Erfüllen hoher Sicherheitsstandards. Da Linux quelloffene Software ist, kann jeder den Quellcode studieren, untersuchen und anpassen. Dies führt unter anderem auch dazu, dass der Quellcode (sei es zum Zwecke der Anpassung, zum Zwecke der Schulung, aus dem Sicherheitsinteresse einer Institution oder eines Unternehmens heraus oder aus privatem Interesse) von mehr Menschen studiert wird, als dies bei proprietären Programmen der Fall sein kann, wodurch Sicherheitslücken schneller auffallen (und dann behoben werden können). === Sicherheitsaktualisierungen === Ein wesentliches Merkmal vieler Linux-Distributionen ist es, dass sie kostenlos und automatisiert Sicherheitsaktualisierungen für alle bereitgestellte Software anbieten. Diese Funktion existiert zwar auch bei anderen gängigen Betriebssystemen, erfasst dort aber nicht alle bereitgestellte Software, funktioniert nicht durchgehend automatisch oder ist nicht kostenlos, weshalb die Hürde, solche Aktualisierungen einzuspielen, bei anderen Betriebssystemen höher ist als bei Linux. Unter anderem wegen der allgemein verfügbaren Sicherheitsaktualisierungen sind Antivirenprogramme für Linux wenig verbreitet. Anstatt mit einem Antivirenprogramm nach Schadsoftware suchen zu lassen, die bekannte Sicherheitslücken in der installierten Anwendungssoftware ausnutzt, können die bekannten Lücken bereits über Sicherheitsaktualisierungen geschlossen werden. Die existierenden Antivirenprogramme für Linux werden daher hauptsächlich dafür eingesetzt, um Datei- und E-Mail-Server auf Viren für andere Betriebssysteme zu untersuchen. === Technische Fähigkeiten === Linux verfügt über viele der Fähigkeiten, welche für eine sicherheitstechnisch anspruchsvolle Umgebung erforderlich sind. Dazu gehört sowohl eine einfache Nutzer- und Gruppenrechteverwaltung mittels Role Based Access Control, wie auch eine komplexere Rechteverwaltung mit Hilfe von Access Control Lists. Zusätzlich implementieren viele aktuelle Distributionen auch Mandatory-Access-Control-Konzepte mit Hilfe der SELinux/AppArmor-Technik. Ebenso bietet fast jede Linux-Distribution auch eine Secure-Shell-Implementierung (zumeist OpenSSH) an, mit der authentifizierte verschlüsselte und deswegen sichere Verbindungen zwischen Computern gewährleistet werden können. Andere Verschlüsselungstechniken wie Transport Layer Security werden ebenfalls voll unterstützt. Im Rahmen der Verschlüsselung für auf Medien gespeicherte Daten steht das Kryptographie-Werkzeug dm-crypt zur Verfügung, das eine Festplattenverschlüsselung ermöglicht. Es bietet dabei die Möglichkeit der Verschlüsselung nach aktuellen Standards wie dem Advanced Encryption Standard. Transparente Verschlüsselung, bei der nur einzelne Dateien statt ganzer Festplatten verschlüsselt werden, stellen die Verschlüsselungserweiterung EncFS und das Dateisystem ReiserFS zur Verfügung. Zu den Sicherheitszertifikaten, die im Zusammenhang mit Linux erworben wurden, siehe den Abschnitt Software-Zertifikate. == Zertifikate == === Personalzertifikate === Um den Grad der Kenntnisse von Technikern und Administratoren messbar zu machen, wurden eine Reihe von Linux-Zertifikaten ins Leben gerufen. Das Linux Professional Institute (LPI) bietet dafür eine weltweit anerkannte Linux-Zertifizierung in drei Levels, die ersten beiden Level (LPIC-1 und LPIC-2) mit jeweils zwei Prüfungen und den dritten Level (LPIC-3) mit einer Core-Prüfung (301) und mehreren optionalen Erweiterungsprüfungen. Auch die großen Linux-Distributoren wie Red Hat, openSUSE und Ubuntu bieten eigene Schulungszertifikate an, die aber zum Teil auf die Distributionen und deren Eigenheiten ausgelegt sind. === Software-Zertifikate === Um den Grad der Sicherheit von Technikprodukten zu bewerten, gibt es ebenfalls eine Reihe von Zertifikaten, von denen wiederum viele für bestimmte Linux-Distributionen vergeben wurden. So hat z. B. das Suse Linux Enterprise Server 9 des Linux-Distributors Novell die Sicherheitszertifikation EAL4+ nach den Common Criteria for Information Technology Security Evaluation erhalten, Red Hat hat für seine Redhat Enterprise Linux 4 Distribution ebenso die EAL4+-Zertifizierung erhalten. Ein Problem bei der Zertifizierung stellen für viele Distributoren allerdings die hohen Kosten dar. So kostet eine Zertifizierung nach EAL2 etwa 400.000 US-Dollar. == Hardwareunterstützung == Eine häufige Schwierigkeit beim Einsatz von Linux besteht darin, dass oft keine ausreichende Hardware-Unterstützung gegeben ist. Tatsächlich verfügt Linux zahlenmäßig über mehr mitgelieferte Treiber als vergleichbare Systeme (Windows, macOS). Das führt dazu, dass in der Regel nicht einmal eine Treiber-Installation notwendig ist und dass sogar ein Wechsel von Hardware reibungslos möglich ist. Das bietet dem Anwender deutlich mehr Komfort als bei vergleichbaren Betriebssystemen, da so z. B. ein problemloser Umzug des Betriebssystems auf einen anderen Rechner oder sogar die Installation des Betriebssystems auf Wechseldatenträgern möglich ist, ohne dass hierfür spezielle Anpassungen am System nötig wären. Oft ist diese reibungslose Hardware-Unterstützung jedoch nicht gegeben. Das gilt insbesondere für aktuellere Hardware. Die Ursache liegt darin begründet, dass nur wenige Hardwarehersteller selbst Linux-Treiber für ihre Hardware zur Verfügung stellen oder diese nur in schlechter Qualität vorliegen. Während für Hardware mit offen dokumentierter, standardisierter Schnittstelle (z. B. Mäuse, Tastaturen, Festplatten und USB-Host-Controller) Treiber zur Verfügung stehen, ist dies für andere Hardwareklassen (z. B. Netzwerkschnittstellen, Soundkarten und Grafikkarten) nicht immer der Fall. Viele Hardwarehersteller setzen auf proprietäre hardwarespezifische Schnittstellen, deren Spezifikation zudem nicht öffentlich zugänglich ist, sodass sie mittels Black-Box-Analyse bzw. Reverse Engineering erschlossen werden muss. Beispiele hierfür sind Intels HD Audio-Schnittstelle und deren Linux-Implementierung snd-hda-intel oder der freie 3D-Grafiktreiber nouveau für bestimmte 3D-Grafikchips von Nvidia. Ein anderes Beispiel ist der Energieverwaltungsstandard ACPI, der sehr komplex und auf die jeweilige Hauptplatine zugeschnitten ist, sodass eine Implementierung durch die Linux-Gemeinschaft aus Mangel an Ressourcen oder Hintergrundwissen oft unzureichend ist. Oft kann in diesem Zusammenhang auch das Mitwirken der Anwender hilfreich sein, indem sie auf Probleme hinweisen und idealerweise sogar technische Informationen zu ihrer Hardware ermitteln und der Linux-Gemeinschaft zur Verfügung stellen oder Entwicklerversionen vor der Veröffentlichung testen. Ein oft genannter Grund für die Nichtbereitstellung von Linuxtreibern ist das Entwicklungsmodell des Linux-Kernels: Da er keine feste Treiber-API besitzt, müssen Treiber immer wieder an Veränderungen in den einzelnen Kernel-Versionen angepasst werden. Direkt in den Kernel integrierte Treiber werden zwar von den Kernel-Entwicklern meist mit gepflegt, müssen aber unter der GNU General Public License (GPL) veröffentlicht sein, was einige Hardware-Hersteller ablehnen. Extern zur Verfügung gestellte Treiber müssen aber ebenfalls ständig angepasst und in neuen Versionen veröffentlicht werden, was einen enormen Entwicklungsaufwand mit sich bringt. Außerdem ist die rechtliche Lage solcher externen Module, die nicht unter der GPL stehen, umstritten, weil sie in kompilierter Form technisch bedingt GPL-lizenzierte Bestandteile des Kernels enthalten müssen. Das Problem der Hardwareunterstützung durch sogenannte Binärtreiber (Gewähren von Binärdateien ohne Offenlegung des Quellcodes) wird im Linux-Umfeld kontrovers diskutiert: Während manche für einen Ausschluss proprietärer Kernel-Module plädieren, befürworten andere, dass einige Hersteller überhaupt – zur Not auch proprietäre – Treiber bereitstellen, mit dem Argument, dass die Linux-Nutzer ohne sie benachteiligt wären, weil sie sonst von bestimmter Hardware schlicht abgeschnitten wären.Allerdings können Treiber für viele Geräteklassen (z. B. alle per USB oder Netzwerk angeschlossenen Geräte) auch ganz ohne Kernelcode programmiert werden, was sogar die bevorzugte Vorgehensweise ist. == Digitale Rechteverwaltung == Linus Torvalds betont, dass sich Linux und digitale Rechteverwaltung (DRM) nicht ausschließen. Auch sind freie DRM-Verfahren zur Nutzung unter Linux verfügbar.In der Praxis ist die Nutzung DRM-geschützter Medien unter Linux jedoch seltener möglich als unter anderen Systemen, da aufgrund des Prinzips des Digital Rights Management allein die Rechteinhaber entscheiden können, auf welchen DRM-Systemen ihre Medien genutzt werden dürfen. Die dabei eingesetzten Verfahren sind nicht standardisiert, sondern werden von den jeweiligen Herstellern kontrolliert, und die beiden größten Hersteller von DRM-Systemen im Consumer-Umfeld, Microsoft und Apple, haben bis Oktober 2009 keine entsprechenden Programme für Linux veröffentlicht oder auch nur entsprechende Absichten bekundet. Allerdings gibt es Windows-DRM-zertifizierte Software, die unter Linux eingesetzt werden kann, wie sie beispielsweise bei der AVM FRITZ!Media 8020 verwendet wird. Grundsätzlich besteht bei DRM-Verfahren die Notwendigkeit, dass die Daten, an denen der Nutzer nur eingeschränkte Rechte erhalten soll, dem Nutzer zu keiner Zeit in unverschlüsselter Form zur Verfügung gestellt werden dürfen, da er ja sonst in diesem Moment eine unverschlüsselte Kopie anfertigen könnte. Da Linux quelloffen ist, ist es dem Nutzer leicht möglich, den entsprechenden Programmteil eines lokalen, rein softwarebasierten DRM-Systems durch eigenen Code zu ersetzen, der genau dies tut. == Veranstaltungen und Medien == === Kongresse === Bis 2014 war der LinuxTag die größte jährlich stattfindende Messe zu den Themen Linux und freie Software in Europa. Neben den Ausstellungen aller namhaften Unternehmen und Projekte aus dem Linux-Umfeld wurde den Besuchern auch ein Vortragsprogramm zu verschiedenen Themen geboten. Der LinuxTag selbst existierte von 1996 bis 2014 und zog zuletzt jährlich mehr als 10.000 Besucher an. Neben dem großen LinuxTag gibt es noch eine Vielzahl kleinerer und regionaler Linuxtage, die oft mit Unterstützung von Universitäten organisiert werden. Seit 2015 sind die Chemnitzer Linux-Tage die größte Veranstaltung dieser Art in Deutschland. Zu den weiteren internationalen Messen gehört der Linux Kongress – Linux System Technology Conference in Hamburg. Ein Kuriosum ist die jährlich stattfindende LinuxBierWanderung, die Linux-Enthusiasten der ganzen Welt eine Möglichkeit zum gemeinsamen „Feiern, Wandern und Biertrinken“ geben will. Neben den allgemeinen Messen und Kongressen findet jedes Jahr das LUG-Camp statt. Dieses wird seit dem Jahr 2000 von Linux-Benutzern aus dem Raum Flensburg bis hin zur Schweiz organisiert und besucht. Als bekannt wurde, dass der LinuxTag 2015 im Messeformat ausfällt, nahmen andere Menschen dies als Anlass den Linux Presentation Day (kurz LPD) zu etablieren. Der LPD ist allerdings nicht als Ersatz für den LinuxTag gedacht. Stattdessen hat sich der LPD auf die Fahnen geschrieben, Linux auf dem Desktop zu mehr Erfolg zu verhelfen. Dazu wird er meist von den mittlerweile weltweit verteilten Linux User Groups (Linux Benutzer Gruppen) als eine Art Messe veranstaltet. === Printmedien und elektronische Medien === Mit der zunehmenden Verbreitung von Linux hat sich auch ein Angebot an Printmedien entwickelt, die sich mit der Thematik beschäftigen. Neben einer Vielzahl an Büchern zu nahezu allen Aspekten von Linux haben sich auch regelmäßig erscheinende Zeitschriften auf dem Markt etabliert. Bekannteste Vertreter sind hier die einzelnen Hefte der Computec Media, die monatlich (Linux-Magazin, LinuxUser) oder vierteljährlich (EasyLinux) erscheinen. Schon seit einer ganzen Weile produzieren auch andere große Verlage wie IDG mit der zweimonatlich erscheinenden LinuxWelt sowie Heise mit der in unregelmäßiger Abfolge erscheinenden c't Linux Heftreihen beziehungsweise Sonderhefte zu langjährig bestehenden Computerzeitschriften, nämlich PCWelt und c’t. Darüber hinaus gibt es auch noch für die Distribution „Ubuntu Linux“ und ihre Derivate das jährlich viermal erscheinende Magazin UbuntuUser, das durch den Medienanbieter Computec Media veröffentlicht wird. == Rezeption == === Wissenschaft === Der Asteroid (9885) Linux wurde am 12. Oktober 1994 entdeckt. Er wurde nach dem Linux-Kernel benannt. === Filme === Die Thematik rund um Linux wurde auch in einer Reihe von Dokumentationen behandelt. So behandelt der Kino-Dokumentationsfilm Revolution OS die Geschichte von Linux, freier Software und Open Source und stützt sich dabei größtenteils auf diverse Interviews mit bekannten Vertretern der Szene. Die TV-Dokumentation Codename: Linux, in Deutschland von Arte ausgestrahlt, geht ähnliche Wege, stellt aber auch einen chronologischen Verlauf der Entwicklung von Linux und Unix dar. == Siehe auch == Linux Foundation Liste von Linux-Distributionen == Literatur == Daniel J. Barrett: Linux kurz & gut. O’Reilly, Köln 2004, ISBN 3-89721-501-2. Hans-Werner Heinl: Das Linux-Befehle-Buch. Millin, Berlin 2007, ISBN 978-3-938626-01-6. Michael Kofler: Linux 2010: Debian, Fedora, openSUSE, Ubuntu. 9. Auflage. Addison-Wesley, München 2009, ISBN 3-8273-2158-1 (bis zur 8. Auflage unter dem Titel: Linux. Installation, Konfiguration, Anwendung). Bernd Kretschmer, Jens Gottwald: Linux am Arbeitsplatz. Büroanwendungen einrichten und professionell nutzen. Millin, Kösel, Krugzell 2005, ISBN 3-938626-00-3 (mit DVD-ROM). Glyn Moody: Die Software-Rebellen. Die Erfolgsstory von Linus Torvalds und Linux. Verlag Moderne Industrie, Landsberg am Lech 2001, ISBN 3-00-007522-4. Carla Schroder: Linux Kochbuch. O’Reilly, Köln 2005, ISBN 3-89721-405-9. Ellen Siever, Stephen Spainhour, Stephen Figgins: Linux in a Nutshell. O’Reilly, Köln 2005, ISBN 3-89721-195-5. Ralph Steyer: Linux für Umsteiger. Software & Support Verlag, Frankfurt am Main 2004, ISBN 3-935042-61-2. Linus Torvalds, David Diamond: «Just for fun» – Wie ein Freak die Computerwelt revolutionierte. Autobiografie des Linux-Erfinders. dtv 36299, München 2001, ISBN 3-423-36299-5 (Originaltitel: «Just for fun» – The story of an accidental revolutionary by HarperBusiness, New York, NY 2001. Übersetzt von Doris Märtin, Lizenzausgabe des Hanser Verlags, München / Wien 2001). Edward Viesel: Drucken unter Linux. Professionelles Linux- und Open-Source-Know-How. 2., aktualisierte und erweiterte Auflage. Bomots, Forbach (Frankreich) 2009, ISBN 978-3-939316-60-2. Matt Welsh, Matthias Kalle Dalheimer, Terry Dawson, Lar Kaufman: Linux. Wegweiser zur Installation & Konfiguration. O’Reilly, Köln 2004, ISBN 3-89721-353-2 (oreilly.de). Steffen Wendzel, Johannes Plötner: Einstieg in Linux. Galileo-Press, Bonn 2004, ISBN 3-89842-481-2. Steffen Wendzel, Johannes Plötner: Linux. Das distributionsunabhängige Handbuch. Galileo-Press, Bonn 2006, ISBN 3-89842-677-7. Michael Wielsch, Jens Prahm, Hans-Georg Eßer: Linux Intern. Technik. Administration und Programmierung. Data Becker, Düsseldorf 1999, ISBN 3-8158-1292-5. Michael Kofler: Linux. Das umfassende Handbuch. 1. Auflage. Galileo Computing, Bonn 2013, ISBN 978-3-8362-2591-5. == Weblinks == The Linux Kernel Archives – offizielle Website des Quelltextes des Linux-Kernels der Linux Kernel Organization, Inc The Linux Foundation – offizielle Website von Linux (englisch) Google Groups (Linus Torvalds’ erstes Posting in einer Newsgroup über Minix) == Einzelnachweise ==
https://de.wikipedia.org/wiki/Linux
Otto von Bismarck
= Otto von Bismarck = Otto Eduard Leopold von Bismarck-Schönhausen, ab 1865 Graf von Bismarck-Schönhausen, ab 1871 Fürst von Bismarck, ab 1890 auch Herzog zu Lauenburg (* 1. April 1815 in Schönhausen (Elbe); † 30. Juli 1898 in Friedrichsruh bei Aumühle), war ein deutscher Politiker und Staatsmann. Von 1862 bis 1890 – mit einer kurzen Unterbrechung im Jahr 1873 – war er in Preußen Ministerpräsident, von 1867 bis 1871 zugleich Bundeskanzler des Norddeutschen Bundes. Von 1871 bis 1890 war er erster Reichskanzler des Deutschen Reiches, dessen Gründung er maßgeblich vorangetrieben hatte. Bismarck gilt als Vollender der deutschen Einigung und als Begründer des Sozialstaates der Moderne. Als Politiker machte sich Bismarck in Preußen zunächst als Abgeordneter des Ersten Vereinigten Landtages mit überwiegend konservativen Positionen einen Namen. Er war 1851–1862 Diplomat für den Bundestag des Deutschen Bundes sowie in Russland und Frankreich. Im preußischen Verfassungskonflikt wurde er 1862 von König Wilhelm I. zum Ministerpräsidenten ernannt. Im Kampf gegen die Liberalen setzte sich Bismarck über das Parlament hinweg und konnte im Deutsch-Dänischen Krieg und im Deutschen Krieg zwischen 1864 und 1866 die Deutsche Frage im kleindeutschen Sinne unter der Vorherrschaft Preußens lösen. Im Deutsch-Französischen Krieg von 1870/71 war er die treibende Kraft bei der Gründung des Deutschen Reiches. Als Kanzler und preußischer Ministerpräsident bestimmte er die Politik des neu geschaffenen Reiches bis zu seiner Entlassung 1890 entscheidend mit. Er setzte außenpolitisch auf einen Ausgleich der europäischen Mächte (→ Bündnispolitik Otto von Bismarcks) und wandte sich lange gegen eine deutsche Kolonialpolitik. Innenpolitisch ist seine Regierungszeit nach 1866 in zwei Phasen einteilbar. Zunächst kam es zu einem Bündnis mit den gemäßigten Liberalen. In dieser Zeit gab es zahlreiche innenpolitische Reformen wie die Einführung der Zivilehe, wobei Bismarck Widerstand von katholischer Seite mit drastischen Maßnahmen bekämpfte (→ Kulturkampf). Seit den späten 1870er-Jahren wandte Bismarck sich zunehmend von den Liberalen ab. In diese Phase fällt der Übergang zur Schutzzollpolitik und zu staatsinterventionistischen Maßnahmen. Dazu zählte insbesondere die Schaffung des Sozialversicherungssystems. Innenpolitisch geprägt waren die 1880er-Jahre nicht zuletzt vom repressiven Sozialistengesetz. 1890 führten Meinungsverschiedenheiten mit dem seit knapp zwei Jahren amtierenden Kaiser Wilhelm II. zu Bismarcks Entlassung. In den folgenden Jahren spielte Bismarck als Kritiker seiner Nachfolger noch immer eine gewisse politische Rolle. Insbesondere durch seine viel gelesenen Memoiren Gedanken und Erinnerungen wirkte er selbst maßgeblich und nachhaltig an seinem Bild in der deutschen Öffentlichkeit mit. Im Volksmund und in der Geschichtsschreibung wurde Bismarck auch der „Eiserne Kanzler“ genannt. In der deutschen Geschichtsschreibung dominierte bis Mitte des 20. Jahrhunderts eine ausgesprochen positive Bewertung von Bismarcks Rolle, die teilweise Züge einer Idealisierung trug. Nach dem Zweiten Weltkrieg mehrten sich kritische Stimmen, die Bismarck für das Scheitern der Demokratie in Deutschland mitverantwortlich machten und das von ihm geprägte Kaiserreich als obrigkeitsstaatliche Fehlkonstruktion darstellten. Jüngere Darstellungen überwinden diesen scharfen Gegensatz zumeist, wobei die Leistungen und Mängel von Bismarcks Politik gleichermaßen betont werden, und zeigen ihn als eingebettet in zeitgenössische Strukturen und politische Prozesse. == Frühe Jahre == === Herkunft, Jugend und Bildung === Otto von Bismarck wurde am 1. April 1815 auf Schloss Schönhausen nahe der Elbe bei Stendal in der Provinz Sachsen als zweiter Sohn des Rittmeisters Karl Wilhelm Ferdinand von Bismarck (1771–1845) und dessen Ehefrau Luise Wilhelmine, geb. Mencken (1789–1839), geboren. Er war väterlicherseits Spross des alten Adelsgeschlechts Bismarck, eines landsässigen Uradelsgeschlechts der Altmark, das seit Anfang des 18. Jahrhunderts zugleich auch im Kreis Naugard in Hinterpommern drei Güter besaß. Seine Mutter war bürgerlicher Herkunft, ihr Vater Anastasius Ludwig Mencken war Geheimer Kabinettssekretär Friedrichs des Großen gewesen. Die Familie Mencken hatte in der Vergangenheit Gelehrte und hohe Beamte hervorgebracht. Otto von Bismarcks älterer Bruder Bernhard von Bismarck (1810–1893) wurde Landrat und Geheimer Regierungsrat. Die nachgeborene Schwester Malwine (1827–1908) heiratete 1844 den Landrat des Kreises Angermünde, Oskar von Arnim-Kröchlendorff. Im Jahr 1816 übersiedelte die junge Familie, ohne das Gut Schönhausen aufzugeben, auf das hinterpommersche Gut Kniephof, wo Otto von Bismarck die ersten Jahre seiner Kindheit verbrachte. Die unterschiedliche soziale Herkunft der Eltern hatte erhebliche Folgen für Bismarcks Sozialisation. Vom Vater erbte er den Stolz auf seine Herkunft, die Mutter gab ihm nicht nur seinen scharfen Verstand, den Sinn für rationales Handeln und sprachliche Sensibilität mit, sondern auch den Wunsch, seinem Herkunftskreis zu entkommen. Bismarck hatte es seiner Mutter zu verdanken, dass er eine Bildung genoss, die weniger für einen Landedelmann als für einen Spross des Bildungsbürgertums üblich war. Ihre Söhne sollten nicht nur Junker sein, sondern in den Staatsdienst eintreten. Allerdings führte die streng auf das Rationale abzielende Erziehung der Mutter dazu, dass sich Bismarck, wie er später schrieb, in seinem Elternhaus nie wirklich wohl fühlte. Während er der Mutter reserviert gegenüberstand, hat er den Vater geliebt. === Schulbildung === Im Alter von sechs Jahren begann Bismarcks schulische Ausbildung 1821 auf Wunsch der Mutter in der preußischen Hauptstadt Berlin in der Plamannschen Erziehungsanstalt. Dieses Internat, in das hohe Beamte ihre Söhne zu schicken pflegten, war ursprünglich im Geist von Johann Heinrich Pestalozzi gegründet worden. Zur Zeit Bismarcks war diese Reformphase längst beendet und die Erziehung geprägt von Drill und Deutschtümelei. Der Übergang vom kindlichen Spiel auf dem heimischen Hof zum Internatsleben, das von Zwang und Disziplin geprägt war, fiel Bismarck außerordentlich schwer. In dieser Zeit prägte sich deutlich sein Unwillen aus, Autoritäten anzuerkennen.1827 wechselte Bismarck auf das Berliner Friedrich-Wilhelms-Gymnasium, ab 1830 besuchte er bis zum Abitur 1832 das humanistische Berlinische Gymnasium zum Grauen Kloster. Außer in Bezug aufs Altgriechische, das Bismarck bald als überflüssig ansah, zeigte er sich in der Schule als ausgesprochen sprachbegabt, wenn auch nicht immer als fleißig. === Religion === Bismarck war Angehöriger der lutherischen Konfession. Den Religionsunterricht erhielt er von Friedrich Schleiermacher, der den Sechzehnjährigen in der Berliner Dreifaltigkeitskirche auch konfirmierte. Bismarck befasste sich in dieser Zeit mit Fragen der Religion hauptsächlich vom Verstand her und sah sich in ihr, von Hegel oder Spinoza beeinflusst, rückblickend eher als Deist und Pantheist denn als gläubiger Christ. Ein Atheist war er allerdings nie, auch wenn seine Umgebung ihn zumeist für einen gottlosen Spötter hielt. In der Zeit seines Referendariats schrieb er 1836 an seinen Bruder Bernhard: „Ich bemerke nur, dass Du mir zu wenig Besonnenheit zumutest, wenn Du mich für einen Atheisten hältst.“ === Studium und Ausbildung === Nach dem Abitur nahm Bismarck als Siebzehnjähriger am 10. Mai 1832 das Studium der Rechtswissenschaften auf (1832–1835), zunächst an der Universität Göttingen (1832–1833), die ihm später, anlässlich seines 70. Geburtstags auch die Ehrendoktorwürde verlieh. Die politischen Nachwehen im Gefolge der Julirevolution lehnte er nachdrücklich ab. Es war daher auch kein Zufall, dass er sich nicht den damals oppositionellen Burschenschaften, sondern der schlagenden landsmannschaftlichen Studentenverbindung Corps Hannovera Göttingen anschloss. Er blieb zeitlebens ein überzeugter Corpsstudent. An den Burschenschaften missfielen ihm „ihre Weigerung, Satisfaktion zu geben, und ihr Mangel an äußerlicher Erziehung und an Formen der guten Gesellschaft, bei näherer Bekanntschaft auch die Extravaganz ihrer politischen Auffassungen, die auf einem Mangel an Bildung und an Kenntnis der vorhandenen, historisch gewordenen Lebensverhältnisse beruhte“. Er fasste seine Beobachtungen später zu der Bemerkung zusammen, dass es sich um eine Verbindung von Utopie und Mangel an Erziehung gehandelt habe. Andererseits bezeichnete er sich selbst als keineswegs von preußisch-monarchischen Gedanken beeinflusst. Geschichte und Literatur interessierten ihn, das Jurastudium weniger. Der einzige akademische Lehrer, der ihn beeindruckte und wohl auch beeinflusste, war der Historiker Arnold Heeren, der in seinen Vorlesungen die Funktionsweise des internationalen Staatensystems skizzierte. Engere persönliche Beziehungen baute er zu seinem Corpsbruder Gustav Scharlach und dem späteren amerikanischen Diplomaten John Lothrop Motley auf, der zeit seines Lebens einer seiner wenigen persönlichen Freunde blieb.Im November 1833 setzte Bismarck sein Studium an der Berliner Friedrich-Wilhelms-Universität fort. 1835 schloss er es mit dem Ersten Staatsexamen ab. Anschließend war er zunächst Auskultator beim Berliner Stadtgericht. Auf eigenen Wunsch wechselte er vom Justiz- in den Verwaltungsdienst. Nicht nur im Kreis um den Novellisten Carl Borromäus Cünzer suchte er Zerstreuung: Vom Büroalltag eines Regierungsreferendars im mondänen Kurort Aachen bald gelangweilt, verliebte er sich im August 1836 in Laura Russell, eine Nichte des Herzogs von Cumberland. Nach der Affäre mit einer (älteren) Französin reiste er im Sommer 1837 mit einer (jüngeren) Engländerin, einer Freundin Laura Russells, durch Deutschland. Dadurch kam es zu einer mehrwöchigen Überschreitung eines vierzehntägigen Urlaubs, durch die er sein Referendariat verlor. Bismarck haderte mit Auslagen für Frauen und machte zusätzlich durch den Besuch von Spielkasinos Schulden. Seinen Dienstgeschäften blieb er monatelang fern. Er versuchte später, seine Referendarausbildung in Potsdam fortzusetzen, kehrte dem Verwaltungsdienst aber nach einigen Monaten den Rücken. Er erklärte diesen Schritt rückblickend damit, dass er kein bloßes Rädchen im Getriebe der Bürokratie sein wollte: „Ich will aber Musik machen, wie ich sie für gut erkenne, oder gar keine.“ === Militärdienst === 1838 leistete Bismarck als Einjährig-Freiwilliger seinen Militärdienst ab, zunächst beim Garde-Jäger-Bataillon. Im Herbst wechselte er zum Jäger-Bataillon Nr. 2 nach Greifswald in Vorpommern, wo er sich an der Königlichen Staats- und landwirtschaftlichen Akademie Eldena auch auf die Führung der Familienbetriebe vorbereitete. === Bonvivant und erfolgreicher Gutsverwalter === Bismarck bezog nach dem Tod seiner Mutter im Jahr 1839 das hinterpommersche Gut Kniephof und wurde Landwirt. Gemeinsam mit dem um fünf Jahre älteren Bruder Bernhard bewirtschaftete er die väterlichen Güter Kniephof, Külz und Jarchlin im Kreis Naugard. Nachdem Bernhard von Bismarck 1841 zum Landrat gewählt worden war, kam es zu einer vorläufigen Teilung. Bernhard bewirtschaftete nun Jarchlin, Otto Külz und Kniephof. Nach dem Tod des Vaters im Jahr 1845 übernahm Otto die Bewirtschaftung des Familienbesitzes Schönhausen bei Stendal. Bismarck erwarb schnell gute Kenntnisse in rationaler landwirtschaftlicher Betriebsführung. In den etwa zehn Jahren, in denen er als Verwalter des elterlichen Besitzes fungierte, gelang es ihm nicht nur, die Güter zu sanieren, sondern auch die eigenen Schulden zurückzuzahlen, die er in den zurückliegenden Jahren aufgehäuft hatte. Einerseits gefiel es ihm, sein eigener Herr zu sein, andererseits füllten ihn die landwirtschaftliche Tätigkeit und das Leben als Landjunker nicht aus. Er beschäftigte sich nebenher intensiv, aber unsystematisch mit Philosophie, Kunst, Religion und Literatur, ohne dass ihn dies nachhaltig geprägt hätte. 1842 unternahm er eine Studienreise nach Frankreich und England und in die Schweiz. Das Bestreben, in den Staatsdienst zurückzukehren, gab er 1844 auf – erneut aufgrund seiner Abneigung gegen alles Bürokratische. In diesen Jahren war er gerngesehener Gast bei zahlreichen gesellschaftlichen Ereignissen in der Region. Er nahm unter anderem an zahlreichen Jagdveranstaltungen teil, aber auch an ausschweifenden Zechgelagen. Eigenen Bekundungen zufolge hatte er sich in diesem Zusammenhang eine Art Trinkfestigkeit angeeignet; bei den Landjunkern habe er an Ansehen hinzugewonnen, weil er dazu fähig sei, seine „Gäste mit freundlicher Kaltblütigkeit unter den Tisch zu trinken“. Dies wie auch die ihm anhaftende Neigung, bei gesellschaftlichen Ereignissen fast stets im Mittelpunkt zu stehen, brachte ihm den Ruf des „tollen Bismarck“ ein. === Ehefrau und Kinder === Durch Moritz von Blanckenburg, einen Schulfreund aus Berlin, kam Bismarck in Kontakt mit dem pietistischen Kreis um Adolf von Thadden-Trieglaff. Blanckenburg war mit dessen Tochter Marie von Thadden-Trieglaff verlobt. Sie und Bismarck fühlten sich als verwandte Seelen, aber für die junge Frau kam eine Auflösung ihrer Verlobung nicht in Frage. Im Oktober 1844 heiratete sie Blanckenburg. Bei der Hochzeitsfeier wählte sie ihre zwanzigjährige Freundin Johanna von Puttkamer als Tischdame für Bismarck aus. Im Sommer 1846 reisten das Ehepaar Blanckenburg, Bismarck und Johanna von Puttkamer gemeinsam in den Harz. Am 10. November 1846 starb Marie nach kurzer schwerer Krankheit. Kurz vor Weihnachten 1846 hielt Bismarck in einem berühmt gewordenen Brief an Heinrich von Puttkamer um Johannas Hand an. Dieser antwortete hinhaltend; Bismarck reiste daraufhin Anfang 1847 nach Reinfeld bei Rummelsburg in Hinterpommern und überzeugte Johannas Eltern in einem persönlichen Gespräch. Die Heirat fand im Jahr 1847 in Reinfeld (Landkreis Rummelsburg i. Pom.) statt. Seit dieser Zeit spielte der Glaube an einen persönlichen Gott für Bismarck eine zentrale Rolle.Aus der Ehe mit Johanna von Bismarck gingen drei Kinder hervor: Marie (1848–1926), ⚭ Kuno Graf zu Rantzau Herbert (1849–1904), ⚭ Marguerite Gräfin von Hoyos Wilhelm (1852–1901), ⚭ Sibylle von Arnim-KröchlendorffJohanna ordnete ihre Bedürfnisse denen ihres Mannes unter und bot ihm zugleich – anders als seine Mutter – eine feste emotionale Bindung. Die Briefe, die die beiden austauschten, gehören zu den Höhepunkten der Briefliteratur des 19. Jahrhunderts. == Politische Anfänge == === Konservativer Agitator === Bismarck trat politisch zunächst auf kommunaler Ebene hervor. In seiner Zeit auf Gut Kniephof war er Deputierter des Kreises Naugard, wurde 1845 Mitglied des Provinziallandtag der Provinz Pommern und unterstützte in einigen Fällen seinen Bruder bei dessen Tätigkeit als Landrat. Über seinen pietistischen Freundeskreis kam er um 1843/1844 in Kontakt zu führenden konservativen Politikern, insbesondere zu den Brüdern Ernst Ludwig und Leopold Gerlach. Er verpachtete 1845, nicht zuletzt, um diese Verbindung auszubauen, den Kniephof und zog nach Schönhausen. Dieser Ort lag näher bei Magdeburg, dem damaligen Dienstsitz von Ludwig von Gerlach. Bismarck erhielt sein erstes öffentliches Amt 1846 durch die Ernennung zum Deichhauptmann in Jerichow. Sein Hauptanliegen in dieser Zeit war es, die Vormachtstellung des landbesitzenden Adels in Preußen zu bewahren. Die Konservativen lehnten den absolutistisch-bürokratischen Staat ab und träumten von einer Wiedereinführung der Mitregierung der Stände, insbesondere des Adels. Zusammen mit den Brüdern Gerlach trat Bismarck beispielsweise für die Bewahrung der Patrimonialgerichtsbarkeit ein. Als Nachrücker im sächsischen Provinziallandtag wurde Bismarck als Vertreter der Ritterschaft der Provinz Sachsen 1847 Mitglied des Vereinigten Landtags. In diesem Gremium, das von der gemäßigten liberalen Opposition dominiert war, fiel er bereits bei seiner ersten Plenarrede als strikt konservativer Politiker auf, als er bestritt, dass es bei den Befreiungskriegen auch um die Durchsetzung liberaler Reformen gegangen war. In der „Judenfrage“ sprach er sich klar gegen die politische Gleichstellung der jüdischen Bevölkerung aus. Diese und ähnliche Positionen führten bei den Liberalen zu empörten Reaktionen. Bismarck fand in dieser Zeit in der Politik ein Betätigungsfeld, das seinen Neigungen entgegenkam: „Die Sache ergreift mich viel mehr als ich dachte.“ Die Leidenschaft des politischen Kampfes ließ ihn kaum essen und schlafen. Am Ende der Versammlung hatte sich Bismarck in den konservativen Kreisen einen Namen gemacht. Auch der König war auf ihn aufmerksam geworden. Wenngleich er eindeutig konservative Positionen vertrat, war Bismarck bereits in dieser Zeit auch Pragmatiker und bereit, vom politischen Gegner zu lernen. Dies kam etwa in dem Plan zum Tragen, als Gegengewicht zur liberalen Deutschen Zeitung ein konservatives Blatt zu gründen.Bismarck lehnte die Märzrevolution entschieden ab. Als ihn die Nachricht vom Erfolg der Bewegung in Berlin erreichte, bewaffnete er in Schönhausen die Bauern und schlug vor, mit ihnen nach Berlin zu ziehen. Der in Potsdam kommandierende General Karl von Prittwitz lehnte dieses Angebot jedoch ab. Danach versuchte Bismarck, Prinzessin Augusta, die Gattin des Thronfolgers Wilhelm, von der Notwendigkeit einer Gegenrevolution zu überzeugen. Augusta wies das Ansinnen als intrigant und illoyal zurück. Bismarck zog sich durch sein Verhalten die dauerhafte Abneigung der späteren Königin zu. Nach der Anerkennung der Revolution durch Friedrich Wilhelm IV. waren Bismarcks gegenrevolutionäre Pläne vorerst gescheitert. In die preußische Nationalversammlung wurde Bismarck nicht gewählt. Dafür beteiligte er sich an der außerparlamentarischen Sammlung des konservativen Lagers. Im Sommer 1848 war er an der Gründung und inhaltlichen Ausgestaltung der Neuen Preußischen Zeitung (wegen des Kreuzes auf dem Titelblatt auch Kreuzzeitung genannt) beteiligt. Für das Blatt schrieb er zahlreiche Beiträge. Im August 1848 war er einer der maßgeblichen Initiatoren des sogenannten Junkerparlaments. In diesem versammelten sich mehrere hundert adlige Gutsbesitzer, um gegen den Eingriff in ihr Eigentum zu protestieren.Diese Aktivitäten führten dazu, dass die konservative Kamarilla um den König Bismarck immer mehr zu schätzen begann. Seine Hoffnung, nach der Gegenrevolution im November 1848 mit einem Ministerposten belohnt zu werden, erfüllte sich jedoch nicht, da er selbst in konservativen Kreisen als zu extrem galt. Der König schrieb auf eine entsprechende Vorschlagsliste als Randbemerkung: „Nur zu gebrauchen, wenn das Bayonett schrankenlos waltet“. === Hinwendung zur Realpolitik === Im Januar und im Juli 1849 wurde Bismarck in die zweite Kammer des preußischen Landtages gewählt. Er beschloss in dieser Zeit, sich ganz der Politik zu widmen, und zog mit seiner Familie nach Berlin. Damit war er einer der ersten Berufspolitiker in Preußen. Im Landtag trat er als Sprachrohr der Ultrakonservativen auf. So verteidigte er die Ablehnung von Kaiserwürde und Reichsverfassung durch Friedrich Wilhelm IV., weil aus seiner Sicht zu befürchten stand, dass Preußen in Deutschland aufginge. Die nationale Frage war für ihn gegenüber der Sicherung der preußischen Macht zweitrangig. Der König und sein Berater Joseph von Radowitz wollten die deutsche Einheit vor allem durch Absprache mit den Mittelstaaten erreichen. Außerdem sollte die angestrebte Erfurter Union konservativer und föderalistischer sein als das Frankfurter Vorbild. Bismarck hielt dies für unrealistisch und nicht sinnvoll. Im preußischen Parlament machte er aus seiner Kritik an den Plänen keinen Hehl. Seine Rede vom 6. September 1849 veränderte die Haltung interessierter politischer Kreise zu ihm. Er galt fortan wegen seiner abwägenden und flexiblen Argumentation auch in den eigenen konservativen Reihen nicht mehr nur als Scharfmacher. Bismarck empfahl sich damit erstmals für einen Posten im hohen Staatsdienst oder in der Diplomatie. Er wurde trotz seiner Kritik an der Union in das Volkshaus des Erfurter Unionsparlaments gewählt und wurde in ihm Schriftführer. Obwohl er dem Parlamentarismus grundsätzlich ablehnend gegenüberstand, entwickelte Bismarck sich in Erfurt zu einem der bedeutendsten Parlamentsredner der Zeit, dem auch der politische Gegner wegen seiner bilder- und pointenreichen Sprache Aufmerksamkeit schenkte. Nach dem Scheitern der Unionspläne übernahm Bismarck die schwierige Aufgabe, im preußischen Landtag die Olmützer Punktation zu verteidigen. Er schaffte es dabei, einerseits konservative Standpunkte zu vertreten, sich andererseits aber zu einer staatlichen Machtpolitik fern irgendwelcher Ideologien zu bekennen: „Die einzige gesunde Grundlage eines großen Staates, und dadurch unterscheidet er sich wesentlich von einem kleinen Staate, ist der staatliche Egoismus und nicht die Romantik, und es ist eines großen Staates nicht würdig, für eine Sache zu streiten, die nicht seinen eigenen Interessen angehört.“ Mit seiner Betonung des Staates, der Macht- und Interessenpolitik, entfernte Bismarck sich vom traditionellen Konservatismus, der (in eher defensiver Grundeinstellung) aus der Gegnerschaft zum modernen, zentralen, bürokratischen und absolutistischen Staat entstanden war. == Diplomat == === Bundestagsgesandter === Bismarck wurde am 15. August 1851 auf Betreiben Leopold von Gerlachs durch Friedrich Wilhelm IV. zum preußischen Gesandten beim Bundestag in Frankfurt ernannt. Eine diplomatische Ausbildung hatte er nicht und auch der König war sehr misstrauisch. Nach der Olmützer Punktation war Preußen gezwungen, die Stelle des Bundestagsgesandten neu zu besetzen. Obgleich man in dieser Stellung nun wirklich kein politisches Porzellan zerschlagen konnte, glaubte keiner, dass Bismarck der Richtige wäre. Dem fragenden König musste Bismarck versichern, dass er zurückstand, wenn er der Aufgabe nicht gewachsen war: Schließlich wurde der Gesandte in Russland Theodor von Rochow dazu bestimmt, der auf Drängen von Leopold von Gerlachs durch Bismarck begleitet wurde. So trafen am 11. Mai 1851 beide in Frankfurt ein und Bismarck löste schon am 15. Juli 1851 Rochow als Bundestagsgesandter ab, der wiederum nach Petersburg zu seiner Gesandtschaft zurückkehrte. Die erste Aktion Bismarck in Frankfurt war das Mittragen des Bundesreaktionsbeschlusses. Daher wurde seine Ernennung in der Öffentlichkeit als Zeichen für den Sieg der sozialen und politischen Reaktion sowie als Kapitulation Preußens gegenüber Österreich gewertet.In Frankfurt handelte Bismarck sehr eigenständig. Er befand sich zeitweise im Gegensatz zur Berliner Regierungspolitik. Allerdings machte er als Gesandter deutlich, dass er noch immer ein Mann der Hochkonservativen war. Seine Haltung in einer Kammerdebatte führte am 25. März 1852 zum Duell Vincke–Bismarck, bei dem keiner der beiden Duellanten getroffen wurde.Als Preußen und das Kaisertum Österreich nach der Herbstkrise 1850 zusammenarbeiteten, wollte Bismarck sich nicht damit abfinden, dass der österreichische Ministerpräsident Felix zu Schwarzenberg Preußen die Rolle als Juniorpartner zudachte. Ihm und letztlich auch der Regierung in Berlin ging es darum, die Anerkennung Preußens als gleichberechtigte Macht durchzusetzen. Zu diesem Zweck suchte er ständig die Auseinandersetzung mit dem österreichischen Gesandten Friedrich von Thun und Hohenstein, griff Wien scharf an und legte zeitweise die Arbeit des Bundestages lahm, um die Grenzen der österreichischen Kompetenzen in Frankfurt aufzuzeigen. Er trug auch dazu bei, dass Österreichs Wunsch scheiterte, dem Deutschen Zollverein beizutreten. Bismarck lehnte einen Ausbau der Institutionen und überhaupt eine Bundesreform ab, solange Österreich Preußen nicht als gleichberechtigt behandelte. Die Entscheidung der preußischen Regierung im Jahr 1854 (vor dem Hintergrund des Krimkrieges), das Schutz- und Trutzbündnis mit Österreich zu erneuern, stieß bei Bismarck auf Kritik. Als Österreich sich danach offen gegen Russland wandte, gelang es Bismarck 1855, durch geschicktes Taktieren den Antrag der Österreicher zur Mobilisierung der Bundestruppen gegen Russland abzuwenden. Dieser Erfolg ließ sein diplomatisches Ansehen zunehmen. Nach der Niederlage Russlands im Krimkrieg plädierte er in verschiedenen Denkschriften für eine Anlehnung an das Zarenreich und an Frankreich, durch die er Österreich weiter zu schwächen hoffte. Besonders ausführlich legte er sein außenpolitisches Konzept in der „Prachtschrift“ von 1856 nieder. Seine Äußerungen lösten einen heftigen Konflikt mit den Hochkonservativen um die Gebrüder Gerlach aus, die in Napoleon III. nur einen Vertreter des revolutionären Prinzips und einen „natürlichen Feind“ sahen. Bismarck antwortete, dass ihm die Legitimität der Staatsoberhäupter letztlich egal sei. Für ihn standen nicht die konservativen Grundsätze, sondern die Staatsinteressen im diplomatischen Geschäft im Mittelpunkt. Im Lager der Konservativen galt er nun zunehmend als egoistischer Opportunist.Bismarck legte viel Wert auf die neutrale Haltung Preußens im Krimkrieg und auf dessen unabhängige Stellung auf der Konferenz in Paris, die zum Pariser Frieden von 1856 führte. Von daher gefiel ihm nicht, dass neben England auch Österreich in Berlin und in Frankfurt Druck ausübte, um Preußen zum Krieg im Dienste der Westmächte zu nötigen. Im Unterschied dazu war Napoleon III. viel nachsichtiger gegenüber diesen „Sünden“. === Gesandter in St. Petersburg und Paris === Der Konflikt mit den Gerlachs hatte aber auch innenpolitische Gründe. Nach der Übernahme der Regentschaft durch Prinz Wilhelm 1857 verloren die Hochkonservativen an Einfluss; stattdessen nahm die Bedeutung der gemäßigt liberal-konservativen Wochenblattpartei zu. In der beginnenden Neuen Ära versuchte auch Bismarck, durch eine gewisse Distanzierung von den extremen Konservativen seine Position zu behaupten. In einer umfangreichen Denkschrift sprach er nunmehr von einer „nationalen Mission“ Preußens und von einem Bündnis mit der national-liberalen Bewegung. Damit vollzog er einen bemerkenswerten Kurswechsel. Allerdings ging es ihm nicht um den Kampf für die deutsche Einheit um ihrer selbst willen, sondern war es sein Ziel, den deutschen Nationalismus einer Stärkung der preußischen Macht dienstbar zu machen.Die Erwartungen, die er mit der Anpassung an ein verändertes politisches Klima in Preußen verband, erfüllten sich für ihn selbst allerdings zunächst noch nicht. Im Januar 1859 wurde er als preußischer Gesandter nach Sankt Petersburg versetzt; er selbst sprach davon, dass er an der Newa kaltgestellt worden sei. Der Wechsel fiel der Familie schwer; die Eheleute Bismarck hatten in Frankfurt die glücklichste Zeit ihrer Ehe erlebt. Bismarck erweiterte in der neuen Funktion allerdings seine diplomatischen Kenntnisse und erfreute sich des Wohlwollens des russischen Hofes und des Kaiserpaares. Sein Ehrgeiz richtete sich aber zunehmend auf die höchsten Ämter im preußischen Staat. Er beobachtete genau die Entwicklung des preußischen Verfassungskonflikts. Die Hoffnung, bereits im April 1862 zum Ministerpräsidenten ernannt zu werden, erfüllte sich nicht. Stattdessen wurde er Gesandter in Paris, wo er im Palais Beauharnais residierte. Dieser Posten galt ihm jedoch von Beginn an nur als Wartestellung. In diese Zeit fiel die von seiner Ehefrau geduldete Liebesaffäre mit Fürstin Katharina Orlowa (1840–1875), der Ehefrau des russischen Gesandten in Belgien Nikolai Alexejewitsch Orlow. Am 22. August 1862, kurz vor seiner Berufung zum Ministerpräsidenten, wäre Bismarck in Biarritz mit Katharina Orlowa fast ertrunken und wurde von einem Leuchtturmwärter gerettet. Seiner Frau schreibt er an diesem Tag nur: „Nach einigen Stunden Ruhe und Briefeschreiben nach Paris und Berlin nahm ich den zweiten Trunk Salzwasser, diesmal im Hafen, ohne Wellenschlag, mit viel Schwimmen und Tauchen, zwei Wellenbäder wären mir zu viel am Tage.“ Es war die letzte private Eskapade Bismarcks, ehe er sich ausschließlich der Politik widmete. == Preußischer Ministerpräsident == === Berufung === In Berlin verfestigte sich die ablehnende Haltung der Liberalen gegen eine geplante Heeresreform. Die Notwendigkeit einer Modernisierung der Armee wurde von der politischen Öffentlichkeit zwar nicht ernsthaft in Frage gestellt. Der Streit entzündete sich jedoch an militärpolitischen Details. Der preußische König Wilhelm I. war unter anderem nicht bereit, von seinem Plan einer drei- statt zweijährigen Wehrdienstzeit abzurücken. Eine Einigung mit dem preußischen Landtag wurde so unmöglich. Wilhelm I. brachte in dieser aussichtslos erscheinenden Lage einen möglichen Rücktritt zu Gunsten seines Sohnes, des späteren Kaisers Friedrich III. ins Spiel.Kriegsminister Roon sah in der Ernennung Bismarcks zum Ministerpräsidenten die einzige Möglichkeit, den Thronwechsel zugunsten des als liberal geltenden Kronprinzen zu verhindern. Mit einem Telegramm – „Periculum in mora. Dépêchez-vous!“ („Gefahr im Verzuge. Beeilen Sie sich!“) – rief er Bismarck nach Berlin zurück. Nach 25 Stunden Bahnfahrt traf Bismarck am 20. September 1862 in Berlin ein. Zwei Tage später wurde er von König Wilhelm I. im Schloss Babelsberg empfangen. Über Inhalt und Verlauf der Unterredung liegt nur Bismarcks Bericht vor, der aber im Gegensatz zu anderen Teilen seiner Erinnerungen im Kern korrekt sein dürfte. Bismarck gewann den noch zögernden König, indem er sich als seinen unbedingten Gefolgsmann gab. Er versprach die Durchsetzung der Heeresreform und betonte seinerseits die grundlegende Bedeutung der Auseinandersetzung um sie. Der König ernannte Bismarck schließlich zum Ministerpräsidenten und Außenminister. === Beziehung zum König und Grundsätze === Das Ernennungsgespräch legte die Grundlage für die außergewöhnliche Beziehung zwischen dem König und Bismarck in den folgenden Jahrzehnten. Bismarck schuf sich die Grundlage für eine außergewöhnliche Vertrauensstellung bei Wilhelm I. und verschaffte sich eine Blankovollmacht, die seinen Handlungsspielraum über das übliche Maß eines leitenden Ministers hinaus erweiterte (Lothar Gall), indem er sich dem Monarchen als „kurbrandenburgischer Vasall“ andiente, der in prekärer Lage kampfesmutig und in unverbrüchlicher Treue zu seinem Lehnsherrn stehen werde. Zwar kam es in den nächsten Jahren immer wieder zu Meinungsverschiedenheiten, doch haben sie das Grundvertrauen des Königs Bismarck gegenüber nicht beeinträchtigt.Im Einzelnen erhielt Bismarck sehr starke Vollmachten, auf die er sich später berief. Darunter war die, dass seine Minister nur mit seinem Einverständnis dem Monarchen einzeln berichten dürfen.Bismarck blieb zwar ein Konservativer, allerdings ein zunehmend pragmatisch handelnder und nicht an ideologischen Fixierungen klebender Politiker. Ideale, Theorien und Prinzipien waren für ihn nicht vorrangig ausschlaggebend; was vor allem zählte, waren die Interessen der Staaten. Daraus ergab sich die Machterweiterung Preußens als maßgebliches Ziel. Aus Bismarcks Sicht war es nur möglich, den Großmachtanspruch Preußens zu bewahren, wenn dieses eine hegemoniale Stellung in Europa zu Lasten Österreichs gewinnen konnte und die übrigen europäischen Mächte das duldeten. Um Nationalismus im landläufigen Sinn ging es ihm dabei nicht, vielmehr um außenpolitischen Realismus. Er setzte darauf, dass außenpolitische Erfolge sich auch auf seine Innenpolitik günstig auswirken würden. Er wollte die Monarchie und den Obrigkeitsstaat ebenso erhalten wie die besondere Stellung von Militär und Adel. Erste Priorität hatte aber im Zweifelsfall die Macht des Staates. Darauf zielte auch das zeitweilige Bündnis mit der nationalen und liberalen Bewegung. === Konfliktminister === Zu Beginn seiner Ministerpräsidentschaft herrschte in weiten Teilen der politischen Öffentlichkeit eine Ablehnung von Bismarcks Politik vor. Er galt weiterhin als extremer Reaktionär und hatte es daher schwer, geeignete Minister zu finden. Das erste Kabinett Bismarck bestand so denn auch mehrheitlich aus eher zweitrangigen Persönlichkeiten. Unter ihnen waren Carl von Bodelschwingh, Heinrich Friedrich von Itzenplitz und Gustav von Jagow. Als Chef eines Konfliktministeriums stand Bismarck zunächst in einer Auseinandersetzung mit den Liberalen. Er versuchte anfangs, die Opposition durch Ausgleichsbemühungen zu neutralisieren. Dies scheiterte, weil seine Blut-und-Eisen-Rede erneut das Bild eines stockkonservativen Politikers zu bestätigen schien: Die Rede war als weitgehendes Bündnisangebot an die liberale und nationale Bewegung gedacht. Obwohl auch die liberale Mehrheit des Abgeordnetenhauses der Auffassung war, dass die „Deutsche Frage“ nicht ohne Gewalt durchzusetzen sei, fasste man, insbesondere die (liberale) Presse, „Eisen und Blut“ als eine angekündigte Gewaltherrschaft auf, die sich auf außenpolitische Abenteuer stürze. Dies hat dazu beigetragen, Bismarcks Ruf als Gewaltpolitiker zu festigen. Bismarck gab in der Folge seinen Schlingerkurs auf und bekämpfte die Liberalen mit aller Schärfe. Das Parlament wurde vertagt. Damit regierte Bismarck im Herbst 1862 ohne ordnungsgemäßen Haushalt. Anfang 1863 wurde das Parlament wieder einberufen. Bismarck rechtfertigte sich mit der berühmt gewordenen, heftig umstrittenen Lückentheorie. Danach basiere das normale staatliche Handeln auf Kompromissen zwischen der Krone, dem Herrenhaus und dem Abgeordnetenhaus. Weigere sich eine der Seiten nachzugeben, komme es zu Konflikten, „und Konflikte, da das Staatsleben nicht stillzustehen vermag, werden zu Machtfragen; wer die Macht in den Händen hat, geht dann in seinem Sinne vor, weil das Staatsleben auch nicht einen Augenblick stillstehen kann“. Dahinter stand Bismarcks Voraussetzung, der Fall eines unauflöslichen Dissenses zwischen Monarch und Parlament sei in der Verfassung nicht geregelt. Demnach liege eine Lücke vor, die durch die Prärogative des Königs geschlossen werden müsse. Diese Auslegung der Rechtslage war nach Auffassung vieler Zeitgenossen schlicht ein Verfassungsbruch. Maximilian von Schwerin-Putzar urteilte, dies bedeute, „Macht geht vor Recht“. Bislang habe die Größe Preußens und die Anerkennung des Königshauses auf dem Grundsatz beruht „Recht geht vor Macht. Justitia fundamentum regnorum! Das ist der Wahlspruch der preußischen Könige, und er wird es fort und fort bleiben.“Um gegen die Liberalen zu mobilisieren, verfolgte Bismarck zeitweilig unterschiedliche Pläne. Dazu gehörte auch ein Bündnis mit der sozialdemokratischen Bewegung. 1863 traf er sich mehrfach mit Ferdinand Lassalle, ohne dass dies damals jedoch praktische Auswirkungen gehabt hätte. Trotz heftiger Proteste – öffentliche Kritik kam sogar vom Thronfolger – und der allgemeinen Erwartung eines Scheiterns der Regierung überlebte Bismarck die Krise politisch. Gegen hohe liberale Beamte, unter ihnen nicht zuletzt Abgeordnete, ging er mit repressiven Mitteln bis hin zu Entlassungen vor. Gleichzeitig wurde die Pressefreiheit in Missachtung der Verfassung praktisch abgeschafft. 1865 forderte Bismarck Professor Rudolf Virchow (ein Mitglied des Preußischen Abgeordnetenhauses) zum Duell, das dieser jedoch ablehnte, weil es keine zeitgemäße Form der Auseinandersetzung sei. An der verfahrenen politischen Situation änderte sich freilich nichts. Die Verfassungskrise blieb bis 1866 ungelöst und artete in so etwas wie einen Stellungskrieg aus. Bismarck versuchte, die Opposition zu zermürben. Er regierte mit dem Staatsapparat, und lange Zeit wurde das Parlament gar nicht einberufen. Am 9. Mai 1866 wurde es erneut aufgelöst. Bismarck spielte anfangs selbst mit dem Gedanken eines Staatsstreichs durch Abschaffung von Wahlrecht und Verfassung. Je länger der Konflikt andauerte, desto mehr lehnte er solche Forderungen, die von konservativer Seite erhoben wurden, aber ab, da sie keine langfristig stabile politische Ordnung hervorzubringen versprachen.Bismarck versuchte unterdessen, mit außenpolitischen Erfolgen innenpolitischen Druck auf die Opposition auszuüben. Zunächst ging dieses Kalkül nur sehr bedingt auf. Das erste Abkommen, die Alvenslebensche Konvention vom 8. Februar 1863 zur Unterstützung Russlands gegen den Aufstand in Polen, stieß in Preußen selbst in konservativen Kreisen auf breite Ablehnung. Der Druck von Seiten Großbritanniens und Napoleons III. machte die Konvention überdies wertlos. Österreich sah Bismarck geschwächt und versuchte das zu nutzen, um eine Reform des Deutschen Bundes zu Gunsten der Habsburgermonarchie durchzusetzen. Nur mit Mühe gelang es Bismarck, dem König die Teilnahme an dem geplanten Fürstentag in Frankfurt auszureden. Der Ministerpräsident legte im Gegenzug die preußischen Vorstellungen einer Bundesreform vor. Sie zielten wie schon früher auf gleiche Rechte für Österreich und Preußen. Neu war aber die Forderung nach einer „aus direkter Beteiligung der ganzen Nation hervorgehenden Nationalvertretung“. Dies war nicht mehr und nicht weniger als ein Bündnisangebot Preußens an die Nationalbewegung, die eng mit dem Liberalismus verbunden war. Kurzfristig nützte das Bismarck nichts, da er angesichts des Verfassungskonflikts als Partner für die Liberalen nicht in Frage kam. Die Opposition in Preußen konnte bei den Neuwahlen Ende Oktober 1863 ihre Position behaupten. === Deutsch-Dänischer Krieg === Die Frage der Bundesreform wurde bald von einer Krise internationaler Größenordnung überdeckt. Nach dem Tod Friedrichs VII. von Dänemark entbrannte ein Streit um die Zukunft der beiden Herzogtümer Schleswig und Holstein. Schleswig war ein Lehen Dänemarks, während Holstein Mitglied des Deutschen Bundes war. Beide Territorien unterstanden jedoch dem dänischen König in Personalunion (Dänischer Gesamtstaat). Friedrich von Augustenburg beanspruchte die Länder für sich. Die deutsche nationale Bewegung unterstützte ihn und forderte die Vereinigung der beiden Herzogtümer und ihre Eingliederung in den Deutschen Bund als eigenständiger Staat. Der neue dänische König Christian IX., der unter dem Druck der Nationalbewegung im eigenen Land stand, unterschrieb stattdessen zögernd die Novemberverfassung, die Schleswig verfassungsrechtlich näher als Holstein an Dänemark band und somit die Bestimmungen des Londoner Protokolls über den Bestand des Gesamtstaates verletzte. Zur Enttäuschung der nationalen und liberalen Bewegung lehnte Bismarck es ab, den Anspruch Friedrichs von Augustenburg zu unterstützen. Er wandte sich gleichzeitig aber auch gegen die dänische Position und strebte mittelfristig die Einbindung der beiden Herzogtümer in den preußischen Machtbereich an. Dies war zum Zeitpunkt der Krise außenpolitisch allerdings nicht durchsetzbar. Deshalb hegte Bismarck zunächst wie Österreich ein Interesse an einem neuen Augustenburger Staat. Die Österreicher sahen in einer „nationalen Lösung“ der schleswig-holsteinischen Frage eine Gefahr für den eigenen Vielvölkerstaat. Vor diesem Hintergrund konnte es noch einmal zu einer Zusammenarbeit der beiden deutschen Großmächte kommen. Bismarcks Politik in der schleswig-holsteinischen Krise folgte wie auch bei anderen Gelegenheiten keinem festen Plan. Er ging vielmehr davon aus, dass die Umstände denjenigen am meisten begünstigen würden, der sich von ihnen leiten ließ, ihnen Lösungen abgewann und sie ihnen nicht aufzuzwingen versuchte.Bismarck trat zunächst als Verteidiger des bestehenden Völkerrechts auf und forderte von Dänemark, wieder auf den Boden der Londoner Verträge von 1852 zurückzukehren. Dadurch beruhigte er die europäischen Großmächte. Österreich stellte sich an die Seite Preußens. Die übrigen deutschen Staaten im Deutschen Bund und der Bundestag wurden dadurch weitgehend an den Rand gedrängt. Tatsächlich erklärten Bismarck und der österreichische Gesandte Alajos Károlyi in Berlin, dass beide Großmächte das Recht beanspruchen, sich über die Beschlüsse des Bundestages hinwegzusetzen. Damit wurde das Fortbestehen des Bundes erstmals von Preußen und Österreich gemeinsam in Frage gestellt. Der Konflikt um Schleswig und Holstein führte im Dezember 1863 zunächst zu einer Bundesexekution gegen Holstein und Lauenburg und dann – gegen die Proteste des Deutschen Bundes – im Februar 1864 zum Deutsch-Dänischen Krieg zwischen Preußen und Österreich auf der einen und Dänemark auf der anderen Seite. Im Gegensatz zu früheren Kriegen Preußens lag die eigentliche Führung nicht beim König oder den hohen Militärs, sondern beim Ministerpräsidenten, dessen politischem Kalkül die militärischen Schritte untergeordnet wurden. Als sich die Berichte über unüberlegte Befehle des 80-jährigen Oberbefehlshabers General Friedrich von Wrangel häuften und er beim König den Antrag gestellt hatte, Schleswig-Holstein als unabhängige Herzogtümer anzuerkennen, wurde er auf Betreiben Bismarcks abgelöst.Nach dem Sieg Preußens an den Düppeler Schanzen am 18. April 1864 kam es auf der Londoner Konferenz zu ersten Verhandlungen über die Beilegung des Konflikts, die nicht zuletzt am Taktieren Bismarcks scheiterten. Der Krieg ging weiter und die verbündeten Österreicher und Preußen eroberten Jütland. Damit war Dänemark besiegt. Der Krieg endete mit dem Wiener Friedensvertrag vom 30. Oktober 1864. In diesem verzichtete Dänemark auf die Herzogtümer Schleswig, Holstein und Lauenburg. Die zeitweiligen Überlegungen, einen eigenen Bundesstaat unter den Augustenburgern zu bilden, blieben ergebnislos, weil Bismarck versuchte, einen solchen Bundesstaat zu einer Art preußischem Protektorat zu machen. Stattdessen wurden die Herzogtümer der gemeinsamen Verwaltung durch Österreich und Preußen unterstellt. Diese Konstruktion war für Bismarck nur ein Provisorium. Nicht zuletzt auf Grund seines Ziels der alleinigen Kontrolle über die Herzogtümer trat der preußisch-österreichische Gegensatz wieder hervor.Innenpolitisch löste der Erfolg in Dänemark kein Nachgeben der Fortschrittspartei im preußischen Parlament aus. Die Liberalen befanden sich Bismarck gegenüber jetzt aber mit verschiedenen Anträgen in der Defensive, wenn sie z. B. wegen des Verfassungsstreits den Ausbau der Marine ablehnten, der von der Mehrheit sachlich gewollt wurde. In der liberalen Bewegung begannen ehemalige Kritiker des Ministerpräsidenten wie Heinrich von Treitschke, ihre Position zu ändern. Die Liberalen begannen in zwei Lager zu zerfallen: jene, die an der Verbindung zwischen nationaler Einigung und politischer Liberalisierung festhielten, und jene, die das erste Ziel auch unter Hintansetzung des zweiten anstrebten. === Deutscher Krieg === Nach dem Deutsch-Dänischen Krieg spielte Bismarck noch einige Zeit ernsthaft mit dem Gedanken einer preußisch-österreichischen Übereinkunft unter konservativem Vorzeichen. Als sich zeigte, dass die von Ludwig von Biegeleben bestimmte österreichische Deutschlandpolitik eine Erweiterung der preußischen Macht nicht zuließ, setzte Bismarck auf ein Bündnis mit der liberalen und nationalen Bewegung mit dem Ziel der Schaffung eines kleindeutschen Staates. Allerdings steuerte er keineswegs von Beginn an auf eine kriegerische Auseinandersetzung hin. Vielmehr hielt er sich zunächst mit dem Ziel der alleinigen Kontrolle über Schleswig und Holstein alle Optionen offen. In der Gasteiner Konvention kam es im August 1865 zur Teilung. Holstein wurde österreichisch und Schleswig preußisch verwaltet. Das Herzogtum Sachsen-Lauenburg kam an Preußen. Zum Dank erhielt Bismarck den preußischen Grafentitel. Für ihn war die Auseinandersetzung mit Österreich allerdings nur aufgeschoben. Bismarck entschied sich letztlich auch deswegen für einen Krieg, weil er hoffte, so den preußischen Verfassungskonflikt beenden zu können, zeichnete sich doch immer deutlicher eine Spaltung des oppositionellen Lagers ab. Die zentrale Weichenstellung fiel auf einer Kronratssitzung am 28. Februar 1866. Bismarck gelang es, den vor einem „Bruderkrieg“ zurückschreckenden König von der Kriegspolitik zu überzeugen, und er schaffte es, Wilhelm I. in den folgenden Monaten von der Änderung seiner Meinung abzuhalten. Bismarck unternahm nun alles, Österreich zu isolieren und zu provozieren. Er hielt sich aber auch die Möglichkeit offen, den Konfrontationskurs abzubrechen, sollte es zu starke Widerstände der Großmächte geben. Mit Erfolg hielt Bismarck insbesondere Napoleon III. zu einer neutralen Haltung an. Die Unterstützung Italiens sicherte Bismarck sich durch einen befristeten Bündnisvertrag (8. April 1866). Nachdem er erneut die Wahl eines direkt gewählten deutschen Parlaments ins Spiel gebracht hatte, um Österreich zu provozieren, löste er massive Kritik im Lager der preußischen Konservativen aus. Selbst Ludwig von Gerlach distanzierte sich in aller Schärfe von ihm. Die Liberalen hielten Bismarck weiterhin für unglaubwürdig und gingen auf dessen Bündnisangebot nicht ein. Auch in der Öffentlichkeit war ein deutscher Bürgerkrieg höchst unpopulär. Um den Krieg abzuwenden, verübte Ferdinand Cohen-Blind am Nachmittag des Montag, den 7. Mai 1866 nach 17 Uhr sogar ein Pistolenattentat auf Bismarck, das dieser jedoch überstand.Als Österreich am 1. Juni 1866 die Entscheidung über die Zukunft Schleswig-Holsteins dem Bundestag übertrug, ließ Bismarck mit dem Argument, dies sei eine Verletzung der Gasteiner Konvention, die preußische Armee in Holstein einmarschieren. Daher beschloss der Bundestag am 14. Juni auf Antrag Österreichs die Mobilmachung des Bundesheeres. Preußen erklärte daraufhin den Bund für aufgelöst, da ein solcher Beschluss unzulässig sei. Es begann am 16. Juni 1866 mit den militärischen Operationen gegen die Königreiche Hannover, Sachsen und gegen Kurhessen. Ein Erfolg der preußischen Armee schien keineswegs sicher. Ein Großteil der Zeitgenossen, so auch Napoleon III., rechneten mit einem österreichischen Sieg. Bismarck setzte somit alles auf eine Karte. „Wenn wir geschlagen werden […] werde ich nicht hierher zurückkehren. Ich werde bei der letzten Attacke fallen.“ Bismarck war bestrebt, den Krieg selbst unter Kontrolle zu halten. Dies stand im Gegensatz zu den Plänen von Generalstabschef Moltke, der einen unbegrenzten Krieg plante. Die Gefahr, das Militär könnte sich der politischen Führung entziehen, kam dann wegen der Kürze des Feldzuges nicht zum Tragen. Aus verschiedenen Gründen – etwa der Zerstrittenheit der Streitkräfte des Deutschen Bundes, der strategischen Nutzung der Eisenbahn und neuer Taktiken auf dem Schlachtfeld – erwies sich die preußische Armee als überlegen und errang am 3. Juli 1866 in der Schlacht von Königgrätz den entscheidenden Sieg. Während Wilhelm I. und die Militärs darauf drängten, Wien zu erobern und Österreich harte Friedensbedingungen aufzuerlegen, setzte Bismarck gemäßigte Bedingungen durch, da er davon ausging, dass ein geschwächtes Österreich zu einem Bündnis mit Frankreich gezwungen wäre, was zu einem Zweifrontenkrieg gegen Preußen hätte führen können. Im Prager Frieden vom 23. August 1866 brauchte Österreich denn auch keine Gebiete an Preußen abzutreten, musste aber der Abtretung Venetiens an Italien, Auflösung des Deutschen Bundes und der Bildung eines Norddeutschen Bundes unter preußischer Führung zustimmen. Schleswig und Holstein wurden von Preußen ebenso annektiert wie Hannover, Kurhessen, Nassau und die Freie Stadt Frankfurt. Die süddeutschen Staaten blieben zunächst unabhängig.Bismarck erwarb 1867 von der ihm wegen des erfolgreichen Deutschen Krieges bewilligten Dotation in Höhe von 400.000 Talern das Rittergut Varzin. Auf dessen Gemarkung ließ er die Papierfabrik Hammermühle errichten, die sich bald zum größten Unternehmen Ostpommerns entwickeln sollte, sowie weitere Papierfabriken. Das Gut Kniephof verkaufte er 1868 an seinen Neffen Philipp von Bismarck. Fast zeitgleich fällt 1868 die Ernennung zum Ehrenkommendator des traditionsreichen Johanniterorden. === Ende des preußischen Verfassungskonflikts === Der Krieg führte unter anderem dazu, dass die Konservativen ihre Position im preußischen Landtag erheblich ausbauen konnten. Um den Konflikt mit den Liberalen endlich beizulegen, ließ Bismarck ankündigen, er wolle den Landtag um „Indemnität“ bitten, also um die nachträgliche Genehmigung der Ausgaben. Dies bedeutete das Eingeständnis, dass er in den Jahren seit 1862 faktisch ohne rechtmäßigen Haushalt regiert hatte. Bismarck wollte dies aber nicht als Schuldeingeständnis gewertet wissen. Verfassungsrechtlich war die Position der Regierung, so der Historiker Heinrich August Winkler, noch immer unhaltbar.Dennoch lag ein Politikwechsel vor, mit dem niemand gerechnet hatte. Die Frage, wie man das Angebot Bismarcks zu beurteilen habe, führte zur Spaltung der Liberalen. Während die einen argumentierten, von Bismarck seien weitere Fortschritte in der nationalen Frage zu erwarten, meinten andere, liberale Freiheitsrechte müssten Vorrang vor der nationalen Einheit haben. Dieser Konflikt führte zur Abspaltung der gemäßigten und nationalen Liberalen von der Fortschrittspartei und zur Bildung der Nationalliberalen Partei. Ähnliche Veränderungen fanden auch im Lager der Konservativen statt. Von den ideologisch geprägten Altkonservativen um Leopold von Gerlach, die sich schon vor dem Krieg von 1866 von Bismarck abgewandt hatten, trennten sich nunmehr realpolitisch gesinnte Bismarckanhänger und bildeten die Freikonservative Partei. Für seine Politik konnte sich Bismarck in den folgenden Jahren auf Nationalliberale und Freikonservative stützen. === Reformwerk === Der Sieg im Deutschen Krieg bewirkte in der deutschen und preußischen Öffentlichkeit einen Wandel in der Beurteilung Bismarcks. Bei den Annexionen hat Bismarck sich um das für die Konservativen zentrale Prinzip der monarchischen Legitimität nicht gekümmert. Der Reichstag des neuen Norddeutschen Bundes wurde nach demokratischen Grundsätzen gewählt. Die zentralen Aspekte der Verfassung des Bundes wurden von Bismarck in weiten Teilen selbst bestimmt („Putbuser Diktate“), wenngleich er in den parlamentarischen Beratungen auch einigen Kompromissen zustimmen musste. Die Verfassung, die im Kern auch während des Deutschen Kaiserreichs weiter galt, wird daher auch Bismarcksche Reichsverfassung genannt. Zusammen mit der Position des preußischen Ministerpräsidenten und dem Amt des Außenministers hatte Bismarck als norddeutscher Bundeskanzler nun eine überaus starke Machtstellung inne. Im konstituierenden Reichstag (Februar bis April 1867) kam es zum Beschluss, dass nach der Verfassung weder der Kanzler noch andere Regierungsmitglieder vom Reichstag zu Fall gebracht werden konnten – eine in Europa nicht unübliche Verfassungslage. Insgesamt ist Bismarck den liberalen Forderungen weit entgegengekommen, wobei er letztlich Reformen durchführte, wie sie in der Zeit üblich und in einem modernen Staat kaum zu verhindern waren.Die inneren Veränderungen gingen ohnehin weit über die Verfassung hinaus. Sie umfassten die allgemeine Rechtsordnung, die Wirtschafts- und Sozialverfassung bis hin zur Verwaltungsstruktur. Bei allen (durchaus zeittypischen) Mängeln ist doch bemerkenswert, dass unter der Verantwortung Bismarcks, der kurze Zeit zuvor noch allgemein als Erzkonservativer gegolten hatte, ein für die Zeit sehr modernes Staatswesen entstand. In weiten Bereichen entsprach dieses liberalen Vorstellungen. Die eigentliche Umsetzung lag in anderen Händen. Insbesondere Rudolph von Delbrück war hier eine prägende Persönlichkeit. Dennoch ist Bismarcks persönlicher Einfluss nicht zu unterschätzen. Der Historiker Lothar Gall sieht die endgültige Durchsetzung des modernen bürokratisch-zentralisierten Anstaltsstaates in Mitteleuropa mit den für die Entfaltung der Industriegesellschaft wichtigen Rechtsformen und Institutionen sogar im Wesentlichen als Bismarcks Werk an. === Deutsch-Französischer Krieg und Reichsgründung === ==== Der Weg zum Krieg ==== In Fortführung seines funktionalen Verhältnisses zum nationalen Gedanken wurde die Nation nach 1866 für Bismarck als Integrationsfaktor wichtig. Bismarck erkannte, dass die Monarchie und der damit verbundene Staat auf Dauer nur überlebensfähig waren, wenn Preußen sich selbst an die Spitze der nationalen Bewegung stellte. Gleichzeitig war er aus machtpolitischen Gründen bestrebt, die süddeutschen Staaten mit dem Norddeutschen Bund zu vereinigen. Sein Ziel war nunmehr die Schaffung eines kleindeutschen Nationalstaates unter preußischer Führung. Zwar wurden mit den süddeutschen Staaten Schutz- und Trutzbündnisse abgeschlossen, aber der Norddeutsche Bund erwies sich nicht als der von Bismarck erhoffte Magnet, der zu einem Anschluss der noch fernstehenden deutschen Länder führte. Die Wahlen zum Zollparlament gewannen in Bayern und Württemberg Gegner eines Anschlusses. Bismarck war der Meinung, dass nur eine äußere Bedrohung die Stimmung in seinem Sinn verändern könnte. Allerdings versuchte er nicht, eine konkrete Bedrohungssituation selbst herbeizuführen. Zwar hielt er es für wahrscheinlich, dass die deutsche Einigung gewaltsam gefördert werden musste, aber „ein willkürliches, nur nach subjektiven Gründen bestimmtes Eingreifen in die Entwicklung der Geschichte hat immer nur das Abschlagen unreifer Früchte zur Folge gehabt; und daß die deutsche Einheit in diesem Augenblick keine reife Frucht ist, fällt meines Erachtens in die Augen“.Außenpolitisch rechnete Bismarck von Seiten Frankreichs mit dem stärksten Widerstand gegen einen deutschen Nationalstaat. In der französischen Öffentlichkeit wurden unter der Losung „Rache für Sadowa“ (Königgrätz) territoriale Forderungen gestellt, die zur Luxemburgkrise führten. Mit der Neutralisierung Luxemburgs wurde das Problem im Mai 1867 gelöst. Bismarck nutzte die Gelegenheit, durch Parlamentsreden und in Presseartikeln die antifranzösische Stimmung noch zu verstärken. Napoleon III. sah den Ausgang des Konflikts als Niederlage an und tat danach alles, um weitere preußische Ambitionen zu unterbinden. Unklar ist, ob Bismarck tatsächlich bereit war, den Erwerb Luxemburgs durch Frankreich zu akzeptieren, und nur die Umstände dies verhinderten oder ob das Ergebnis der Krise seinem bewussten Kalkül entsprang. Unabhängig davon standen sich der Norddeutsche Bund und Frankreich nun in aller Schärfe gegenüber.Ein weiterer Konflikt mit Frankreich entstand Anfang 1870 im Laufe der spanischen Thronfolge-Frage. Bismarck drängte Prinz Leopold von Hohenzollern-Sigmaringen zur Kandidatur. Der Prinz entstammte der katholischen Linie der in Preußen regierenden Hohenzollern, was ihn aus Sicht von Napoleon III. unannehmbar machte. Bismarck ging es zunächst nur darum, einen diplomatischen Sieg zu erringen und sich dabei mehrere Möglichkeiten offenzuhalten. Sowohl Bismarck als auch Kaiser Napoleon III. wollten für sich einen Ansehensverlust verhindern, so dass der diplomatische Konflikt zu einer nationalen Frage eskalierte. In Frankreich erzielte die Hohenzollernkandidatur die von Bismarck erhoffte Wirkung, befürchtete man dort doch, künftig von hohenzollerschen Staaten eingekreist zu werden. Die Krise schien durch den Verzicht des Prinzen zunächst entschärft. Wilhelm I. wies jedoch das Verlangen Frankreichs zurück, er solle im Namen des Hauses Hohenzollern auch für alle Zukunft auf ähnliche Kandidaturen verzichten. Der König informierte Bismarck darüber in der sogenannten Emser Depesche. Dieser nutzte die Gelegenheit und stellte in einer Pressemitteilung die Begegnung von Wilhelm mit dem französischen Botschafter als besonders schroff dar. Napoleon III. war damit vor aller Welt brüskiert worden. Angesichts der Reaktionen in der französischen Öffentlichkeit sah er keine andere Wahl mehr, als Preußen den Krieg zu erklären. Damit erschien Frankreich, wie von Bismarck beabsichtigt, als Aggressor. In Deutschland war die öffentliche Meinung nun ganz auf Seiten Preußens, und die süddeutschen Staaten sahen den Bündnisfall als gegeben an. Dagegen war Frankreich außenpolitisch völlig isoliert. ==== Krieg und Reichsgründung ==== Der Deutsch-Französische Krieg schien zunächst nach gewohntem Muster eine rasche Entscheidung zu bringen. Infolge der Gefangennahme Napoleons III. bei der Schlacht von Sedan brach das Zweite Kaiserreich zusammen. Zu einem schnellen Friedensschluss kam es allerdings nicht, weil die deutsche Seite, mit Bismarck in führender Rolle, die Abtretung von Elsass-Lothringen zur Bedingung machte. Diese territoriale Forderung wurde auch unter dem Eindruck der öffentlichen Meinung in Deutschland gestellt. Kurzfristig führte dies dazu, dass die neu gebildete französische Regierung den Krieg nicht nur fortsetzte, sondern ihn sogar zu einem nationalen Volkskrieg erhob. Langfristig wurden die deutsch-französischen Beziehungen durch die Elsass-Lothringen-Frage schwer belastet. Die dauerhafte Schwächung Frankreichs entwickelte sich zu einem zentralen Ziel der Bismarckschen Außenpolitik. Der Ministerpräsident mischte sich während des Krieges wiederholt in die Entscheidungen der Militärs ein. Dies führte zu heftigen Konflikten mit der militärischen Führung, die ihren Höhepunkt anlässlich der Frage einer Belagerung oder Beschießung von Paris erreichten. Hier setzte Bismarck sich mit seiner Forderung nach einer Beschießung durch. Der Krieg hatte die Gegner der deutschen Vereinigung auch in Süddeutschland in die Defensive gedrängt. Seit Mitte Oktober 1870 verhandelte Bismarck in Versailles mit den Delegationen der süddeutschen Länder. Mit einem Bündnis der deutschen Fürsten und freien Städte sollte nicht zuletzt weitergehenden Vorstellungen des nationalen und liberalen Lagers begegnet werden. Bei den Verhandlungen verzichtete Bismarck auf direkten Druck und argumentierte stattdessen mit den Vorteilen eines solchen Zusammenschlusses. Insgesamt setzte er seine Vorstellungen durch.Als Erste erklärten Baden und Hessen-Darmstadt ihren Beitritt zum Norddeutschen Bund. Württemberg und Bayern machten den Weg zur Gründung des Deutschen Reiches frei, nachdem ihnen Reservatsrechte zugebilligt worden waren. Bismarck selbst verfasste den „Kaiserbrief“, mit dem Ludwig II. von Bayern Wilhelm I. um die Annahme der Kaiserkrone bat. In diesem Zusammenhang bestach Bismarck Ludwig auch mit Mitteln aus dem Welfenfonds. Nur mit Mühe gelang es ihm allerdings, König Wilhelm, der einen Bedeutungsverlust des preußischen Königtums befürchtete, zur Annahme des Kaisertitels zu bewegen. Am 18. Januar 1871 kam es im Spiegelsaal von Versailles zur „Kaiserproklamation“. Sie markierte die Gründung des Deutschen Kaiserreichs. Wenige Tage später kapitulierte Paris. Der Deutsch-Französische Krieg endete am 10. Mai 1871 mit dem Frieden von Frankfurt. Am 16. Juni 1871 nahm er mit dem Kaiser an der glänzenden Berliner Siegesparade teil. Bismarck hatte damit den Höhepunkt seiner politischen Laufbahn erreicht. Er wurde in den Fürstenstand erhoben und Wilhelm I. machte ihm den Sachsenwald in der Nähe Hamburgs zum Geschenk. Bismarck gehörte nunmehr zu den großen Grundbesitzern des Reiches und war, auch dank der geschickten Verwaltung seiner Gelder durch Gerson Bleichröder, ein reicher Mann. Den Großteil seines Vermögens erwirtschaftete er über den Verkauf des Holzes aus dem Sachsenwald. Sein Hauptabnehmer Friedrich Vohwinkel erwarb zwischen 1878 und 1886 Holz im Wert von mehr als einer Million Mark aus Bismarcks Wäldereien. Bismarck erwarb ein ehemaliges Hotel in Friedrichsruh im Sachsenwald und ließ es umbauen. Nach 1871 wurde Friedrichsruh zum Mittelpunkt seines Privatlebens. == Reichskanzler == Das neue Kaiserreich übernahm weitgehend die Verfassung des Norddeutschen Bundes. Als Reichskanzler, Vorsitzender des Bundesrates, preußischer Ministerpräsident und Außenminister blieb Bismarck so der dominierende Politiker. Darüber hinaus konnte er auf sein ungeheures Prestige als Gründer des Reiches bauen. Dieses wog auch gegenüber Wilhelm I. schwer, sodass Bismarck seinen Willen gegenüber dem Deutschen Kaiser meist durchsetzen konnte. Wilhelm klagte daher: „Es ist nicht leicht unter einem solchen Kanzler Kaiser zu sein.“ === Familie und Lebensweise === So sehr Bismarck auch von Leidenschaft zur Politik und der Liebe zur Macht durchdrungen war, so sehr sehnte er sich gleichzeitig nach einer Befreiung von dieser Last. Bereits 1872 klagte er: „Mein Öl ist verbraucht, ich kann nicht mehr.“ Bismarck war in den Jahren seiner Kanzlerschaft nicht nur psychisch belastet, sondern auch körperlich stark angeschlagen. Immer öfter musste er sich deswegen teilweise für Monate auf seine Güter zurückziehen. Bismarck trank und aß im Überfluss. Er wurde immer dicker; 1879 wog er 247 Pfund (124 Kilogramm), bei einer Körpergröße von 1,90 Meter. Er litt unter zahlreichen teils chronischen Krankheiten wie Rheuma, Venenentzündungen, Verdauungsstörungen, Hämorrhoidenleiden und vor allem unter Schlaflosigkeit, hervorgerufen durch Völlerei. Neben dem Konsum von Alkohol und Tabak berichteten Zeitgenossen wie die Baronin Hildegard von Spitzemberg auch von der Einnahme von Morphium. Erst Ernst Schweninger, sein neuer Arzt, konnte ihn in den 1880er-Jahren zu einer gesunden Lebensweise überreden. Zuvor hatte er unter Gesichtsneuralgien gelitten, weshalb er sich vor Schweningers Behandlung einen Vollbart hatte wachsen lassen, damit er sich nicht rasieren musste.Im privaten Leben Bismarcks spielte die Familie eine große Rolle. Aber auch in diesem Bereich setzte er stets seinen Willen durch. Als sein Sohn Herbert von Bismarck 1881 die geschiedene Fürstin Elisabeth zu Carolath-Beuthen heiraten wollte – eine Katholikin, die mit zahlreichen Bismarck-Gegnern, etwa Marie Gräfin Schleinitz, verwandt und verschwägert war – verhinderte Bismarck dies letztlich, indem er ihm erst mit Enterbung, dann mit Selbstmord drohte. Herbert fügte sich, war seither aber ein verbitterter Mann. === Außenpolitik === Die deutsche Reichsgründung veränderte die europäischen Machtverhältnisse grundlegend. Das neue Reich stand zunächst außerhalb der Pentarchie, die sich in den letzten hundert Jahren herausgebildet hatte, besaß es doch eine gänzlich andere machtpolitische Qualität als das recht kleine Preußen. Daher galt das Reich als Störenfried der internationalen Ordnung. Nach einem längeren Lernprozess erkannte Bismarck, dass das allgemeine Misstrauen der übrigen Staaten gegenüber Deutschland nur durch Selbstbeschränkung und den Verzicht auf weitere territoriale Gewinne abgebaut werden konnte. Er versicherte daher, dass das Reich saturiert sei. „Wir verfolgen keine Macht-, sondern eine Sicherheitspolitik“, bekräftigte er 1874.Ein Grundziel von Bismarcks Außenpolitik blieb es, Frankreich zu schwächen. Um dies zu erreichen, bemühte er sich um gute Beziehungen zu Österreich und zu Russland, ohne dabei eine Seite zu präferieren. Ergebnis dieser Strategie war das Dreikaiserabkommen von 1873. Wie schwierig es für das Deutsche Reich jedoch war, seine neue Position auf Kosten Frankreichs zu festigen, zeigte bereits 1875 die weitgehend von Bismarck selbst provozierte „Krieg-in-Sicht-Krise“. Der Versuch Bismarcks, eine deutsche Hegemonialpolitik gegenüber Frankreich durchzusetzen, scheiterte.Auch wenn Bismarck dem wiedererstarkten Frankreich lediglich drohen wollte und nicht konkret einen Krieg plante, war die Krise für ihn lehrreich. Sie zeigte, dass eine Annäherung zwischen Frankreich und Russland nicht grundsätzlich ausgeschlossen war. Die Möglichkeit eines Bündnisses zwischen beiden bereitete ihm für den Rest seiner Amtszeit Sorge. Aber auch England hatte deutlich gemacht, dass es einen weiteren Machtzuwachs Deutschlands nicht akzeptieren werde. Im Zweifelsfall arbeiteten die europäischen Flügelmächte zusammen, um eine Störung des machtpolitischen Gleichgewichts zu verhindern. ==== Bismarcksches Bündnissystem ==== Vor allem aus der Krieg-in-Sicht-Krise zog Bismarck den Schluss, dass für das Reich eine defensive Politik die einzig realistische Alternative sei. Durch seine Lage in der Mitte Europas drohte dem Reich, in einen großen europäischen Krieg mit einbezogen zu werden. Bismarck entwickelte vor diesem Hintergrund ein diplomatisches Konzept, das darauf abzielte, die Spannungen zwischen den Großmächten an die Peripherie zu verlagern, um so die Mitte Europas vor Kriegen zu bewahren. Zum ersten Mal zum Tragen kam dieses Konzept bei der Balkankrise zwischen 1875 und 1878. Bismarck förderte dabei einerseits die Spannungen zwischen den Mächten, verhinderte aber gleichzeitig, dass die Konflikte außer Kontrolle gerieten. Seine außenpolitische Strategie fasste er 1877 im Kissinger Diktat zusammen. Dabei ging er von „einer politischen Gesamtsituation [aus], in welcher alle Mächte außer Frankreich unser bedürfen, und von Koalitionen gegen uns durch ihre Beziehungen zueinander nach Möglichkeit abgehalten werden.“Während des Berliner Kongresses zur Beendigung der Balkankrise präsentierte sich Bismarck 1878 als „ehrlicher Makler“. Dies verstärkte zwar sein außenpolitisches Prestige auch im Ausland, es zeigten sich aber auch sofort die Grenzen seines Konzepts. Zar Alexander II. machte Bismarck dafür verantwortlich, dass Russlands Erfolge eng begrenzt blieben. Dies führte dazu, dass Bismarck die Zusammenarbeit mit Österreich forcierte. Dies wiederum mündete im Zweibundvertrag von 1879. Aus diesem Defensivbündnis gegenüber Russland wurde eine dauerhafte Allianz, die die Außenpolitik während des gesamten Kaiserreichs prägen sollte. Bismarck selbst stilisierte die Verbindung als eine Art zeitgemäße Neuausgabe des Deutschen Bundes und als „Bollwerk des Friedens über lange Jahre hinaus. Populär bei allen Parteien, exklusive Nihilisten und Sozialisten.“Bismarck gelang es aber auch, die Spannungen zwischen Deutschland und Russland abzubauen und 1881 das Dreikaiserbündnis abzuschließen. Damit war eine enge Verbindung Russlands mit Frankreich zunächst verhindert worden. Das Bündnissystem wurde 1882 durch den Dreibund zwischen Deutschland, Österreich-Ungarn und Italien, sowie 1883 durch den Anschluss Rumäniens an den Zweibund ergänzt. ==== Imperialistische Episode ==== Mitte der 1880er-Jahre schien Bismarck die diplomatische Absicherung des Reichs erfolgreich abgeschlossen zu haben. Das Konzept der Saturiertheit wurde jedoch durch die imperialistischen Tendenzen der Zeit immer mehr in Frage gestellt. Bismarck selbst war eigentlich Gegner kolonialer Erwerbungen. Auch in Deutschland bildete sich eine imperialistische Bewegung, die auf den Erwerb von deutschen Kolonien drängte. Deren Druck konnte sich Bismarck nicht auf Dauer entziehen. Welche innen- und außenpolitische Gründe zu einem Sinneswandel des Reichskanzlers führten, ist bis heute umstritten. Genannt werden die bevorstehenden Reichstagswahlen, das Drängen der Handelskammer Hamburg auf Reichsschutz für ihre Handelsinteressen in Westafrika, die sozialimperialistische Strategie, von den innenpolitischen Problemen des Kaiserreichs abzulenken, der Versuch, einen Keil zwischen Großbritannien und den englandfreundlichen Kronprinzen zu treiben, dessen Thronbesteigung er fürchtete, und eine Sicherung des globalen Mächtegleichgewichts. Bismarck schien 1884 schließlich zur Überzeugung gekommen, dass eine erfolgreiche Kolonialpolitik doch mehr Chancen, als Risiken berge.1884 und 1885 kam es zum Erwerb mehrerer Territorien in Afrika und im Stillen Ozean. Da sich die innenpolitischen Konstellationen in Frankreich und Großbritannien änderten, verlor Bismarck jedoch schnell das Interesse an deutscher Kolonialpolitik. Sie blieb zunächst eine Episode. Gegenüber dem Kolonialverfechter Eugen Wolf äußerte Bismarck 1888: „Ihre Karte von Afrika ist ja sehr schön, aber meine Karte von Afrika liegt in Europa. Frankreich liegt links, Russland liegt rechts, in der Mitte liegen wir. Das ist meine Karte von Afrika.“ Jedoch hatte Bismarck ungewollt Kräfte freigesetzt, die sich in der Wilhelminischen Zeit nicht mehr beherrschen lassen sollten. ==== Krise des Bündnissystems ==== In der zweiten Hälfte der 1880er-Jahre wurde Bismarcks außenpolitisches System zunehmend bedroht. Ab 1886 nahmen in Frankreich die revanchistischen Tendenzen zu. Zeitweilig drohte ein französisch-russisches Bündnis und damit die Gefahr eines Zweifrontenkriegs für das Deutsche Reich. Bismarck bauschte die Krise mit Frankreich allerdings auf, um seine innenpolitischen Pläne zur Heeresverstärkung durchsetzen zu können. Fast zeitgleich entstand eine neue Balkankrise. Bismarck versuchte vergeblich, die Spannungen zwischen den beiden Kontrahenten Österreich und Russland auszugleichen. Das Dreikaiserbündnis zerbrach. In Russland nahmen daraufhin die Stimmen für ein Bündnis mit Frankreich weiter zu. Probleme durch die Schutzzollpolitik Bismarcks verschärften die Situation. In Deutschland plädierten einflussreiche Persönlichkeiten aus Militär und Diplomatie wie Friedrich von Holstein, Helmuth Karl Bernhard von Moltke und Alfred von Waldersee für einen Präventivkrieg gegen Russland. Bismarck lehnte solche Ideen strikt ab. Er hielt den Krieg weiter für vermeidbar. Als Macht- und Realpolitiker spielten nationalistische und sozialdarwinistische Vorstellungen für ihn keine Rolle. Zwar war Bismarcks altes Bündnissystem zerbrochen, doch konnte er die Krise noch einmal entschärfen. Auf dem Balkan weigerte er sich, für England und Österreich „die Kastanien aus dem Feuer zu holen.“ Ohne mit Österreich zu brechen, gelang es ihm, einen offenen Krieg zu verhindern. Im Februar 1887 war Bismarck im Hintergrund am Zustandekommen der Mittelmeerentente zwischen Großbritannien, Österreich und Italien beteiligt. Ihr Ziel war es, den russischen Expansionsdrang zu begrenzen. Kurze Zeit später schloss Bismarck mit Russland den Rückversicherungsvertrag ab, um Russland erneut an Deutschland zu binden. === Innenpolitik === ==== Die liberale Ära und der Kulturkampf ==== Wie schon in der Zeit des Norddeutschen Bundes beruhte die Innenpolitik des Deutschen Reiches in den ersten Jahren auf einer Zusammenarbeit Bismarcks mit den Freikonservativen und den Nationalliberalen. Diese übten einen erheblichen Einfluss auf die Vereinheitlichung, Gestaltung und Modernisierung der Wirtschafts- und Rechtsordnung aus, sowohl im Reich wie auch teilweise in Preußen. Bismarck scheute dabei auch zeitweise nicht vor einem Konflikt mit den Konservativen zurück. Als das preußische Herrenhaus sich 1872 weigerte, einer Reform der Kreisordnung zuzustimmen, veranlasste Bismarck Wilhelm I. dazu, zusätzliche Herrenhausmitglieder zu ernennen, um mit Hilfe dieses „Pairsschubes“ das Gesetz durchzubringen. Die Empörung bei den Konservativen war groß und Roon sprach gar von einem Staatsstreich. Dies führte zum Rücktritt Bismarcks vom Posten des preußischen Ministerpräsidenten zu Gunsten Roons. Da dieser sich dem Amt jedoch nicht gewachsen zeigte, übernahm es Bismarck nach kurzer Zeit wieder selbst.Auf verschiedenen Feldern zeigten sich bald schon erste Grenzen der Zusammenarbeit Bismarcks mit den Liberalen. Zum wichtigsten Streitpunkt wurde ab 1873 der Bereich der Militärorganisation, um den es heftige Auseinandersetzungen gab. Auf den von Bismarck geforderten faktischen Verzicht des Parlaments auf Kontrolle des Militärhaushaltes („Äternat“) konnten sich die Nationalliberalen nicht einlassen. Eine Lösung brachte 1874 ein Kompromissvorschlag von Johannes Miquel. Danach wurden die Ausgaben für jeweils sieben Jahre bewilligt („Septennat“). Trotz dieses relativen Erfolgs hatte Bismarck den Liberalen die Grenzen seiner Kooperationswilligkeit deutlich gemacht, obwohl diese ihm de facto acht Jahre Handlungsfreiheit gaben. Gleichzeitig stärkte die grundsätzliche Einigung mit dem Parlament Bismarcks Stellung gegenüber dem Militär.Nationalliberale und Bismarck stimmten in ihrer Gegnerschaft zu einer katholischen Partei überein. Für Bismarck spielte dabei auch eine Rolle, dass mit der 1870 gegründeten Zentrumspartei eine seinem Einfluss entzogene, im Kern konservative, katholische Partei entstanden war. Das Zentrum schaffte eine Klammer zwischen katholischer Arbeiterschaft, Honoratioren und Kirche. Bismarck reduzierte es konsequent auf den von ihm gefürchteten Ultramontanismus. Tatsächlich wurde das Zentrum in den ersten Reichstagswahlen von 1871 auf Anhieb zweitstärkste Kraft. Damit sank der Wahlerfolg der Nationalliberalen insbesondere im katholisch-bürgerlichen Lager. Der Kulturkampf hatte für Bismarck zwar vor allem politische Gründe, doch er sah in Ludwig Windthorst, dem herausragenden Politiker der Zentrumspartei, einen persönlichen Gegner: „Mein Leben erhalten und verschönern zwei Dinge, meine Frau und Windthorst. Die eine ist für die Liebe da, der andere für den Haß.“Bismarck stilisierte die Katholiken zu Reichsfeinden – auch um aufziehender Kritik an seiner Amtsführung entgegenzuwirken. Ab 1872 wurden im Rahmen des sogenannten Kulturkampfes verschiedene Sondergesetze gegen die Katholiken beschlossen und wiederholt verschärft. Im Zuge dieser Auseinandersetzung wurden Rechte und Machtstellung der Kirche durch Reichs- und preußische Landesgesetze beschnitten (Kanzelparagraph, Brotkorbgesetz), aber auch die Zivilehe eingeführt. In diesem Zusammenhang äußerte Bismarck am 14. Mai 1872 vor dem Reichstag: „Seien Sie außer Sorge, nach Kanossa gehen wir nicht, weder körperlich noch geistig.“ Damit spielte er auf den mittelalterlichen Investiturstreit an, in dem sich Kaiser Heinrich IV. vor Papst Gregor VII. 1077 hatte demütigen müssen.Während des Kulturkampfes geriet Bismarck erneut in Konflikt mit Kaiserin Augusta, die für eine Abmilderung der scharf antikatholischen Maßnahmen eintrat. In seinen Memoiren schrieb er, sie habe in diesem Konflikt seine „Fähigkeit, zu vertreten was ich für meine Pflicht hielt, und meine Nerven auf die schwerste Probe im Leben gestellt“. Laut Ernst Engelberg war die Position der Kaiserin in ihrer Abneigung gegen die Liberalen begründet, die die Kulturkampfgesetze mittrugen. Tatsächlich ist der Begriff Kulturkampf eine Prägung des Reichstagsabgeordneten Rudolf Virchow (Deutsche Freisinnige Partei). Otto Pflanze dagegen glaubt, dass Augusta seit dem Sturz der Regierung der Neuen Ära, mit der sie sich identifiziert hatte, einen bleibenden Groll gegen Bismarck hegte. Sie habe sie gegen Bismarcks Regierungskurs opponiert und intrigiert, ganz gleich, ob er gerade liberal oder konservativ war. Jonathan Steinberg dagegen deutet den Konflikt tiefenpsychologisch: Bismarck habe nicht mit starken Frauen habe umgehen können und auf sie mit schrankenloser Wut und Misogynie reagiert: Die immer wieder überaus anstrengenden Bemühungen, den willensschwachen Wilhelm I. auf seine Seite zu ziehen, der andererseits auch von seiner Frau beeinflusst war, habe er als Wiederholung der Erfahrungen erlebt, die er als Kind mit seiner kaltherzigen Mutter habe machen müssen.Die erste, harte Etappe des Kulturkampfes endete 1878. In diesem Jahr starb Pius IX., sein Nachfolger Leo XIII. signalisierte Verständigungsbereitschaft, an der Bismarck gelegen war, um das Zentrum auszubooten. Eine direkte Verhandlung mit dem Heiligen Stuhl schadete der Partei und verringerte ihr Ansehen bei der katholischen Bevölkerung. Zudem hatte der Kanzler nicht das geschafft, was er vorgehabt hatte. Die katholische Basis und die katholische Partei ließen sich nicht spalten, vielmehr wurde durch die staatlichen Angriffe die Bildung eines katholischen Milieus gefördert. Darüber hinaus unterstützte die katholische Presse die Partei, die zunehmend Mandate im Reichstag gewann. Ein letzter Grund für Bismarck ergab sich aus dem letztlich vollzogenen Bruch mit den Nationalliberalen. Er lotete die Möglichkeit aus, das Zentrum in seine Politik einzubauen und somit eine „blau-schwarze Koalition“ mit den Konservativen zu bilden.Der Kulturkampf endete im April 1887 mit dem zweiten Friedensgesetz. Bis dahin trugen beide Seiten zur Deeskalation bei. Eine Folge des Kulturkampfes bis heute sind die Zivilehe und die staatliche Schule. Für die zukünftige Politik Bismarcks nicht unwichtig war, dass Windthorst keineswegs ein ultramontaner Eiferer war. Er war zwar preußenkritisch, aber eben auch pragmatisch und konstitutionell ausgerichtet, was Bismarck neue politische Optionen eröffnete. ==== Kanzlerkrise und politische Wende ==== Die Basis der Zusammenarbeit von Bismarck mit den Liberalen wurde immer schwächer. Mit Aufzug der Gründerkrise begannen zahlreiche Großgrundbesitzer und Industrielle, Forderungen nach Schutzzöllen zu erheben. Bismarck hoffte, dass die Wirtschaftspolitik zur Spaltung der Liberalen führen würde. Obwohl er sich öffentlich nicht zu diesem Thema äußerte, ermutigte er die Interessenvertreter zur Abspaltung, die dann auch vollzogen wurde. In der neu gegründeten Deutschkonservativen Partei sah Bismarck einen möglichen Bündnispartner; das Parteiprogramm wurde mit ihm persönlich abgestimmt. Zum Vorzeichen des aufziehenden Konflikts mit den Liberalen wurde 1876 der Rücktritt Rudolph von Delbrücks vom Amt des Präsidenten des Reichskanzleramtes. Delbrück hatte als Verkörperung der Zusammenarbeit Bismarcks mit den Liberalen sowie als Hauptvertreter des Wirtschaftsliberalismus gegolten. In Hinblick auf den erwarteten baldigen Thronwechsel stellten die Liberalen für Bismarck eine Gefahr dar. Unter einem Kaiser Friedrich III. stand der Wechsel zu einer liberalen Regierung zu erwarten – nach dem Vorbild der britischen Regierung unter Premierminister William Ewart Gladstone. Bismarck versuchte 1877 Albrecht von Stosch, den Chef der Marine, auszuschalten, da dieser als möglicher Kanzler des künftigen Kaisers galt. Als dies scheiterte, drohte Bismarck mit dem eigenen Rücktritt und zog sich zeitweise auf sein Gut in Varzin zurück. Der Versuch, von dort aus die Nationalliberalen mit Angeboten – etwa ein Ministeramt für Rudolf von Bennigsen – und Zugeständnissen für seine Politik zu gewinnen, war nicht erfolgreich. Ihm wurden Gegenforderungen präsentiert, die seinen Plänen zuwiderliefen, den Parlamentarismus einzudämmen. Daraufhin entschloss er sich zum Bruch mit den Nationalliberalen.Mit der Forderung der Nationalliberalen, die Reichsverfassung in einem stärker parlamentarischen Sinne umzugestalten, war eine Grenze erreicht worden, die Bismarck nicht zu überschreiten bereit war. Im Reichstag erklärte er diesbezüglich 1879: „Eine Fraktion kann sehr wohl die Regierung unterstützen und dafür einen Einfluss auf sie gewinnen, aber wenn sie die Regierung regieren will, dann zwingt sie die Regierung, ihrerseits dagegen zu reagieren.“ Angesichts der gegenseitigen politischen Blockade sah sich Bismarck zu einer Flucht nach vorn gezwungen. In einer Reichstagsrede kündigte er am 22. Februar 1878 einen innenpolitischen Kurswechsel an. Das dabei von ihm angedeutete Ziel eines staatlichen Tabakmonopols widersprach zentralen wirtschaftsliberalen Prinzipien. Über den konkreten Anlass hinaus fassten die dem Liberalismus nahestehenden Regierungsmitglieder dies als einen ersten Schritt hin zu einer grundlegend veränderten Wirtschaftspolitik auf. Heinrich Achenbach und Otto Camphausen legten ihre Ämter nieder. ==== Sozialistengesetz und Schutzzoll ==== Seit der Rede von August Bebel im Reichstag am 25. Mai 1871 zu Gunsten der Pariser Kommune sah Bismarck in den Sozialdemokraten eine revolutionäre Bedrohung. Schon damals skizzierte er seine zukünftige Politik so: „1. Entgegenkommen gegen die Wünsche der arbeitenden Klassen, 2. Hemmung der staatsgefährlichen Agitation durch Verbots- und Strafgesetze.“Nach Bismarcks Ansicht verstärkten die sozialen Auswirkungen der Gründerkrise die revolutionäre Gefahr. Zwei Attentate auf Kaiser Wilhelm I. im Jahr 1878 dienten Bismarck als willkommener Anlass, mit einem Sozialistengesetz gegen die Sozialistische Arbeiterpartei vorzugehen. Er wollte einen „Vernichtungskrieg führen durch Gesetzesvorlagen, welche die sozialdemokratischen Vereine, Versammlungen, die Presse, die Freizügigkeit (durch die Möglichkeit der Ausweisung und Internierung) […] träfen.“Über den Kampf gegen die Sozialdemokratie hinaus, boten die Attentate für Bismarck aber auch die Gelegenheit, angesichts einer fehlenden parlamentarischen Unterstützung wieder in die politische Offensive zu gehen und zu neuen Mehrheiten zu kommen. Ein erster Gesetzentwurf scheiterte an der überwältigenden Mehrheit des Reichstags. Nach dem zweiten Attentat ließ Bismarck das Parlament auflösen. Er wollte wieder die Rückendeckung der Nationalliberalen gewinnen und darüber hinaus die Regierungsbasis weiter nach rechts verschieben. Nach der Wahl waren die beiden konservativen Parteien zusammen stärker als die Nationalliberalen.Im neuen Reichstag stimmten schließlich auch die Nationalliberalen, nach einigen Zugeständnissen, dem Sozialistengesetz zu. Es blieb, mehrfach vom Parlament verlängert, bis 1890 in Kraft. Dieses Ausnahmegesetz verbot die sozialistische Agitation, während die politische Arbeit der sozialdemokratischen Parlamentarier davon unberührt blieb. Letztlich verfehlte das Gesetz seinen Zweck und trug ungewollt zur Verfestigung eines sozialistischen Milieus bei, denn erst jetzt setzte sich die marxistische Theorie wirklich durch. Bemerkenswert ist, dass Bismarck dem Thema später in seinen Gedanken und Erinnerungen kein einziges Wort widmete. Vor dem Hintergrund der Wirtschaftskrise wurde im Jahr 1878 der Ruf von Großgrundbesitzern und Schwerindustriellen nach Schutzzöllen lauter. Als sich für diese Forderung eine Mehrheit im Reichstag abzeichnete, sprach sich auch Bismarck, der auf erhöhte Staatseinnahmen hoffte, im so genannten „Weihnachtsbrief“ vom 15. Dezember 1878 für eine Verbindung von Steuerreform und Schutzzollpolitik aus. Dem stimmten letztlich nur wenige Nationalliberale zu. Bismarck stützte sich stattdessen auf die Deutschkonservative Partei, auf die Freikonservativen und auf das Zentrum. Die liberale Ära war damit beendet. Bismarck betonte nunmehr die Bedeutung des Obrigkeitstaates als Garanten der nationalen Einheit und setzte auf eine nationalkonservative Sammlungsbewegung unter Einschluss des Zentrums. Eine feste parlamentarische Basis, wie sie zuvor die Nationalliberalen gestellt hatten, bot diese Parteienkonstellation allerdings nicht. Viele politische Initiativen Bismarcks blieben daher in den folgenden Jahren ergebnislos.Der Übergang vom Freihandel zum Protektionismus vollzog sich in den folgenden Jahren in mehreren Schritten. Bismarck hoffte, aus seinem Eingehen auf die Wünsche der Verbindung von „Roggen und Eisen“ politisches Kapital schlagen zu können, um die konservative Basis des Reiches auszubauen und seine eigene Position zu festigen. ==== Sozialgesetzgebung und Staatsstreichpläne ==== Angesichts seiner schwierigen parlamentarischen Situation versuchte Bismarck, die bisherige Bedeutung der Parteien zurückzudrängen. Das Feld der Auseinandersetzung sollte die Sozial- und Wirtschaftspolitik werden. Daher übernahm er 1880 selbst das Amt des Handelsministers, das er bis 1890 bekleidete. Um Einfluss auf die Wirtschaftsgesetzgebung zu nehmen, versuchte er, einen Volkswirtschaftsrat aus Vertretern der Wirtschaftsverbände zu etablieren, mit dem das Parlament umgangen werden sollte. Dies scheiterte allerdings am Widerstand der Parteien.Hauptziel von Bismarcks Sozialpolitik war, eine stärkere Staatsbindung zu erzeugen. Die Parteien sollten dabei von ihrer Basis getrennt werden. Bismarck verschleierte sein eigentliches Ziel des Machterhalts dabei keineswegs. Geplant war zunächst nur eine Unfallversicherung, später kamen Versicherungen gegen Krankheit, Invalidität und Altersarmut hinzu. Diese sollten weitgehend staatlich kontrolliert sein – zeitweise sprach Bismarck sogar von Staatssozialismus. Er wollte so „in der großen Masse der Besitzlosen die konservative Gesinnung erzeugen, welche das Gefühl der Pensionsberechtigung mit sich bringt.“ Nicht die Versicherungen an sich, aber Bismarcks persönliche Motive stießen auf heftigen Widerstand. Letztlich strich das Parlament aus der Gesetzesvorlage zur Unfallversicherung alle „staatssozialistischen“ Elemente heraus. Bismarcks Kalkül, nach einer Reichstagsauflösung die Wähler mit der Parole eines „sozialen Königtums“ und mit antiparlamentarischen Tönen zu überzeugen, ging nicht auf. Insbesondere die Linksliberalen gewannen bei der Reichstagswahl am 27. Oktober 1881 deutlich hinzu. Bismarck dachte danach kurzzeitig an Rücktritt, entschied sich aber dagegen und deutete sogar Staatsstreichpläne an. Anstelle der ursprünglich geplanten Reichsanstalt setzte er später die Berufsgenossenschaften durch. Gedacht als neokorporativer Zusammenschluss jenseits der Parteien, wurden die Genossenschaften von den Unternehmern dominiert. Entgegen dem ursprünglichen Ziel gewannen in ihnen die Vertreter der Rechtsparteien an Gewicht. Die Krankenversicherung wurde dagegen von der Selbstverwaltung der Arbeiter dominiert; Sozialdemokraten dominierten viele der Allgemeinen Ortskrankenkassen. Mit der Sozialgesetzgebung schuf Bismarck einen Pfeiler des modernen Sozialstaats; seine machtpolitischen Ziele erreichte er aber nicht. Der Versuch, der Sozialdemokratie die „Wurzeln abzugraben“, schlug mittelfristig ebenso fehl wie das Vorhaben, den Obrigkeitsstaat zu Lasten der Parteien auszubauen. Bismarcks Interesse an der Sozialgesetzgebung ließ nach: Die Alters- und Invalidenversicherung von 1889 wickelte er geschäftsmäßig ab. ==== Protektionismus und Nationalismus als innenpolitische Instrumente ==== Bismarck und Innenminister Robert von Puttkamer gelang es, die preußischen Beamten auf eine bedingungslose Unterstützung der Regierungspolitik zu verpflichten. Zugute kam Bismarck, dass sich innerhalb der Nationalliberalen, unter Führung von Johannes Miquel, die Vertreter eines protektionistischen und staatsnahen Kurses durchsetzten. Sie bekannten sich zu wesentlichen Aspekten von Bismarcks Politik. Nicht zuletzt mit dem Ziel, die materiellen Interessen der konservativen Wähler zu bedienen, legte Bismarck 1885 eine protektionistische Zollvorlage vor, mit der die Importe massiv beschränkt wurden. Auch um nationalistische Emotionen nutzbar zu machen, verstärkte Bismarck die antipolnische Politik in den preußischen Ostprovinzen. Mit der Ausweisung von 35.000 nichtpreußischen Polen ab 1885 und dem Ansiedlungsgesetz von 1886 setzte eine intensive Germanisierung ein. Die französische Revanchismusbewegung nutzte Bismarck, um mit einer breit angelegten Pressekampagne alle Kritiker als Vaterlandsverräter zu diskreditieren, die sich insbesondere seinen militärpolitischen Plänen entgegenstellten. Nach der Reichstagsauflösung wurde die nationalistische Agitation noch einmal verstärkt. Aus den Reichstagswahlen vom Februar 1887 ging das Regierungslager aus Konservativen und Nationalliberalen mit absoluter Mehrheit hervor. Bismarck besaß mit den so genannten Kartellparteien nun jene parlamentarische Mehrheit, die er in den vergangenen zehn Jahren angestrebt hatte. Er konnte jetzt sowohl seine militärpolitischen Pläne als auch Begünstigungen für seine konservative Klientel durchsetzen. Aufgrund von Bismarcks neuer Machtstellung spielte die Thronbesteigung von Friedrich III. im März 1888 kaum noch eine Rolle. Als der todkranke neue Kaiser sich weigerte, einer Verlängerung der Legislaturperiode und des Sozialistengesetzes zuzustimmen, belehrte Bismarck die Kaiserin, dass der Monarch „als solcher kein Faktor der Gesetzgebung“ sei. === „Der Lotse geht von Bord“ === Auch wenn Bismarck alles tat, um potenzielle Nachfolger auszuschalten, mehrten sich seit dem Ende der 1880er-Jahre doch die Anzeichen dafür, dass seine politische Führungsrolle sich dem Ende zuneigte. In der politischen Öffentlichkeit wurde der Ruf nach einer Abkehr von der nur bewahrenden Diplomatie Bismarcks zu Gunsten einer dynamischen und risikobereiten Außenpolitik laut. Nach der kurzen Herrschaftszeit von Friedrich III. standen sich mit dem neuen Kaiser Wilhelm II. und Bismarck zwei ungleiche Persönlichkeiten gegenüber. Bismarck hielt Wilhelm für unreif und wenig vorbereitet auf die Übernahme der Verantwortung. Er sei ein „Brausekopf, könne nicht schweigen, sei Schmeichlern zugänglich und könne Deutschland in einen Krieg stürzen, ohne es zu ahnen und zu wollen.“ Für Wilhelm dagegen war Bismarck eine nicht mehr zeitgemäße Person und er machte deutlich, selbst politischen Einfluss nehmen zu wollen: „Sechs Monate will ich den Alten verschnaufen lassen, dann regiere ich selbst.“Bismarck sah vor diesem Hintergrund in der mutwilligen Verschärfung der innenpolitischen Lage eine Möglichkeit, den neuen Kaiser von seiner Unentbehrlichkeit zu überzeugen. Er brachte daher ein neues, verschärftes und unbefristetes Sozialistengesetz ein, wohl wissend, dass dies die Kartellparteien auseinandersprengen würde, da die Nationalliberalen dies nicht mittragen konnten. Wilhelm, der seine Regierungszeit nicht mit einem solchen Konfliktkurs beginnen wollte, stellte sich den Plänen des Kanzlers entgegen. In einer Sitzung des Kronrates prallten beide am 24. Januar 1890 aufeinander. In den folgenden Monaten versuchte Bismarck verzweifelt, seine Stellung zu halten und spielte erneut mit Staatsstreichgedanken, aber auch mit dem Plan einer engen Zusammenarbeit zwischen Zentrum und Konservativen.Am 15. März 1890 entzog Kaiser Wilhelm dem Kanzler wegen dessen Konfliktkurses endgültig die Unterstützung. Das Entlassungsgesuch Bismarcks datiert vom 18. März 1890. Die Öffentlichkeit reagierte mehrheitlich erleichtert auf den Rücktritt. Theodor Fontane schrieb: „Es ist ein Glück, dass wir ihn los sind. Er war eigentlich nur noch Gewohnheitsregente (sic!), tat was er wollte, und forderte immer mehr Devotion. Seine Größe lag hinter ihm.“ Als Nachfolger Otto von Bismarcks wählte der Kaiser den politisch unerfahrenen General Leo von Caprivi. == Nach dem Rücktritt == Bismarck zog sich verbittert nach Friedrichsruh zurück, doch verabschiedete er sich damit nicht endgültig von der Politik. „Aber das kann man nicht von mir verlangen, dass ich, nachdem ich vierzig Jahre lang Politik getrieben, plötzlich mich gar nicht mehr damit abgeben soll.“ Seine Unnahbarkeit wurde durch diese Zurückgezogenheit noch gesteigert, sodass bald das Wort vom „Einsiedler im Sachsenwald“ die Runde machte. Bereits einen Tag nach seinem Rücktritt verkündete Bismarck, seine Memoiren verfassen zu wollen. Bismarck versuchte nicht nur, sein Bild für die Nachwelt mitzugestalten, sondern verzichtete auch nicht auf Eingriffe in die Tagespolitik. Bald nach seiner Entlassung begann er eine äußerst umtriebige Pressepolitik. Insbesondere die „Hamburger Nachrichten“ wurden zu seinem Sprachrohr. Bismarck attackierte vor allem seinen Nachfolger Caprivi scharf. Indirekt kritisierte er damit auch den Kaiser, dem er seine Entlassung nicht verziehen hatte. Am 30. April 1891 ließ sich Bismarck auf Initiative des jungen Diederich Hahn im Wahlkreis Neuhaus (Oste), Hadeln, Lehe, Kehdingen, Jork für den ausgeschiedenen Abgeordneten Hermann Gebhard in den Reichstag wählen. Wilhelm II. glaubte kurzzeitig sogar an eine Rückkehr des Altkanzlers in die Politik. Allerdings hat Bismarck seinen Wahlkreis nie betreten und von seinem Mandat niemals Gebrauch gemacht. Bei der Reichstagswahl 1893 verzichtete er zugunsten Diederich Hahns auf eine erneute Kandidatur. Die Pressepolitik in eigener Sache war durchaus erfolgreich. Die öffentliche Meinung wandte sich Bismarck verstärkt wieder zu, insbesondere nachdem Wilhelm II. begonnen hatte, ihn öffentlich anzugreifen. Für das Ansehen des neuen Reichskanzlers Caprivi geradezu katastrophal wirkte sich dessen Versuch aus, ein Treffen Bismarcks mit Kaiser Franz Joseph von Österreich zu verhindern. Die Reise nach Wien wurde zu einem Triumphzug des Altkanzlers, der erklärte, keine Verpflichtungen mehr gegenüber der deutschen Regierung zu haben: „Alle Brücken sind abgebrochen.“Wilhelm II. bemühte sich in der Folge um eine öffentlichkeitswirksame Aussöhnungsgeste. Mehrere Treffen mit Bismarck im Jahr 1894 wurden positiv aufgenommen, eine wirkliche Entspannung brachte dies aber nicht. Wie gering Bismarcks Ansehen im Reichstag war, zeigte 1895 die gescheiterte Kampfabstimmung um ein Glückwunschtelegramm anlässlich seines achtzigsten Geburtstags. Daraufhin machten etwa 400 deutsche Städte Otto von Bismarck zum Ehrenbürger, darunter die Mitglieder der im Entstehen begriffenen Städteverbände in geschlossener Form, so der badische, der Thüringer und der sächsische.Im Jahr 1896 hatte Bismarck durch die Offenlegung des streng geheimen Rückversicherungsvertrages noch einmal die Aufmerksamkeit der deutschen und internationalen Presse auf sich gezogen. Die Erstellung der Memoiren unterstützte Lothar Bucher, ohne dessen Drängen das Werk wahrscheinlich nie fertiggestellt worden wäre. Bucher beklagte nicht nur Bismarcks rasch nachlassendes Interesse an seinen Memoiren, sondern beschrieb auch, wie der Altkanzler in ihnen Tatsachen absichtlich entstellte: „Bei nichts, was misslungen ist, will er beteiligt gewesen sein, und niemand lässt er neben sich gelten.“ Nach Buchers Tod im Oktober 1892 besserte Bismarck an den Manuskripten noch herum, aber das Werk wurde nicht mehr fortgesetzt. Der Tod seiner Frau im Jahr 1894 traf Bismarck tief. Ab 1896 verschlechterte sich sein Gesundheitszustand immer deutlicher und er war schließlich auf einen Rollstuhl angewiesen. Ein besonderes Geschenk machte Bismarck 1897 den Orten Birkholz und Schwanebeck. Aus seinem Besitztum Sachsenwald wurden am 22. März anlässlich der Gedenkfeiern zum 100. Geburtstag Wilhelms I. in beiden Orten zwei kräftige Kaisereichen (bot. Stieleichen) gepflanzt. Die Erkrankungen an Altersbrand und anderen Gebrechen, die er gegenüber der Öffentlichkeit und sogar gegenüber seiner Familie verschwieg, führten am 30. Juli 1898 zu seinem Tod. Unmittelbar nach seinem Ableben entstand durch zwei Paparazzi die Fotografie von Bismarck auf dem Sterbebett. Sein Arzt berichtete über sein Lebensende: Als Bismarck starb, befand sich Wilhelm II. im Zuge seiner Sommerreise in Norwegen auf der kaiserlichen Yacht Hohenzollern. Nachdem ihn die Todesnachricht am Morgen des 31. Juli erreicht hatte, sandte er ein Telegramm an Herbert von Bismarck. Darin kündigte Wilhelm eine pompöse Beisetzung Bismarcks in der Hohenzollerngruft im Berliner Dom an, da Bismarck ein Freund seines Großvaters Wilhelm I. gewesen sei und ihm für seine Leistungen der Dank des deutschen Volkes für immer gebühre. Wilhelm II. beauftragte ebenfalls per Telegramm den Bildhauer Reinhold Begas, einen Sarkophag für Bismarck zu entwerfen; August zu Eulenburg sollte das Programm der Feier als nationales Ereignis gestalten. Bismarck hatte indes bereits 1896 in seinem Testament verfügt, er wolle in Friedrichsruh begraben werden. Seine Familie entsprach diesem Wunsch. Nun wollte Kaiser Wilhelm nach seinem Eintreffen in Kiel am 1. August wenigstens am offenen Sarg Bismarcks in Friedrichsruh stehen und begab sich mit seiner Gemahlin dorthin. Als er jedoch am folgenden Tag eintraf, war der Sarg bereits verlötet.Bismarck fand demnach seine letzte Ruhestätte neben seiner Frau in einem Mausoleum in Friedrichsruh. Für die Verhältnisse des 19. Jahrhunderts war der Verkaufserfolg der zunächst zweibändig von der Cotta’schen Verlagsbuchhandlung verlegten Erinnerungen sensationell: Die Erstauflage von mehr als dreihunderttausend Exemplaren war schon in den ersten Dezembertagen 1898 vergriffen, ab 1905 erschien sie dann als sogenannte „Volksausgabe“. Die Öffentlichkeit und Geschichtsforschung interessierende Auseinandersetzung mit Kaiser Wilhelm II. und die Entlassung des Reichskanzlers blieben dem dritten, erst 1921 erschienenen, Band vorbehalten. == Entwicklung des Bismarck-Gedenkens == Nach seiner Entlassung setzte in Deutschland ein beispielloser Personenkult um Bismarck ein, die sich nach dem Tod des Altkanzlers noch verstärkte. Rund 500 Denkmäler, Säulen und Türme wurden ihm gewidmet, die zumeist mit Spendengeldern finanziert wurden. Seine Büste wurde in die Walhalla aufgenommen. Zahlreiche Straßen wurden nach ihm benannt. Auch Industrieunternehmen wie die Zeche Graf Bismarck trugen seinen Namen. Aus der Zechenkolonie des Unternehmens ging der Gelsenkirchener Stadtteil Bismarck hervor. Nach dem Reichsgründer wurden auch der Farbstoff Bismarckbraun Y, die Palmenart Bismarckia nobilis, eine Zubereitungsart von Heringsfilets (Bismarckhering) sowie während des Zweiten Weltkrieges das Typschiff der Bismarck-Klasse (Schlachtschiff Bismarck) benannt. Vorher waren bereits die Kriegsschiffe SMS Bismarck (1877) und SMS Fürst Bismarck (1897) mit seinem Namen in Dienst gestellt worden. In zahlreichen deutschen Städten wurden nach seinem Tode Schmuckbrunnen aufgestellt. Auch einzelne Bäume erhielten seinen Namen (Bismarcktanne). Vor allem in den deutschen Kolonien in Afrika und im Stillen Ozean erhielten geografische Gegebenheiten oder Orte Bismarcks Namen (Bismarck-Archipel, Bismarckgebirge, Bismarckberge, Bismarckberg, Bismarck-Gletscher, Bismarcksee, Bismarck-Straße, Bismarckburg, Bismarckplatz beispielsweise in Daressalam, Deutsch-Ostafrika). Aber auch in den Vereinigten Staaten wurden mehrere Siedlungen nach Bismarck benannt. Darunter befand sich bereits seit 1873 die heutige Hauptstadt des Bundesstaates North Dakota. In Deutschland entstanden Bismarckgesellschaften. Nach seinem Tod wurden in zahlreichen Städten größtenteils durch Spenden finanzierte Bismarckdenkmäler errichtet, vielfach in Form von Bismarcktürmen. Das erste zu Lebzeiten Bismarcks errichtete Standbild entstand im Jahr 1877 im Bad Kissinger Stadtteil Hausen, wo er seit 1874 mehrmals zur Kur weilte (siehe Bismarck-Denkmal (Bad Kissingen)). Das größte Bismarck-Standbild in Deutschland ist das 1906 eingeweihte Bismarckdenkmal in Hamburg. Der Bau eines gigantischen Bismarck-Nationaldenkmals bei Bingerbrück wurde durch den Ausbruch des Ersten Weltkriegs verhindert. Die meisten Bronzebildnisse zeigen Bismarck in Uniform. Diese Form der Darstellung überdeckte Bismarcks Maxime eines außenpolitischen Ausgleichs und spiegelte weniger Bismarcks Person als vielmehr den Zeitgeist der Wilhelminischen Ära wider.Neben historisierenden Gemälden (z. B. von Franz von Lenbach) und eher privaten, alltäglichen Darstellungen (z. B. von Christian Wilhelm Allers) entstanden auch verklärende und überhöhende, die vor allem die Reichsgründung thematisierten. Auch in patriotischen Gedichten wie den Bismarckliedern von Paul Warncke (1895) und Wilhelm Berger wurde der Reichskanzler gefeiert. Ebenfalls 1895, zu Bismarcks 80. Geburtstag, erschien das großformatige Buch Unser Bismarck, das im Lauf der Zeit eine Auflage von 100.000 Exemplaren erreichte. Zu seinem 80. Geburtstag wurde er aus Progandazwecken zum Ehrenmitglied des Alldeutschen Verbandes.In Friedrichsruh bestand seit 1927 ein von der Familie eingerichtetes Bismarck-Museum. Seit 1951 befindet es sich im Alten Landhaus (mit Einrichtungsgegenständen, Dokumenten, Gemälde Proklamation des Deutschen Kaiserreiches von Anton von Werner), gegenüber dem nach der Zerstörung des Schlosses im Zweiten Weltkrieg, neu errichteten Familiensitz und betreut auch das zugängliche Bismarck-Mausoleum. Im alten Empfangsgebäude des Bahnhofs Friedrichsruh befindet sich die Otto-von-Bismarck-Stiftung, die 1996 von der Bundesrepublik Deutschland als eine von mittlerweile fünf Politikergedenkstiftungen eingerichtet wurde und dort eine Dauerausstellung zu Bismarck zeigt. Ihr Hauptziel ist die Erarbeitung einer neuen kritischen Ausgabe der Schriften Bismarcks. In Göttingen ist Bismarcks Studentenwohnung, das Bismarckhäuschen, als kleines Museum zugänglich. In Bismarcks Geburtsort Schönhausen erwarb „das deutsche Volk“ im Jahr 1885 von der Familie Gaertner das Gut Schönhausen II und schenkte es Bismarck zum 70. Geburtstag. In diesem, ehemals auch der Familie Bismarck gehörigen Rittergutshaus, wurde ein Bismarck-Museum errichtet, das bis 1948 bestand. 1998 wurde es wieder, mit Mitteln des Landes Sachsen-Anhalt, im erhalten gebliebenen Seitenflügel, dem so genannten Torhaus von Schloss Schönhausen I eingerichtet. Im selben Jahr entstand ein weiteres Bismarckmuseum in Bad Kissingen, wo Bismarck zwischen 1874 und 1893 insgesamt 15 Mal zur Kur geweilt hatte. Am 1. November 2004 wurde in Jever ein weiteres Bismarckmuseum eröffnet. == Historiografie == Mehr als 150 Jahre Bismarck-Rezeption haben eine Vielzahl von Deutungen seiner Persönlichkeit und seiner Handlungen hervorgebracht, die sich oft konträr gegenüberstehen. Bis nach dem Zweiten Weltkrieg überwog dabei in der deutschsprachigen Literatur die Neigung von Autoren, die Wertung von eigenen politischen und religiösen Standpunkten beeinflussen zu lassen. Die Historikerin Karina Urbach bilanzierte 1998: „Mindestens sechs Generationen ist sein Leben schon nahegebracht worden, und man kann abgewogenerweise sagen, dass fast jede zweite Generation in Deutschland einer weiteren Version Bismarcks begegnet ist. Keine andere deutsche politische Figur ist dermaßen für politische Zwecke benutzt und missbraucht worden.“ === Kaiserreich === Kontrovers wurde Bismarck bereits zu Lebzeiten gesehen. Schon in den ersten biografischen Studien, einige davon mehrbändig, wurde die Komplexität und Undurchdringlichkeit von Bismarcks Persönlichkeit hervorgehoben. Der Soziologe Max Weber wertete 1895 in seiner Freiburger Antrittsrede Bismarcks Rolle im deutschen Einigungsprozess kritisch: „Denn dieses Lebenswerk hätte doch nicht nur zur äußeren, sondern auch zur inneren Einigung der Nation führen sollen und jeder von uns weiß: das ist nicht erreicht. Es konnte mit seinen Mitteln nicht erreicht werden.“ Theodor Fontane war, wie Hans-Jürgen Perrey schreibt, „voller Bewunderung für die historischen Leistungen und die historische Größe Otto von Bismarcks, um im selben Atemzuge ebenso schwerwiegende Vorbehalte zu äußern, wenn er auf den Menschen und dessen Charakter schaute.“ „Er ist die denkbar interessanteste Figur, ich kenne keine interessantere, aber dieser beständige Hang, die Menschen zu betrügen, dies vollendete Schlaubergertum ist mir eigentlich widerwärtig, und wenn ich aufrichten, erheben will, so muß ich doch auf andere Helden blicken“, schrieb Fontane am 5. August 1893 seinem Freund August von HeydenDiese negativen Beurteilungen konnten sich auf Dauer nicht durchsetzen, nicht zuletzt wegen Bismarcks Memoiren, die den Bismarckverehrern neben einem fast unerschöpflichen Vorrat von Zitaten die Grundlagen für das Bild lieferten, das sich viele national gesinnte Deutsche von Bismarck machten; dies erschwerte einen kritischen Blick auf den Reichsgründer. Zu Lebzeiten nahm Bismarck außerdem persönlich Einfluss auf seine Darstellung in der Geschichtsschreibung, indem er den Zugriff von Historikern auf Dokumente regulierte und zum Teil Manuskripte Korrektur las. Nach seinem Tod übernahm der Sohn Herbert von Bismarck für einige Jahre diese Kontrolle über das Bismarck-Bild der Nachwelt.Die professionelle Geschichtswissenschaft konnte sich vor dem Hintergrund der Reichseinigung der Faszination Bismarcks nicht entziehen und trug zur Idealisierung seiner Person bei. Heinrich von Treitschke wandelte sich von einem politischen Kritiker Bismarcks zu einem glühenden Bewunderer. Bismarcks Reichsgründung galt ihm als heroische Glanztat der deutschen Geschichte. Treitschke und andere Historiker der kleindeutsch-borussischen Schule der Geschichtsschreibung waren fasziniert von der strukturbrechenden Kraft Bismarcks. Der Bismarck-Biograf Erich Marcks schrieb 1909: „Und zu dem Glauben bekenne ich mich gern: dieses Dasein war so groß, in sich so gewaltig, für sein Volk so umfassend bedeutungsreich, daß an ihm alles, soweit es nur Leben hat, historisch wertvoll ist.“ Jedoch betonte Marcks, im Einvernehmen mit anderen Historikern der Wilhelminischen Ära wie Heinrich von Sybel, noch die Zweitrangigkeit der Rolle Bismarcks gegenüber den Leistungen der Hohenzollern. Nicht Bismarck, sondern Wilhelm I. wurde bis 1914 in Schulbüchern als Gründer des Deutschen Kaiserreichs dargestellt. Der entscheidende Schritt zu einer extremen Überhöhung von Bismarcks Bild in der Historiografie wurde während des Ersten Weltkriegs vollzogen. Anlässlich des 100. Geburtstags von Bismarck 1915 entstanden Weiheschriften, die ihren rein propagandistischen Zweck kaum verhüllten. In patriotischem Überschwang betonten Historiker die Pflicht der deutschen Soldaten, die von Bismarck herbeigeführte Einheit und Größe Deutschlands gegen die anderen europäischen Mächte zu verteidigen, unterschlugen dabei aber Bismarcks beständige Warnungen gegen einen solchen Krieg in Mitteleuropa. Bismarck-Forscher wie Erich Marcks, Max Lenz und Horst Kohl zeichneten Bismarck vielmehr als geistige Leitfigur der deutschen Kriegsanstrengungen. === Weimarer Republik und Zeit des Nationalsozialismus === Die deutsche Niederlage im Krieg und der Wechsel zur Republik von Weimar brachten keinen grundsätzlichen Umschwung in diesem nationalistischen Bismarck-Bild, weil die Elite der Historikerzunft weiter der Monarchie verpflichtet blieb. In einer als demütigend und chaotisch empfundenen Lage Deutschlands wurde Bismarck als Orientierung gebende Vaterfigur porträtiert, an deren Genius angeknüpft werden müsse, um die „Schmach von Versailles“ zu überwinden. Sofern Kritik an seiner historischen Rolle geäußert wurde, bezog sie sich auf die „kleindeutsche“ Lösung der deutschen Frage, nicht auf die kriegerisch und „von oben“ herbeigeführte Einigung per se. Der Traditionalismus verhinderte, dass in dieser Zeit innovative Bismarck-Biografien erschienen. Immerhin ermöglichte die Freigabe weiterer Dokumente in den 1920er-Jahren neue Detailstudien, die Bismarcks diplomatisches Geschick hervorhoben. In einer zukunftsweisenden Monografie analysierte Otto Jöhlinger zudem 1921 erstmals Bismarcks Antisemitismus. Der Historiker betonte dabei, dass der Reichskanzler entsprechende Äußerungen hauptsächlich in reaktionären politischen Kreisen getätigt hatte, sein eigenes Verhalten gegenüber Juden aber von Pragmatismus geprägt war. Die populärste Bismarck-Biografie der Zeit legte 1926 der Schriftsteller Emil Ludwig mit einer kritischen psychologischen Studie vor, in der Bismarck als faustischer Held im Drama der Geschichte des 19. Jahrhunderts porträtiert wurde.In der Zeit des Nationalsozialismus wurde häufiger eine historische Kontinuitätslinie zwischen Bismarck und Adolf Hitler behauptet, um so den nationalsozialistischen Staat als Vollendung der deutschen Einheitsbewegung (jedoch bei Korrektur der „kleindeutschen Lösung“) zu porträtieren. Erich Marcks, führender Vertreter der Bismarck-Forschung, unterstützte diese ideologisierte Geschichtsdeutung. Auch in Großbritannien wurde Bismarck während des Zweiten Weltkriegs vermehrt als Vorgänger Hitlers gesehen, der Beginn der historiografischen Definition eines Deutschen Sonderwegs. Während des Zweiten Weltkriegs ließ die Berufung der Nationalsozialisten auf Bismarck jedoch nach; vor allem seine bekannten Warnungen vor einem Krieg Deutschlands gegen Russland waren ab 1941 nicht mehr opportun. Stattdessen erblickten nun konservative Mitglieder des Widerstands in Bismarck eine Leitfigur.Im Jahr 1944 erschien Arnold Oskar Meyers Bismarck der Mann und der Staatsmann, in dem Bismarck nationaldeutsch und völkisch gedeutet wurde. Mit diesem Werk erlangte die Bismarck-Verherrlichung in der Tradition des Kaiserreichs einen letzten Höhepunkt. Angesichts der Niederlage im Zweiten Weltkrieg und der Aufteilung Deutschland konnte Meyers überzogene politische Interpretation jedoch keinen größeren Einfluss auf die Bewertung der Rolle Bismarcks durch die Geschichtsschreibung mehr ausüben.Eine wichtige kritische Stimme erhob der Jurist Erich Eyck mit seiner 1941–1944 im Schweizer Exil veröffentlichten dreibändigen Bismarck-Biografie. Er warf Bismarck machiavellistische Methoden und mangelnden Respekt vor dem Recht vor, verurteilte seinen Zynismus gegenüber demokratischen, liberalen und humanitären Werten und machte ihn für das Scheitern der Demokratie in Deutschland verantwortlich. Bismarcks Bündnissystem sei zwar mit Geschick erbaut worden, aber künstlich und von vornherein zum Scheitern verurteilt gewesen. Jedoch konnte auch Eyck sich der Faszination Bismarcks nicht entziehen: „Aber niemand, wo immer er steht, kann verkennen, daß er die zentrale und beherrschende Figur seiner Zeit ist und mit ungeheurer Kraft und tyrannischer Energie ihr die Wege gewiesen hat. Und niemand kann sich der faszinierenden Anziehungskraft dieses Menschen entziehen, der im guten wie im bösen immer eigenartig und immer bedeutend ist.“ === Nachkriegszeit bis 1990 === Nach dem Zweiten Weltkrieg hielten einflussreiche deutsche Historiker wie Hans Rothfels und Theodor Schieder, wenn auch differenziert, an einem insgesamt positiven Bismarckbild fest. Viele deutsche Fachrezensionen der Eyck-Biografie, die erst in den 1950er-Jahren erschienen, waren entsprechend äußerst kritisch. Gerhard Ritter warf Eyck in einem Brief vor, lediglich antideutsche Klischees bestätigt zu haben. Demgegenüber argumentierte Friedrich Meinecke, selbst zuvor ein Bismarck-Bewunderer, 1946 in Die deutsche Katastrophe, das traumatische Scheitern des deutschen Nationalstaates verhindere, Bismarck auf absehbare Zeit zu feiern.Der Brite Alan J. P. Taylor veröffentlichte 1955 eine psychologisch gefärbte und nicht zuletzt deswegen umstrittene Bismarck-Biografie, in der er die komplexe Persönlichkeit seines Studienobjekts mit dem inneren Kampf zwischen väterlichem und mütterlichem Erbe zu erklären suchte. Taylor kontrastierte Bismarcks politischen Instinkt beim Ringen um eine Friedensordnung in Europa positiv mit der aggressiven deutschen Außenpolitik seit der Wilhelminischen Ära. Die erste deutsche Nachkriegsbiografie Bismarcks von Wilhelm Mommsen unterschied sich von Vorgängern vor allem durch den nüchternen, um eine objektive Perspektive bemühten Stil. Mommsen hob Bismarcks politische Flexibilität hervor und vertrat die Ansicht, dessen innenpolitische Fehler sollten nicht die Errungenschaften eines bedeutenden Staatsmannes überdecken.In den 1960er- und 1970er-Jahren verlor der auf Biografien „großer Figuren“ zentrierte Ansatz in der westdeutschen Historikerzunft stark an Boden. Demgemäß waren nun nicht mehr Person und Handeln Bismarcks bevorzugtes Studienobjekt, sondern die politischen, sozialen und kulturellen Strukturen, in die er eingebunden war, die er aber selbst auch beeinflusste. In der sozialgeschichtlichen Schule um den bismarckkritischen Hans-Ulrich Wehler wurde unter anderem Bismarcks Praxis der Kampagnen gegen vermeintliche Staatsfeinde (Sozialdemokraten, Jesuiten etc.) problematisiert. In Form einer „negativen Integration“ habe das Schüren von Ängsten dem Reichskanzler dazu gedient, soziale Milieus an das neue Kaiserreich zu binden. Bismarck sei es zudem gelungen, ab 1878 mit einer „Sammlungspolitik“ die Interessen zweier einflussreicher Gruppen, nämlich der führenden Landbesitzer (Junker) und der Großindustriellen, in einer „Allianz gegen den Fortschritt“ zu verbinden. Wehler charakterisierte Bismarcks Herrschaftssystem 1973 als bonapartistische Diktatur. Dazu hätten charismatische, plebiszitäre und traditionelle Elemente gehört. Später versuchte Wehler, Bismarcks Stellung mit Hilfe von Max Webers Konzept der „charismatischen Herrschaft“ zu deuten.Ende der 1970er-Jahre setzte eine Gegenbewegung zum Verzicht der Sozialhistoriker auf biografische Studien ein. Seitdem sind in regelmäßigem Abstand neue Bismarck-Biografien erschienen, die zumeist ein differenziertes Bild des ersten Reichskanzlers jenseits einer überspitzten Überhöhung oder Dämonisierung zeichnen. Den meisten neueren Biografien ist gemeinsam, dass sie im Versuch einer Synthese zwar die Wirkungsmacht Bismarcks betonen, dessen Person jedoch eingebettet in die zeitgenössischen Strukturen und politischen Prozesse zeigen.Einen ungewöhnlichen Weg ging dabei Fritz Stern, der 1978 eine Doppelbiografie Bismarcks und seines Bankiers Gerson von Bleichröder vorlegte. Lothar Gall zeichnete 1980, einen von Ludwig Bamberger und Henry Kissinger verwendeten Begriff aufnehmend, das Bild eines „weißen Revolutionärs“. Bismarck war danach ein Erzroyalist, der die konservativen Strukturen bewahren wollte, stürzte zu diesem Zweck aber auch bestehende Ordnungen um und hat modernisierend gewirkt. Am Ende habe er aber die Kräfte, die er gerufen hatte, nicht mehr beherrschen können und bemühte sich um das Zurückdrängen moderner Tendenzen.Der US-amerikanische Historiker Otto Pflanze legte zwischen 1963 und 1990 eine mehrbändige Biografie Bismarcks vor, die im Unterschied zu anderen Werken weniger Bismarcks Handeln als vielmehr seine Persönlichkeit in den Vordergrund stellte und diese teils mit psychoanalytischen Methoden untersuchte. Pflanze kritisierte Bismarck dafür, die Reichsverfassung und den Umgang mit den Parteien ganz seinen unmittelbaren politischen Zwecken angepasst und dadurch ein wirkungsmächtiges negatives Exempel gesetzt zu haben. Nach Pflanze geht die Darstellung als Einiger der deutschen Nation auf Bismarcks späte Selbststilisierung zurück, obwohl er ursprünglich nur den Einfluss Preußens im Konzert der europäischen Mächte habe stärken wollen.Der DDR-Historiker Ernst Engelberg brachte 1985 den ersten Band seiner Bismarck-Biografie heraus, die in Ost und West auf Verwunderung stieß, weil sie eher liebevoll und, abgesehen von der Sozialistenverfolgung, wenig kritisch mit dem Kanzler umging. Engelberg sah, durchaus in Einvernehmen mit anderen marxistisch-leninistischen Historikern der Zeit, die Reichsgründung als Phase des Fortschritts an, die der Arbeiterklasse einen nationalen Zusammenschluss ermöglicht habe. Engelberg betrachtete Bismarck selbst nicht als Abenteurer, sondern als überlegt handelnden Politiker, dessen Charakterfehler ihm nicht persönlich anzulasten, vielmehr aus seinen sozialen Wurzeln im Junkertum heraus erklärbar seien. Der Erste Weltkrieg sei nicht Bismarcks Erbe, sondern die Schuld seiner Nachfolger gewesen. == Siehe auch == Liste der Bismarckdenkmale in Deutschland Liste der Bismarckdenkmale außerhalb Deutschlands Liste der Bismarcktürme == Literatur, Quellen und Darstellungen == === Schriften und Reden Bismarcks === Gesammelte Werke – Neue Friedrichsruher Ausgabe. Schöningh, Paderborn [u. a.] 2004 ff. Abt. 3: 1871–1898. Schriften Bd. 1: 1871–1873. Paderborn [u. a.] 2004, ISBN 3-506-70130-4; Abt. 3: 1871–1898. Schriften Bd. 2: 1874–1876. Paderborn [u. a.] 2005, ISBN 3-506-71350-7; Abt. 3: 1871–1898. Schriften Bd. 3: 1877–1878. Paderborn [u. a.] 2008, ISBN 978-3-506-76525-3; Abt. 3: 1871–1898. Schriften Bd. 4: 1879–1881. Paderborn [u. a.] 2008, ISBN 978-3-506-76526-0; Abt. 3: 1871–1898. Schriften Bd. 5: 1882–1883. Paderborn [u. a.] 2010, ISBN 978-3-506-76848-3; Abt. 3: 1871–1898. Schriften Bd. 6: 1884–1885. Paderborn [u. a.] 2011, ISBN 978-3-506-77171-1; Abt. 3: 1871–1898. Schriften Bd. 7: 1886–1887. Paderborn [u. a.] 2018, ISBN 978-3-506-79217-4; Abt. 3: 1871–1898. Schriften Bd. 8: 1888–1890. Paderborn [u. a.] 2014, ISBN 978-3-506-76636-6; Abt. 3: 1871–1898. Schriften Bd. 9: 1890–1898. Paderborn [u. a.] 2021, ISBN 978-3-506-76043-2; Abt. 4: Gedanken und Erinnerungen. Paderborn [u. a.] 2012, ISBN 978-3-506-77070-7. Gedanken und Erinnerungen. Herbig, München 2007 (1898–1919), ISBN 978-3-7766-5012-9. Bd. 1. Stuttgart 1898. Digitalisat und Volltext im Deutschen Textarchiv. Bd. 2. Stuttgart 1898. Digitalisat und Volltext im Deutschen Textarchiv. Bd. 3: Erinnerung und Gedanke. J. G. Cotta'sche Buchhandlung Nachfolger, Stuttgart und Berlin 1919. Die politischen Reden des Fürsten Bismarck. Historisch-kritische Gesamtausgabe besorgt von Horst Kohl. 14 Bände. Cotta, Stuttgart 1892–1905. Bismarckbriefe 1836–1872. 6., stark verm. Auflage. Hrsg. von Horst Kohl. Velhagen & Klasing, Bielefeld und Leipzig 1897. Gesammelte Werke. Briefe, Reden und Aktenstücke. Ges. und hrsg. von Bruno Walden. 4 Bd. Fried, Berlin 1890. Die politischen Berichte des Fürsten Bismarck aus Petersburg und Paris (1859–1862). Hrsg. von Ludwig Raschdau. Bd. 1: 1859–1860. Bd. 2: 1861–1862. Hobbing, Berlin 1920. Bismarcks Briefwechsel mit dem Minister Freiherrn von Schleinitz. 1858–1861. Cotta, Stuttgart und Berlin 1905. Bismarck und der Staat. Ausgewählte Dokumente. 2. Auflage. Eingeleitet von Hans Rothfels. Wiss. Buchgesellschaft, Darmstadt 1953 (1925). Die Ansprachen des Fürsten Bismarck 1848–1894. Hrsg. von Heinrich von Poschinger. Deutsche Verlags-Anstalt, Stuttgart [u. a.] 1895. Fürst Bismarcks Briefe an seine Braut und Gattin. Hrsg. von Fürst Herbert von Bismarck. Cotta, Stuttgart 1900. Bismarcks Briefe an seine Gattin aus dem Kriege 1870/71. Cotta, Stuttgart und Berlin 1903. Briefe Ottos von Bismarck an Schwester und Schwager Malwine von Arnim geb. v. Bismarck u. Oskar von Arnim-Kröchlendorff 1843–1897. Hrsg. von Horst Kohl. Dieterich, Leipzig 1915. Bismarck. 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Die Entlassung. Spielfilm, Deutschland 1942. Regie: Wolfgang Liebeneiner. Made in Germany – Ein Leben für Zeiss. Spielfilm, BRD 1956. Regie: Wolfgang Schleif. Mit Heinz Klevenow als Bismarck. Preußen über alles… Bismarcks deutsche Einigung. Fernsehspielfilm (ZDF) über Bismarck und die deutsche Reichsgründung, BR Deutschland 1971. Regie: Rudolf Jugert. Bebel und Bismarck. TV-Fernsehspielfilm, DDR 1987. Regie: Wolf-Dieter Panse. Mit Wolfgang Dehler in der Rolle Bismarcks. Bismarck. Fernsehspiel in drei Teilen. Teil 1: Ich bin ein Preuße. Teil 2: Eisen und Blut. Teil 3: Virtuose der Macht. BR Deutschland 1990. Regie: Tom Toelle. Bismarck – Kanzler und Dämon. Fernseh-Doku-Drama in zwei Teilen. Teil 1: Vom Landjunker zum Reichsgründer. Teil 2: Regierungsgewalt und Machtverlust. Deutschland 2007. Buch und Regie: Christoph Weinert. Bismarck und das Deutsche Reich (= Die Deutschen, Staffel 1, Folge 9). Dokumentarfilm, ZDF. Deutschland 2008. Regie: Friedrich Scherer. Die Reichsgründung. Dokumentarspiel, ARD-alpha. Deutschland 2012. Buch: Klaus Gietinger und Bernd Fischerauer. Regie: Bernd Fischerauer. Die nervöse Großmacht. Dokumentarspiel, ARD-alpha. Deutschland 2012. Buch: Klaus Gietinger und Bernd Fischerauer. Regie: Bernd Fischerauer. Die zwei Leben des Otto von Bismarck. Dokumentarfilm, ZDF-History. Deutschland 2015. Ein Film von Annette Tewes. Kaiserspiel – Bismarcks Reichsgründung in Versailles. (alternativ Kaiserspiel in Versailles). Dokumentarfilm, ZDF und Arte. Deutschland 2021. Buch: Dirk Kämper und Lothar Machtan. Regie: Christian Twente. Mit Thomas Thieme als Bismarck (Online bei ZDF.de, Video verfügbar bis 14. Dezember 2026). == Weblinks == Literatur von und über Otto von Bismarck im Katalog der Deutschen Nationalbibliothek Werke von und über Otto von Bismarck in der Deutschen Digitalen Bibliothek Fürst von Bismarck-Schönhausen, Herzog von Lauenburg, Otto in der Datenbank der Reichstagsabgeordneten Zeitungsartikel über Otto von Bismarck in den Historischen Pressearchiven der ZBW Biografie von Otto Eduard Leopold Graf-Comte Bismarck-Schoenhausen. In: Heinrich Best: Datenbank der Abgeordneten der Reichstage des Kaiserreichs 1867/71 bis 1918 (Biorab – Kaiserreich) Dorlis Blume: Otto von Bismarck. Tabellarischer Lebenslauf im LeMO (DHM und HdG) Werke von Otto von Bismarck im Projekt Gutenberg-DE Gedanken und Erinnerungen auf Zeno.org Website der Otto-von-Bismarck-Stiftung Online-Biografie, herausgegeben von der Otto-von-Bismarck-Stiftung Mutmaßliche Tonaufnahme Bismarcks. Phonograph. Aufgenommen von Theo Wangemann. Friedrichsruh, 7. Oktober 1889. Nachlass von Otto von Bismarck im Bundesarchiv Umfangreiche Texte aus Anlass des 100. Geburtstages von Bismarck (mehrere Seiten), in: Berliner Tageblatt, 1. April 1915. == Anmerkungen ==
https://de.wikipedia.org/wiki/Otto_von_Bismarck
Canberra
= Canberra = Canberra [ˈkænbɹə] ist die Hauptstadt, die achtgrößte und die größte im Landesinneren liegende Stadt Australiens. Sie befindet sich im Australian Capital Territory (ACT), 248 km südwestlich von Sydney und 654 km nordöstlich von Melbourne. 1908 wurde die Planhauptstadt Canberra als Kompromisslösung der Rivalität zwischen Melbourne und Sydney bestimmt. Nach einem internationalen Städtebauwettbewerb entschied die australische Bundesregierung sich für den Entwurf der amerikanischen Architekten Walter Burley Griffin und Marion Mahony Griffin. Die Bauarbeiten begannen wenige Wochen vor der offiziellen Stadtgründung am 13. März 1913, den Status als Hauptstadt erhielt Canberra am 9. Mai 1927. Die Struktur des Stadtzentrums beruht auf geometrischen Motiven wie Kreisen, Sechsecken und Dreiecken. Diese Planstadt ist auf Achsen ausgerichtet, welche sich an topographischen Landmarken im ACT orientieren, insbesondere dem Stausee Lake Burley Griffin. Das Design der Stadt ist von den Prinzipien der Gartenstadtbewegung beeinflusst und bezieht bedeutende Bereiche mit natürlicher Vegetation mit ein. Wurde die Entwicklung der Stadt durch den Ersten Weltkrieg und die Weltwirtschaftskrise noch erheblich gebremst, so setzte nach dem Zweiten Weltkrieg ein starkes Bevölkerungswachstum ein, das bis heute anhält. Als Hauptstadt ist Canberra Sitz der Verfassungsorgane des australischen Staatswesens mitsamt deren Ministerien, Verwaltungen und Gerichten. Diese generieren den Hauptteil des Bruttosozialprodukts und sind auch der größte Arbeitgeber. Außerdem haben zahlreiche soziale, wissenschaftliche und kulturelle Institutionen von nationaler Bedeutung ihren Sitz in Canberra. Canberra hat keinen Stadtrat und keine eigene Stadtverwaltung wie andere australische Städte. Die Australian Capital Territory Legislative Assembly nimmt sowohl die Rolle eines Stadtrates für Canberra als auch die einer Territorialregierung für das übrige Hauptstadtterritorium wahr. Die überwiegende Mehrheit der Bevölkerung des Territoriums wohnt in Canberra selbst, weshalb die Stadt dennoch der Hauptschwerpunkt der territorialen Regierungstätigkeit ist. Die Bundesregierung behält die Autorität über das Territorium und kann lokale Gesetze aufheben. Über die National Capital Authority übt sie weiterhin großen Einfluss auf Planungsentscheidungen in der Stadt aus. == Geographie == Canberra bedeckt eine Fläche von 814,2 km² und liegt etwas östlich der Brindabella Range, einem Teil der Snowy Mountains, rund 150 km von der australischen Ostküste entfernt. Das Stadtgebiet, das etwa einen Viertel der Fläche des Australian Capital Territory (ACT) entspricht, befindet sich im nordöstlichen Teil des ACT auf einer Höhe von durchschnittlich 580 Metern über Meer. Der höchste Punkt ist der Gipfel des Hügels Mount Majura auf 888 m. Weitere bedeutende Hügel sind der Mount Taylor (856 m), der Mount Ainslie (843 m), der Black Mountain (812 m) und der Mount Stromlo (770 m). Der Molonglo River teilt die Stadt in zwei etwa gleich große Hälften. Dieser Fluss wird vom Scrivener-Damm zum Lake Burley Griffin gestaut, einer großen Wasserfläche im Stadtzentrum, die eine Länge von 11 km und eine Breite von bis zu 1,2 km erreicht. Bis zum Aufstauen des Sees verursachte der Molonglo River vereinzelt verheerende Überschwemmungen. Er mündet nordwestlich von Canberra in den Murrumbidgee River, einen Nebenfluss des Murray River. Mehrere kleinere Flüsse im Stadtgebiet oder unweit davon münden in den Molonglo oder den Murrumbidgee. Dazu gehören der Queanbeyan River, der Cotter River, der Jerrabomberra Creek und der Yarralumla Creek. Der Ginninderra Creek und der Tuggeranong Creek werden zum Lake Ginninderra bzw. Lake Tuggeranong gestaut. Das umliegende Buschland ist heute eine Mischung aus Savannen, Strauchgehölzen, Sümpfen und trockenen Wäldern, die zu einem bedeutenden Teil im Canberra-Naturpark zusammengeschlossen sind. Der einst fast vollständig aus Eukalypten bestehende heimische Wald in der Region diente als Brennstoff- und Bauholzressource. Die Forstwirtschaft begann 1915 mit Versuchen an einer Reihe von Arten, darunter Pinus radiata an den Hängen des Mount Stromlo. Anfang der 1960er Jahre hatte die Abholzung den Eukalyptus dezimiert, und die Sorge um die Wasserqualität führte zur Sperrung der Wälder. Seither sind die Plantagen ausgeweitet worden, mit dem Vorteil, dass die Erosion im Einzugsgebiet des Cotter River verringert wurde. Heute sind die Wälder beliebte Naherholungsgebiete.Die Bevölkerung des ACT lebt fast ausschließlich in Canberra. Im ländlichen Teil des ACT gibt es lediglich ein paar Gehöfte und Dörfer mit zusammen etwas mehr als 5000 Einwohnern. Die größten Siedlungen sind Williamsdale, Naas, Uriarra Village, Tharwa und Hall. Zehn Kilometer südöstlich des Stadtzentrums, unmittelbar an der Grenze des ACT, liegt im Bundesstaat New South Wales die Stadt Queanbeyan mit rund 36.000 Einwohnern. === Klima === Canberra hat ein gemäßigtes ozeanisches Klima (effektive Klimaklassifikation: Cfb). Aufgrund der Höhenlage und der Entfernung zur Küste gibt es vier unterschiedliche Jahreszeiten, das Klima ist aber trockener als in den Städten an der Küste. Ursache dafür ist die Lage der Stadt im Regenschatten der Brindabella Range. Das Klima zeichnet sich durch heiße bis warme, trockene Sommer und (für australische Verhältnisse) kühle bis kalte Winter mit dichtem Nebel und häufig auftretendem Frost aus.Die höchste je gemessene Temperatur war 44,0 °C am 4. Januar 2020. Drei Tage zuvor maß man in Canberra den schlechtesten Luftqualitätsindex aller Großstädte weltweit. Beides waren Folgen der verheerenden Buschbrände in Australien 2019/2020 und der damit verbundenen starken Rauchentwicklung.Die tiefste je gemessene Temperatur betrug −10,0 °C am 11. Juli 1971. Schnee fällt durchschnittlich ein- bis zweimal jährlich, die Menge ist jedoch gering und jeweils nach kurzer Zeit wieder geschmolzen. Zwischen Oktober und März können Gewitter auftreten, der meiste Regen fällt im Frühling und im Sommer. Allgemein bläst der Wind nicht besonders stark. Die nachfolgende Tabelle zeigt die durchschnittlichen Klimawerte der Jahre 1981 bis 2010: === Geometrie des Stadtzentrums === Canberra ist eine Planstadt, deren Innenstadtbereich ursprünglich vom amerikanischen Architekten Walter Burley Griffin entworfen wurde (assistiert von seiner Ehefrau Marion Mahony Griffin). Im Stadtzentrum beidseits des Lake Burley Griffin folgen die Hauptstraßen eher einem Rad-und-Speichen-Muster als einem Raster. Griffins Stadtentwurf weist eine Fülle geometrischer Formen auf, darunter konzentrische sechseckige und achteckige Straßenmuster, die von mehreren Radien ausstrahlen. Die später entstandenen Außenbezirke der Stadt sind hingegen nicht geometrisch gegliedert.Der Lake Burley Griffin ist bewusst so gestaltet worden, dass sich seine Ausrichtung auf verschiedene topographische Orientierungspunkte in Canberra bezieht. Eine senkrecht zum zentralen Becken (Central Basin) stehende „Landachse“ (land axis) erstreckt sich vom Capital Hill – dem Standort des neuen Parlamentsgebäudes – nordnordostwärts über das Nordufer hinweg und entlang der repräsentativen ANZAC Parade zum Australian War Memorial am Fuße des Mount Ainslie. Am südwestlichen Ende der Landachse erhebt sich der Bimberi Peak, der höchste Berg im Australian Capital Territory, etwa 52 km südwestlich von Canberra in der Brindabella Range.Die Sehne des Kreissegments, welches das zentrale Becken des Lake Burley Griffin bildet, verläuft rechtwinklig zur Landachse und bezeichnet die „Wasserachse“ (water axis). Sie erstreckt sich nach Nordwesten in Richtung Black Mountain. Eine parallel zur Wasserachse verlaufende Linie auf der Nordseite der Stadt bildet die „Stadtachse“ (municipal axis). Sie entspricht dem Verlauf der Constitution Avenue, die den City Hill im Geschäftszentrum Civic Centre mit dem Market Centre und dem Verteidigungsministerium auf dem Russell Hill verbindet. Die Commonwealth Avenue und die Kings Avenue verlaufen vom Capital Hill im Süden zum City Hill bzw. zum Market Centre im Norden und bilden den westlichen sowie den östlichen Rand des zentralen Beckens. Das von den drei Straßen umschlossene Gebiet heißt Parliamentary Triangle; dieses gleichseitige Dreieck bildet das Herzstück von Griffins Stadtentwurf.Das Ehepaar Griffin wies dem Mount Ainslie, dem Black Mountain und dem Red Hill spirituelle Werte zu und plante ursprünglich, jeden dieser Hügel mit Blumen zu bepflanzen. Auf diese Weise sollte jeder Hügel mit einer einzigen, primären Farbe bedeckt werden, die seinen spirituellen Wert darstellt. Dieser Teil ihres Plans konnte nie verwirklicht werden, da der Erste Weltkrieg den Bau der Hauptstadt verlangsamte und Planungsstreitigkeiten zu Griffins Entlassung durch Premierminister Billy Hughes nach Kriegsende führten. === Stadtstruktur === Die urbanen Gebiete von Canberra sind hierarchisch gegliedert. Es gibt sieben Stadtbezirke, von denen jeder in kleinere Stadtteile unterteilt ist, die unabhängig von ihrer Lage als „Vorort“ (suburb) bezeichnet werden. Praktisch alle dieser Vororte wiederum besitzen ein Stadtteilzentrum als Brennpunkt gewerblicher und sozialer Aktivitäten. Die Stadtbezirke wurden in dieser Reihenfolge besiedelt: Canberra Central (bestehend aus North Canberra und South Canberra), größtenteils in den 1920er und 1930er Jahren, Expansion bis in die 1960er Jahre, 25 Stadtteile Woden Valley, ab 1964, 12 Stadtteile Belconnen, ab 1966, 27 Stadtteile (davon zwei noch nicht entwickelt) Weston Creek, ab 1969, 8 Stadtteile Tuggeranong, ab 1974, 18 Stadtteile Gungahlin, ab 1993, 18 Stadtteile (davon drei noch nicht entwickelt) Molonglo Valley, ab 2010, 13 Stadtteile geplantCanberra Central folgt weitgehend Griffins Plänen. 1967 beschloss die National Capital Development Commission einen neuen Überbauungsplan, den „Y-Plan“. Die weitere Stadtentwicklung basiert seitdem auf einer Reihe von durch Schnellstraßen miteinander verbundenen Einkaufs- und Gewerbezonen, die als town centres (Stadtzentren) bezeichnet werden. Die Anordnung dieser Zentren ähnelt der Form des Buchstabens Y. Tuggeranong bildet das untere Ende, während Belconnen und Gungahlin an den Enden der Arme des Y liegen. Die Stadtentwicklung ist streng reguliert, einerseits durch stadtplanerische Maßnahmen, andererseits durch einschränkende Nutzungsbestimmungen für Parzellen. Die Bundesregierung verpachtete das gesamte Land im Australian Capital Territory für die Dauer von 99 Jahren, wenngleich die Regierung des Territoriums die meisten Pachtverträge mittlerweile selbst verwaltet. Seit Beginn des 21. Jahrhunderts gibt es anhaltende Forderungen für eine Lockerung der Planungsrichtlinien.Die meisten Stadtteile verfügen über kleinere Läden und liegen in der Nähe eines größeren Einkaufszentrums, das mehrere Stadtteile versorgt. Öffentliche Einrichtungen und Schulen befinden sich häufig in der Nähe dieser Läden oder Einkaufszentren. Viele Stadtteile sind nach berühmten Australiern und frühen Siedlern oder nach Aborigines-Bezeichnungen benannt. Die Straßennamen folgen meist einem bestimmten Muster; beispielsweise sind die Straßen in Duffy nach australischen Staudämmen benannt, jene in Page nach Biologen und Naturforschern. In Fyshwick, Mitchell und Hume gibt es jeweils eine Zone für Leichtindustrie. Auslandsvertretungen konzentrieren sich auf die Stadtteile Yarralumla, Deakin und O’Malley. == Geschichte == === Vorgeschichte === Vor der europäischen Besiedlung lebten auf dem Gebiet des späteren Australian Capital Territory (ACT) seit Jahrtausenden verschiedene Stämme der Aborigines. Gemäß dem Anthropologen Norman Tindale waren die Ngunnawal die hier vorherrschende Gruppe. Die Ngarigo und die Walgalu lebten unmittelbar südlich davon, die Gandangara im Norden, die Wiradjuri im Nordwesten und die Yuin an der Küste. Mit archäologischen Grabungen am Birrigai-Abri im Tidbinbilla-Naturreservat konnte nachgewiesen werden, dass die Gegend seit mindestens 21.000 Jahren besiedelt ist. Es ist möglich, dass das Gebiet wesentlich länger bewohnt war, da Hinweise für eine Präsenz der Aborigines im Südwesten von New South Wales etwa 40.000 bis 62.000 Jahre zurückreichen. Eine weitere wichtige Fundstelle im Naturreservat ist das Bogong-Felsdach, die älteste bekannte Lagerstätte der Aborigines, die in der Nähe größerer Vorkommen von Bogong-Faltern (Agrotis infusa) liegt. Diese Nachtfalter waren eine wichtige Nahrungsquelle für die Bewohner der südlichen Australischen Alpen. Sie sammelten sie in Höhlen und Felsspalten jeweils zu Tausenden ein, rösteten sie in Sand oder Asche und verspeisten sie.Darüber hinaus gibt es im gesamten ACT weitere Fundstellen wie Unterstände, Felsmalereien, Ansammlungen von Steinwerkzeugen oder entrindete Bäume. Am Mount Tidbinbilla scheinen lange Zeit Initiationsrituale vollzogen worden zu sein. Die Ngunnawal besaßen mindestens zwei Begräbnisstätten, wo die Toten in einigen Fällen auch in sitzender Position beigesetzt wurden. Die Aborigines waren Jäger und Sammler mit einer mündlich überlieferten Geschichte, die ihre Verbundenheit mit dem Land, die kulturelle Bedeutung einzelner Landschaftsformen und ihre eigene Herkunft erklärte. Allerdings sind nur ein Bruchteil dieser Erzählungen dokumentiert. Abgesehen von dem, was aus den archäologischen Fundstellen rekonstruiert werden kann, gibt es kaum Hinweise auf die Geschichte der Urbevölkerung vor Beginn der europäischen Besiedlung. === Europäische Erforschung und Besiedlung === Das Wachstum der britischen Kolonie New South Wales führte zu einer steigenden Nachfrage nach Ackerland. Gouverneur Lachlan Macquarie unterstützte deshalb Expeditionen südlich von Sydney. Die erste führte 1818 entlang der Küste zur Jervis Bay. Es folgten weitere Forschungsreisen, die im Zusammenhang mit dem geplanten Bau einer Straße von Sydney zur Goulburn-Ebene standen. Charles Throsby, Joseph Wild und James Vaughan entdeckten 1820 den Lake George und den Yass River. Dabei dürften sie auch das Gebiet des ACT durchquert haben. Kurz darauf startete eine zweite Expedition: Charles Throsby Smith (Throsbys Neffe) erforschte zusammen mit Wild und Vaughan den Molonglo River und den Queanbeyan River. 1821 entdeckte er mit einer dritten Expedition auch den Murrumbidgee River. Auf dem Weg dorthin verfasste er die erste detaillierte Beschreibung jener Gegend, in der heute Canberra liegt. Die nächste bedeutende Expedition in die Region fand 1823 statt, als Wild von Major John Ovens und Captain Mark Currie den Auftrag erhielt, sie zum Murrumbidgee River zu führen. Sie reisten dem Fluss entlang nach Süden und gaben dem Gebiet, das heute als Tuggeranong bekannt ist, den Namen Isabella’s Plain – nach der zweijährigen Tochter des damaligen Gouverneurs Thomas Brisbane. 1824 berichtete der Botaniker Allan Cunningham, dass die Gegend für die Weidewirtschaft geeignet sei. Die Besiedlung durch Europäer setzte 1824 ein, als von Joshua John Moore angestellte Viehhüter ein Gehöft in jener Gegend errichteten, die heute die Acton-Halbinsel am Lake Burley Griffin bildet. Moore erwarb 1826 das Grundstück formell, suchte es aber nie persönlich auf. Es war etwa vier Quadratkilometer groß und umfasste einen großen Teil des heutigen North Canberra. Er nannte seinen Besitz Canberry, woraus sich später Canberra entwickelte. Der Name soll vom Wort Kambera in der Sprache der Ngunnawal abgeleitet sein und „Treffpunkt“ bedeuten, wobei es dafür keine eindeutigen Belege gibt. Eine in den 1860er Jahren vom Zeitungsverleger John Gale aus Queanbeyan aufgestellte These besagt, dass der Ortsname von nganbra oder nganbira abstamme. Dies bedeute „Hohlraum zwischen den Brüsten einer Frau“ und beziehe sich auf die Flussebene des Sullivans Creek zwischen dem Mount Ainslie und dem Black Mountain.Weitere Gehöfte entstanden, die zu Beginn nicht von den Besitzern selbst bewohnt wurden, sondern von angestellten Arbeitern. Doch wenig später ließen sich auch Familien nieder. Einzelne Familien erreichten in der Region einen gewissen sozialen Status. Besonders einflussreich waren die aus Schottland stammenden Campbells, deren Oberhaupt Robert Campbell einst der erste Händler in Sydney gewesen war. Zu ihrem umfangreichen Besitz gehörten unter anderem das Duntroon House (die heutige Offiziersmesse des Royal Military College) und der Landsitz Yarralumla (heute das Government House, die Residenz des Generalgouverneurs). Unweit von Duntroon entstanden 1845 die erste Schule und unmittelbar daneben die St John the Baptist Church, die älteste Kirche der späteren Stadt.Administrativ gehörten die verstreuten Siedlungen zum Parish Canberra im Murray County von New South Wales. Sträflingsarbeit war anfangs weit verbreitet und die ersten Bushranger waren entlaufene Sträflinge. Die allgemeine Gesetzlosigkeit führte im November 1837 zur Ernennung des ersten ortsansässigen Magistraten, der die rechtlichen Angelegenheiten überwachte und Lizenzen für den Alkoholausschank erteilte. Der Goldrausch im nahe gelegenen Kiandra Ende der 1850er Jahre führte zu einem bedeutenden Zustrom von Einwohnern und zu einer markanten Zunahme wirtschaftlicher Aktivität. Das Unternehmen Cobb & Co. richtete Postkutschenkurse nach Sydney ein, 1859 wurde das erste Postamt in der Gegend eröffnet. Im Jahr 1860 entstand das Blundells Cottage, das älteste noch erhaltene Wohnhaus der Stadt.Während der ersten zwanzig Jahre der Besiedlung gab es nur begrenzte Kontakte zwischen den Siedlern und den Aborigines. Der Ansturm der Goldsucher durch die Brindabella Range in das Kiandra-Gebiet führte zu Konflikten und zu einer Dezimierung der Urbevölkerung durch Krankheiten wie Pocken und Masern. Die Ngunnawal und andere Ureinwohner hörten in den 1860er Jahren praktisch auf, als zusammenhängende und unabhängige Gemeinschaften zu existieren, die an ihren traditionellen Lebensweisen festhielten. Die wenigen Überlebenden zogen entweder in die Siedlungen oder wurden in weiter entfernte Reservate umgesiedelt. Von den Kindern erwartete man, dass sie sich assimilierten. Das Volk der Ngunnawal wurde in der Folge oft als „ausgestorben“ betrachtet. In einer Situation, die jener der Tasmanier ähnelt, identifizieren sich Menschen mit Ansprüchen auf die Ngunnawal-Abstammung weiterhin als solche. Es herrscht jedoch in der Gemeinschaft selbst Uneinigkeit darüber, wer zu Recht als Angehöriger des Ngunnawal-Volkes angesehen werden kann. === Suche nach einem Standort für die Bundeshauptstadt === Zu Beginn der 1890er Jahre begannen ernsthafte Debatten über den Zusammenschluss der selbstverwalteten britischen Kolonien auf dem australischen Kontinent. Ein Knackpunkt war vor allem die Frage der zukünftigen Hauptstadt, da sowohl Melbourne als auch Sydney diesen Status für sich beanspruchten. Henry Parkes, ein prominenter Politiker aus New South Wales, befürwortete eine Hauptstadt auf „neutralem Boden“ und schlug als Kompromiss die an der Grenze zu Victoria gelegene Stadt Albury vor. 1898 fanden in vier der Kolonien – New South Wales, Victoria, South Australia und Tasmanien – Volksabstimmungen über den Verfassungsentwurf statt. Zwar stimmte in allen Kolonien eine Mehrheit dafür, doch New South Wales verfehlte die erforderliche Mindestanzahl an Ja-Stimmen knapp. Bei einer anschließenden Konferenz der Premierminister deutete George Reid an, dass die Ansiedlung der Hauptstadt auf dem Gebiet von New South Wales ausreichend sein würde, um die erforderliche Zustimmung bei der zweiten Volksabstimmung sicherzustellen. Daraufhin wurde Artikel 125 der zukünftigen Verfassung so geändert, dass die Hauptstadt nördlich des Murray River in New South Wales liegen müsse, aber mindestens 100 Meilen (160,9 km) von Sydney entfernt. Außerdem sollte Melbourne der vorläufige Regierungssitz sein (jedoch nicht als „Hauptstadt“ bezeichnet werden), bis ein Standort für die neue Hauptstadt festgelegt war. Allerdings blieb damit die Frage offen, wo die Hauptstadt angesiedelt werden sollte. Anfänglich war der Bezirk Bombala ganz im Süden von New South Wales ein aussichtsreicher Kandidat, bald darauf waren auch die Region Monaro (die Bombala mit einschloss), Orange und Yass im Gespräch. Der Premierminister von New South Wales, John See, bot an, die empfohlenen Standorte für ein künftiges Bundesterritorium zur Verfügung zu stellen. Edmund Barton, der erste Premierminister von ganz Australien, fügte dieser Liste vier weitere Standorte hinzu: Albury, Tamworth, Armidale und Tumut. Regierungsmitglieder besichtigten 1902 diese Orte. Da sie sich nicht einig waren, beschlossen sie, das Problem an eine königliche Kommission zu delegieren. Innenminister William Lyne drängte auf Tumut oder Albury, da er einen Ort in seinem Wahlkreis bevorzugte. In der Folge legte die Kommission 1903 dem Parlament ihren Bericht vor, in dem sie die Standorte Albury, Tumut und Orange in dieser Reihenfolge empfahl. Das Repräsentantenhaus sprach sich für Tumut aus, der Senat bevorzugte jedoch Bombala. Infolge dieser Uneinigkeit scheiterte der Gesetzesentwurf, weshalb sich das Parlament nach der Neuwahl erneut damit befassen musste.Das neue Parlament trat 1904 zusammen und erzielte einen Kompromiss, indem es sich für Dalgety entschied, das wie Bombala in der Region Monaro liegt. Mit der Verabschiedung des Seat of the Government Act 1904 schien die Angelegenheit geregelt zu sein. Doch die Regierung von New South Wales protestierte energisch gegen diesen Beschluss und war nicht gewillt, das von der Bundesregierung geforderte Territorium abzutreten. Sie war der Meinung, dass dieses kleine Dorf zu nahe bei Melbourne liege. Schließlich stimmte New South Wales 1906 der Abtretung von Land in der Region um Yass und Canberra zu, die näher bei Sydney liegt. Nach einem Rundgang mehrerer Abgeordneter durch die Region wurde 1908 eine neue Abstimmung im Bundesparlament einberufen, bei der elf Standorte nominiert waren. Zunächst blieb Dalgety in der Spitzenposition, aber im achten Wahlgang trat Yass/Canberra als neuer Spitzenreiter hervor und wurde im neunten Wahlgang bestätigt. Daraufhin verabschiedete das Parlament den neuen Seat of Government Act 1908, der das Gesetz von 1904 ersetzte.Der staatliche Landvermesser Charles Scrivener (der bereits Dalgety vorgeschlagen hatte) begab sich im selben Jahr ins Dreieck Canberra–Yass–Lake George, um eine geeignete Stelle zu kartografieren. Nach ausgiebiger Untersuchung entschied er sich für Canberra. 1909 erließ New South Wales die gesetzlichen Grundlagen für die Schaffung des Bundesterritoriums. Zwei Gesetze übertrugen Gebiete im Murray County und im Cowley County sowie acht Parzellen an der Jervis Bay an den Bund. Alle privaten Grundstücke in dem aufgegebenen Gebiet mussten vom Bund erworben werden, was die Spekulation unterband. Sie werden seither im Erbbaurecht (leasehold) verpachtet.Der Seat of Government (Administration) Act 1910 schuf den rechtlichen Rahmen für das Territorium. Er sah vor, dass die Gesetze im Territorium vom Bund und die Verordnungen vom Generalgouverneur erlassen werden konnten. Mit dem Inkrafttreten des Gesetzes am 1. Januar 1911 entstand offiziell das Federal Capital Territory (seit 1938 als Australian Capital Territory bezeichnet). Das Gesetz bildete die verfassungsmäßige Grundlage für die Rechtsetzung im ACT bis zur Gewährung der Selbstverwaltung im Jahr 1989. Innenminister King O’Malley, der für die Gesetzgebung zur Schaffung des ACT verantwortlich gewesen war, brachte 1910 mit Erfolg einen Gesetzesentwurf durch das Parlament, der das Territorium zu einer alkoholfreien Zone erklärte. Das umstrittene Prohibitionsgesetz blieb bis 1928 in Kraft. Während dieser Zeit reisten viele Einwohner an Samstagen ins benachbarte Queanbeyan, um unmittelbar jenseits der Grenze einzukehren. === Planung, Stadtgründung und Baubeginn === Am 30. April 1911 schrieb das Innenministerium einen internationalen Wettbewerb für die neue Hauptstadt aus. Das Royal Institute of British Architects, die Institution of Civil Engineers und die ihnen angeschlossenen Einrichtungen im gesamten britischen Empire boykottierten den Wettbewerb, weil O’Malley darauf bestand, dass die endgültige Entscheidung von ihm und nicht von einem Experten für Stadtplanung getroffen werden sollte. Dennoch gingen 137 gültige Beiträge ein. O’Malley ernannte ein dreiköpfiges Beratungsgremium, das aber keine Einstimmigkeit erzielen konnte. Am 24. Mai 1912 folgte er der Mehrheit des Gremiums und erklärte den Entwurf des amerikanischen Architekten Walter Burley Griffin zum Sieger. Der zweite Preis ging an den Finnen Eliel Saarinen, der dritte an den Franzosen Alfred Agache. Zwei Punkte gaben den Ausschlag: Griffin passte die Stadtstruktur wann immer möglich der vorhandenen Topografie an, während alle anderen Stadtplaner versuchten, die natürliche Umgebung so zu verändern, dass sie vordefinierten ästhetischen Wunschvorstellungen genügte. Darüber hinaus malte seine Ehefrau Marion Mahony Griffin zahlreiche künstlerisch hochstehende Aquarelle, welche die künftige Stadt aus verschiedenen Blickwinkeln zeigten. Griffins Entwurf ragte so aus der Masse technischer Zeichnungen heraus. King O’Malley ernannte ein weiteres sechsköpfiges Gremium, das ihn bei der Umsetzung des Siegerentwurfs beraten sollte. Am 25. November 1912 teilte es mit, dass es Griffins Plan nicht vollumfänglich unterstützen könne und schlug einen Alternativplan vor, der die strenge Geometrie ein wenig auflockerte. Er beinhaltete die besten Merkmale der drei platzierten Entwürfe sowie eines vierten Entwurfs einer Architektengemeinschaft aus Sydney. Das Parlament billigte den modifizierten Plan und O’Malley genehmigte ihn am 10. Januar 1913 formell. Am 20. Februar 1913 rammte O’Malley den ersten Vermessungspfosten in den Boden, um den Baubeginn zu markieren. Zahlreiche Stadtnamen waren vorgeschlagen worden, darunter Olympus, Paradise, Captain Cook, Shakespeare, Kangaremu, Eucalypta und Myola. Am 12. März 1913 taufte Gertrude Denman, Baroness Denman, die Ehefrau von Generalgouverneur Thomas Denman, 3. Baron Denman, im Rahmen einer Zeremonie auf dem Kurrajong Hill (heute Capital Hill) die zu bauende Stadt auf den bereits etablierten Namen Canberra. In Gedenken an dieses Ereignis ist heute der zweite Montag im März, der „Canberra Day“, ein lokaler Feiertag. Die erste Bundeseinrichtung im Hauptstadtterritorium war das Royal Military College, das auf dem Gelände des Landsitzes Duntroon eingerichtet wurde.Der modifizierte Plan blieb umstritten und Griffin selbst lehnte die Änderungen ab. Er wurde deshalb nach Canberra eingeladen, damit die Angelegenheit vor Ort besprochen werden konnte. Als er im August 1913 eintraf, ernannte ihn die Regierung zum Direktor für Design und Bau der Bundeshauptstadt, worauf er die Detailplanung der Stadtbezirke North Canberra und South Canberra leitete. Wegen des Ausbruchs des Ersten Weltkriegs standen für die Umsetzung weniger finanzielle Mittel zur Verfügung, ebenso behinderte bürokratisches Gerangel seine Arbeit. Eine königliche Kommission kam 1916 zum Schluss, dass Griffins Autorität von einigen hochrangigen Beamten untergraben worden war: Die Daten, auf die sich seine Detailarbeiten stützten, waren ungenau und teilweise falsch gewesen. Im Dezember 1920 legte Griffin seine Arbeit am Projekt nieder, nachdem er erfahren hatte, dass einige jener Bürokraten, die ihn behindert hatten, in das Federal Capital Advisory Committee (FCAC) berufen worden waren. Premierminister Billy Hughes hatte diese neue Behörde geschaffen, um den weiteren Verlauf der Arbeiten zu überwachen. Bis zu diesem Zeitpunkt hatte Griffin seinen Plan überarbeitet, die Erdarbeiten an den Hauptstraßen beaufsichtigt und die Glenloch-Korkeichenplantage im heutigen National Arboretum angelegt.Nach Griffins Weggang hatte das FCAC nur begrenzten Erfolg bei der Erreichung seiner Ziele; der Vorsitzende John Sulman war jedoch maßgeblich dafür besorgt, die Grundsätze der Gartenstadtbewegung auf Griffins Plan anzuwenden. Das Komitee wurde 1925 durch die Federal Capital Commission (FCC) ersetzt. Deren Aufgabe bestand darin, die Stadt auf die Verlegung des Bundesparlaments von Melbourne nach Canberra vorzubereiten. Mit der offiziellen Eröffnung des provisorischen Parlamentsgebäudes am 9. Mai 1927 zog die Bundesregierung offiziell von Melbourne in das ACT um. Der öffentliche Dienst blieb zunächst in Melbourne ansässig und die verschiedenen Abteilungen verlegten ihren Sitz erst im Laufe der Jahre schrittweise nach Canberra. === Zögerliches Wachstum der neuen Hauptstadt === Die Eisenbahnstrecke zwischen Queanbeyan und Canberra wurde am 25. Mai 1914 eröffnet und diente zunächst zehn Jahre lang nur dem Güterverkehr. Von Juni 1921 bis Juli 1922 führte sie über den Molonglo River bis zum heutigen Stadtteil Civic. Nachdem eine Überschwemmung die temporäre Holzbrücke zerstört hatte, gab man diesen Abschnitt jedoch auf; seither endet die Strecke am Bahnhof Canberra im Stadtteil Kingston südlich des Flusses. Von 1923 bis Mai 1927 verband eine kapspurige Güterstraßenbahn die Ziegelhütte in Yarralumla mit der Baustelle des provisorischen Parlamentsgebäudes. Geplant, aber nie gebaut wurden Bahnstrecken nach Yass und zur Jervis Bay.Im Mai 1918 richtete die Regierung am östlichen Stadtrand ein Internierungslager für deutsche Kriegsgefangene ein. Tatsächlich beherbergte das Lager jedoch überwiegend zivile Internierte, die von Einrichtungen an anderen Orten dorthin verlegt worden waren. Ende 1919 entstand daraus eine Arbeitersiedlung und schließlich die Industriezone Fyshwick. Der spätere König Edward VIII. holte am 21. Juni 1920 die offizielle Grundsteinlegung Canberras nach. In den 1920er Jahren entstanden mehrere Regierungsgebäude, darunter The Lodge als Residenz des Premierministers. Die ersten Grundstücke für Wohn- und Geschäftszwecke wurden am 12. Dezember 1924 in einer öffentlichen Auktion versteigert. Zahlreiche soeben neu errichtete Gebäude waren von einer Überschwemmung betroffen, als im Februar 1925 die Dämme des Molonglo River brachen. Ebenfalls 1925 fuhr erstmals ein öffentlicher Bus. Zwei Jahre später erhielt Canberra das erste Kino sowie eine eigene Polizei. Die Weltwirtschaftskrise brachte das Wachstum Canberras zu einem jähen Stillstand. Hunderte Arbeiter des Bautrupps verloren ihre Stelle und das Staatspersonal wurde um ein Siebtel reduziert. Sogar die FCC, welche die bauliche Entwicklung Canberras überwachte, stellte 1930 ihre Tätigkeit ein und nahm sie erst acht Jahre später unter der Bezeichnung National Capital Planning and Development Committee (NCPDC) wieder auf. Großprojekte wie eine anglikanische und eine römisch-katholische Kathedrale konnten nicht verwirklicht werden, weil die dafür vorgesehenen Geldmittel in die Linderung der sozialen Folgen der Krise abflossen. Bis heute hat in Canberra keine bedeutende Glaubensrichtung ein Gotteshaus von nationalem Rang errichtet.Gleichwohl schritt die Entwicklung der Stadt voran, wenn auch eher qualitativ als quantitativ. So nahm beispielsweise 1931 die erste Radiostation ihren Sendebetrieb auf, zunächst von einem Ladenlokal im Stadtteil Kingston aus. Fünf Jahre später begannen die Bauarbeiten am Australian War Memorial, der Gedenkstätte für im Krieg gefallene Australier, die schließlich am 11. November 1941 offiziell eröffnet wurde. 1936 setzte der Zuzug diplomatischer Vertretungen nach Canberra ein. Den Anfang machte der Hochkommissar des Vereinigten Königreichs, gefolgt von einem Vertreter Kanadas 1937 und der Eröffnung einer Vertretung der USA 1940. Die USA waren 1943 das erste Land, die ein eigenes Botschaftsgebäude errichten ließen. 1946 war es auch der Vertreter der USA, der als Erster in den Rang eines Botschafters erhoben wurde; weitere Länder folgten bald darauf.Das bedeutendste Ereignis in Canberra bis zum Zweiten Weltkrieg war das 24. Treffen der wissenschaftlichen Vereinigung ANZAAS im Januar 1939. Die Canberra Times beschrieb es als „ein Ereignis von besonderer Tragweite … in der Geschichte dieser jüngsten Hauptstadt der Welt“. Die Unterkünfte reichten bei weitem nicht aus, um die 1250 Delegierten unterzubringen, und es musste eine Zeltstadt am Ufer des Molonglo River errichtet werden. Einer der prominenten Redner war der Schriftsteller H. G. Wells, der eine Woche lang Gast von Generalgouverneur Lord Gowrie war. Die Veranstaltung fiel mit einer Hitzewelle im Südosten Australiens zusammen, während der die Temperatur in Canberra am 22. Januar 42,5 °Celsius (108,5 °Fahrenheit) erreichte und die das verheerende Black-Friday-Buschfeuer auslöste. Canberra war damals noch immer eine kleinstädtisch geprägte Siedlung mit einer unorganisiert wirkenden Ansammlung von Gebäuden, die allgemein als hässlich empfunden wurde. Nur das Parlamentsgebäude und die Gedenkstätte deuteten darauf hin, dass es sich eigentlich um die Hauptstadt Australiens handelte. Kritiker bezeichneten sie oft spöttisch als „mehrere Vororte auf der Suche nach einer Stadt“. === Rasante Entwicklung nach dem Zweiten Weltkrieg === Während des Zweiten Weltkriegs und in den ersten Nachkriegsjahren zog das ins Stocken geratene Wachstum spürbar an. Beim Flugzeugabsturz von Canberra am 13. August 1940 kamen zehn Menschen ums Leben, darunter drei Minister der Bundesregierung und der Generalstabschef, als ihr Flugzeug im dichten Nebel auf einen Hügel stürzte. Nach Kriegsende verlegten immer mehr nationale Institutionen ihren Sitz nach Canberra oder wurden dort gegründet (beispielsweise die Australian National University im April 1946), was zunehmend zu einem Mangel an Wohnungen und Büroräumen führte. Ein Senatsausschuss befasste sich 1954 mit dem Problem und empfahl die Schaffung eines Planungsgremiums mit weitreichenden Exekutivbefugnissen. Folglich wurde das als ineffizient empfundene NCPDC im Jahr 1958 durch die National Capital Development Commission (NCDC) ersetzt. Unterstützt durch Premierminister Robert Menzies, beendete die NCDC vier Jahrzehnte der Auseinandersetzungen um Form und Gestaltung des Lake Burley Griffin. Der Bau dieses künstlichen Sees im Stadtzentrum begann 1960 und war nach vier Jahren abgeschlossen. Aufgrund einer lang anhaltenden Trockenperiode dauerte es über ein halbes Jahr, bis der See vollständig gefüllt war. Mit dessen Fertigstellung entfaltete das Parliamentary Triangle endlich jene repräsentative Wirkung, die Walter Burley Griffin ursprünglich vorgesehen hatte. An oder nahe den Ufern des neuen Sees entstanden in der Folge mehrere Gebäude von nationaler Ausstrahlung, darunter die National Library of Australia (1968), der High Court of Australia (1980), die National Gallery of Australia (1982), das National Museum of Australia (2001) und die National Portrait Gallery (2008). Griffins ursprünglicher Bebauungsplan ging nicht über die zentralen Stadtbezirke North Canberra und South Canberra hinaus. Um die rasant ansteigende Bevölkerung aufnehmen zu können, die sich in den 1960er und 1970er Jahren vervierfachte, war der Bau neuer Stadtbezirke erforderlich. Den Anfang machte 1964 Woden Valley; es folgten Belconnen (ab 1967), Weston Creek (ab 1969) und Tuggeranong (ab 1973). Im Rahmen der Zweihundertjahrfeier Australiens im Jahr 1988 konnte nach einer zehnjährigen Planungs- und Bauphase das Parliament House, das neue Parlamentsgebäude, eröffnet werden. Es ersetzte das 61 Jahre alte „provisorische“ Old Parliament House.Seit ihrer Gründung waren die Stadt und das Territorium direkt von den Ministerien verwaltet worden. In einer Volksabstimmung am 25. November 1978 lehnten die Einwohner aber die Selbstverwaltung ab und entschieden sich mit 63,75 % der Stimmen für die Beibehaltung des bisherigen Zustands. NCDC-Direktor John Overall machte dafür mehrere Gründe verantwortlich. Einerseits bestand die Angst vor Steuererhöhungen oder Leistungskürzungen. Andererseits habe die Mehrheit des Gefühl gehabt, durch ihre Vertreter im Bundesparlament bereits ein Mitspracherecht zu besitzen. Zudem hatte Canberra einen hohen Anteil an Beamten, die es gewohnt waren, mit der Bundesregierung zusammenzuarbeiten. Zehn Jahre später beschloss das Kabinett von Premierminister Bob Hawke, die Selbstverwaltung entgegen dem Wunsch der Bevölkerung einzuführen, zumal das Northern Territory mittlerweile gute Erfahrungen damit gemacht hatte. Insbesondere sollte aber der Bund finanziell entlastet werden, da das Territorium in hohem Maße von Subventionen profitierte. Am 6. Dezember 1988 stimmte das Parlament dem Australian Capital Territory (Self-Government) Act 1988 zu und Königin Elisabeth II. unterzeichnete dieses Gesetz am 11. Mai 1989. An diesem Tag konstituierte sich der im März gewählte Legislativrat. Ebenfalls 1989 wurde die National Capital Authority als neue Planungsbehörde eingesetzt. 1993 begann die Entwicklung des neuen Stadtbezirks Gungahlin. Canberra war am 18. und 19. Januar 2003 von Buschfeuern bisher ungekannten Ausmaßes betroffen (siehe Buschfeuer in Canberra 2003). Diese hatten eine Woche zuvor westlich der Stadt begonnen, durchbrachen dann die Eindämmungslinien und umschlossen einige Stadtteile. Vier Personen kamen ums Leben und rund 500 Häuser brannten nieder, bevor nach einem Wetterumschwung das Feuer unter Kontrolle gebracht werden konnte. Auch das traditionsreiche Mount-Stromlo-Observatorium und mehrere Kleinsiedlungen im ländlichen Teil des ACT gingen in den Flammen unter. Ein Teil des abgebrannten Kiefernwaldes westlich des Lake Burley Griffin wurde entsprechend einer im Jahr 2004 erschienenen Planungsstudie nicht wieder aufgeforstet. Stattdessen entsteht dort seit 2010 der neue Stadtbezirk Molonglo Valley, der im Endausbau über 50.000 Einwohner zählen wird. == Bevölkerung == Im Jahr 2021 zählte Canberra 452.670 Einwohner, was einer Bevölkerungsdichte von 1152 Einwohnern/km² entspricht. Die Volkszählung 2016 ergab, dass 2,0 % der Bevölkerung Aborigines oder Torres-Strait-Insulaner sind und 32,5 % außerhalb Australiens geboren wurden. Die meisten der im Ausland Geborenen stammen aus englischsprachigen Ländern, angeführt von Indien mit 3,8 %, dem Vereinigten Königreich mit 2,9 % und gefolgt von der Volksrepublik China (ohne Sonderverwaltungszonen und Taiwan) mit 2,7 %. In Nepal geboren wurden 1,3 % der Bevölkerung, weitere 1,1 % in Neuseeland. Seit Beginn des 21. Jahrhunderts hat die Zahl der Immigranten aus Ost- und Südasien stark zugenommen. Die meisten Einwohner, nämlich 71,2 %, sprechen zuhause ausschließlich Englisch; die häufigsten Fremdsprachen sind Mandarin (3,2 %), Nepalesisch (1,3 %), Vietnamesisch (1,1 %), Panjabi (1,1 %) und Hindi (1,1 %).Im Vergleich zu anderen australischen Städten ist die Bevölkerung Canberras jünger, mobiler und besser ausgebildet. Das Durchschnittsalter beträgt 35 Jahre, nur 12,7 % sind älter als 65 Jahre. Zwischen 1996 und 2001 zogen 61,9 % der Einwohner entweder hierher oder wieder weg. 2021 hatten 43,0 % der über 15-Jährigen einen Bildungsabschluss, der mindestens einem Bachelor entspricht, was markant höher als der nationale Durchschnitt von 26,3 % ist.43,5 % der Einwohner Canberras gaben bei der Volkszählung 2021 nicht religiös zu sein. Die am häufigsten vertretenen Konfessionen sind die Römisch-katholische Kirche (19,3 %) und die Anglican Church of Australia (8,2 %). Weit vertreten ist weiterhin der Hinduismus (4,5 %). Das katholische Erzbistum Canberra-Goulburn untersteht direkt dem Heiligen Stuhl, während die anglikanische Diözese Canberra & Goulburn zur Kirchenprovinz New South Wales gehört. == Politik und Recht == === Territorialregierung === Es gibt keinen Stadtrat und keine Stadtverwaltung für Canberra selbst. Die Australian Capital Territory Legislative Assembly (Legislativrat des australischen Hauptstadtterritoriums) übernimmt sowohl die Rolle eines Stadtrates für Canberra als auch die der Regierung des übergeordneten Australian Capital Territory (ACT). Jedoch ist die überwiegende Mehrheit der Bevölkerung des Territoriums in Canberra ansässig, weshalb die Stadt eindeutig den Schwerpunkt der Territorialregierung bildet.Die Legislative besteht aus 25 Mitgliedern, die in fünf Wahlkreisen nach dem Hare-Clark-System bestimmt werden, einer Variante der übertragbaren Einzelstimmgebung. Die Wahlkreise sind Brindabella, Ginninderra, Kurrajong, Murrumbidgee und Yerrabi mit je fünf Sitzen. Die Abgeordneten des Legislativrates wählen aus ihren Reihen den Chief Minister, der weitere Ratsmitglieder zu Ministern der Exekutive ernennt (informell als Kabinett bezeichnet). Amtierender Chief Minister ist seit 2014 Andrew Barr von der Australian Labor Party (ALP). Die letzte Wahl fand am 17. Oktober 2020 statt. Dabei gewannen die ALP zehn und die Australian Greens sechs Sitze, womit diese beiden Parteien eine Koalitionsregierung bilden (diese besteht seit 2008). Einzige Oppositionspartei ist die Liberal Party of Australia mit neun Sitzen.Die australische Bundesregierung verfügt über mittelbaren Einfluss auf die Regierung des ACT. Auf Verwaltungsebene wird dieser am häufigsten durch die National Capital Authority ausgeübt. Sie ist verantwortlich für Planung und Entwicklung jener Stadtteile Canberras, die von nationaler Bedeutung oder ein zentraler Bestandteil von Griffins ursprünglichem Bebauungsplan sind. Dazu zählen das Parliamentary Triangle, bedeutende Straßen, Grundstücke im Besitz des Bundes oder der Canberra-Naturpark. Durch das im Jahr 1988 erlassene Selbstverwaltungsgesetz (Australian Capital Territory (Self-Government) Act 1988) übt die Bundesregierung ebenfalls Kontrolle über die Legislative des Territoriums aus. Das Gesetz ist die Verfassung des ACT und bestimmt die Zuständigkeitsbereiche, über die der Legislativrat selbst entscheiden kann. === Justiz und Polizei === Im Auftrag der Regierung des ACT übernimmt die Australian Federal Police alle Aufgaben einer bundesstaatlichen Polizeibehörde. Sie führt zu diesem Zweck eine eigene Abteilung namens ACT Policing, um die allgemeine Polizeiarbeit im Territorium von den gesamtstaatlichen Aufgaben zu trennen. Gerichtsfälle werden im Magistratsgerichtshof (Magistrates Court of the Australian Capital Territory) und – bei schwerwiegenderen Fällen – im Obersten Gerichtshof des ACT (Supreme Court of the Australian Capital Territory) behandelt. Daneben gibt es einen Gerichtshof für Zivil-, Verwaltungs- und Arbeitsrecht (ACT Civil and Administrative Tribunal). Bis 2009 gab es im ACT nur ein Untersuchungsgefängnis (das Belconnen Remand Centre), während Haftstrafen in New South Wales verbüßt werden mussten. Seit Ende 2008 besitzt das ACT im Stadtteil Hume über ein eigenes Gefängnis für den Strafvollzug, das Alexander Maconochie Centre; es ist nach dem Kommandanten der Norfolkinsel von 1840 bis 1844 benannt. === Partnerstädte === Canberra ist mehrere Städtepartnerschaften eingegangen, die enge Beziehungen in den Bereichen Verwaltung, Wirtschaft, Kultur und Gesellschaft umfasst: Peking in der Volksrepublik China, Nara in Japan und Wellington in Neuseeland. Weniger formelle freundschaftliche Beziehungen bestehen mit Dili in Osttimor und Hangzhou in der Volksrepublik China. Mit allen genannten Städten findet ein kultureller Austausch statt. Die bedeutendste Veranstaltung im Zusammenhang mit einer Partnerstadt ist das Canberra-Nara-Kerzenfestival, das seit 2003 jeweils im Oktober stattfindet. === Wappen und Flagge === Die Stadt Canberra führt die gleichen Hoheitszeichen wie das Australian Capital Territory, da Stadt und Hauptstadtterritorium weitgehend identisch sind. Das Wappen des Australian Capital Territory wurde 1927 entworfen, nachdem das Verteidigungsministerium den Wunsch geäußert hatte, das damals vom Stapel gelaufene Kriegsschiff HMAS Canberra zu schmücken. Die Flagge des Australian Capital Territory besteht seit 1993 und zeigt neben dem Kreuz des Südens das leicht modifizierte Stadtwappen. == Kultur und Sehenswürdigkeiten == === Sehenswürdigkeiten === Touristisch interessant sind, neben der Anlage Canberras als Gartenstadt selber, die zahlreichen Sehenswürdigkeiten, die hauptsächlich in den beiden ältesten Stadtbezirken South Canberra und North Canberra sowie am Lake Burley Griffin zu finden sind. Zentraler Punkt in South Canberra ist der von Ringstraßen umgebene Capital Hill, auf den alle Hauptstraßen zulaufen. Auf diesem Hügel befindet sich das Parliament House, das 1988 eröffnete neue Parlamentsgebäude. Beim Bau wurde die Kuppe des Hügels abgetragen und nach Fertigstellung des Rohbaus wieder aufgeschüttet, so dass sie nunmehr das mit Rasen bewachsene Dach des Gebäudes bildet. Darüber erhebt sich ein 81 Meter hoher Flaggenmast mit der australischen Flagge.Nördlich des Capital Hill liegt der repräsentative Stadtteil Parkes mit einigen der wichtigsten Gebäuden der Stadt, allen voran das Old Parliament House. Es diente von 1927 bis 1988 als provisorischer Sitz des australischen Parlaments und beherbergt heute ein Museum über die Geschichte der australischen Demokratie. Auf der Grünfläche vor dem alten Parlament richteten Aktivisten im Jahr 1972 die inoffizielle „Zelt-Botschaft“ der australischen Ureinwohner (Aboriginal Tent Embassy) ein. Unweit des alten Parlaments befinden sich die National Archives of Australia (Nationalarchive) und die National Portrait Gallery. Näher am Südufer des Lake Burley Griffin sind die National Library of Australia (Nationalbibliothek), das Questacon-Museum (Wissenschafts- und Technologiezentrum), das Gebäude des Obersten Gerichtshofes und die National Gallery of Australia (Nationalgalerie) zu finden. Am zentralen Seebecken befindet sich das Captain James Cook Memorial, das in Form einer Wasserfontäne gestaltet ist. Die kleine Insel Queen Elizabeth II Island ist Standort des National Carillon, eines 50 Meter hohen Turmglockenspiels. Mehrere Parkanlagen umgeben den See, darunter der Commonwealth Park und der Kings Park.Westlich des Capital Hill liegt der Stadtteil Yarralumla, Standort der meisten diplomatischen Vertretungen, des Government House (Amtssitz des Generalgouverneurs) und des National Zoo and Aquarium. Im Südwesten des Capital Hill erstreckt sich der Stadtteil Deakin mit weiteren Botschaftsgebäuden, der Royal Australian Mint (Münzprägestätte) und The Lodge, dem Amtssitz des Premierministers. Der Stadtteil City (umgangssprachlich Civic genannt) nördlich des Sees ist das zentrale Einkaufs- und Büroviertel der Stadt. Es ist eines der wenigen Stadtgebiete mit verdichteter Bebauung. Hier befinden sich unter anderem das Messezentrum sowie das Canberra Museum and Gallery, das sich mit Kunst und Geschichte Canberras befasst. Westlich der City liegt das Universitätsviertel Acton. Dort, am Fuße des Black Mountain, befinden sich das National Film and Sound Archive, die Australian National Botanic Gardens (botanische Gärten mit über 5500 einheimischen Pflanzenarten) und das National Arboretum. Die Südspitze der Acton-Halbinsel am See ist Standort des National Museum of Australia (Nationalmuseum), das mit seiner gewagten, futuristisch anmutenden Architektur auffällt.Östlich der City, am Fuße des Mount Ainslie, erstreckt sich der „zeremonielle“ Bereich der Stadt. Die ANZAC Parade ist eine breite, von mehreren Denkmälern gesäumte Prachtstraße. Hier finden jeweils die Paraden zum ANZAC Day, einem der wichtigsten Feiertage Australiens, statt. An dieser Straße stehen die St John the Baptist Church, die älteste Kirche der Stadt, sowie das Australian War Memorial, das nationale Kriegerdenkmal. Rund zwölf Kilometer vom Zentrum entfernt findet man am nördlichen Stadtrand das National Dinosaur Museum (Dinosauriermuseum) mit der größten prähistorischen Sammlung der südlichen Hemisphäre.Einige historische Wohnhäuser aus dem 19. Jahrhundert können besichtigt werden: Die Lanyon- und Tuggeranong-Gehöfte im Tuggeranong-Tal, das Mugga-Mugga-Haus im Stadtteil Symonston und Blundells Cottage in Parkes stellen Gegenstände aus dem Alltag der frühen europäischen Siedler aus. Das Culthorpes’ House auf dem Red Hill ist ein gut erhaltenes Beispiel der Architektur der 1920er Jahre. Das Duntroon House im Stadtteil Campbell war einer der ersten Gehöfte der Region und ist heute die Offiziersmesse des Royal Military College. === Kultur und Nachtleben === Neben den Museen hat die Stadt eine lebendige Livemusik- und Theaterszene vorzuweisen, die vor allem von den Studenten der Universitäten getragen wird. Die beiden größten Theater sind das Canberra Theatre mit 1244 und das Playhouse mit 618 Sitzplätzen, die auch für Konzerte verwendet werden. Das Street Theatre auf dem Gelände der Australian National University (ANU) ist auf Laienvorführungen spezialisiert. Ebenfalls auf dem Gelände der ANU befindet sich die Musikhochschule mit der Llewellyn Hall (1442 Sitzplätze), die als eine der renommiertesten australischen Konzerthallen für klassische Musik gilt. Zudem besitzen die meisten Gemeinschaftszentren in den Stadtteilen Einrichtungen für Theater- und Kinovorführungen sowie in allen Fällen eine Bibliothek. Canberra ist für zahlreiche mehrtägige Großveranstaltungen bekannt: Das erste des Jahres ist jeweils das Summernats-Automobilfestival im Frühsommer Anfang Januar. Im Februar folgen die Feuerwerksparade Enlighten Canberra und die Landwirtschaftsmesse Royal Canberra Show. Das Volksfest Celebrate Canberra vor dem Canberra Day, dem offiziellen Feiertag der Stadt, dauert zehn Tage. Jeweils in der Osterwoche findet das National Folk Festival statt. Die jedes Jahr von Mitte September bis Mitte Oktober stattfindende Floriade ist mit jeweils über 300.000 Besuchern die größte Gartenausstellung der südlichen Hemisphäre. Das Stonefest Ende Oktober auf dem Gelände der University of Canberra (UC) ist eines der größten Rock-Musikfestivals des Landes.Das Casino Canberra ist das einzige Spielkasino der Stadt. Es wurde 1992 eröffnet und besitzt die alleinige Konzession, Glücksspiele anzubieten. Das Casino gehört Casinos Austria International. Im Casino gibt es jedoch keine Spielautomaten, denn dieses Recht steht wiederum nur den Bars und Clubs zu. Prostitution wurde zwar 1992 entkriminalisiert, ist jedoch von Gesetzes wegen auf die industriell geprägten Stadtteile Fyshwick und Mitchell beschränkt. Die vergleichsweise geringe Bevölkerungszahl hat zur Folge, dass das Nachtleben kaum mit jenem der großen australischen Metropolen mithalten kann. Darüber hinaus ist die Bevölkerungsdichte gering, sodass die verschiedenen Vergnügungseinrichtungen wie Bars, Clubs und Restaurants auf wenige Stadtteile in unmittelbarer Nähe zum Zentrum konzentriert sind. Das Nachtleben in Canberra (bzw. dessen angebliches Nichtvorhandensein) ist oft Gegenstand von Witzen auswärtiger Besucher. === Sport === Neben zahlreichen lokalen Sportvereinen gibt es in Canberra mehrere Sportmannschaften, die nationalen und internationalen Ligen angehören. Die bekanntesten Teams sind die Canberra Raiders und die Brumbies, die Rugby League bzw. Rugby Union spielen und beide mehrmals Meistertitel gewonnen haben. Beide Teams tragen ihre Spiele im 1977 errichteten Canberra Stadium aus, mit 25.011 Sitzplätzen das größte Stadion der Stadt. Bis 1990 wurden hier auch Leichtathletik- Wettkämpfe ausgetragen. Während des Fußballturniers der Olympischen Sommerspiele 2000 und während der Rugby-Union-Weltmeisterschaft 2003 fanden hier einige Vorrundenspiele statt.Ein weiteres großes Stadion ist das Manuka Oval für 16.000 Zuschauer, in dem Cricket- und Australian-Football-Spiele stattfinden. Eine Besonderheit ist, dass in der Stadt zwar kein Profiteam dieser beiden Sportarten beheimatet ist, zahlreiche auswärtige Teams aus Melbourne oder Sydney hier jedoch regelmäßig Heimspiele austragen. Das Prime Minister's XI ist ein traditionsreiches Cricketspiel, bei dem jedes Jahr eine vom Premierminister persönlich zusammengestellte australische Mannschaft gegen eine Nationalmannschaft aus Übersee antritt. Während des Cricket World Cup 1992 des Cricket World Cup 2015 fanden hier einige Partien statt. Das Frauen-Basketball-Team Canberra Capitals gehört zu den erfolgreichsten Mannschaften Australiens und hat mehrere Male den australischen Meistertitel gewonnen. Weitere Mannschaften, die nationalen Ligen angehören, sind die AIS Canberra Darters (Netball), die Canberra Labor Club Lakers, die Canberra Labor Club Strikers (Herren- und Damen-Hockey), die Canberra Knights (Eishockey) und die Canberra Vikings (Rugby Union). Canberra ist Austragungsort des Barassi International Australian Football Youth Tournament, des bedeutendsten Juniorenturniers im Australian Football. Weitere nennenswerte jährlich stattfindende Sportanlässe sind der Canberra Marathon, der Canberra Ironman Triathlon und die Canberra Rally. Darüber hinaus gibt es eine Pferderennbahn, den Canberra Racecourse. Von 2001 bis 2006 wurde das Tennisturnier Canberra Women’s Tennis Classic ausgetragen, 2009 war der Mount Stromlo am Stadtrand von Canberra der Austragungsort der Mountainbike-WM. Das seit 1981 bestehende Australian Institute of Sport (AIS) im Stadtteil Bruce ist ein spezialisiertes Bildungs- und Trainingsinstitut für Spitzensportler in zahlreichen Sportarten. Den Einwohnern von Canberra stehen zahlreiche Sportanlagen zur Verfügung, darunter Cricket- und Rugbyplätze, Golfplätze, Skateparks, Tennisplätze und Schwimmbäder. Durch die ganze Stadt zieht sich auch ein ausgedehntes Netz von Radwegen. Die hügelige Gegend rund um Canberra ist bei Wanderern, Reitern und Mountainbikern sehr beliebt. Auf den Seen wiederum sind Wassersportarten wie Segeln, Rudern und Wasserski möglich. == Wirtschaft und Infrastruktur == === Wirtschaft === Mit Abstand wichtigster Wirtschaftszweig der Stadt sind staatliche Verwaltung und Sicherheit. Zusammen erzeugten sie 27,1 % des Bruttosozialprodukts und beschäftigten sie 32,5 % aller Erwerbstätigen (Stand: 2018/19). Zu den wichtigsten Arbeitgebern im öffentlichen Dienst gehören das Parlament, das Verteidigungsministerium, das Finanzministerium, das Schatzamt, das Außenhandelsministerium und das Außenministerium. Mehrere Einrichtungen der Australian Defence Force befinden sich direkt in der Stadt sowie der näheren Umgebung. Weitere wichtige Wirtschaftszweige gemessen an der Zahl der Beschäftigten sind Gesundheitswesen (10,5 %), Wissenschaft und Technologie (9,8 %), Bildungswesen (9,6 %), Handel (7,3 %), Tourismus (6,4 %) sowie Baugewerbe (5,8 %). Die Industrie in Canberra fokussiert sich auf Bereiche mit hoher Wertschöpfung wie beispielsweise Biotechnologie, Rüstung, Informationstechnologie, Umwelttechnologie und Raumfahrt. Eine wachsende Zahl von Software-Anbietern hat sich in Canberra niedergelassen, um von der Konzentration der staatlichen Kunden zu profitieren. Zudem wird Canberra zu einem Innovationszentrum für Informationssicherheit ausgebaut.Im Februar 2020 betrug die Arbeitslosenquote in Canberra 2,9 %, deutlich unter dem nationalen Durchschnitt von 5,1 %. Als Folge der niedrigen Arbeitslosenquote sowie des hohen Anteils des Dienstleistungssektors und des öffentlichen Dienstes ist das Pro-Kopf-Einkommen höher als in allen anderen Hauptstädten der australischen Bundesstaaten. Das durchschnittliche Wocheneinkommen eines Einwohners von Canberra beträgt 1827 AUD, der landesweite Durchschnitt im Vergleich dazu 1658 AUD (März 2020). Der Mittelwert der Liegenschaftspreise in Canberra betrug 745.000 AUD im Februar 2020, was niedriger als in Sydney ist, aber höher als in allen anderen Hauptstädten. Der Mittelwert der Mietpreise wiederum ist nirgends so hoch wie in Canberra.In einer Rangliste der Städte nach ihrer Lebensqualität belegte Canberra im Jahr 2018 den 30. Platz unter 231 untersuchten Städten weltweit. === Verkehr === ==== Nahverkehr ==== Das Automobil ist in Canberra das dominierende Verkehrsmittel. Planungsvorschriften führten zu einem weitläufigen Netz gut ausgebauter Straßen und zu einer niedrigen Bevölkerungsdichte, da die Bebauung über ein relativ großes Gebiet verteilt und nur an wenigen Orten konzentriert ist. Im Vergleich zu anderen australischen Städten sind die Fahrtzeiten über weite Distanzen relativ kurz. Staus gibt es nur selten und sie lösen sich während der Hauptverkehrszeit in der Regel nach kurzer Zeit auf. Die Stadtbezirke sind durch Parkways miteinander verbunden, richtungsgetrennte Schnellstraßen mit einer erlaubten Höchstgeschwindigkeit von 100 km/h. Ansonsten gilt ein Tempolimit von 50 km/h. Daneben ist in allen Stadtteilen ein gut ausgebautes Netz von zusammenhängenden Radwegen vorhanden; Canberra bezeichnet sich selbst als „Fahrradhauptstadt Australiens“.Das städtische Busunternehmen Australian Capital Territory Internal Omnibus Network (ACTION) ist für den ÖPNV im gesamten Stadtgebiet zuständig. Das private Busunternehmen Qcity Transit verbindet Canberra mit benachbarten Städten in New South Wales. Obwohl die Pläne von Walter Burley Griffin dies vorsahen, gab es jahrzehntelang keine Straßen- oder Stadtbahn in Canberra. Die erste Etappe der Stadtbahn Canberra wurde am 20. April 2019 eröffnet. Sie ist zwölf km lang und verbindet das Stadtzentrum mit dem nördlichen Stadtteil Gungahlin. Der Auftrag war an ein Konsortium vergeben worden, an dem auch DB International beteiligt war. Eine zweite Phase ist in Planung. Die zwei in Canberra lizenzierten Taxiunternehmen heißen Canberra Elite und Cabexpress. Im Jahr 2016 wurden 7,1 % aller innerstädtischen Reisen mit öffentlichen Verkehrsmitteln unternommen, weitere 4,5 % zu Fuß. ==== Fernverkehr ==== Die Australian Capital Territory Railway – die Eisenbahninfrastruktur gehört dem Australischen Bund, wird aber von der Eisenbahn des Staates New South Wales betrieben – verbindet Canberra mit dem Eisenbahnnetz des Landes. Der Bahnhof Canberra befindet sich im Stadtteil Kingston. Von hier bietet die Eisenbahngesellschaft NSW TrainLink eine Linie nach Sydney an. Eine direkte Verbindung nach Melbourne gibt es nicht, so dass Reisende dorthin in Goulburn umsteigen müssen. Es gab verschiedentlich Pläne, zwischen Sydney, Canberra und Melbourne eine Neubaustrecke für den Hochgeschwindigkeitsverkehr zu bauen, diese erwiesen sich jedoch als wirtschaftlich unsicher. Die letzte Studie zu diesem Thema wurde 2013 veröffentlicht.Per Auto ist Sydney über den Federal Highway und den Hume Highway in drei Stunden erreichbar. Die Fahrt nach Melbourne auf dem Barton Highway, der bei Yass auf den Hume Highway trifft, dauert rund sieben Stunden. In zwei Stunden können auf dem Monaro Highway die Skigebiete in den Snowy Mountains und der Kosciuszko-Nationalpark erreicht werden. Ebenfalls zwei Stunden dauert die Fahrt auf dem Kings Highway nach Batemans Bay, einem beliebten Badeort an der Küste des Pazifiks. Die Unternehmen Greyhound Australia und Murray Coaches bieten mehrmals täglich Fernbusse nach Sydney und Melbourne an. Vom Canberra International Airport aus werden Flüge in die australischen Großstädte und zu einzelnen Regionalflughäfen in New South Wales angeboten. Es gibt keine Linienflüge in das Ausland, sondern nur Charterflüge – vor allem zur Urlaubssaison – mit einigen Überseezielen. Die frühere Royal Australian Air Force Base Fairbairn direkt neben dem Flughafen wurde 2003 aufgegeben. Bis dahin hatten sich zivile und militärische Luftfahrt die Start- und Landebahnen geteilt. === Versorgung === Die im Besitz der Regierung des ACT befindliche ACTEW Corporation ist für den Unterhalt der Wasserversorgungs- und Abwasserinfrastruktur von Canberra zuständig. ActewAGL, ein Joint-Venture der ACTEW Corporation und der Australian Gas Light Company, ist die Vertriebsgesellschaft für die Versorgung der Stadt mit Wasser, Erdgas und Elektrizität. TransACT, eine Tochtergesellschaft von ActewAGL, bietet auch Telekommunikationsdienstleistungen an. Das Trinkwasser wird in vier Reservoiren gesammelt; bei den Corin-, Bendora- und Cotter-Dämmen am Cotter River sowie beim Googong-Damm am Queanbeyan River. Letzterer liegt zwar in New South Wales, wird aber von der Regierung des ACT betrieben. Die ACTEW Corporation besitzt die zwei Kläranlagen von Canberra, diese befinden sich in Fyshwick und Lower Molonglo am Molonglo River.Die elektrische Energie für Canberra stammt aus dem landesweiten Stromnetz und wird über Umspannwerke in den Stadtteilen Holt und Fyshwick eingespeist. In der Umgebung von Canberra stehen vier Solarparks mit einer installierten Leistung von mehr als 100 Megawatt. Das erste Kraftwerk Canberras, das Kingston Powerhouse, war von 1913 bis 1957 in Betrieb. Wie in anderen Teilen Australiens werden terrestrische und mobile Telekommunikationsdienstleistungen von verschiedenen miteinander konkurrierenden Unternehmen angeboten. Der größte Teil der Infrastruktur ist im Besitz von Telstra, doch auch TransACT verfügt über einen bedeutenden Anteil. Auf dem Black Mountain steht der 195 Meter hohe Fernmeldeturm Black Mountain Tower (ehemals Telstra Tower und davor Telecom Tower). === Gesundheitswesen === Canberra verfügt über zwei große öffentliche Krankenhäuser, das Canberra Hospital in Garran mit 600 Betten und das Calvary Public Hospital in Bruce mit 174 Betten. Beide sind auch Lehrkrankenhäuser. Das größte private Krankenhaus Canberras ist das Calvary John James Hospital (ehemals John James Memorial Hospital) in Deakin. Weitere bedeutende Gesundheitsdienstleister sind das Calvary Private Hospital in Bruce und das National Capital Private Hospital in Garran. Zusätzlich zur Versorgung des Australian Capital Territory (ACT) übernehmen alle öffentlichen Krankenhäuser Notfälle und Überweisungen aus dem Einzugsgebiet im südlichen New South Wales und in der nördlichen Grenzregion Victorias. === Bildung === Die beiden wichtigsten Bildungsinstitutionen sind die Australian National University (ANU) und die University of Canberra (UC). Die ANU wurde 1946 gegründet und war zunächst auf die Forschung durch Postgraduierte ausgerichtet. Auch heute liegt der Schwerpunkt vor allem bei der Forschung. Die ANU, die rund 25.000 Studenten zählt, gehört laut den Hochschulrankings von Times Higher Education und der Universität Shanghai zu den besten Universitäten der Welt. Die UC mit ihren rund 16.000 Studenten ist stärker auf praktische Ausbildung ausgerichtet. Die Australian Catholic University und die Charles Sturt University sind mit je einer theologischen Fakultät vertreten, Erstere im Stadtteil Watson, letztere in der Nachbarschaft des neuen Parlamentsgebäudes. Daneben gibt es zwei Militärschulen, die Australian Defence Force Academy und das Royal Military College. Canberra ist der Hauptsitz der Commonwealth Scientific and Industrial Research Organisation (CSIRO), der staatlichen Behörde für wissenschaftliche Forschung. Zu den Errungenschaften der CSIRO gehören unter anderem die Atomspektroskopie und der Kunststoffgeldschein. Südwestlich der Stadt, am Rande des Tidbinbilla-Naturreservats, befindet sich der Canberra Deep Space Communication Complex, eine zum Deep Space Network gehörende Radarantennenstation. Im Jahr 2016 gab es in Canberra 132 Schulen, davon 87 staatliche und 45 private. Das Verhältnis der Schülerzahlen zwischen den staatlichen und privaten Schulen beträgt rund 60 zu 40 Prozent. Bei der Planung neuer Stadtteile achtete man darauf, dass in möglichst geringer Entfernung eine Vorschule und eine Grundschule vorhanden sind. Diese Schulen stehen in der Regel neben einer Grünfläche, um Sport und Spiel zu ermöglichen. Der Besuch der Vorschule ist zwar nicht obligatorisch, doch die meisten Kinder besuchen die von der Regierung finanzierten zwölf Wochenstunden. Die Grundschule umfasst sieben Klassen, den Kindergarten und die Jahre 1 bis 6. In den Schuljahren 7 bis 10 besuchen die Jugendlichen die High School, in den Jahren 11 bis 12 das College. Dies steht im Gegensatz zum Rest des Landes, wo die High School das 7. bis 12. Schuljahr umfasst. === Medien === Da Canberra als Hauptstadt auch das Zentrum des politischen Geschehens in Australien ist, sind in der Stadt alle wichtigen Medien mit Außenstellen vertreten. Dazu gehören die Australian Broadcasting Corporation, die kommerziellen Fernsehsender und die Zeitungen der übrigen Großstädte. Viele dieser Medien sind in der press gallery vertreten, einer Gruppe von Journalisten, die aus dem Parlament berichten. Der National Press Club of Australia in Barton überträgt häufig sein wöchentliches Mittagessen, bei dem ein prominenter Gast, üblicherweise ein Politiker, eine halbstündige Rede hält, gefolgt von einer Fragerunde.In Canberra erscheint eine Tageszeitung, die seit 1926 bestehende Canberra Times. Darüber hinaus erscheinen Gratiszeitungen für die einzelnen Stadtteile und einige Publikationen für besondere Interessengebiete. In der Stadt können mehrere analoge Fernsehstationen frei empfangen werden. Dazu gehören die Programme der öffentlich-rechtlichen Stationen ABC und SBS sowie die drei privaten Stationen Prime, WIN und Southern Cross. Ebenfalls frei empfangbar sind die digitalen Stationen ABC2 und SBS News. Foxtel bietet über Satellit zahlreiche Pay-TV-Programme an. Von TransACT sind Kabelfernsehen und Breitband-Internet erhältlich. In Canberra sind auch zahlreiche kommerzielle und nichtkommerzielle Radioprogramme empfangbar. == Persönlichkeiten == == Literatur == Eric Sparke: Canberra 1954–1980. Australian Government Publishing Service, Canberra 1988, ISBN 0-644-08060-4. Lionel Wigmore: Canberra: History of Australia’s national capital. Dalton Publishing Company, 1971, ISBN 0-909906-06-8. Lyall Gillespie: Canberra 1820–1913. Australian Government Publishing Service, Canberra 1991, ISBN 0-644-08060-4. L. F. Fitzhardinge: Old Canberra and the search for a capital. Canberra & District Historical Society, Canberra 1975, ISBN 0-909655-02-2. Terry G. Birtles: Contested places for Australia’s capital city. (PDF; 2,1 MB) ciences Australian Defence Force Academy, abgerufen am 1. April 2020 (englisch). Alan Fitzgerald: Canberra in two centuries: A pictorial history. Clareville Press, Canberra 1987, ISBN 0-909278-02-4. Jim Gibbney: Canberra 1913–1953. Australian Government Publishing Service, Canberra 1988, ISBN 0-644-08060-4. W. C. Andrews: Canberra's Engineering Heritage. Institution of Engineers Australia, Canberra 1990, ISBN 0-85825-496-4. John Overall: Canberra yesterday, today & tomorrow: a personal memoir. Federal Capital Press of Australia, Canberra 1995, ISBN 0-9593910-6-1. == Weblinks == Verwaltung des Australian Capital Territory (englisch) National Capital Authority (englisch) == Einzelnachweise ==
https://de.wikipedia.org/wiki/Canberra
Helium
= Helium = Helium (von altgriechisch ἥλιος hélios, deutsch ‚Sonne‘) ist ein chemisches Element und hat die Ordnungszahl 2. Sein Elementsymbol ist He. Im Periodensystem steht es in der 18. IUPAC-Gruppe, der früheren VIII. Hauptgruppe, und zählt damit zu den Edelgasen. Es ist ein farbloses, geruchloses, geschmacksneutrales und ungiftiges Gas. Helium bleibt bis zu sehr tiefen Temperaturen gasförmig, erst nahe dem absoluten Nullpunkt wird es flüssig. Es ist die einzige Substanz, die selbst am absoluten Nullpunkt (0 K bzw. −273,15 °C) unter Normaldruck nicht fest wird. Neben Neon ist Helium das einzige Element, für welches selbst unter Extrembedingungen bis jetzt keine Verbindungen nachgewiesen werden konnten, die nicht sofort nach der Bildung zerfallen sind. Helium kommt nur atomar vor. Das häufigste stabile Isotop ist 4He; ein weiteres stabiles Isotop ist das auf der Erde extrem seltene 3He. Das Verhalten der beiden flüssigen Phasen Helium I und Helium II (rsp. Helium-I und Helium-II) (insbesondere das Phänomen der Suprafluidität) von 4He ist Gegenstand aktueller Forschungen auf dem Gebiet der Quantenmechanik. Flüssiges Helium ist ein unverzichtbares Hilfsmittel zur Erzielung tiefster Temperaturen. Diese sind unter anderem zur Kühlung von Infrarotdetektoren von Weltraumteleskopen und zur Untersuchung von Eigenschaften wie der Supraleitung von Materie bei Temperaturen nahe dem absoluten Nullpunkt erforderlich. Helium ist nach Wasserstoff das zweithäufigste Element im Universum und macht etwa ein Viertel der Gesamtmasse der Materie im Universum aus. Nach anerkannter Theorie vereinigten sich rund zehn Sekunden nach dem Urknall Protonen und Neutronen durch Kernfusion zu ersten Atomkernen. Etwa 25 % von deren gesamter Masse sind 4He, 0,001 % Deuterium sowie Spuren von 3He. Somit ist der größte Teil des Heliums schon beim Urknall entstanden. Das später im Inneren von Sternen durch Fusion von Wasserstoff entstandene Helium fusionierte zum größten Teil weiter zu schwereren Elementen. Auf der Erde wird 4He in Form von Alphateilchen bei dem Alphazerfall verschiedener radioaktiver Elemente wie Uran oder Radium gebildet. Helium entsteht daraus, wenn das Alphateilchen anderen Atomen zwei Elektronen entreißt. Der Großteil des auf der Erde vorhandenen Heliums ist daher nichtstellaren Ursprungs. Das so entstandene Helium sammelt sich in natürlichen Erdgasvorkommen in Konzentrationen bis zu 16 Volumenprozent. Daher kann Helium durch fraktionierte Destillation aus Erdgas gewonnen werden. Erste Hinweise auf Helium entdeckte 1868 der französische Astronom Jules Janssen bei Untersuchungen des Lichtspektrums der Chromosphäre der Sonne, wobei er die bis dahin unbekannte gelbe Spektrallinie von Helium fand. Helium findet Anwendungen in der Tieftemperaturtechnik, besonders als Kühlmittel für supraleitende Magneten, in Tiefsee-Atemgeräten, bei der Altersbestimmung von Gesteinen, als Füllgas für Luftballons, als Traggas für Luftschiffe und als Schutzgas für verschiedene industrielle Anwendungen (zum Beispiel beim Metallschutzgasschweißen, als Trägergas bei der Kapillargaschromatographie und bei der Herstellung von Silizium-Wafern). Nach dem Einatmen von Helium verändert sich aufgrund der im Vergleich zu Luft höheren Schallgeschwindigkeit kurzzeitig die Stimme („Micky-Maus-Stimme“). == Geschichte == Hinweise auf das Element Helium erhielt man zum ersten Mal aufgrund einer hellen gelben Spektrallinie bei einer Wellenlänge von 587,49 Nanometern im Spektrum der Chromosphäre der Sonne. Diese Beobachtung machte der französische Astronom Jules Janssen in Indien während der totalen Sonnenfinsternis vom 18. August 1868. Als er seine Entdeckung bekannt machte, glaubte ihm zunächst niemand, da bislang noch nie ein neues Element im Weltall gefunden worden war, bevor der Nachweis auf der Erde geführt werden konnte. Am 20. Oktober desselben Jahres bestätigte der Engländer Norman Lockyer, dass die gelbe Linie tatsächlich im Sonnenspektrum vorhanden ist, und schloss daraus, dass sie von einem bislang unbekannten Element verursacht wird. Da diese Spektrallinie sehr nahe (1,8 nm von der Mitte) der Fraunhofer-Doppel-D-Linie (D2 = 589,00 nm, D1 = 589,60 nm) des Metalls Natrium lag, nannte er die Linie D3, um sie von diesen Linien D1 und D2 des Natriums zu unterscheiden. Er und sein englischer Kollege Edward Frankland schlugen vor, das neue Element Helium (von griechisch helios, Sonne) zu nennen.14 Jahre später, im Jahre 1882, gelang es Luigi Palmieri durch die Spektralanalyse von Vesuv-Lava erstmals, das Element Helium auch auf der Erde nachzuweisen. Am 23. März 1895 gewann der britische Chemiker William Ramsay Helium, indem er das Uran-Mineral Cleveit, eine Varietät des Uraninits, mit Mineralsäuren versetzte und das dabei austretende Gas isolierte. Er war auf der Suche nach Argon, konnte jedoch die gelbe D3-Linie beobachten, nachdem er Stickstoff und Sauerstoff von dem isolierten Gas getrennt hatte. Dieselbe Entdeckung machten fast gleichzeitig der britische Physiker William Crookes und die schwedischen Chemiker Per Teodor Cleve und Nicolas Langlet in Uppsala in Schweden. Diese sammelten ausreichende Mengen des Gases, um dessen Atommasse feststellen zu können. Im Jahr 1903 gelang Ramsay erstmals die „Umwandlung“ von Radium in Helium.Während einer Ölbohrung in Dexter in Kansas wurde eine Erdgasquelle gefunden, deren Erdgas 12 Volumenprozent eines unbekannten Gases enthielt. Die amerikanischen Chemiker Hamilton Cady und David McFarland der Universität von Kansas fanden 1905 heraus, dass es sich dabei um Helium handelte. Sie publizierten eine Meldung, dass Helium aus Erdgas gewonnen werden kann. Im selben Jahr stellten Ernest Rutherford und Thomas Royds fest, dass Alphateilchen Heliumkerne sind. Die erste Verflüssigung von Helium wurde 1908 vom niederländischen Physiker Heike Kamerlingh Onnes durchgeführt, indem er das Gas auf eine Temperatur von unter 1 K kühlte. Festes Helium konnte er auch bei weiterem Abkühlen nicht erhalten, dies gelang erst 1926 Willem Hendrik Keesom, einem Schüler Kamerlingh Onnes’, durch Komprimieren des Heliums auf 25 bar bei analoger Temperatur. Kamerlingh Onnes beschrieb zuerst das Phänomen suprafluider Flüssigkeiten, das als Onnes-Effekt bekannt ist. Im frühen 20. Jahrhundert wurden große Mengen Helium in Erdgasfeldern der amerikanischen Great Plains gefunden, und damit wurden die Vereinigten Staaten zum führenden Weltlieferanten für Helium. Nach einem Vorschlag von Sir Richard Threlfall förderte die US-Marine drei kleine experimentelle Heliumproduktionsbetriebe während des Ersten Weltkrieges, um Helium als Füllgas für Sperrballone zu gewinnen. Eine Gesamtmenge von 5.700 Kubikmeter Gas mit einem Heliumanteil von 92 % wurde von diesen Betrieben gewonnen. Dieses Helium wurde 1921 im ersten heliumgefüllten Luftschiff benutzt, dem C-7 der US-Navy. Die Regierung der USA ließ 1925 die National Helium Reserve in Amarillo in Texas errichten, um eine Versorgung von militärischen Luftschiffen in Kriegszeiten und Verkehrsluftschiffen in Friedenszeiten zu sichern. Das Lager befindet sich in einer natürlichen Gesteinsformation 20 km nordwestlich von Amarillo. Obwohl die Nachfrage nach dem Zweiten Weltkrieg sank, wurde die Förderungsanlage in Amarillo erweitert, damit flüssiges Helium als Kühlmittel für Sauerstoff-Wasserstoff-Raketentreibstoff und andere zu kühlende Gegenstände bereitgestellt werden konnte. Der Heliumverbrauch der USA stieg im Jahr 1965 auf das Achtfache des Spitzenverbrauchs in Kriegszeiten. Nachdem in den USA das Helium Acts Amendments of 1960 (Public Law 86-777) beschlossen worden war, wurden weitere fünf private Heliumförderanlagen errichtet. Das US-Minenministerium ließ dafür eine 685 Kilometer lange Pipeline von Bushton in Kansas nach Amarillo in Texas bauen; dieses Lager enthielt 1995 rund eine Milliarde Kubikmeter Helium und 2004 etwa das Zehnfache des Weltjahresbedarfs an Helium. Bis 2015 soll das Lager leer sein und aufgelöst werden (Helium Privatization Act). Die Reinheit des gewonnenen Heliums stieg nach dem Zweiten Weltkrieg rasant an. Wurde 1945 noch eine Mischung von 98 % Helium und 2 % Stickstoff für Luftschiffe benutzt, konnte 1949 bereits Helium mit einer Reinheit von 99,995 % kommerziell vertrieben werden. Um diesen Reinheitsgrad zu erreichen, ist Aktivkohle nötig, um verbliebene Verunreinigungen – meistens bestehend aus Neon – mittels Druckwechsel-Adsorption zu entfernen. == Vorkommen == === Weltall === Nach der Urknalltheorie entstand der größte Teil des im Weltraum vorhandenen Heliums in den ersten drei Minuten nach dem Urknall. Helium ist nach Wasserstoff das zweithäufigste Element. 23 % der Masse der gewöhnlichen (baryonischen) Materie bestehen aus Helium, obwohl Wasserstoffatome achtmal so häufig sind. Außerdem wird Helium durch Kernfusion in Sternen produziert. Dieses sogenannte Wasserstoffbrennen liefert die Energie, die die Sterne auf der Hauptreihe, also die Mehrheit aller Sterne, zum Leuchten bringt. Dieser Prozess liefert den Sternen die Energie für den größten Teil ihres Lebens. Wenn der größte Teil des Wasserstoffes am Ende des Lebens eines Sterns im Kern aufgebraucht ist, zieht sich der Kern zusammen und erhöht seine Temperatur. Außer bei Sternen geringer Masse (roten Zwergen) kann dadurch nun Helium zu Kohlenstoff verbrannt werden (Heliumflash, Heliumbrennen). In massereichen Sternen kann Kohlenstoff weiter zu schwereren Elementen verbrannt werden. Dieser Prozess kann sich bis zum Eisen fortgesetzen. Bei einer Supernovaexplosion werden die erzeugten Elemente (einschließlich schwererer Elemente als Eisen, die durch die Explosion entstehen) im Weltraum verteilt. Im Verlauf der Zeit reichert sich die interstellare Materie dadurch mit Helium und schwereren Elementen an, sodass später daraus entstandene Sternpopulationen einen größeren Anteil an Helium und schwereren Elementen haben. Auf Sternoberflächen und in Nebeln kommt Helium vorwiegend neutral („He I“ in der Nomenklatur der Astronomie) oder einfach ionisiert („He II“) vor. Helium ist in Planeten-Atmosphären in unterschiedlichen Anteilen vorhanden. Nachfolgend beispielhaft der bodennahe bzw. bei den Gasplaneten äußere Stoffmengenanteil: === Meteoriten, Asteroiden und Mond === Helium kann in Meteoriten und oberflächlichem Mondgestein auch durch Wechselwirkung (Spallation) mit Kosmischer Strahlung erzeugt werden. Besonders 3He kann deswegen benutzt werden, um das sogenannte Bestrahlungsalter, welches meist dem Zeitraum vom Losschlagen des Meteoriten vom Mutterkörper bis zu seiner Ankunft auf der Erde entspricht, zu bestimmen. Daneben entsteht 4He in Meteoriten durch Zerfall schwerer radioaktiver Elemente. Es gibt in Meteoriten weitere Heliumanteile, welche aus der Zeit der Entstehung des Sonnensystems stammen. Der Hauptanteil des im Regolith des Mondes gebundenen Heliums stammt aus dem Sonnenwind, wenn er ungehindert durch eine Atmosphäre oder ein Magnetfeld auf die Oberfläche trifft. Etwa 4 % des Sonnenwindes sind Heliumionen, davon etwa 0,48 ‰ Helium-3. Die Heliumionen des Sonnenwindes haben eine Energie von etwa 3 keV, dringen in Feststoffe ein und verbleiben dort (siehe Ionenimplantation). Helium ist wegen der geringen Ionen-Eindringtiefe (Sub-Mikrometerbereich) besonders im Feinanteil des Regolith an der Oberfläche und wegen der Durchmischung bis zu Tiefen von einigen Metern zu finden. Es ist besonders in Titanoxid-reichen, leitfähigen Mineralien (Ilmenit) verblieben. Es kommt hier in Konzentrationen bis zu 70 Masse-ppm vor. Etwa 100 ppm des im Mondgestein gebundenen Heliums ist das Isotop Helium-3, welches auf der Erde äußerst selten ist und dessen Verwendung in Fusionsreaktoren diskutiert wird. === Erde === 4He entsteht im Erdkörper beim radioaktiven Zerfall (Alphazerfall) schwerer Elemente wie Uran oder Thorium, wobei Helium-Kerne als Alphateilchen ausgesandt werden und anschließend Elektronen einfangen. Es kann in verschiedenen uran- und thoriumhaltigen Mineralen wie der Pechblende gefunden werden. Aus der Entstehungszeit der Erde stammt ein Anteil von 3He im Erdmantel, der weit über dem atmosphärischen Wert liegt, das sogenannte Mantelhelium; das 4He/3He-Verhältnis liegt im oberen Erdmantel, der weitgehend entgast ist und dessen Heliumbestand daher im Wesentlichen durch 4He aus Alpha-Zerfällen wiederaufgefüllt wird, bei etwa 86.000. Wenn das Konvektionssystem des unteren Erdmantels weitgehend von dem des oberen getrennt und der Massenaustausch zwischen beiden entsprechend gering ist, liegt das Verhältnis im unteren, kaum entgasten Mantel zwischen 2500 und 26.000, das heißt, der Anteil von 3He ist höher. Von besonderem geodynamischem Interesse ist dies im Hinblick auf die Ursachen von Hotspot-Vulkanismus: während für Basalte von mittelozeanischen Rücken, die durch Schmelzprozesse von Material des oberen Mantels entstehen, 4He/3He = 86.000 typisch ist, sind Basalte von einigen Hotspots, zum Beispiel ozeanischen Vulkaninseln wie Hawaii und Island, rund drei- bis viermal 3He-reicher. Dies wird gemeinhin damit erklärt, dass dieser Vulkanismus durch Mantelplumes verursacht wird, deren Ursprung an der Kern-Mantel-Grenze liegt und die daher zumindest teilweise aus Material des unteren Erdmantels bestehen. Helium-3 ist das Zerfallsprodukt von Tritium. Wasser in oberflächennahen Gewässern enthält aufgrund von Interaktion mit kosmischer Strahlung eine gewisse Menge Tritium, von welchem wiederum eine gewisse Menge zu Helium-3 zerfällt und ausgast. Der größte Teil dieses Helium-3 geht jedoch letztlich in die Atmosphäre über und verliert sich anschließend im Weltall (siehe unten). Helium kommt – durch den gleichen Mechanismus der Ansammlung – in Erdgas (mit bis zu 16 Volumenprozent Anteil) und in geringen Mengen im Erdöl (0,4 %) vor. Europäische Erdgasvorkommen enthalten dabei lediglich Anteile um 0,12 (Nordsee) bis 0,4 Volumenprozent (Polen), während in sibirischen, nordamerikanischen (Kanada, Texas, Kansas und Oklahoma) und algerischen Erdgasvorkommen bis zu 16 Volumenprozent möglich sind.In unteren Schichten der Erdatmosphäre, besonders der vom Wetter durchmischten Troposphäre beträgt der Heliumgehalt etwa 5,2 ppm. In sehr großer Höhe entmischen sich Gase tendenziell entsprechend ihrer unterschiedlichen Dichte auch entgegen der durchmischenden Wirkung der ungerichteten molekularen Wärmebewegung. Oberhalb 100 km Höhe (Homosphäre) liegt die Atmosphäre zunehmend entmischt vor, Helium wird so in Höhen >400 km, (teilchenanzahlmäßig) das vorherrschende Gas. Dabei entweichen Heliumatome in diesen Höhen in den Weltraum – im stationären Fall so viel, wie aus der Erdoberfläche durch Diffusion, Förderung und Vulkanismus nachgeliefert wird. Menschen greifen in den Heliumhaushalt der Erde insofern ein, dass einerseits Vorkommen, welche ohne menschliches Zutun unterhalb gasdichter Schichten „gefangen“ gewesen wären, menschlicher Nutzung – und dadurch oft früher oder später der Atmosphäre – zugeführt werden, andererseits wird in Kernreaktoren in vielfältiger Weise Helium „produziert“. Zum einen sind alle Actinoide entweder Alphastrahler oder betazerfallen zu Alphastrahlern. Hierbei sind die von Menschen produzierten Nuklide üblicherweise um Größenordnungen kurzlebiger als die primordialen Ausgangsnuklide Uran-235, Uran-238 und Thorium-232. Zum anderen entsteht durch vielfältige Vorgänge in diversen Reaktortypen Tritium, welches zu Helium-3 zerfällt. Obwohl Menschen seit Jahrzehnten Kernfusion in Form von Wasserstoffbomben und dem Fusor betreiben, ist der Effekt dieser menschlichen Aktivitäten auf die Menge irdischen Heliums vernachlässigbar, da hierbei bisher jeweils nur relativ geringe Mengen umgesetzt wurden. Sollte Menschen kontrollierte Kernfusion unter Energiegewinnung gelingen, könnte der Effekt auf Heliumvorkommen unter Umständen relevant sein, insbesondere wenn das besonders seltene Helium-3 als „Brennstoff“ verbraucht würde. == Gewinnung == Erdgas mit einem Heliumanteil ab 0,2 % ist der größte und wirtschaftlich wichtigste Heliumlieferant. Da Helium eine sehr niedrige Siedetemperatur besitzt, ist es durch Herunterkühlen des Erdgases möglich, das Helium von den anderen im Erdgas enthaltenen Stoffen, wie Kohlenwasserstoffen (vorwiegend Methan) und Stickstoffverbindungen, zu trennen. Bei der Herstellung von LNG zum internationalen Handel per Schiff erfolgt dieser Vorgang zwangsläufig, wodurch sich unter Umständen auch die Nutzung geringerer Helium-Konzentrationen lohnen kann. Viele Jahre lang gewannen die USA über 90 % des kommerziell nutzbaren Heliums der Welt. Noch 1995 wurden in den USA insgesamt eine Milliarde Kubikmeter Helium gefördert. Der restliche Anteil wurde von Förderungsanlagen in Kanada, Polen, Russland (wobei große Mengen in den unzugänglichen Gebieten Sibiriens liegen) und anderen Ländern geliefert. Nach der Jahrtausendwende kamen Algerien und Katar dazu. Algerien konnte sich rasch zum zweitwichtigsten Heliumlieferanten entwickeln. 2002 stellte Algerien 16 % des in der Welt vertriebenen Heliums her. Das Helium wird dort bei der Erdgasverflüssigung gewonnen. Bei Amarillo in Texas lagerte 2004 etwa das Zehnfache des Weltjahresbedarfs an Helium im sogenannten Cliffside Field. Diese ehemals strategische Reserve der US-amerikanischen Regierung muss jedoch aufgrund des Helium Privatization Act der Clinton-Regierung aus dem Jahr 1996 bis 2015 an die Privatwirtschaft verkauft werden. 2021 waren noch 85,7 Mio. m³ im Bundesspeicher vorhanden.Dadurch wurde zunächst eine Heliumschwemme mit sehr niedrigen Preisen verursacht, die für lange Zeit zu verschwenderischem Umgang führte. Weil der Verbrauch jedoch ständig steigt, droht Helium knapp zu werden, und Anlagen zur Wiedergewinnung des Heliums wurden bei Großverbrauchern zunehmend in Betrieb genommen. Experten warnen sogar vor einem Heliummangel, da Helium nur aus einigen Erdgasvorkommen gewonnen werden kann. Im Jahr 2016 wurde jedoch ein gewaltiges Helium-Vorkommen in Tansania entdeckt, so dass die Heliumkrise vorerst als abgewendet gilt. Da ebenfalls die geologischen Bedingungen ermittelt werden konnten, unter denen sich Helium bildet, erhofft man sich weitere Funde in der Zukunft. Im September 2019 wurde wieder auf eine drohende weltweite Heliumkrise hingewiesen. Die US-amerikanische USGS kam bei ihrer im Herbst 2021 veröffentlichten Untersuchung jedoch zum Ergebnis, dass die weltweiten Heliumreserven 39,8 Milliarden m³ betragen, davon 8,5 Milliarden m³ in den USA. Am 9. November 2021 wurde darum Helium in den USA von der Liste kritischer Rohstoffe gestrichen. In Russland befindet sich ein auf 60 Mio. m³ Erzeugungskapazität ausgerichtetes Werk gerade in der Errichtung. Die erste von drei jeweils auf 20 Mio. m³ ausgelegten Produktionslinien ging im Herbst 2021 in Betrieb, die nächste sollte im Februar 2022 folgen.Die europäische Union hat Helium von der Liste der kritischen Rohstoffe gestrichen. Dennoch kommt es immer wieder zu Versorgungsengpässen („Heliumkrise“). Die weltweiten Heliummärkte gelten zudem als ausgesprochen intransparent. Anfang des Jahres 2022 hatte sich der Heliumpreis weltweit verdoppelt, da die Nachfrage das Angebot deutlich überstieg. In mehreren Forschungslaboren mussten wegen Heliummangel Experimente abgebrochen werden. Lieferanten kürzten die Liefermengen um etwa 50 Prozent.Die weltweiten Erzeugermengen verteilen sich wie folgt: Das Isotop 3He ist nur zu etwa 1,4 ppm in natürlichem Helium der Erde enthalten und daher um ein Vielfaches teurer als das natürliche Isotopengemisch. === Erzeugung === Prinzipiell kann Helium in Kernreaktionen gewonnen werden. Vielfach ist es dabei ein Koppelprodukt oder eigentlich gänzlich unerwünscht. Helium 4He entsteht durch Neutronenbeschuss von Lithium 6Li in einem Kernreaktor; als Nebenprodukt entsteht Tritium 3H (überschwerer Wasserstoff). Tritium ist aufgrund seines deutlich höheren Preises zumeist das Hauptziel dieser Reaktion: 6 L i + n → 3 H + 4 H e {\displaystyle \mathrm {{}^{6}Li+n\ \rightarrow \ {}^{3}H+{}^{4}He} } Tritium zerfällt zu 3He durch Betazerfall mit einer Halbwertszeit von 12,33 Jahren. Lithium-7, das bei weitem häufigere Lithium-Isotop, kann auf zwei verschiedenen Wegen zu Helium umgesetzt werden, jedoch sind in beiden Fällen die Wirkungsquerschnitte relativ gering. Li 7 + p ⟶ 2 He 4 {\displaystyle {\ce {^7Li + p -> 2 ^4He}}} Li 7 + n ⟶ 2 He 4 + e − {\displaystyle {\ce {^7Li + n -> 2 ^4He + e-}}} Der Beschuss von Lithium-7 mit Protonen wurde noch vor Entdeckung der Kernspaltung in Uran als „smashing the atom“ (in etwa „Atome auseinander hauen“) bekannt. John Cockcroft und Ernest Walton erhielten für dieses Experiment aus dem Jahr 1932 den Physiknobelpreis 1951. Es werden sehr geringe Mengen von Helium 3He in mit Wasser moderierten Reaktoren erbrütet, wenn die im Wasser enthaltenen Wasserstoffatome Neutronen einfangen. Aus dem normalen Wasserstoff bildet sich dadurch Schwerer Wasserstoff (Deuterium) und daraus durch einen weiteren Neutroneneinfang Tritium, das wiederum durch Betazerfall zu Helium 3He wird. Bei normalem Wasserstoff ist die Einfangrate höher als beim darauf folgenden Schritt des Neutroneneinfanges durch schweren Wasserstoff (deshalb können Kernkraftwerke, die Schweres Wasser als Moderator verwenden, auch mit Natururan betrieben werden): 1 1 H → ( n , γ ) 1 2 H → ( n , γ ) 1 3 H → 12 , 33 a β − 2 3 H e {\displaystyle \mathrm {{}_{1}^{1}H\ {\xrightarrow {(n,\gamma )}}\ _{1}^{2}H\ {\xrightarrow {(n,\gamma )}}\ _{1}^{3}H\ {\xrightarrow[{12{,}33\ a}]{\beta ^{-}}}\ _{2}^{3}He} } Die angegebenen Zeiten sind Halbwertszeiten. In kanadischen CANDU-Reaktoren, bei denen schweres Wasser als Moderator und Primärkühlmittel Verwendung findet, ist die Produktion von Tritium derart bedeutsam, dass die aufwendige und teure Isotopentrennung lohnend ist, um Tritium bzw. dessen Zerfallsprodukt Helium-3 zu verkaufen. Ein gewisser Anteil (etwa 0,2-0,4 % im thermischen Spektrum) der Kernspaltungen sind en:ternary fission, das heißt, es entstehen drei positiv geladene Spaltprodukte. Hierbei handelt es sich häufig (in über 90 % der Fälle) um Alphateilchen (= Helium-4 Kerne) und immer noch in gut 7 % der Fälle um Tritium. Auch in Druckwasserreaktoren wird eine gewisse Menge Helium durch das Versetzen des Kühlwassers mit Borsäure erzeugt. Die Borsäure dient der Verringerung der Reaktivität durch Neutroneneinfang. Wegen des besseren Wirkungsquerschnittes wird hierbei zumeist 10B angereichert, welches in natürlichen Bor nur gut 20 % ausmacht. Trifft ein schnelles Neutron auf 10B kann es passieren, dass dieses ein Neutron „los schlägt“ und 9B entsteht. Dieses ist höchst instabil und zerfällt unter Abgabe eines Protons zu 8Be, welches im Vergleich zu zwei Alphateilchen energetisch höchst ungünstig ist und daher entsprechend schnell zerfällt. Die Bruttoreaktionsgleichung lautet daher: B 10 + n ⟶ 2 He 4 + p + 2 n {\displaystyle {\ce {^10B + n -> 2 ^4He + p + 2n}}} Fängt 11B ein Neutron ein, erfolgt in 99,6 % der Fälle der Betazerfall zu stabilem 12C in den verbleibenden 0,4 % der Fälle wird nach Abgabe eines Betateilchens analog zu oben über den Zwischenschritt 8Be das Ausgangsmaterial in drei Alphateilchen umgesetzt. B 11 + n ⟶ 3 He 4 + e − {\displaystyle {\ce {^11B + n -> 3 ^4He + e-}}} == Eigenschaften == === Physikalische Eigenschaften === Helium ist nach Wasserstoff das chemische Element mit der zweitgeringsten Dichte und besitzt die niedrigsten Schmelz- und Siedepunkte aller Elemente. Daher existiert es nur unter sehr tiefen Temperaturen als Flüssigkeit oder Feststoff. Bei Temperaturen unter 2,17 K liegt 4He in einer suprafluiden Phase vor. Bei Normaldruck wird Helium selbst bei einer Temperatur nahe 0 K nicht fest. Erst bei einem Druck oberhalb 2,5 MPa (rund 25-facher Atmosphärendruck) geht Helium bei hinreichend tiefen Temperaturen in eine feste Phase über. ==== Im gasförmigen Zustand ==== Helium ist ein farbloses, geruchloses, geschmacksneutrales und ungiftiges Gas. Unter Standardbedingungen verhält sich Helium nahezu wie ein ideales Gas. Helium ist praktisch unter allen Bedingungen atomar. Ein Kubikmeter Helium hat bei Standardbedingungen eine Masse von 179 g, Luft ist dagegen etwa siebenmal so schwer. Helium weist nach Wasserstoff die größte thermische Leitfähigkeit unter allen Gasen auf und seine spezifische Wärmekapazität ist außergewöhnlich groß. Helium ist ein guter elektrischer Isolator. Die Löslichkeit von Helium in Wasser ist mit 1,5 mg/l (9,3 ml/l) bei 20 °C und 101.325 kPa geringer als bei jedem anderen Gas. Seine Diffusionsrate durch Festkörper beträgt das Dreifache von Luft und ca. 65 Prozent von Wasserstoff. Helium hat bei Standardbedingungen einen negativen Joule-Thomson-Koeffizienten, das heißt, dieses Gas erwärmt sich bei Ausdehnung. Erst unterhalb der Joule-Thomson-Inversionstemperatur (ca. 40 K bei Atmosphärendruck) kühlt es sich bei Expansion ab. Daher muss Helium unter diese Temperatur vorgekühlt werden, ehe es durch Expansionskühlung verflüssigt werden kann. Seine kritischen Daten sind ein Druck von 2,27 bar, eine Temperatur von −267,95 °C (5,2 K) und eine Dichte von 0,0696 g/cm3. ==== Im flüssigen Zustand ==== ===== Helium I ===== Bei Normaldruck bildet Helium zwischen dem Lambdapunkt bei 2,1768 K und dem Siedepunkt bei 4,15 K eine farblose Flüssigkeit. ===== Helium II ===== Flüssiges 4He entwickelt unterhalb seines Lambdapunktes sehr ungewöhnliche Eigenschaften. Helium mit diesen Eigenschaften wird als Helium II bezeichnet. Helium II ist ein suprafluider Stoff. So fließt es etwa durch kleinste Öffnungen in Größenordnungen von 10−7 bis 10−8 m und hat keine messbare Viskosität. Jedoch konnte bei Messungen zwischen zwei sich bewegenden Scheiben eine Viskosität ähnlich der von gasförmigem Helium festgestellt werden. Dieses Phänomen wird mit dem Zwei-Fluid-Modell (rsp. Zwei-Flüssigkeiten-Modell) nach László Tisza erklärt. Laut dieser Theorie ist Helium II wie ein Gemisch aus 4He-Teilchen im normalfluiden sowie im suprafluiden Zustand, demnach verhält sich Helium II so, als gäbe es einen Anteil an Heliumatomen mit und einen ohne messbarer Viskosität. Anhand dieser Theorie können viele Phänomene der Tiefentemperaturphysik wie der „Thermomechanische Effekt“ relativ einfach und klar erklärt werden. Allerdings muss man deutlich darauf hinweisen, dass die zwei Flüssigkeiten weder theoretisch noch praktisch trennbar sind. In Helium II konnten die von Lew Landau postulierten Rotonen als kollektive Anregungen nachgewiesen werden. Helium II zeigt den Onnes-Effekt: Wenn eine Oberfläche aus dem Helium hinausragt, bewegt sich das Helium auf dieser Fläche gegen die Schwerkraft. Helium II entweicht auf diese Weise aus einem Behälter, der nicht versiegelt ist. Wenn es einen wärmeren Bereich erreicht, verdunstet es. Aufgrund dieses Kriechverhaltens und der Fähigkeit des Heliums II, selbst durch kleinste Öffnungen auszulaufen, ist es sehr schwierig, flüssiges Helium in einem begrenzten Raum zu halten. Es ist ein sehr sorgfältig zu konstruierender Behälter nötig, um Helium II aufzubewahren, ohne dass es entweicht oder verdunstet. Die Wärmeleitfähigkeit von Helium II lässt sich nicht mit der klassischen Wärmeleitung vergleichen, sie weist eher Parallelen zum Wärmetransport mittels Konvektion auf. Dadurch ist ein schneller und effektiver Wärmetransport über weite Distanzen möglich, was bei klassischer Wärmeleitung selbst mit sehr guten Wärmeleitern nicht möglich ist. Diese Art der Leitung wird auch als zweiter Schall bezeichnet, da er genauso wie Schall durch eine longitudinale Wellengleichung beschrieben werden kann: Helium II bei 1,8 K leitet Wärme als Impuls mit einer Geschwindigkeit von 20 m/s. 1971 gelang David M. Lee, Douglas D. Osheroff und Robert C. Richardson, das Helium-Isotop 3He ebenfalls in einen suprafluiden Zustand zu versetzen, indem sie das Isotop unter die Temperatur von 2,6 Milli-Kelvin abkühlten. Dabei geht man davon aus, dass zwei Atome 3He ein Paar bilden, ähnlich einem Cooper-Paar. Dieses Paar besitzt ein magnetisches Moment und einen Drehimpuls. Die drei Wissenschaftler erhielten für diese Entdeckung 1996 den Nobelpreis für Physik. ==== In festem Zustand ==== Helium kann als einziger Stoff unter Normaldruck nicht verfestigt werden. Dies gelingt nur unter erhöhtem Druck (etwa 2,5 MPa/0 K bei Helium-4, 2,93 MPa/0,315 K bei Helium-3) und bei sehr niedriger Temperatur (weniger als 1,5 K). Der beim Phasenübergang entstehende, fast vollkommen durchsichtige Feststoff ist sehr stark komprimierbar. Im Labor kann dessen Volumen um bis zu 30 % verringert werden; Helium ist mehr als 50-mal leichter komprimierbar als Wasser. Im festen Zustand bildet es kristalline Strukturen aus. Festes und flüssiges Helium sind optisch kaum voneinander zu unterscheiden, da ihre Brechungsindizes fast gleich sind. In einem anderen Fall kann bei Unterschreiten von etwa 200 mK und gleichzeitigem Zentrifugieren ein Zustand erreicht werden, der suprasolid oder auch suprafest heißt. Hierbei stoppt ein Teil des Feststoffes die eigene Rotation und durchdringt die restlichen Teile der Materie. Zu diesem teilweise umstrittenen Effekt gibt es noch keine bekannten Thesen oder Theorien. === Atomare Eigenschaften === Die zwei Elektronen des Heliumatoms bilden die abgeschlossene, kugelsymmetrische Elektronenschale des 1s-Atomorbitals. Diese Elektronenkonfiguration ist energetisch äußerst stabil, es gibt kein anderes Element mit einer höheren Ionisierungsenergie und einer geringeren Elektronenaffinität. Helium ist trotz seiner größeren Elektronenzahl kleiner als Wasserstoff und damit das kleinste Atom überhaupt. Abhängig von der Spinorientierung der zwei Elektronen des Heliumatoms spricht man vom Parahelium im Falle von zwei einander entgegengerichteten Spins (S = 0) und von Orthohelium bei zwei parallelen Spins (S = 1). Beim Orthohelium befindet sich eines der Elektronen nicht im 1s-Orbital, da dies das Pauli-Verbot verletzen würde. Die Benennung dieser Zustände geht auf einen früheren Irrtum zurück: Da der elektromagnetische Übergang zwischen dem Grundzustand des Orthoheliums und dem Grundzustand des Paraheliums (also dem Helium-Grundzustand) verboten ist, erscheinen die beiden „Varianten“ des Heliums spektroskopisch wie zwei unterschiedliche Atome. Dies führte dazu, dass Carl Runge und Louis Paschen postulierten, Helium bestehe aus zwei getrennten Gasen, Orthohelium („richtiges Helium“) und Parahelium (für das sie den Namen Asterium vorschlugen). Neben der Elektronenkonfiguration des Orthoheliums können die Elektronen – zum Beispiel durch Beschuss mit Elektronen – weitere angeregte Zustände einnehmen. Diese langlebigen angeregten Zustände werden als metastabile Energieniveaus bezeichnet. === Chemische Eigenschaften === Helium ist ein Edelgas. Die einzige Elektronenschale ist mit zwei Elektronen voll besetzt. Beide Elektronen sind durch die räumliche Nähe zum Atomkern sehr stark an diesen gebunden. Nicht zuletzt deswegen ist Helium selbst im Vergleich zu anderen Edelgasen ausgesprochen reaktionsträge. Das zeigt sich auch an den hohen Ionisierungsenergien des Heliumatoms. ==== Helium-Dimer ==== Wie anhand des Molekülorbital-Schemas ersichtlich wird, bilden Helium-Atome untereinander keine chemische Bindung. Beim Helium ist das 1s-Orbital mit einem Elektronenpaar besetzt. Bei der Kombination zweier dieser voll besetzten Atomorbitale (a) und (b) ist sowohl das bindende als auch das antibindende Molekülorbital mit je einem Elektronenpaar besetzt. Bei den sich (hypothetisch) ausbildenden Bindungsorbitalen wird der energetisch günstigere, sog. bindende Zustand durch den ebenfalls besetzten, aber energetisch ungünstigeren Antibindenden kompensiert. Das Gesamtsystem liegt energetisch nicht niedriger, und es kommt keine Bindung zustande. Aufgrund der für alle Atome und Moleküle wirksamen Van-der-Waals-Wechselwirkung existiert jedoch bei Helium ein Dimer, allerdings mit einer äußerst kleinen Bindungsenergie von circa 1,1 mK (= 9,5 · 10−26 J) und einem entsprechend großen Bindungsabstand von circa 52 Å. ==== Ionische Bindungen ==== Unter extremen Bedingungen ist es möglich, eine quasichemische Verbindung von Helium mit einem Proton (HeH+) zu erzeugen. Diese Verbindung ist bei Normalbedingungen sehr instabil und kann nicht in Form eines Salzes wie HeH+X− isoliert werden. H e + H + ⟶ H e H + {\displaystyle \mathrm {He+H^{+}\longrightarrow HeH^{+}} } In einem Gemisch aus Helium und Wasserstoff bildet sich während einer elektrischen Entladung ein Heliumhydrid-IonEine entsprechende Reaktion kann zwischen zwei Helium-Atomen ablaufen, wenn die zur Ionisierung notwendige Energie zugeführt wird. H e + H e ⟶ H e H e + + e − {\displaystyle \mathrm {He+He\longrightarrow HeHe^{+}+e^{-}} } Diese Verbindungen können aber nicht als wirkliche chemische Verbindungen bezeichnet werden, sondern eher als ionische Agglomerationen, die unter Ausnahmebedingungen entstehen, nur sehr kurz bestehen und sehr rasch wieder zerfallen. == Isotope == Von den acht bekannten Isotopen des Heliums (mit jeweils 2 Protonen und 1 bis 8 Neutronen) sind lediglich 3He und 4He stabil. In der Erdatmosphäre existiert pro Million 4He-Atome nur ein 3He-Atom. Jedoch variiert die Proportion der beiden Isotope je nach dem Herkunftsort der untersuchten Heliumprobe. Im interstellaren Medium sind 3He-Atome hundertmal so häufig. In Gesteinen der Erdkruste und des Erdmantels liegt die Proportion ebenfalls weit über dem atmosphärischen Wert und variiert je nach Herkunft um den Faktor 10. Diese Variationen werden in der Geologie benutzt, um die Herkunft des Gesteines zu klären (siehe auch Abschnitt Erde). 3He und 4He weisen aufgrund der unterschiedlichen Symmetrieeigenschaften (3He-Atome sind Fermionen, 4He-Atome sind Bosonen) einige unterschiedliche physikalische Eigenschaften auf, die sich insbesondere bei tiefen Temperaturen zeigen. So trennen sich gleiche Anteile von flüssigem 3He und 4He unter 0,8 Kelvin aufgrund ihrer unterschiedlichen Quanteneigenschaften in zwei unmischbare Flüssigkeiten, ähnlich Öl und Wasser. Dabei schwimmt eine Phase aus reinem 3He auf einer Phase, die hauptsächlich aus 4He besteht. Weiterhin unterscheiden sich die zwei Isotope deutlich in ihren suprafluiden Phasen (siehe Abschnitt Helium II). === Kernfusion === In Ankündigungen neuer Raumfahrt-Missionen der USA, Russlands und Chinas, weiterhin auch Europas, Indiens und Japans zum Mond wurden mehrfach die dortigen anteilig größeren Vorkommen von 3He als lohnende Quelle genannt, um Kernfusionsreaktoren auf Basis dieses Isotops auf der Erde zu ermöglichen. Im Gegensatz zur Deuterium-Tritium-Fusionsreaktion liefert die Deuterium-3He-Reaktion bei ähnlich großem Energiegewinn keine freien Neutronen, sondern Protonen. Dies würde die Radioaktivitätsprobleme der Fusionsenergiegewinnung dramatisch verringern. Andererseits ist die Herbeiführung dieser Reaktion wegen der nötigen viel höheren Plasmatemperatur eine noch ungelöste technische Herausforderung. === Hypothetisches Diproton === Ein fiktives Isotop des Heliums ist 2He, dessen Kern, das Diproton, kein Neutron enthielte, sondern lediglich aus zwei Protonen bestünde. Für ein System aus zwei Protonen gibt es jedoch keinen gebundenen Zustand, da sich diese wegen des Pauli-Prinzips – im Gegensatz zum Proton und Neutron beim Deuteron – nur in einem Singulett-Zustand mit antiparallelen Spins befinden dürfen. Auf Grund der starken Spinabhängigkeit der Nukleon-Nukleon-Wechselwirkung ist dieser aber energetisch angehoben und daher nicht gebunden. == Verwendung und Handelsformen == Das im Großhandel angebotene Helium stammt weltweit aus Großanlagen in fünf Ländern (USA, Russland, Polen, Katar und Algerien), die Gewinnung von Helium erfolgt aus Erdgas. Ausgeliefert im Bereich Technische Gase wird Helium in Form von verdichtetem Gas in Druckflaschen mit 200 bar Druck und Reinheitsgraden von Helium 4.6 (99,996 % Heliumanteil) bis zu hochreinem Helium 7.0 (99,99999 % Heliumgehalt). Stahlflaschen mit typisch 10-50 Liter Volumen enthalten bei 200 bar nur 1,8 bis 9,1 Normkubikmeter Helium, da es sich bei 200 bar schon deutlich nichtideal verhält. Größere Mengen werden in Paletten zu je zwölf Flaschen oder Flaschenbündeln zu ebenfalls je zwölf 50-Liter-Flaschen geliefert. Noch größere Mengen kommen tiefkalt flüssig in Kryo-Sattelaufliegern oder Tube Trailern mit typisch zehn 12 m langen Rohren gefüllt mit etwa 200 bar Helium, in Summe 5000 Normkubikmeter.Helium wird tiefkalt verflüssigt in Kryo-Schiffen transportiert, etwa von einer Produktionsstätte in Afrika zu einem Hafen westlich nahe bei Marseille. Helium für Endverbraucher wird im Handel mit geringer Reinheit von ca. 98 % bis über 99 % primär in Form von Einweggasflaschen als „Ballongas“ angeboten, um damit auf Veranstaltungen und Feiern einfach und gefahrlos kleinere Mengen von Luftballons aufblasen und aufsteigen lassen zu können. Ballongas kann grundsätzlich auch als Traggas für größere Ballone wie Wetterballone eingesetzt werden, ist aber im Vergleich zu Wasserstoff in dieser Anwendung teurer. Helium wird vielseitig verwendet: Helium-Sauerstoff-Gemisch (80:20) dient in der Intensivmedizin als Atemgas. Das Gemisch strömt mit geringerem Widerstand durch Verengungen und lässt sich daher leichter atmen. Beim professionellen Tauchen werden verschiedene Gemische mit Helium wie Trimix (bestehend aus Sauerstoff, Stickstoff und Helium), Hydreliox (Wasserstoff, Helium und Sauerstoff) und Heliox (Helium und Sauerstoff) als Atemgas verwendet. Nachteilig wirkt sich hier die hohe Wärmekapazität des Heliums aus, was (bei kalter Umgebung) zum Auskühlen der Lunge und damit des Tauchers führt. In der Lebensmittelindustrie wird es als Treibgas oder Packgas verwendet und ist als Lebensmittelzusatzstoff E 939 zugelassen. Helium ist ein bevorzugtes Traggas für Ballons und Luftschiffe, denn es hat eine im Vergleich zu Luft sehr geringe Dichte, brennt nicht und kann daher gefahrlos mit Luft vermischt werden. Helium hat deshalb den brennbaren Wasserstoff, der mit Luft explosiv entzündliche Mischungen bildet, weitgehend verdrängt, auch wenn die Dichte von Helium höher und damit seine Tragkraft etwas niedriger als die des Wasserstoffs ist. Allerdings ist aufgrund der hohen Diffusionsrate die Anforderung an die Dichtheit der Hülle höher als bei allen anderen Gasen. In der Schweißtechnik wird Helium in Reinform oder als Zumischung als Inertgas eingesetzt, um die Schweißstelle vor Sauerstoff zu schützen. Zudem lässt sich mit Helium die Einbrenntiefe und die Schweißgeschwindigkeit steigern sowie die Bildung von Spritzern verringern, insbesondere bei Roboterschweißungen und bei der Verarbeitung von Aluminium und rostfreien Stählen. Technisch wird verflüssigtes Helium (die Isotope 4He und 3He) als Kühlmittel zum Erreichen sehr tiefer Temperaturen eingesetzt (siehe dazu: Kryostat). Mit 4He lassen sich durch Verdampfungskühlen Temperaturen bis etwa 1 K erreichen, mit dem Isotop 3He bis etwa 240 mK. Mit dem Verfahren der 3He-4He-Mischungskühlung werden bis etwa 5 mK erreicht, wobei dieses Verfahren deutlich kostengünstiger als eine reine 3He-Kühlung ist. Beim Einsatz von supraleitenden Magneten dient Helium als Kühlmittel, um damit den Supraleiter unter seiner Sprungtemperatur zu halten. Praktische Anwendungen sind hier besonders die Kernspintomographie (MRT) für medizinische Anwendungen sowie die Magnetresonanzspektroskopie (MRS) und der Betrieb von Teilchenbeschleunigern in der Forschung. In der Raumfahrt kühlt flüssiges Helium Infrarotteleskope und die hochempfindlichen Infrarotkameras in Weltraumteleskopen, die nur nahe dem Absoluten Nullpunkt ohne zu stark störende Eigenwärme arbeiten können. Beispiele sind: IRAS, ISO, das Spitzer- und das Herschel-Weltraumteleskop. Ein weiteres Anwendungsgebiet ist die Herstellung von optischen Glasfasern in heliumgekühlten Falltürmen. Komprimiertes Heliumgas kann als Kühlmittel eingesetzt werden, insbesondere dort, wo ein chemisch wie auch kernphysikalisch besonders inertes Kühlmittel benötigt wird. Kernphysikalisch inert ist allerdings nur die Hauptkomponente 4He, während 3He durch thermische Neutronen leicht in radioaktives Tritium überführt wird. Als Beispiel sei der Thorium-Hochtemperaturreaktor (kurz: THTR) genannt, wo das Helium bei sehr hohen Temperaturen verwendet wurde. Zu beachten ist, dass Helium zwar eine hohe spezifische, aber eine niedrige molare Wärmekapazität besitzt. Dies ist insbesondere bei geschlossenen Apparaturen problematisch, da es im Falle eines Temperaturanstiegs (zum Beispiel bei Stromausfall) schnell zu einer massiven Druckerhöhung kommt. Als nachteilig bei der Anwendung als Kühlmittel hat sich die (wie bei allen Gasen) mit steigender Temperatur zunehmende Viskosität von Helium erwiesen, da das die Kühlung heißer Bereiche verschlechtern kann. Die Suche nach Undichtigkeiten in Druckgasarmaturen wird durch eine Befüllung mit Helium erleichtert. Außen an der Druckarmatur wird ein Lecksuchspray aufgebracht. Helium dringt besonders leicht durch Leckstellen und erzeugt deutlichere Schaumblasen als das Betriebsgas. Bei Vakuumanlagen wird Helium als diffusionsfreudigstes Lecksuchgas eingesetzt, indem die Vakuumapparatur mit einer Pumpe evakuiert wird und ein Massenspektrometer hinter die Pumpe gehängt wird. Wird nun die Apparatur – außen, nur lokal um Leckstellen zu finden – mit Helium angeblasen, kann mit Hilfe des Massenspektrometers ein eventueller Heliumeintritt in die Apparatur detektiert und die Leckrate gemessen werden. Diese rasche und empfindliche Lecksuchmethode wird an Chemieanlagen und bei der Fertigung von Wärmetauschern für Klimaanlagen oder Benzintanks für Autos benutzt. Helium wird in Gasform in der Raketentechnik eingesetzt, um bei pumpgeförderten Flüssigtreibstoffraketen den verbrauchten Treibstoff zu ersetzen, damit die dünnwandigen Treibstofftanks der Raketen nicht implodieren, wenn der Treibstoff von den Treibstoffpumpen der Triebwerke aus den Tanks gesaugt wird. Bei druckgasgeförderten Flüssigtreibstoffraketen drückt Helium den Treibstoff in die Triebwerke. Helium wird hier wegen seines niedrigen Gewichtes und seiner niedrigen Siedetemperatur benutzt. Da es als Edelgas nicht mit dem Treibstoff reagieren kann, stellen auch aggressive hypergolische Treibstoffe kein Problem dar. Helium wird als Hilfsgas in verschiedenen Lasertypen eingesetzt, zum Beispiel dem Helium-Neon-Laser, dem Helium-Cadmium-Laser sowie einiger Typen des Kohlendioxidlasers. Es dient als Stoßpartner zur An- oder Abregung der Laserniveaus der eigentlichen aktiven Lasermedien. Reinsthelium dient als Trägergas in der Gaschromatographie (Analytik). In Gasentladungsröhren leuchtet Helium gelblich/weiß. Aufgrund seiner thermodynamischen Eigenschaften ist Helium ein sehr gutes Arbeitsmedium für Stirlingmotoren. Hyperpolarisiertes 3He wird in der Diagnostik versuchsweise als Kontrastmittel für kernspintomografische Aufnahmen der Lunge verwendet. Statt Druckluft zum Antrieb von Schlagschraubern beim Radwechsel im Formel-1-Automobilsport. Damit konnten diese bei einem bestimmten Druck um 30 % schneller betrieben werden. Um Kosten zu vermeiden, ab 2012 per Reglement verboten. Bei Festplattenlaufwerken reduziert die Füllung mit Helium statt Luft Strömungseffekte und Vibrationen im Betrieb und erlaubt so kleinere Abstände der einzelnen Magnetscheiben voneinander. Bei gleicher Baugröße können dadurch mehr Magnetscheiben untergebracht und die Speicherkapazität der Festplatte dadurch erhöht werden. == Gefahren == Helium zählt zu den Inertgasen und ist ungiftig. Bei der Handhabung von größeren Mengen gasförmigen Heliums müssen dann Sicherheitsmaßnahmen getroffen werden, wenn aufgrund der Gasmenge und der räumlichen Situation die Gefahr besteht, dass es zu einer Verdrängung von Atemluft kommen kann. Die Unfallzahlen durch Ersticken sind bei Helium im Gegensatz zu anderen häufig als Inertgas eingesetzten Gasen (z. B. Stickstoff) niedriger, da aufgrund der geringen Dichte gasförmiges Helium sofort aufsteigt und es somit auch in schlecht belüfteten Räumen in unteren Bereichen nur in seltenen Fällen zu einer vollständigen Sauerstoffverdrängung der Umgebungsluft und damit zu der Gefahr einer Erstickung kommt. Potentielle Gefahrenbereiche können Ansammlungen von Heliumgas in nach oben dichten baulichen Strukturen sein, beispielsweise Dachstühle, unter denen sich eine „Heliumblase“ bilden kann.Beim Hantieren mit Flüssig-Helium (UN-Nummer UN 1963) – es ist um 73 K kälter als Flüssig-Stickstoff, der ebenfalls als „tiefkalt“ bezeichnet wird – ist die Verwendung von Schutzkleidung notwendig, um Erfrierungen durch Kontakt zu verhindern. Die Gefahr geht im Wesentlichen von tiefgekühlten Behältern, Apparaturen und Armaturen bzw. durch die Vorkühlung durch LN2 aus, da Flüssig-Helium selbst nur eine extrem geringe Kühlleistung (220 ml LHe hat die Kühlleistung von 1 ml LN2) hat. Eine Schutzbrille schützt die Augen oder ein Visier das ganze Gesicht, dichte Handschuhe einer gewissen Dicke und mit Stulpe die Hände. Offene Taschen oder Stiefelschäfte sind Eintrittspforten für Spritzer und daher zu vermeiden. Weitere Gefahren gehen durch Vereisung und damit verbundener Verstopfung und Explodieren von Leitungen und Gefäßen aus. Heliumdruckgasbehälter – meist nahtlose Stahlzylinder für 200 bar Hochdruck oder aber geschweißte (oft: Einweg-)Flaschen – stehen unter hohem Druck. Ihr Erhitzen über den Richtwert von 60 °C oder Kontakt mit Feuer ist strikt zu vermeiden. Denn einerseits steigt der Innendruck mit der Temperatur und andererseits nimmt die Festigkeit der Stahlwandung ab, sodass ein sehr energisches Platzen des Gefäßes droht. Auch das Abreißen des Ventils, etwa wenn eine Flasche ohne Schutzkappe fällt, oder das Brechen einer Berstscheibe löst einen Gasstrahl mit gefährlichen Folgen aus. == Sonstiges == Nach dem Einatmen von Helium klingt, solange die Atemwege einen relevant hohen Anteil an Helium enthalten, die menschliche Stimme erheblich höher. (Populär wird dieser Effekt „Micky-Maus-Stimme“ genannt, die allerdings durch schnelleres Abspielen von Tonband, also Erhöhung aller Frequenzen (und des Tempos) um einen bestimmten Faktor erzielt wurde.) Die Klangfarbe einer Stimme hängt dagegen von der Lage der Formanten im Mundraum ab, die durch Faktoren wie Zungen- und Lippenstellung beeinflusst werden. (Formanten sind diejenigen Frequenzbereiche, die am stärksten durch Resonanzwirkung verstärkt werden.) Diese Formanten hängen auch von der Schallgeschwindigkeit c im entsprechenden Medium ab (cLuft = 350 m/s, cHelium = 1030 m/s). Beträgt zum Beispiel die Lage der ersten drei Formanten in Luft 220, 2270 und 3270 Hz, so ändert sich dies in (reinem) Helium zu 320, 3900 und 5500 Hz. Dadurch ergibt sich ein anderes Stimmbild und die Stimme erscheint insgesamt höher, selbst wenn die Höhe des Stimmtones durch das Edelgas unverändert bliebe. Einen ähnlichen Effekt gibt es, wenn ein (anfangs nur luftgefülltes) Blasinstrument mit Helium angeblasen wird. == Literatur == P. Häussinger, R. Glatthaar, W. Rhode, H. Kick, C. Benkmann, J. Weber, H.-J. Wunschel, V. Stenke, E. Leicht, H. Stenger: Noble Gases. In: Ullmann's Encyclopedia of Industrial Chemistry. Wiley-VCH, Weinheim 2006 (doi:10.1002/14356007.a17_485). A. F. Holleman, E. Wiberg, N. Wiberg: Lehrbuch der Anorganischen Chemie. 102. Auflage. Walter de Gruyter, Berlin 2007, ISBN 978-3-11-017770-1, S. 417–429. F. A. Cotton, G. Wilkinson, C. A. Murillo, M. Bochmann: Advanced Inorganic Chemistry. Kap. 18. D. Wiley, New York 61999, ISBN 0-471-19957-5, S. 974. Christoph Haberstroh: Flüssigheliumversorgung. TUDpress, Dresden 2010, ISBN 978-3-941298-77-4. C. E. Housecroft, A. G. Sharpe: Inorganic Chemistry. Kapitel 22.8a. Pewson, Prentice Hall 2005, ISBN 0-13-039913-2. S. 666. Ekkehard Fluck, Klaus G. Heumann: Periodensystem der Elemente, Tafel. Wiley-VCH, Weinheim 2002, ISBN 3-527-30716-8. R. B. King (Hrsg.): Encyclopedia of Inorganic Chemistry. Band 8. D. Wiley, New York 1994, ISBN 0-471-93620-0. S. 4094. == Weblinks == Jahresbericht des Bureau of Land Management (englisch, PDF, 76 KiB) Low Temperature Laboratory Helsinki (englisch) „Unmögliches“ Helium-Mineral im Erdinneren? scinexx.de, 9. Januar 2019 == Einzelnachweise ==
https://de.wikipedia.org/wiki/Helium
J. R. R. Tolkien
= J. R. R. Tolkien = John Ronald Reuel Tolkien [dʒɒn ˈɹɒnld ɹuːl ˈtɒlkiːn], CBE (* 3. Januar 1892 in Bloemfontein, Oranje-Freistaat; † 2. September 1973 in Bournemouth, England), war ein britischer Schriftsteller und Philologe. Sein Roman Der Herr der Ringe (The Lord of the Rings, 1954/55, auf Deutsch erschienen 1969/70) ist eines der erfolgreichsten Bücher des 20. Jahrhunderts und gilt als grundlegendes Werk für die moderne Fantasy-Literatur. Tolkien, später Professor für englische Sprachwissenschaft an der Universität Oxford, hatte seit seiner Jugend an einer eigenen Mythologie gearbeitet, die auf eigens konstruierten Sprachen basierte und erst postum unter dem Titel Das Silmarillion erschien. Sowohl Der Herr der Ringe als auch das erfolgreiche Kinderbuch Der Hobbit (1937) spielen in dieser von Tolkien erfundenen Welt. Auch einige seiner sprach- und literaturwissenschaftlichen Beiträge wie der Essay Beowulf: The Monsters and the Critics (1936) gelten als wegweisend. == Leben == John Ronald Reuel Tolkien wurde im Jahre 1892 als Sohn englischer Eltern, des Bankmanagers Arthur Reuel Tolkien (1857–1896) und dessen Frau Mabel Suffield (1870–1904), in Bloemfontein im Oranje-Freistaat in Südafrika geboren, wo sich sein Vater aus beruflichen Gründen aufhielt. Während Tolkien selbst den Ursprung seiner Familie väterlicherseits in Sachsen bzw. Niedersachsen vermutete, deuten neuere Forschungen auf eine Herkunft dieses Familienteils aus Ostpreußen (Kreuzburg). Seine Vorfahren übersiedelten von dort im 18. Jahrhundert zunächst nach Danzig. Tolkiens Ururgroßvater Daniel Gottlieb Tolkien war dann seit den 1770ern in London ansässig (mutmaßlich im Zusammenhang mit der Blockade Danzigs nach der Ersten Teilung Polens) und wurde 1794 eingebürgert. Die meisten Vorfahren Tolkiens waren Handwerker. 1894 kam sein Bruder Hilary Arthur Reuel Tolkien zur Welt. === Name === Tolkien selbst ging davon aus, dass sein Nachname vom deutschen Wort tollkühn abgeleitet worden sei. Der polnische Tolkien-Experte Ryszard Derdziński kam 2019 zu dem Schluss, dass der Name Tolkien aus dem Niederpreußischen komme und „Nachkomme von Tolk“ bedeute. Eine andere vermutete Herkunft ist der ostpreußische Ortsname Tolkynen. === Kindheit === Tolkiens frühe Kindheit verlief weitgehend ruhig und ereignislos bis auf einen Tarantelbiss, der als möglicher Auslöser für das wiederholte Auftreten von giftigen Riesenspinnen in seinen Werken gilt. 1895 kam er mit seiner Mutter, die das afrikanische Klima nicht gut vertrug, und seinem Bruder Hilary zu einem Urlaub ins englische Birmingham. Dort erreichte seine Mutter im darauffolgenden Jahr die Nachricht vom Tode ihres Mannes, der an schweren inneren Blutungen verstorben war. Die Familie zog daraufhin nach Sarehole Mill, einem Vorort von Birmingham, der zu diesem Zeitpunkt noch weitgehend von der Industrialisierung unberührt geblieben war. Die folgenden vier Jahre seiner Kindheit verbrachte Tolkien in dieser ländlichen Idylle, die später zur Vorlage für das Auenland, einen Teil seiner mythologischen Welt, wurde. Hier wurde er auch zuerst mit dem Dialektwort Gamgee für Baumwolle vertraut, das später zum Namen eines der Hobbit-Protagonisten in seinem Hauptwerk Der Herr der Ringe wurde. Seine Mutter, die im Jahre 1900 gegen den Willen ihrer Eltern und Schwiegereltern zur römisch-katholischen Kirche konvertierte, erzog ihre Kinder in ihrem Glauben. Diese weltanschauliche Grundprägung zog sich durch Tolkiens gesamtes Leben und hatte weitreichende Auswirkungen auf sein Werk.Da er sich früh an Sprachen interessiert zeigte, brachte ihm seine Mutter Grundzüge des Lateinischen, Französischen und Deutschen bei. Durch sie wurde er mit den Geschichten von Lewis Carrolls Alice im Wunderland, der Artus-Sage und den Märchenbüchern von Andrew Lang vertraut gemacht, in denen er auch zum ersten Mal von den nordischen Sagen um Siegfried und den Drachen Fafnir hörte. Zwischen 1900 und 1902 zog Tolkien mit seiner Mutter mehrfach innerhalb Birminghams um, zunächst in den Stadtteil Moseley, dann nach King’s Heath, wo er durch die ungewohnten Namen auf den hinter dem Haus vorbeifahrenden Kohlewaggons zum ersten Mal auf das ihn ästhetisch berührende Walisisch stieß, schließlich nach Edgbaston. Da all diese Orte städtischen Charakter hatten, waren seine vom Landleben geprägten Kindertage vorbei. Hinzu kam eine Odyssee durch verschiedene Schulen: Zunächst auf der King Edward’s School angenommen, wechselte er 1902 an die St. Philips Grammar School, um dann 1903 mit einem Stipendium wieder an die King Edward’s School zurückzukehren. Dort lernte er neben den klassischen Sprachen Latein und Griechisch durch einen engagierten Lehrer auch das Mittelenglische kennen. Am 14. November 1904 starb seine Mutter, für den Zwölfjährigen völlig überraschend, nach einem sechstägigen diabetischen Koma. Dieser frühe Tod bewirkte, dass er sich als Waise dem Glauben und der katholischen Kirche noch enger verbunden fühlte. Ebenso stärkte dieses Ereignis seine pessimistische Grundhaltung. Er sah, ganz im Sinne der Bibel (1 Joh 5,19 : „Wir wissen: Wir sind aus Gott, aber die ganze Welt steht unter der Macht des Bösen“), die Welt in den Händen des Bösen. Nur in den Siegen des Guten, so seine Vorstellung, konnte dabei das Schlechte vorübergehend zurückgedrängt werden. Erlösung konnte für ihn der Mensch nur durch den Glauben an Jesus Christus und das ewige Leben finden. Diese Einstellung wurde zum grundlegenden Tenor seines literarischen Schaffens. === Jugend === Die beiden Brüder kamen in die Obhut Pater Francis Morgans, eines mit ihrer Mutter befreundeten Priesters, der sie zunächst bei ihrer Tante Beatrice Bartlett und später bei einer befreundeten Pensionswirtin unterbrachte. Dort lernte Tolkien 1908 seine spätere Frau, die drei Jahre ältere Edith Bratt, kennen. Als sein Vormund davon erfuhr, verbot er Tolkien bis zum Erreichen seiner Volljährigkeit mit einundzwanzig Jahren jeden Kontakt mit Edith. In der Schule wurde Tolkien unterdessen durch seinen Schulrektor nicht nur auf die Philologie, die Wissenschaft von den Gesetzmäßigkeiten der Sprache, aufmerksam, sondern wurde durch einen befreundeten Lehrer auch mit dem Altenglischen in Berührung gebracht. Zu dieser Zeit las er zum ersten Mal ein Herzstück der altenglischen Literatur, das Gedicht Beowulf, und war sofort begeistert. Im Mittelenglischen machte er sich selbst mit den Dichtungen Sir Gawain and the Green Knight und Pearl aus der Handschriftensammlung Cotton Nero A.x. vertraut. Über alle drei Werke legte er später bedeutsame akademische Arbeiten vor. Schließlich wandte er sich auch dem Altnordischen zu, um die Geschichte um Siegfried und den Drachen Fafnir, die ihn als Kind so fasziniert hatte, im Original lesen zu können. Von den neu erworbenen philologischen Kenntnissen angespornt, begann Tolkien bald damit, eigene Sprachen zu erfinden, die auf seinem schon zu diesem Zeitpunkt gut ausgebildeten Wissen um linguistische Entwicklungsprinzipien beruhten. Frühe Versuche basierten auf dem Spanischen, doch als er durch einen Schulfreund auf das Gotische aufmerksam wurde, begann er nicht nur damit, die in dieser ausgestorbenen Sprache enthaltenen (und wohl hauptsächlich durch die wenig umfangreiche Überlieferung bedingten) Lücken selbsttätig aufzufüllen, sondern versuchte auch, das Gotische zu einer hypothetischen Ursprache zurückzuführen. Diese enge Beschäftigung mit Sprachen zeigte sich bald auch in der Schule, wo Tolkien seine Zuhörer bei (damals meist in Latein gehaltenen) Debatten mit fließenden Vorträgen auf Griechisch, Gotisch oder Altenglisch überraschte. Im Sommer des Jahres 1911 bildete Tolkien mit einigen Freunden, darunter Christopher Wiseman, Robert Quilter Gilson und Geoffrey Bache Smith, den T.C.B.S. (Tea Club – Barrovian Society), eine informelle Gemeinschaft von Freunden, die sich zunächst in der Schulbibliothek, später dann in Barrow’s Stores regelmäßig traf, um miteinander über Literatur zu diskutieren. Zu dieser Zeit und möglicherweise durch den T.C.B.S. inspiriert, begann Tolkien ernsthaft damit, Gedichte zu schreiben, in denen erstmals im Waldland tanzende Feenwesen (fairies) auftraten. Ein möglicher Anstoß dazu könnte von dem katholischen Dichter mystischer Gedichte Francis Thompson gekommen sein, mit dessen dichterischem Werk Tolkien sich zu dieser Zeit nachweislich auseinandersetzte. Nach einem fehlgeschlagenen Versuch im Jahre 1909 gelang es ihm im Dezember 1910, ein Stipendium des Exeter College in Oxford zu erhalten. Mit dem Wissen, dass seine unmittelbare Zukunft damit gesichert war, ging Tolkien in den Rest seiner Schulzeit. Trotz seiner späteren Abneigung gegen das Theater nahm Tolkien bereitwillig in der Rolle des Hermes an einer Aufführung von Aristophanes’ Theaterstück Der Frieden teil und kehrte auch im Dezember 1911 für eine Aufführung von R. B. Sheridans The Rivals durch Mitglieder des T.C.B.S., in der er die Rolle der Mrs. Malaprop übernahm, noch einmal an seine alte Schule zurück. In der Zeit zwischen Schulende und Studienbeginn in Oxford verbrachte Tolkien zusammen mit seinem Bruder und weiteren Freunden einen Wanderurlaub in der Schweiz. Diese Reise legte den Grundstein für einen Teil des Romans Der Hobbit (Bilbos Überquerung des Nebelgebirges). Eine Postkarte mit dem Namen Der Berggeist, auf der ein unter einer Kiefer auf einem Felsen sitzender alter Mann dargestellt ist (das Bild stammt von dem mystisch-esoterisch orientierten deutschen Maler Josef Madlener aus Memmingen), wurde laut seinen späteren Angaben zur Inspiration für die Figur des Zauberers Gandalf in seiner selbsterschaffenen Welt Mittelerde. === Studienzeit === Im Oktober 1911 begann Tolkien sein Studium am Exeter College in Oxford, zunächst in Classics, dem Studium der klassischen Sprachen Latein und Griechisch und ihrer Literatur, langweilte sich aber schon bald. Einzig die vergleichende Sprachwissenschaft konnte sein Interesse auf sich ziehen. Sein Professor in diesem Fach wies ihn auf das Walisische hin, dem sich Tolkien daraufhin begeistert zuwandte. Nach seinem zweiwöchigen Sommerurlaub 1912, den er bei King Edward’s Horse, einem Kavallerieregiment, hauptsächlich im Pferdesattel verbrachte, kehrte er nach Oxford zurück. Hier begann er bald, sich mit dem Finnischen auseinanderzusetzen. Dieser Einfluss zeigte sich auch darin, dass er sein Projekt einer auf dem Gotischen aufgebauten Kunstsprache aufgab und sich stattdessen an seiner neuen Lieblingssprache orientierte. Das Ergebnis fand Jahre später als Quenya, Hochsprache der Elben, Eingang in seine mythologische Welt „Mittelerde“. Weihnachten 1912 verbrachte Tolkien bei Verwandten, wo er nach einem verbreiteten englischen Weihnachtsbrauch als Regisseur und Hauptdarsteller ein selbst geschriebenes Theaterstück zur Aufführung brachte – eine in Anbetracht seiner späteren Abneigung gegen das Drama bemerkenswerte Tatsache. Am 3. Januar 1913, dem Tage seiner Volljährigkeit, schrieb er zum ersten Mal wieder an seine Jugendliebe Edith, musste aber erfahren, dass sie sich in der Zwischenzeit mit dem Bruder einer Schulfreundin, George Field, verlobt hatte. Nicht geneigt, seine große Liebe aufzugeben, suchte Tolkien sie daraufhin persönlich an ihrem neuen Wohnort auf, wo es ihm gelang, sie umzustimmen. Ein Jahr später, nach der Aufnahme Ediths in die katholische Kirche, fand die offizielle Verlobung statt, nach weiteren zwei Jahren, am 22. März 1916, die Hochzeit. Unterdessen verlief auch sein akademischer Weg nicht geradlinig. Durch seine Vernachlässigung des eigentlichen Lehrstoffs zugunsten seiner zahlreichen Sprachinteressen schloss er eine Zwischenprüfung nach zwei Jahren Studium für ihn enttäuschend nur mit einem „Second“ (vergleichbar der deutschen Note „Gut“) ab. Auf Anregung seines Colleges, wo sein Interesse an germanischen Sprachen aufgefallen war, wechselte er daraufhin an das „Institut für englische Sprache und Literatur“. Dort las er im Rahmen des anspruchsvollen altenglischen Literaturkanons das angelsächsische Werk Christ (frühes 9. Jahrhundert), eine Sammlung religiöser Dichtung. Zwei Zeilen dieses Gedichtes beeinflussten ihn nachhaltig: Mit middangeard oder Mittelerde ist hier die Welt der Menschen gemeint. Tolkien glaubte, dass der Name Earendel, traditionell als „Lichtstrahl“ übersetzt, auf den Morgenstern, die Venus, verweist, der mit seinem Aufgehen das Ende der Nacht und den Anbruch des Tages ankündigt. Er selbst beschrieb später die Wirkung dieser Zeilen auf sich so: Dieser Zeitpunkt kann vorsichtig als Geburtsstunde seiner Mythologie angesetzt werden, denn schon ein Jahr später schrieb er das Gedicht The Voyage of Earendel the Evening Star, das mit den oben zitierten Zeilen beginnt und den Keim seiner Mittelerde-Mythologie bildet. Seine weitere Studienzeit verlief ruhig; er traf sich weiterhin mit seinen Freunden vom Tea Club and Barrovian Society (T.C.B.S.), die ihn in seinen dichterischen Bemühungen unterstützten. Eine Anekdote aus dieser Zeit wirft ein bezeichnendes Licht auf die auch später noch für Tolkien charakteristische Arbeitsweise: Auf die Frage seines Freundes G. B. Smith nach dem Hintergrund seines Earendel-Gedichtes antwortet Tolkien: “I don’t know. I’ll try to find out.” (deutsch: „Ich weiß es nicht. Ich werde versuchen, es herauszufinden.“) Diese Sicht des Schreibens nicht als Neuschöpfung, sondern als Entdeckungsreise blieb für ihn sein Leben lang bestimmend. Im Jahr nach Ausbruch des Ersten Weltkrieges, in der zweiten Juniwoche 1915, schloss er sein Studium ab – diesmal mit Auszeichnung (First Class Honours). === Erster Weltkrieg === Tolkien wurde als Offizier für Fernmeldewesen in das 11. Bataillon des Regiments der Lancashire Fusiliers berufen und nahm ab Sommer 1916 durch aktiven Frontdienst an der Schlacht an der Somme teil, der blutigsten Schlacht des Ersten Weltkrieges. Die unmittelbare Erfahrung der Grausamkeiten des Stellungskrieges traf ihn tief und ließ den Einbruch des Bösen in eine friedvolle Welt zu einem Grundthema seines Lebens und seiner Literatur werden. Am 27. Oktober 1916 zeigte er die Symptome des durch Läuse übertragenen und in den Schützengräben grassierenden Fleckfiebers und am 8. November wurde er zur Behandlung nach England verschifft. Während seines Genesungsurlaubes, zunächst in Birmingham und dann in Great Haywood, erfuhr er vom Tod seines T.C.B.S.-Kameraden G. B. Smith, nachdem er noch in Frankreich den Verlust seines Schulfreundes Rob Gilson hatte erfahren müssen. Der letzte Brief von Smith schließt mit den bewegenden Zeilen: „May God bless you, my dear John Ronald, and may you say the things I have tried to say long after I am not there to say them, if such be my lot.“ – „Möge Gott Dich segnen, mein lieber John Ronald, und mögest Du die Dinge sagen, die ich zu sagen versucht habe, lange nachdem ich selbst nicht mehr da sein werde, um sie zu sagen, sollte dies mein Schicksal sein.“ Für Tolkien wurden sie zum Vermächtnis. Er begann mit einem Projekt, das in der Literaturgeschichte ohne große Vorbilder dasteht, der Erschaffung eines vollständigen und mit einer Schöpfung der Welt beginnenden Sagenzyklus. Mit der Niederschrift von The Book of Lost Tales, das in dieser Form erst postum durch seinen Sohn Christopher veröffentlicht wurde, existierten erstmals größere Teile seiner später in The Silmarillion ausgearbeiteten Mythologie. Hier benutzte er auch erstmals konsequent seine erfundenen Sprachen, insbesondere Quenya, das auf dem Finnischen basiert, und Sindarin, das auf das Walisische zurückgeht. Beide setzte er nun als Sprache der Elben in Mittelerde ein. Unterdessen schwankte sein Gesundheitszustand, und die Gefahr, an die Front zurückgeschickt zu werden, schwebte ständig über ihm. Vorübergehend nach Yorkshire versetzt, erkrankte er bald wieder und wurde in das Sanatorium Harrogate verlegt. Wieder genesen zu einer Fernmeldeschule im Nordosten geschickt, erkrankte er nach Abschluss erneut und kam diesmal in das Offizierskrankenhaus nach Kingston upon Hull. Während dieser Zeit, am 16. November 1917, gebar Edith ihren ersten gemeinsamen Sohn, der zu Ehren von Pater Francis auf den Namen John Francis Reuel getauft wurde. Ihm folgten am 22. Oktober 1920 Michael Hilary Reuel, am 21. November 1924 Christopher John Reuel und schließlich am 22. Dezember 1929 die Tochter Priscilla Anne Reuel. Die Zeit nach der Geburt des ersten Sohnes war durch glückliche Momente geprägt: Bei Landausflügen in die Wälder der Umgebung sang und tanzte Edith für ihn – daraus entstand schließlich die Geschichte der großen Liebe zwischen dem sterblichen Helden Beren und der wunderschönen, aber unsterblichen Elbin Lúthien, die als ein Mittelpunkt des Silmarillions gelten kann. Nach weiteren Versetzungen im Frühjahr 1918, nach Penkridge in der Grafschaft Staffordshire und wieder zurück nach Hull, erkrankte Tolkien erneut und musste wiederum ins Offizierskrankenhaus eingewiesen werden. Er nutzte die Zeit diesmal, um sich neben der Arbeit an seiner Mythologie etwas Russisch beizubringen. Nach seiner Entlassung im Oktober stand schließlich fest, dass das Ende des Krieges kurz bevorstand. Auf der Suche nach Arbeit wandte er sich daraufhin an einen seiner ehemaligen Oxforder Dozenten, William A. Craigie, der ihm eine Anstellung beim New English Dictionary verschaffte, so dass Tolkien im November 1918 mit Frau und Kind nach Oxford umziehen konnte. === Frühe Berufsjahre === Auch wenn sich in seiner Satire Farmer Giles of Ham einige ironische Anspielungen auf seine Zeit beim New English Dictionary finden, war dies doch insgesamt eine glückliche Zeit. Zum ersten Mal dauerhaft mit Edith vereint und im eigenen Haus lebend, fand er seine Tätigkeit auch intellektuell anregend. Später sagte er über die beiden Jahre, in denen er an der Produktion des Wörterbuchs beteiligt war, er habe zu keiner Zeit seines Lebens mehr gelernt. Tagfüllend waren die gestellten Aufgaben für ihn jedoch nicht, so dass er nebenbei noch Zeit fand, als Privatlehrer Studenten zu unterrichten – eine Tätigkeit, die sich als lukrativ genug herausstellte, um im Jahre 1920 die Mitarbeit am New English Dictionary beenden zu können. Doch wenn auch die finanzielle Situation akzeptabel war, hatte Tolkien seinen Wunsch, eine akademische Laufbahn anzutreten, nicht aufgegeben. Da ergab sich überraschend im Sommer des Jahres 1920 eine Möglichkeit: In Leeds war die Stelle eines „Reader“ am Institut für englische Sprache freigeworden. Obwohl er anfänglich skeptisch hinsichtlich seiner Chancen war, erhielt er die Stelle. Dies bedeutete allerdings auch eine weitere Trennung von Edith, die mit den beiden Söhnen in Oxford zurückblieb, bis sie 1921 nachziehen konnte. Von seinem Vorgesetzten wurde er zunächst mit der Organisation des Studienplans für Alt- und Mittelenglisch betraut. 1922 kam der Kanadier Eric Valentine Gordon als Dozent nach Leeds. Mit ihm erarbeitete Tolkien eine Neuedition des mittelenglischen Gedichts Sir Gawain and the Green Knight, die nach ihrer Veröffentlichung 1925 bald als herausragender Beitrag zur mittelenglischen Philologie galt. Auch privat kamen sich die beiden Kollegen näher und formten zusammen mit Studenten den Viking-Club, in dem außer reichlichem Biergenuss altnordische Trinklieder und teilweise recht derbe Gesänge in altenglischer Sprache im Mittelpunkt standen – ein Umstand, der vermutlich nicht unwesentlich zur Beliebtheit Tolkiens bei seinen Studenten beitrug. Nach vier Jahren in Leeds, im Jahr 1924, wurde für Tolkien schließlich eine Professur für englische Sprache eingerichtet. In Gedichten aus dieser Zeit finden sich die ersten Hinweise auf Kreaturen, die später in seiner Mittelerde-Mythologie ihren Platz fanden: Das Gedicht Glib zum Beispiel beschreibt ein schleimiges Wesen mit schwach leuchtenden Augen, das tief in einer Höhle lebt, welches an die Figur des Gollum erinnert. Seine „seriöse“ Mythologie, die Anfang der 1980er Jahre im Buch der verschollenen Geschichten veröffentlicht wurde, war unterdessen fast fertiggestellt. Zwei der Sagen, die Geschichte von Túrin Turambar und die Erzählung von Lúthien und Beren, wählte er aus, um sie in eine ausführlichere Gedichtform zu übersetzen. 1925 wurde plötzlich der Rawlinson-und-Bosworth-Lehrstuhl für Angelsächsisch am Pembroke College von Oxford vakant. Tolkien bewarb sich und erhielt, wohl unter anderem durch die Reputation seiner Sir-Gawain-Edition, den Posten zugesprochen. 1926 gründete Tolkien im Kollegenkreis die Kolbitar (isländisch für „Kohlenbeißer“), eine informelle Runde, die sich regelmäßig traf, um die isländischen Sagas in der altnordischen Originalsprache zu lesen. Seit 1927 gehörte dieser Gruppe auch Clive Staples Lewis (Die Chroniken von Narnia) an, seit 1926 ein Kollege Tolkiens, der bald zu seinem engsten Freund wurde. Lewis unterstützte ihn auch bei einer Lehrplanreform, die stärkeres Gewicht auf die Verbindung von Sprach- und Literaturwissenschaft legte und die, von Tolkien initiiert, 1931 von der Fakultät angenommen wurde. Es waren jedoch nicht diese beruflichen Errungenschaften, auf denen Tolkiens späterer Ruhm gründet. Seine beiden Hauptwerke, Der Hobbit und Der Herr der Ringe, haben beide ihre Wurzel im heimischen Familienkreis, in der Vaterrolle, die Tolkien gegenüber seinen Kindern vorbildlich ausfüllte. === Der Hobbit und Der Herr der Ringe === In den frühen 1920er und 1930er Jahren begann Tolkien, seinen Kindern regelmäßig fantasievolle Geschichten zu erzählen, die allerdings meist außerhalb der Mythenwelt, an der er zu dieser Zeit bereits ernsthaft arbeitete, spielten. Aus dieser Zeit stammt unter anderem die Erzählung Roverandom, die auf das Verschwinden eines Spielzeughundes seines zweiten Sohnes Michael zurückgeht. Während sich in dieser Erzählung nur ein oder zwei kryptische, damals nur für ihn selbst verständliche Bezugnahmen auf die größere Mythologie finden, verweist die 1930 begonnene Geschichte Der Hobbit schon mehrfach auf Ereignisse aus seiner ernsthaften Mythologie, so in den Verweisen auf die Elbenstadt Gondolin, die zu dieser Zeit bereits Teil seiner später im Ersten Zeitalter von Mittelerde angesiedelten Sagenwelt ist, und die Gestalt des Nekromanten. Durch Vermittlung einer ehemaligen Studentin wurde der Verlag Allen & Unwin auf seine Erzählung aufmerksam, die nach positiver Rezension durch den Sohn des Verlegers, Rayner Unwin, im Jahre 1937 veröffentlicht wurde. Auf dringenden Wunsch des Verlages begann Tolkien mit der Arbeit an einer Nachfolgeerzählung, die zunächst wie The Hobbit als Kinderbuch angelegt war. Gegen Ende der 1930er Jahre und nach Inspiration durch C. S. Lewis, der mit ihm nun in dem literarischen Zirkel der Inklings verbunden war – einer Gruppe, zu der neben Lewis und Tolkien auch Charles Williams, Owen Barfield, Hugo Dyson und Adam Fox gehörten –, hielt er den vielbeachteten Vortrag On Fairy-Stories, in dem er die Grundsätze des später entstehenden Fantasy-Genres beschrieb und energisch gegen Vorwürfe des Eskapismus (Realitätsflucht) verteidigte. Während des Zweiten Weltkrieges zog sich die Arbeit an seinem Nachfolgeprojekt für den Hobbit hin, das jetzt den Namen The Lord of the Rings trug. Durch andere Aufgaben wurde diese Arbeit immer wieder unterbrochen. 1945 wechselte er, immer noch in Oxford, auf die Professur für Anglistik. Erst im Jahre 1954 wurde The Lord of the Rings veröffentlicht. Die Verzögerung hatte zum einen mit Tolkiens Perfektionismus, zum anderen aber auch mit Tolkiens Wunsch nach einem Verlagswechsel zu tun, der durch die vermeintliche Ablehnung seines ernsthaften Mythenwerkes The Silmarillion motiviert war. Als sein alter Verleger Allen & Unwin ein Ultimatum zur Veröffentlichung seiner Gesamtmythologie (The Lord of the Rings und The Silmarillion) ohne Möglichkeit zur Ansicht des Manuskripts ablehnte, trug Tolkien sein Werk dem Verlagshaus Collins an. Nach anfänglichem Enthusiasmus bestand man dort jedoch auf weitreichenden Kürzungen, zu denen Tolkien nicht bereit war, so dass er sich reumütig wieder an seinen alten Verlag wandte. Rayner Unwin, der als Kind den Hobbit begutachtet hatte, war mittlerweile zum Juniorverleger aufgestiegen und nahm das Buch ohne weitere Korrekturen an. Aufgrund der infolge des Krieges exorbitanten Papierpreise in England wurde das Werk in drei Bänden (The Fellowship of the Ring, The Two Towers und The Return of the King) veröffentlicht, so dass jeder Einzelband zu erschwinglichen Preisen angeboten werden konnte. Daher stammt die fälschlicherweise gebrauchte Kategorisierung des Gesamtwerks als Trilogie, welche Tolkien zeit seines Lebens ablehnte. Ursprünglich hatte er das Werk in sechs Bücher unterteilt. 1964 fragte der amerikanische Verleger Donald A. Wollheim von Ace Books nach der Erlaubnis, The Lord of the Rings als Taschenbuch in den Vereinigten Staaten zu veröffentlichen. Tolkien lehnte mit der Begründung ab, dass er keine Ausgabe seines Werkes in derart degenerierter Form wünsche. Diese Zurückweisung verärgerte Wollheim – Pionier des Taschenbuchs in den USA – derart, dass er nach einem Schlupfloch in den Urheberrechten daran suchte. Tatsächlich waren die Taschenbuchrechte für die Vereinigten Staaten nicht eindeutig geregelt. Wollheim schloss daraus, die Rechte für die Staaten seien frei, und legte mit dem, was später als Raubdruck bezeichnet wurde, die Grundlage für den immensen Erfolg des Buches in den Vereinigten Staaten. Der resultierende Rechtsstreit wurde später zuungunsten von Ace Books entschieden. Wollheims unautorisierte Kopie von The Lord of the Rings löste eine Kultbewegung unter den Studenten aus, was Tolkien schnell zu einer Berühmtheit machte. Durch enge Anbindung an seine immer zahlreicher werdenden Fans, die zu seinen Gunsten erheblichen Druck auf den Verleger der Piratenausgabe ausübten, erreichte es Tolkien jedoch entgegen der für ihn ungünstigen Rechtslage, dass die Piratenedition eingestellt wurde, so dass bald nur noch die durch ihn autorisierte Fassung auf dem US-amerikanischen Markt erhältlich war. === Letzte Jahre === Sein weiteres Leben verbrachte Tolkien mit dem Ausarbeiten des Silmarillion, das er jedoch bis zu seinem Lebensende nicht mehr fertigstellte und das erst nach seinem Tod von seinem Sohn Christopher Tolkien herausgegeben wurde. Für ein paar Jahre zogen er und seine Frau Edith in das englische Seebad Bournemouth. Dort starb Edith 1971, woraufhin Tolkien zurück nach Oxford zog. 1972 wurde ihm von Königin Elisabeth II. der Rang eines Commander des Order of the British Empire verliehen. Somit hatte er das Recht, die entsprechende Abkürzung seinem Namen hinzuzufügen (John Ronald Reuel Tolkien, CBE). Er war jedoch kein Ritter und hatte auch keinen Adelstitel. Für die 1966 erschienene englischsprachige Ausgabe der Jerusalemer Bibel, die wichtigste internationale evangelisch-katholische Bibeledition der Gegenwart, hatte er das Buch Jona übersetzt. Tolkien arbeitete auch an einer Fortsetzung des Herrn der Ringe (englisch The New Shadow ‚Der neue Schatten‘). Darin sollte erzählt werden, wie mehr als 100 Jahre nach dem Ringkrieg ein Geheimbund versucht, die Gesellschaft zugunsten von sogenannten Ork-Kulten zu reformieren. Diese Erzählung wird jedoch mit der Begründung abgebrochen, dass solche Umsturzversuche nach Saurons Niederfall zum Scheitern verurteilt waren. Das Romanfragment, das die Anfang der 1970er verbreiteten Ängste vor Jugendreligionen reflektiert, wurde 1996 postum unter dem Titel The New Shadow veröffentlicht. === Tod === Am 2. September 1973 starb Tolkien im Alter von 81 Jahren nach kurzer Krankheit in einem privaten Krankenhaus in Bournemouth, wohin er für einen kurzen Urlaub zurückgekehrt war. Sein ältester Sohn, John Francis Reuel (1917–2003), der am 10. Februar 1946 zum katholischen Priester geweiht worden war, las bei der Beerdigung seines Vaters die Messe. Das Grabmal von J. R. R. Tolkien und seiner Frau befindet sich auf dem katholischen Teil des Wolvercote Cemetery auf dem Jordan Hill in Oxford; auf den Grabsteinen stehen neben ihren Namen auch die Namen Beren und Lúthien – Zeichen für eine den Tod überdauernde Liebe. == Ehrungen == Postum erhielt Tolkien noch einige Ehrungen, unter anderem mehrere britische Preise von Channel 4, Waterstone’s, der Folio Society und der Zeitschrift SFX, die ihn als herausragendsten und prägendsten Schriftsteller des Jahrhunderts auszeichneten. 2012 wurde bekannt, dass C. S. Lewis Tolkien für den Literaturnobelpreis 1961 vorgeschlagen hatte. Die Jury lehnte ab; stattdessen wurde Ivo Andrić ausgezeichnet.Ebenfalls postum wurde er 2013 in die Science Fiction Hall of Fame aufgenommen.Christopher Tolkien (1924–2020), der bereits zu Lebzeiten seines Vaters dessen Schriftstücke bearbeitet hatte, veröffentlichte ab 1977 unter anderem das Silmarillion und von 1983 bis 1996 auch die History of Middle-earth. Dem Leben und Werk J. R. R. Tolkiens widmet sich in Deutschland seit 1997 die Deutsche Tolkien Gesellschaft (DTG). Große Teile des Nachlasses (Manuskripte, Korrespondenz, Korrekturfahnen und andere Materialien in Verbindung u. a. mit Roverandom und Sigelwara Land) befinden sich in der Bodleian Library in Oxford. Nach ihm ist der Asteroid des inneren Hauptgürtels (2675) Tolkien benannt. Zudem wurde die Froschart Hyloscirtus tolkieni nach ihm sowie zahlreiche Tierarten nach Figuren aus seinen Werken benannt. 2003 wurde der 25. März von der britischen Tolkien Society zum Tolkien Reading Day erklärt. == Werkverzeichnis == Im Folgenden sind sowohl Tolkiens akademische Veröffentlichungen wie auch seine literarischen Werke aufgeführt. === Akademisches === A Middle English Vocabulary. 1922. Some Contributions to Middle-English Lexicography. 1925. The Devil’s Coach-Horses. 1925. Edition von Sir Gawain and the Green Knight. 1925. Ancrene Wisse and Hali Meiðhad. 1929. Sigelwara Land. Teile I/II 1932/1934. Chaucer as a Philologist: The Reeve’s Tale. 1935. Beowulf, The Monsters and the Critics. Sir Israel Gollancz memorial lecture 1936. Oxford Univ. Press, London 1936, Oxford 1971, Arden Libr, Darby 1978 (Reprint). Sir Orfeo. 1944. „Iþþlen“ in Sawles Warde. 1947. On Fairy-Stories. 1947. Middle English »Losenger«. 1953. Ancrene Wisse: The English Text of the Ancrene Riwle. 1962. English and Welsh. 1963. Übersetzungen von Pearl. und Sir Orfeo. postum 1975. The Old English Exodus. Text, Übersetzung, Kommentar des altengl. Gedichts Exodus. postum 1981. Finn and Hengest: The Fragment and the Episode. postum 1982, Übersetzung und Kommentar Beowulf and the Critics. postum 2002. Beowulf: A Translation and Commentary (Prosaübersetzung), postum 2014. Beowulf. (Versübersetzung) bisher unveröffentlicht. === Prosawerke === Der Hobbit. (The Hobbit or There and Back Again). 1937, dt. 1957. Blatt von Tüftler. (Leaf by Niggle). 1945. Bauer Giles von Ham. (Farmer Giles of Ham). 1949. The Homecoming of Beorhtnoth Beorhthelm’s Son. 1953. Der Herr der Ringe. (The Lord of the Rings). 1954/1955 (deutsche Übersetzung 1969/1970), erschienen in drei Bänden als The Fellowship of the Ring: being the first part of The Lord of the Rings. 1954, (Die Gefährten ISBN 978-3-608-93541-7.) The Two Towers: being the second part of The Lord of the Rings. 1954, (Die zwei Türme. ISBN 978-3-608-93542-4.) The Return of the King: being the third part of The Lord of the Rings. 1955 (Die Wiederkehr des Königs. ISBN 978-3-608-93543-1.) Der Schmied von Großholzingen. (Smith of Wootton Major). 1967. Guide to the Names in »The Lord of the Rings«, A Tolkien Compass. postum 1975, (Anmerkungen zur Namensgebung in seinem Hauptwerk). Die Briefe vom Weihnachtsmann. (The Letters of Father Christmas). postum 1976, dt. 1977. Erweiterte Neuauflage 2004. Das Silmarillion. (The Silmarillion). postum 1977, dt. Klett-Cotta, Stuttgart 1978, ISBN 3-12-907970-X. Nachrichten aus Mittelerde. (Unfinished Tales of Númenor and Middle-earth). postum 1980, dt. 1983, Klett-Cotta, Stuttgart 1986, ISBN 3-608-95160-1. Herr Glück. (Mr Bliss). postum 1982. The History of Middle-earth. postum 1983–1996, erschienen in dreizehn Bänden als The Book of Lost Tales, Part I. postum 1983, dt. Übersetzung in Das Buch der verschollenen Geschichten. The Book of Lost Tales, Part II. postum 1984, dt. Übersetzung in Das Buch der verschollenen Geschichten, Teil 2. The Lays of Beleriand. postum 1985. The Shaping of Middle-earth. postum 1986. The Lost Road and Other Writings. postum 1987. The Return of the Shadow. postum 1988. The Treason of Isengard. postum 1989. The War of the Ring. postum 1990. Sauron Defeated. postum 1992. Morgoth’s Ring. postum 1993. The War of the Jewels. postum 1994. The Peoples of Middle-earth. postum 1996. Indexes. Roverandom. postum 1998, dt. Klett-Cotta, Stuttgart 1999, ISBN 3-608-93454-5. Die Kinder Húrins. (The Children of Húrin). postum, dt. Klett-Cotta, Stuttgart 2007, ISBN 978-3-608-93603-2. Die Geschichte von Kullervo. (The Story of Kullervo. Herausgegeben von Verlyn Flieger.) Unvollendetes Erstlingswerk etwa 1912/14, postum 2015, ISBN 978-0-00-813136-4, dt., übersetzt von Joachim Kalka. Klett-Cotta, Stuttgart 2018, ISBN 978-3-608-96090-7. The Tale of Beren and Lúthien. postum 2017 ISBN 978-0-00-821419-7, dt. Beren und Lúthien, von Helmut W. Pesch und Hans-Ulrich Möhring, Klett-Cotta, Stuttgart 2017, ISBN 978-3-608-96165-2. === Versepik === The Lay of Leithian. In: The History of Middle-earth. Band 3: The Lays of Beleriand. 1985 (postum). The Lay of the Children of Húrin. In: The History of Middle-earth. Band 3: The Lays of Beleriand. (postum). Die Legende von Sigurd und Gudrún (The Legend of Sigurd and Gudrún). Hrsg.: Christopher Tolkien 2009. Zweisprachige Ausgabe, aus dem Englischen von Hans-Ulrich Möhring, Verlag Klett-Cotta, Stuttgart 2010, ISBN 978-3-608-93795-4 (postum). König Arthurs Untergang (The Fall of Arthur). Hrsg.: Christopher Tolkien, HarperCollins, London 2013, ISBN 978-0-00-748994-7; deutsch von Hans-Ulrich Möhring, Klett-Cotta, Stuttgart 2015, ISBN 978-3-608-96050-1 (postum). The Lay of Aotrou and Itroun. Together with the Corrigan poems. Hrsg.: Verlyn Flieger, HarperCollins, London 2016, ISBN 978-0-00-820213-2 (postum). === Lyrik === Gedicht: The Battle of the Eastern Field. 1911. Gedicht: From the many-willow’d margin of the immemorial Thames. 1913. Gedicht: You & me and the Cottage of Lost Play. 1915. Gedicht: Kortirion among the trees. 1915. Gedicht: Goblin Feet. 1915. Gedicht: The Happy Mariners. 1920. Gedicht: The Clerke’s Compleinte. 1922. Gedicht: Iúmonna Gold Galdre Bewunden. 1923. Gedicht: The City of the Gods. 1923. Gedicht: The Eadigan Saelidan. 1923. Gedicht: Why the Man in the Moon Came Down Too Soon. 1923. Gedicht: Enigmala Saxonic – a Nuper Inventa Duo. 1923. Gedicht: The Cat and the Fiddle: A Nursery-Rhyme Undone and its Scandalous secret Unlocked. 1923. Gedicht: An Evening in Tavrobel. 1924. Gedicht: The Lonely Isle. 1924. Gedicht: The Princess Ni. 1924. Gedicht: Light as Leaf on Lindentree. 1925: Gedicht: The Nameless Land. 1926. Gedicht: Adventures in Unnatural History and Medieval Metres, being the Freaks of Fisiologus. 1927. Gedicht: Progress in Bimble Town. 1931. Gedicht: Errantry. 1933. Gedicht: Firiel. 1934. Gedicht: The Adventures of Tom Bombadil. 1934. Gedichtsammlung: Songs for the Philologists. gemeinsam mit E. V. Gordon und anderen 1936. Gedicht: The Dragon’s Visit. 1937. Gedicht: Knocking at the Door: Lines induced by sensations when waiting for an answer a the door of an Exalted Academic Person. 1937. Gedicht: The Lay of Aotrou and Itroun. 1945. Gedicht: Imram. 1955. Gedichtsammlung: Die Abenteuer des Tom Bombadil und andere Gedichte aus dem Roten Buch (The Adventures of Tom Bombadil and other verses from The Red Book). 1962. Gedicht: Once upon a time. 1965. Gedicht: For W. H. A. 1967. Gedichtzyklus: The Road Goes Ever On: A Song Cycle. 1967, vertont durch Donald Swann Gedicht: Bilbos Abschiedslied. (Bilbo’s Last Song). postum 1974; deutsche Übersetzung (Ebba-Margareta von Freymann) ISBN 3-480-14249-4. === Sonstiges === English and Medieval Studies, Presented to J. R. R. Tolkien on the Occasion of his Seventieth Birthday. Norman Davis, Charles Leslie Wrenn (eds.). George Allen & Unwin, London 1962. Autobiografischer Bericht: Tolkien on Tolkien. 1966. LP: Poems and Songs of Middle-Earth. 1968, (Tolkien liest unter anderem einige seiner Gedichte). LPs: The Hobbit. und The Lord of the Rings. postum 1975 (Tolkien liest Auszüge aus seinen Werken). Bildband: Pictures by J. R. R. Tolkien. postum 1979 (Sammlung von Tolkiens Zeichnungen). Briefe: Letters of J. R. R. Tolkien. postum 1981. A Secret Vice, a lecture on invented languages, postum 2016, ISBN 978-0-00-813139-5. Natur und Wesen von Mittelerde. Späte Schriften über die Länder, Völker, Wesen und die Metaphysik Mittelerdes. Klett-Cotta, Stuttgart 2021, ISBN 978-3-608-96478-3 (herausgegeben von Carl F. Hostetter). == Spielfilm == Tolkien (Film) von 2019. Die Filmbiografie zeigt den Schriftsteller J. R. R. Tolkien als Schüler und in weiteren prägenden Zeiten in seinem Leben. == Literatur == Humphrey Carpenter: J. R. R. Tolkien. Eine Biographie. Deutsch von Wolfgang Krege. Klett-Cotta, Stuttgart 2001, ISBN 3-608-93431-6. Fabian Geier: J. R. R. Tolkien. Rowohlt Taschenbuch Verlag, Reinbek bei Hamburg 2009, ISBN 978-3-499-50664-2. Wayne G. Hammond, Christina Scull: J. R. R. Tolkien. Der Künstler. Klett-Cotta, Stuttgart 1996, ISBN 3-608-93409-X. Catherine McIllwaine: Tolkien – Schöpfer von Mittelerde Deutsch von Helmut W. Pesch. Klett-Cotta, Stuttgart 2019, ISBN 978-3-608-96402-8 Helmut W. Pesch (Hrsg.): J. R. R. Tolkien, der Mythenschöpfer. Corian-Verlag Meitingen, 1984, ISBN 3-89048-205-8. Tom A. Shippey: J. R. R. Tolkien. Autor des Jahrhunderts. Deutsch von Wolfgang Krege. Klett-Cotta, Stuttgart 2002, ISBN 3-608-93432-4. Tom A. Shippey: Der Weg nach Mittelerde. Deutsch von Helmut W. Pesch. Klett-Cotta, Stuttgart 2008, ISBN 978-3-608-93601-8 (englisch: The Road to Middle-earth). == Weblinks == Literatur von und über J. R. R. Tolkien im Katalog der Deutschen Nationalbibliothek Werke von und über J. R. R. Tolkien in der Deutschen Digitalen Bibliothek J. R. R. Tolkien in der Internet Speculative Fiction Database (englisch) J. R. R. Tolkien in der Science Fiction Awards+ Database (englisch) Werke von und über J. R. R. Tolkien bei Open Library Journal of Inklings Studies – akademische Zeitschrift über Tolkien und seinen literarischen Kreis (englisch) The Tolkien Society auf tolkiensociety.org (englisch) Deutsche Tolkien Gesellschaft e. V. auf tolkiengesellschaft.de Kommentare zur mythologischen Methode bei J. R. R. Tolkien Tolkien News – Fiktive Mythologie und grüne Sonnen Schneidewind zu den Rassenvorstellungen in Tolkiens Werk (PDF; 308 kB) auf incantatio.de J. R. R. Tolkien bei MusicBrainz (englisch) J. R. R. Tolkien in der Internet Movie Database (englisch) Jutta Duhm-Heitzmann: 03.01.1892 - Geburtstag von John R. R. Tolkien WDR ZeitZeichen vom 3. Januar 2017; mit Andrew James Johnston. (Podcast) == Einzelnachweise ==
https://de.wikipedia.org/wiki/J._R._R._Tolkien
Louis Pasteur
= Louis Pasteur = Louis Pasteur (* 27. Dezember 1822 in Dole, Département Jura; † 28. September 1895 in Villeneuve-l’Étang bei Paris) war ein französischer Chemiker, Physiker, Biochemiker und Mitbegründer der medizinischen Mikrobiologie, der zum Teil aufbauend auf den bakteriologischen Forschungen Robert Kochs in Wollstein und Berlin entscheidende Beiträge zur Vorbeugung gegen Infektionskrankheiten durch Impfung geleistet hat. Pasteur begann seine Karriere mit einer Entdeckung auf dem Gebiet der Chemie: Aus zwei asymmetrischen, spiegelbildlichen Kristallformen eines Salzes der Traubensäure sowie ihrer optischen Aktivität, wenn sie getrennt in Lösung gebracht wurden, schloss er auf ihre zugrunde liegende molekulare Asymmetrie. Damit wurde er zum Begründer der Stereochemie. Optische Aktivität war in den Augen Pasteurs eine Eigenschaft, die die Moleküle von Lebewesen charakterisiert. Da bei der Gärung optisch aktive Substanzen entstehen, vermutete er, dass sie von Mikroorganismen verursacht wurde. Dies konnte er in einer Reihe von Experimenten belegen und damit die konkurrierende Hypothese ausschließen, die etwa von Justus Liebig vertreten worden war, es handele sich um rein chemische Reaktionen ohne Beteiligung von Lebewesen. Gleichzeitig galt damit die seit der Antike diskutierte Frage, ob unter Alltagsbedingungen Leben – etwa das von Bakterien – spontan entstehen kann, als entschieden. Im Rahmen seiner Studien zur Gärung entdeckte Pasteur, dass es Mikroorganismen gibt, die ohne Sauerstoff auskommen, und er fand das erste Beispiel für eine Stoffwechselregulation, als er beobachtete, dass Hefezellen unter Ausschluss von Sauerstoff Zucker schneller verbrauchen. Pasteur beschrieb verschiedene Formen der Gärung und erkannte, dass dies verschiedenartige Mikroorganismen voraussetzt. Eine praktische Konsequenz dieser Arbeiten war ein Verfahren zur Haltbarmachung flüssiger Lebensmittel, die Pasteurisierung. Im Auftrag der französischen Regierung erforschte Pasteur verschiedene Krankheiten der Seidenraupen und erkannte sie um 1863 als parasitäre Infektionskrankheiten. Ab 1876 widmete er sich vollständig human- und veterinärmedizinischen Fragen. Er entwickelte einen Impfstoff aus abgeschwächten Krankheitserregern zum Schutz vor Geflügelcholera und baute damit die Impfung – für die es in der Humanmedizin bis dahin nur das Beispiel der Pockenschutzimpfung gegeben hatte – überhaupt erst zu einem allgemeinen Prinzip aus. Weitere Impfstoffe gegen Milzbrand, Schweinerotlauf und Tollwut zeigten, dass man zumindest theoretisch fortan beliebigen Infektionskrankheiten vorbeugen konnte. Mit seinen Arbeiten zur Gärung und Impfung demonstrierte Pasteur das wirtschaftliche und medizinische Potenzial experimenteller Biologie. Die Produktion des Milzbrandimpfstoffs stand am Anfang der Impfstoff-Industrie. Eine Spendenwelle nach der ersten spektakulären Tollwut-Impfung des Jungen Joseph Meister im Jahr 1885 erlaubte die Gründung des außeruniversitären, unmittelbar der Staatsregierung unterstellten Institut Pasteur, bis heute die führende Wissenschaftsinstitution Frankreichs in der biomedizinischen Forschung. == Leben == Louis Pasteur kam aus einer Familie von Gerbern (sein Vater war der Gerber Jean-Joseph Pasteur) und wuchs, geboren im freigrafschaftlichen Dole, nach mehreren Umzügen in Arbois auf, wo er das Gymnasium besuchte. Das dritte von fünf Kindern fiel in der Schule, wenn überhaupt, zunächst durch sein künstlerisches Talent auf. 1837/38 errang er jedoch so viele Schulpreise, dass ihm nahegelegt wurde, sich auf die École Normale Supérieure, die höchste Pädagogische Fakultät, in Paris vorzubereiten. Der erste Versuch scheiterte an zu starkem Heimweh. 1842 absolvierte er das Baccalauréat (Note in Chemie: „mittelmäßig“) und wurde an der École Normale zugelassen, lehnte die Aufnahme jedoch ab, weil er mit seinem Rang (15. von 22 Kandidaten) unzufrieden war. Er absolvierte ein weiteres Vorbereitungsjahr und erreichte diesmal Rang 4. Die folgenden fünf Jahre studierte Pasteur an der École Normale und arbeitete zugleich als wissenschaftlicher Mitarbeiter (préparateur). 1846 absolvierte er in Paris die Lehramtsprüfung für physikalische Wissenschaften. 1847 wurde er zum Doktor der Naturwissenschaften (docteur-ès-sciences) auf Grundlage von zwei Doktorarbeiten in Physik (Untersuchung der Erscheinungen des Drehvermögens für polarisiertes Licht von Flüssigkeiten; Anwendung des Rotationsvermögens von Flüssigkeiten zur Lösung verschiedener Probleme der Chemie) und Chemie (Untersuchungen des Sättigungsvermögens der arsenigen Säure; Untersuchung der arsenigsauren Salze von Kalium, Natrium und Ammonium) promoviert. Nach einem kurzen Aufenthalt Ende 1848 als Gymnasialprofessor für Physik am Lycée von Dijon ging er im Januar 1849 als Assistenzprofessor für Chemie (professeur suppléant) an die Universität Straßburg. Hier verliebte er sich in Marie Laurent, die Tochter des Rektors der Akademie Straßburg. Er heiratete sie bereits am 29. Mai 1849. Seine Frau brachte fünf Kinder zur Welt, von denen allerdings drei in früher Jugend starben. Bis 1853 war sein wissenschaftliches Ansehen so gewachsen, dass ihm die Pharmazeutische Gesellschaft (Société de Pharmacie) einen Preis von 1500 Francs zuerkannte und er in die Ehrenlegion aufgenommen wurde. 1854 wurde er als Professor für Chemie sowie als Dekan an die neu gegründete Fakultät für Wissenschaften in Lille berufen. Pasteur vertrat hier eine stark anwendungsbezogene Forschung im Interesse der lokalen Industrie; auch setzte er sich für eine Innovation ein, die durch ein Kaiserliches Dekret im selben Jahr eingeführt worden war, dass Studenten der Naturwissenschaften im Labor ausgebildet werden sollten. 1857, im Alter von 34 Jahren, wurde Pasteur zum Direktor für wissenschaftliche Studien sowie zum Administrator (vergleichbar einem Kanzler an einer deutschen Hochschule) an der École Normale in Paris ernannt. Pasteur setzte die Zahl der agrégé-préparateurs – Laborassistenten, die die École Normale absolviert hatten – herauf, reduzierte aber andererseits ihre Vertragsdauer von sieben oder acht Jahren auf zwei. Mit dieser Maßnahme ermutigte er mehr Studenten zur Promotion. Außerdem gründete er eine neue Zeitschrift, die Annales scientifiques de l’École Normale Supérieure, als Forum für die Forschungsergebnisse seines Hauses. Diese Zeitschrift redigierte er persönlich bis 1871. Unter Pasteurs Ägide verbesserte sich der Ruf der École Normale enorm. Hatten sich zuvor etwa 50 bis 70 Personen jährlich auf die 15 Studienplätze beworben, so waren es zum Schluss 200 bis 230. Viel Aufsehen erregte, dass erstmals Bewerber, die zugleich an der École polytechnique angenommen worden waren, sich für die École Normale entschieden. Pasteur war auch für die Disziplin unter den Studenten zuständig, was ihn überforderte. Nach 1867 ausgebrochenen Studentenunruhen war er an der École Normale nicht mehr haltbar und wechselte als Chemie-Professor an die Sorbonne. Obwohl mit seinen beiden Positionen an der École Normale kein Forschungsauftrag verbunden war, hatte Pasteur sich sofort zwei Dachräume als Labor eingerichtet, wo er seine in Lille begonnenen Studien zur Gärung fortsetzte. Er erlangte direkten Zugang zu Kaiser Napoleon III., was ihm erlaubte, seine Tätigkeit zunehmend auf die Forschung zu verlagern. 1862 wurde Pasteur in die Akademie der Wissenschaften gewählt. Ab 1865 nahmen ihn die Forschungsarbeiten zu den Krankheiten der Seidenraupen, um die ihn die Regierung gebeten hatte, stark in Anspruch. Bis 1870 verbrachte er deswegen jeden Sommer in einem Feldlabor in Südfrankreich. Dank der Unterstützung des Kaisers wurde ihm der Neubau eines Labors genehmigt, der sich allerdings durch den Deutsch-Französischen Krieg verzögerte. Den Krieg verbrachte Pasteur im heimischen Jura, wo er das Bierbrauen studierte, ein Industriezweig, in dem er Frankreich gegenüber Deutschland als unterlegen ansah. Bei seiner Rückkehr nach Paris bat er darum, von allen Lehrverpflichtungen entlastet zu werden. Er setzte eine Leibrente von 12.000 Francs, die ihm noch vom Kaiser versprochen worden war, unter den veränderten politischen Bedingungen der Dritten Republik durch. Die nächsten fünf Jahre verbrachte er damit, seine Forschungsarbeiten über Gärung, Bier, Krankheiten der Seidenraupen und die spontane Entstehung (lateinisch Generatio spontanea) des Lebens abzuschließen. 1876, mit 54 Jahren, wechselte der Chemiker auf ein neues Forschungsgebiet: die Infektionskrankheiten von Haustieren und Menschen. Als Außenseiter auf dem Gebiet der Veterinär- und Humanmedizin begann er mit der Erforschung des Milzbrands. Nachdem ihm ein Impfstoff zum Schutz vor Milzbrand gelungen war, wurde zu dessen Produktion ein zusätzliches Labor in der rue Vauquelin gebaut – es stellt den Beginn der Impfstoff-Industrie dar. Für seine Tollwut-Forschung wurden Pasteur außerdem die alten Ställe des Schlosses Saint-Cloud im Park von Villeneuve l’Etang zur Verfügung gestellt. Die vom französischen Staat eingeworbenen Drittmittel wuchsen an, bis Pasteur zeitweise zehn Prozent der gesamten französischen Forschungsausgaben vereinnahmte. Gegenüber seinen Schülern und Mitarbeitern verhielt sich Pasteur autoritär, und er galt als völlig humorlos. Sein Labor führte er wie ein Familienvater, wobei er darauf achtete, dass seine Angestellten auch verwandtschaftlich verbunden waren. Obwohl Pasteur in seiner Jugend kurzfristig an der Februarrevolution von 1848 teilgenommen hatte, war seine spätere politische Haltung konservativ bis reaktionär. Louis Napoleons Staatsstreich von 1851 begrüßte er und suchte engen Kontakt zum Kaiser. Auch nach dessen Abdankung verschwieg er nicht, wie sehr er ihm verpflichtet gewesen war. 1875 kandidierte Pasteur für die Konservativen für einen Sitz im Senat für seine Heimatstadt Arbois, scheiterte aber weit abgeschlagen, weil er als Bonapartist galt. Abgesehen von diesem Ausflug in die Politik lebte Pasteur ausschließlich für die Wissenschaft, verfolgte auch keine Hobbys; in seiner Pariser Zeit verließ er nur selten das Quartier Latin, wo die für ihn wesentlichen Wissenschaftsinstitutionen lagen. Pasteur war ein glühender Patriot. Einem Briefpartner schrieb er während des Deutsch-Französischen Kriegs von 1870/71, er werde künftig alle seine Werke mit „Hass auf Preußen. Rache. Rache.“ zeichnen. Einen Ehrendoktor der Universität Bonn gab er aus diesem Grund 1870 zurück. Seine heftigsten Kontroversen, die zumindest von der Presse auf beiden Seiten mit stark nationalistischen Untertönen begleitet wurden, focht er mit deutschen Wissenschaftlern – unter ihnen Justus Liebig und Robert Koch – aus. Noch kurz vor seinem Tod weigerte er sich, den preußischen Orden Pour le Mérite anzunehmen.Seine wissenschaftliche Leistung wurde durch zahlreiche Preise aus aller Welt anerkannt, darunter das Großkreuz der Ehrenlegion. 1882 erhöhte der französische Staat seine Leibrente auf 25.000 Francs (vererbbar auf seine Frau und seine Kinder), was dem Doppelten des Gehalts eines Universitätsprofessors entsprach. Im selben Jahr wurde Pasteur als „Unsterblicher“ in die Académie française gewählt. Mit dem triumphalen Erfolg der Tollwut-Impfung traf eine Vielzahl von Spenden ein. Eine Subskription zum Bau des Institut Pasteur über zwei Millionen Francs wurde sogar noch übertroffen. Es wurde im November 1888, als Pasteur 65 Jahre alt geworden war, eingeweiht. Allerdings hatte seine Gesundheit nach mehreren Schlaganfällen so stark gelitten, dass er keine wichtigen Beiträge zur Forschung mehr leisten konnte. Bei seinem Tod war Pasteur praktisch vollkommen gelähmt. Sein Körper – und später der seiner Frau – wurde in einer Krypta unter dem Institut Pasteur beigesetzt. == Werk == === Optische Aktivität und kristalline Asymmetrie === In den Jahren von 1847 bis 1857 unternahm Pasteur eine Reihe bedeutender Experimente zum Zusammenhang zwischen optischer Aktivität, Kristallstruktur und chemischer Zusammensetzung von organischen Verbindungen insbesondere der Weinsäure und der Traubensäure. Bereits 1841 hatte Frédéric de la Provostaye die Kristallformen rechtsdrehender Weinsäuresalze (Tartrate) beschrieben. Ausgangspunkt für Pasteurs Forschungsprojekt war die Entdeckung von Eilhard Mitscherlich, dass die Natrium-Ammonium-Salze der Weinsäure und der Traubensäure in allen ihren Eigenschaften identisch zu sein schienen, nur dass eine Lösung der Weinsäure die Ebene des polarisierten Lichts nach rechts drehte, während eine Traubensäure-Lösung optisch inaktiv blieb. Pasteur konnte Mitscherlichs Behauptung widerlegen, dass die Natrium-Ammonium-Salze der Weinsäure und der Traubensäure in ihrer Kristallstruktur identisch wären. Es gelang ihm unter dem Mikroskop, im Falle der Traubensäure zwei verschiedene Kristallstrukturen zu identifizieren, die sich wie Bild und Spiegelbild zueinander verhielten. In mühsamer Handarbeit trennte er die beiden Kristallformen voneinander. Separat aufgelöst, drehten sie die Ebene des polarisierten Lichts um denselben Betrag in entgegengesetzte Richtungen. Die rechtsdrehende Form (L-(+)-Weinsäure) war identisch mit der bekannten Weinsäure, die linksdrehende Form (D-(−)-Weinsäure) war bis dahin unbekannt gewesen. Kombinierte er gleiche Volumina und Konzentrationen der beiden Lösungen miteinander, hoben sich die gegenläufigen optischen Aktivitäten auf, und die Lösung wirkte optisch inaktiv (Racemat). Diese Entdeckung stellte er am 22. Mai 1848 im Alter von 25 Jahren vor der Akademie der Wissenschaften vor. 1860 äußerte Pasteur in einem Vortrag vor der Chemischen Gesellschaft zu Paris (Société Chimique) die Hypothese, dass die asymmetrische Kristallform optisch aktiver Verbindungen ihre Ursache in der asymmetrischen Gruppierung der Atome im Molekül haben müsse. Er spekulierte bei dieser Gelegenheit, ob zum Beispiel eine rechtsdrehende Verbindung die Form einer rechtshändigen Spirale oder eines irregulären Tetraeders haben könnte. Damit wurde er zum Begründer der Stereochemie, auch wenn das Konzept des tetraedrischen Kohlenstoff-Atoms Kekulé zuzuschreiben ist. Die soeben gegebene Darstellung folgt dem Vortrag von 1860. Der Wissenschaftshistoriker Gerald L. Geison hat durch das Studium von Pasteurs Labortagebüchern einen anderen Ablauf rekonstruiert. Pasteur war demnach stark von seinem Kollegen Auguste Laurent an der Ecole Normale beeinflusst, der glaubte, dass die Form eines Kristalles durch die interne (Molekül-)Struktur bestimmt wird. Allerdings waren Beispiele von „Dimorphismus“ bekannt, also Substanzen mit gleicher chemischer Summenformel, aber unterschiedlichen Kristallformen, wie Calcit und Aragonit. Pasteur untersuchte insgesamt acht verschiedene Salze von Weinsäuren (Tartrate), wobei er prüfen wollte, ob sie miteinander kristallisieren könnten. Unter Laurents Einfluss achtete er besonders auf den Gehalt an Kristallwasser und minimale Änderungen der Kristallstruktur. Ihm war bereits aufgefallen, dass die Kristalle der Natrium-Ammonium-Salze der Traubensäure zwei verschiedene Formen aufweisen, und er hatte sie bereits auseinandersortiert, bevor er sich mit Mitscherlichs Arbeit zur optischen Aktivität beschäftigte. Pasteurs Überzeugung, dass nur optisch aktive Substanzen eine asymmetrische Kristallstruktur zeigen, war also nicht Ausgangspunkt, sondern Ergebnis seiner Forschung; die Frage der optischen Aktivität war nicht erkenntnisleitend. Geison wertet dies als ein Beispiel dafür, wie Erinnerung trügen kann und auch die Selbstauskünfte von Wissenschaftlern nicht unbedingt zuverlässig sind. Den Einfluss von Auguste Laurent hat Pasteur später heruntergespielt, möglicherweise, weil Laurents Sympathie für die Radikalen bald nicht mehr politisch opportun war.Pasteur fand noch zwei weitere Methoden zur Racemat-Trennung: Eine optisch aktive Base bildet mit dem Racemat einer optisch aktiven Säure ein diastereomeres Salzpaar, das durch Kristallisation getrennt werden kann. Und Mikroorganismen verstoffwechseln unter Umständen bevorzugt eine der beiden optisch aktiven Formen eines Racemats. Ein schönes Beispiel fand Pasteur 1860 in dem Pinselschimmel Penicillium glaucum, der selektiv die rechtshändige Form einer Lösung des Ammonium-Salzes der Traubensäure, welcher etwas Phosphat hinzugefügt wurde, verstoffwechselt. Beide Methoden ließen sich in zahlreichen Fällen anwenden. Allerdings musste Pasteur seine Überzeugung revidieren, dass optisch aktive Verbindungen notwendigerweise eine asymmetrische Kristallstruktur haben, nachdem er sie bei einem optisch aktiven Isomer des Amylalkohols nicht nachweisen konnte. === Gärung, Fäulnis und die spontane Entstehung von Leben === Nachdem Pasteur 1854 nach Lille gewechselt war, wurde von ihm erwartet, eine stark anwendungsbezogene Forschung zu leisten. Speziell die Alkoholproduktion aus Rübenzucker spielte für die lokale Industrie eine große Rolle, wodurch der Chemiker erstmals mit Fragen der Gärung konfrontiert wurde. ==== Theoretischer Hintergrund ==== Pasteur war überzeugt davon, dass optische Aktivität und molekulare Asymmetrie organischer Verbindungen in irgendeiner Weise mit dem Leben zusammenhängt, eine Intuition, die sich seitdem im Wesentlichen als richtig erwiesen hat (Chiralität). In der Natur grenzte er einen lebendigen Bereich chemischer Verbindungen (optisch aktiv mit asymmetrischen Kristallformen) gegen einen toten Bereich (optisch inaktiv mit symmetrischen Kristallen) ab. Philosophisch gesehen war Pasteur also Vitalist. Er glaubte an eine „kosmische asymmetrische Kraft“, die er zeit seines Lebens experimentell nachzuweisen hoffte. Da die Produkte der Gärung häufig optisch aktiv waren, vermutete er, dass die Gärung selbst von Mikroorganismen verursacht wurde. Für die Gegenposition einer rein abiotisch verursachten Gärung standen Chemiker wie Jöns Jakob Berzelius oder Justus Liebig. Vor allem Liebig war für Pasteur ein ständiges Ärgernis. „Alle Experimente, die ich seit 23 Jahren dieser Akademie mitgeteilt habe, dienten direkt oder indirekt dazu, die Ungenauigkeit der Ansichten Liebigs aufzuzeigen“, sagte er bei einem der wichtigsten Vorträge seines Lebens am 10. Februar 1880 vor der Akademie der Wissenschaften anlässlich der Vorstellung seines ersten Impfstoffs und hielt sich lange bei der in seinen Augen fatalen Rolle Liebigs auf. Dessen Theorie zur Gärung besitze nicht die geringste Grundlage. ==== Milchsäuregärung ==== Pasteur begann seine Studien zur Gärung mit der Milchsäuregärung (der Prozess, in dem mikrobiell Zucker zu Milchsäure abgebaut wird, wobei Sauerbier oder Sauermilch entsteht). Möglicherweise war er auf diese spezielle Form der Gärung durch sein Interesse an Amylalkohol gestoßen, weil dieser hierbei in großen Mengen entsteht. 1857 hielt er einen inzwischen berühmt gewordenen Vortrag zur Milchsäuregärung vor der Gesellschaft für Wissenschaften, Landwirtschaft und Künste zu Lille. In diesem Vortrag fasste er die Überzeugungen zusammen, die seine Forschungsarbeiten zur Gärung leiteten: Gärung ist das Resultat der Aktivität lebender Mikroorganismen. Jede Form der Gärung kann auf einen spezifischen Mikroorganismus zurückgeführt werden. Das gärende Medium liefert dem Mikroorganismus Nährstoffe. Das gärende Medium kann die Entwicklung eines Mikroorganismus fördern oder behindern. Verschiedene Mikroorganismen konkurrieren um die Nährstoffe in einem Medium. Normale Luft ist die Quelle der Mikroorganismen, die eine Gärung auslösen. Durch „Aussäen“ können Mikroorganismen isoliert und gereinigt werden. ==== Alkoholische Gärung und Pasteur-Effekt ==== Pasteurs Studien zu Bier, Wein und Essig fallen in zwei verschiedene Zeiträume von 1857 bis 1865 und von 1871 bis 1876. Dass die alkoholische Gärung von Hefen verursacht werde, ist nicht von Pasteur entdeckt worden, wie manchmal falsch zu lesen ist. Diese Idee war bereits 1837 unabhängig voneinander von Charles Cagniard-Latour, Theodor Schwann und Friedrich Kützing publiziert worden. Pasteur konnte zeigen, dass bei der alkoholischen Gärung nicht nur Ethanol und Kohlendioxid, sondern zahlreiche Nebenprodukte wie Glycerin, Bernsteinsäure, Zellulose und Fette entstehen. Der Prozess ließ sich in seiner vollen Komplexität nicht in Form einer einfachen Reaktionsgleichung aufschreiben, was es in seinen Augen unwahrscheinlich machte, dass er ohne Beteiligung von Lebewesen ablaufen sollte.Trotzdem ging die Mehrheit der Wissenschaftler noch von einer abiotischen Theorie der Gärung aus. Liebig hatte dafür eine „instabile organische Substanz“ zur notwendigen Voraussetzung erklärt. Pasteur widerlegte diese Theorie, indem er eine alkoholische Gärung in einem künstlichen Medium, das frei von organischem Stickstoff war, in Gang brachte. Zu einer Lösung von Rohrzucker gab er Ammoniumtartrat sowie die Mineralien aus veraschter Hefe und startete die Gärung mit etwas Bierhefe. Wenn er eine der Zutaten wegließ, blieb die Gärung aus.1858 schlugen Moritz Traube und 1860 Marcelin Berthelot eine Theorie vor, die zwischen den Extrempositionen Pasteurs und Liebigs vermittelte: Die Gärung war demnach nicht unmittelbar das Produkt von Lebewesen, sondern von „Fermenten“ (Enzyme), die von Lebewesen ausgeschieden werden, selbst aber nicht leben. Liebig reagierte lange Zeit nicht, bis er 1868 und 1869 zwei Vorlesungen zu dem Thema hielt, die überdies wegen des Deutsch-Französischen Kriegs erst 1871 ins Französische übersetzt wurden. In seiner letzten Vorlesung gab Liebig zu, dass die alkoholische Gärung im eben skizzierten Sinne auf die Aktivität der Hefe zurückging. Pasteur wollte die Existenz „löslicher Fermente“ nicht vollkommen ausschließen, aber auch noch nicht akzeptieren, als die Frage durch eine Publikation Berthelots aus dem Nachlass von Claude Bernard noch einmal aufkam. Trotzdem beschuldigte er französische Anhänger von Liebig, wie Edmond Frémy, des mangelnden Patriotismus, weil sie es gewagt hatten, „deutscher Wissenschaft“ den Vorzug zu geben.Im Rahmen seiner Bierstudien entdeckte Pasteur 1861 zum ersten Mal eine Stoffwechselregulation. Bei Sauerstoffmangel konsumieren Hefen mehr Zucker. In heutigen Begriffen decken sie dann ihren Energiebedarf durch den anaeroben Abbau von Kohlenhydraten (Glykolyse); bei ausreichender Versorgung mit Sauerstoff schalten sie auf den oxidativen Kohlenhydratabbau um (oxidative Phosphorylierung). Der Effekt ist inzwischen nach ihm als Pasteur-Effekt benannt. Seine Erkenntnisse fasste er 1876 in dem Buch Etudes sur la bière zusammen. ==== Essig- und Buttersäuregärung ==== Ab 1861 veröffentlichte Pasteur eine Reihe von Artikeln zur „Essigsäuregärung“ (aus heutiger Sicht handelt es sich nicht um eine Gärung), die er 1864 in einer langen Abhandlung zusammenfasste. Als Pasteur anfing, wurde die Essigsäuregärung von der Mehrheit der Wissenschaftler als abiotischer Prozess betrachtet, analog zur katalytischen Oxidation von Alkohol zu Acetaldehyd und Essigsäure durch fein verteiltes Platin. Pasteur war sich dagegen sicher, dass auch die Essigsäuregärung auf einen biologischen Prozess zurückzuführen sein musste, und untersuchte mit diesem Ziel die feine Haut auf der Oberfläche von Essig, die Essigmutter. Friedrich Kützing hatte bereits 1837 einen Zusammenhang zwischen der Aktivität von Mikroorganismen in der Essigmutter und der Entstehung von Essig hergestellt. Pasteur gelang es, wie schon in seinem Experiment zur alkoholischen Gärung, Essig aus einem Medium aus verdünntem Alkohol, Ammonium, mineralischen Salzen und dem Organismus aus der Essigmutter (in damaliger Nomenklatur Mycoderma aceti) zu gewinnen. Nur an einer Oberfläche in Gegenwart von reichlich Sauerstoff produzierte dieser Organismus Essig. Pasteurs Studien hatten für Essighersteller die praktische Folge, dass sie die Produktion steuern konnten. Bis dahin hatten sie manchmal wochenlang warten müssen, bevor die Essigmutter spontan auftauchte. Pasteur beschrieb 1861 auch eine neuartige Form der Gärung, die Buttersäuregärung. Die Mikroorganismen, die er hier als Verursacher ausmachte, waren beweglich, weshalb er sie dem Tierreich zuordnete. Ihm fiel auf, dass diese „Infusorien“ unter dem Mikroskop am Rande des Deckglases ihre Beweglichkeit verloren, was er auf hier eindringende atmosphärische Luft zurückführte. Wenn Pasteur Luft durch einen Behälter leitete, in dem Buttersäuregärung ablief, konnte er die Gärung sofort stoppen. Die Mikroorganismen waren danach abgestorben. Kohlensäure behinderte dagegen die Buttersäuregärung nicht. Pasteur hatte damit ein Beispiel für einen anaeroben Organismus gefunden. Später verallgemeinerte er diese Beobachtung, indem er Gärung generell als „Leben ohne Luft“ definierte. Über den Widerspruch, dass die „Essigsäuregärung“ seiner Ansicht nach die Anwesenheit von Sauerstoff voraussetzte, sah er lange Zeit hinweg. Außerdem musste er 1872 zugeben, dass auch die alkoholische Gärung nicht ganz ohne Sauerstoff ablaufen kann, weil sonst Hefe nicht keimen kann. ==== Fäulnis ist Gärung ==== Fäulnis war zu dieser Zeit als Zersetzung von Substanzen pflanzlicher oder tierischer Herkunft mit Entwicklung von übelriechenden Gasen definiert. 1863 dehnte Pasteur seine Erkenntnisse zur Gärung auf die Fäulnis aus. Obwohl er nur unzureichende Belege lieferte, behauptete er, dass auch die Fäulnis auf die Aktivität lebender Organismen zurückgehe. Fäulnis sei nichts anderes als die Gärung von Substanzen mit einem relativ hohen Schwefelanteil, und die Freisetzung dieses Schwefels in gasförmigen Verbindungen erzeuge den üblen Geruch. ==== Die spontane Entstehung von Leben ==== Pasteurs Studien über die Gärung waren von entscheidender Bedeutung für eine Frage, die seit der Antike diskutiert worden war: Kann Leben unter Alltagsbedingungen spontan entstehen? Zu Pasteurs Zeit war die Debatte bereits auf die Fragestellung reduziert worden, ob mikroskopisch kleine Lebewesen aus toter organischer Materie entstehen können. Ab 1860 veröffentlichte Pasteur dazu in kurzer Folge fünf Arbeiten, die er 1861 in einem Vortrag vor der Chemischen Gesellschaft zu Paris zusammenfasste. Zu den Experimenten, die hier nicht vollständig beschrieben werden, gehören: Pasteur kochte hefehaltiges Zuckerwasser auf und platzierte es in einem luftdichten Behälter. Der Inhalt blieb wochenlang steril. Brachte er Watte, durch die normale Luft gesaugt worden war, in den Behälter, fing der Inhalt innerhalb von 24 bis 36 Stunden an zu gären. Pasteur schloss daraus, dass der Staub der Luft Mikroorganismen enthielt. Nach dem Vorbild von Eugène Chevreul ließ er Flaschen mit einem schwanenhalsartigen Hals anfertigen, füllte sie mit Zuckerwasser, Urin oder Milch und kochte den Inhalt auf. (Unabhängig von Pasteur hatte Hermann Hoffmann ebenfalls 1860 dieses Verfahren beschrieben.) Obwohl die Flaschen eine offene Verbindung zur Luft hatten, blieb der Inhalt steril. In Kontrollflaschen, deren Inhalt nicht aufgekocht worden war, bildete sich in kurzer Zeit ein Schimmelrasen. Brach Pasteur die Schwanenhälse ab, so bildete sich auch in den steril gebliebenen Flaschen Schimmel oder der Inhalt fing an zu gären. Anscheinend waren Mikroorganismen von oben in die Flaschen hineingeschwebt, was der lang ausgezogene Schwanenhals zuvor verhindert hatte. Pasteur kochte hefehaltiges Zuckerwasser auf, setzte es für kurze Zeit der Luft aus und verschloss die Behälter dann luftdicht. Am Fuß des Jura-Gebirges bildeten sich daraufhin in acht von 20 Fällen Lebensformen, auf 850 Meter Höhe in fünf von 20 Fällen, und auf dem Gletscher Mer de Glace in 2000 Meter Höhe veränderte sich nur in einem von 20 Fällen der Inhalt. Pasteur hatte eine Methode zur Messung der Konzentration von Keimen in der Luft erfunden.Für den Vortrag von 1861 verlieh die Akademie der Wissenschaften Pasteur ein Preisgeld von 2500 Francs, das für denjenigen ausgelobt worden war, der wichtige Beiträge zur Frage der spontanen Entstehung von Leben leisten würde. Félix Archimède Pouchet (1800–1872) hatte 1845 nachgewiesen, dass weibliche Tiere Eizellen unabhängig vom Kontakt mit Männchen produzieren. Er vertrat eine gemäßigte Variante der Spontanzeugung (zwar entstehen erwachsene Organismen nicht spontan, wohl aber ihre Eier). Pouchet wiederholte Pasteurs Experiment in den französischen Alpen mit dem Unterschied, dass er statt hefehaltigem Zuckerwasser einen Heuaufguss verwendete. In allen acht Fällen veränderte sich der Flascheninhalt, was so wirkte, als ob nur Sauerstoff nötig wäre, um Leben entstehen zu lassen. Als Pasteur verächtlich reagierte, verlangten Pouchet und seine Mitarbeiter eine Untersuchungskommission der Akademie, die 1864 zusammentrat, allerdings mit so vielen Pasteur-Sympathisanten besetzt war, dass ein faires Verfahren nicht gesichert war. Die Kommissionssitzungen zogen sich ergebnislos hin, während sich unter französischen Wissenschaftlern der Eindruck festsetzte, dass die Frage in Pasteurs Sinne entschieden sei. 1876 entdeckten jedoch Ferdinand Cohn und John Tyndall die Tatsache, dass bestimmte Mikroorganismen eine Phase mit Endosporen – die sogar kochendes Wasser überstehen – durchlaufen, was Pouchets Ergebnisse zum Teil erklären würde. Allerdings hatten Pouchet und seine Kollegen auch Mikroorganismen beschrieben, die definitiv nicht so entstanden sein können, wie Myzelien, verschiedene Bakterien und Amöben. Das spricht dafür, dass ihre Versuche auch auf eine andere Weise kontaminiert gewesen sein müssen. Anhänger der Spontanzeugung konnten immer noch einwenden, dass durch die Erhitzung eine „Lebenskraft“ oder eine andere wesentliche Voraussetzung für die spontane Entstehung von Leben zerstört werde. 1863 gelang es Pasteur, zwei Körperflüssigkeiten zu konservieren, ohne sie zu erhitzen: Urin und Blut. Er gewann sie direkt aus den Venen beziehungsweise der Harnblase von Tieren. Solange er sie nur keimfrei gemachter Luft aussetzte, veränderten sie sich nicht. Pasteur leistete damit einen wesentlich Beitrag zur Technik des aseptischen Arbeitens. 1877 wurde Pasteur erneut herausgefordert, diesmal von dem britischen Wissenschaftler Henry Charlton Bastian, der die spontane Entstehung von Leben in sterilem Urin beobachtet haben wollte. Diesmal war es Pasteur, der eine Untersuchungskommission der Akademie der Wissenschaften anregte. Obwohl Bastian sogar nach Paris reiste, trat die Kommission nie wie geplant zusammen und Bastian fuhr mit leeren Händen nach Hause zurück. Sein Protest führte allerdings dazu, dass Pasteurs Mitarbeiter Jules Joubert und Charles Chamberland sich die Frage noch einmal vornahmen und auf die erstaunliche Hitzeresistenz mancher Mikroorganismen stießen. Ein praktisches Ergebnis dieser Forschungen war der Autoklav. In einer unveröffentlichten Notiz von 1878 spekulierte Pasteur darüber, dass die spontane Entstehung von Leben doch möglich sein müsse, weil sie am Anfang des Lebens gestanden haben müsse. ==== Pasteurisierung ==== Nicolas Appert hatte bereits 1831 in seinem Buch Le livre de tous les ménages (deutsch: Das Buch aller Haushalte) eine Methode zur Haltbarmachung von Wein durch Erhitzen veröffentlicht, von der Pasteur später erklärte, dass sie ihm unbekannt gewesen sei. Diese Erklärung ist glaubhaft, weil Appert den Abschnitt erst in einer späteren Auflage hinzugefügt hatte. Das Konservierungsverfahren für flüssige Lebensmittel, das heute als Pasteurisierung bekannt ist, ergab sich aus Pasteurs Forschungsarbeiten zur Gärung. Dabei werden Lebensmittel auf eine Temperatur unterhalb von 100 °C erhitzt. Es handelt sich nicht um eine Sterilisation, da nur die meisten vegetativen Formen von Mikroorganismen, nicht aber ihre Sporen abgetötet werden. Allerdings erfasst die Pasteurisierung nahezu alle pathogenen Keime. 1867 wurde Pasteur für seine Methode, Wein durch Erhitzen zu konservieren, auf der Weltausstellung zu Paris mit dem Großen Preis ausgezeichnet. 1868 prüfte die Französische Marine den Prozess und übernahm ihn für die Flotte und zur Weinversorgung der Kolonien. Auch Essig ließ sich durch Erhitzen auf 55 °C konservieren, wie Pasteur zeigte. In Österreich und Deutschland wurde die Pasteurisierung von Flaschenbier bei 55 °C populär. Dagegen geht die Pasteurisierung von Milch und Milchprodukten nicht auf Pasteur zurück. Dieser hatte 1861 festgestellt, dass selbst Kochen bei 100 °C Milch nicht zuverlässig sterilisiert, was er auf ihre basische Natur zurückführte. Erst Franz von Soxhlet verwirklichte dann auch die Pasteurisierung von Milch. === Krankheiten der Seidenraupen: pébrine und flacherie === In einer Zeit ohne künstliche Textilfasern war die Seidenindustrie für Spanien, Frankreich und Italien von großer Bedeutung, sodass die Krankheiten der Seidenraupen schon früh von Forschern untersucht wurden. Agostino Bassi hatte für die muscardine bereits 1835 festgestellt, dass der Erreger ein Pilz war, und damit das erste Beispiel überhaupt für eine Infektionskrankheit geliefert. 1865 befand sich die französische Seidenindustrie in einer schwierigen Lage, weil in den vorangegangenen zwei Jahrzehnten die Produktion wegen einer Krankheit namens pébrine auf ein Sechstel geschrumpft war. In diesem Jahr beauftragte die französische Regierung Pasteur, diese Fleckenkrankheit zu untersuchen. Nach seiner eigenen Aussage hatte er zuvor noch nie mit Seidenraupen zu tun gehabt. Die Forschungsarbeiten zogen sich wegen einer Reihe von persönlichen Unglücken hin (Ende 1865 starb Pasteurs Vater; 1866 starb seine zweijährige Tochter; 1867 brachen Studentenunruhen an der Ecole Normale aus, die dort zu seiner Entlassung führten; 1868 erlitt er einen schweren Schlaganfall). Bei der von Microsporidien (in heutiger Nomenklatur: Nosema bombycis) verursachten Krankheit sind die Körper der Raupen von braunen, pfefferartigen Punkten – wovon sich der französische Name pébrine ableitet – übersät. Ihnen entsprechen winzige Kügelchen, die unter dem Mikroskop im Inneren der Raupen sichtbar werden. Nach langen vergeblichen Versuchen kam Pasteur auf die Idee, gesunde Seidenraupen mit Maulbeerblättern zu füttern, die mit den Ausscheidungen von kranken Raupen bestrichen waren. Tatsächlich starben die gefütterten Raupen, allerdings ohne die gefürchteten Punkte zu zeigen, sodass Pasteur den Versuch zunächst für gescheitert hielt. Erst als er ihn von seinem Assistenten Désiré Gernez an einem anderen Ort wiederholen ließ, war Pasteur überzeugt, dass die Punkte nicht nur ein Symptom, sondern Ursache der Krankheit waren. Sie enthielten lebende Krankheitserreger, die nicht aus dem Inneren der Raupen stammten – wie Pasteur ursprünglich angenommen hatte –, sondern von außen die Raupen infizierten. Der italienische Wissenschaftshistoriker Antonio Cadeddu hat darauf hingewiesen, dass praktisch alle Erkenntnisse Pasteurs schon von Antoine Béchamp – einem Kollegen Pasteurs aus Straßburger Tagen – vorweggenommen worden sind. Anders als man aufgrund von Pasteurs Vorgeschichte mit seinen Untersuchungen zur Gärung und Fäulnis annehmen sollte, hatte Pasteur anfangs nicht an eine Infektionskrankheit geglaubt. Dagegen hatte Antoine Béchamp bereits 1866 in einer Notiz an die Akademie der Wissenschaften die pébrine als Infektionskrankheit bezeichnet. Zu diesem Zeitpunkt verglich Pasteur die Punkte noch mit Krebszellen oder Lungen-Tuberkeln (der Charakter der Tuberkulose als Infektionskrankheit war damals noch unbekannt). Selbst 1867 hatte Pasteur die Hypothese einer Infektionskrankheit für die pébrine abgelehnt. In diesem Jahr reklamierte Béchamp seine Priorität in einem Brief an die Akademie der Wissenschaften. Pasteur erwähnte Béchamp in seiner großen Monografie „Studien zu den Krankheiten der Seidenraupen“ von 1870 mit keinem Wort, obwohl er sonst die Arbeiten seiner Vorgänger referierte. Béchamp hat später Pasteur des Plagiats beschuldigt: „Ich bin der Vorläufer von Pasteur, genau so wie der Bestohlene der Vorläufer eines neureichen, glücklichen und dreisten Diebes ist, der ihn verhöhnt und beleidigt.“Nachdem der Charakter der pébrine als Infektionskrankheit erkannt war, fand Pasteur heraus, dass sich ein Teil seiner widersprüchlichen Versuchsergebnisse dadurch erklären ließ, dass viele Raupen an einer zweiten Krankheit – der Schlaffsucht (französisch: flacherie oder morts-flats) – gelitten hatten. Die meisten Spezialisten hatten flacherie bis dahin für ein Stadium der pébrine gehalten. Pasteur fand einen vibrio, der sich in Fütterungsversuchen übertragen ließ und den er für den Erreger der Krankheit hielt. Auch im Falle der flacherie war Béchamp jedoch Pasteur zuvorgekommen und hatte als Krankheitserreger eine Mikrobe identifiziert, die er seinerseits Microzymas aglaiae nannte. Heute ist bekannt, dass es sich bei bestimmten Formen der flacherie um eine Viruskrankheit handelt, andere Formen durch starke Hitze hervorgerufen werden. Wahrscheinlich haben Pasteur (und Béchamp) damals Bacillus bombycis gesehen, eine bakterielle Sekundärinfektion infolge der Viruserkrankung.Die Vorbeugungsmaßnahmen, die Pasteur empfahl, waren unabhängig vom angenommenen Krankheitsmechanismus: Zu der Zeit, als Pasteur noch von einer konstitutionellen, vererbbaren Krankheit ausging, empfahl er ebenso wie später, als er an eine Infektionskrankheit glaubte, für die Brut nur Elterntiere zu verwenden, die nachweislich frei von dem Krankheitserreger waren. Folgt man den Angaben von Pasteur, so gelang es, die pébrine auszurotten, während ähnliche Versuche bei der flacherie scheiterten. Aber auch in Bezug auf die pébrine erfüllten sich Pasteurs Hoffnungen nicht, weil die Krankheitserreger noch andere Wirte als die Seidenraupen haben. Unabhängig von seinen Forschungsarbeiten ließ sich der Niedergang der französischen Seidenindustrie auch deswegen nicht aufhalten, weil die französische Seide Konkurrenz durch billigere orientalische Seide bekam. === Die Keimtheorie der Krankheit === In der älteren Literatur über Pasteur wird fast durchweg behauptet, dass die Fleckenkrankheit der Seidenraupen das erste Beispiel für eine Krankheit gewesen sei, bei der Mikroorganismen als Ursache entdeckt werden konnten. Dies ist falsch. Das erste Beispiel für eine Infektionskrankheit hatte Agostino Bassi bereits 1835 mit der muscardine der Seidenraupen geliefert. Sie wird von dem Pilz Beauveria bassiana – einem mehrzelligen Organismus – verursacht. Pasteur selbst erwähnte lobend Casimir Davaine, der 1863 nach künstlichen Übertragungen von Milzbrand mit dem Blut milzbrandkranker Tiere gezeigt hatte, dass der Milzbrand-Erreger die Krankheit Milzbrand verursacht, und damit zum ersten Mal eine Bakterie für eine Krankheit verantwortlich gemacht hatte. (Davaine war seinerseits durch die Lektüre von Pasteurs Arbeiten zur Buttersäuregärung angeregt worden.) Die von Pasteur untersuchten Krankheiten der Seidenraupen waren nur weitere Beispiele für ein Konzept, das sich zwar noch nicht durchgesetzt hatte, aber zunehmend glaubwürdiger wurde. Allerdings glaubte Pasteur, dass noch Zweifel geblieben waren, und untersuchte deswegen ebenfalls den Milzbrand-Erreger, dessen Entwicklungszyklus zu diesem Zeitpunkt jedoch schon weitgehend von Robert Koch aufgeklärt worden war. Pasteurs wichtigster Beitrag war hier der Hinweis auf die Rolle der Regenwürmer, die Milzbrand-Sporen aus begrabenen Tierkadavern wieder an die Erdoberfläche bringen. Daraus ergab sich der Ratschlag an Bauern, an Milzbrand verstorbene Tiere niemals in Boden zu vergraben, den sie als Weide vorgesehen hatten. Dank der Arbeiten Kochs, aber auch Pasteurs wurde Milzbrand zur ersten Krankheit von großen Nutztieren, die allgemein als Infektionskrankheit anerkannt wurde. 1878 hielt Pasteur einen Vortrag über die „Keimtheorie“. Hier machte er erstmals am Beispiel des Erregers der Sepsis (vibrion septique, heute Clostridium septicum; Pasteur ging zunächst davon aus, dass es nur diesen einen Erreger einer Sepsis gebe) die Beobachtung, dass beim selben Erreger Variationen der Virulenz vorkommen. Diese Erkenntnis war eine wichtige Voraussetzung für die Entwicklung seiner Impfstoffe. 1880 fasste Pasteur das Konzept der Infektionskrankheiten in dem großen Vortrag Über die Erweiterung der Keimtheorie auf die Ätiologie bestimmter allgemein verbreiteter Krankheiten vor der Akademie der Medizin zusammen. Hier führte er Furunkel, Osteomyelitis und Kindbettfieber auf die Tätigkeit von Mikroorganismen zurück, obwohl er für die ersten beiden Beispiele nur je einen einzigen Patienten untersucht hatte. Als Verursacher machte er eine Bakterie verantwortlich, die später Staphylokokkus genannt wurde. Pasteurs Terminologie schwankte zunächst zwischen Begriffen wie „Vibrionen“ oder „Infusorien“, bevor er einen Vorschlag des Chirurgen Charles Emmanuel Sédillot (1804–1883) unterstützte, sämtliche Mikroorganismen „Mikroben“ zu nennen. Hiervon leitete er den neuen Fachbegriff „Mikrobiologie“ ab, den er 1881 auf dem Internationalen Medizinkongress in London statt des deutschen Begriffs „Bakteriologie“ vorschlug. Dieser Begriff war tatsächlich angemessener, weil Pasteur nicht nur Bakterien, sondern auch Hefen und – im Falle der Tollwut – sogar Viren untersuchte. === Anregung zur Antisepsis === Joseph Lister hatte seine Anregung zur Antisepsis 1865 aus der Lektüre der Schriften Pasteurs über Gärungs- und Fäulnisprozesse erhalten, wie er Pasteur in einem Dankbrief bestätigte. Pasteur war auf diese Anerkennung stolz und ließ den Brief bei verschiedenen Gelegenheiten reproduzieren. Er selbst propagierte schon früh antiseptisches Arbeiten. So sagte er etwa 1874: „Hätte ich die Ehre, ein Chirurg zu sein, würde ich nie ein Instrument irgendeiner Art in den menschlichen Körper einführen, ohne es vor der Operation kochendem Wasser oder besser noch einer Flamme ausgesetzt und dann schnell abgekühlt zu haben.“ Persönlich entwickelte Pasteur eine derartige Angst vor Infektionen, dass er nur widerwillig Hände schüttelte und vor dem Essen sein Geschirr putzte.1877 beobachteten Pasteur und Joubert, dass eine Milzbrand-Infektion nicht angeht, wenn sie gleichzeitig andere Bakterien injizierten. Sie schienen Stoffe abzugeben, die die Milzbrand-Erreger töteten. Obwohl Pasteur die Hoffnung äußerte, aus dieser Entdeckung ein therapeutisches Prinzip zu entwickeln, wurde sie in ihrer Bedeutung erst 1939 verstanden, als René Dubos das erste Antibiotikum entdeckte, das von einem Bakterium produziert wird. === Vorbeugung gegen Infektionskrankheiten durch Impfung === ==== Der erste Impfstoff aus einem Labor: gegen Geflügelcholera ==== Vor den Arbeiten Pasteurs zur Geflügelcholera war die einzige bekannte Impfung in der Humanmedizin Edward Jenners Pockenschutzimpfung, das heißt, unter einer „Impfung“ wurde ein besonderes Verfahren zum Schutz vor Pocken verstanden. Ihre Funktionsweise war unklar. 1880 zeigte Pasteur am Beispiel der Geflügelcholera – die nichts mit der Cholera des Menschen zu tun hat –, dass man auch anderen Krankheiten durch eine Impfung vorbeugen kann. Pasteur erweiterte damit den Impfgedanken zu einem allgemeinen Prinzip. Bei Pasteurs erstem Impfstoff handelte es sich um einen Lebendimpfstoff aus abgeschwächten Erregern der Krankheit. Pasteur setzte also eine Impfung gegen eine Krankheit ein, von der bekannt war, dass sie durch einen Erreger verursacht wurde, der außerhalb eines lebenden Organismus kultiviert werden konnte. In fast allen Büchern über Pasteur wird der Hergang der Ereignisse in einer verklärten Form wiedergegeben, die zuerst von René Vallery-Radot geprägt worden ist. Demnach habe bei der Entwicklung des Impfstoffs ein glücklicher Zufall eine Rolle gespielt, als Pasteur auf eine alte Kultur des Erregers der Geflügelcholera aufmerksam geworden sei, die nicht fortlaufend kultiviert worden, sondern unverändert liegen geblieben war. Pasteur habe diese alte Kultur einigen Hühnern spritzen lassen, die daraufhin nicht erkrankt seien. Beim Spritzen einer neuen, frischen Kultur seien die Hühner weiterhin gesund geblieben. An dieser Erzählung fallen drei Elemente auf: der Zufall, die Zuspitzung auf ein Schlüsselexperiment und die geniale Beobachtungsgabe Pasteurs. Die Darstellung Vallery-Radots ist in fast alle späteren Bücher über Pasteur übernommen worden.Der italienische Wissenschaftshistoriker Antonio Cadeddu konnte durch das Studium der Labortagebücher Pasteurs (insbesondere „Heft 89“) nachweisen, dass die Ereignisse weniger dramatisch abgelaufen sind. Demnach war der Impfstoff das Ergebnis eines ausgedehnten Forschungsprogramms, das von Pasteurs Mitarbeiter Emile Roux unternommen worden war. Insbesondere war es nach einer Notiz, die Pasteur am 4. März 1880 angefertigt hat, Roux, der während eines Sommerurlaubs seines Chefs die alte Kultur zwei Hühnern gespritzt hatte. Diese Hühner hatten zwar überlebt, waren aber bei der wiederholten Injektion der alten Kultur gestorben. Das von Pasteurs Biografen René Vallery-Radot behauptete Schlüsselexperiment hat es also laut Cadeddu nie gegeben, die Idee zu dieser Art von Versuchen kam von Roux, der erste Versuch war erfolglos und auch weitere Versuche verliefen widersprüchlich.Hervé Bazin, emeritierter Medizinprofessor an der Universität Löwen, hat ebenfalls die Labortagebücher einer genauen Analyse unterzogen. Demnach begann Pasteur sein Forschungsprogramm mit dem festen Ziel, einen Impfstoff zu finden. Anfang 1879 unternahm er dazu zunächst Fütterungsversuche, suchte also nach einer Schluckimpfung. Auch die weiteren Experimente, die Roux vornahm, geschahen auf Anweisung von Pasteur. Als „Schlüsselexperiment“ bezeichnet Bazin einen Versuch vom 5. Januar 1880. In ihm wurden 12 Hühner mit einer frischen Kultur, 12 Hühner mit einer älteren, bereits sauer gewordenen Kultur und weitere 12 Hühner mit einer alten, ebenfalls sauer gewordenen Kultur infiziert. Nach acht Tagen hatten von den mit der älteren Kultur infizierten Hühnern vier überlebt, von der mit der alten Kultur infizierten Hühnern elf. Pasteur konnte also durch die Länge der Kulturpausen die Virulenz des Erregers steuern. Dass eine Kultur mit einem abgeschwächten Erreger sich als Impfstoff eignet, wies er in einem Versuch vom 23. Januar nach, als acht geimpfte Hühner nach Konfrontation mit dem virulenten Erreger gesund blieben. Typisch für Pasteur war die Voreiligkeit, mit der er an die wissenschaftliche Fachöffentlichkeit ging. Bereits am 22. Januar 1880 machte Pasteur eine vage Ankündigung auf einem veterinärmedizinischen Fachkongress. Am 9. Februar 1880 trug Pasteur über das Thema vor der Akademie der Wissenschaften und am folgenden Tag vor der Akademie der Medizin vor, konnte (laut Cadeddu) oder wollte (laut Bazin) aber noch nicht angeben, wie er den Impfstoff hergestellt hatte, sondern sprach nur von einer „gewissen Änderung in der Kulturweise“.Pasteurs Verhalten führte in der Akademie der Medizin zu einem Eklat, weil einige Mitglieder glaubten, Pasteur wolle absichtlich die Herstellungsmethode seines Impfstoffs verheimlichen. Der Alterspräsident der Akademie Jules Guérin protestierte scharf, worauf Pasteur in einem Briefentwurf bereits seine Mitgliedschaft in der Akademie kündigen wollte, den Brief aber nicht abschickte. Im Oktober kam es vor der versammelten Akademie zwischen Pasteur und Guérin zu einem wütenden Wortwechsel, der damit endete, dass Guérin Pasteur zum Duell forderte. Pasteur nahm die Herausforderung des 80-Jährigen jedoch nicht an. Erst am 26. Oktober 1880 sprach Pasteur die Vermutung aus, dass es der Sauerstoff gewesen war, der während der langen Kulturpausen die Krankheitserreger abgeschwächt hatte. („Abschwächung“ darf nicht so verstanden werden – wie es noch Pasteur tat –, dass der Erreger durch die Kulturbedingungen in seiner Virulenz abgeschwächt worden wäre, sondern durch die Kulturbedingungen wurden einzelne, von vornherein vorhandene, weniger virulente Erreger selektiert und konnten sich vermehren.) In der Praxis hatte der Impfstoff gegen Geflügelcholera starke Nebenwirkungen, die geimpften Tiere konnten unbemerkt die Krankheit weiterverbreiten, der Impfschutz hielt nur kurz vor, und der Impfstoff war teuer. Geflügelcholera wurde und wird aus diesen Gründen weiterhin durch Keulen der Bestände bekämpft. Seine Bedeutung ist wissenschaftshistorischer Art: Pasteurs Geflügelcholera-Impfstoff war das erste Beispiel für einen Impfstoff, der künstlich im Labor produziert und nicht – wie Jenners Pockenimpfstoff – der Natur entnommen worden war. ==== Veterinärmedizinische Impfstoffe gegen Milzbrand und Schweinerotlauf ==== Pasteur besaß ein heute eigentümlich wirkendes Verständnis von Immunität. Er betrachtete einen Körper als Kulturmedium für die Krankheitserreger, die nur so lange wachsen konnten, wie das Kulturmedium die dafür notwendigen Nährstoffe enthielt. Waren diese Nährstoffe erschöpft, konnten die Krankheitserreger nicht mehr wachsen, womit der Körper immun geworden war. Die abgeschwächten Erreger in einem Impfstoff vermittelten Immunität, indem sie die für sie notwendigen Nährstoffe aufbrauchten. Impfstoffe konnten in dieser Sicht grundsätzlich nur Lebendimpfstoffe sein. Nur vor diesem Hintergrund wird die Kontroverse um Pasteurs nächstes Projekt – einen Milzbrand-Impfstoff – verständlich. Als Sohn eines Gerbers muss Pasteur den Milzbrand – eine wichtige Berufskrankheit von Menschen, die mit tierischen Häuten umgehen – gekannt haben. Milzbrand war auch veterinärmedizinisch eine bedeutende Krankheit: Die jährlichen Verluste wurden für Frankreich auf 20 bis 30 Millionen Francs geschätzt. Wieder stellte Pasteur einen Impfstoff her – zumindest erweckte er diesen Anschein –, indem er Milzbrand-Bakterien längere Zeit dem Sauerstoff der Luft aussetzte. Am 28. Februar 1881 verkündete Pasteur vor der Akademie der Medizin, dass „nichts leichter“ sei, als Schafe, Kühe oder Pferde vor Milzbrand zu schützen, wie er es bereits mit großem Erfolg an Schafen bewiesen habe. Trotzdem reagierte er überrascht, als er – veranlasst von dem Tierarzt Hippolyte Rossignol – vom Landwirtschaftsverein von Melun (Société d’agriculture à Melun) zu einem öffentlichen Demonstrationsversuch herausgefordert wurde. Der Versuch auf Rossignols Hof in Pouilly-le-Fort (bei Melun, Département Seine-et-Marne) war weltweit der erste öffentliche Demonstrationsversuch eines im Labor entwickelten Impfstoffs. Von insgesamt 50 Schafen impften seine Mitarbeiter an zwei aufeinander folgenden Terminen 25, die übrigen 25 Tiere dienten als Kontrollgruppe. Zuletzt spritzten sie allen Schafen hochvirulente Milzbrand-Bakterien. Zwei Tage später, am 2. Juni 1881, traf Pasteur zum triumphalen Abschluss des Versuchs ein: Von den 25 geimpften Schafen waren 24 gesund geblieben und lediglich ein Mutterschaf – wahrscheinlich an einer anderen Ursache – erkrankt. Von den ungeimpften Tieren waren zu diesem Zeitpunkt 23 gestorben und die beiden übrigen Schafe dem Tod nahe. Zu den Zuschauern gehörte der Pariser Korrespondent der Londoner Times, der den Versuchsausgang international bekannt machte. Louis Pasteur hat die Zusammensetzung des in Pouilly-le-Fort verwendeten Impfstoffs nie veröffentlicht, erweckte aber den Eindruck, dass er ihn genauso wie seinen ersten Impfstoff gegen Geflügelcholera hergestellt hätte: als einen durch Sauerstoff abgeschwächten Lebendimpfstoff. Diese Darstellung ist – mit Ausnahme der zunächst wenig beachteten Erinnerungen seines Neffen Adrien Loir – von den gängigen Pasteur-Biografen übernommen worden. Loir schrieb dagegen 1937, dass Pasteur den Impfstoff für Pouilly-le-Fort mit Kaliumdichromat habe versetzen lassen. Dieser Impfstoff sei von Chamberland und Roux hergestellt worden. Die Wissenschaftshistoriker Antonio Cadeddu und Gerald L. Geison haben unabhängig voneinander durch Auswertung von Pasteurs Labortagebüchern (in diesem Fall „Heft 91“) nachgewiesen, dass Loirs Darstellung tatsächlich zutrifft. Heikel wird dieses Ergebnis dadurch, dass Pasteur und seine Mitarbeiter damit auf ein Verfahren zurückgriffen, das von Pasteurs Konkurrenten Henry Toussaint entwickelt worden war (Toussaint hatte zuvor Pasteurs Forschungen zur Geflügelcholera ermöglicht, indem er ihm eine Kultur des erst kurz zuvor entdeckten Erregers überlassen hatte). Anders als Pasteur verfolgte Toussaint das Konzept eines Totimpfstoffs, für den er die Bakterien durch Hitze oder Chemikalien abtötete. 1880 hatte er einen Milzbrand-Impfstoff aus erregerhaltigem Blut erprobt, für den er in einer Variante die Bakterien mit Phenol versetzt, in einer anderen Variante die Bakterien mit Hitze abgetötet hatte. Geison konnte anhand von Pasteurs Labortagebüchern und privater Briefe zeigen, wie groß Pasteurs Irritation war, als dieser erfuhr, dass Toussaints Konzept eines Totimpfstoffes funktionierte, während sein eigener Impfstoff noch unbefriedigende Resultate lieferte. „Dies stellt alle Vorstellungen, die ich über Krankheitserreger oder Impfstoffe hatte, auf den Kopf. Ich verstehe nichts mehr“, schrieb er an seinen Kollegen aus der Akademie der Medizin, den Veterinärmediziner Henri Bouley. Pasteur veranlasste sofort, dass seine Mitarbeiter die Versuche Toussaints wiederholten. Sie erhitzten erregerhaltiges Blut zehn Minuten lang auf 55 °C, fanden aber noch lebensfähige, wenn auch abgeschwächte Bakterien, wie es ins Impfstoff-Konzept von Pasteur passte.Roux hatte aber auch das Toussaintsche Verfahren mit Phenol und in einer Abwandlung mit Kaliumdichromat erprobt. Erst zwei Jahre später veröffentlichten Roux und Chamberland diese Methode ohne jeglichen Hinweis darauf, dass sie in Pouilly-le-Fort zum Einsatz gekommen war. Durch die Ergebnisse von Pouilly-le-Fort galt Pasteur in der Öffentlichkeit als eindeutiger Sieger im Wettlauf um einen Milzbrand-Impfstoff. Obwohl Toussaints Lehrer Auguste Chauveau 1882 noch einmal auf die Priorität seines Schülers hinwies, geriet Toussaints Name bald in Vergessenheit. Geison hat Pasteurs Verhalten in diesem Fall als Wissenschaftsbetrug gewertet.Allein schon der Umstand, dass Pasteur seine Labortagebücher nicht vernichtet hat, lässt jedoch daran zweifeln, dass er Wissenschaftsbetrug beabsichtigte. Zu einer anderen Einschätzung als Geison kommt Hervé Bazin. Pasteurs Irritation rührte demnach aus seiner Überraschung, dass in Person von Henry Toussaint so schnell ein Konkurrent auf dem Feld der Impfstoff-Entwicklung aufgetaucht war, obwohl er in seinem Vortrag vom 9. Februar 1880 bewusst vage geblieben war. Auch Bazin gesteht die Priorität für den Milzbrand-Impfstoff Toussaint zu. (Außer Toussaint kommt allerdings noch der Brite William Greenfield in Frage, der nach dem Vorbild der Pockenschutzimpfung Rinder mit Milzbrand-Erregern aus Nagetieren impfte.) Pasteurs Impfstoff sei jedoch objektiv überlegen gewesen, weil Toussaint kein Kulturverfahren für Milzbrand-Bakterien besaß und deswegen als Grundlage für den Impfstoff auf das Blut infizierter Tiere zurückgreifen musste. Die Qualität von Toussaints Impfstoff wechselte aus diesem Grund stark, während Pasteur einen stabilen Impfstoff garantieren konnte. Toussaint revidierte später unter nicht ganz klaren Umständen die Interpretation seines Impfstoffs als Totimpfstoff und erklärte öffentlich, dass er die Bakterien wohl nur abgeschwächt, aber nicht abgetötet habe. Pasteur sah also keine Notwendigkeit, aufgrund der Toussaintschen Versuche seine eigenen Vorstellungen von der Funktionsweise eines Impfstoffs zu revidieren. Zum Zeitpunkt des Versuchs von Pouilly-le-Fort hatte Pasteur mehrere verschiedene Impfstofftypen für die Milzbrand-Schutzimpfung in der Entwicklung (mit Hitze und Sauerstoff bzw. mit Kaliumdichromat abgeschwächt), sodass es nach Ansicht von Bazin vernünftig erscheine, wenn er sich öffentlich noch nicht auf ein Verfahren festlegen wollte. Pasteur habe Toussaint nicht plagiiert. Cadeddu hat noch auf ein mögliches Motiv für Chamberland und Roux hingewiesen, sich mit Kaliumdichromat zu beschäftigen. Pasteur war es bis zum Versuch von Pouilly-le-Fort nicht gelungen, durch Aussetzen an Sauerstoff sporenfreie Kulturen des Milzbrand-Erregers zu erzeugen. Mit Kaliumdichromat gelang es dagegen Chamberland und Roux, sporenfreie Kulturen herzustellen, die für die Impfstoffproduktion geeignet und gleichzeitig durch die Chemikalie abgeschwächt worden waren. ===== Die Ursprünge der Impfstoff-Industrie ===== Noch 1881 bot Pasteur dem französischen Staat an, eine staatliche Fabrik für Milzbrand-Impfstoff aufzubauen, wenn er im Gegenzug aller materieller Sorgen enthoben würde. Der französische Staat lehnte damals ab, sodass Pasteur den Impfstoff weiter in seinem Labor produzierte. Die Nachfrage war jedoch bald so groß, dass Pasteur und seine Mitarbeiter in industrielle Dimensionen vorstießen. Für die Produktion wurde ein eigenes Labor unter der Leitung von Charles Chamberland in der rue Vauquelin eingerichtet. Eine eigens gegründete Firma, die Société de Vulgarisation du Vaccin Charbonneux, später umbenannt in Société du Vaccin Charbonneux Pasteur, übernahm den Vertrieb. Die Zahl der verkauften Impfstoffdosen (eine vollständige Impfung erforderte zwei Dosen) nahm steil zu: 1881 – noch im Jahr des Versuchs von Pouilly-le-Fort – wurden 164.000 Dosen verschickt, 1882 bereits 700.000, 1885 900.000. Dabei kam es 1882 laborintern zu einer schweren Krise, weil sich der Impfstoff nicht als so stabil wie erhofft herausstellte, was zahlreiche weitere Versuche und die Einführung einer strikten Qualitätskontrolle erforderte. Nach französischem Recht war es nicht möglich, Impfstoffe patentieren zu lassen, aber der Produktionsprozess war so kompliziert, dass das Unternehmen über viele Jahre ein Monopol wahren konnte. Der Verkaufspreis für eine Impfstoffdosis betrug 2,50 Francs. Zwei Fünftel des Gewinns standen Pasteur zu, je ein Fünftel Chamberland und Roux, das letzte Fünftel wurde einer Rücklage zugeführt. Anfangs wurde ein Impfstoff produziert, der mit Kaliumdichromat abgeschwächt worden war. Er wurde durch einen Impfstoff ersetzt, den Pasteur nach seinem eigenen Verfahren entwickelt hatte: Bei ihm wurden die Bakterien dem Sauerstoff der Luft ausgesetzt – allerdings bei einer genau einzuhaltenden Temperatur von 42 bis 43 °C (bei dieser Temperatur entwickelten die von Pasteur verwendeten Milzbrand-Bakterien keine Sporen). Innerhalb von acht Tagen verloren die Bakterien so ihre Virulenz vollständig. Wurde der Prozess früher abgebrochen, so konnte jeder beliebige Grad von Virulenz eingestellt werden und laut Pasteur auch beliebig lange konserviert werden. ===== Die Kontroverse mit Koch ===== Mit seinen Studien zum Milzbrand hatte sich Pasteur auf ein Gebiet begeben, das von Robert Koch seit seinen Forschungen in Wollstein und Berlin beherrscht wurde. 1877 erkannte Pasteur die Leistungen Kochs (und Davaines) an. Andererseits beanspruchte er aber auch wiederholt, die bakteriellen Endosporen zuerst entdeckt zu haben, und zitierte dafür seine Arbeiten über die flacherie. In seinen Augen hatte Koch also nur eine Entdeckung bestätigt, die er zuvor gemacht hatte. 1881 enthielt der erste Band der „Mittheilungen aus dem Kaiserlichen Gesundheitsamte“ mehrere Artikel von Robert Koch und seinen Schülern, in denen sie die Pasteurschen Milzbrandversuche in zahlreichen Punkten angriffen: Die Pasteurschen Milzbrandimpfstoffe seien mit anderen Bakterien kontaminiert, Pasteur habe zahlreiche Krankheiten miteinander verwechselt, er habe Prioritätsansprüche von Koch missachtet, und Regenwürmer spielten nicht die von Pasteur behauptete Rolle im Lebenszyklus des Milzbrand-Erregers.Als Pasteur 1881 auf dem Internationalen Medizinkongress in London Koch traf, war er sich dieses Angriffs anscheinend noch nicht bewusst, und er lobte Kochs feste Kulturmedien als großen Fortschritt. 1882, auf dem Internationalen Kongress für Hygiene und Demographie in Genf, griff er dagegen die Koch-Schule scharf an. Koch verzichtete auf eine Erwiderung und versprach, schriftlich zu reagieren, was er auch tat. In dieser Veröffentlichung lobte er plötzlich das Konzept der Impfstoffe aus abgeschwächten Krankheitserregern, sprach jedoch die Priorität Toussaint zu. Nach wie vor hielt er die Pasteurschen Impfstoffe für unsauber. Pasteur antwortete 1882 wiederum in einem sarkastisch gehaltenen offenen Brief. Bei der Heftigkeit der Auseinandersetzung muss der Altersunterschied – Koch war 21 Jahre jünger – und der teilweise unverschämte Ton, den Koch anschlug, berücksichtigt werden. ===== Ein Impfstoff gegen Schweinerotlauf ===== Pasteur entwickelte noch einen Impfstoff gegen eine weitere veterinärmedizinisch bedeutende Krankheit, den Schweinerotlauf. (Der Erreger, der heute Erysipelothrix rhusiopathiae genannt wird, war 1882 von seinem Mitarbeiter Louis Thuillier isoliert worden.) Hierfür setzte er erstmals eine neuartige Methode der Abschwächung ein, indem er den Erreger fortlaufend von Kaninchen zu Kaninchen übertrug. Der Impfstoff gegen Schweinerotlauf war wirtschaftlich – abgesehen von Ungarn – kein großer Erfolg. ==== Pasteurs erster humanmedizinischer Impfstoff: eine Therapie für Tollwut ==== Pasteur zögerte lange, Impfstoffe an Menschen anzuwenden, sodass Jaime Ferrán ihm 1885 mit einer Schutzimpfung gegen Cholera zuvorkam. Dessen Impfstoff aus Cholerabakterien war nach der Pockenschutzimpfung der erste Menschen verabreichte Impfstoff; ob er wirksam war, ist unter Medizinhistorikern umstritten. Pasteur arbeitete an seinem ersten humanmedizinischen Impfstoff ab 1881. Dafür wählte er eine auf den ersten Blick ungewöhnliche Krankheit, die Tollwut. Da Viren im modernen Sinne des Wortes noch unbekannt waren, gab es hier keine sichtbaren Krankheitserreger, mit denen er hätte experimentieren können. Tollwut war humanmedizinisch unbedeutend, jedoch wegen des grausamen Todes gefürchtet: Durchschnittlich starben in Frankreich pro Jahr etwa 30 Menschen daran. Pasteurs Wahl wird häufig auf ein Kindheitserlebnis von 1831 zurückgeführt, als in seiner Heimatstadt Arbois mehrere Menschen von einem tollwütigen Wolf gebissen worden waren. Der achtjährige Louis Pasteur beobachtete damals die traditionelle Behandlung – Ausbrennen der Bisswunde mit einem glühenden Eisen durch den Dorfschmied –, was er für den Rest des Lebens nicht mehr vergessen haben soll. Tollwut hatte den experimentellen Vorteil, dass die Krankheit bei Menschen und Tieren vorkam, sodass Hunde als Versuchstiere benutzt werden konnten. Die Inkubationszeit betrug ein bis zwei Monate, was Zeit für eine Intervention durch Impfung ließ. Außerdem etablierte Pasteur als Versuchstier das Kaninchen, das gegenüber dem Hund eine nur etwa halb so lange Inkubationszeit aufwies und sich erheblich sicherer handhaben ließ. Kaninchen waren aus diesen Gründen bereits von Pierre Victor Galtier, Professor an der Tierarzneischule von Lyon, vorgeschlagen worden. Auch hatte Galtier 1881 einen Tollwut-Impfstoff an Schafen erprobt, wofür er – analog zur Pockenschutzimpfung – den Wild-Erreger selbst übertragen hatte und nicht einen künstlich im Labor abgeschwächten Erreger. Da Galtier seine Ergebnisse in den „Abhandlungen der Akademie der Wissenschaften“ publizierte, muss Pasteur Kenntnis von seinen Arbeiten gehabt haben. Allerdings erwähnte er ihn nur ein einziges Mal, und auch das nur, um ihn zu kritisieren.Pasteur entwickelte zunächst eine Methode, den Tollwut-Erreger durch aufeinander folgende Übertragungen auf Affen abzuschwächen; als Maß der Abschwächung diente die Inkubationszeit. Bis 1884 hatte er auf diese Weise einen Impfstoff entwickelt, der Hunde vor einer Infektion durch Tollwut schützte, was er sich durch eine Kommission des Unterrichtsministers bestätigen ließ. Allerdings waren bei diesen Versuchen die Hunde immer erst geimpft und dann mit dem Krankheitserreger infiziert worden. Der Wissenschaftshistoriker Gerald L. Geison hat als Erster anhand der Labortagebücher von Pasteur nachgewiesen, dass Pasteurs Arbeitsgruppe diesen Impfstoff an zwei Menschen erprobt hat, ohne dass die Öffentlichkeit je davon erfuhr. Im ersten Fall erhielt ein Mann namens Girard am 2. Mai 1885 eine einzige Injektion, bevor das übergeordnete Ministerium reagierte und Pasteur jede weitere Behandlung untersagte. In seinem Labortagebuch – das für diesen Fall die einzige Quelle ist – verfolgte Pasteur das weitere Schicksal Girards, der nach einer schweren Krise wieder genas, nur bis zum 25. Mai. Er selbst zeigte sich überzeugt, dass Girard aufgrund der einmaligen Behandlung genesen war, angesichts der langen Inkubationszeit kann aber tatsächlich nicht beurteilt werden, ob der Patient nicht doch später an Tollwut erkrankte. Im zweiten Fall – für den es außer Pasteurs Labortagebuch auch noch einen Augenzeugenbericht des behandelnden Arztes gibt – war ein elfjähriges Mädchen namens Antoinette Poughon erst sechs Wochen nach der Infektion, als es bereits die ersten Symptome zeigte, in die Behandlung gekommen. Es starb, nachdem es zwei Spritzen erhalten hatte. Verwunderlich ist hier vor allem, dass Pasteur bei diesem offensichtlich aussichtslosen Fall überhaupt eine Therapie versuchte. Für die hier angewandte Reihenfolge – Impfung nach einer bereits erfolgten Tollwut-Infektion – hatte Pasteur bis dahin mit einer kleinen Ausnahme keinen Tierversuch unternommen. Nur ein einziges Mal hatte er versucht, ein bereits tollwütiges Kaninchen mit einer Serie von Impfungen zu heilen; das Kaninchen war aber gestorben. Hätte die Öffentlichkeit von diesen vorausgegangenen Therapieversuchen erfahren, hätte sie wahrscheinlich längst nicht so enthusiastisch auf die angebliche oder tatsächliche Heilung des jungen Joseph Meister reagiert, die Pasteur am 26. Oktober 1885 bekannt gab. Die Nachricht erzeugte eine Sensation. Aus aller Welt strömten von vermeintlich tollwütigen Tieren gebissene Menschen nach Paris, und ein gutes Jahr später waren allein dort bereits 2500 Patienten behandelt worden. Nach Pasteurs eigenen Angaben werden nur 10 Prozent der von tollwütigen Hunden gebissenen Menschen tatsächlich infiziert. Die „Heilung“ von Joseph Meister war also keinesfalls ein Beleg für die Wirksamkeit des Impfstoffs, auch wenn sie von der Öffentlichkeit so verstanden wurde. Erst die statistische Auswertung einer großen Zahl von Fällen ergab zweifelsfrei, dass Pasteurs Tollwut-Impfstoff tatsächlich wirksam war. Nach den gescheiterten bzw. unklaren Ergebnissen in den ersten beiden Therapieversuchen hatte Pasteur für die Herstellung „eine andere Methode“ – wie er sie schlicht in seinem Labortagebuch nennt – verwendet. Der bei Meister eingesetzte Impfstoff bestand aus dem emulgierten Rückenmark – das zwei Wochen lang an der Luft getrocknet hatte – eines an Tollwut verstorbenen Kaninchens. Pasteur behauptete, dass er den Impfstoff an 50 Hunden erprobt hätte und in allen Fällen erfolgreich gewesen sei. Tatsächlich belegen die Labortagebücher, dass zu der speziellen Methode, mit der Joseph Meister behandelt worden war, die Tierexperimente noch nicht abgeschlossen waren. Meister erhielt eine Serie von 13 Injektionen, wobei Pasteur zunehmend frischeres Rückenmark mit zunehmend virulenteren Tollwut-Erregern verwendete. Von Pasteur nie öffentlich anerkannt wurde der Anteil seines wichtigsten Mitarbeiters am Tollwut-Impfstoff Emile Roux. Wie sich ebenfalls erst aus den Erinnerungen von Adrien Loir ergab, hatte Roux das Verfahren entwickelt, das Rückenmark eines tollwütigen Tiers an einem Faden hängend in einer Flasche aufzubewahren und auf diese Weise das Rückenmark zu trocknen, ohne dass es verfaulte (Pasteur verbesserte noch die Methode, indem er Kaliumhydroxid als Trocknungsmittel hinzufügte). Roux war 1883 zum Dr. med. promoviert worden, weil Pasteur selbst als Nicht-Mediziner keine Menschen behandeln durfte, und hätte eigentlich die Impfungen vornehmen sollen. Im konkreten Fall des Joseph Meister scheint Roux sich geweigert zu haben, einen Menschen mit einem Impfstoff zu behandeln, den er persönlich noch nicht für ausgereift hielt, sodass Pasteur die Hilfe anderer Ärzte in Anspruch nehmen musste. Etwas anders bewertet Hervé Bazin das Geschehen. Er kann nachweisen, dass Pasteur das Trocknungsverfahren für erregerhaltiges Rückenmark schon vor dem Zeitpunkt verwendet hatte, an dem er es nach Angaben von Loir von Roux kopiert haben soll. Aber auch laut Bazin weigerte sich Roux, die Veröffentlichung vom 26. Oktober 1885 zu unterzeichnen, weil er die Anwendung am Menschen für voreilig hielt.Insgesamt hat Pasteur vier verschiedene Impfstoffe entwickelt und damit nachgewiesen, dass man – zumindest im Prinzip – fortan vor beliebigen Infektionskrankheiten durch eine Impfung schützen konnte. Auch wenn die Umstände bis heute umstritten sind, hat Pasteur in allen Fällen am Ende ein wirksames Produkt geschaffen. === Das Institut Pasteur === Durch den spektakulären Erfolg der „Heilung“ von Joseph Meister traf eine Flut von Spenden ein. Der für die Gründung eines Institut Pasteur aufgelegte Fonds schwoll auf 2,6 Millionen Francs an. Am 14. November 1888 wurde es in Anwesenheit von Präsident Sadi Carnot eingeweiht, Pasteur sein erster Direktor. Von seinem Status her war das Institut Pasteur eine private Institution, die Leiter der fünf Sektionen sowie Pasteur selbst erhielten ihr Gehalt jedoch weiterhin vom Staat.Um Spenden war mit dem Motiv geworben worden, ein Zentrum der Tollwutschutzimpfung zu schaffen, doch das Institut Pasteur war von Anfang weit mehr: das erste Forschungsinstitut für Medizinische Mikrobiologie. Sein Vorbild wurde in aller Welt kopiert, so mit dem 1891 gegründeten Preußischen Institut für Infektionskrankheiten in Berlin, dem Lister-Institut von 1891 in London, dem Gamaleya-Institut von 1891 in Moskau und dem Kitasato-Institut in Tokio, das auf einen Vorläufer von 1892 zurückgeht. Die Institutionalisierung der Mikrobiologie drückte sich auch in Fachzeitschriften aus, darunter die 1887 von Emile Duclaux gegründeten Annales de l’Institut Pasteur. Ebenso entstanden in aller Welt Tollwut-Impfdienste, die häufig zum Keim eines weiteren Institut Pasteur wurden. In Russland, wo Tollwut ein großes Problem war, wurde bereits ab 1886 in Odessa gegen Tollwut geimpft. Weitere Institute entstanden in St. Petersburg, Moskau, Samara und Warschau. Ebenfalls schon 1886 öffnete ein Tollwut-Impfdienst in New York, aber auch zum Beispiel 1891 unter Albert Calmette in Saigon und 1893 in Tunis. Heute tragen mehr als 100 medizinische Institute und Wissenschaftszentren den Namen Louis Pasteurs, häufig auch ohne dass sie unmittelbar mit dem Institut Pasteur zu tun haben. === Pasteurs Wissenschaftsstil === Es ist häufig festgestellt worden, dass bei den Arbeiten von Pasteur eine strikte Trennung zwischen Grundlagenforschung und angewandter Forschung nicht möglich ist. Pasteur bearbeitete mit großem Elan anwendungsbezogene Probleme und stieß dabei regelmäßig zu Erkenntnissen von grundsätzlicher Bedeutung vor. Seine Karriere war von Kontroversen begleitet, wobei zu berücksichtigen ist, dass die Diskussionskultur im Wissenschaftsbetrieb des 19. Jahrhunderts generell stärker von Polemik geprägt war als heute. Er behauptete zwar, Kritik gegenüber offen zu sein, reagierte aber, wenn er tatsächlich kritisiert wurde, empfindlich. Seine Methode der Beweisführung hatte eine starke rhetorische Komponente. So veranstaltete er öffentliche Demonstrationen von Experimenten, um einen Sachverhalt zu belegen, und verlangte nach Untersuchungskommissionen, um einen wissenschaftlichen Streit zu entscheiden. Auf die Auswahl der Kommissionsmitglieder nahm er allerdings Einfluss, sodass für seinen wissenschaftlichen Gegner kein faires Urteil gesichert war. Wissenschaftler der Tierarzneischule von Turin, mit denen Pasteur über die Frage der Wirksamkeit des Milzbrand-Impfstoffs in Konflikt geraten war, verglichen Pasteur mit einem „Duellanten, der jeden herausfordert, der ihm zu widersprechen wagt oder ihn auch nur scharf anschaut, der aber die Gewohnheit hat, sich die Wahl der Waffen vorzubehalten, und seine Gegner verpflichtet, mit gebundenen Händen zu kämpfen“. === Die Labortagebücher === Als Reaktion auf ein für ihn unangenehmes Erlebnis bat Pasteur 1878 seine Familie, seine Labortagebücher nie jemandem zu zeigen. Nach dem Tod des Physiologen Claude Bernard hatte einer von dessen Schülern Notizen veröffentlicht, wonach Bernard an Pasteurs Theorie zur Gärung gezweifelt habe. Dies zwang Pasteur dazu, gegen den eigentlich von ihm verehrten Bernard öffentlich Stellung zu beziehen. Um nicht selbst eine ähnliche Situation zu provozieren, verhängte er das Veröffentlichungsverbot über seine Labortagebücher.1964 übergab Louis Pasteur Vallery-Radot – damals der letzte überlebende der direkten männlichen Nachkommen – die Labortagebücher der Französischen Nationalbibliothek. Sie wurden mit dem Tod von Pasteur Vallery-Radot im Jahre 1971 zugänglich, allerdings erst mit dem Katalog von 1985 praktisch nutzbar. Insgesamt bestehen sie aus 144 Notizbüchern, von denen 42 mit Zeitungsausschnitten, Vorlesungsnotizen etc. gefüllt sind. Die übrigen 102 Notizbücher sind die eigentlichen Labortagebücher und dokumentieren 40 Jahre Forschungsarbeit.Anlässlich des 100. Todestages von Pasteur 1995 veröffentlichte der US-amerikanische Wissenschaftshistoriker Gerald L. Geison das Buch The Private Science of Louis Pasteur, in dem er anhand der Labortagebücher nachwies, dass die Geschichte von Pasteurs Versuchen in einigen Fällen anders abgelaufen ist, als seine Veröffentlichungen nahelegen. Das Buch verursachte in Frankreich, obwohl es nie übersetzt wurde, einen Skandal. Eine ähnliche Stoßrichtung haben die Veröffentlichungen des Italieners Antonio Cadeddu. Die Debatte wird nach wie vor von der nationalen Herkunft bestimmt: Während die Kritiker aus dem Ausland kommen, wird Pasteur von Franzosen wie Patrice Debré und Hervé Bazin in Schutz genommen. == Ehrungen == 1883 wurde Pasteur in die American Academy of Arts and Sciences und die National Academy of Sciences gewählt. 1887 wurde das Institut Pasteur gegründet. Im ersten Gebäude des Instituts wohnte Pasteur in seinen letzten Lebensjahren (ab 1888). In einem Teil dieses Gebäudes ist seit 1936 das Musée Pasteur eingerichtet. Weitere Museen existieren in seinen ehemaligen Wohnhäusern in Dole und Arbois (siehe Maison de Louis Pasteur). Zahlreiche Denkmale sind zu seiner Ehre errichtet worden. Zeitweise galt Pasteur in französischen Umfragen noch vor Napoleon als der bedeutendste Franzose, der je gelebt hat. Er ist einer der 23 ursprünglichen Namen auf dem Fries der London School of Hygiene and Tropical Medicine, die Personen aufführen, die sich um öffentliche Gesundheit und Tropenmedizin verdient gemacht haben. Während sein Andenken in Deutschland zurückhaltend gepflegt wurde, war Pasteur vor allem auch in Russland und im Osmanischen Reich populär. Zar Alexander III. gehörte mit einem Beitrag von 100.000 Francs zu den großzügigsten Spendern für das Institut Pasteur. Zahlreiche russische Wissenschaftler kamen nach Paris, unter ihnen der künftige Nobelpreisträger Ilja Metschnikow, in dessen Sektion am Institut Pasteur sich zeitweise eine russische Kolonie bildete. Der osmanische Sultan Abdülhamid II. verlieh Pasteur für seine Verdienste am 8. Juni 1886 den Mecidiye-Orden erster Klasse. Angesichts einer Seuche im Jahr 1893 in Istanbul hatte der Sultan Louis Pasteur um Hilfe gebeten, der jedoch seinen Kollegen André Chantemesse schickte, der die Seuche als Cholera-Epidemie identifizierte (Aufgrund Chantemesses Bericht, der auch zur Errichtung einer neuen medizinischen Ausbildungsstätte riet, entstand die Idee zur Gründung der Hadaypaşa Medizin-Fakultät).Nach Pasteur benannt ist die Bakterienfamilie der Pasteurellaceae mit der Gattung Pasteurella. Die von Pasteurella multocida verursachten Krankheiten werden als „Pasteurellosen“ bezeichnet. Auch der Asteroid (4804) Pasteur trägt seinen Namen, ebenso der Mondkrater Pasteur und der Marskrater Pasteur.Nach Pasteur wurde sein Collège in Arbois, ein Ort in Algerien sowie ein Bezirk in Kanada benannt. Mehr als 2000 Straßen Frankreichs tragen seinen Namen, darunter der Boulevard Pasteur, eine große Verkehrsader von Paris. Die Métro fährt dort die Station Pasteur an. Ihm zu Ehren tragen auch die Pasteur-Halbinsel und die Pasteur-Insel in der Antarktis seinen Namen. Nach ihm benannt wurde außerdem das 1939 in Dienst gestellte Passagierschiff Pasteur. Die ebenfalls nach ihm benannte Louis-Pasteur-Medaille ist eine renommierte wissenschaftliche Ehrung für Mediziner. Sie wurde vor 2009 von der Louis-Pasteur-Universität Straßburg verliehen. == Literatur == === Schriften von Louis Pasteur === Pasteur Vallery-Radot (Hrsg.): Œuvres de Pasteur. Masson, Paris Band 1: Dissymétrie moléculaire. 1922. Band 2: Fermentations et générations dites spontanées. 1922. Band 3: Études sur le vinaigre et sur le vin. 1924. Band 4: Études sur la maladie des vers à soie. 1926. Band 5: Etudes sur la bière. 1928. Band 6: Maladies virulentes, virus-vaccins et prophylaxie de la rage. 1933. Band 7: Mélanges scientifiques et littéraires. 1939. (enthält ein mustergültiges Stichwortverzeichnis zum Gesamtwerk)Pasteur Vallery-Radot (Hrsg.): Correspondance de Pasteur. Flammarion, Paris. Band 1: Lettres de jeunesse. L’Étape de la cristallographie 1840–1857. 1946. Band 2: La seconde étape. Fermentations, générations spontanées, maladies des vins, des vers à soie, de la bière 1857–1877. 1951. Band 3: L’Étape des maladies virulentes. Virus-vaccins du choléra des poules, du charbon, du rouget, de la rage 1877–1884. 1951. Band 4: L’Étape des maladies virulentes (suite). Vaccination de l’homme contre la rage. Dernières années 1885–1895. 1951.Ein Bestandteil des wissenschaftlichen Werks sind auch Pasteurs Labortagebücher. === Biografien === Maßgeblich und bis heute die Diskussion bestimmend, wenn auch der Autor nicht den Anspruch erhebt, eine vollständige Biografie zu liefern, ist Gerald L. Geison: The Private Science of Louis Pasteur. Princeton University Press, Princeton 1995. Französisch René Vallery-Radot: M. Pasteur. Histoire d’un savant par un ignorant. J. Hetzel, Paris 1883. (englische Übersetzung 1885)(Anfangs anonym erschienenes Werk geschrieben vom Schwiegersohn Pasteurs, der ihm auch als Sekretär diente. Große Teile dieses Buchs sind unter der direkten Aufsicht Pasteurs entstanden und können damit als inoffizielle „Autobiografie“ gelten.)Émile Duclaux: Pasteur. Histoire d’un esprit. Charaire, Sceaux 1896. (englische Übersetzung 1920, 1973 wieder aufgelegt)(Duclaux war ein enger Mitarbeiter Pasteurs und später der erste Direktor des Institut Pasteur)René Vallery-Radot: La vie de Pasteur. 2 Bände. Paris, Flammarion 1900. (englische Übersetzung 1902, 1975 wieder aufgelegt; deutsche Übersetzung 1948)(Wichtige Quelle zum Leben Pasteurs, jedoch wissenschaftlich unzuverlässig. Es begründete zusammen mit Duclaux’ Buch den Geniekult um Pasteur, wurde in zahlreiche Sprachen übersetzt und immer wieder aufgelegt.)Émile Roux: L’Œuvre médicale de Pasteur. In: Centième anniversaire de la naissance de Pasteur. 27 décembre 1922. Hachette, Paris 1922. Le laboratoire de Monsíeur Pasteur. In: Centième anniversaire de la naissance de Pasteur. 27 décembre 1922. Hachette, Paris 1922. Élie Metchnikoff: Trois fondateurs de la médecine moderne: Pasteur, Lister, Koch. Alcan, Paris 1933. (englische Übersetzung 1939, 1971 wieder aufgelegt) Adrien Loir: A l’ombre de Pasteur. Souvenirs personnels. Le Mouvement Sanitaire, Paris 1938.(Der Autor war Neffe und ein gelegentlicher Assistent von Pasteur. Er gibt in wichtigen Punkten eine von den üblichen Pasteur-Biografien abweichende Darstellung, die sich nach Auswertung der Labortagebücher in der Regel als richtig herausgestellt hat.)Patrice Debré: Louis Pasteur. Flammarion, Paris 1994. (englische Übersetzung 1998) Françoise Balibar (Hrsg.): Pasteur. Cahiers d’un savant. CNRS, Paris 1995. Pierre-Yves Laurioz: Louis Pasteur. La réalité après la légende. Éditions de Paris, Paris 2003. Antonio Cadeddu: Les vérités de la science. Pratique, récit, histoire: le cas Pasteur. Leo S. Olschki, Florenz 2005.(Vom selben Autor auf Italienisch: Dal mito alla storia. Biologia e medicina in Pasteur. Franco Angeli, Mailand 1991.)Englisch René J. Dubos: Louis Pasteur. Free Lance of Science. Little, Brown and Company, Boston 1950. (französische Übersetzung 1955, 1976 wieder aufgelegt) René J. Dubos: Pasteur and modern science. Doubleday, Garden City (New York) 1960. (1988 wieder aufgelegt; deutsche Übersetzung 1960) Gerald L. Geison: Pasteur, Louis. In: Charles Coulston Gillispie (Hrsg.): Dictionary of Scientific Biography. Band 10: S. G. Navashin – W. Piso. Charles Scribner’s Sons, New York 1974, S. 350–416 (auch heute noch lesenswerte Darstellung, jedoch noch ohne Berücksichtigung der Labortagebücher). Bruno Latour: The Pasteurization of France. Cambridge, Massachusetts/London 1988. (Übersetzung des französischen Originals von 1984)Deutsch Werner Köhler: Pasteur, Louis. In: Werner E. Gerabek, Bernhard D. Haage, Gundolf Keil, Wolfgang Wegner (Hrsg.): Enzyklopädie Medizingeschichte. De Gruyter, Berlin/New York 2005, ISBN 3-11-015714-4, S. 1110–1112. Paul de Kruif: Louis Pasteur. Mikroben als Gefahr! und Pasteur und der tolle Hund. In: Paul de Kruif: Mikrobenjäger. (Originalausgabe: Microbe Hunters. Harcourt, Brace & Co., New York 1926) Orell Füssli Verlag, Zürich/Leipzig 1927; 8. Auflage ebenda 1940, S. 59–101 und 138–174. === Sekundärliteratur zu Einzelaspekten === Zur Kontroverse mit Antoine Béchamp: Keith L. Manchester: Antoine Béchamp: père de la biologie. Oui ou non? In: Endeavour. Band 25, Nr. 2, 2001, S. 68–73. Zu Pasteurs Impfstoffen: Hervé Bazin: L’Histoire des vaccinations. John Libbey Eurotext, Paris 2008, S. 135–282.(detaillierte Re-Analyse der Entstehungsgeschichte von Pasteurs Impfstoffen auf der Grundlage von Pasteurs Labortagebüchern, die ausführlich zitiert werden)Zur Entstehung der Schutzimpfung gegen Geflügelcholera: Antonio Caddedu: Pasteur et le choléra des poules. Révision critique d’un récit historique. In: History and philosophy of the life sciences. Band 7, Nr. 1, 1985, S. 87–104. Zur Keimtheorie: K. Codell Carter: The development of Pasteur’s concept of disease causation and the emergence of specific causes in Nineteenth-Century medicine. In: Bulletin of the History of Medicine. Band 65, Nr. 4, 1991, S. 528–548. Zur Kontroverse mit Robert Koch: K. Codell Carter: The Koch-Pasteur Dispute On Establishing the Cause of Anthrax. In: Bulletin of the History of Medicine. Band 62, Nr. 1, 1988, S. 42–57. Zur Kontroverse mit Robert Koch: Annick Perrot, Maxime Schwartz: Robert Koch und Louis Pasteur – Duell zweier Giganten. Theiss, Darmstadt 2015. Zur Entstehung der Milzbrand-Schutzimpfung: Antonio Caddedu: Pasteur et le vaccination contre le charbon. Une analyse historique et critique. In: History and philosophy of the life sciences. Band 9, Nr. 2, 1987, S. 255–276. Zur Entstehung einer Impfstoff-Industrie aus der Milzbrand-Schutzimpfung: Maurice Cassier: Producing, Controlling, and Stabilizing Pasteur’s Anthrax Vaccine. Creating a New Industry and a Health Market. In: Science in Context. Band 21, Nr. 2, 2008, S. 253–278. doi:10.1017/S0269889708001713 Zum Pasteur-Effekt: Efraim Racker: History of the Pasteur effect and its pathobiology. In: Molecular and Cellular Biochemistry. Band 5, Nr. 1–2, 1974, S. 17–23. doi:10.1007/BF01874168 Zur Kontroverse mit Félix-Archimède Pouchet: Nils Roll-Hansen: Experimental Method and Spontaneous Generation. The Controversy between Pasteur and Pouchet, 1859–64. In: Journal of the History of Medicine and Allied Sciences. Band 34, Nr. 3, 1979, S. 273–292. === Film === The Story of Louis Pasteur (deutsch: Louis Pasteur). Regie: William Dieterle. USA 1936. Mit einem Oscar für Paul Muni in der Rolle als Pasteur. Pasteur & Koch: Un duel de géants dans la guerre des microbes (deutsch: Koch und Pasteur – Duell im Reich der Mikroben), Regie: Mathieu Schwartz, Frankreich 2018. == Weblinks == Literatur von und über Louis Pasteur im Katalog der Deutschen Nationalbibliothek Deutschsprachige Webseite des Pasteur-Museums in Dole Webseite des Pasteur-Museums im Pariser Institut Pasteur (französisch) Webseite des Pasteur-Hauses in Arbois (französisch) Kurzbiografie und Werkliste der Académie française (französisch) Zeitungsartikel über Louis Pasteur in den Historischen Pressearchiven der ZBW Informationen zu und akademischer Stammbaum von Louis Pasteur bei academictree.org == Einzelnachweise ==
https://de.wikipedia.org/wiki/Louis_Pasteur
Komet
= Komet = Ein Komet oder Schweifstern ist ein kleiner Himmelskörper von meist einigen Kilometern Durchmesser, der in den sonnennahen Teilen seiner Bahn eine durch Ausgasen erzeugte Koma und meist auch einen leuchtenden Schweif (Lichtspur) entwickelt. Der Name kommt von altgriechisch (ἀστὴρ) κομήτης (astḗr) komētḗs („Haarstern“), abgeleitet von κόμη kómē („Haupthaar, Mähne“).Kometen sind wie Asteroiden Überreste der Entstehung des Sonnensystems und bestehen aus Eis, Staub und lockerem Gestein. Sie bildeten sich in den äußeren, kalten Bereichen des Sonnensystems (überwiegend jenseits der Neptunbahn), wo die reichlichen Wasserstoff- und Kohlenstoff-Verbindungen zu Eis kondensierten. In Sonnennähe ist der meist nur wenige Kilometer große Kometenkern von einer diffusen, nebeligen Hülle umgeben, die Koma genannt wird und eine Ausdehnung von 2 bis 3 Millionen Kilometern erreichen kann. Kern und Koma zusammen nennt man auch den Kopf des Kometen. Das auffälligste Kennzeichen der von der Erde aus sichtbaren Kometen ist jedoch der Schweif. Er bildet sich erst ab einer Sonnenentfernung unter 2 AE, kann aber bei großen und sonnennahen Objekten eine Länge von mehreren 100 Millionen Kilometern erreichen. Meistens sind es aber nur einige zehn Millionen Kilometer. Die Zahl neu entdeckter Kometen lag bis in die 1990er Jahre bei etwa zehn pro Jahr und stieg seither durch automatische Suchprogramme und Weltraumteleskope merklich an. Die meisten der neuen Kometen und der schon bei früheren Umläufen beobachteten sind aber nur im Fernrohr sichtbar. Mit Annäherung an die Sonne beginnen sie stärker zu leuchten, doch lässt sich die Entwicklung von Helligkeit und Schweif nicht genau voraussagen. Wirklich eindrucksvolle Erscheinungen gibt es nur etwa zehn pro Jahrhundert. == Geschichte der Kometenforschung == Schon in der Frühzeit erregten Kometen großes Interesse, weil sie plötzlich auftauchen und sich völlig anders als andere Himmelskörper verhalten. Im Altertum und bis zum Mittelalter wurden sie deshalb häufig als Schicksalsboten oder Zeichen der Götter angesehen. In der Antike kam es bei der Beobachtung einer Konjunktion mit bloßem Auge scheinbar zu einer Verschmelzung von einem Planeten mit einem Stern, die von Aristoteles in seiner Schrift „Meteorologica“ im Jahr 350 v. Chr. erwähnt wird und als mögliche Ursache für die Entstehung von Kometen angesehen wurde. Es handelt sich offenbar um ein zirka zehn Jahre vor der Niederschrift in Griechenland in den Morgenstunden am östlichen Horizont zu sehendes Ereignis, bei der der kleinste Winkelabstand zwischen dem ekliptiknahen Stern Wasat und dem Planeten Jupiter im Sternbild Zwillinge nur rund 20 Bogenminuten betrug. Aufgrund der Tatsache, dass bei diesem Ereignis kein Komet entstanden war, schloss Aristoteles solche Ereignisse als Ursache für das Erscheinen von Kometen aus. Aristoteles und Ptolemäus hielten Kometen daher für Ausdünstungen der Erdatmosphäre. Nach Diodor von Sizilien (1. Jahrhundert v. Chr.) konnten schon die Babylonier oder Chaldäer Kometen beobachten und ihre Wiederkehr berechnen. Pythagoras von Samos, dessen Lehren von ägyptischem und persischem Wissen beeinflusst waren, lehrte nach einer Legende: Kometen seien Himmelskörper, die eine geschlossene Kreisbahn hätten, also in regelmäßigen Zeitintervallen wieder sichtbar würden. Dem römischen Autor Seneca zufolge war man in den antiken Großreichen enttäuscht, wenn Kometen nicht wiederkehrten, Vorhersagen darüber sich also als falsch erwiesen. Erst Regiomontanus erkannte in den Kometen selbständige Himmelskörper und versuchte 1472, eine Bahn zu vermessen. Die älteste gedruckte Kometenschrift ist wahrscheinlich der 1472 in Beromünster und 1474 in Venedig erschienene Tractatus de Cometis des im unterfränkischen Goßmannsdorf bei Hofheim geborenen Zürcher Stadtarztes Eberhard Schleusinger, dessen Werk die Grundlage für Johannes Lichtenbergers Pronosticatio darstellt. Als Beginn der wissenschaftlichen Kometenforschung kann die Erkenntnis Tycho Brahes gelten, dass sie keine Erscheinungen der Erdatmosphäre sind. Denn er stellte beim Kometen von 1577 fest, dass er mindestens 230 Erdradien entfernt sein müsse. Es dauerte jedoch noch viele Jahrzehnte, bis sich diese Annahme durchsetzen konnte, und selbst Galilei widersprach ihr noch. Edmond Halley gelang es 1682, den in diesem Jahr auftauchenden Schweifstern als periodisch wiederkehrenden Himmelskörper nachzuweisen. Der auch 1607, 1531 und 1456 beobachtete Komet bewegt sich auf einer langgestreckten Ellipse in 76 Jahren um die Sonne. Heutzutage werden im Mittel 20–30 Kometen pro Jahr entdeckt. Der Wissensstand über Kometen um die Mitte des 19. Jahrhunderts ist Scheffels humorvollem Lied Der Komet zu entnehmen: „Selbst Humboldt, der Greis von forschender Kraft, …: ‚Es füllt der Komet, viel dünner denn Schaum, Mit allerkleinster Masse den allergrößten Raum??‘“ == Übersicht == === Charakterisierung === Kometen werden auf Grund ihres Erscheinungsintervalls in aperiodische Kometen und periodische Kometen unterschieden. Letztere werden nach ihren Umlaufzeiten in langperiodische und kurzperiodische Kometen eingeteilt. ==== Aperiodische Kometen ==== Kometen, die – auf Grund ihrer parabolischen oder hyperbolischen Bahn – sicher nicht wiederkehren, oder Einzelbeobachtungen, über die mangels genauer Bahnbestimmung – noch – keine Aussage getroffen werden kann. ==== Periodische Kometen ==== Kometen, deren Wiederkehr anhand ihrer Bahnelemente gesichert ist, die also auf einer – zumindest für einen gewissen Zeitraum – stabilen Umlaufbahn die Sonne umkreisen. Langperiodische Kometen mit einer Umlaufzeit von mehr als 200 Jahren kommen vermutlich aus der Oortschen Wolke, ihre Bahnneigungen sind statistisch verteilt und sie umlaufen die Sonne sowohl im gleichen Umlaufsinn wie die Planeten (prograd) als auch in Gegenrichtung zu den Planetenbahnen (retrograd). Die Exzentrizitäten ihrer Bahnen liegen nahe bei 1 – die Kometen sind in der Regel aber noch durch die Schwerkraft an die Sonne gebunden, obwohl sie für ihren Umlauf bis zu 100 Millionen Jahre benötigen. Exzentrizitäten größer als 1 (Hyperbelbahnen) sind selten und werden vor allem durch Bahnstörungen beim Passieren der großen Planeten hervorgerufen. Diese Kometen kehren dann theoretisch nicht mehr in Sonnennähe zurück, sondern verlassen das Sonnensystem. Im Außenbereich des Planetensystems reichen jedoch schon geringe Kräfte, um die Bahn wieder elliptisch zu machen. Kurzperiodische Kometen mit Umlaufzeiten kleiner als 200 Jahre stammen vermutlich aus dem Kuipergürtel. Sie bewegen sich meist im üblichen Umlaufsinn und ihre Inklination liegt im Mittel bei etwa 20°, sie liegen also in der Nähe der Ekliptik. Bei mehr als der Hälfte der kurzperiodischen Kometen liegt der größte Sonnenabstand (Aphel) in der Nähe der Jupiterbahn bei 5 und 6 Astronomischen Einheiten (Jupiter-Familie). Es handelt sich dabei um ursprünglich längerperiodische Kometen, deren Bahn durch den Einfluss der Gravitation des Jupiter verändert wurde. === Benennung === Neu entdeckte Kometen erhalten von der Internationalen Astronomischen Union zuerst einen Namen, der sich aus dem Entdeckungsjahr und einem großen Buchstaben zusammensetzt, der beginnend mit A am 1. Januar und B am 16. Januar im Halbmonatsrhythmus (bis Y am 16. Dezember, der Buchstabe I wird übersprungen) nach dem Zeitpunkt der Entdeckung festgelegt ist. Zusätzlich kommt noch eine Zahl, damit man mehrere Kometen im halben Monat unterscheiden kann. Sobald die Bahnelemente des Kometen genauer bestimmt sind, wird dem Namen nach der folgenden Systematik ein weiterer Buchstabe vorangestellt: Der Komet Hyakutake zum Beispiel wird auch unter der Bezeichnung C/1996 B2 geführt. Hyakutake war also der zweite Komet, der in der zweiten Hälfte des Januars 1996 entdeckt wurde. Seine Umlaufzeit ist größer als 200 Jahre. Üblicherweise wird ein Komet zusätzlich nach seinen Entdeckern benannt, so wird zum Beispiel D/1993 F2 auch unter der Bezeichnung Shoemaker-Levy 9 geführt – es handelt sich hierbei um den neunten Kometen, den Eugene und Carolyn Shoemaker zusammen mit David H. Levy entdeckt haben. === Kometenbahnen === Da bei neu entdeckten Kometen nur kurze Bahnbögen beobachtet wurden, werden zuerst parabolische Bahnen berechnet. Da eine Parabel jedoch nur ein mathematischer Grenzfall ist und in der Natur nicht als solche vorkommen kann (jede noch so winzige Störung macht daraus eine Ellipse oder eine Hyperbel), laufen Kometen, deren Bahnexzentrizität mit e = 1,0 (Parabel) angegeben wird, in Wahrheit entweder auf Ellipsen (e < 1,0) oder auf Hyperbeln (e > 1,0). Bei längerer Beobachtung und der Gewinnung zusätzlicher astrometrischer Positionen kann dann entschieden werden, ob es sich um Ellipsen oder Hyperbeln handelt. Von zirka 660 untersuchten Kometen zeigt sich folgende Verteilung: 43 % Parabeln, 25 % langperiodische Ellipsen (Umlaufszeit über 200 Jahre), 17 % kurzperiodische Ellipsen (Umlaufszeit bis zu 200 Jahre) und 15 % Hyperbeln. Der hohe Anteil an Parabeln ist jedoch auf den zu kurzen Beobachtungszeitraum vieler Kometenerscheinungen zurückzuführen, bei denen langgestreckte Ellipsen nicht von einer Parabel unterschieden werden können. Bei einer längeren Sichtbarkeit von 240 bis 500 Tagen beschreiben nur noch 3 % der Kometen vermutlich eine Parabelbahn. Somit dürften die Ellipsen vorherrschend sein. Da viele Meteorschwärme vom Material früherer oder aktiver Kometen kommen, untersucht die Meteorastronomie mit Hilfe der Bahnbestimmung u. a. den Zusammenhang von Meteoren und Kometen. === Entdeckung und Beobachtung von Kometen === Während bis 1900 etwa 5 bis 10 neue Kometen pro Jahr entdeckt wurden, ist diese Zahl inzwischen auf über 20 angestiegen. Wesentlich sind daran automatische Himmels-Durchmusterungen und Beobachtungen von Raumsonden beteiligt. Doch gibt es auch Amateurastronomen, die sich auf Kometensuche spezialisiert haben, insbesondere in Japan und Australien. Am erfolgreichsten war dabei der Neuseeländer William Bradfield mit 17 Entdeckungen zwischen 1972 und 1995, die alle nach ihm benannt wurden. Er suchte systematisch am Dämmerungshimmel bis zu 90° Sonnenabstand und wandte dafür jährlich etwa 100 Stunden auf. Für visuelle Beobachtungen eignen sich lichtstarke Feldstecher oder ein spezieller Kometensucher. Wichtig ist eine schwache Vergrößerung bei hoher Lichtstärke, damit die relativ geringe Flächenhelligkeit des Kometen (ähnlich wie bei Nebelbeobachtungen) erhalten bleibt. Die Austrittspupille soll daher jener des dunkeladaptierten Auges (etwa 7 mm) entsprechen. Fotografisch benutzt man heute meist Kameras mit hochempfindlichen CCD-Sensoren. Bei Detailfotografien (etwa von der Struktur des Kometenschweifs) wird die Kamera nicht den Sternen nachgeführt, sondern mittels genäherter Bahnberechnung dem Kometen selbst. Die meisten sind bei ihrer Entdeckung noch im äußeren Sonnensystem und erscheinen nur wie ein diffuses Sternchen von 15. bis 20. Magnitude. === Raumsonden zu Kometen === Die folgende Tabelle enthält einige Kometen, die von Raumsonden besucht wurden oder deren Besuch geplant ist: Zum Vergleich: Juni 2018 nähert sich die Sonde Hayabusa 2 dem Asteroiden Ryugu auf wenige Kilometer an. Der etwa 3–10 m große Asteroid 2023 BU wurde am 21. Januar von Borisov von der Krim aus entdeckt und kam nach 6 Erdumdrehungen am 27. Januar 2023 der Erde im Bereich der Südspitze Südamerikas beim Vorbeiflug bis auf 3.600 km nahe, so nah wie bisher kein anderer Asteroid. == Aufbau == === Kern === In großer Entfernung von der Sonne bestehen Kometen nur aus dem Kern, der im Wesentlichen aus zu Eis erstarrtem Wasser, Trockeneis (CO2), CO-Eis, Methan und Ammoniak mit Beimengungen aus meteoritenähnlichen kleinen Staub- und Mineralienteilchen (zum Beispiel Silikate, Nickeleisen) besteht. Man bezeichnet Kometen deshalb häufig als schmutzige Schneebälle (oder dirty snowballs). Die Beobachtungen der Deep-Impact-Mission haben gezeigt, dass (zumindest in den Außenbereichen des Kerns des untersuchten Kometen Tempel 1) die festen Bestandteile gegenüber den flüchtigen Elementen überwiegen, so dass die Bezeichnung snowy dirtball (eisiger Schmutzball) zutreffender erscheint. Aus Beobachtungen der Raumsonde Giotto am Kometen Halley weiß man, dass Kometen von einer schwarzen Kruste umgeben sind, die nur zirka 4 % des Lichts reflektiert (Albedo) – obwohl Kometen als spektakuläre Leuchterscheinungen beobachtet werden, sind ihre Kerne somit interessanterweise die schwärzesten Objekte des Sonnensystems, wesentlich dunkler als zum Beispiel Asphalt, der ca. 7 % des Lichts reflektiert. Da nur kleine Regionen des Kerns ausgasen, wie im Abschnitt Koma näher erläutert wird, geht man nach neueren Vorstellungen davon aus, dass die Oberfläche von einer Art Gesteinsschutt gebildet wird, der aus Gesteinsbrocken besteht, die zu schwer sind, um die gravitative Anziehung des Kerns zu überwinden. Giotto entdeckte auch winzige Partikel, die reich an den Elementen Kohlenstoff (C), Wasserstoff (H), Sauerstoff (O) und Stickstoff (N) sind und deswegen auch CHON-Partikel genannt werden. Diese könnten aus einer dünnen Rußschicht stammen, die die Oberfläche des Kerns überzieht, was die niedrige Albedo erklären würde. Nähere Informationen soll die aktuelle Rosettamission liefern. Einen besonderen Anteil an der Erklärung des Aufbaus der Kometen hatte Fred Whipple, der 1950 erstmals Kometenkerne als Konglomerate aus Eis und festen Bestandteilen beschrieb. === Koma === Sobald ein Komet bei der Annäherung an die Sonne in einem Abstand von etwa 5 AE ungefähr die Jupiterbahn kreuzt, bildet die Wechselwirkung zwischen Sonnenwind und Komet eine schalenförmige Koma, die in Kernnähe auch strahlenartige Strukturen zeigt. Sie entsteht durch Sublimation leicht flüchtiger Substanzen auf der sonnenzugewandten Seite, die ins Eis eingebettete Staubteilchen mitreißen. Nach den Beobachtungen der Sonde Giotto findet diese Sublimation nur an etwa 10 bis 15 % der Kometenoberfläche statt, die flüchtigen Substanzen entweichen offenbar nur an brüchigen Stellen der schwarzen Kruste. Die an diesen Stellen entweichenden Muttermoleküle bilden die innere Koma. Durch weitere Aufheizung, Ionisation und Dissoziation vergrößert sich die Koma weiter und bildet die schließlich sichtbare Koma aus Ionen und Radikalen. Sie wird noch von einem im Ultravioletten strahlenden atomaren Wasserstoffhalo umgeben, der auch UV-Koma genannt wird und beim Kometen Hale-Bopp 1997 einen Durchmesser von 150 Millionen Kilometern erreichte. Da die Ozonschicht für die UV-Strahlung undurchlässig ist, kann die UV-Koma nur von außerhalb der Erdatmosphäre untersucht werden. === Schweif === Die Bestandteile der Koma werden durch Strahlungsdruck und Sonnenwind „weggeblasen“, so dass sich etwa innerhalb der Marsbahn ein Schweif ausbildet, oder exakter zwei Schweife: Ein schmaler, lang gestreckter Schweif (Typ-I-Schweif), der im Wesentlichen aus Molekülionen besteht und auch Plasmaschweif genannt wird. Für diese Teilchen reicht der Strahlungsdruck als Erklärung nicht aus, sodass Ludwig Biermann 1951 eine von der Sonne ausgehende Partikelstrahlung, die heute Sonnenwind genannt wird, als Erklärung hierfür postulierte. Heute geht man davon aus, dass die kometaren Ionen durch eine Wechselwirkung mit dem solaren Magnetfeld angetrieben werden, das von den geladenen Teilchen des Sonnenwinds mitgeführt wird. Ein diffuser, gekrümmter Schweif (Typ-II-Schweif), der auch Staubschweif genannt wird. Die kleinen Staubteilchen, die diesen Schweif bilden, werden durch den Strahlungsdruck der Sonne beeinflusst, dessen Wirkung durch eine Aufspaltung in zwei Komponenten erklärt werden kann: Eine radiale Komponente, die der Gravitationskraft entgegengerichtet ist und wie diese quadratisch mit der Entfernung zur Sonne abnimmt. Dies wirkt wie eine effektive Abnahme der solaren Gravitationskraft, die Staubteilchen bewegen sich deshalb auf „Pseudo-Keplerbahnen“, die sich für Staubteilchen verschiedener Größe unterscheiden, da die Kraft durch den Strahlungsdruck von der Teilchengröße abhängig ist. Dies führt zu einer relativ starken Auffächerung des Staubschweifs im Vergleich zum Plasmaschweif. Die andere wirksame Komponente des Strahlungsdruckes ist der Bewegungsrichtung der Staubteilchen entgegengerichtet und führt zu einer Abbremsung der Teilchen, die größer als die Wellenlänge des Lichtes sind, das heißt, größer als etwa 0,5 µm. Diese Teilchen bewegen sich langfristig genauso wie der sonstige interplanetare Staub auf Spiralbahnen Richtung Sonne (Poynting-Robertson-Effekt). Sehr selten, bei besonderen Bahnkonstellationen, ist ein Gegenschweif (Typ-III Schweif, Antischweif) sichtbar. Hierbei handelt es sich jedoch nicht um einen eigenständigen Schweif, sondern nur um einen geometrischen Projektionseffekt: Wenn sich die Erde zwischen Sonne und Komet hindurchbewegt, ragt ein Teil des Staubschweifs, bedingt durch seine Krümmung, scheinbar über den Kometenkopf hinaus.Der Materialverlust eines Kometen wurde bei „neuen“ Kometen, die das erste Mal in Sonnennähe kommen, auf etwa 10 bis 50 Tonnen pro Sekunde geschätzt, nach mehrfacher Sonnenannäherung sinkt der Masseverlust auf weniger als 0,1 t/s. Diese geringen Materiemengen von maximal 0,03 bis 0,2 Prozent der Kometenmasse pro Sonnendurchgang bedeuten, dass die Schweife nur eine sehr geringe Dichte aufweisen. Die enorme Helligkeit der Schweife erklärt sich im Falle des Staubschweifs durch die große Oberfläche der mikroskopisch kleinen Staubteilchen, im Plasmaschweif trägt sogar jedes Atom bzw. Molekül zur Leuchtkraft bei. Dies führt im Vergleich zur Größe des Kometenkerns zu einer Erhöhung der Leuchtkraft um viele Größenordnungen. == Entstehung und Auflösung == Kometen sind die Überreste aus der Entstehung des Sonnensystems (primordiale Objekte) – und nicht jüngere Fragmente, die aus späteren Kollisionen anderer, größerer Himmelskörper entstanden sind.Der hohe Anteil an leicht flüchtigen Substanzen in den Kometenkernen, wie zum Beispiel Wasser und Kohlenmonoxid, und die Entdeckung von Clathraten bedeutet, dass sie in äußerst kalten Umgebungen (< 100 K) und damit im äußeren Bereich des Sonnensystems entstanden sein müssen. Die meisten Planetesimale im Bereich der äußeren Planeten wurden in der Frühzeit des Sonnensystems wohl von den vier Gasriesen aufgesammelt. Durch die auf die übrigen Teilchen wirkenden Bahnstörungen wurden viele von ihnen so stark gestreut, dass sie das Sonnensystem verließen. Man vermutet, dass etwa 10 Prozent dieser gestreuten Körper die weit entfernte Oortsche Wolke bildeten. Die näheren, aber jenseits der Neptunbahn kreisenden Objekte unterlagen diesem Streuprozess weniger und bildeten den Kuipergürtel.Die Oortsche Wolke und teilweise der Kuipergürtel sind das Reservoir der meisten Kometen, deren Zahl im Milliardenbereich liegen könnte. Da langperiodische Kometen bei ihrer Durchquerung des inneren Bereichs des Sonnensystems von den großen Planeten, vor allem durch Jupiter, stark gestreut werden, sind sie nur für wenige Durchgänge als ehemalige Mitglieder der Oortschen Wolke identifizierbar. Es ist also ein Mechanismus notwendig, der die heute noch sichtbaren Kometen aus ihren sonnenfernen Bahnen in Sonnennähe bringt. Für die kurzperiodischen Kometen aus dem Kuipergürtel vermutet man hierfür Kollisionen originärer Kuipergürtelobjekte, wodurch Bruchstücke ins Innere des Sonnensystems gelangen. Der Streuprozess langperiodischer Kometen ist noch nicht bekannt. Schwache Gezeiteneffekte naher Sterne oder die Gravitation größerer transneptunischer Objekte können allmähliche Bahnänderungen bewirken und die fernen, kalten Kometenkerne in eine langgestreckte Bahn zur Sonne hin ablenken, was alljährlich zur Entdeckung neuer Kometen führt. Manche verschwinden später auf Nimmerwiedersehen, andere bleiben auf periodischen Umlaufbahnen. Es wird allerdings auch der Einfluss vorbeiziehender Sterne oder noch nicht entdeckter Planeten (Planet X) oder die inzwischen widerlegte Idee eines Begleitsterns der Sonne (Nemesis) als Ursache diskutiert.Wenn die in das innere Sonnensystem eintretenden Kometen viel Eis enthalten und sie nahe zur Sonne geraten, können manche auch freiäugig sichtbar werden – wie es sehr ausgeprägt bei Ikeya-Seki (1965) oder Hale-Bopp (1997) der Fall war. Doch verlieren Kometen mit jedem Umlauf um die Sonne einen kleinen Teil ihrer Masse, vor allem flüchtige Bestandteile der äußeren Schicht des Kerns. Je näher das Perihel der Bahn an der Sonne liegt, desto heftiger ist dieser Prozess, weil das Eis rascher sublimiert und durch das Ausgasen des Gesteins auch größere Teilchen mitgerissen werden. Daher ist der Kometenkern nach einigen tausend Sonnenumläufen kaum noch als solcher zu erkennen. Diese Zeitspanne ist deutlich kürzer als das Alter des Sonnensystems. Durch das Verdampfen des Eises verliert das Gestein des Kerns seinen Zusammenhalt und der Komet löst sich allmählich auf. Dies kann durch Teilung (wie beim Kometen Biela 1833), durch Jupiters Einfluss (Shoemaker-Levy 9 1994) oder durch allmähliche Verteilung der Teilchen längs ihrer ursprünglichen Bahn erfolgen. Letztes ist die Ursache der meisten Sternschnuppenschwärme. == Verschiedenes == === Abgrenzung zu anderen Himmelskörpern === Die Unterscheidung zwischen Asteroiden und Kometen ist nicht immer ganz eindeutig. Man vermutet, dass einige der als Asteroiden klassifizierten Objekte mit stark elliptischen Bahnen, zum Beispiel die Zentauren, „ausgebrannte“ Kometenkerne sind, die von einer dicken Schicht nichtflüchtiger Substanzen bedeckt sind. Andererseits wird das ursprünglich als Asteroid (2060) Chiron eingestufte Objekt seit der Entdeckung einer Koma als Komet klassifiziert und gemäß der Kometennomenklatur 95P/Chiron genannt. Heute wird der Begriff Komet sowohl im populärwissenschaftlichen als auch im wissenschaftlichen Sprachgebrauch entgegen seiner ursprünglichen Definition oft für alle vermutlich eisigen Kleinplaneten verwendet. Beispiele hierfür sind die Objekte des Kuipergürtels und der Oortschen Wolke, die zwar leichtflüchtige Substanzen enthalten, aber aufgrund ihrer Entfernung von der Sonne niemals stark genug erwärmt werden, um eine Koma zu bilden. Von solchen Objekten wird aber angenommen, dass ihr Aufbau eher den Kometenkernen gleicht als den Asteroiden aus dem Asteroidengürtel, aber erst bei Periheldistanzen innerhalb der Jupiterbahn die Sonnenstrahlung stark genug ist, durch einen Sublimationsprozess eine Koma zu bilden. === Meteorströme und Meteoriten === Die Teilchen des Staubschweifs verteilen sich entlang der Kometenbahn um die Sonne. Wie Giovanni Schiaparelli gezeigt hat, treten Meteorströme auf, wenn die Erde diese Bahn kreuzt. Die bekanntesten Meteorströme sind die Leoniden und die Perseiden. Diese Ströme sind als Sternschnuppen leicht beobachtbar. Meist verglüht das Kometenmaterial beim Durchflug durch die Erdatmosphäre, und so wurden bisher noch keine Meteoriten entdeckt, die zweifelsfrei von Kometen stammen. Für einige sehr seltene Meteoritentypen, wie zum Beispiel die CI-Chondriten, wurde zwar eine Verbindung zu Kometen vorgeschlagen, ein Beweis konnte allerdings bisher noch nicht erbracht werden. Auch Mikrometeoriten stammen überwiegend aus dem Asteroidengürtel, obwohl auch hier eine kometare Komponente diskutiert wird. Die direkte Untersuchung von Kometenmaterial ist jedoch für das Verständnis der Entstehung unseres Sonnensystem von großer Bedeutung, so dass komplexe Raumfahrtmissionen mit Raumsonden wie Deep Impact oder Rosetta durchgeführt werden, die das Kometenmaterial vor Ort untersuchen. Durch die Stardust-Mission ist es erstmals gelungen, Proben in Form von kleinsten Teilchen aus der Koma eines Kometen zur Erde zurückzubringen und für Untersuchungen in irdischen Labors zur Verfügung zu stellen. === Besonders erwähnenswerte Kometen === Der Halleysche Komet war der erste Komet, der (1705 von Edmond Halley) als periodisch erkannt wurde und dessen Kern von Raumsonden fotografiert werden konnte (1986). Der Große Komet von 1744 war der erste, dem eine eigene Monografie gewidmet wurde. Gottfried Heinsius berechnete darin seine monatelang sichtbare Bahn, die Formänderungen der Koma und die genaue Schweiflänge (52 Millionen km). Der Enckesche Komet (entdeckt 1818) hat mit 3,31 Jahren die kürzeste Umlaufzeit aller bekannten Kometen, kann aber nicht mehr mit bloßem Auge beobachtet werden. Komet Biela (1845/46) war der erste Schweifstern, dessen Zerfall beobachtet wurde. Am Komet Donati (1858) wurde erstmals das Ausgasen in die Koma beobachtet. Er war nach Künstlermeinung das schönste Objekt des Jahrhunderts (siehe Bild). Der Komet 1882 II („Großer Septemberkomet“) zog bei seinem Perihel vor und hinter der Sonnenscheibe vorbei, wobei sein Schweif auch am Taghimmel zu sehen war. Der Johannesburger Komet machte – fast gleichzeitig mit Halley – 1910 zum einmaligen Jahr zweier Großer Kometen. Der Komet Ikeya-Seki gilt als einer der hellsten Kometen des letzten Jahrtausends. Er erreichte im Oktober 1965 die rund 60-fache Helligkeit des Vollmondes und war tagsüber deutlich neben der Sonne sichtbar. Für den Kometen Kohoutek (1973/74) wurde teilweise eine spektakuläre Helligkeitsentwicklung erwartet, die jedoch nicht eintrat. Der Komet wurde unter anderem von Skylab 4 aus untersucht. Der Komet Shoemaker-Levy 9 zerbrach im Gravitationsbereich Jupiters. Seine 21 Bruchstücke schlugen zwischen dem 16. und 22. Juli 1994 auf dem Planeten auf, ihre Spuren waren mehrere Wochen zu sehen. Der Komet Hale-Bopp war von 1996 bis 1997 mehr als 18 Monate mit bloßem Auge sichtbar und hält damit den Rekord unter allen bekannten Kometen. Der Komet Tempel 1 war das Ziel der Deep-Impact-Mission der NASA, bei der am 4. Juli 2005 ein 372 kg schweres, hauptsächlich aus Kupfer bestehendes Projektil mit einer relativen Geschwindigkeit von 10 km/s auf dem Kometen einschlug. Mit der Sonde selbst und mit zahlreichen erdgestützten Teleskopen, aber auch mit dem Weltraumteleskop Hubble und der ESA-Raumsonde Rosetta wurde die entstandene Partikelstaubwolke beobachtet. Der Komet Wild 2 ist der erste Komet, aus dessen Koma von einer Sonde Teilchen eingesammelt wurden. Die Proben wurden im Jahre 2006 zur Erde zurückgebracht. Der Komet 17P/Holmes steigerte Ende Oktober 2007 seine scheinbare Helligkeit von 17 auf 2,5mag innerhalb von etwa 36 Stunden. Der Komet, der plötzlich 500.000-mal heller als gewöhnlich erschien, war als auffälliges Objekt mit bloßem Auge am Himmel sichtbar. Tschurjumow-Gerassimenko ist der Komet, auf dem 2014 im Zuge der Rosetta-Mission erstmals eine Sonde sanft landete. === Sungrazer (Sonnenstreifer) === Sonnenstreifer sind eine Kometengruppe, die der Sonne extrem nahe kommen oder sich sogar durch die Sonnenkorona bewegen. Der Großteil der Sungrazer gehört der Kreutz-Gruppe an. Durch die Sonnensonde SOHO konnten über 1.000 derartige Kometen fotografiert werden. Schätzungen ihrer Gesamtzahl belaufen sich auf über 200.000 Objekte. Durch die starken Gezeitenkräfte der Sonne werden die Sungrazer oft auseinandergerissen. Die meisten Sonnenstreifer sind daher kleine Bruchstücke mit einem Durchmesser von 10 m und weniger. Der auffällige Komet Ikeya-Seki war bei Tageslicht zu sehen, so dass sein Durchmesser auf mehrere Kilometer geschätzt wurde. === Erdnahe Kometen === Da Kometenkerne typischerweise Durchmesser von 1 bis 100 Kilometern haben, wäre der Impakt eines Kometen mit der Erde nach aller Wahrscheinlichkeit eine globale Katastrophe, die auch Massenaussterben zur Folge haben kann. Von den 10.713 zum Stand Februar 2014 katalogisierten erdnahen Objekten sind 94 Kometen und 10.619 Asteroiden. Damit sind etwas unter einem Prozent aller Erdbahnkreuzer, die eine potentielle Kollisionsgefahr mit der Erde bergen, Kometen. Von insgesamt 5.253 bekannten Kometen sind knapp 2 % Erdbahnkreuzer (Stand: November 2014). Diese Zahlen erlauben jedoch keine Abschätzung der Wahrscheinlichkeit eines Impakts mit der Erde. Das Risiko von Kometen-Impakts ist generell schwieriger einzuschätzen als das von Asteroiden, deren Bahnen vergleichsweise stabiler und besser bekannt sind. Es gibt bzw. gab Entdeckungs-, Überwachungs- und Risikoabschätzungssysteme, die sowohl Asteroiden als auch Kometen erfassen (wie Catalina Sky Survey oder LONEOS) und Systeme, die nur Asteroiden und keine Kometen erfassen, wie ATLAS, LINEAR, NEAT oder Sentry. Bislang ist kein Kometenimpakt in der Erdgeschichte gesichert bestätigt. Im Jahr 1978 stellte der slowakische Astronom Ľubor Kresák die These auf, dass das Tunguska-Ereignis des Jahres 1908 durch ein Fragment des periodischen Kometen Encke ausgelöst worden sein könnte. Man nimmt an, dass kleinere Kometen, oder Kometenbruchstücke, geringe Spuren auf der Erde hinterlassen, da ihr Eis beim Eintritt in die Atmosphäre verdampft und ihre Gesteins-Bestandteile noch in der Atmosphäre verstreut werden könnten. Im Jahr 2013 schlugen Forscher vor, dass ein in der Libyschen Wüste gefundener ungewöhnlicher Stein aus Libyschem Wüstenglas durch den Einschlag eines Kometen entstanden sein könnte.Im Jahr 1984 fanden die Paläontologen David M. Raup und J. John Sepkoski bei den Aussterbens-Ereignissen im Fossilbericht eine Periodizität von etwa 26 Millionen Jahren. Als mögliche Ursache schlugen zwei Teams von Astronomen, Daniel P. Whitmire und Albert A. Jackson IV, sowie Marc Davis, Piet Hut und Richard A. Muller, unabhängig voneinander einen noch unentdeckten Zwergstern-Begleiter der Sonne vor. Dieser, Nemesis getauft, solle durch seinen Störungseinfluss auf die Oortsche Wolke eine zyklische Vergrößerung der Kometenanzahlen verursachen, die ins Innere des Sonnensystems gelangen, wodurch es auch auf der Erde mit dieser Periodizität zu statistisch häufigeren Kometeneinschlägen käme. Nachfolgende Untersuchungen zu den Aussterbe- und Impakt-Ereignissen anhand neuerer Daten fielen unterschiedlich aus. == Fotografische Aufnahme == Eine fotografische Aufnahme von Kometen stellt wegen der geringen Leuchtdichte des Schweifes im Verhältnis zur Koma eine vergleichsweise anspruchsvolle Aufgabe dar. Je nach Helligkeit des Kometen und den Aufnahmebedingungen liegt der Belichtungswert selbst bei Kometen, die mit dem bloßen Auge noch gesehen werden können, deutlich unter 1 EV (EV steht für den englischsprachigen Begriff „exposure value“). Für solche Aufnahmen ist die Verwendung eines Stativs erforderlich. Je größer der Höhenwinkel des Kometen bei der Aufnahme ist, desto geringer sind atmosphärische Störungen, die dazu führen, dass Konturen in den Bildern verwaschen werden. Gleichermaßen nimmt auch die Lichtabschwächung durch die Extinktion in der Erdatmosphäre mit zunehmendem Abstand vom Horizont ab. === Entfernungseinstellung === In der Praxis kann das Objektiv wegen der sehr großen Entfernung auf „unendlich“ eingestellt werden. Da Kometen sehr weit entfernt sind, kann das Objektiv für Aufnahmen, die von Menschen betrachtet nicht als unscharfes Bild empfunden werden sollen, im Zweifel auch auf die endliche hyperfokale Distanz eingestellt werden. In diesem Fall werden alle Objekte zwischen der halben hyperfokalen und unendlicher Distanz hinreichend scharf abgebildet. Bei Bildern, die technisch ausgewertet oder von denen Ausschnitte verwendet werden sollen, muss die Entfernung entsprechend den Anforderungen gegebenenfalls genauer eingestellt werden. === Blendenzahl === Da sehr wenig Licht zur Verfügung steht, empfiehlt es sich bei fotografischen Objektiven, möglichst kleine Blendenzahlen und somit große Öffnungsweiten zu wählen, damit für die Aufnahme möglichst viel Licht eingefangen werden kann. Teleskope werden in der Regel ohne die Beschränkung der Einfallshöhen eingesetzt, da sie gar nicht über eine Aperturblende verfügen. Bei gegebener Öffnungsweite D ergibt sich bei einem optischen System die Blendenzahl k aus der Brennweite f wie folgt: k = f D {\displaystyle k={\frac {f}{D}}} Da die Abbildungsqualität von optischen Systemen bei großer Öffnungsweite durch Abbildungsfehler begrenzt wird, ist es empfehlenswert, optische korrigierte Objektive oder Teleskope einzusetzen, wie zum Beispiel Asphären zur Reduktion der sphärischen Aberration oder Apochromaten zur Reduktion der chromatischen Aberration. Der Farbquerfehler kann bei modernen digitalen Kamerasystemen ebenso wie der sich aus der Geometrie der Abbildung zwangsläufig ergebende Randlichtabfall automatisch kompensiert werden. === Belichtungszeit === Wenn die Kamera mit der Erdoberfläche bewegt wird, verschiebt sich der Bildort des Kometen mit der Zeit, so dass sich im Bild eine entsprechende Bewegungsunschärfe ergibt. Dies kann kompensiert werden, indem die Kamera mit einer geeigneten Vorrichtung um die Erdachse mitgedreht wird (siehe auch Montierung). Zusätzlich ist zu berücksichtigen, dass sich die Rektaszension und die Deklination des Kometen während der Aufnahmen verändern, da der Komet sich gegenüber dem Fixsternhimmel bewegt. Für lichtschwache Kometen fallen unter Umständen so lange Belichtungszeiten an, dass eine präzise Nachführung der Bewegung des Kometen gegenüber dem Fixsternhimmel erforderlich ist.Bei digitalen Steh- und Bewegtbildaufnahmen mit längeren Belichtungszeiten ist zu beachten, dass sich der Bildsensor im Betrieb erwärmen kann und das Bildrauschen mit der steigenden Temperatur deutlich zunimmt. Ferner nimmt bei vielen Bildsensoren, wie zum Beispiel Active Pixel Sensoren, das Bildrauschen mit der Belichtungszeit zu. Für eine Bilderzeugung mit hohem Signal-Rausch-Verhältnis kann der Bildsensor passiv oder aktiv gekühlt werden. Ansonsten können mehrere Bilder mit begrenzter Belichtungszeit aufgenommen und später softwaretechnisch zusammengefügt werden („Stacking“, siehe unten). Zu kurze Belichtungszeiten erzeugen aufgrund der vielen Einzelaufnahmen allerdings vermehrtes Ausleserauschen, so dass ein geeigneter Kompromiss gefunden werden muss. === Farbtemperatur === Die Farbtemperatur kann bei Farbaufnahmen entsprechend dem nächtlichen weiß-neutralen Wert des vom Vollmond reflektierten Lichtes auf zirka 4100 Kelvin eingestellt werden. Höhere Werte, wie zum Beispiel der Wert für das direkte Sonnenlicht von 5500 Kelvin, ergeben Bilder mit stärkerem roten Anteil. === Stacking === Um die Lichtausbeute zu erhöhen, können mit Bildsensoren Serienbilder aufgenommen werden, die anschließend softwaremäßig deckungsgleich übereinandergelegt und zusammengesetzt werden (englisch: „stacking“). Dies hat den Vorteil, dass jedes einzelne Bild hinreichend frei von Bewegungsunschärfe sowie von mit der Belichtungszeit anwachsenden Signalstörungen ist, aber dennoch deutlich mehr Licht für die zusammengesetzte Aufnahme zur Verfügung steht. Dadurch ergibt sich ein deutlich besseres Signal-Rausch-Verhältnis und somit weniger Bildrauschen sowie ein größerer Dynamikumfang. == Offene Fragen == Seit Ende der 1990er Jahre sind in der Erforschung der Kometen sowie des Kuipergürtels große Fortschritte erzielt worden, es gibt jedoch noch immer viele offene Fragen: Durch Spektralanalysen ist die Zusammensetzung der Koma mittlerweile sehr gut verstanden, über die molekulare Zusammensetzung des Kerns und der vom Kern entweichenden Muttermoleküle ist jedoch noch sehr wenig bekannt. Möglicherweise kommen in Kometen organische Moleküle vor, die ähnlich oder sogar noch komplexer als diejenigen sind, die in Meteoriten gefunden wurden. In simulierten Kometen wurden in Vorbereitung auf die Rosetta-Mission bereits 16 verschiedene Aminosäuren identifiziert. Viele Exobiologen setzen deswegen große Hoffnungen auf die weitere Erforschung der Kometen. Einige Theorien zur Entstehung des Lebens gehen davon aus, dass organische Moleküle aus Meteoriten oder Kometen die Entstehung des Lebens auf der Erde begünstigt oder gar erst ermöglicht haben. Die Anhänger der Panspermie vermuten sogar noch komplexere biologische Moleküle oder möglicherweise sogar einfache Lebensformen unter den CHON-Partikeln. Nach den derzeitigen Theorien sind die Kometen aus der Oortschen Wolke in geringerer Entfernung zur Sonne entstanden als diejenigen aus dem Kuipergürtel. Um dies zu bestätigen, sollten Unterschiede in der chemischen Zusammensetzung nachgewiesen werden. Der Mechanismus, durch den die Objekte der Oortschen Wolke ins Innere des Sonnensystems gestreut werden, ist noch nicht bekannt. Es gibt Anzeichen für eine leichte Häufung von langperiodischen Kometen in Richtung des Sonnenapex. Sollte sich dies bei genaueren Untersuchungen bestätigen, hätte dies Auswirkungen auf unser Verständnis nicht nur der Oortschen Wolke, sondern auch des interstellaren Mediums in der Umgebung des Sonnensystems. Mindestens eines, vermutlich aber mehrere erdgeschichtliche Ereignisse wurden durch den Impakt großer außerirdischer Körper verursacht, für die neben Asteroiden auch Kometen in Betracht kommen, so etwa der erdgeschichtliche Übergang von der Kreide zum Tertiär als Folge des KT-Impakts. Die Erde hat einen deutlich größeren Wasseranteil als andere Körper des inneren Sonnensystems, wofür einige Wissenschaftler große Kometeneinschläge verantwortlich machen (siehe Herkunft des irdischen Wassers). Allerdings stimmen bisherige Messungen der Wasserstoffisotopenverhältnisse in einigen Kometen nicht gut mit dem Wasserstoffisotopenverhältnis von irdischem ozeanischem Wasser überein, was aber auch daran liegen könnte, dass die gemessenen Kometen nicht repräsentativ waren. == Mystifizierung == Seit Jahrtausenden hat die Menschheit das plötzliche Auftauchen von Kometen als böses Omen kommenden Unglücks, von Kriegen und Katastrophen interpretiert, vereinzelt aber auch als Wunderzeichen. Selbst das wissenschaftlich bereits aufgeschlossene 17. Jahrhundert war noch immer in diese Magisierung verstrickt, und auch Astronomen vom Range Johannes Keplers interpretierten Kometen als „ominös“ (im Sinne der Wortherkunft). Seit Beginn des 14. Jahrhunderts stellten Künstler den Stern von Betlehem als Kometen dar, als einer der ersten war es Giotto di Bondone aus Florenz im Jahr 1302. Mit Edmund Halleys Entdeckung der Periodizität im Jahr 1682 legte sich die Furcht vor Kometen etwas. Magische Zuschreibungen werden aber noch heute vorgenommen, wie an der Massenselbsttötung der Heaven’s-Gate-Mitglieder beim Erscheinen des Kometen Hale-Bopp im Jahr 1997 zu erkennen ist. === Komet Caesar === Antiken Berichten zufolge erschien im Jahr 44 v. Chr. während Feierlichkeiten zu Ehren Venus Genetrix kurz nach der Ermordung Julius Caesars für mehrere Tage ein sehr heller Haarstern am römischen Himmel. Die Erscheinung wurde von den Römern als Zeichen der Vergöttlichung Caesars und des Aufstiegs seiner Seele in den Himmel gedeutet. Von Kaiser Augustus gefördert wurde der Komet Caesar (in der Antike auch 'Sidus Iulium' genannt) Teil des Kultes um den Staatsgott Divus Iulius und damit fester Bestandteil der römischen Mythologie. == Siehe auch == Liste der Kometen Astronomische Objekte Exokomet Kleinkörper (Astronomie) Liste der besuchten Körper im Sonnensystem Meteoroid == Literatur == Uwe Pilz, Burkhard Leitner: Kometen, interstellarum Astro-Praxis. Oculum-Verlag, Erlangen 2013, ISBN 978-3-938469-60-6. Andreas Kammerer, Mike Kretlow (Hrsg.): Kometen beobachten, Praktische Anleitung für Amateurbeobachter. 2010, kometen.fg-vds.de (PDF V2.0). Andreas Kammerer, Mike Kretlow (Hrsg.): Kometen beobachten, Praktische Anleitung für Amateurbeobachter. Sterne und Weltraum Verlag, München 1998, 1999, ISBN 3-87973-924-2. John C. Brandt, Robert D. Chapman: Introduction to Comets. University Press, Cambridge 2004, ISBN 0-521-00466-7. Gary W. Kronk: Cometography – A Catalog of Comets. Cambridge University Press, Cambridge 2000–2008, ISBN 0-521-58504-X. Band 1. Ancient–1799 Band 2. 1800–1899 Band 3. 1900–1932 Band 4. 1933–1959 S. V. M. Clube, W. M. Napier, M. E. Bailey: The Origin of Comets. Pergamon Press, Oxford 1990, ISBN 0-08-034858-0. Gerhard Dünnhaupt: Neue Kometen – Böse Propheten. Kometenflugschriften in der Publizistik der Barockzeit. In: Philobiblon. Hauswedell, Stuttgart 18.1974. ISSN 0031-7969. S. B. Charnley, S. D. Rodgers, Y.-J. Kuan, H.-C. Huang: Biomolecules in the Interstellar Medium and in Comets. Advances in Space Research. arxiv:astro-ph/0104416. (PDF, Diskussion über den Ursprung der nachgewiesenen organischen Moleküle) J. Horner, N. W. Evans, M. E. Bailey, D. J. Asher: The Populations of Comet-Like Bodies in the Solar system. In: Monthly notices of the Royal Astronomical Society. Blackwell, Oxford 343.2003, 1057, arxiv:astro-ph/0304319 (PDF, Vorschlag einer neuen Taxonomie für kometenähnliche Körper). ISSN 0035-8711 Thorsten Dambeck: Das neue Bild der Kometen. In: Bild der Wissenschaft. Leinfelden-Echterdingen 42.2007,12, S. 38–43. ISSN 0006-2375 Walter F. Huebner: Physics and chemistry of comets. Springer, Berlin 1990, ISBN 3-540-51228-4. Jacques Crovisier, Thérèse Encrenaz: Comet science. Cambridge Univ. Press, Cambridge 2000, ISBN 0-521-64179-9. Ernst Zinner: Die fränkische Sternkunde im 11. bis 16. Jahrhundert. (zobodat.at [PDF]) === Rezeption === Kometenlied in Der böse Geist Lumpacivagabundus von Johann Nestroy, 1833 == Weblinks == Wann schlug der letzte Komet ein? aus der Fernseh-Sendereihe alpha-Centauri (ca. 15 Minuten). Erstmals ausgestrahlt am 16. Mär. 2005. Kometen Einführung Kometen: Boten vom Rand des Sonnensystems Paul Wiegert’s PhD thesis:The Evolution of Long-Period Comets ESA-Pressemitteilung zur Rosetta-Mission Beobachtbare Kometen, Liste der Internationalen Astronomischen Union (IAU) (englisch) Homepage der VdS-Fachgruppe Kometen ISSI Publikation Spatium Nr. 4: Kometen (PDF, 658 kB) Amateurfotos von Kometen == Einzelnachweise ==
https://de.wikipedia.org/wiki/Komet
Rembrandt van Rijn
= Rembrandt van Rijn = Rembrandt Harmenszoon van Rijn (* 15. Juli 1606 in Leiden; † 4. Oktober 1669 in Amsterdam), bekannt unter seinem Vornamen Rembrandt, gilt als einer der bedeutendsten und bekanntesten niederländischen Künstler des Barock. Sein Schaffen fiel in die Epoche des Goldenen Zeitalters, als die Niederlande eine politische, wirtschaftliche und künstlerische Blütezeit erlebten. Rembrandt studierte bei Pieter Lastman, eröffnete 1625 in Leiden sein erstes Atelier und zog bald Aufmerksamkeit auf sich. 1631 siedelte er nach Amsterdam um, wo er sich zu einem gefeierten Künstler entwickelte. Trotzdem litt er zeitweise unter erheblichen finanziellen Problemen, ging 1656 in Insolvenz und starb in Armut. Rembrandt betätigte sich als Maler, Radierer und Zeichner, führte eine Werkstatt und bildete Künstler aus. Sein Gesamtwerk umfasst unter anderem Porträts, Landschaften sowie biblische und mythologische Themen. Zu seinen bekanntesten Arbeiten zählen Die Blendung Simsons, Die Nachtwache, Die Anatomie des Dr. Tulp und Das Hundertguldenblatt. In seinen Historiendarstellungen griff Rembrandt zahlreiche Motive auf, die bis dahin nicht künstlerisch bearbeitet worden waren, oder er suchte nach neuen Darstellungsmöglichkeiten traditioneller Motive. Viele dieser Werke zeichnen sich durch starke Hell-Dunkel-Kontraste aus, weshalb er als ein Meister des Chiaroscuro gilt. Rembrandt wurde bereits zu Lebzeiten durch Nachstiche und Kopien seiner Bilder rezipiert. Nach seinem Tod wurde seine koloristische Malweise in der Kunstkritik und Kunstliteratur des Klassizismus negativ bewertet, während sich seine Werke bei Sammlern großer Beliebtheit erfreuten und hohe Preise erzielten. Im 18. Jahrhundert fand Rembrandt Nachfolger unter deutschen und englischen Künstlern. Sein Leben wurde in dieser Zeit mystifiziert und mit Legenden ausgeschmückt. Erst in der Mitte des 19. Jahrhunderts wurde aus diesem Rembrandt-Bild durch Quellenforschung seine reale Biographie extrahiert. Seit den 1970er Jahren erforscht das Rembrandt Research Project Rembrandts Werke und untersucht diese auf ihre Authentizität hin. Von einst über 700 Rembrandt zugeschriebenen Bildern, gelten heute nur noch etwa 350 tatsächlich als Werke von seiner Hand. == Leben == === Kindheit und Ausbildung === Rembrandt wurde am 15. Juli 1606 in Leiden als achtes von neun Kindern geboren. Die Eltern waren der Müller Harmen Gerritszoon van Rijn und dessen Frau Neeltgen Willemsdochter van Zuytbrouck, eine Bäckerstochter. Wie viele andere Kinder der Stadt besuchte Rembrandt zwischen 1612 und 1616 die Grundschule und anschließend, von 1616 bis 1620, die streng calvinistische Lateinschule. Dort wurde er in Biblischer Geschichte und den Klassikern unterrichtet. Zudem erhielt Rembrandt Rhetorikunterricht, der möglicherweise seine Malerei beeinflusste. Nach der achtjährigen Schulzeit schrieb er sich an der philosophischen Fakultät der Universität Leiden ein. Dieses Studium brach er nach kurzer Zeit ab, um eine Ausbildung zum Maler zu beginnen. Von 1620 bis 1624 war er Schüler von Jacob Isaacsz. van Swanenburgh. Der in Italien geschulte Lehrer hatte sich auf Architekturmalerei und die szenische Darstellung der Hölle spezialisiert und vermittelte seinem Schüler die Grundlagen der Malerei. Die Gestaltung des Feuers in den Bildnissen der Hölle hat möglicherweise Rembrandts Interesse an der Darstellung des Lichtes geweckt. Im Anschluss absolvierte er 1624 eine sechsmonatige Lehrzeit bei dem Historienmaler Pieter Lastman in Amsterdam, die ihn stärker prägte als die vorherige Ausbildung. Lastman führte ihn in die Historienmalerei ein, die in der damals gültigen Rangordnung der Malereigattungen die höchste Position innehatte. Die Ausbildung bei zwei Meistern war zu der damaligen Zeit nicht ungewöhnlich. === Beginn des Berufslebens === 1625 kehrte Rembrandt nach Leiden zurück. Dort gründete er mit seinem Freund Jan Lievens eine eigene Werkstatt. Er widmete sich vor allem der Historienmalerei nach dem Vorbild seines Lehrers Lastman und physiognomischen Studien. Drei Jahre später fertigte er erstmals eine Radierung an und begann, Schüler aufzunehmen. Im selben Jahr zeigte der Sekretär des Statthalters Friedrich Heinrich, Constantijn Huygens, der im November 1628 Leiden besuchte, Interesse an der Kunst Rembrandts. In der Folge unterstützte er den Künstler und vermittelte ihm Aufträge. So konnte Rembrandt in den Jahren 1629 und 1630 zwei Bilder an die englische Krone veräußern. Die Auferweckung des Lazarus und Judas bringt die dreißig Silberlinge zurück wurden mehrmals durch andere Künstler kopiert. Am 27. April 1630 starb Rembrandts Vater. Nach seinen ersten Erfolgen und angezogen von der steigenden Bedeutung der niederländischen Hauptstadt, gab Rembrandt 1631 das gemeinsam mit Lievens betriebene Leidener Atelier auf und zog nach Amsterdam. Dort kaufte er sich bei dem Kunsthändler Hendrick van Uylenburgh ein, der eine große Werkstatt besaß, in der Kopien hergestellt und Restaurierungen durchgeführt wurden. Schon nach kurzer Zeit erhielt Rembrandt von reichen Kaufleuten Porträtaufträge. Im folgenden Jahr kaufte Statthalter Friedrich Heinrich auf Vermittlung von Constantijn Huygens einige Gemälde Rembrandts und gab einen Passionszyklus in Auftrag. Ebenfalls im Jahr 1632 erhielt Rembrandt den Auftrag für das Bild Die Anatomie des Dr. Tulp, das er im selben Jahr fertigstellte. Insgesamt entstanden in diesem Jahr 30 Gemälde. Rembrandt arbeitete wohl als Werkstattleiter für Uylenburgh, denn vor der Aufnahme in die Amsterdamer Gilde und der damit verbundenen Selbständigkeit musste er zunächst bei einem anderen Meister oder in einer Werkstatt tätig gewesen sein. === Selbständigkeit und Ehe === Am 2. Juli 1634 heiratete Rembrandt Saskia van Uylenburgh, die Nichte seines Kunsthändlers und Tochter eines wohlhabenden Patriziers. Im selben Jahr trat er der Lukasgilde bei. Dies ermöglichte ihm, als selbstständiger Meister Lehrlinge und Schüler auszubilden. Im Jahr 1635 arbeitete er unter anderem an den Bildern Die Opferung Isaaks und Simson bedroht seinen Schwiegervater. Rembrandts erster Sohn, am 15. Dezember 1635 auf den Namen Rombertus (andere Schreibweise Rombartus) getauft, starb nach wenigen Monaten. 1636 zog das Ehepaar, das bis dahin immer noch beim Kunsthändler Uylenburgh gewohnt hatte, in die Nieuwe Doelenstraat um. Neben seiner künstlerischen Tätigkeit handelte Rembrandt dort mit Kunstwerken und baute eine Sammlung von historischen und wissenschaftlichen Objekten, Pflanzen und Tieren sowie Exotika (Gegenständen aus fernen Ländern wie Indien) auf. 1638 verklagte Rembrandt die Verwandten seiner Frau in einem Beleidigungsprozess, weil diese ihr Verschwendung vorgeworfen hatten. Diesen Vorwurf begründeten die Verwandten Saskias damit, dass ihr Erbe von etwa 40.000 Gulden nahezu aufgebraucht war. Ebenfalls in diesem Jahr wurde seine erste Tochter namens Cornelia geboren, die kurze Zeit später verstarb. Rembrandt kaufte am 5. Januar 1639 ein neues Haus in der Breestraat, in dem sich heute das Museum Het Rembrandthuis befindet. Dazu nahm er einen Kredit auf, den er in fünf bis sechs Jahren abzahlen wollte. In das Jahr 1639 fiel auch die Fertigstellung des letzten Bildes des Passionszyklus. Das Jahr 1640 war für Rembrandt durch zwei Schicksalsschläge gekennzeichnet: Seine zweite Tochter, die am 29. Juli auf den Namen Cornelia getauft worden war, verstarb kurz darauf. Einen Monat später starb auch die Mutter Rembrandts. Künstlerisch vollzog sich bei ihm eine Wende, als er begann, sich auch der Landschaftsmalerei und dem Radieren von Landschaften zu widmen. Sein zweiter Sohn Titus wurde am 22. September 1641 getauft. Im folgenden Jahr stellte Rembrandt das Bild Die Nachtwache fertig. Am 14. Juni 1642 verstarb seine Ehefrau Saskia. Dieses Ereignis bedeutete einen tiefen Einschnitt in Rembrandts Leben. Waren die Jahre zuvor von hoher Produktivität gekennzeichnet, ließ seine künstlerische Aktivität nun deutlich nach. Er schuf nur wenige Gemälde und Radierungen, wie das zu seinen bekanntesten Werken gehörende Hundertguldenblatt. Zudem identifizierte er sich stark mit seiner Vaterrolle und kümmerte sich in besonderem Maße um seinen Sohn Titus. Seine familiäre Situation griff Rembrandt auch in Kunstwerken auf, wie etwa in der Zeichnung, die einen Mann beim Füttern eines Kindes zeigt. Damit sie ihn im Haushalt entlastete, holte er Geertje Dircx zu sich, die ein besonders enges Verhältnis zu Titus entwickelte. So bedachte sie ihn als Haupterben in ihrem Testament, als sie 1648 schwer erkrankte. 1649 stellte Rembrandt die wesentlich jüngere Hendrickje Stoffels ein. === Finanzielle Probleme und letzte Lebensjahre === Nachdem Hendrickje Rembrandts neue Partnerin geworden war, kam es zum Streit mit Geertje Dircx. 1649 verklagte sie ihn vor Gericht auf Unterhalt und erreichte, dass Rembrandt zu einer höheren Zahlung verurteilt wurde. Als sie im darauffolgenden Jahr entgegen der vor Gericht getroffenen Absprache weiteren Schmuck verpfändete, den sie von Rembrandt bekommen hatte, sammelte dieser zusammen mit ihrem Bruder belastende Aussagen gegen sie und setzte durch, dass sie fünf Jahre in einer Besserungsanstalt (dem Spinhuis in Gouda) verbringen musste.Von dem sizilianischen Mäzen Antonio Ruffo erhielt Rembrandt im Jahr 1652 den Auftrag, das Bild Aristoteles mit der Büste Homers zu malen. Trotz der guten Auftragslage, den Erlösen aus dem Verkauf von Radierungen und den Honoraren aus seiner Lehrtätigkeit konnte er seine Schulden nicht abtragen und musste sich weiterhin Geld leihen. 1654 wurde Hendrickje Stoffels vor den Amsterdamer Kirchenrat geladen, der sie wegen unzüchtigen Zusammenlebens mit Rembrandt rügte. Sie gebar die dritte Tochter Rembrandts, die ebenfalls Cornelia genannt und am 30. Oktober 1654 getauft wurde. Rembrandt überschrieb am 17. Mai 1656 sein Haus auf seinen Sohn Titus, bevor er kurz darauf für zahlungsunfähig erklärt wurde. In den beiden darauffolgenden Jahren wurden das Haus und seine Sammlung versteigert. Mit dem Erlös konnten die Schulden nicht vollständig beglichen werden. Rembrandt zog daraufhin in die Rozengracht um, wo vor allem sozial schwächere Schichten wohnten. Dort führte er ein abgeschiedenes Leben unter mennonitischen und jüdischen Freunden. Die Vormundschaft für Titus wurde von Louys Crayers (1623–1688) übernommen, der in einem langen Prozess das Erbteil für Titus aus der Konkursmasse erstritt. 1660 stellten Titus und Hendrickje Stoffels Rembrandt in ihrer Kunsthandlung an. Dadurch hielt er Geschäftskontakte aufrecht, nahm weiterhin Aufträge an und unterrichtete Schüler. Ruffo erwarb 1661 das Bild Alexander der Große und bestellte ein Gemälde, das Homer zeigen sollte. 1663 verstarb Hendrickje Stoffels. 1665 wurde Titus volljährig und erhielt sein Erbe ausgezahlt. Zur selben Zeit arbeitete Rembrandt an dem Gemälde Die Judenbraut. Drei Jahre später starb sein Sohn, der ein halbes Jahr zuvor Magdalena van Loo geheiratet hatte, und wurde am 7. September 1668 beigesetzt. Rembrandt zog nach diesem Ereignis zu seiner Schwiegertochter. Diese gebar seinen Enkel, dessen Pate er am 22. März 1669 wurde. Am 4. Oktober selbigen Jahres verstarb Rembrandt. Das Bild Simeon im Tempel blieb unvollendet. Am 8. Oktober wurde Rembrandt in der Westerkerk beigesetzt. == Werke == Wurden Rembrandt in den 1920er-Jahren noch teilweise über 700 Gemälde zugeschrieben, geht die Fachwelt mittlerweile davon aus, dass sein Gesamtwerk etwa 350 Gemälde, 300 Radierungen und 1000 Zeichnungen umfasst. Die Hauptthemen seiner Gemälde und Radierungen sind Historien und Porträts, einschließlich Selbstporträts. Viele der Historiengemälde und -radierungen zeigen hier erstmals künstlerisch verarbeitete biblische Szenen und Mythen oder setzen ein traditionelles Thema deutlich anders um, als es in Vorbildern geschehen war. Daneben war Rembrandt ein erfolgreicher Porträtmaler, dem es gelang, die Porträtierten glaubhaft in Handlungen einzubinden. Die Selbstporträts legen Zeugnis von seiner Selbstsicht ab und vermitteln seine Auseinandersetzung mit dem eigenen Altern. Vor allem die Radierungen zeigen ihn mit verschiedenen Gesichtsausdrücken und Gesten und dienten damit auch Studienzwecken. Rembrandt malte und radierte nur wenige Landschaften und Genreszenen. Mit dem Bild Tote Pfauen ist nur ein Stillleben bekannt. Viele der Zeichnungen fertigte Rembrandt ausschließlich zu Studienzwecken für seine Schüler an. In einigen hielt er auch kleine Begebenheiten aus seinem Privatleben und andere Eindrücke fest. Rembrandt versah seine ersten Bilder mit dem Monogramm RH, später mit RHL, wobei das L für die Stadt Leiden steht. Im Alter von 26 Jahren begann er, seine Werke mit Rembrant zu signieren. Ab Anfang 1633 signierte er mit Rembrandt, der heute verbreiteten Schreibweise seines Namens. === Gemälde === ==== Historiengemälde ==== Viele Gemälde Rembrandts lassen sich der Gattung der Historienmalerei zuordnen. Sie zeigen Szenen aus dem Alten und Neuen Testament, Mythen oder Porträts historischer Persönlichkeiten. Dabei entwickelte Rembrandt eine besonders verdichtete Darstellung der Handlung, so dass in der Abbildung eines bestimmten Augenblickes darüber hinausreichende erzählerische Zusammenhänge zum Ausdruck kommen. Der Fokus auf die Historie war auch eine Folge seiner Ausbildung bei dem berühmten Historienmaler Pieter Lastman, an dessen Themen und Kompositionen Rembrandt sich zunächst orientierte. Ein Beispiel dafür ist das Gemälde Steinigung des Heiligen Stephanus aus dem Jahr 1625, das zu den frühesten Werken Rembrandts zählt. Lange Zeit galt es als Gemälde Lastmans, dessen Werk es stilistisch stark ähnelt. Rembrandt verwendete die Komposition eines verschollenen Lastman-Gemäldes mit demselben Thema, nutzte aber bereits den für ihn typischen Einsatz von Licht und Schatten. Die Pharisäer und Ältesten im Bildhintergrund sind als treibende Kräfte hinter der Hinrichtung hell beleuchtet, die ausführenden Personen im Vordergrund verschattet. Dieses Mittel sollte er immer wieder zur Betonung von Personen und Handlungen einsetzen. Zwischen 1632 und 1646 fertigte Rembrandt einen sieben Gemälde umfassenden Zyklus von Bildern aus der Kindheitsgeschichte Jesu und der Passion. Der Auftrag wurde vom Statthalter Friedrich Heinrich auf Vermittlung von Constantijn Huygens erteilt und umfasste ursprünglich die fünf Bilder Kreuzabnahme, Kreuzaufrichtung, Himmelfahrt, Grablegung und Auferstehung, weshalb sich die Bezeichnung als Passionszyklus in der Fachliteratur etabliert hat. Die beiden Gemälde Anbetung der Hirten und Beschneidung im Tempel, das heute nur über eine Kopie bekannt ist, malte Rembrandt erst später als Ergänzung dieses Zyklus. Rembrandt lieferte die Bilder in großen Abständen und teils mit Verspätung, weshalb er Huygens mit anderen Bildern zu „bestechen“ versuchte und in diesem Zusammenhang Die Blendung Simsons anfertigte. Der zeitliche Rahmen der Arbeit bedingte auch Unterschiede in den Maßen der Bilder, den Farben, der Größe der Figuren und dem Malstil insgesamt, so dass die Bilderserie keine homogene Arbeit ist. Beim Malen der Kreuzabnahme setzte Rembrandt sich mit einer Komposition von Peter Paul Rubens auseinander, die ihm über einen Stich bekannt war. Rubens hatte den Leichnam Christi bildparallel dargestellt und alle Helfer um diesen herum angeordnet. Diesen Aufbau veränderte Rembrandt grundlegend. Das Kreuz ist schräg gestellt und die Personen sind in Gruppen aufgeteilt, die entweder um Jesus trauern oder bei dessen Abnahme vom Kreuz helfen. Rechts des Leichnams stellte Rembrandt Nikodemus dar, wie es in vergleichbaren Historiengemälden üblich war, links von ihm zeigte er Maria, die von zwei Frauen gestützt wird. Ihre Anwesenheit geht nicht auf die Bibel zurück, sondern greift eine im Mittelalter entstandene Legende auf. Rembrandt legte bei der Darstellung den Schwerpunkt auf das Leiden des Gekreuzigten. So sind an den Balken des Kreuzes noch die blutigen Spuren der Dornenkrönung, der Annagelung und der Seitenwunde zu sehen. Der Kontrast zwischen Hell und Dunkel betont das Kreuz und den Leichnam sowie die Hände und Gesichter der Trauernden. Das 205 Zentimeter hohe und 272 Zentimeter breite Gemälde Die Blendung Simsons gehört zu den bedeutendsten Bildern Rembrandts. Es zeigt eine Episode aus der Geschichte des Richters Simson, die Rembrandt in mehreren Bildern behandelte. Simson war ein Nasiräer, was ihm besondere Stärke verlieh, wenn er sich an drei Bedingungen, wie etwa das Verbot sich Bart und Haare zu schneiden, hielt. Die hier dargestellte Szene schließt sich an das Schneiden des Haares durch Delila an, die ihn an die Philister verriet. Dieser Aspekt der Handlung ist auch in diesem Gemälde aufgegriffen, da Delila im Hintergrund abgebildet ist, wie sie mit dem Haarschopf und der Schere in der Hand flieht. Auch mit den weiteren Personen stellte Rembrandt verschiedene Aspekte der Handlung dar. So musste Simson, nachdem ihm die Haare abgeschnitten worden waren, zu Boden gerungen und gefesselt werden, bevor ihm die Augen ausgestochen wurden. Dies vermittelte Rembrandt über die Kämpfer, von denen einer furchtsam den Schauplatz betritt, ein anderer Simson am Boden hält, einer ihn fesselt und einer die Augen aussticht. Dabei ist die unmittelbare Handlung des Gemäldes der Höhepunkt der Geschichte, das Blenden mit dem eindringenden Messer, wobei das Blut aufspritzt. Der Betrachter kann aber über das Bild die gesamte Handlung rekonstruieren.Neben dem Streben, möglichst viel Handlung, auch über den dargestellten Moment hinaus, in seinen Bildern zu vermitteln und die Handlung auf ihrem Gipfelpunkt, wie etwa bei der Blendung Simsons, abzubilden, nahm Rembrandt auch äußere Einflüsse aus seiner näheren Umgebung in seine Historien auf. Dies wird am Beispiel der Judendarstellung besonders deutlich. So verwendete Rembrandt über lange Zeit den Juden zugeordnete körperliche Merkmale nur bei Darstellungen in negativen Zusammenhängen, wie etwa bei den Hohenpriestern, und verstärkte diese traditionell dargestellten Gesichtszüge noch. Nach seinem konkursbedingten Umzug studierte er erstmals direkt an jüdischen Modellen. Eine dieser Studien ist das Gemälde Ein Christus nach dem Leben, in dem er den Sohn Gottes, dessen Aussehen sonst dem niederländischer Modelle angeglichen wurde, mit jüdischen Gesichtszügen gestaltete. 1653 malte Rembrandt im Auftrag des sizilianischen Aristokraten Ruffo die historische Halbfigur Aristoteles, ein Bild, das zu den bedeutenden Spätwerken Rembrandts zählt. Es folgten später noch zwei weitere Bilder auf Bestellung Ruffos, die Alexander den Großen und Homer zeigen. Ruffo war mit dem Porträt von Aristoteles sehr zufrieden und erwähnte es lobend in einem Brief an den Maler Giovanni Francesco Barbieri, der ein Pendant dazu anfertigen sollte, weil Rembrandt die beiden weiteren bestellten Bilder erst mit großer Verzögerung zu Beginn der 1660er-Jahre lieferte. Auch das Bildnis Alexander des Großen wurde von Ruffo positiv aufgenommen, der aber nach einiger Zeit bemerkte, dass die Leinwand an drei Seiten vergrößert worden war und sich daraufhin beschwerte. Den Homer empfand Ruffo als unvollendet, weshalb er ihn zurückschickte und von Rembrandt Nachbearbeitungen forderte. Die Themen der Bilder scheint Rembrandt selbst gewählt zu haben, da er die beiden folgenden bereits im Aristoteles-Porträt angelegt hat. Der Philosoph ist in einem Moment des Sinnierens dargestellt. Seine rechte Hand hat er auf eine Büste gelegt, die Homer darstellt. Mit der linken Hand berührt er auf Hüfthöhe eine goldene Ehrenkette mit einem Bildnis Alexander des Großen. Darin kommt auch Rembrandts Kenntnis der historischen Zusammenhänge zum Ausdruck. Aristoteles war ein Kenner der Werke Homers und vermittelte sie seinem Schüler Alexander dem Großen. ==== Porträts und Gruppenbildnisse ==== Im Anschluss an seinen Umzug nach Amsterdam begann Rembrandt bei seiner Arbeit im Atelier Uylenburghs verstärkt Porträts zu malen und eroberte mit ihnen rasch den Markt für dieses Genre. Der Erfolg basierte auf Erfahrungen aus der Historienmalerei, mit denen Rembrandt die etablierten Bildnismaler überflügelte. Er band die Porträtierten in kleine Handlungen ein, wie etwa die Übergabe eines Briefes durch die Frau an ihren Mann in einem Doppelporträt, was den Bildern Lebendigkeit verleiht. Zudem gelang es Rembrandt, die menschliche Haut besonders realistisch wiederzugeben. Im Vergleich mit anderen Porträtmalern nahm sich Rembrandt mehr Freiheiten heraus, so dass seine Bilder im Vergleich mit anderen Porträts derselben Person geringere Übereinstimmungen der körperlichen Merkmale aufweisen. Der Zweizeiler „Das ist Rembrandts Hand, und das Gesicht von de Gheyn. Staune. Leser, das ist de Gheyn und ist es nicht.“ des Dichters Constantijn Huygens über das Porträt seines Freundes Jakob de Gheyn der Jüngere wird als Kritik an der Darstellung de Gheyns durch Rembrandt oder aber als Sinnieren darüber, dass ein Porträt nicht der Dargestellte selbst, sondern nur ein Abbild von ihm ist, gedeutet. Das erste von Rembrandt gemalte Gruppenporträt, das seinen Durchbruch als Porträtmaler markierte, ist das 169,5 Zentimeter hohe und 216,5 Zentimeter breite Bild Die Anatomie des Dr. Tulp, das 1632 kurz nach seinem Umzug nach Amsterdam im Auftrag des Prälektors der Chirurgengilde, Nicolaes Tulp, entstand. Es zeigt eine öffentliche anatomische Vorlesung, die zu dieser Zeit alltäglich und populär war. Rembrandt bildete nicht die Porträtierten in einer Reihe ab, wie es Tradition war, sondern stellte sie um den Leichnam versammelt dar. Dessen Sehne am linken Unterarm ist freigelegt und wird vom Chirurgen mit der Zange angehoben, während er seinen Vortrag hält. Mit Ausnahme Tulps, der auf einem Sessel sitzt, stehen alle Figuren, die als Mitglieder der Gilde zu identifizieren sind, und werden in Posen abgebildet, die für das Verfolgen eines Vortrages typisch sind. So zeigt Rembrandt den konzentrierten Blick auf den Redner ebenso wie einen prüfenden in das Lehrbuch in der rechten unteren Bildecke oder das sachkundige Mustern des Präparates. Somit sind alle Figuren in einem gemeinsamen Geschehen vereinigt. Die einzelnen Gesichtszüge sind deutlicher herausgearbeitet, als es die Situation verlangt, was auf den heutigen Betrachter wie eine übertriebene Pose wirkt. Diese Übertreibung legte Rembrandt jedoch mit der Zeit ab.Ein Beispiel der zu Beginn der Amsterdamer Zeit entstandenen Einzelporträts ist das 130 Zentimeter hohe und 103 Zentimeter breite Porträt des Predigers Johannes Uytenbogaert, das 1633 von Rembrandt im Auftrag der remonstrantischen Gemeinde gemalt wurde. Es zeigt den Pfarrer Johannes Uytenbogaert, der für kurze Zeit aus seiner Verbannung in die Niederlande zurückgekehrt war. Er hat für den 13. April 1633 in seinem Tagebuch vermerkt, dass er den ganzen Tag für Rembrandt Modell saß. Teile des Bildes, wie die Hände, stammen nicht von Rembrandt selbst, sondern wurden von einem Ateliermitarbeiter gemalt. Diese Praxis kam bei einigen Porträts Rembrandts vor, da es nicht ungewöhnlich war, dass in Porträtwerkstätten verschiedene Maler an einem Bild arbeiteten. Eines der berühmtesten Gemälde Rembrandts ist das Gruppenporträt Die Nachtwache, das 1642 gemalt wurde. Das 363 Zentimeter hohe und 437 Zentimeter breite Bild wurde von der Gilde der Büchsenschützen in Auftrag gegeben, die ein neues Schützenhaus bezog und zum Schmuck des Festsaals mehrere Gruppenporträts bestellte. Rembrandt erfüllte diesen Auftrag wie schon bei der Anatomie des Dr. Tulp, indem er die Porträtierten in eine Handlung einband. Der Kapitän Frans Banning Cocq erteilt den Marschbefehl an Leutnant Willem van Ruytenburgh, der diesen nun weitergibt. Kapitän und Leutnant stehen als Ausgangspunkt der Bildhandlung mittig im Vordergrund. Einzelne Mitglieder der Kompanie haben den Befehl bemerkt und machen sich marschbereit. Die Tätigkeit der Gilde wird von drei Schützen symbolisiert, die verschiedene Phasen des Schusses zeigen. Im linken Vordergrund stopft einer die Büchse, hinter dem Leutnant ist das Mündungsfeuer eines feuernden Schützen zu sehen und rechts vom Leutnant pustet ein alter Mann abgebranntes Pulver von der Zündpfanne. In der linken Bildhälfte stellte Rembrandt zwei kleine Mädchen dar, die als Marketenderinnen auftreten und von denen nur die vordere als Allegorie zu erkennen ist. Sie trägt am Gürtel ein Huhn, dessen Kralle das Symbol der Büchsenschützengilde war, das Trinkhorn der Gilde und eine Pastete. So weist das Bild auf die Feier der Gildengemeinschaft mit einer gemeinsamen Mahlzeit hin. Rembrandt erweckt mit der Andeutung weiterer Figuren im Hintergrund den Anschein, dass die ganze Kompanie anwesend ist, zu der nicht nur Schützen, sondern auch Spieß- und Lanzenträger gehörten. Das Gemälde zeigt einen gewöhnlichen Aufmarsch der Gilde, weshalb über lange Zeit Titel wie Kapitän Frans Banningh Cocq gibt seinem Leutnant den Befehl zum Aufmarsch der Bürgerkompanie verbreitet waren. Erst als die Firnisschichten nachgedunkelt waren und das Bild deshalb wie eine nächtliche Szene erschien, bürgerte sich gegen Ende des 18. Jahrhunderts der Titel Die Nachtwache ein. Um das Bild ranken sich verschiedene Gerüchte und Anekdoten wie etwa, dass die Dargestellten Mitglieder einer Theatergruppe seien, oder dass sich Rembrandts Ruf als Porträtmaler durch die ungewöhnliche Komposition des Bildes verschlechtert hätte. Diese Spekulationen werden von der Forschung abgelehnt.Das 99,5 Zentimeter hohe und 83 Zentimeter breite Porträt einer Dame mit Straußenfeder ist ein Beispiel für Rembrandts Frauenporträts und seine Porträts im letzten Jahrzehnt seines Lebens. Ab Beginn der 1660er-Jahre erlebte Rembrandt nach einer längeren Phase mit wenigen Porträtaufträgen einen Anstieg der Zahl dieser Aufträge. Diese Arbeiten sind alle von einem starken Hell-Dunkel und einer ruhigen Haltung der Dargestellten geprägt. Das Porträt der unbekannten Frau, die eine Pfauenfeder in der Hand hält, wird durch zwei helle Dreiecke geprägt. Das obere umfasst den Kopf und die Schulterpartie, das untere die Unterarme, Hände und die Feder. Beide werden von einem schwarzen Bereich der Kleidung getrennt. Diese hebt sich nur leicht vom ebenfalls dunklen Hintergrund ab. ==== Selbstporträts ==== Zeit seines Lebens fertigte Rembrandt Porträts an, die ihn selbst mit verschiedenen Gesten und unterschiedlichem Gesichtsausdruck sowie in verschiedenen Rollen zeigen. Er stellte sich „annähernd fünfzigmal in Farbe, zwanzigmal in Radierungen und ungefähr zehnmal in Zeichnungen“ selbst dar.Das Studium an sich selbst nahm Rembrandt vor allem zu Beginn seiner Laufbahn vor, als er Radierungen anfertigte, die ihn in verschiedenen emotionalen Zuständen mit den dazugehörigen Haltungen und der entsprechenden Körpersprache darstellen. Im Spätwerk fertigte er stattdessen vermehrt Bildnisse an, die sein Alter zum Thema haben oder in denen er historische Rollen annimmt. Das 102 Zentimeter hohe und 80 Zentimeter breite Selbstporträt aus dem Jahr 1640 zeigt Rembrandt vor einem hellen, neutralen Hintergrund, so dass die Figur besonders betont ist. Er trägt Kleidung aus Seide und Brokatstoff. Der Mantel ist mit einem Pelzkragen besetzt. Über dem auf einer Barriere aufgestützten Arm liegt eine schwere und kostbare Stola. Als Kopfbedeckung trägt Rembrandt ein Barett. Das Gesicht ist im Halbprofil mit einem melancholischen Ausdruck gemalt. Der Blick ist auf den Betrachter des Bildes gerichtet. In der rechten unteren Bildecke auf der Barriere ist die Signatur Rembrandt f. 1640 sichtbar. Mit der perfekten Malweise und der Darstellung des Porträtierten ähnelt dieses Bild Werken von Raffael oder Tizian.Rembrandts Alterung ist in seinen Porträts nachvollziehbar. So zeigen die Bilder ihn mit schütterem Haar und stärker werdenden Falten. Er porträtierte sich jedoch nicht nur, sondern stellte sich zum Teil auch in einen größeren erzählerischen Zusammenhang, indem er historische Rollen einnahm. Ein Beispiel hierfür ist das Selbstporträt als Apostel Paulus aus dem Jahr 1661. Es zeigt den dunkel gekleideten Rembrandt vor einem überwiegend dunklen Hintergrund. Nur die linke obere Bildecke, in der auch die Signatur angebracht ist, ist heller. Der weiße Turban, den er als Kopfbedeckung trägt, ist der hellste Abschnitt des Bildes. In der Hand hält Rembrandt eine Ausgabe des Alten Testaments; die dargestellten Buchstaben sind der hebräischen Schrift nachempfunden. Das Schwert als typisches Attribut des Apostels Paulus von Tarsus, der mit einem solchen hingerichtet wurde, ist mit seinem Knauf nur angedeutet. Ein weiteres Gemälde aus dieser Schaffensphase ist das Selbstbildnis als Zeuxis um 1663/64, das lange Zeit als Darstellung des Demokrit galt. Demokrit galt in der Antike als der lachende Philosoph, aufgrund seiner Lehre von der Wohlgemutheit als höchstem Gut. Mit der Interpretation als Demokrit war auch die Deutung verbunden, dass Rembrandt sein Altern positiv betrachtete. Nach aktuellem Stand der Forschung stellt dieses Bild jedoch Zeuxis von Herakleia dar, der beim Malen eines Porträts einer hässlichen Frau an einem Lachanfall starb. Damit könnte das Bild auch die Erkenntnis Rembrandts über seine eigene Überheblichkeit und Sterblichkeit symbolisieren. Diese Interpretation gilt jedoch ebenfalls nicht als sicher. So wird angeführt, dass bei Röntgenuntersuchungen festgestellt wurde, dass Rembrandt in einer früheren Version des Bildes nur lächelte und nicht lachte. ==== Landschaften ==== Die Insolvenz-Inventarliste Rembrandts von 1656 führt zwölf Landschaftsgemälde von seiner Hand auf, von denen sich nach heutigem Wissensstand acht erhalten haben. Daneben werden ihm 32 Radierungen und zahlreiche Zeichnungen mit Landschaftsdarstellungen zugeschrieben. Landschaftsgemälde standen zu Lebzeiten Rembrandts in der traditionellen Hierarchie der Gattungen unter der Porträt- und Historienmalerei und waren dementsprechend preiswerter. Rembrandt selbst wird sich als Historienmaler gesehen haben. Landschaften zeichnete er bei Wanderungen in der Umgebung Amsterdams eher zu seinem persönlichen Vergnügen. Dies erklärt, warum er nur wenige Landschaftsgemälde schuf, die sich darüber hinaus deutlich von denen seiner Zeitgenossen unterscheiden.Im Zeitraum zwischen 1636 und 1655 malte Rembrandt einige Landschaftsgemälde, was nicht notwendigerweise bedeutet, dass diese Bilder keine Figuren enthalten. Der Großteil von ihnen zeigt Phantasielandschaften, nur eine Minderheit ist von Rembrandt realistisch gemalt worden. Im Unterschied zu seinen Zeichnungen und Radierungen, die meist weite, offene und realistisch gehaltene Landschaften zeigen, wirken die Gemälde überwiegend bewegungslos und beengt. Im Gegensatz zu den Historien und Porträts unterschieden sich die Landschaftsgemälde Rembrandts stark von den traditionellen Gemälden dieser Gattung. Sie hatten begrenzten Einfluss auf nachfolgende Künstler im England um das Jahr 1800. Während viele italienische und den Italienern nacheifernde Künstler Landschaften der römischen oder griechischen Antike wählten, malte Rembrandt oftmals solche, die eher dem israelischen Raum zugeordnet werden können. Wie die Maler idealisierter Landschaften stellte Rembrandt in seinen Gemälden nicht die Realität dar. Er ging jedoch noch weiter, indem er auch auf die Basis des Studiums der Natur für das Malen des Bildes verzichtete.Ein Beispiel für die fantastischen Landschaften ist das Gemälde Landschaft mit Gebäuden, das Rembrandt zwischen 1642 und 1646 schuf. Es ist die am meisten klassische Landschaftskomposition unter seinen Werken und orientierte sich vermutlich an der 1604 entstandenen Landschaft mit der Flucht nach Ägypten von Annibale Carracci, einem Gemälde, das Rembrandt als Kopie bekannt gewesen sein dürfte. In beiden Bildern dominiert eine Gruppe von Gebäuden den Horizont. Ein Teil von ihnen wird von der Sonne beleuchtet, der andere liegt im Schatten. Die Gebäude gliedern sich farblich und kompositorisch so in die Landschaft ein, dass sie wie natürlich zu ihr gehörend erscheinen. Im Vordergrund ist ein Fluss zu sehen, über den eine Brücke führt. Es ist möglich, dass Rembrandt das Gemälde nicht vollendete und deshalb keine Figuren in das Bild integriert sind.Eine der realistischen Landschaften ist die 17 × 23 Zentimeter große Winterlandschaft aus dem Jahr 1646. Das kleine Format und die Ausführung lassen vermuten, dass sie auf einer Zeichnung basiert. Die Darstellung des Wetters und der Wolken ist der Realität nachempfunden. Der Vordergrund des Bildes ist relativ leer. In seiner linken Ecke sitzt ein Mann, in seiner rechten Hälfte befinden sich drei weitere Figuren. In der Ausführung ist diese Landschaft nicht so repräsentativ und prunkvoll wie viele andere Winterlandschaften, die im 17. Jahrhundert in den Niederlanden entstanden. === Zeichnungen === Von den zahlreichen Zeichnungen, die Rembrandt im Laufe seines Lebens anfertigte, sind heute etwa 1000 erhalten. Er verkaufte nur wenige dieser Zeichnungen, der Großteil diente Studienzwecken. Es handelte sich um Skizzen, Vorzeichnungen, Nachzeichnungen und Erinnerungsstützen, die seinen Schülern in der Werkstatt nach Themen geordnet zugänglich waren. Einige Zeichnungen legen Zeugnis davon ab, dass Rembrandt sich mit bestimmten Problemen stärker befasste. So widmete er sich in der zweiten Hälfte der 1630er-Jahre der Symmetrie und Asymmetrie im von Leonardo da Vinci angefertigten Werk Das letzte Abendmahl. Dieses war Rembrandt über einen Stich bekannt und veranlasste ihn, in verschiedenen Zeichnungen den Aufbau dieses Bildes zu studieren. Seine so gewonnenen Erkenntnisse übertrug Rembrandt in das Gemälde Simson an der Hochzeittafel, das Rätsel aufgebend, das sich in der Komposition an das Abendmahl anlehnt.Im Laufe der Zeit befasste sich Rembrandt immer wieder mit der Darstellung bestimmter Themen, wie etwa der Geschichte von Susanna im Bade. Ein Beispiel der Umsetzung dieser biblischen Erzählung ist die mit roter Kreide angefertigte Zeichnung Susanna im Bade, die um 1637 entstand. Sie orientiert sich kompositorisch an einem Historiengemälde von Pieter Lastman, bei dem Rembrandt studiert hatte. Susanna wird nach der biblischen Erzählung von zwei alten Richtern bedrängt und vor die Wahl gestellt, ihnen zu Willen zu sein oder verleumdet zu werden. Rembrandt übernahm die große Anlage des Bildes, die Gruppierung der Figuren und wesentliche Bildelemente Lastmans in seine Kreidezeichnung. Der Hauptunterschied zum Original liegt in der weiteren Ausgestaltung der Szene, wobei Rembrandt den Dialogcharakter betont. Über die Körpersprache der beiden Alten transportiert er die Alternativen der Susanna: Der linke weist mit dem Daumen auf das Schloss als Drohung mit der Verleumdung und Anklage, der rechte lockt Susanna mit seinem Finger. Letzterer wird von Susanna mit einem abweisenden Blick bedacht, womit ihre Ablehnung des Ansinnens dargestellt wird.Die neuere Rembrandt-Forschung sieht in einem Großteil der Zeichnungen seines Spätwerks nicht mehr primär den ursprünglich vermuteten "Vorzeichnungscharakter" – sie gelten inzwischen als autonome Kunstwerke. Eine der bevorzugten Techniken Rembrandts wurde die Rohrfeder, häufig auch in Bister laviert. === Radierungen === Rembrandt schuf etwa 300 Radierungen, von denen 80 Kupferplatten erhalten geblieben sind. Ihre Verbreitung über Reproduktionen trug zum Ruhm des Künstlers in ganz Europa bereits zu Lebzeiten bei. Die frühen Radierungen Rembrandts weisen deutliche Stilunterschiede zu seinen Zeitgenossen auf und legen nahe, dass er sich dieser Kunstgattung als Autodidakt näherte. Rembrandts Technik war freier als die anderer Künstler, die sich mit regelmäßigen Linien und Schraffierungen dem Kupferstich annäherten, so dass seine Radierungen lebendiger erscheinen. Mit dem Spiel von Hell und Dunkel und der über unterschiedliche Schraffuren erzeugten Perspektive verlieh er ihnen einen malerischen Charakter. Die Landschaft mit den drei Bäumen aus dem Jahr 1643 gehört zu den ersten realistischen Landschaftsdarstellungen Rembrandts, nachdem er in seinen früheren Gemälden heroische Landschaften mit Obelisken, Wasserfällen und Burgen kreierte. Nun konzentrierte er sich auf die Weite der Landschaft und die Darstellung der Wolken. Die Radierung Die Landschaft mit den drei Bäumen zeigt die für die Niederlande typische flache Landschaft nach einem Gewitter. Die 38,5 Zentimeter breite und 45 Zentimeter hohe Radierung Die drei Kreuze aus dem Jahr 1653 zeigt eine Interpretation der Kalvarienszene, eines traditionellen Themas von Bildern, dem sich Rembrandt von einem neuen Standpunkt aus näherte. Er fokussierte auf die Reaktionen der Anwesenden auf Jesu Tod und das nachfolgende Erdbeben sowie die drei Kreuze. Aus dem Himmel brechen Lichtstrahlen hervor, die in ihrer geometrischen Struktur den sakralen Charakter der Radierung herausstellen. Sie beleuchten Jesus und den guten Schächer, während der zweite Räuber im Dunkeln bleibt. Die Wirkung auf die anwesenden Personen stellte Rembrandt auf verschiedene Weise dar. So ist beispielsweise der Hauptmann auf die Knie gefallen, während am linken Bildrand im Vordergrund ein überwältigter Mann weggeführt wird. Die Gestaltung dieses Mannes wurde von Rembrandt einem Stich von Lucas van Leyden entlehnt, der die Erschütterung des Paulus nach seiner Bekehrung zeigt. Weiterhin sind Frauen zu Boden gestürzt, und die meisten der dargestellten Figuren zeigen auf irgendeine Art und Weise Gefühle von Verzweiflung, Angst und Schmerz. Darin rezipierte Rembrandt vor allem Darstellungen aus der Renaissance und der Antike. == Sammlung == Rembrandt begann wahrscheinlich schon in Leiden mit dem Aufbau seiner umfassenden Sammlung verschiedener Objekte und Kunstwerke. Ab 1628 finden sich präzise wiedergegebene exotische und ethnologische Gegenstände in den Werken Rembrandts, die nahelegen, dass die Sammlung auch Studienzwecken diente und Atelierrequisiten beinhaltete. Es könnte sich aber auch um einen Vorrat von wertvollen Gegenständen gehandelt haben, die zum Verkauf bestimmt waren, da Rembrandt sich auch als Kunsthändler betätigte. Mit dem enzyklopädischen Anspruch der Sammlung wollte sich Rembrandt möglicherweise auch in den höheren Kreisen der Gesellschaft profilieren.Die Sammlung teilte sich in zwei Bereiche auf, zum einen in die Naturalia wie Steinkorallen und Muscheln, zum anderen in die Artificialia, die Gegenstände wie Münzen, Waffen, Musikinstrumente und Gipsabgüsse von Büsten griechischer Philosophen und römischer Kaiser umfassten. Rembrandt teilte die Kollektion von Kunstwerken in Gemälde, Papierkunst, Kupferstiche und Holzschnitte ein. Sie umfasste unter anderem Gemälde von Meistern, die ihn stark beeinflussten, wie Pieter Lastman und dessen Umkreis, von Hercules Seghers und von befreundeten oder stilistisch nahestehenden Künstlern wie Jan Lievens. Daneben besaß Rembrandt Werke von Palma Vecchio, Lucas van Leyden, Raffael und Peter Paul Rubens. Die Kupferstiche stammten zum Beispiel von Hans Holbein dem Jüngeren und Martin Schongauer. Ein ganzes Album war mit Stichen und Holzschnitten von Lucas Cranach dem Älteren gefüllt. Weiterhin waren Tizian, Mantegna, Michelangelo, Annibale und Agostino Carracci in der Sammlung vertreten.Infolge seines Konkurses musste sich Rembrandt auch von seiner Sammlung trennen. Aufgrund der vor der Versteigerung erstellten Inventare sind heute noch der Umfang der Sammlung und die darin enthaltenen Werke und Objekte bekannt. Bereits kurze Zeit später, als er in eine kleine Wohnung gezogen war, erwarb er eine neue Sammlung. Dies legt den Schluss nahe, dass das Sammeln für Rembrandt eine Art von Obsession war. Das Museum Het Rembrandthuis in Amsterdam präsentiert eine Rekonstruktion der Sammlung um 1650. Dabei orientierte es sich an den Inventaren, welche die Exponate auch räumlich zuordneten. == Bedeutung und Nachwirkungen == === Werkstatt und Schüler === Zwischen 1628 und 1663 bildete Rembrandt Schüler in seiner Werkstatt aus. In Leiden befand sich sein Atelier im Haus seiner Eltern, so dass zwischen Wohnung und Arbeitsplatz keine Trennung bestand. Als ersten Schüler nahm er dort im Februar 1628 Gerard Dou auf, der mit seinen Genrebildern und Porträts später Berühmtheit erlangen sollte. Im November desselben Jahres folgte Isaac Jouderville. In Amsterdam arbeitete Rembrandt erst in der Werkstatt des Kunsthändlers Hendrick van Uylenburgh, bis er 1634 in die Lukasgilde eintrat und damit das Recht erhielt, eine eigene Werkstatt zu führen und Schüler aufzunehmen. In seinem Haus richtete er sich im ersten Stock sein Atelier ein und im zweiten Obergeschoss, unter dem Dach, die Werkstatt, in der seine Schüler arbeiteten. Für die Schüler waren kleine Arbeitsräume durch bewegliche Trennwände abgeteilt. Ihnen waren Zeichnungen, Stiche und Gemälde ihres Meisters zugänglich, die sie kopierten oder in freien Varianten wiedergaben. Diese Arbeiten veräußerte Rembrandt, was die 100 Gulden, die von den Eltern für ein Jahr gezahlt wurden, aufbesserte. Das Lehrgeld war in Anbetracht dessen, dass Rembrandt den Schülern weder Wohnraum noch Verpflegung bot, sehr hoch. Einige Schüler blieben nach dem Ende ihrer Lehrzeit als Assistenten in Rembrandts Werkstatt. Beispielwerke von Rembrandtschülern Die genaue Zahl der Schüler ist nicht bekannt. Frühe Biographen Rembrandts haben die Namen von rund 20 von ihnen überliefert. Die Aufzeichnungen über Rembrandts Schüler bei den Gilden von Leiden und Amsterdam gingen verloren. So wird ihre Zahl heute auf rund 50 geschätzt. Vom deutschen Künstler Joachim von Sandrart, der von 1637 bis 1645 in Amsterdam gelebt hat, wurde überliefert, dass bei Rembrandt „unzählige“ junge Männer studierten und arbeiteten. Diese Aussage legt eine höhere Schülerzahl nahe. Zu den Schülern gehörten unter anderem Carel Fabritius, Ferdinand Bol, Willem Drost, Gerbrand van den Eeckhout, Govert Flinck, Arent de Gelder, Samuel van Hoogstraten, Nicolaes Maes, Jürgen Ovens, Lambert Doomer und Franz Wulfhagen. === Beachtung und Bekanntheit === Rembrandt erlangte schon früh überregionale Bekanntheit und Ruhm. So notierte der englische Reisende Peter Mundy, der sich 1640 in den Niederlanden aufhielt, in seinem Tagebuch, dass es „in diesem Land zahlreiche hervorragende Künstler gab, einige gibt es noch, beispielsweise Rembrandt“. Ein Jahr später schrieb der frühe Rembrandt-Biograph und Stadthistoriker von Leiden Jan Janszoon Orlers über Rembrandt, „dass er zu einem der gegenwärtigen renommiertesten Maler unseres Jahrhunderts geworden ist“. Bereits 1629 und 1630 erwarb die englische Krone zwei seiner Bilder und über Stiche verbreitete sich die Kenntnis seiner Werke in großen Teilen Europas. Drei Bilder verkaufte Rembrandt an den Sizilianer Antonio Ruffo, der sie auf eine Liste der hundert schönsten Gemälde seiner Sammlung setzen ließ.Nach dem Tod Rembrandts war die Sicht auf seine Werke gespalten. Die klassizistische Kunstauffassung dominierte zwischen 1750 und 1850 in Italien, Frankreich, den Niederlanden und England und stand im Gegensatz zum Kolorismus, dem Künstler wie Caravaggio und Rembrandt zuzurechnen sind. In der 1675 erschienenen Teutschen Akademie warf der deutsche Maler Joachim von Sandrart Rembrandt vor, „die Regeln der Kunst – Anatomie, Proportion, Perspektive, die Norm der Antike und die Zeichenkunst Raffaels – nicht beachtet und die vernünftige Ausbildung in den Akademien bekämpft“ zu haben Sandrart bewertete Rembrandt zudem als ungebildet und tadelte dessen Kunstsammlung, die er zuvor in seiner Biographie noch gelobt hatte, so dass das Publikum sie nun für wertlos hielt. 1681 veröffentlichte Anries Pels das Lehrgedicht Gebruik en Misbruik des Toneels (Gebrauch und Missbrauch des Theaters), in dem er auch auf die Malerei einging und Rembrandt als „den ersten (namhaftesten) Ketzer in der Malerei“ bezeichnete, da er sich geweigert habe, seinen „berühmten Pinsel den Regeln zu unterstellen“. Der Kunstschriftsteller Arnold Houbraken ging in seinem Werk Groote Schouburgh aus dem Jahr 1718 noch weiter, indem er angebliche Zitate Rembrandts und unzutreffende biographische Informationen erfand sowie Legenden verbreitete. Zu diesem Zeitpunkt waren die Fakten über Rembrandts Leben zu großen Teilen in Vergessenheit geraten. Deshalb schloss man aus seinen Bildern auf einen niedrigen sozialen Stand und einen schlechten Charakter. Dies wurde auf seine künstlerische Auffassung übertragen. In dem rund 20 Seiten umfassenden Beitrag, an dem neben Houbraken mehrere Autoren beteiligt gewesen sein dürften, wurde Bezug auf viele der vorherigen Kritiker und Kritiken genommen. Der harschen Kritik steht die Tatsache entgegen, dass Rembrandts Kunstwerke bei Sammlern beliebt waren. Im Paris der zweiten Hälfte des 17. sowie des 18. Jahrhunderts, als die dort aktiven Künstler glatte Idealkompositionen schufen, gab es einen großen Markt für niederländische Realisten und vor allem Rembrandt. Aufgrund der gestiegenen Preise seiner Werke kamen zudem vermehrt Fälschungen auf den Kunstmarkt. Das bestehende Interesse veranlasste den französischen Kunsthändler Gersaint im Jahr 1751, einen ersten Katalog der Radierungen Rembrandts zu erstellen, was einer kunsthistorischen Pionierleistung gleichkam. Auch in Deutschland und England fanden die Bilder Rembrandts Anklang und wurden sowohl vom Bürgertum als auch von Adeligen erworben. In England erzielten seine Werke so hohe Preise, dass der britische Kunsthändler John Smith 1836 den ersten Katalog der Gemälde erstellte. Die in ganz Europa in Sammlungen vertretenen Bilder von Rembrandt, seinen Schülern und Nachfolgern inspirierten im 18. Jahrhundert Rembrandt-Nachfolger. In Deutschland beschäftigte sich der Maler Januarius Zick mit den Kostümen der Figuren und der Helldunkel-Malerei in Rembrandts Gemälden, in England erwarb Joshua Reynolds Gemälde, die Rembrandt gemalt hatte, und orientierte sich an der Farbgebung, in Italien beschäftigte sich Giovanni Battista Tiepolo mit Kompositionen von Rembrandts Stichen, und die Dichter des Sturm und Drang, einer Strömung der deutschen Literatur in der Zeit von 1770 bis etwa 1785, lobten das Volkstümliche und Natürliche der Kunst Rembrandts. Nach Errichtung von Denkmälern für Albrecht Dürer in Deutschland und Peter Paul Rubens in Belgien fand 1853 die Enthüllung eines Rembrandt-Denkmals in Amsterdam statt. Wenn dies auch vor allem aus patriotischen Motiven geschah, folgte doch als Ergebnis ein neues Interesse der Kunsthistoriker an Rembrandt. Erstmals wurde sein Leben gründlich erforscht, wobei Dokumente in Archiven gefunden wurden, die aufzeigten, dass die bisherigen Veröffentlichungen zahlreiche Fehlinformationen enthielten. 1854 erschien die erste kunstwissenschaftliche Monographie über Rembrandt, deren Autor Eduard Kolloff viele seiner Werke aus eigener Anschauung kannte. In diesen Entwicklungen liegt die Grundlage der eigentlichen Rembrandt-Forschung.Bedeutende Kunsthistoriker wie Abraham Bredius und Wilhelm von Bode forschten zu Rembrandt und seinem Umfeld. Jan Emmens korrigierte das Bild von Rembrandt als Brecher der Regeln der Kunst seiner Zeit, zu dem ihn vor allem die klassizistische Kunstliteratur gemacht hatte, zeigte historische Bezüge auf und ging auf Rembrandts Atelierarbeit und dessen künstlerische Vorbilder ein. Christian Tümpel setzte sich mit fehlgedeuteten und noch gar nicht gedeuteten Historiendarstellungen Rembrandts auseinander und das Rembrandt Research Project arbeitete an der Klärung der Urheberschaft seiner Gemälde und der seines Umkreises.Der Erfolg Rembrandts am Kunstmarkt ist ungebrochen. So konnten Werke von ihm in den letzten Jahren hohe Auktionsergebnisse erzielen. Am 13. Dezember 2000 wurde das 1632 gemalte Porträt Ältere Dame mit einer Haube bei Christie’s in London (Los-Nr.: 52) für 19.803.750 Pfund, umgerechnet 28.675.830 Dollar, versteigert. Das 1633 entstandene Porträt Ein Herr im roten Rock aus der Sammlung der Bellagio Gallery of Fine Art in Las Vegas wurde am 26. Januar 2001 bei Christie’s in New York (Los-Nr.: 81) aufgerufen und für 12.656.000 Dollar vom Kunsthändler Robert Noortmann erworben. Am 25. Januar 2007 wurden bei Sotheby’s in New York gleich zwei Bilder angeboten, von denen das Porträt Eine Frau mit schwarzer Kappe (Los-Nr.: 6) von 1632 für 9.000.000 Dollar und Der Apostel Jakobus (Los-Nr.: 74) aus dem Jahr 1661 für 25.800.000 Dollar versteigert wurden. Das am 8. Dezember 2009 bei Christie’s in London versteigerte Porträt Ein Mann mit den Armen in der Hüfte (Los-Nr.: 12) von 1658, das aus dem Besitz von Barbara Piasecka Johnson stammte, erzielte mit 20.201.250 Pfund, oder 33.210.855 Dollar den bisher höchsten jemals für ein Werk Rembrandts erzielten Preis. === Zuschreibungsproblematik und Arbeit des Rembrandt Research Project === Die Bestimmung der Eigenhändigkeit von Werken Rembrandts fiel bereits seinen Zeitgenossen schwer, da sie von denen anderer Künstler wie Govert Flinck, Jan Lievens oder Aert de Gelder zum Teil nur schwer zu unterscheiden sind. Zudem wurden in der Werkstatt Kopien und Varianten angefertigt, so dass zum Beispiel zehn Versionen des Reuigen Judas bekannt sind, die nicht eindeutig einem bestimmten Künstler zugeordnet werden können. Zum Teil können Archivalien, literarische Erwähnungen oder Reproduktionsstiche zur Bestimmung des Urhebers herangezogen werden, was aber nicht besonders zuverlässig ist. Hinzu kommen naturwissenschaftliche Untersuchungen der Werke und die Kennerschaft über spezifische Qualitäts- und Stileigenschaften des Künstlers, nach denen Übereinstimmungen und Abweichungen im Vergleich mit nicht dokumentierten Werken festgestellt werden können. Sie unterliegen jedoch subjektiven Gesichtspunkten. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts war eine optimistische Zuschreibungspraxis verbreitet, die stilistische Merkmale für die Bewertung eines Gemäldes als eigenhändiges Werk Rembrandts weit fasste. Seit 1968 nimmt eine im Rembrandt Research Project zusammengefasste Expertengruppe die Bewertung der Bilder, die Rembrandt zugeschrieben werden, vor. Sie teilten die Werke in drei Kategorien ein: Kategorie A umfasst Gemälde, deren Urheberschaft Rembrandts gesichert ist, Kategorie B solche, deren Urheberschaft Rembrandts nicht als sicher angesehen, aber auch nicht abgesprochen werden kann, und Kategorie C beinhaltet Werke, deren Urheberschaft Rembrandts nicht bestätigt werden kann und die seinem Umkreis zugeordnet werden. Dabei ist die Zuordnung einiger Werke in die jeweilige Kategorie nicht unumstritten gewesen. So wurde 1982 von den drei auf vergoldete Kupferplatten gemalten Bildern Lachender Soldat aus dem Mauritshuis, Betende alte Frau der Residenzgalerie und ein Selbstbildnis aus dem Schwedischen Nationalmuseum, die alle ein ähnliches kleines Format aufweisen, mit der Betenden alten Frau nur das am genauesten gemalte Bild als authentisch erklärt. Im Katalog der Ausstellung Der junge Rembrandt. Rätsel um seine Anfänge, die 2001 in Amsterdam und Kassel zu sehen war, wurden aber auch die beiden anderen Bilder zum sicheren Kern der authentischen Werke aus Rembrandts Schaffen der Jahre 1627 bis 1629 gezählt. Das Rembrandt Research Project verringerte die Zahl der als authentisch geltenden Werke Rembrandts auf rund 350 und publizierte seine Forschungsergebnisse in bisher vier Katalogen. Zu den prominentesten Abschreibungen zählt dabei das Porträt Der Mann mit dem Goldhelm der Berliner Gemäldegalerie. Es wurde nicht sicher nachgewiesen, aber es existiert die Hypothese, dass es von dem aus Augsburg stammenden Maler Johann Ulrich Mayr, der zeitweise in Rembrandts Werkstatt arbeitete, angefertigt wurde, da der Helm aus einer Augsburger Waffenschmiede stamme. Daneben besteht die Hypothese, dass der Urheber dieses Porträts nicht in der Werkstatt, sondern im weiteren Umkreis Rembrandts zu suchen ist. Ebenfalls von Abschreibungen in größerem Umfang waren die Zeichnungen betroffen, während die Radierungen schon weitgehend von Schulwerken und Nachahmungen befreit waren. Neben der Frage der Authentizität der Werke Rembrandts hat das Rembrandt Research Project auch neue Erkenntnisse zur Werkstatt und zum Unterricht Rembrandts und Archivfunde zur Biographie des Künstlers, zu Modellen und frühen Provenienzen seiner Werke vorzuweisen. Weiterhin hat es viele naturwissenschaftliche Erkenntnisse zu Werken Rembrandts in einer Datenbank zusammengetragen, so etwa zu den verwendeten Pigmenten, Bindemitteln und Malgründen. Zudem wurden mit Röntgenaufnahmen und Neutronenbestrahlung viele Hinweise zum Malprozess erzielt. == Rezeption == === Malerei === Rembrandts Arbeiten dienten vielen Künstlern als Inspiration, sie wurden teils kopiert oder als Vorbild für eigene Arbeiten verwendet. Dies begann bereits zu Rembrandts Lebzeiten. Ein Beispiel ist der Maler Gerrit Lundens, der mehrere Kopien der Nachtwache anfertigte und deren Komposition auf eigene Werke übertrug. Insgesamt sind bisher zehn solcher Werke von Lundens bekannt. An seiner zwischen 1642 und 1649 entstandenen Kopie, die sich in der National Gallery in London befindet, ist zudem der ursprüngliche Zustand von Rembrandts Werk vor der Verkleinerung und dem Nachdunkeln nachvollziehbar. Eine weitere zeitgenössische Rezeption dieses Bildes stellt ein Aquarell im Familienalbum des Frans Banningh Cocq dar, das um 1650 entstand. Neben solchen Kopien waren auch viele Stiche von Werken Rembrandts im Umlauf, die ihn in ganz Europa bekannt machten. So übte Rembrandt in der Epoche des Barock beispielsweise Einfluss auf andere Porträtmaler wie Johann Kupetzky aus. Nach dem Tod Rembrandts ließ sein Einfluss auf nachfolgende Künstlergenerationen nicht nach, so dass immer wieder von ihm inspirierte und an seinen Gemälden und Stichen orientierte Werke entstanden. Einer der Rembrandtnachfolger im 18. Jahrhundert war Christian Wilhelm Ernst Dietrich, der Rembrandt nicht nachahmte, sondern dessen Kompositionen erzählerischer darstellte und die Dramatik Rembrandts zurücknahm. Auch Max Liebermann war von Rembrandt beeinflusst. In seinem Frühwerk sind Einflüsse Rembrandts, der Liebermann durch seinen Lehrer Ferdinand Pauwels im Kasseler Fridericianum näher gebracht wurde, auszumachen. Bei seinem Aufenthalt in Amsterdam im Jahr 1876 ließ Liebermann sich im Rijksmuseum Radierungen Rembrandts vorlegen und kopierte diese in Federzeichnungen. Er kopierte unter anderem eine Radierung, die ein Porträt von Rembrandts Mutter zeigte.Auf die Radierungen Rembrandts bezog sich auch der französische Graphiker Rodolphe Bresdin, der seinem Vorbild in der Darstellung von Helligkeit im Kontrast zur Schwärze nacheiferte. Ein weiterer Künstler, der von Rembrandts Werken beeindruckt war, war Vincent van Gogh, der besonders Die Judenbraut schätzte. Er malte einige Gemälde nach Werken Rembrandts. Auch Édouard Manet kopierte mit der Anatomie des Dr. Tulp ein Werk Rembrandts. Pablo Picasso nahm in einigen seiner Werke Bezug auf Rembrandt. Einfluss hatten Rembrandt und seine Werke auf viele weitere Künstler wie etwa Hans von Marées, Ilja Repin, Wilhelm Leibl, Franz von Lenbach, Max Slevogt, Eugène Delacroix und Gustave Courbet. Die Expressivität der Selbstporträts Rembrandts beeinflusste darüber hinaus eine Reihe von Künstlern wie Francisco de Goya und Anton Raphael Mengs bei ihrer eigenen Selbstdarstellung.Bilder Rembrandts wurden auch von Glenn Brown verarbeitet, der in seinen Werken oftmals Gemälde berühmter Künstler rezipiert. Sein Werk Joseph Beuys (after Rembrandt) aus dem Jahr 2001 orientierte sich dabei an einem Porträt Rembrandts. Die Künstlerin Devorah Sperber bildete das Selbstporträt Rembrandts aus dem Jahr 1659, das in der National Gallery of Art in Washington hängt, in einer Installation After Rembrandt aus Garnspulen in einer verpixelten Detailansicht nach. Hiroshi Sugimoto fertigte 1999 einen Silbergelatineabzug Rembrandt van Rijn an, der eine Wachsfigur zeigt, die dem Selbstporträt von 1659 in der National Gallery in London nachempfunden ist. === Literatur === Die Person Rembrandts wurde zum Gegenstand verschiedener historischer Romane. 1934 veröffentlichte der in Russland geborene Autor Valerian Tornius Zwischen Hell und Dunkel. Der Fokus dieses Romans liegt auf dem Kontrast zwischen Rembrandts Erfolgen und seinem materiellen Abstieg bis zum Tod in Armut. Daneben spielt seine Huldigung als Genie eine zentrale Rolle. Eine Reihe von Romanen setzte sich mit Rembrandts Bezug zur Religion auseinander wie Die Sendung des Rembrandt, Harmenszoon van Rijn von Meta Scheele aus dem Jahr 1934 und Rembrandt und das große Geheimnis Gottes von Kurt Schuder aus dem Jahr 1952. Im Buch Licht auf dunklem Grund. Ein Rembrandt-Roman von Renate Krüger, das 1967 erschien, wird Rembrandts Umzug in das Judenviertel Amsterdams und seine Beziehung zu den dortigen Nachbarn behandelt. Das von Alexandra Guggenheim verfasste Buch Der Gehilfe des Malers: Ein Rembrandt-Roman erschien im Jahr 2006 und beschäftigt sich mit dem fiktiven Schüler Rembrandts, Samuel Bol. Der Maler erhält den Auftrag, ein Porträt eines Anatomen bei der Arbeit zu erstellen, aber es ist kein Leichnam eines Hingerichteten vorhanden. Als die Vorlesung schließlich stattfindet, wird die Leiche eines kleinen Diebes seziert, was Bol misstrauisch stimmt. Trotz dieser Kriminalgeschichte liegt ein Hauptaugenmerk des Romans auf der Arbeit Rembrandts als Maler, dessen Stil und Motivwahl. Ebenfalls 2006 erschien der Roman Van Rijn von Sarah Emily Miano, in dem der alte und mittellose Rembrandt, dessen Atelier der junge Verleger Pieter Blaeu 1667 besucht, auftritt. In dem Roman werden zudem weitere Charaktere mit Bezug zu Rembrandt aufgegriffen. In dem Roman Die Farbe Blau erzählt Jörg Kastner die Erlebnisse des Malers Cornelius Suythof bei der Aufklärung einer Verschwörung gegen die Niederlande im Jahr 1669. Suythof wird als Schüler Rembrandts beschrieben. Rembrandt selber spielt als Maler in der Geschichte eine wesentliche Rolle. Suythof heiratet am Ende Rembrandts Tochter Cornelia. Der Roman Der Maler und das Mädchen der niederländischen Schriftstellerin Margriet de Moor beleuchtet zwei fiktive Handlungsstränge von Elsje Christiaens und dem Künstler, der zeichnerisch die Tote am Kalvarienort festgehalten hat. === Film === Rembrandt van Rijn wurde in mehreren Filmen rezipiert. So entstand 1936 unter der Regie Alexander Kordas der Film Rembrandt, dessen Drehbuch Carl Zuckmayer und June Heart geschrieben hatten. Der Film versuchte die Maltechnik Rembrandts auf die Bildführung zu übertragen und setzt nach dem Tod seiner Ehefrau ein. Die Hauptrolle spielte Charles Laughton. 1942 folgte der von Hans Steinhoff inszenierte Film Ewiger Rembrandt, in dem der Maler von Ewald Balser verkörpert wurde. Er präsentiert zum Teil die nationalsozialistische Kulturauffassung und beschäftigt sich mit der Entstehung des Gemäldes Die Nachtwache, wobei er sich inhaltlich an dem Roman Zwischen Hell und Dunkel von Valerian Tornius orientierte. 1954 entstand der Oscar-nominierte Kurzfilm Rembrandt: A Self-Portrait. In den 1970er und 1980er Jahren wurden einige Fernsehfilme produziert, die Rembrandt zum Thema hatten. Im Jahr 1999 folgte der Kinofilm Rembrandt, in dem Klaus Maria Brandauer unter der Regie Charles Mattons den Maler darstellte. Der Film geht auf viele biografische Aspekte Rembrandts ein und präsentiert seine Vision der Malerei. Die 55-minütige Dokumentation Die Rembrandt GmbH aus dem Jahr 2006 setzt sich mit der Arbeit des Rembrandt Research Projects und Rembrandts künstlerischer Leistung auseinander, während Peter Greenaway 2007 in seinem Film Nightwatching, in dem Martin Freeman Rembrandt spielte, eine nicht historisch korrekte Darstellung der Person wählte und sie viel mehr als Projektionsfläche für seine eigene filmische Kunst nutzte. So interpretiert Greenaway den abgefeuerten Schuss in der Nachtwache als Mord, die Schärpe des Gildemeisters als Schwanz des Teufels und das als Allegorie eingefügte Mädchen als uneheliche Tochter eines Mitglieds der Gilde. Der Darstellung, Greenaway habe eine neue Interpretation des Bildes gefunden, wurde von dem Rembrandt-Experten Ernst van de Wetering widersprochen. == Literatur == nach Autoren / Herausgebern alphabetisch geordnet Eckbert Albers: Erkenntnismomente und Erkenntnisprozesse bei Rembrandt. Georg Olms Verlag, Hildesheim 2008, ISBN 978-3-487-13831-2. Svetlana Alpers: Rembrandt als Unternehmer. Sein Atelier und der Markt. DuMont Literatur und Kunst, Köln 2003, ISBN 3-8321-7297-1. Kristin Bahre u. a. (Hrsg.): Rembrandt. Genie auf der Suche. DuMont Literatur und Kunst, Köln 2006, ISBN 3-8321-7694-2. Renate Barth: Rembrandt. Radierungen. Stiftung Weimarer Klassik und Kunstsammlungen, Weimar 1981, ISBN 3-929323-03-6. Holm Bevers: Rembrandt. Die Zeichnungen im Berliner Kupferstichkabinett. Kritischer Katalog. Hatje Cantz, Ostfildern 2006, ISBN 3-7757-1817-6. J. Bruyn, B. Haak u. a.: A Corpus of Rembrandt Paintings: Band 1: 1625–1631. Kluwer Academic Publishers, 1982, ISBN 90-247-2614-X Band 2: 1631–1634. Band 2, 1986, ISBN 90-247-3339-1 Band 3: 1635–1642. 1990, ISBN 90-247-3781-8 Nils Büttner: Rembrandt: Licht und Schatten. Eine Biographie. Reclam, Stuttgart 2014, ISBN 978-3-15-010965-6. H. Perry Chapman: Rembrandt’s self-portraits. University Press, Princeton NJ 1990, ISBN 0-691-04061-3. Jean Genet: Rembrandt. Ein Fragment. Merlin-Verlag, Gifkendorf 1996, ISBN 3-926112-61-1. Amy Golahny: Rembrandt’s Reading: The Artist’s Bookshelf of Ancient Poetry and History, Amsterdam University Press, 2003. Michael Kitson: Rembrandt. Phaidon Press, New York City 2007, ISBN 978-0-7148-2743-8. Maria Kreutzer: Rembrandt und die Bibel – Radierungen, Zeichnungen, Kommentare. Reclam-Verlag, Stuttgart 2003, ISBN 3-15-010539-0. Jürgen Müller: Der sokratische Künstler. Studien zu Rembrandts Nachtwache. Brill, Leiden 2015, ISBN 978-90-04-28525-5. Otto Pächt: Rembrandt. Hrsg. von Edwin Lachnit. Prestel, München 1991. (2. Auflage. 2005) Simon Schama: Rembrandts Augen. Siedler Verlag, Berlin 2000, ISBN 3-88680-702-9. Gary Schwartz: Das Rembrandt Buch. Leben und Werk eines Genies. C. H. Beck Verlag, München 2006, ISBN 3-406-54369-3. Anna Seghers: Jude und Judentum im Werke Rembrandts. Dissertation 1924. Philipp Reclam, Leipzig 1981, ISBN 3-379-00608-4. (48 Reproduktionen (s/w)) Hans W. 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Nr. 29/2006; Interview mit dem Rembrandtforscher Ernst van de Wetering == Weblinks == The Rembrandt Database Literatur von und über Rembrandt van Rijn im Katalog der Deutschen Nationalbibliothek Werke von und über Rembrandt van Rijn in der Deutschen Digitalen Bibliothek Rembrandt van Rijn im Katalog der Kunstbibliothek Köln Werke von Rembrandt van Rijn bei Zeno.org Rembrandt van Rijn: Life and Art, archiviert auf Archive.org (Memento vom 13. April 2007 im Internet Archive) Rijn, Rembrandt Harmensz. van Onlinedatenbank der Gemäldegalerie Alte Meister Kassel == Einzelnachweise ==
https://de.wikipedia.org/wiki/Rembrandt_van_Rijn
Lithium
= Lithium = Lithium ist ein chemisches Element mit dem Symbol Li und der Ordnungszahl 3. Es ist ein Element der 1. IUPAC-Gruppe, der Gruppe der Alkalimetalle, und gehört zur zweiten Periode des Periodensystems der Elemente. Lithium ist ein Leichtmetall und besitzt die geringste Dichte der unter Standardbedingungen festen Elemente. Lithium kommt in der Natur aufgrund seiner hohen Reaktivität nicht elementar vor. Bei Raumtemperatur ist es nur in völlig trockener Luft über längere Zeit stabil, reagiert aber langsam zu Lithiumnitrid (Li3N). In feuchter Luft bildet sich an der Oberfläche schnell eine mattgraue Lithiumhydroxid-Schicht. Wie alle Alkalimetalle reagiert elementares Lithium schon bei Berührung mit der Hautfeuchtigkeit und führt so zu schweren Verätzungen und Verbrennungen. Viele Lithiumverbindungen, die in wässriger Lösung Lithiumionen bilden, sind im Gegensatz zu den entsprechenden Natrium- und Kaliumverbindungen als gesundheitsschädlich eingestuft. Als Spurenelement ist Lithium in Form seiner Salze ein häufiger Bestandteil von Mineralwasser. Im menschlichen Organismus sind geringe Mengen Lithium vorhanden; das Element ist jedoch nicht essenziell und hat keine bekannte biologische Funktion. Einige Lithiumsalze haben aber eine medizinische Wirkung und werden in der Lithiumtherapie bei bipolaren Affektstörungen, Manie, Depressionen und Cluster-Kopfschmerzen eingesetzt (siehe Medizin). == Geschichte == Als Entdecker des Lithiums gilt der Schwede Johan August Arfwedson, der im Jahr 1817 die Anwesenheit eines fremden Elements in Petalit (Li[4]Al[4][Si4O10]) und bald darauf auch in Spodumen (LiAl[Si2O6]) und Lepidolith (K(Li,Al)3[(Al,Si)4O10](F,OH)2) feststellte, als er Mineralienfunde von der Insel Utö in Schweden analysierte. Sein akademischer Lehrer Jöns Jakob Berzelius schlug Lithion, eine Ableitung zu altgriechisch λίθος líthos, deutsch ‚Stein‘, als Namen vor, der entsprechend den Bezeichnungen der andern beiden damals bekannten Alkalimetallen Natrium und Kalium auf das Material hinweist, aus dem es gewonnen wurde. Die latinisierte Form Lithium hat sich durchgesetzt.1818 bemerkte der deutsche Chemiker Christian Gottlob Gmelin, dass Lithiumsalze eine rote Flammenfärbung ergeben. Beide Wissenschaftler scheiterten in den folgenden Jahren mit Versuchen, dieses Element zu isolieren. Im Jahr 1818 gelang dies erstmals William Thomas Brande und Sir Humphry Davy mittels eines elektrolytischen Verfahrens aus Lithiumoxid (Li2O). Robert Bunsen und Augustus Matthiessen stellten 1855 durch Elektrolyse von Lithiumchlorid (LiCl) größere Mengen reinen Lithiums her. Im Jahr 1917 synthetisierte Wilhelm Schlenk aus organischen Quecksilberverbindungen die ersten lithiumorganischen Verbindungen.Mit der ersten kommerziellen Produktion begann 1923 die deutsche Metallgesellschaft in der Hans-Heinrich-Hütte in Langelsheim im Harz, indem eine Schmelze aus Lithium- und Kaliumchlorid (KCl) elektrolysiert wurde. Bis kurz nach dem Zweiten Weltkrieg gab es bis auf die Anwendung als Schmiermittel (Mineralöl, angedickt mit Lithiumstearat) und in der Glasindustrie (Lithiumcarbonat oder Lithiumoxid) kaum Anwendungen für Lithium. Dies änderte sich, als in den Vereinigten Staaten Tritium, das sich aus Lithium gewinnen lässt, für den Bau von Wasserstoffbomben benötigt wurde. Man begann mit einer breit angelegten Förderung, vor allem in Kings Mountain (North Carolina). Durch die auf Grund der kurzen Tritium-Halbwertszeit benötigten großen Lithium-Mengen wurde zwischen 1953 und 1963 ein großer Vorrat von Lithium angehäuft, das erst nach dem Ende des Kalten Krieges ab 1993 auf den Markt gebracht wurde. Neben dem Bergbau wurde nun auch die billigere Gewinnung aus Salzlaugen wichtig. Größere Mengen Lithium werden mittlerweile für Batterien, für die Polymerisation von Elastomeren, in der Bauindustrie und für die organische Synthese von Pharmazeutika und Agrochemikalien eingesetzt. Seit 2007 sind Primärbatterien und Akkumulatoren (Sekundärbatterien) das wichtigste Segment. == Vorkommen und Abbau == === Vorkommen auf der Erde === Lithium hat an der Erdkruste einen Anteil von etwa 0,006 %. Es kommt damit etwas seltener als Zink sowie häufiger als Kobalt, Zinn und Blei in der Erdkruste vor. Obwohl Lithium häufiger als beispielsweise Blei ist, ist seine Gewinnung durch die stärkere Verteilung schwierig. Im Trinkwasser und einigen Nahrungsmitteln wie Fleisch, Fisch, Eiern und Milchprodukten ist Lithium enthalten. So enthalten 100 g Fleisch etwa 100 μg Lithium. Verschiedene Pflanzen wie beispielsweise Tabak oder Hahnenfuß nehmen Lithiumverbindungen aus dem Boden auf und reichern sie an. Der durchschnittliche Anteil an der Trockenmasse von Pflanzen liegt zwischen 0,5 ppm und 3 ppm. Meerwasser enthält durchschnittlich 180 µg/L und Flusswasser etwa 3 µg/L. ==== Abbau und Reserven ==== Mengenmäßig wurden 2015 außerhalb der USA 35.000 Tonnen Lithium gewonnen und überwiegend als Lithiumcarbonat (Li2CO3) gehandelt. Im Jahr 2016 war Chile der größte Produzent. Australien verdreifachte seine Produktion zwischen 2016 und 2017 und steigerte sie bis 2018 nochmals um fast 50 %. Derzeit (2018) werden fast zwei Drittel des Lithiumvorrats in Australien im Hartgesteinsbergbau und nur etwa ein Drittel aus Solen gewonnen. Die Reserven in den vorhandenen Minen werden auf rund 17 Millionen Tonnen geschätzt (Stand: Januar 2020). Das Weltvorkommen aus kontinentalen Solen, geothermischen Solen, aus dem Hectorit-Mineral, Ölfeld-Solen und aus dem magmatischen Gestein Pegmatit ist auf 80 Millionen Tonnen geschätzt worden.Ein anderes Bild ergibt sich bei der Analyse der Unternehmen, die Lithiumminen verwalten. Laut einer Reportage des Fachmagazins „illuminem“, Chinesische Investoren kontrollieren mehrere Bergbauunternehmen, auf die 33,1 % der Gesamtproduktion (und die Hälfte der Produktion großer Unternehmen) von Lithium in der Welt entfallen. Ressource = (geschätztes) Gesamtvorkommen des Rohstoffs Reserve = der Teil der Ressource, der in einem überschaubaren Zeithorizont unter ökonomischen Bedingungen abgebaut werden kann ==== Primäre Lagerstätten ==== Lithium kommt in einigen Mineralien in Lithium-Pegmatiten vor. Die wichtigsten Minerale sind dabei Amblygonit (LiAl[PO4]F), Lepidolith (K(Li,Al)3[(Al,Si)4O10](F,OH)2), Petalit (Kastor; LiAl[Si4O10]) und Spodumen (Triphan; LiAl[Si2O6]). Diese Minerale haben einen Lithiumgehalt von bis zu 9 % (bei Amblygonit). Andere, seltenere Lithiumerze sind Kryolithionit (Li3Na3[AlF6]2), das den größten Lithiumgehalt aller Mineralien aufweist, Triphylin (Li(FeII,MnII)[PO4]) und Zinnwaldit (K(Li,Fe,Al)3[(Al,Si)4O10](F,OH)2). Lithiummineralien kommen in vielen Silikat-Gesteinen vor, aber meist nur in geringen Konzentrationen. Eine der großen Lagerstätten liegt in Serbien im Jadartal, wo das Mineral Jadarit gefunden wurde. Es gibt keine großen Lagerstätten. Da die Gewinnung von Lithium aus diesen Mineralien mit großem Aufwand verbunden ist, spielen sie heutzutage bei der Gewinnung von Lithium oder Lithiumverbindungen eine untergeordnete Rolle, dies könnte sich jedoch aufgrund der erwartet hohen Nachfrage ändern. Abbauorte sind vor allem die Greenbushes- und Mt.-Cattlin-Minen in Western Australia, in deren Pegmatit-Gesteinen eine hohe Lithiumkonzentration vorliegt und in denen Lithium als Nebenprodukt der Tantalgewinnung anfällt. Auch in einigen anderen Ländern wie Kanada und Russland, bis 1998 auch in Bassemer City, North Carolina, wird Spodumen zur Lithiumgewinnung abgebaut.Europa besitzt Li-reiche Pegmatitfelder auf der Kärntner Weinebene im Bezirk Wolfsberg, in der finnischen Region Österbotten, im Erzgebirge sowie zwischen Spanien (Almendra) und Portugal (Distrikt Guarda, Boticas).Während die erste kommerzielle Produktion von Lithiumverbindungen an sich bereits 1923 im Harz begann, könnte die Förderung in den nun neu erschlossenen bedeutenden Lagerstätten in Österreich und Finnland ab 2025 beginnen. Sie werden durch Global Strategic Metals bzw. Keliber betrieben. In Österreich an der Koralpe im Lavanttal haben Probestollen ein viel größeres Vorkommen von lithiumhaltigem Grundgestein ergeben, das auf 22 Millionen Tonnen geschätzt wird. Damit ist es eines der ersten groß angelegten Lithium-Abbauprojekte Europas und könnte 20 Jahre lang betrieben werden. Das Vorkommen bei Zinnwald im Erzgebirge wird durch die Deutsche Lithium exploriert. ==== Sekundäre Lagerstätten ==== Lithiumsalze, insbesondere Lithiumchlorid, kommen verbreitet auch in Salzlaugen, meist Salzseen, vor. Die Konzentration kann bis zu einem Prozent betragen. Neben der Konzentration des Lithiums ist für die Qualität der Salzlauge das Mengenverhältnis von Magnesium zu Lithium wichtig. Derzeit wird Lithium vor allem in Chile (Salar de Atacama, die mit 0,16 % mit den höchsten bekannten Lithiumkonzentration aufweist), Argentinien (Salar del Hombre Muerto), den Vereinigten Staaten von Amerika (Silver Peak, Nevada) und der Volksrepublik China (Chabyêr Caka, Tibet; Taijinaier-See, Qinghai) gewonnen. Im bolivianischen Salzsee Salar de Uyuni mit geschätzt 5,4 Millionen Tonnen Lithium lagern möglicherweise die größten Ressourcen. Das Staatsunternehmen Yacimientos de Litio Bolivianos investiert seit 2018 mit deutschen und chinesischen Partnern verstärkt in seine Industrialisierung, einschließlich der benachbarten Salar de Coipasa und Laguna Pastos Grandes. Es gibt weitere lithiumhaltige Salzseen, die (Stand April 2019) noch nicht zum industriellen Abbau genutzt werden, beispielsweise in China, Argentinien und Afghanistan. 2016 wurde bekannt, dass im Paradox-Becken im US-Bundesstaat Utah schon in den 1960er Jahren bei Ölexplorationsbohrungen hochsalinares Tiefengrundwasser (Sole) angetroffen wurde, aus dem sich, nach damaligen Analysen, bis zu 1700 mg/l reines Lithium gewinnen ließe.Als Kuppelprodukte bei der Lithiumgewinnung werden häufig Kaliumcarbonat (Pottasche), Borax, Caesium und Rubidium gewonnen. Aufgrund der erwarteten starken Nachfrage nach Lithium für Batterien von Elektrofahrzeugen prüften 2010 einige Unternehmen den Abbau von lithiumhaltigen Mineralien und Salzlaugen in verschiedenen Regionen der Welt inklusive Europa. Erforscht wird auch die Lithiumgewinnung aus Meerwasser. In den Weltmeeren sind ca. 230 Mrd. Tonnen Lithium gelöst. 2018 stellten Forscher eine Extraktionsmethode vor, bei der Lithium über solarbetriebene Elektrolyse aus Meerwasser gewonnen werden kann. Als einen Vorteil gegenüber herkömmlicher Gewinnung nannten sie, dass bei dem Prozess direkt metallisches Lithium anfällt und deshalb auf die (komplexe und energieaufwändige) Weiterverarbeitung verzichtet werden kann, wie sie bei der traditionellen Lithiumgewinnung aus Erzen notwendig ist.Beim Leibniz-Institut für Neue Materialien startete im November 2020 das auf zwei Jahre angesetzte Forschungsprojekt MERLIN (mining water lithium extraction), mit dem die Gewinnung von Lithium aus Grubenwasser getestet werden soll. === Vorkommen außerhalb der Erde === Nach dem Urknall ist neben Wasserstoff- und Heliumisotopen auch eine nennenswerte Menge des Isotops 7Li entstanden. Dieses ist aber zum größten Teil heute nicht mehr vorhanden, da in Sternen Lithium mit Wasserstoff im Prozess der Proton-Proton-Reaktion II fusioniert und so verbraucht wurde. In Braunen Zwergen sind Masse und Temperatur jedoch nicht hoch genug für eine Wasserstofffusion; ihre Masse erreicht nicht die dazu notwendige Größe von etwa 75 Jupitermassen. Das beim Urknall entstandene Lithium blieb somit in größeren Mengen nur in Braunen Zwergen erhalten. Lithium ist aus diesem Grund auch extraterrestrisch ein verhältnismäßig seltenes Element, kann aber zum Nachweis Brauner Zwerge dienen.Die Verteilung von Lithium in verschiedenen Sternen ist stark unterschiedlich, auch wenn das Alter, die Masse und die Metallizität ähnlich sind. Es wird angenommen, dass Planeten einen Einfluss auf den Lithiumgehalt eines Sterns besitzen. Besitzt ein Stern keine Planeten, so ist der Lithiumgehalt hoch, während Sterne wie die Sonne, die von Planeten umgeben sind, einen nur geringen Lithiumgehalt aufweisen, was auch als Lithium Dip bezeichnet wird. Als Ursache wird vermutet, dass die Gezeitenkräfte von Planeten zu einer stärkeren Durchmischung von äußeren und inneren Schichten in Sternen beitragen, so dass mehr Lithium in einen Bereich gelangt, der heiß genug ist, um dieses zu fusionieren. == Produktionsprozess == Lithium wird In Australien vorwiegend aus Gesteinen im offenen Tagebau, in Südamerika häufig aus Salzwasser (Grundwasser, Salzseen) durch Verdunstung gewonnen. Seltener ist die Gewinnung aus Thermal- oder Grubenwasser in Europa. === Aus Salzwasser === Zur Lithiumgewinnung wird salzhaltiges Grundwasser an die Oberfläche gepumpt und über eine Kette von Verdunstungsteichen geleitet, in denen über mehrere Monate die Verdunstung an der Sonne stattfindet. Hat das Lithiumchlorid in den Teichen die nötige Konzentration erreicht, wird die Lösung in eine Aufbereitungsanlage gepumpt, wo unerwünschtes Bor oder Magnesium extrahiert und ausgefiltert werden. Dann wird sie mit Natriumcarbonat behandelt. Das dabei ausgefällte Lithiumcarbonat wird gefiltert und getrocknet. Überschüssige Rest-Sole wird in den Salzsee zurückgepumpt. In trockenen Gegenden wie Chile wird durch die Grundwasserverwendung das Austrocknen der Landschaft gefördert. === Aus Thermalwasser === In Mitteleuropa wird das Lithium aus kilometertiefem, heißen Thermalwasser gewonnen. An der Geothermie-Forschungsbohrung Groß Schönebeck wurde in vier Kilometern Tiefe eine Konzentration von Litiumionen von 200 bis 230 mg/l nachgewiesen. Die Temperatur von 150 °C ist dabei ebenso entscheidend, da das Lithium zu einem Nebenprodukt der Geothermie wird.Das Verfahren besteht aus drei Schritten: Anlagern, Ablösen und Raffinieren. Im ersten Schritt wird das Thermalwasser in einen Behälter mit einem Adsorptionsmaterial gefüllt, das die freien Lithiumionen einfängt. Nach der Anlagerung wird das Thermalwasser abgepumpt und dem Geothermiekreislauf wieder zugeführt. Im zweiten Schritt wird der Behälter mit einem sauren Lösungsmittel wie etwa Essigsäure befüllt, das die Lithiumionen aus dem Adsorptionsmaterial herauswäscht. Die mit Lithium angereicherte Lösung wird sodann abgepumpt und im dritten Schritt zu Lithiumchlorid veredelt.Eine Pilotanlage ist am Geothermiekraftwerk Insheim in Rheinland-Pfalz in Betrieb. Das Unternehmen Vulcan Energie fördert dort Lithiumchlorid aus 2.000 bis 5.000 Metern Tiefe und wandelt es in einer Elektrolyse-Anlage zu Lithiumhydroxid. Je nach anderen gelösten Ionen wie Kochsalz oder Eisen können bis zu 95 Prozent des gelösten Lithiums gewonnen werden. Im Jahr 2021 konnten jedoch nur einige Kilogramm Lithiumhydroxid pro Monat gewonnen werden. == Darstellung == Aus lithiumhaltigen Salzlösungen wird durch Verdunsten des Wassers und Zugabe von Natriumcarbonat (Soda) Lithiumcarbonat ausgefällt. Dazu wird die Salzlake zunächst so lange an der Luft eingeengt, bis die Lithiumkonzentration 0,5 % überschreitet. Durch Zugabe von Natriumcarbonat fällt daraus das wenig lösliche Lithiumcarbonat aus: 2 L i C l + N a 2 C O 3 ⟶ L i 2 C O 3 ↓ + 2 N a C l {\displaystyle \mathrm {2\ LiCl\ +Na_{2}CO_{3}\ \longrightarrow \ Li_{2}CO_{3}\downarrow +\ 2\ NaCl} } .Zur Gewinnung von metallischem Lithium wird das Lithiumcarbonat zunächst mit Salzsäure umgesetzt. Dabei entstehen Kohlenstoffdioxid, das als Gas entweicht, und gelöstes Lithiumchlorid. Diese Lösung wird im Vakuumverdampfer eingeengt, bis das Chlorid auskristallisiert: L i 2 C O 3 + 2 H 3 O + + 2 C l − ⟶ 2 L i + + 2 C l − + C O 2 ↑ + 3 H 2 O {\displaystyle \mathrm {Li_{2}CO_{3}+\ 2\ H_{3}O^{+}+\ 2\ Cl^{-}\longrightarrow \ 2\ Li^{+}+\ 2\ Cl^{-}+CO_{2}\uparrow +\ 3\ H_{2}O} } Die Apparate und Anlagen für die Lithiumchlorid-Gewinnung müssen aus Spezialstählen oder Nickellegierung sein, da die Salzlauge sehr korrosiv wirkt. Metallisches Lithium wird durch Schmelzflusselektrolyse eines bei 450–500 °C schmelzenden eutektischen Gemisches aus 52 Massenprozent Lithiumchlorid und 48 Massenprozent Kaliumchlorid hergestellt: L i + + e − → E l e k t r o l y s e ( 450 − 500 ) ∘ C L i {\displaystyle \mathrm {Li^{+}+\mathrm {e} ^{-}\ {\xrightarrow[{Elektrolyse}]{(450-500)\,^{\circ }C}}\ Li} } Das Kalium wird bei der Elektrolyse nicht abgeschieden, weil es in der Chlorid-Schmelze ein niedrigeres Elektrodenpotential hat. Spuren von Natrium werden jedoch mit abgeschieden und machen das Lithium besonders reaktiv (vorteilhaft in der organischen Chemie, schlecht für Li-Batterien). Das flüssige Lithium sammelt sich an der Elektrolytoberfläche und kann so relativ einfach aus der Elektrolysezelle ausgeschleust werden. Es ist ebenfalls möglich, Lithium per Elektrolyse von Lithiumchlorid in Pyridin zu gewinnen. Diese Methode eignet sich besonders gut im Labormaßstab. == Wirtschaftliche Bedeutung und Rohstoffhandel == Nach seiner Gewinnung gelangt Lithium als Rohstoff über den Handel zu den weiterverarbeitenden Industrien. Im Rohstoffhandel, speziell an den Börsen für Metalle, wird kein reines Lithium gehandelt, das chemisch zu instabil wäre. Gehandelt werden stattdessen stabile Lithiumverbindungen, i. d. R. mit Lithiumsalzen bzw. Lithium-basierenden Kristallhaufwerken, überwiegend Lithiumkarbonat oder Lithiumhydroxidmonohydrat. Diese Stoffe werden u. a. an der London Metal Exchange gehandelt. 2020 wurden für Lithiumkarbonat (Minimalgehalt 99,5%) ein Preis von 8,75 USD / kg verzeichnet, für Lithiumhydroxidmonohydrat (Minimalgehalt 56,5%) 10,25 USD / kg. In der Folgezeit stieg der Preis und lag Mitte 2022 bei ca. 70 USD/kg. IndexfondsNeben der Quotierung des Lithiums als Rohstoff existieren seit 2010 Lithium-Indexfonds (ETFs), die börslich handelbar sind. Mit diesen ETFs wird der Börsenwert von Unternehmen abgebildet, die an der Lithium-Wertschöpfungskette beteiligt sind. Seit 2010 gibt es einen Aktien-Performance-Index von Solactive, der die Marktkapitalisierung der größten börsennotierten Unternehmen nachzeichnet, die an Erkundung und Bergbau von Lithium sowie der Produktion von Lithium-Batterien beteiligt sind. Zu den zehn größten Werten in diesem Index zählen (nach Größe absteigend, Stand April 2020): Albemarle, SQM, Tesla, BYD, Samsung, Simplo Technology, LG Chem, Panasonic, GS Yuasa und Enersys. Die wenigen Lithium-ETFs bilden überwiegend diesen Index ab. === Weltmarkt === Lithium ist laut der Bundesanstalt für Geowissenschaften und Rohstoffe (BGR) der „Schlüsselrohstoff der Verkehrswende“, der derzeit in Lithiumionenbatterien unabhängig von der Batteriekomposition „nicht ersetzbar ist. Gegenwärtig werden global jährlich rund 82.000 Tonnen Lithium produziert. Für 2030 prognostiziert die BGR einen Bedarf von bis zu 560.000 Tonnen.“ Zudem ist die „Veredelung der Rohstoffe zu gebrauchsfertigen Substanzen […] sehr stark auf China konzentriert, bei seltenen Erden zu fast 90 Prozent, […] bei Lithium zu 58 Prozent.“Das Bergbau-Unternehmen Imerys kündigte die Eröffnung einer Lithium-Mine in Zentralfrankreich an. Untersuchungen ergaben, dass das Vorkommen ausreiche, „um ab 2028 jährlich 34.000 Tonnen Lithiumhydroxid zu produzieren.“ == Eigenschaften == === Physikalische Eigenschaften === Lithium ist ein silberweißes, weiches Leichtmetall. Es ist bei Raumtemperatur das leichteste aller festen Elemente (Dichte 0,534 g/cm³). Nur fester Wasserstoff bei −260 °C ist mit einer Dichte von 0,0763 g/cm³ noch leichter. Lithium kristallisiert – wie die anderen Alkalimetalle – in einer kubisch-raumzentrierten Kugelpackung in der Raumgruppe Im3m (Raumgruppen-Nr. 229)Vorlage:Raumgruppe/229 mit dem Gitterparameter a = 351 pm und zwei Formeleinheiten pro Elementarzelle. Bei tiefen Temperaturen von 78 K ändert sich die Kristallstruktur durch Spontanumwandlung in eine hexagonale Struktur des Magnesium-Typs mit den Gitterparametern a = 311 pm und c = 509 pm oder nach Verformung in eine kubische Struktur des Kupfer-Typs (kubisch flächenzentriert) mit dem Gitterparameter a = 438 pm um. Die genauen Ursachen, welche Struktur gebildet wird, sind unbekannt.Lithium hat unter den Alkalimetallen den höchsten Schmelz- und Siedepunkt sowie die größte spezifische Wärmekapazität. Lithium besitzt zwar die größte Härte aller Alkalimetalle, lässt sich bei einer Mohs-Härte von 0,6 dennoch mit dem Messer schneiden. Als typisches Metall ist es ein guter Strom- (Leitfähigkeit: etwa 18 % von Kupfer) und Wärmeleiter. Lithium weist weitgehende Ähnlichkeit zu Magnesium auf, was sich auch in der Tatsache des Auftretens von heterotypen Mischkristallen aus Lithium und Magnesium, der sogenannten Isodimorphie zeigt. Obwohl Magnesium in der hexagonal dichtesten, Lithium dagegen in der kubisch raumzentrierten Kugelpackung kristallisiert, sind beide Metalle weitgehend heterotyp mischbar. Dies erfolgt aber nur in einem beschränkten Konzentrationsbereich, wobei die im Überschuss vorhandene Komponente der anderen ihr Kristallgitter „aufzwingt“. Das Lithium-Ion weist mit −520 kJ/mol die höchste Hydratationsenthalpie aller Alkalimetallionen auf. Dadurch ist es in Wasser vollständig hydratisiert und zieht die Wassermoleküle stark an. Das Lithiumion bildet zwei Hydrathüllen, eine innere mit vier Wassermolekülen, die sehr stark über ihre Sauerstoffatome an das Lithiumion gebunden sind, und eine äußere Hülle, in der über Wasserstoffbrücken weitere Wassermoleküle mit dem Li[H2O]4+-Ion verbunden sind. Dadurch ist der Ionenradius des hydratisierten Ions sehr groß, sogar größer als diejenigen der schweren Alkalimetalle Rubidium und Caesium, die in wässriger Lösung keine derart stark gebundenen Hydrathüllen aufweisen. Als Gas kommt Lithium nicht nur in einzelnen Atomen, sondern auch molekular als Dilithium Li2 vor. Das einbindige Lithium erreicht dadurch ein volles s-Atomorbital und somit eine energetisch günstige Situation. Dilithium hat eine Bindungslänge von 267,3 pm und eine Bindungsenergie von 101 kJ/mol. Im gasförmigen Zustand liegt etwa 1 % (nach Masse) des Lithiums als Dilithium vor. === Chemische Eigenschaften === Lithium ist – wie alle Alkalimetalle – sehr reaktiv und reagiert bereitwillig mit sehr vielen Elementen und Verbindungen (wie Wasser) unter Wärmeabgabe. Unter den Alkalimetallen ist es allerdings das reaktionsträgste. Eine Besonderheit, die Lithium von den anderen Alkalimetallen unterscheidet, ist seine Reaktion mit molekularem Stickstoff zu Lithiumnitrid, die bereits bei Raumtemperatur langsam stattfindet: 6 L i + N 2 → 20 ∘ C 2 L i 3 N {\displaystyle \mathrm {6\ Li\ +N_{2}\ {\xrightarrow {20\,^{\circ }C}}\ 2\ Li_{3}N} } .Dies wird durch die hohe Ladungsdichte des Li+-Ions und damit durch eine hohe Gitterenergie des Lithiumnitrids ermöglicht. Lithium hat mit −3,04 V das niedrigste Normalpotential im Periodensystem und ist somit das unedelste aller Elemente. Wie alle Alkalimetalle wird Lithium unter Petroleum oder Paraffinöl aufbewahrt, da es sonst mit dem in der Luft enthaltenen Sauerstoff und Stickstoff reagiert. Da die Ionenradien von Li+- und Mg2+-Ionen vergleichbar groß sind, gibt es auch Ähnlichkeiten in den Eigenschaften von Lithium beziehungsweise Lithiumverbindungen und Magnesium oder Magnesiumverbindungen. Diese Ähnlichkeit in den Eigenschaften zweier Elemente aus benachbarten Gruppen des Periodensystems ist als Schrägbeziehung im Periodensystem bekannt. So bildet Lithium, im Gegensatz zu Natrium, viele metallorganische Verbindungen (Organolithium-Verbindungen), wie Butyllithium oder Methyllithium. Ähnliche Beziehungen bestehen auch zwischen Beryllium und Aluminium sowie zwischen Bor und Silicium. == Isotope == In der Natur kommen die beiden stabilen Isotope 6Li (7,6 %) und 7Li (92,4 %) vor. Daneben sind instabile Isotope, beginnend bei 4Li über 8Li bis 12Li, bekannt, die nur künstlich herstellbar sind. Ihre Halbwertszeiten liegen alle im Millisekundenbereich.6Li spielt eine wichtige Rolle in der Technologie der Kernfusion. Es dient sowohl im Kernfusionsreaktor als auch in der Wasserstoffbombe als Ausgangsmaterial für die Erzeugung von Tritium, das für die energieliefernde Fusion mit Deuterium benötigt wird. Tritium entsteht im Blanket des Fusionsreaktors oder in der Wasserstoffbombe neben Helium durch Beschuss von 6Li mit Neutronen, die bei der Fusion anfallen, nach der Kernreaktion 3 6 L i + n → 2 4 H e + 1 3 T + 4 , 78 M e V {\displaystyle \mathrm {\,_{3}^{6}Li+n\rightarrow \,_{2}^{4}He+\,_{1}^{3}T+4{,}78\ MeV} } .Die ebenfalls mögliche Reaktion 3 7 L i + n → 2 4 H e + 1 3 T + n − 2 , 74 M e V {\displaystyle \mathrm {\,_{3}^{7}Li+n\rightarrow \,_{2}^{4}He+\,_{1}^{3}T+n-2{,}74\ MeV} } ist weniger geeignet (siehe Blanket). Die Trennung kann beispielsweise über einen Isotopenaustausch von Lithiumamalgam und einer gelösten Lithiumverbindung (wie Lithiumchlorid in Ethanol) erfolgen (sogenannter COLEX-Prozess). Dabei werden Ausbeuten von etwa 50 % erreicht.Ist in einer Dreistufenbombe neben 6Li auch 7Li vorhanden (wie es beispielsweise bei Castle Bravo unerwarteterweise der Fall war), reagiert dieses mit einigen der bei der Fusion erzeugten schnellen Neutronen. Dadurch entstehen wieder Neutronen, außerdem Helium und zusätzliches Tritium. Dies führt, obwohl die 7Li-Neutron-Reaktion zunächst Energie verbraucht, im Endergebnis zu erhöhter Energiefreisetzung durch zusätzliche Fusionen und mehr Kernspaltungen im Bombenmantel aus Uran. Die Sprengkraft ist deshalb höher, als wenn nur der 6Li-Anteil der Isotopenmischung in der Bombe umgewandelt worden wäre. Da vor dem Castle-Bravo-Test angenommen wurde, das 7Li würde nicht mit den Neutronen reagieren, war die Bombe etwa 2,5-mal so stark wie erwartet.Das Lithiumisotop 7Li entsteht in geringen Mengen in Kernkraftwerken durch eine Kernreaktion des (als Neutronenabsorber verwendeten) Borisotops 10B mit Neutronen. 5 10 B + n → 3 7 L i + 2 4 H e + γ {\displaystyle \mathrm {\,_{\ 5}^{10}B+n\rightarrow \,_{3}^{7}Li+\,_{2}^{4}He+\gamma } } Die Isotope 6Li, 7Li werden beide in Experimenten mit kalten Quantengasen verwendet. So wurde das erste Bose-Einstein-Kondensat mit dem (Boson) Isotop 7Li erzeugt. 6Li dagegen ist ein Fermion, und im Jahr 2003 ist es gelungen, Moleküle dieses Isotops in ein Suprafluid zu verwandeln. == Verwendung == Die heute wichtigste und am schnellsten wachsende Anwendung für Lithium ist die Verwendung in Lithium-Ionen-Akkumulatoren (oft auch als wiederaufladbare Batterien bezeichnet), die z. B. in Smartphones, Laptops, Akkuwerkzeugen oder elektrisch betriebenen Fahrzeugen, wie Hybridautos, Elektroautos oder E-Bikes verwendet werden (siehe Diagramm rechts). Der größte Teil der produzierten Lithiumsalze wird nicht zum Metall reduziert, sondern entweder direkt als Lithiumcarbonat, Lithiumhydroxid, Lithiumchlorid, Lithiumbromid eingesetzt oder zu anderen Verbindungen umgesetzt. Das Metall wird nur in einigen Anwendungen benötigt. Die wichtigsten Verwendungszwecke von Lithiumverbindungen findet man im Abschnitt „Verbindungen“. === Metall === Ein Teil des produzierten Lithiummetalls wird für die Gewinnung von Lithiumverbindungen verwendet, die nicht direkt aus Lithiumcarbonat hergestellt werden können. Dies sind in erster Linie organische Lithiumverbindungen wie Butyllithium, Lithium-Wasserstoff-Verbindungen wie Lithiumhydrid (LiH) oder Lithiumaluminiumhydrid sowie Lithiumamid. Lithium wird wegen seiner Fähigkeit, direkt mit Stickstoff zu reagieren, zu dessen Entfernung aus Gasen verwendet. Metallisches Lithium ist ein sehr starkes Reduktionsmittel; es reduziert viele Stoffe, die mit anderen Reduktionsmitteln nicht reagieren. Es wird bei der partiellen Hydrierung von Aromaten (Birch-Reduktion) eingesetzt. In der Metallurgie wird es zur Entschwefelung, Desoxidation und Entkohlung von Metallschmelzen eingesetzt. Da Lithium ein sehr niedriges Normalpotential besitzt, kann es in Batterien als Anode verwendet werden. Diese Lithium-Batterien haben eine hohe Energiedichte und können eine besonders hohe Spannung erzeugen. Nicht zu verwechseln sind die nicht wiederaufladbaren Lithium-Batterien mit den wiederaufladbaren Lithium-Ionen-Akkumulatoren, bei denen Lithiummetalloxide wie Lithiumcobaltoxid als Kathode und Graphit oder andere Lithiumionen einlagernde Verbindungen als Anode geschaltet sind. === Kernfusion === Das für den Betrieb von Kernfusionsreaktoren nötige Tritium soll im Blanket des Reaktors aus Lithium-6 erbrütet werden. === Legierungsbestandteil === Lithium wird mit einigen Metallen legiert, um deren Eigenschaften zu verbessern. Oft reichen dafür schon geringe Mengen Lithium aus. Es verbessert als Beimischung bei vielen Stoffen die Zugfestigkeit, Härte und Elastizität. Ein Beispiel für eine Lithiumlegierung ist Bahnmetall, eine Bleilegierung mit circa 0,04 % Lithium, die als Lagermaterial in Eisenbahnen verwendet wird. Auch bei Magnesium-Lithium-Legierungen und Aluminium-Lithium-Legierungen werden die mechanischen Eigenschaften durch Zusatz von Lithium verbessert. Gleichzeitig sind Lithiumlegierungen sehr leicht und werden deshalb viel in der Luft- und Raumfahrttechnik verwendet. === Forschung (Atomphysik) === In der Atomphysik wird Lithium gerne verwendet, da es mit 6Li als einziges Alkalimetall ein stabiles fermionisches Isotop besitzt, weshalb es sich zur Erforschung der Effekte in ultrakalten fermionischen Quantengasen eignet (siehe BCS-Theorie). Gleichzeitig weist es eine sehr breite Feshbach-Resonanz auf, die es ermöglicht, die Streulänge zwischen den Atomen nach Belieben einzustellen, wobei die Magnetfelder aufgrund der Breite der Resonanz nicht besonders präzise gehalten werden müssen. === Medizin === Bereits 1859 wurde Lithium in der westlichen Medizin als Mittel gegen Gicht erstmals eingesetzt. Es erwies sich jedoch als unwirksam. Erst 1949 beschrieb der australische Psychiater John Cade (1912–1980) ein mögliches Anwendungsgebiet für Lithiumsalze. Er hatte Meerschweinchen verschiedene chemische Verbindungen, darunter auch Lithiumsalze, injiziert, woraufhin diese weniger stark auf äußerliche Reize reagierten, ruhiger, aber nicht schläfrig wurden. Im Nachhinein stellte sich heraus, dass der bei den Versuchstieren beobachtete Effekt auf eine Intoxikation zurückzuführen war. Nach einem Selbstversuch von Cade wurde 1952–1954 die Verwendung von Lithiumcarbonat als Medikament zur Behandlung manisch-depressiver Patienten in einer Doppelblindstudie am Psychiatrischen Krankenhaus in Aarhus-Risskov (Dänemark) untersucht. Damit war der Grundstein für die Lithiumtherapie gelegt. Bei dieser wird Lithium in Form von Salzen, wie dem Lithiumcarbonat, gegen bipolare Affektstörungen, Manie und Depression aber auch außerhalb der Psychiatrie bei der Behandlung von Cluster-Kopfschmerz oder Infektionen mit Herpes simplex eingesetzt. Dabei ist die geringe therapeutische Breite zu beachten, die zwischen 0,6 mmol/L und 0,8 mmol/L liegt und Spiegelbestimmungen während der Therapie damit erforderlich macht. Bereits wenn sich der Lithiumblutspiegel an der oberen Grenze der therapeutischen Breite bewegt, kann es bei empfindlichen Menschen zu beherrschbaren, reversiblen Nebenwirkungen kommen. Liegt der Lithiumblutspiegel jedoch deutlich über der therapeutischen Breite – also über 2,0 mmol/L – steigt die Gefahr deutlicher bis schwerer Nebenwirkungen wie Tremor, Rigor, Übelkeit, Erbrechen, Herzrhythmusstörungen und Leukozytose rasant an. Über 3,5 mmol/L besteht Lebensgefahr. Der Grund ist, dass der Stoffwechsel von Lithium und Natrium ähnlich ist. Ein zu hoher Lithiumspiegel kann durch Schwitzen oder Natrium-ausschwemmende Medikamente (natriuretische Diuretika) mit sinkendem Natriumspiegel entstehen. Der Körper versucht, den Natriumverlust zu kompensieren, indem in den Nieren dem Primärharn Natrium entzogen und in das Blut zurücktransportiert wird (Natriumretention). Neben Natrium wird dabei auch Lithium reteniert, das normalerweise gleichmäßig von den Nieren ausgeschieden wird. Die Folge ist ein erhöhter Lithiumspiegel, was bei der Einnahme von Lithium ein Drug monitoring bedingt, bei dem regelmäßig der Lithiumspiegel bestimmt und die Dosis entsprechend angepasst wird. Auch bei korrekter Dosierung kann es unter Langzeit-Behandlung mit Lithium zu Wasser- und Natrium-Verlusten (Diabetes insipidus), Übersäuerung des Blutes (Azidose) und zur Lithium-Nephropathie mit Einschränkung der Nierenfunktion kommen.Eine Studie, die 1990 in den USA veröffentlicht wurde, beschreibt eine erhebliche Verringerung von Straftaten und Suiziden in Regionen mit erhöhten Lithiumkonzentrationen im Trinkwasser. Eine österreichische Studie kam zu ähnlichen Ergebnissen.Die Wirkungsweise des Lithium als Psychopharmakon ist noch nicht hinreichend erforscht. Derzeit werden insbesondere die Beeinflussung des Inositol-Stoffwechsels durch Hemmung der myo-Inositol-1-Phosphatase (Enzymklasse 3.1.3.25) und die Hemmung der Glykogensynthasekinase-3 (GSK-3) in Nervenzellen als mögliche Mechanismen diskutiert. Die antidepressive Wirkung von Lithium beruht wahrscheinlich ebenfalls auf einer Verstärkung der serotonergen Neurotransmission, also einer erhöhten Ausschüttung von Serotonin in den Synapsen, während die antimanische Wirkung mit einer Hemmung dopaminerger Rezeptoren erklärt wird. Eine weitere interessante Auswirkung von Lithiumsalzen auf den Menschen und Säugetiere wie Ratten ist die wohl damit zusammenhängende Veränderung der Circadianen Rhythmik. Diese Wirkung konnte sogar bei Pflanzen wie der Kalanchoe nachgewiesen werden. Andere serotonerge Substanzen wie LSD, Meskalin und Psilocybin zeigen ebenfalls solche Auswirkungen beim Menschen. Durch Lithium ist es im Tierversuch an Fruchtfliegen (Drosophila melanogaster) gelungen, Symptome der Alzheimer-Krankheit – wie Vergesslichkeit – zu bekämpfen. In Regionen mit höheren Lithiumgehalten scheint Demenz in geringerem Maße aufzutreten. Die neuroprotektive Wirkung ist möglicherweise auf die durch Lithium verstärkte Autophagie zurückzuführen.Der Altersforscher Michael Ristow zeigte 2011 einen möglichen Zusammenhang zwischen dem Gehalt an Lithium in der Umwelt und der Lebenserwartung des Menschen: in einer japanischen Bevölkerungsstudie bestand danach zwischen einem höheren Gehalt von Lithium und einer höheren Lebenserwartung ein statistisch signifikanter Zusammenhang; des Weiteren verlängerten hohe Lithiumkonzentrationen die Lebenserwartung des Fadenwurms und Modellorganismus Caenorhabditis elegans. Aufgrund der zahlreichen Effekte auf die menschliche Gesundheit wird diskutiert, ob Lithium womöglich ein essentielles Spurenelement darstellt. == Analytik == === Qualitative Analytik === Im Kationentrennungsgang findet sich Lithium in der löslichen Gruppe wieder. Nach einem vollständigen Trennungsgang sind folglich nur noch Ammonium -, Natrium -, Kalium -, Lithium -, und Magnesiumionen vorhanden. Nach dem Entfernen der Ammoniumionen durch Abrauchen der festen Substanz über einer offenen Flamme und dem Entfernen von Magnesiumionen durch deren Fällung als Hydroxid, bleiben noch Natrium -, Kalium - und Lithiumionen übrig, die nebeneinander nachgewiesen werden können: Lithiumionen ergeben, ähnlich wie Natriumionen, mit Kaliumhexahydroxoantimonat(V), einen weißen, kristallen Lithiumhexahydroxoantimonat(V) - Niederschlag, der jedoch in Wasser wesentlich löslicher ist als die betreffende Natriumverbindung. Carbonat-Ionen ergeben bei Zugabe zu Lithiumionen einen weißen Lithiumcarbonat - Niederschlag, der bei Anwesenheit von Ammoniumsalzen ausbleiben würde. Dinatriumhydrogenphosphat in NaOH-Lösung liefert beim Kochen mit Lithiumionen einen weißen Lithiumphosphat - Niederschlag. Die Natronlauge dient als Protonenfänger. Da das Lithiumphosphat in Säuren leicht löslich ist, würde ohne die Natronlauge die Fällung nicht vollständig ablaufen. In schwach alkalischem, etwa 95%igem Ethanol können Lithiumionen auf Zusatz von Oxin in Lithiumoxinat übergeführt werden und durch dessen grünliche Fluoreszenz nachgewiesen werden. Eine weitere Möglichkeit ist die Verwendung des Eisenperiodatreagenz. Die Lithiumsalze ergeben hierbei einen gelblich-weißen Niederschlag wechselnder Zusammensetzung. Lithiumverbindungen zeigen eine karminrote Flammenfärbung, die charakteristischen Spektrallinien liegen als Hauptlinien bei 670,776 und 670,791 nm; kleinere Linien liegen bei 610,3 nm. Darüber kann Lithium mit Hilfe der Flammenphotometrie nachgewiesen werden. === Quantitative Analytik === Ein quantitativer Nachweis mit nasschemischen Methoden ist schwierig, da die meisten Lithiumsalze leicht löslich sind. Eine Möglichkeit besteht über das Ausfällen des schwerlöslichen Lithiumphosphats. Dazu wird die zu untersuchende Probe zum Beispiel mit Natronlauge alkalisch gemacht und mit etwas Dinatriumhydrogenphosphat Na2HPO4 versetzt. Beim Erhitzen fällt bei Anwesenheit von Li+ ein weißer Niederschlag aus: 3 L i + + H P O 4 2 − + O H − → L i 3 P O 4 ↓ + H 2 O {\displaystyle \mathrm {3\,Li^{+}+HPO_{4}^{2-}+OH^{-}\rightarrow Li_{3}PO_{4}\downarrow +H_{2}O} } == Gefahrenhinweise == Elementares Lithium in Form von Metallstaub entzündet sich an der Luft bereits bei Normaltemperatur. Aus diesem Grund muss metallisches Lithium auch unter Luftausschluss, meist in Petroleum gelagert werden. Bei höheren Temperaturen ab 190 °C wird bei Kontakt mit Luft sofort überwiegend Lithiumoxid gebildet. In reinem Sauerstoff entzündet sich Lithium ab etwa 100 °C. In einer reinen Stickstoffatmosphäre reagiert Lithium erst bei höheren Temperaturen schneller zu Lithiumnitrid. Beim Kontakt mit sauerstoff- oder halogenhaltigen Substanzen kann Lithium explosionsartig reagieren. Da Lithium mit gängigen Feuerlöschmitteln wie Wasser, Kohlendioxid, Stickstoff oder dem inzwischen verbotenen Tetrachlorkohlenstoff stark exotherm reagiert, müssen Brände mit inerten Gasen wie z. B. Argon oder anderen Metallbrandbekämpfungsmitteln wie Salz (z. B. NaCl) gelöscht werden. Elementares Lithium verursacht wie alle Alkalimetalle bei Hautkontakt Schäden durch Verbrennungen oder alkalische Verätzungen, weil es mit Wasser unter starker Wärmeabgabe Lithiumhydroxid bildet; dafür genügt schon die Hautfeuchtigkeit. == Verbindungen == Lithium ist sehr reaktiv und bildet mit den meisten Nichtmetallen Verbindungen, in denen es immer in der Oxidationsstufe +I vorliegt. Diese sind in der Regel ionisch aufgebaut, haben aber im Gegensatz zu Verbindungen anderer Alkalimetalle einen hohen kovalenten Anteil. Das zeigt sich unter anderem darin, dass viele Lithiumsalze – im Gegensatz zu den entsprechenden Natrium- oder Kaliumsalzen – gut in organischen Lösungsmitteln wie Aceton oder Ethanol löslich sind. Es existieren auch kovalente organische Lithiumverbindungen. Viele Lithiumverbindungen ähneln in ihren Eigenschaften auf Grund der ähnlichen Ionenradien den entsprechenden Magnesiumverbindungen (Schrägbeziehung im Periodensystem). Die folgende Grafik bietet eine Übersicht über die wichtigsten Reaktionen des Lithiums. Auf Stöchiometrie und genaue Reaktionsbedingungen ist hier nicht geachtet: === Wasserstoffverbindungen === Wasserstoff bildet mit Lithium Hydride. Die einfachste Lithium-Wasserstoff-Verbindung Lithiumhydrid LiH entsteht aus den Elementen bei 600–700 °C. Es wird als Raketentreibstoff und zur schnellen Gewinnung von Wasserstoff, beispielsweise zum Aufblasen von Rettungswesten, verwendet. Es existieren auch komplexere Hydride wie Lithiumborhydrid LiBH4 oder Lithiumaluminiumhydrid LiAlH4. Letzteres hat in der organischen Chemie als selektiver Wasserstoffspender etwa zur Reduktion von Carbonyl- und Nitroverbindungen eine große Bedeutung. Für die Erforschung der Kernfusion spielen Lithiumdeuterid (LiD) und Lithiumtritid (LiT) eine wichtige Rolle. Da reines Lithiumdeuterid die Energie der Wasserstoffbombe herabsetzt, wird dafür ein Gemisch aus LiD und LiT eingesetzt. Diese festen Substanzen sind leichter zu handhaben als Tritium mit seiner großen Effusionsgeschwindigkeit. === Sauerstoffverbindungen === Mit Sauerstoff bildet Lithium sowohl Lithiumoxid Li2O als auch Lithiumperoxid Li2O2. Wenn Lithium mit Wasser reagiert, bildet sich Lithiumhydroxid, eine starke Base. Aus Lithiumhydroxid werden Lithiumfette hergestellt, die als Schmierfette für Autos verwendet werden. Da Lithiumhydroxid auch Kohlenstoffdioxid bindet, dient es in U-Booten zur Regenerierung der Luft. === Weitere Lithiumverbindungen === Lithium bildet mit den Halogeniden Salze der Form LiX. Dies sind Lithiumfluorid, Lithiumchlorid, Lithiumbromid und Lithiumiodid. Da Lithiumchlorid sehr hygroskopisch ist, wird es – außer als Ausgangsmaterial für die Lithiumgewinnung – auch als Trockenmittel eingesetzt. Es dient zum Trocknen von Gasen, beispielsweise von Erdgas, bevor es durch die Pipeline geführt wird oder bei Klimaanlagen zur Herabsetzung der Luftfeuchte (bis 2 % relativer Luftfeuchte). Lithiumchlorid dient ferner noch zur Herabsetzung von Schmelztemperaturen, in Schweiß- und Hartlötbädern und als Schweißelektroden-Ummantelung für das Schweißen von Aluminium. Lithiumfluorid findet als Einkristall in der Infrarotspektroskopie Verwendung. Die technisch wichtigste Lithiumverbindung ist das (in Wasser) wenig lösliche Lithiumcarbonat. Es dient zur Gewinnung der meisten anderen Lithiumverbindungen und wird in der Glasindustrie und bei der Herstellung von Email als Flussmittel eingesetzt. Auch in der Aluminiumherstellung wird es zur Verbesserung von Leitfähigkeit und Viskosität der Schmelze zugesetzt. Lithiumseifen sind Lithiumsalze von Fettsäuren. Sie finden vor allem als Verdickungsmittel in hochwertigen Mineralöl-basierten Schmierfetten und -wachsen sowie zur Herstellung von Bleistiften Verwendung. Weitere Lithiumsalze sind: Lithiumperchlorat LiClO4, Lithiumsulfat Li2SO4, Lithiumnitrat LiNO3, wird mit Kaliumnitrat in der Gummiindustrie für die Vulkanisation verwendet, Lithiumnitrid Li3N, entsteht bei der Reaktion von Lithium mit Stickstoff, Lithiumniobat LiNbO3, ist in einem großen Wellenlängenbereich transparent und wird in der Optik und für Laser verwendet, Lithiumamid LiNH2, ist eine starke Base und entsteht bei der Reaktion von Lithium mit flüssigem Ammoniak. Lithiumstearat C18H35LiO2, ist ein wichtiger Zusatz für Öle, um diese als Schmierfette einzusetzen. Diese werden in Automobilen, in Walzenstraßen und bei Landmaschinen verwendet. Lithiumstearate sind in Wasser sehr schwer löslich, dadurch bleibt der Schmierfilm erhalten, wenn sie mit wenig Wasser in Berührung kommen. Die erhaltenen Schmierfette weisen eine hervorragende Temperaturstabilität (>150 °C) auf und bleiben bis −20 °C schmierfähig. Lithiumacetat C2H3LiO2 Lithiumcitrat C6H5Li3O7 Lithiumhexafluorophosphat LiPF6 findet als Leitsalz in Lithium-Ionen-Akkus Verwendung. Lithiumphosphat Li3PO4, wird als Katalysator für die Isomerisation von Propylenoxid eingesetzt. Lithiummetaborat LiBO2 und Lithiumtetraborat Li2B4O7 Lithiumbromid LiBr ist ein Reagenz zur Herstellung von Pharmazeutika, es wird als hygroskopische wässrige Salzlösung auch in Absorptionskälteanlagen eingesetzt. === Organische Lithiumverbindungen === Im Gegensatz zu den meisten anderen Alkalimetallorganylen spielen Lithiumorganyle eine beachtliche Rolle insbesondere in der organischen Chemie. Von besonderer Bedeutung sind n-Butyllithium, tert-Butyllithium, Methyllithium und Phenyllithium, die in Form ihrer Lösungen in Pentan, Hexan, Cyclohexan beziehungsweise gegebenenfalls Diethylether auch kommerziell verfügbar sind. Man kann sie durch direkte Umsetzung metallischen Lithiums mit Alkyl-/Arylhalogeniden gemäß R − X + 2 L i → L i − R + L i + X − {\displaystyle \mathrm {R{-X}+2\ Li\rightarrow Li{-R}+Li^{+}X^{-}} } oder durch Transmetallierung zum Beispiel aus Quecksilberorganylen gemäß H g R 2 + 2 L i → 2 L i − R + H g {\displaystyle \mathrm {HgR_{2}+2\ Li\rightarrow 2\ Li{-R}+Hg} } herstellen. Mit elementarem Lithium in Tetrahydrofuran (THF) anstelle von Magnesium in Diethylether lassen sich Grignard-analoge Additionsreaktionen von Alkylhalogeniden an Carbonylverbindungen mit meist besserer Ausbeute durchführen.Auf Grund des deutlich kovalenten Charakters ist die Struktur von Lithiumorganylen nur selten durch eine einfache Li–C-Bindung zu beschreiben. Es liegen meist komplexe Strukturen, aufgebaut aus dimeren, tetrameren oder hexameren Einheiten, beziehungsweise polymere Strukturen vor. Lithiumorganyle sind hochreaktive Verbindungen, die sich an der Luft teilweise von selbst entzünden. Mit Wasser reagieren sie explosionsartig. Infolge ihrer extremen Basizität reagieren sie auch mit Lösungsmitteln, deren gebundener Wasserstoff kaum sauer ist, wie etwa THF, was die Wahl geeigneter Lösungsmittel stark einschränkt. Reaktionen mit ihnen sind nur unter Schutzgas und in getrockneten Lösungsmitteln möglich. Daher ist im Umgang mit ihnen eine gewisse Erfahrung erforderlich und große Vorsicht geboten. Eine weitere Gruppe organischer Lithiumderivate sind die Lithiumamide des Typs LiNR2, von denen insbesondere Lithiumdiisopropylamid (LDA) und Lithium-bis(trimethylsilyl)amid (LiHMDS, siehe auch HMDS) als starke Basen ohne nukleophile Aktivität Verwendung finden. Lithiumorganyle finden vielseitige Verwendung, so als Initiatoren für die anionische Polymerisation von Olefinen, als Metallierungs-, Deprotonierungs- oder Alkylierungsmittel. Von gewisser Bedeutung sind die sogenannten Gilman-Cuprate des Typs R2CuLi. == Literatur == A. F. Holleman, E. Wiberg, N. Wiberg: Lehrbuch der Anorganischen Chemie. 102. Auflage. Walter de Gruyter, Berlin 2007, ISBN 978-3-11-017770-1, S. 1259–1270. N. N. Greenwood, A. Earnshaw: Chemie der Elemente. 1. Auflage. VCH Verlagsgesellschaft, Weinheim 1988, ISBN 3-527-26169-9, S. 83–129. M. Binnewies: Allgemeine und Anorganische Chemie. Spektrum Akademischer Verlag, Heidelberg 2004, ISBN 3-8274-0208-5, S. 334–336. Ernst Henglein: Technologie außergewöhnlicher Metalle. 1991, ISBN 3-8085-5081-3. Harry H. Binder: Lexikon der chemischen Elemente – das Periodensystem in Fakten, Zahlen und Daten. S. Hirzel Verlag, Stuttgart 1999, ISBN 3-7776-0736-3. Richard Bauer: Lithium – wie es nicht im Lehrbuch steht. In: Chemie in unserer Zeit. 19, Nr. 5, 1985, S. 167–173, doi:10.1002/ciuz.19850190505. N. J. Birch: Inorganic Pharmacology of Lithium. In: Chem. Rev. 99, Nr. 9, 1999, S. 2659–2682, PMID 11749496. Jürgen Deberitz, Gernot Boche: Lithium und seine Verbindungen – Industrielle, medizinische und wissenschaftliche Bedeutung. In: Chemie in unserer Zeit. 37, Nr. 4, 2003, S. 258–266, doi:10.1002/ciuz.200300264. Michael Bauer, Paul Grof, Bruno Muller-Oerlinghausen (Hrsg.): Lithium in Neuropsychiatry: The Comprehensive Guide. 1. Auflage. Informa Healthcare, 2006, ISBN 1-84184-515-9. == Weblinks == Zusammenfassung über Alkalimetalle von wiley-vch (PDF; 2,2 MB) Terra Xplore: Lithium fürs E-Auto – bald aus dem Rhein? auf YouTube, 28. September 2021. == Einzelnachweise ==
https://de.wikipedia.org/wiki/Lithium
Blei
= Blei = Blei ist ein chemisches Element mit dem Elementsymbol Pb (lateinisch plumbum) und der Ordnungszahl 82. Es ist ein giftiges Schwermetall und steht in der 4. Hauptgruppe bzw. der 14. IUPAC-Gruppe (Kohlenstoffgruppe) und 6. Periode des Periodensystems. Blei ist leicht verformbar und hat einen vergleichsweise niedrigen Schmelzpunkt. Die Isotope 206Pb, 207Pb und 208Pb sind die schwersten stabilen Atome, Blei ist damit das Element mit der höchsten Massen- und Ordnungszahl, das noch stabil ist. Alle Bleiisotope haben die magische Protonenzahl 82, die diese Stabilität bewirkt. Bei 208Pb liegt sogar ein so genannter doppelt magischer Kern vor, weil er zusätzlich die magische Neutronenzahl 126 aufweist. Da die Bleiisotope -206, -207 und -208 die Endprodukte der drei natürlichen Zerfallsreihen radioaktiver Elemente sind, ist relativ viel Blei entstanden; es kommt deshalb in der Erdkruste im Vergleich zu anderen schweren Elementen (Quecksilber, Gold u. a.) häufig vor. == Geschichte == Der bisher älteste Fund von metallischem Blei wurde in Çatalhöyük, etwa 50 km südöstlich von Konya auf dem Anatolischen Plateau, gemacht. Er besteht aus Bleiperlen zusammen mit Kupferperlen, die auf etwa 6500 vor Christus datiert wurden.In der frühen Bronzezeit wurde Blei neben Antimon und Arsen verwendet, um aus Legierungen mit Kupfer Bronzen zu erzeugen, bis sich Zinn weitgehend durchsetzte. Bereits die Babylonier kannten Vasen aus Blei. Die Assyrer mussten Blei (abāru) einführen, was von Tiglat-pileser I. unter anderem als Tribut von Melid belegt ist. Im antiken Griechenland wurde Blei hauptsächlich in Form von Bleiglanz abgebaut, um daraus Silber zu gewinnen. Im römischen Reich dagegen wurde der Stoff für eine Vielzahl von Anwendungsbereichen genutzt. Von besonderer Bedeutung war das Blei beispielsweise in der Architektur, wo Steinblöcke mithilfe von Bleiklammern aneinander befestigt wurden. So wurden für die Errichtung der Porta Nigra schätzungsweise sieben Tonnen Blei verbaut. Weitere wichtige Einsatzbereiche waren die Verkleidung von Schiffsrümpfen zum Schutz vor Schädlingsbefall und die Herstellung von innerstädtischen Wasserleitungen. Hinzu kam die Nutzung von Blei als Rohstoff für die Herstellung von Gefäßen, als Material von Schreibtafeln oder für die sogenannten Tesserae, die zum Beispiel als Erkennungs- oder Berechtigungsmarke dienten. Kleine Bleistücke, die sogenannten „Schleuderbleie“, dienten im römischen Heer als Schleudergeschoss. Aufgrund des hohen Bedarfs fand auch ein Handel mit Blei über weite Strecken statt, der sich unter anderem durch Inschriften auf römischen Bleibarren nachweisen lässt.In der antiken Literatur war man der Ansicht, Blei und Zinn seien zwei Erscheinungsformen des gleichen Stoffes, sodass man Blei im Lateinischen als plumbum nigrum (von niger ‚schwarz‘), Zinn als plumbum candidum (von candidus ‚weiß‘) bezeichnete. Daher ist oft unklar, ob ein antiker Text mit plumbum Blei oder Zinn meint. Schon der römische Autor Vitruv hielt die Verwendung von Blei für Trinkwasserrohre für gesundheitsschädlich und empfahl, stattdessen nach Möglichkeit Tonrohre zu verwenden. Trotzdem waren Trinkwasserrohre aus Blei bis in die 1970er Jahre gebräuchlich, was beispielsweise auch in dem englischen Wort plumber ‚Rohrverleger‘ zum Ausdruck kommt. Aus heutiger Sicht besonders bedenklich war auch die Zugabe von Blei als Süßungsmittel zum Wein (sogenannter „Bleizucker“, siehe Blei(II)-acetat). Die häufige Nutzung von Blei in Rohren und im Wein wurde teilweise auch als Grund für den Untergang des Römischen Reiches diskutiert, eine Hypothese, die heutzutage in der Forschung allerdings abgelehnt wird.In Westfalen gewannen die Römer bis zu ihrem Rückzug nach der Varusschlacht Blei. Die für unterschiedliche Fundstellen typische Zusammensetzung der Isotope zeigt, dass das Blei für die Herstellung römischer Bleisärge, die im Rheinland gefunden wurden, aus der nördlichen Eifel stammt. Die römische Bleiverarbeitung hat zu einer bis heute nachweisbaren Umweltverschmutzung geführt: Eisbohrkerne aus Grönland zeigen zwischen dem 5. Jahrhundert v. Chr. und dem 3. Jahrhundert n. Chr. einen messbaren Anstieg des Bleigehalts in der Atmosphäre. Auch später hatte Blei (von mittelhochdeutsch blī) eine wichtige Bedeutung. Es wurde beispielsweise zum Einfassen von Bleiglasfenstern, beispielsweise in Kirchen oder für das Eindecken von Bleidächern verwendet. Besonders wichtig wurde Blei vor allem nach Erfindung der Feuerwaffen für das Militär als Material für Projektile von Handfeuerwaffen. Da die Soldaten ihre Geschosse selbst herstellten, war es nicht unüblich, dass sie alles Blei stahlen, das sie finden konnten, um Geschosse daraus anzufertigen. Blei spielte auch in der Alchemie eine wichtige Rolle. Auf Grund seiner Ähnlichkeit zu Gold (ähnlich weich und schwer) galt Blei als guter Ausgangsstoff für die Goldsynthese (Synthese als Farbumwandlung von Grau nach Gelb). Das alchemistische Symbol für Blei ist eine stilisierte Sichel (♄), da es bereits seit dem Altertum als Planetenmetall dem Gott und Planeten Saturn (lateinisch Saturnus) zugeordnet wurde. Mit Beginn der industriellen Revolution wurde Blei dann in großen Mengen für die chemische Industrie, zum Beispiel für die Schwefelsäureproduktion im Bleikammerverfahren oder die Auskleidung von Anlagen zur Sprengstoffherstellung, benötigt. Es war damals das wichtigste Nichteisenmetall. Beim Versuch, das Alter der Erde durch Messung des Verhältnisses von Blei zu Uran in Gesteinsproben zu bestimmen, stellte der US-amerikanische Geochemiker Clair Cameron Patterson etwa 1950 fest, dass die Gesteinsproben ausnahmslos mit großen Bleimengen aus der Atmosphäre verunreinigt waren. Als Quelle konnte er das als Antiklopfmittel in Kraftstoffen verwendete Tetraethylblei nachweisen. Nach Pattersons Befunden enthielt die Atmosphäre vor 1923 fast überhaupt kein Blei. Aufgrund dieser Erkenntnisse kämpfte er zeit seines Lebens für die Verringerung der Freisetzung von Blei in die Umwelt. Seine Bemühungen führten schließlich dazu, dass 1970 in den USA der Clean Air Act mit strengeren Abgasvorschriften in Kraft trat. 1986 wurde der Verkauf verbleiten Benzins in den Vereinigten Staaten, in der Bundesrepublik Deutschland durch das Benzinbleigesetz schrittweise ab 1988, in der EU ab 2001 völlig verboten. Daraufhin sank der Bleigehalt im Blut der Amerikaner fast sofort um 80 Prozent. Da Blei jedoch in der Umwelt praktisch ewig erhalten bleibt, hat dennoch heute jeder Mensch etwa 600-mal mehr von dem Metall im Blut als vor 1923. Pro Jahr wurden um das Jahr 2000 immer noch legal etwa 100.000 Tonnen in die Atmosphäre freigesetzt. Die Hauptverursacher sind Bergbau, Metallindustrie und produzierendes Gewerbe. Im Jahr 2009 lag die Menge des gewonnenen Bleis bei den Nichteisenmetallen an vierter Stelle nach Aluminium, Kupfer und Zink. Es wird vor allem für Autobatterien (Bleiakkumulatoren) verwendet (60 % der Gesamtproduktion).Allgemein wird versucht, die Belastung von Mensch und Umwelt mit Blei und damit Bleivergiftungen zu verringern. Außer dem Verbot von verbleiten Benzins wurde ab 2002 durch die RoHS-Richtlinien die Verwendung von Blei in Elektro- und Elektronikgeräten eingeschränkt. 1989 wurden bleihaltige Anstriche und Beschichtungen vollständig verboten, der Einsatz von bleihaltiger Munition wurde ab 2005 in einigen Bundesländern teilweise verboten. Als Material für Wasserrohre wurde Blei schon 1973 verboten; in Deutschland vorhandene Bleirohre müssen bis zum 12. Januar 2026 ausgetauscht werden, wobei die Frist in Ausnahmefällen verlängert werden kann. Seit 1. März 2018 ist das Verwenden (Lagern, Mischen, Gebrauchen zur Herstellung u. a.) und Inverkehrbringen von Blei – massiv (zum Beispiel als Barren oder Pellets) oder als Pulver – ähnlich wie schon länger bei vielen Bleiverbindungen in der EU von wenigen Ausnahmen abgesehen regelmäßig verboten, wenn das zum Verkauf an die breite Öffentlichkeit bestimmt ist und die Bleikonzentration darin 0,3 % oder mehr beträgt; im Übrigen muss der Lieferant gewährleisten, dass das vor dem Inverkehrbringen als „nur für gewerbliche Anwender“ gekennzeichnet ist. == Vorkommen == Blei kommt in der Erdkruste mit einem Gehalt von etwa 0,0018 % vor und tritt eher selten gediegen, das heißt in elementarer Form auf. Dennoch sind weltweit inzwischen rund 200 Fundorte für gediegen Blei bekannt (Stand: 2017), so unter anderem in Argentinien, Äthiopien, Australien, Belgien, Brasilien, Volksrepublik China, Deutschland, Finnland, Frankreich, Georgien, Griechenland, Grönland, Italien, Kanada, Kasachstan, Kirgisistan, Mexiko, der Mongolei, Namibia, Norwegen, Österreich, Polen, Russland, Schweden, Slowenien, Tschechien, der Ukraine, den US-amerikanischen Jungferninseln, im Vereinigten Königreich und den Vereinigten Staaten von Amerika (USA).Auch in Gesteinsproben des mittelatlantischen Rückens, genauer am nordöstlichen Rand der „Markov-Tiefe“ innerhalb der „Sierra-Leone-Bruchzone“ (Sierra-Leone-Schwelle), sowie außerhalb der Erde auf dem Mond im Mare Fecunditatis konnte Blei gefunden werden.An jedem Fundort weicht die Isotopenzusammensetzung geringfügig von den oben angegebenen Mittelwerten ab, so dass man mit einer genauen Analyse der Isotopenzusammensetzung den Fundort bestimmen und bei archäologischen Fundstücken auf alte Handelswege schließen kann. Zudem kann Blei ebenfalls fundortabhängig verschiedene Fremdbeimengungen wie Silber, Kupfer, Zink, Eisen, Zinn und/oder Antimon enthalten.In Bleierzen ist Blei zumeist als Galenit (Bleisulfid PbS, Bleiglanz) zugegen. Dieses Mineral ist auch die bedeutendste kommerzielle Quelle für die Gewinnung neuen Bleis. Weitere Bleimineralien sind Cerussit (Blei(II)-carbonat, PbCO3, auch Weißbleierz), Krokoit (Blei(II)-chromat, PbCrO4, auch Rotbleierz) und Anglesit (Blei(II)-sulfat, PbSO4, auch Bleivitriol). Die Bleiminerale mit der höchsten Bleikonzentration in der Verbindung sind Lithargit und Massicotit (bis 92,8 %) sowie Minium (bis 90,67 %). Insgesamt sind bisher 514 Bleiminerale bekannt (Stand: 2017).Die wirtschaftlich abbaubaren Vorräte werden weltweit auf 67 Millionen Tonnen geschätzt (Stand 2004). Die größten Vorkommen findet man in der Volksrepublik China, den USA, Australien, Russland und Kanada. In Europa sind Schweden und Polen die Länder mit den größten Vorkommen. Auch in Deutschland wurde in der nördlichen Eifel (Rescheid / Gruben Wohlfahrt und Schwalenbach; Mechernich / Grube Günnersdorf und auch Tagebau /Virginia; Bleialf), im Schwarzwald, im Harz (Goslar/Rammelsberg), in Sachsen (Freiberg/Muldenhütten), an der unteren Lahn (Bad Ems, Holzappel), sowie in Westfalen (Ramsbeck/Sauerland) in der Vergangenheit Bleierz abgebaut, verhüttet und veredelt. Die bedeutendste Quelle für Blei ist heute das Recycling alter Bleiprodukte. Daher bestehen in Deutschland nur noch zwei Primärhütten, die Blei aus Erz herstellen, die Bleihütte Binsfeldhammer in Stolberg (Rheinland) und Metaleurop in Nordenham bei Bremerhaven. Sämtliche andere Hütten erzeugen so genanntes Sekundärblei, indem sie altes Blei (insbesondere aus gebrauchten Autobatterien) aufarbeiten. == Blei als Mineral == Natürliche Vorkommen an Blei in seiner elementaren Form waren bereits vor der Gründung der International Mineralogical Association (IMA) bekannt. Als vermutliche Typlokalität wird die manganreichen Eisenerz-Lagerstätte Långban in Schweden angegeben, wo derbe Massen von bis zu 50 kg oder 60 kg gefunden worden sein sollen. Blei ist daher als sogenanntes grandfathered Mineral als eigenständige Mineralart anerkannt.Gemäß der Systematik der Minerale nach Strunz (9. Auflage) wird Blei unter der System-Nummer 1.AA.05 (Elemente – Metalle und intermetallische Verbindungen – Kupfer-Cupalit-Familie – Kupfergruppe) beziehungsweise in der veralteten 8. Auflage unter I/A.03 (Zinn-Blei-Gruppe) eingeordnet. Die vorwiegend im englischsprachigen Raum verwendete Systematik der Minerale nach Dana führt das Element-Mineral unter der System-Nr. 01.01.01.04 (Goldgruppe).In der Natur tritt gediegen Blei meist in Form von zentimetergroßen Blechen und Platten sowie in körnigen, dendritischen, haar- oder drahtförmigen Aggregaten auf. Sehr selten finden sich auch oktaedrische, würfelige und dodekaedrische Bleikristalle, die meist winzig sind, aber gelegentlich eine Größe zwischen 4 cm und 6 cm erreichen können. == Staaten mit der größten Förderung == Die weltweit bedeutendsten Förderländer für Bleierz im Jahre 2020 waren die Volksrepublik China (1.900.000 Tonnen), Australien (494.000 Tonnen) und die USA (306.000 Tonnen), deren Anteil an den weltweit abgebauten 4,4 Millionen Tonnen zusammen etwa zwei Drittel betrug. In Europa sind Russland, Schweden, Polen und die Türkei als die größten Bleiproduzenten zu nennen. Die wichtigsten Produzenten von raffiniertem Blei (Hüttenblei mit 99,9 % Reinheit) sind die Volksrepublik China (1,8 Millionen Tonnen), die USA (1,2 Millionen Tonnen) und Deutschland (403.000 Tonnen), deren Anteil zusammen rund die Hälfte der weltweit erzeugten 6,7 Millionen Tonnen beträgt. Weitere bedeutende Produzenten von raffiniertem Blei in Europa sind Großbritannien, Italien, Frankreich und Spanien. Der weltweite Verbrauch bzw. Produktion von Blei stieg von etwa 7 Millionen Tonnen auf etwa 11 Millionen Tonnen in den Jahren 2013 bis 2016. Der Großteil des Bleis wird dabei für Bleiakkumulatoren verwendet. Ca. 92 % des 2021 in den USA gebrauchten Bleis wurden dieser Verwendung zugeführt. == Gewinnung und Darstellung == Das mit Abstand bedeutendste Bleimineral ist das Galenit. Dieses tritt häufig vergesellschaftet mit den Sulfiden anderer Metalle (Kupfer, Bismut, Zink, Arsen, Antimon u. a.) auf, die naturgemäß als Verunreinigung des Rohbleis bis zu einem Anteil von 5 % enthalten sind. Das durch Zerkleinerung, Klassierung und Flotation auf bis zu 60 % Mineralgehalt aufbereitete Erz wird in drei verschiedenen industriellen Prozessen in metallisches Blei überführt. Dabei treten die Verfahren der Röstreduktion und der Röstreaktion zunehmend in den Hintergrund und werden durch Direktschmelzverfahren ersetzt, die sich einerseits wirtschaftlicher gestalten lassen und die andererseits umweltverträglicher sind. === Röstreduktionsarbeit === Dieses Verfahren verläuft in zwei Stufen, dem Rösten und der Reduktion. Beim Rösten wird das fein zerkleinerte Bleisulfid auf einen Wanderrost gelegt und 1000 °C heiße Luft hindurchgedrückt. Dabei reagiert es mit dem Sauerstoff der Luft in einer exothermen Reaktion zu Blei(II)-oxid (PbO) und Schwefeldioxid. Dieses wird über die Röstgase ausgetrieben und kann für die Schwefelsäureproduktion verwendet werden. Das Bleioxid ist unter diesen Bedingungen flüssig und fließt nach unten. Dort kann es gesintert werden. 2 P b S + 3 O 2 ⟶ 2 P b O + 2 S O 2 Δ H r 0 = − 836 k J ⋅ m o l − 1 {\displaystyle \mathrm {2\ PbS\ +\ 3\ O_{2}\ \longrightarrow \ 2\ PbO\ +\ 2\ SO_{2}} \ \ \Delta H_{\mathrm {r} }^{0}=-836\ \mathrm {kJ\cdot mol} ^{-1}} (Röstarbeit)Anschließend erfolgt die Reduktion des Bleioxids mit Hilfe von Koks zu metallischem Blei. Dies geschieht in einem Schachtofen, ähnlich dem beim Hochofenprozess verwendeten. Dabei werden schlackebildende Zuschlagsstoffe wie Kalk beigefügt. P b O + C ⟶ P b + C O Δ H r 0 = + 107 k J ⋅ m o l − 1 {\displaystyle \mathrm {PbO\ +\ C\ \longrightarrow \ Pb\ +\ CO} \ \ \Delta H_{\mathrm {r} }^{0}=+107\ \mathrm {kJ\cdot mol} ^{-1}} P b O + C O ⟶ P b + C O 2 Δ H r 0 = − 66 k J ⋅ m o l − 1 {\displaystyle \mathrm {PbO\ +\ CO\ \longrightarrow \ Pb\ +\ CO_{2}} \ \ \Delta H_{\mathrm {r} }^{0}=-66\ \mathrm {kJ\cdot mol} ^{-1}} (Reduktionsarbeit) === Röstreaktionsarbeit === Dieses Verfahren kommt vor allem bei hochgradig mit PbS angereicherten Bleierzen zum Einsatz und ermöglicht die Bleierzeugung in einem Schritt. Dabei wird das sulfidische Erz nur unvollständig geröstet. Anschließend wird das Bleisulfid/Bleioxid-Gemisch weiter unter Luftabschluss erhitzt. Dabei setzt das Bleioxid sich mit dem verbliebenen PbS ohne Zugabe eines weiteren Reduktionsmittels zu Blei und Schwefeldioxid um: 2 P b S + 3 O 2 ⟶ 2 P b O + 2 S O 2 {\displaystyle \mathrm {2\ PbS\ +\ 3\ O_{2}\ \longrightarrow \ 2\ PbO\ +\ 2\ SO_{2}} } (Röstarbeit), P b S + 2 P b O ⟶ 3 P b + S O 2 {\displaystyle \mathrm {PbS\ +\ 2\ PbO\ \longrightarrow \ 3\ Pb\ +\ SO_{2}} } (Reaktionsarbeit). === Direktschmelzverfahren === Moderne Herstellungsverfahren für Blei basieren auf Direktschmelzverfahren, die auf Umweltverträglichkeit und Wirtschaftlichkeit hin optimiert wurden (zum Beispiel das QSL-Verfahren). Vorteilhaft ist die kontinuierliche Prozessführung mit Beschränkung auf einen Reaktionsraum, der als einziger Emittent für Schadstoffe auftritt – im Vergleich dazu weisen die klassischen Produktionsverfahren das Sintern als zusätzlichen emittierenden Schritt auf. Das Rösten und die Reduktion finden parallel in einem Reaktor statt. Das Bleisulfid wird ähnlich wie beim Röstreaktionsverfahren nicht vollständig geröstet. Ein Teil des Bleis entsteht somit durch Reaktion des Bleisulfids mit Bleioxid. Da der Reaktor leicht geneigt ist, fließen Blei und bleioxidhaltige Schlacke ab. Diese passiert die Reduktionszone, in die Kohlenstaub eingeblasen und das Bleioxid so zu Blei reduziert wird. Beim Rösten wird statt Luft reiner Sauerstoff verwendet. Dadurch verringert sich das Volumen an Abgasen erheblich, die andererseits eine im Vergleich zu konventionellen Verfahren höhere Konzentration an Schwefeldioxid aufweisen. Deren Verwendung für die Schwefelsäureherstellung gestaltet sich somit einfacher und wirtschaftlicher. === Raffination === Das entstehende Werkblei enthält 2–5 % andere Metalle, darunter Kupfer, Silber, Gold, Zinn, Antimon, Arsen, Bismut in wechselnden Anteilen. Das Aufreinigen und Vermarkten einiger dieser Beiprodukte, insbesondere des bis zu 1 % im Werkblei enthaltenen Silbers, trägt wesentlich zur Wirtschaftlichkeit der Bleigewinnung bei. Die pyrometallische Raffination des Bleis ist ein mehrstufiger Prozess. Durch Schmelzen in Gegenwart von Natriumnitrat/Natriumcarbonat bzw. von Luft werden Antimon, Zinn und Arsen oxidiert und können als Bleiantimonate, -stannate und -arsenate von der Oberfläche der Metallschmelze abgezogen werden („Antimonabstrich“). Kupfer wie auch eventuell enthaltenes Zink, Nickel und Kobalt werden durch Seigern des Werkbleis aus dem Rohmetall entfernt. Dabei sinkt auch der Schwefelgehalt beträchtlich. Silber wird nach dem Parkes-Verfahren ggf. durch die Zugabe von Zink und das Ausseigern der sich bildenden Zn-Ag-Mischkristalle aus dem Blei abgeschieden („Parkesierung“), während die Bedeutung des älteren Pattinson-Verfahrens stark zurückgegangen ist (siehe auch Herstellung von Silber, Güldischsilber). Bismut kann nach dem Kroll-Betterton-Verfahren durch Legieren mit Calcium und Magnesium als Bismutschaum von der Oberfläche der Bleischmelze abgezogen werden. Eine weitere Reinigung kann durch elektrolytische Raffination erfolgen, jedoch ist dieses Verfahren bedingt durch den hohen Energiebedarf kostenintensiver. Blei ist zwar ein unedles Element, welches in der elektrochemischen Spannungsreihe ein negativeres Standardpotential als Wasserstoff aufweist. Dieser hat jedoch an Bleielektroden eine hohe Überspannung, so dass eine elektrolytische Abscheidung metallischen Bleis aus wässrigen Lösungen möglich wird, siehe elektrolytische Bleiraffination. Raffiniertes Blei kommt als Weichblei bzw. genormtes Hüttenblei mit 99,9- bis 99,97%iger Reinheit (zum Beispiel Eschweiler Raffiné) oder als Feinblei mit 99,985 bis 99,99 % Blei (DIN 1719, veraltet) in den Handel. Entsprechend dem Verwendungszweck sind auch Bezeichnungen wie Kabelblei für die Legierung mit ca. 0,04 % Kupfer verbreitet. Aktuelle Normen wie DIN EN 12659 kennen diese noch gebräuchlichen Bezeichnungen nicht mehr. == Eigenschaften == === Physikalische Eigenschaften === Blei ist ein unedles Metall mit einem Standardelektrodenpotential von etwa −0,13 V. Es ist allerdings edler als viele andere Gebrauchsmetalle, wie Eisen, Zink oder Aluminium. Es ist ein diamagnetisches Schwermetall mit einer Dichte von 11,3 g/cm³, das kubisch-flächenzentriert kristallisiert und damit eine kubisch dichteste Kugelpackung mit der Raumgruppe Fm3m (Raumgruppen-Nr. 225)Vorlage:Raumgruppe/225 aufweist. Der Gitterparameter beträgt bei reinem Blei 0,4950 nm (entspricht 4,95 Å) bei 4 Formeleinheiten pro Elementarzelle.Darauf gründet die ausgeprägte Duktilität des Metalls und die geringe Mohshärte von 1,5. Es lässt sich daher leicht zu Blechen walzen oder zu Drähten formen, die jedoch wegen ihrer geringen Härte nur wenig beständig sind. Eine diamantartige Modifikation, wie sie von den leichteren Homologen der Gruppe 14 bekannt ist, tritt beim Blei nicht auf. Das liegt an der relativistisch bedingten Instabilität der Pb-Pb-Bindung und an der geringen Tendenz, vierwertig aufzutreten. Frische Bleiproben sind von grauweißer bis metallisch weißer Farbe und zeigen einen typisch metallischen Glanz, der aber durch oberflächliche Oxidation sehr schnell abnimmt. Die Farbe wechselt dabei ins Dunkelgraue und wird matt. Auf Papier hinterlässt das weiche Metall einen (blei)grauen Strich. Aus diesem Grund wurde früher mit Blei geschrieben und gemalt. Der Name „Bleistift“ blieb bis heute erhalten, obwohl man seit langem dafür Graphit benutzt. Der Schmelzpunkt des Bleis liegt bei 327 °C, sein Siedepunkt bei 1740–1751 °C (Werte in Fachliteratur unterschiedlich: 1740 °C, 1746 °C, 1751 °C). Blei leitet als typisches Metall sowohl Wärme als auch Strom, dies aber deutlich schlechter als andere Metalle (vgl. elektrische Leitfähigkeit Blei: 4,8 · 106 S/m, Silber: 62 · 106 S/m). Unterhalb von 7,196 K zeigt Blei keinen elektrischen Widerstand, es wird zum Supraleiter vom Typ I. Die Schallgeschwindigkeit in Blei liegt bei etwa 1200 m/s, in der Literatur streuen die Werte etwas, wahrscheinlich bedingt durch unterschiedliche Reinheit oder Bearbeitung. === Chemische Eigenschaften === An der Luft wird Blei durch Bildung einer Schicht aus Bleioxid passiviert und damit vor weiterer Oxidation geschützt. Frische Schnitte glänzen daher zunächst metallisch, laufen jedoch schnell unter Bildung einer matten Oberfläche an. In feinverteiltem Zustand ist Blei leichtentzündlich (pyrophores Blei). Auch in diversen Säuren ist Blei durch Passivierung unlöslich. So ist Blei beständig gegen Schwefelsäure, Flusssäure und Salzsäure, da sich mit den Anionen der jeweiligen Säure unlösliche Bleisalze bilden. Deshalb besitzt Blei für spezielle Anwendungen eine gewisse Bedeutung im chemischen Apparatebau. Löslich ist Blei dagegen in Salpetersäure (Blei(II)-nitrat ist wasserlöslich), heißer, konzentrierter Schwefelsäure (Bildung des löslichen Pb(HSO4)2-Komplexes), Essigsäure (nur bei Luftzutritt) und heißen Laugen. In Wasser, das keinen Sauerstoff enthält, ist metallisches Blei stabil. Bei Anwesenheit von Sauerstoff löst es sich jedoch langsam auf, so dass bleierne Trinkwasserleitungen eine Gesundheitsgefahr darstellen können. Wenn das Wasser dagegen viele Hydrogencarbonat- und Sulfationen enthält, was meist mit einer hohen Wasserhärte einhergeht, bildet sich nach einiger Zeit eine Schicht basischen Bleicarbonats und Bleisulfats. Diese schützt das Wasser vor dem Blei, jedoch geht selbst dann noch etwas Blei aus den Leitungen in das Wasser über. == Isotope == Natürlich vorkommendes Blei besteht im Mittel zu etwa 52,4 % aus dem Isotop 208Pb, zu etwa 24,1 % aus 206Pb, zu etwa 22,1 % aus 207Pb, und zu etwa 1,4 % 204Pb. Die Zusammensetzung ist je nach Lagerstätte geringfügig verschieden, so dass mit einer Analyse der Isotopenzusammensetzung die Bleiherkunft festgestellt werden kann. Das ist für historische Funde aus Blei und Erkenntnisse früherer Handelsbeziehungen von Bedeutung. Die drei erstgenannten Isotope sind stabil. Bei 204Pb handelt es sich um ein primordiales Radionuklid. Es zerfällt unter Aussendung von Alphastrahlung mit einer Halbwertszeit von 1,4 · 1017 Jahren (140 Billiarden Jahre) in 200Hg. 208Pb besitzt einen doppelt magischen Kern; es ist das schwerste stabile Nuklid. (Das noch schwerere, lange für stabil gehaltene 209Bi ist nach neueren Messungen instabil und zerfällt mit einer Halbwertszeit von (1,9 ± 0,2)· 1019 Jahren (19 Trillionen Jahre) unter Aussendung von Alphateilchen.) Die stabilen Isotope des natürlich vorkommenden Bleis sind jeweils die Endprodukte der Uran- und Thorium-Zerfallsreihen: 206Pb ist das Endnuklid der beim 238U beginnenden Uran-Radium-Reihe, 207Pb ist das Ende der beim 235U beginnenden Uran-Actinium-Reihe und 208Pb das Ende der beim 244Pu bzw. 232Th beginnenden Thorium-Reihe. Durch diese Zerfallsreihen kommt es zu dem Effekt, dass das Verhältnis der Bleiisotope in einer Probe bei Ausschluss eines stofflichen Austausches mit der Umwelt zeitlich nicht konstant ist. Dies kann zur Altersbestimmung durch die Uran-Blei- bzw. Thorium-Blei-Methode genutzt werden, die auf Grund der langen Halbwertszeiten der Uran- und Thoriumisotope im Gegensatz zur Radiokarbonmethode gerade zur Datierung von Millionen Jahre alten Proben tauglich ist. Außerdem führt der Effekt zu differenzierten Isotopensignaturen im Blei aus verschiedenen Lagerstätten, was zum Herkunftsnachweis herangezogen werden kann. Weiterhin existieren noch 33 instabile Isotope und 13 instabile Isomere von 178Pb bis 215Pb, die entweder künstlich hergestellt wurden oder in den Zerfallsreihen des Urans bzw. des Thoriums vorkommen, wie etwa 210Pb in der Uran-Radium-Reihe. Das langlebigste Isotop unter ihnen ist 205Pb mit einer Halbwertszeit von 153 Millionen Jahren. → Liste der Blei-Isotope == Verwendung == Die größten Bleiverbraucher sind die USA, Japan, Deutschland und die Volksrepublik China. Der Verbrauch ist stark von der Konjunktur in der Automobilindustrie abhängig, in deren Akkumulatoren etwa 60 % des Weltbedarfs an Blei verwendet werden. Weitere 20 % werden in der chemischen Industrie verarbeitet. === Strahlenabschirmung === Wegen seiner hohen Atommasse eignet sich Blei in ausreichend dicken Schichten oder Blöcken zur Abschirmung gegen Gamma- und Röntgenstrahlung; es absorbiert Röntgen- und Gammastrahlung sehr wirksam. Blei ist hierfür billiger und leichter zu verarbeiten, etwa als weiches Blech, als noch „atom-schwerere“, dichtere Metalle. Deshalb wird es ganz allgemein im Strahlenschutz (zum Beispiel Nuklearmedizin, Radiologie, Strahlentherapie) zur Abschirmung benutzt. Ein Beispiel ist die Bleischürze, welche Ärzte und Patienten bei Röntgenaufnahmen tragen. Bleiglas wird ebenfalls zum Strahlenschutz verwendet. Im Krankenhausbereich ist als technische Angabe bei baulichen Einrichtungen mit Abschirmfunktion wie Wänden, Türen, Fenster der Bleidickegleichwert üblich und oft angeschrieben, um die Wirksamkeit von Strahlenschutz und Strahlenbelastung berechnen zu können. Blei wird deshalb zum Beispiel auch für Streustrahlenraster eingesetzt. Einen besonderen Anwendungsfall stellt die Abschirmung von Gamma-Spektrometern für die Präzisionsdosimetrie dar. Hierfür wird Blei mit möglichst geringer Eigen-Radioaktivität benötigt. Der natürliche Gehalt an radioaktivem 210Pb wirkt sich störend aus. Er fällt umso niedriger aus, je länger der Verhüttungszeitpunkt zurückliegt, denn mit der Verhüttung werden die Mutter-Nuklide aus der Uran-Radium-Reihe (Begleiter im Erz) vom Blei abgetrennt. Das 210Pb zerfällt daher vom Zeitpunkt der Verhüttung an mit seiner Halbwertszeit von 22,3 Jahren, ohne dass neues nachgebildet wird. Deshalb sind historische Bleigegenstände wie etwa Trimmgewichte aus gesunkenen Schiffen oder historische Kanonenkugeln zur Gewinnung von strahlungsarmem Blei für die Herstellung solcher Abschirmungen begehrt. Auch gibt es noch andere Forschungseinrichtungen, die aus ähnlichen Gründen dieses alte Blei benötigen. === Metall === Blei wird vorwiegend als Metall oder Legierung verwendet. Im Gegensatz zu früheren Zeiten, als Blei eines der wichtigsten und meistverwendeten Metalle war, versucht man heute, Blei durch andere, ungiftige Elemente oder Legierungen zu ersetzen. Wegen seiner wichtigen Eigenschaften, vor allem seiner Korrosionsbeständigkeit und hohen Dichte sowie seiner einfachen Herstellung und Verarbeitung, hat es aber immer noch eine große Bedeutung in der Industrie. Elemente mit einer ähnlichen oder noch höheren Dichte beispielsweise sind entweder noch problematischer (Quecksilber, Uran) oder sehr selten und teuer (Wolfram, Gold, Platin). ==== Elektrotechnik ==== Das meiste Blei wird heutzutage für chemische Energiespeicher in Form von Bleiakkumulatoren (zum Beispiel für Autos) verwendet. Ein Autoakku enthält eine Blei- und eine Blei(IV)-oxid-Elektrode sowie verdünnte Schwefelsäure (37 %) als Elektrolyt. Aus den bei der elektrochemischen Reaktion entstehenden Pb2+-Ionen bildet sich in der Schwefelsäure unlösliches Blei(II)-sulfat. Wiederaufladen ist durch die Rückreaktion von Blei(II)-sulfat zu Blei und Blei(IV)-oxid möglich. Ein Vorteil des Bleiakkumulators ist die hohe Nennspannung einer Akkuzelle von 2,06 Volt. ==== Maschinenbau ==== Da Blei eine hohe Dichte besitzt, wird es als Gewicht benutzt. Umgangssprachlich gibt es deshalb die Bezeichnung „bleischwer“ für sehr schwere Dinge. Bleigewichte wurden unter anderem als Ausgleichsgewichte zum Auswuchten von Autorädern benutzt. Dies ist aber seit dem 1. Juli 2003 bei PKW-Neuwagen und seit dem 1. Juli 2005 bei allen PKW (bis 3,5 t) verboten; die Bleigewichte sind durch Zink- oder Kupfergewichte ersetzt worden. Weitere Anwendungen unter Ausnutzung der hohen Dichte sind: Bleiketten zur Straffung von Gardinen und Tauchgewichte, um beim Tauchen den Auftrieb von Taucher und Ausrüstung auszugleichen. Außerdem wird Blei als Schwingungsdämpfer in vibrationsempfindlichen (Auto-)Teilen, zur Stabilisierung von Schiffen und für Sonderanwendungen des Schallschutzes verwendet. ==== Apparatebau ==== Blei ist durch Passivierung chemisch sehr beständig und widersteht u. a. Schwefelsäure und Brom. Daher wird es als Korrosionsschutz im Apparate- und Behälterbau eingesetzt. Eine früher wichtige Anwendung war das Bleikammerverfahren zur Schwefelsäureherstellung, da damals Blei das einzige bekannte Metall war, das den Schwefelsäuredämpfen widerstand. Auch frühere Anlagen und Räume zur Herstellung von Nitroglyzerin wurden an Boden und Wand mit Blei ausgekleidet. Blei wurde auch häufig zur Ummantelung von Kabeln zum Schutz vor Umwelteinflüssen benutzt, beispielsweise bei Telefonkabeln. Heute ist Blei dabei meist durch Kunststoffe, zum Beispiel PVC, abgelöst worden, wird aber bis heute bei Kabeln in Raffinerien eingesetzt, da es auch gegen Kohlenwasserstoffe unempfindlich ist. ==== Bauwesen ==== Da Blei leicht zu bearbeiten und zu gießen ist, wurde Blei in der Vergangenheit häufig für metallische Gegenstände verwendet. Zu den wichtigsten Bleiprodukten zählten u. a. Rohre. Aufgrund der Toxizität der aus dem Blei evtl. entstehenden chemischen Verbindungen (Bleivergiftung) kommen Bleirohre aber seit den 1970er Jahren nicht mehr zum Einsatz. Trotz einer gebildeten Karbonatschicht in den Rohren löst sich das Blei weiterhin im Trinkwasser. Erfahrungsgemäß wird bereits nach wenigen Metern der Grenzwert der geltenden Trinkwasserverordnung nicht mehr eingehalten. Weitere Verwendung im Hochbau fand Blei zur Verbindung von Steinen durch eingegossene Metallklammern oder Metalldübel, etwa um Scharniere an einen steinernen Türstock zu befestigen oder ein Eisengeländer an einer Steintreppe. Diese Verbleiungstechnik ist in der Restaurierung noch weit verbreitet. So an der Turmspitze im Wiener Stephansdom oder der Brücke in Mostar. Auch für Fensterfassungen, zum Beispiel an mittelalterlichen Kirchenfenstern, wurden oft Bleiruten verwendet. Blei (Walzblei) findet auch Verwendung als Dachdeckung (zum Beispiel die Hauptkuppeln der Hagia Sophia) oder für Dachabschlüsse (zum Beispiel bei den berühmten „Bleikammern“, dem ehemaligen Gefängnis von Venedig und im Kölner Dom) sowie zur Einfassung von Dachöffnungen. Auch wurde früher Farben und Korrosionsschutzanstrichen Blei beigemischt, insbesondere bei Anstrichen für Metalloberflächen. Noch heute stellt Blei bei Gebäuden im Bestand einen zu berücksichtigenden Gebäudeschadstoff dar, da es in vielen älteren Bau- und Anlageteilen weiterhin zu finden ist. ==== Pneumatiksteuerungen ==== Ein spezieller Anwendungsbereich von Bleirohren waren ab dem späten 19. Jahrhundert pneumatische Steuerungen für Orgeln (pneumatische Traktur), pneumatische Kunstspielklaviere und, als ein spezieller und sehr erfolgreicher Einsatzfall, die Steuerung der Link-Trainer, des ersten weitverbreiteten Flugsimulators. Die Vorteile von Bleirohren (billig, stabil, flexibel, kleiner Platzbedarf für die nötigen umfangreichen Rohrbündel, lötbar, mechanisch leicht zu verarbeiten, langlebig) waren dafür ausschlaggebend. ==== Militärtechnik ==== Ein wichtiger Abnehmer für Bleimetall war und ist das Militär. Blei dient als Grundstoff für Geschosse, sowohl für Schleudern als auch für Feuerwaffen. In sogenannten Kartätschen wurde gehacktes Blei verschossen. Der Grund für die Verwendung von Blei waren und sind einerseits die hohe Dichte und damit hohe Durchschlagskraft und andererseits die leichte Herstellung durch Gießen. Heutzutage wird das Blei meist von einem Mantel (daher „Mantelgeschoss“) aus einer Kupferlegierung (Tombak) umschlossen. Vorteile sind vor allem eine höhere erreichbare Geschossgeschwindigkeit, bei der ein nicht ummanteltes Bleigeschoss aufgrund seiner Weichheit nicht mehr verwendet werden kann, und die Verhinderung von Bleiablagerungen im Inneren des Laufes einer Feuerwaffe. Bleifreie Munition ist jedoch auch verfügbar. ==== Karosseriereparatur ==== Vor dem Aufkommen moderner 2-Komponenten-Spachtelmasse wurden Blei oder Blei-Zinn-Legierungen aufgrund ihres geringen Schmelzpunktes zum Ausfüllen von Schad- und Reparaturstellen an Fahrzeugkarosserien genutzt. Dazu wurde das Material mit Lötbrenner und Flussmittel auf die Schadstelle aufgelötet. Anschließend wurde die Stelle wie beim Spachteln verschliffen. Dies hat den Vorteil, dass das Blei im Gegensatz zu Spachtelmasse eine feste Bindung mit dem Blech eingeht und bei Temperaturschwankungen auch dessen Längenausdehnung mitmacht. Da die entstehenden Dämpfe und Stäube giftig sind, wird dieses Verfahren heute außer bei der Restaurierung historischer Fahrzeuge kaum noch verwendet. ==== Brauchtum ==== Ein alter Orakel-Brauch, den bereits die Römer pflegten, ist das Bleigießen, bei dem flüssiges Blei (heutzutage auch in Legierung mit Zinn) in kaltem Wasser zum Erstarren gebracht wird. Anhand der zufällig entstehenden Formen sollen Weissagungen über die Zukunft getroffen werden. Heute wird der Brauch noch gerne zu Neujahr geübt, um einen (nicht unbedingt ernst genommenen) Ausblick auf das kommende Jahr zu bekommen. ==== Wassersport ==== Beim Tauchen werden Bleigewichte zum Tarieren verwendet; der hohe Dichteüberschuss (gut 10 g/cm³) gegenüber Wasser liefert kompakt den Abtrieb, so dass ein Taucher auch in geringer Wassertiefe schweben kann. Für die Verwendung von Blei als Gewicht ist ferner der vergleichsweise niedrige Preis begünstigend: Ausgehend von den Weltmarktpreisen für Metalle vom Juli 2013 hat Blei ein hervorragendes Preis-Gewichts-Verhältnis. Die Verwendung erfolgt in Form von Platten an den Schuhsohlen eines Panzertauchanzugs, als abgerundete Blöcke aufgefädelt auf einem breiten Hüftgurt oder – modern – als Schrotkugeln in Netzen in den Taschen einer Tarierweste. Öffnen der Gurtschnalle oder der Taschen (unten) erlaubt es, den Ballast notfalls rasch abzuwerfen. Der Kielballast von Segelyachten besteht bevorzugt aus Blei. Eisenschrott ist zwar billiger, aber auch weniger dicht, was bei den heute üblichen schlanken Kielen nicht optimal ist. Neben der Dichte ist ein weiterer Vorteil, dass Blei nicht rostet und daher auch bei einem Schaden in der Kielverkleidung nicht degeneriert. === Legierungsbestandteil === Blei wird auch in einigen wichtigen Legierungen eingesetzt. Durch das Zulegieren weiterer Metalle ändern sich je nach Metall die Härte, der Schmelzpunkt oder die Korrosionsbeständigkeit des Materials. Die wichtigste Bleilegierung ist das Hartblei, eine Blei-Antimon-Legierung, die erheblich härter und damit mechanisch belastbarer als reines Blei ist. Spuren einiger anderer Elemente (Kupfer, Arsen, Zinn) sind meist in Hartblei enthalten und beeinflussen ebenfalls maßgeblich die Härte und Festigkeit. Verwendung findet Hartblei beispielsweise im Apparatebau, bei dem es neben der chemischen Beständigkeit auch auf Stabilität ankommt. Eine weitere Bleilegierung ist das Letternmetall, eine Bleilegierung mit 60–90 % Blei, die als weitere Bestandteile Antimon und Zinn enthält. Es wird für Lettern im klassischen Buchdruck verwendet, spielt heute allerdings in der Massenproduktion von Druckgütern keine Rolle mehr, sondern allenfalls für bibliophile Editionen. Daneben wird Blei in Lagern als so genanntes Lagermetall verwendet. Blei spielt eine Rolle als Legierungsbestandteil in Weichlot, das unter anderem in der Elektrotechnik Verwendung findet. In Weichloten ist Zinn neben Blei der wichtigste Bestandteil. Die Verwendung von Blei in Loten betrug 1998 weltweit etwa 20.000 Tonnen. Die EG-Richtlinie 2002/95/EG RoHS verbannt Blei seit Juli 2006 weitgehend aus der Löttechnik. Für spezielle Anwendungen gibt es jedoch eine Reihe von Ausnahmen.Blei ist ein häufiger Nebenbestandteil in Messing. Dort hilft ein Bleianteil (bis 3 %), die Zerspanbarkeit zu verbessern. Auch in anderen Legierungen, wie zum Beispiel Rotguss, kann Blei als Nebenbestandteil enthalten sein. Daher ist es ratsam, nach längerem Stehen das erste aus Messingarmaturen kommende Wasser wegen etwas herausgelösten Bleis eher nicht zu trinken. === Bleifrei === Mit Ausnahme von AvGas für spezielle Flugzeugmotoren werden bleihaltige Produkte und Anwendungen entweder vollständig ersetzt (wie bei der Verwendung bleifreier Munition oder wie das Tetraethylblei im Benzin; siehe dazu auch Entwicklung der Ottokraftstoffe#Bleifrei), oder der Bleigehalt wird durch Grenzwerte auf einen der technischen Verunreinigung entsprechenden Wert beschränkt (zum Beispiel Zinn und Lot). Diese Produkte werden gern „bleifrei“ genannt. Grenzwerte gibt es u. a. in der Gesetzgebung um die so genannte RoHS (Richtlinie 2011/65/EU), die 1000 ppm (0,1 %) vorsieht. Strenger ist der Grenzwert für Verpackungen mit 100 ppm (Richtlinie 94/62/EG). Der politische Wille zum Ersetzen des Bleis gilt auch dort, wo die Verwendung aufgrund der Eigenschaften technisch oder wirtschaftlich interessant wäre, die Gesundheitsgefahr gering und ein Recycling mit sinnvollem Aufwand möglich wäre (zum Beispiel Blei als Dacheindeckung). === Bleiglas === Wegen der abschirmenden Wirkung des Bleis besteht der Konus von Kathodenstrahlröhren (d. h. der „hintere“ Teil der Röhre) für Fernsehgeräte, Computerbildschirme etc. aus Bleiglas. Das Blei absorbiert die in Kathodenstrahlröhren zwangsläufig entstehenden weichen Röntgenstrahlen. Für diesen Verwendungszweck ist Blei noch nicht sicher zu ersetzen, daher wird die RoHS-Richtlinie hier nicht angewendet. Glas mit sehr hohem Bleigehalt wird wegen dieser Abschirmwirkung auch in der Radiologie sowie im Strahlenschutz (zum Beispiel in Fensterscheiben) verwendet. Ferner wird Bleiglas wegen seines hohen Brechungsindexes für hochwertige Glaswaren als sogenanntes Bleikristall verwendet. == Toxizität == Elementares Blei kann vor allem in Form von Staub über die Lunge aufgenommen werden. Dagegen wird Blei kaum über die Haut aufgenommen. Daher ist elementares Blei in kompakter Form für den Menschen nicht giftig. Metallisches Blei bildet an der Luft eine dichte, schwer wasserlösliche Schutzschicht aus Bleicarbonat. Toxisch sind gelöste Bleiverbindungen sowie Bleistäube, die durch Verschlucken oder Einatmen in den Körper gelangen können. Besonders toxisch sind Organobleiverbindungen, zum Beispiel Tetraethylblei, die stark lipophil sind und rasch über die Haut aufgenommen werden. Seit 2006 werden einatembare Fraktionen von Blei und anorganische Bleiverbindungen von der MAK-Kommission der Deutschen Forschungsgemeinschaft als krebserzeugend eingestuft: Bleiarsenat wird aufgrund seines Arsen- und Bleichromat aufgrund seines Chrom(VI)-Gehaltes in der Kategorie 1 (Substanzen, die sich beim Menschen oder im Tierversuch als krebserzeugend erwiesen haben), Blei und andere anorganische Bleiverbindungen außer Bleiarsenat und Bleichromat in der Kategorie 4 (Stoffe, mit krebserzeugenden Eigenschaften).Blei reichert sich selbst bei Aufnahme kleinster Mengen, die über einen längeren Zeitraum stetig eingenommen werden, im Körper an, da es zum Beispiel in Knochen eingelagert und nur sehr langsam wieder ausgeschieden wird. Blei kann so eine chronische Vergiftung hervorrufen, die sich unter anderem in Kopfschmerzen, Müdigkeit, Abmagerung und Defekten der Blutbildung, des Nervensystems und der Muskulatur zeigt. Bleivergiftungen sind besonders für Kinder und Schwangere gefährlich. Es kann auch Fruchtschäden und Zeugungsunfähigkeit bewirken. Im Extremfall kann die Bleivergiftung zum Tod führen. Die Giftigkeit von Blei beruht unter anderem auf einer Störung der Hämoglobinsynthese. Es hemmt mehrere Enzyme und behindert dadurch den Einbau des Eisens in das Hämoglobinmolekül. Dadurch wird die Sauerstoff-Versorgung der Körperzellen gestört. Bleiglas und Bleiglasur eignen sich nicht für Ess- und Trinkgefäße, da Essig(säure) Blei als wasserlösliches Bleiazetat aus dem Silikatverbund herauslösen kann. Als Automotoren noch mit Benzin mit Bleitetraethyl liefen, war die Vegetation in der Nähe von Straßen und in den Städten mit Blei, als Oxidstaub, belastet. Raue und vertiefte Oberflächen, etwa die Einziehung rund um den Stängel eines Apfels, sind Fallen für Staub. Der Zusatz bleihaltiger Antiklopfmittel im Autobenzin hat nach einer 2022 in der PNAS veröffentlichten Studie der Duke und der Florida State University seit den frühen Sechzigerjahren 170 Millionen Amerikaner um durchschnittlich fast fünf IQ-Punkte dümmer gemacht. Wer Mitte der Sechzigerjahre und vor dem Verbot bleihaltigen Benzins 1996 geboren wurde, hat im Schnitt sogar einen bis zu sechs Punkte niedrigeren IQ, als wenn er in einer Welt ohne Blei in der Umwelt aufgewachsen wäre. == Bleibelastung der Umwelt == === Luft === Die Bleibelastung der Luft wird hauptsächlich durch bleihaltige Stäube verursacht: Hauptquellen sind die Blei-erzeugende Industrie, die Verbrennung von Kohle und bis vor einigen Jahren vor allem der Autoverkehr durch die Verbrennung bleihaltiger Kraftstoffe in Automotoren – durch Reaktion mit dem Benzin zugesetzten halogenierten Kohlenwasserstoffen entstand aus dem zugesetzten Tetraethylblei neben geringeren Mengen an Blei(II)-chlorid und Blei(II)-bromid vor allem Blei und Blei(II)-oxid. Infolge des Verbotes bleihaltiger Kraftstoffe ist die entsprechende Luftbelastung in den letzten Jahren deutlich zurückgegangen. Am höchsten ist die Bleibelastung durch Bleistäube derzeit bei der Arbeit in Blei-produzierenden und -verarbeitenden Betrieben. Auch beim Reinigen und Entfernen alter Mennige-Anstriche durch Sandstrahlen entsteht Bleistaub. Die bei der Bleiraffination und der Verbrennung von Kohle entstehenden Bleioxidstäube konnten durch geeignete Filter verringert werden. Eine weitere Quelle, die mengenmäßig aber kaum ins Gewicht fällt, ist die Verbrennung von Hausmüll in Müllverbrennungsanlagen. Sport- und andere Schützen sind erheblichen Belastungen durch im Mündungs- bzw. Zündfeuer enthaltene (Schwer)metalle ausgesetzt, darunter neben Antimon, Kupfer und Quecksilber eben auch Blei; Vorsorge kann durch den Betrieb entsprechender Absauganlagen auf Schießständen sowie durch den Gebrauch bleifreier Munition getroffen werden. === Boden === Auch Böden können mit Blei belastet sein. Der mittlere Bleigehalt der kontinentalen Erdkruste liegt bei 15 mg/kg. Böden enthalten von Natur aus zwischen 2 und 60 mg/kg Blei; wenn sie aus bleierzhaltigen Gesteinen entstanden sind, kann der Gehalt deutlich höher sein. Der Großteil der Bleibelastung von Böden ist anthropogen, die Quellen dafür sind vielfältig. Der Großteil des Eintrags erfolgt über Bleistäube aus der Luft, welche mit dem Regen oder durch trockene Deposition in die Böden gelangen. Für Deutschland und das Jahr 2000 wurde der atmosphärische Eintrag in Böden auf 571 t Blei/Jahr geschätzt. Eine weitere Quelle ist belasteter Dünger, sowohl Mineraldünger (136 t Pb/a), insbesondere Ammonsalpeter, als auch Wirtschaftsdünger (182 t Pb/a). Klärschlämme (90 t Pb/a) und Kompost (77 t Pb/a) tragen ebenfalls zur Bleibelastung der Böden bei. Ein erheblicher Eintrag erfolgt auch durch Bleischrot-Munition. Bei Altlasten, wie zum Beispiel an ehemaligen Standorten von bleiproduzierenden Industriebetrieben oder in der Umgebung von alten bleiummantelten Kabeln, kann der Boden ebenfalls eine hohe Bleibelastung aufweisen. Eine besonders große Bleiverseuchung hat beispielsweise im Ort Santo Amaro da Purificação (Brasilien) zu hohen Belastungen bei Kindern geführt. === Wasser === Die Bleibelastung der Gewässer resultiert hauptsächlich aus dem Ausschwemmen von Blei aus belasteten Böden. Dazu tragen auch geringe Mengen bei, die der Regen aus Bleiwerkstoffen wie Dachplatten löst. Die direkte Verschmutzung von Gewässern durch die Bleiindustrie und den Bleibergbau spielt (zumindest in Deutschland) auf Grund des Baus von Kläranlagen fast keine Rolle mehr. Der Jahreseintrag von Blei in Gewässer ist in Deutschland von ca. 900 t im Jahr 1985 auf ungefähr 300 t im Jahr 2000 zurückgegangen.In Deutschland beträgt der Grenzwert im Trinkwasser seit dem 1. Dezember 2013 10 µg/l (früher 25 µg/l); die Grundlage der Messung ist eine für die durchschnittliche wöchentliche Wasseraufnahme durch Verbraucher repräsentative Probe (siehe Trinkwasserverordnung). === Nahrung === Durch die Bleibelastung von Luft, Boden und Wasser gelangt das Metall über Pilze, Pflanzen und Tiere in die Nahrungskette des Menschen. Besonders hohe Bleibelastungen können in verschiedenen Pilzen enthalten sein. Auf den Blättern von Pflanzen lagert sich Blei als Staub ab, das war charakteristisch für die Umgebung von Straßen mit viel Kfz-Verkehr, als Benzin noch verbleit wurde. Dieser Staub kann durch sorgfältiges Waschen entfernt werden. Zusätzliche Quellen können bleihaltige Munition bei gejagten Tieren sein. Blei kann auch aus bleihaltigen Glasuren von Keramikgefäßen in Lebensmittel übergehen. In frischem Obst und Gemüse ist in den allermeisten Fällen Blei und Cadmium nicht oder nur in sehr geringen Spuren nachweisbar.Wasserleitungen aus Bleirohren können das Trinkwasser belasten. Sie sind in Deutschland erst seit den 1970er Jahren nicht mehr verbaut worden. Besonders in Altbauten in einigen Regionen Nord- und Ostdeutschlands sind Bleirohre immer noch anzutreffen. Bei über 5 % der Proben des Wassers aus diesen Gebäuden lagen die Bleiwerte des Leitungswassers laut Stiftung Warentest über dem aktuellen gesetzlichen Grenzwert. Gleiches gilt für Österreich und betrifft Hauszuleitungen der Wasserversorgers und Leitungen im Haus, die Sache des Hauseigentümers sind. Aus bleihaltigem Essgeschirr kann Blei durch saure Lebensmittel (Obst, Wein, Gemüse) herausgelöst werden. Wasserleitungsarmaturen (Absperrhähne, Formstücke, Eckventil, Mischer) sind meist aus Messing oder Rotguss. Messing wird für gute Zerspanbarkeit 3 % Blei zugesetzt, Rotguss enthält 4–7 %. Ob Blei- und andere Schwermetallionen (Cu, Zn, Ni) in relevantem Ausmaß ins Wasser übertreten, hängt von der Wasserqualität ab: Wasserhärte, pH-Wert, Sauerstoff, Salzgehalt. Grundsätzlich kann nach längerem Stehen des Wassers in der Leitung, etwa über Nacht, durch Laufenlassen der Wasserleitung von etwa einer Minute (Spülen) vor der Entnahme für Trinkwasserzwecke der Gehalt aller aus der Leitungswandung eingewanderten Ionen reduziert werden. === Rechtliche Regelung === In der EU wurde der Grenzwert für Blei in Trinkwasser 1998 durch die Richtlinie 98/83/EG (ersetzt durch Richtlinie (EU) 2020/2184) – allerdings mit einer Übergangsfrist von 15 Jahren – auf 10 μg/L festgelegt.Die Höchstmengen an Blei in Lebensmitteln werden durch die Verordnung (EG) Nr. 1881/2006 geregelt. Die jeweiligen Höchstgrenzen hängen dabei vom Erzeugnis ab und orientieren sich auch daran, was durch gute Herstellungspraxis oder gute landwirtschaftliche Praxis erreichbar ist. Der niedrigste Wert wird für Säuglingsnahrung und Lebensmitteln für Säuglinge und Kleinkinder mit 0,010 mg/kg vorgeschrieben. 0,10 mg/kg ist der Grenzwert etwa für Fleisch, Wurzel- und Knollengemüse, Zuckermais, Wein (ab 2022er Weinlese), Honig oder viele Früchte. Für Krebstiere gilt ein Grenzwert von 0,50 mg/kg, für Muscheln ein Grenzwert von 1,50 mg/kg. In Rindengewürzen und Fleur de Sel sind maximal 2,0 mg/kg und in Nahrungsergänzungsmittel sogar 3,0 mg/kg erlaubt. == Analytik == === Klassische qualitative Bestimmung von Blei === ==== Nachweis durch Kristallisation ==== Bleiionen können in einer mikroskopischen Nachweisreaktion als Blei(II)-iodid dargestellt werden. Dabei wird die Probe in verdünnter Salzsäure gelöst und vorsichtig bis zur Kristallisation eingedampft. Der Rückstand wird mit einem Tropfen Wasser aufgenommen und anschließend mit einem Kristall eines wasserlöslichen Iodids, zum Beispiel Kaliumiodid (KI), versetzt. Es entstehen nach kurzer Zeit mikroskopisch kleine, gelbe, hexagonale Blättchen des Blei(II)-iodids. P b 2 + + 2 I − ⟶ P b I 2 ↓ {\displaystyle \mathrm {Pb^{2+}\ +\ 2\ I^{-}\ \longrightarrow \ PbI_{2}\downarrow } } ==== Qualitativer Nachweis im Trennungsgang ==== Da Blei nach Zugabe von HCl nicht quantitativ als PbCl2 ausfällt, kann es sowohl in der HCl-Gruppe als auch in der H2S-Gruppe nachgewiesen werden. Das PbCl2 kann sowohl durch Zugabe von Kaliumiodid gemäß obiger Reaktion als gelbes PbI2 gefällt werden, als auch mit K2Cr2O7 als gelbes Bleichromat, PbCrO4. Nach Einleiten von H2S in die salzsaure Probe fällt zweiwertiges Blei in Form von schwarzem PbS aus. Dieses wird nach Digerieren mit (NH4)SX und Zugabe von 4 M HNO3 als PbI2 oder PbCrO4 nachgewiesen. === Instrumentelle quantitative Analytik des Bleis === Für die Spurenanalytik von Blei und seinen Organoderivaten steht eine Reihe von Methoden zur Verfügung. Allerdings werden in der Literatur laufend neue bzw. verbesserte Verfahren vorgestellt, auch im Hinblick auf die oft erforderliche Vorkonzentrierung. Ein nicht zu unterschätzendes Problem besteht in der Probenaufarbeitung. ==== Atomabsorptionsspektrometrie (AAS) ==== Unter den verschiedenen Techniken der AAS liefert die Quarzrohr- und die Graphitrohrtechnik die besten Ergebnisse für die Spurenanalytik von Bleiverbindungen. Häufig wird Blei mit Hilfe von NaBH4 in das leicht flüchtige Bleihydrid, PbH2, überführt. Dieses wird in eine Quarzküvette geleitet und anschließend elektrisch auf über 900 °C erhitzt. Dabei wird die Probe atomisiert und es wird unter Verwendung einer Hohlkathodenlampe die Absorbanz bei 283,3 nm gemessen. Es wurde eine Nachweisgrenze von 4,5 ng/ml erzielt. Gerne wird in der AAS auch eine Luft-Acetylenfackel (F-AAS) oder mikrowelleninduziertes Plasma (MIP-AAS) zur Atomisierung eingesetzt. ==== Atomemissionsspektrometrie (AES) ==== In der AES haben sich das mikrowelleninduzierte Plasma (MIP-AES) und das induktiv gekoppelte Argon-Plasma (ICP-AES) zur Atomisierung bewährt. Die Detektion findet bei den charakteristischen Wellenlängen 283,32 nm und 405,78 nm statt. Mit Hilfe der MIP-AES wurde für Trimethylblei, (CH3)3Pb+, eine Nachweisgrenze von 0,19 pg/g ermittelt. Die ICP-AES ermöglicht eine Nachweisgrenze für Blei in Trinkwasser von 15,3 ng/ml. ==== Massenspektrometrie (MS) ==== In der Natur treten für Blei insgesamt vier stabile Isotope mit unterschiedlicher Häufigkeit auf. Für die Massenspektrometrie wird häufig das Isotop 206Pb genutzt. Mit Hilfe der ICP-Quadrupol-MS konnte dieses Isotop im Urin mit einer Nachweisgrenze von 4,2 pg/g bestimmt werden. ==== Photometrie ==== Die am weitesten verbreitete Methode zur photometrischen Erfassung von Blei ist die sog. Dithizon-Methode. Dithizon ist ein zweizähniger, aromatischer Ligand und bildet bei pH 9–11,5 mit Pb2+-Ionen einen roten Komplex dessen Absorbanz bei 520 nm (ε = 6,9·104 l/mol·cm) gemessen wird. Bismut und Thallium stören die Bestimmung und sollten vorher quantitativ gefällt oder extrahiert werden. ==== Voltammetrie ==== Für die elektrochemische Bestimmung von Spuren von Blei eignet sich hervorragend die subtraktive anodische Stripping-Voltammetrie (SASV). Dabei geht der eigentlichen voltammetrischen Bestimmung eine reduktive Anreicherungsperiode auf einer rotierenden Ag-Disk-Elektrode voraus. Es folgt die eigentliche Bestimmung durch Messung des Oxidationsstroms beim Scannen eines Potentialfensters von −800 mV bis −300 mV. Anschließend wird die Messung ohne vorangehende Anreicherung wiederholt und die so erhaltene Kurve von der ersten Messung subtrahiert. Die Höhe des verbleibenden Oxidationspeaks bei −480 mV korreliert mit der Menge an vorhandenem Blei. Es wurde eine Nachweisgrenze von 50 pM Blei in Wasser ermittelt. == Bleiverbindungen == → Kategorie:Bleiverbindung Bleiverbindungen kommen in den Oxidationsstufen +II und +IV vor. Aufgrund des relativistischen Effekts ist die Oxidationsstufe +II dabei – im Gegensatz zu den leichteren Homologen der Gruppe 14, wie Kohlenstoff und Silicium – stabiler als die Oxidationsstufe +IV. Der Sachverhalt der Bevorzugung der um 2 erniedrigten Oxidationsstufe, findet sich in analoger Weise auch in anderen Hauptgruppen und wird Effekt des inerten Elektronenpaares genannt. Blei(IV)-Verbindungen sind deshalb starke Oxidationsmittel. In intermetallischen Verbindungen des Bleis (Plumbide: MxPby), vor allem mit Alkali- und Erdalkalimetallen, nimmt es auch negative Oxidationsstufen bis −IV an. Viele Bleiverbindungen sind Salze, es gibt aber auch organische Bleiverbindungen, die kovalent aufgebaut sind. Ebenso wie bei Bleimetall wird heutzutage versucht, Bleiverbindungen durch andere, ungiftige Verbindungen zu substituieren. So wurde „Bleiweiß“ (basisches Blei(II)-carbonat) als Weißpigment durch Titan(IV)-oxid ersetzt. === Oxide === Blei(II)-oxid PbO tritt in zwei Modifikationen, als rote Bleiglätte und als gelbes Massicolit, auf. Beide Modifikationen wurden früher als Pigmente verwendet. Es dient als Ausgangsstoff für andere Bleiverbindungen. Blei(II,IV)-oxid Pb3O4, auch Mennige genannt, ist ein leuchtend rotes Pulver, das früher verbreitet als Pigment und Rostschutzfarbe verwendet wurde. Es ist in Deutschland, seit 2005 auch in der Schweiz, als Rostschutz verboten. Pb3O4 wird in der Glasherstellung für die Bereitung von Bleikristall verwendet. Blei(IV)-oxid PbO2 ist ein schwarz-braunes Pulver, das als Elektrodenmaterial in Bleiakkumulatoren und als Oxidationsmittel in der chemischen Industrie (zum Beispiel Farbstoffherstellung) verwendet wird. === Schwefelverbindungen === Blei(II)-sulfid PbS ist als Galenit (Bleiglanz) das wichtigste Bleimineral. Es dient vor allem zur Herstellung metallischen Bleis. Blei(II)-sulfat PbSO4 kommt als Anglesit ebenfalls in der Natur vor und wurde als Weißpigment verwendet. === Weitere Bleisalze === Blei(II)-acetat Pb(CH3COO)2 · 3H2O, auch Bleizucker genannt, war früher ein Zuckerersatzstoff zum Beispiel für das Süßen von Wein. Aufgrund der Giftigkeit von Bleizucker starben früher Menschen an solcherart vergiftetem Wein. Blei(IV)-acetat (Pb(CH3COO)4) bildet farblose, an feuchter Luft nach Essig riechende Kristallnadeln. Mit Wasser zersetzt es sich zu Blei(IV)-oxid und Essigsäure. Es dient in der Organischen Chemie als starkes Oxidationsmittel. Bleiweiß, basisches Bleicarbonat 2 PbCO3 · Pb(OH)2, war früher ein beliebtes Weißpigment; es ist heute meist durch Titanoxid abgelöst. Blei(II)-nitrat Pb(NO3)2 ist ein giftiges, weißes Pulver, das für Sprengstoffe und zur Herstellung von Streichhölzern verwendet wurde. Blei(II)-chlorid PbCl2 dient als Ausgangsstoff zur Herstellung von Bleichromat. Blei(II)-chromat PbCrO4 ist ein orange-gelbes Pulver, welches früher als Pigment diente und heute wegen seiner Giftigkeit nicht mehr eingesetzt wird. Bleiazid Pb(N3)2 ist ein wichtiger Initialsprengstoff. === Organische Bleiverbindungen === Organische Bleiverbindungen liegen fast immer in der Oxidationsstufe +4 vor. Deren bekannteste ist Tetraethylblei Pb(C2H5)4 (TEL), eine giftige Flüssigkeit, die als Antiklopfmittel Benzin zugesetzt wurde. Heute wird Tetraethylblei nur noch in Flugbenzin verwendet. == Literatur == Gerhart Jander, Ewald Blasius: Einführung in das anorganisch-Chemische Praktikum. 14. Auflage. S. Hirzel, Leipzig 1995, ISBN 3-7776-0672-3. William H. Brock: Viewegs Geschichte der Chemie. Vieweg, Braunschweig 1997, ISBN 3-540-67033-5. Stefan Meier: Blei in der Antike. Bergbau, Verhüttung, Fernhandel. Dissertation. Zürich, Universität 1995. Raymund Gottschalk, Albrecht Baumann: Material provenance of late-Roman lead coffins in the Rheinland, Germany. In: European Journal of Mineralogy. 13, Stuttgart 2001, S. 197–200. Heiko Steuer, Ulrich Zimmermann: Alter Bergbau in Deutschland. (= Archäologie in Deutschland. Sonderheft). Konrad Theiss, Stuttgart 1993, ISBN 3-8062-1066-7. == Weblinks == Mineralienatlas:Blei (Wiki) MATERIAL ARCHIV: Blei – Umfangreiche Materialinformationen und Bilder Lead Poisoning: A Historical Perspective – Historische Perspektive zur Bleivergiftung (englisch) Untersuchung von Batterieverwertungsverfahren und -anlagen hinsichtlich ökologischer und ökonomischer Relevanz unter besonderer Berücksichtigung des Cadmiumproblems (Memento vom 13. April 2012 im Internet Archive) (2001, PDF, S. 215–226; 1,37 MB) TRGS 505-Technische Regeln für Gefahrstoffe-Blei (PDF; 186 kB) Einträge von Blei in die Umwelt (PDF; 3,9 MB) Umweltbundesamt: Stoffmonografie Blei (1996) (Memento vom 27. September 2007 im Internet Archive) (PDF; 48 kB) Molekulare Ursache für Bleivergiftungen Lead and Human Health, Environmental Health & Toxicology, Specialized Information Services, United States National Library of Medicine (en.) Blei – Informationen des Bundesamts für Lebensmittelsicherheit und Veterinärwesen == Einzelnachweise ==
https://de.wikipedia.org/wiki/Blei
Montreal
= Montreal = Montreal (deutsch [mɔntʁeˈa:l]) bzw. Montréal (französisch [mɔ̃ʁeˈal], englisch [ˌmʌntɹiːˈɒl]) ist eine Millionenstadt in Kanada. Sie liegt im Südwesten der überwiegend französischsprachigen Provinz Québec auf der Île de Montréal, der größten Insel im Hochelaga-Archipel, die vom Sankt-Lorenz-Strom und von Mündungsarmen des Ottawa umflossen wird. Die Nachbarprovinz Ontario liegt knapp 60 Kilometer westlich, die Grenze zu den USA etwas mehr als 50 Kilometer südlich. Das Stadtbild wird vom Mont Royal geprägt, einem 233 Meter hohen Hügelzug vulkanischen Ursprungs im Zentrum der Insel, von dem sich der Name der Stadt ableitet. Als der französische Seefahrer Jacques Cartier im Jahr 1535 als erster Europäer die Gegend erforschte, lebten Sankt-Lorenz-Irokesen auf der Insel. 1642 gründeten Paul Chomedey de Maisonneuve und Jeanne Mance das Fort Ville-Marie, eine katholische Missionsstation. Daraus entwickelte sich in der Folge die Siedlung Montreal, die 1760 unter britische Herrschaft kam. Montreal erhielt 1832 die Stadtrechte. Die Stadt wuchs rasch und entwickelte sich zum wirtschaftlichen und kulturellen Zentrum des Landes, verlor aber im letzten Viertel des 20. Jahrhunderts diese führende Rolle an Toronto. Bedeutende Ereignisse mit weltweiter Ausstrahlung waren die Weltausstellung Expo 67 und die Olympischen Sommerspiele 1976, die in Montreal abgehalten wurden. Die Wirtschaft Montreals ist stark diversifiziert. Wichtige Pfeiler des Dienstleistungssektors sind Finanzdienstleistungen, Medien, Handel und Design. Von großer Bedeutung ist auch der Tourismus, dies aufgrund der Sehenswürdigkeiten und des vielfältigen kulturellen Angebots, das neben Museen auch zahlreiche Festivals in den Bereichen Film, Theater und Musik umfasst. Mehr als 60 internationale Organisationen haben ihren Sitz in Montreal. Im Industriesektor sind Luftfahrt-, Pharma- und Spitzentechnologieunternehmen vorherrschend. Mit vier Universitäten und mehreren weiteren Hochschulen ist Montreal ein wichtiger Bildungsstandort von internationaler Bedeutung. Außerdem ist die Stadt ein Knotenpunkt im nordamerikanischen Schienen- und Straßennetz und verfügt darüber hinaus über den größten Binnenhafen auf dem amerikanischen Kontinent. Mit einer Bevölkerungszahl von 1.762.949 Einwohnern (Stand 2021) ist Montreal die zweitgrößte Stadt Kanadas nach Toronto und die größte der Provinz Québec. Die Verwaltungsregion, die alle Gemeinden auf der Insel umfasst, zählt 1.942.044 Einwohner (Stand 2016). Der Ballungsraum Communauté métropolitaine de Montréal, der urbane Gebiete im näheren Umkreis einbezieht, zählt 4.291.732 Einwohner (Stand 2021). Französisch ist Montreals Amtssprache und die Hauptsprache von 56,9 % der Bevölkerung, während 18,6 % hauptsächlich Englisch sprechen. Der Rest entfällt auf verschiedene Sprachen von Einwanderern, womit Montreal eine multikulturelle Bevölkerung aufweist.Montreal gilt als zweitgrößte französischsprachige Stadt der Welt nach Paris, wenn man nur die Muttersprachler berücksichtigt. Montreal gehört auch weltweit zu den größten Städten, in denen Französisch die offizielle Sprache ist. Die Stadt hat in dieser Kategorie den zweiten Rang an Kinshasa verloren. == Geographie == === Lage === Montreal liegt im Südwesten der Provinz Québec, knapp 60 Kilometer östlich der Nachbarprovinz Ontario und etwas mehr als 50 Kilometer nördlich der Grenze zu den USA. Die Provinzhauptstadt Québec ist 233 Kilometer entfernt im Nordosten, die Bundeshauptstadt Ottawa 166 Kilometer entfernt im Westen. In südwestlicher Richtung sind es 504 Kilometer nach Toronto, in südöstlicher Richtung 404 Kilometer nach Boston und in südlicher Richtung 533 Kilometer nach New York. === Topografie und Geologie === Der überwiegende Teil des Stadtgebiets befindet sich auf der Île de Montréal, der mit Abstand größten Insel im Hochelaga-Archipel. Die 499 km² große Insel, die annähernd die Form eines Bumerangs aufweist, ist 50 Kilometer lang und bis zu 16 Kilometer breit. Auf ihrer Süd- und Ostseite wird die Île de Montréal vom Sankt-Lorenz-Strom (frz. Fleuve Saint-Laurent) umflossen, einem der mächtigsten Flüsse Nordamerikas. Die westliche und nördliche Begrenzung bildet der Rivière des Prairies, einer von drei Mündungsarmen des Ottawa (frz. Rivière des Outaouais). Die großen Flüsse verbreitern sich an zwei Stellen zu Seen, der Ottawa im Westen zum Lac des Deux Montagnes, der Sankt-Lorenz-Strom im Süden zum Lac Saint-Louis. Eine weitere bedeutende Wasserstraße ist der 14,5 Kilometer lange Lachine-Kanal im Süden der Insel, der zur Umgehung der Lachine-Stromschnellen gebaut wurde. Der Sankt-Lorenz-Seeweg, der den Lachine-Kanal 1959 überflüssig machte, erstreckt sich knapp außerhalb der Stadtgrenze dem Sankt-Lorenz-Strom entlang. Ein kleiner Teil des Stadtgebietes erstreckt sich über mehrere vorgelagerte Inseln. Die wichtigsten sind die Île Sainte-Hélène, die Île Notre-Dame und die Île des Sœurs im Osten sowie die Île Bizard im Westen. Knapp außerhalb der Stadtgrenzen befinden sich unter anderem die Île Jésus im Nordwesten sowie die Île Sainte-Thérèse und die Îles de Boucherville im Nordosten. Auf dem Festland besitzt Montreal keine Gebiete. Im Zentrum der ansonsten überwiegend flachen Île de Montréal ragt der Mont Royal auf, ein aus vulkanischem Gabbrogestein bestehender Hügelzug mit drei Gipfeln auf einer Höhe von 233, 211 und 201 Metern. Der westlichste der Montérégie-Hügel entstand in der Kreidezeit vor rund 125 Millionen Jahren durch Intrusion von magmatischem Gestein und Hornfels. Durch Erosion wurden die umliegenden, bis zu zwei Kilometer dicken Schichten aus Sedimentgesteinen im Laufe der Jahrmillionen abgetragen. Westlich und nördlich des Mont Royal lagerten sich auf dem Grund von Urmeeren mächtige Kalksteinschichten ab. Diese wurden bis weit ins 20. Jahrhundert hinein in zahlreichen Steinbrüchen abgebaut und überwiegend für den Häuserbau verwendet. Ansonsten herrscht Geschiebemergel vor, den vorstoßende und zurückweichende Gletscher während der Wisconsin Glaciation ablagerten. In der Schlussphase der Kaltzeit, vor rund 13.000 bis 10.000 Jahren, lag das Sankt-Lorenz-Tal unter dem Meeresspiegel im Champlainmeer. Dieser seichte Meeresarm des Atlantiks verschwand allmählich aufgrund der postglazialen Landhebung. === Nachbargemeinden === Das Stadtgebiet ist zu mehr als drei Vierteln von Wasserflächen umgeben. Nachbargemeinden im Südwesten der Île de Montréal sind Dollard-Des Ormeaux, Dorval, Kirkland, Sainte-Anne-de-Bellevue und Senneville. Innerhalb des Stadtgebietes gibt es sechs Enklaven. Es sind dies die Gemeinden Côte-Saint-Luc, Hampstead, Montréal-Est, Montréal-Ouest, Mont-Royal und Westmount.Im Nordwesten, auf der anderen Seite des Rivière des Prairies auf der Île Jésus, liegt die Stadt Laval, im Norden die Gemeinde Charlemagne. Westlich der Île Bizard, am gegenüberliegenden Ufer des Lac des Deux Montagnes, liegen Deux-Montagnes, Sainte-Marthe-sur-le-Lac und Pointe-Calumet. Im Osten und Süden, entlang dem Sankt-Lorenz-Strom, reihen sich folgende Gemeinden aneinander: Varennes, Boucherville, Longueuil, Saint-Lambert, Brossard, La Prairie, Candiac, Sainte-Catherine und Kahnawake (ein Reservat der Mohawk). === Klima === Montreal liegt im Übergangsbereich verschiedener klimatischer Regionen. Üblicherweise wird das Klima als boreal und humid bezeichnet, was der effektiven Klimaklassifikation Dfb entspricht. Die Sommer sind kurz und feuchtheiß mit einer durchschnittlichen Höchsttemperatur von 26 °C. Dabei können die Temperaturen an einzelnen Tagen auch weit über 30 Grad Celsius steigen, wobei durchgehend eine relativ hohe Luftfeuchtigkeit vorherrscht. Der Winter ist von sehr kaltem, schneereichem und windigem Wetter geprägt, bei länger anhaltenden Frostperioden bis unter −20 °C. Der Frühling und der Herbst sind mild, es können aber starke Temperaturschwankungen auftreten. Bekannt sind Montreal und die Umgebung für den Indian Summer, der vor allem an warmen, sonnigen Herbsttagen mit frostigen Nächten zum Ausdruck kommt. Die jährliche Niederschlagsmenge beträgt rund 980 mm. In den Monaten November bis April fällt durchschnittlich etwa 220 cm Schnee, wobei an 33 Tagen die Schneedecke mehr als 20 cm dick ist. Gewitter können vom späten Frühling bis zum frühen Herbst auftreten, Ausläufer von Tropenstürmen bringen starke Regenfälle mit sich. Die Sonnenscheindauer beträgt jährlich über 2000 Stunden. Die tiefste jemals gemessene Temperatur betrug −37,8 °C am 15. Januar 1957, die höchste 37,6 °C am 1. August 1976. Die größte Regenmenge an einem Tag war 94 mm am 8. November 1996, die größte Neuschneemenge 102 cm am 12. März 1971. === Fauna und Flora === In der Stadt gibt es zahlreiche Grünflächen, insbesondere in den Uferzonen, auf der Île Bizard und auf dem Mont Royal. Sie weisen einen bedeutenden Baumbestand auf, der überwiegend aus Laubwald besteht. Am häufigsten kommen Spitzahorne, Silber-Ahorne, Zucker-Ahorne, Amerikanische Linden, Winterlinden, Gleditschien, Rot-Eschen, Weiß-Eschen, Sibirische Ulmen und Zürgelbäume vor. Die Stadt verfügt seit 1948 über eine eigene Baumschule für die Aufzucht von Jungbäumen und Sträuchern, die später in den Parks und Straßen gepflanzt werden. Sie befindet sich in L’Assomption, etwa 30 Kilometer nördlich des Stadtzentrums.Verschiedene Tierarten haben sich an das Leben in urbaner Umgebung und an die harten Winter angepasst. Zu den am häufigsten vorkommenden Arten gehören Waschbären, Streifenskunks, Grauhörnchen und Waldmurmeltiere. Darüber hinaus werden vermehrt Rotfüchse und Kojoten beobachtet. Die 17 bedeutendsten Grünflächen Montreals werden unter der Bezeichnung Grands parcs de Montréal zusammengefasst. Dazu gehören Parkanlagen und Naturparks, die zusammen knapp 1800 Hektar groß sind. Hinzu kommen Dutzende kleinere Parkanlagen und Grünflächen, die von den Stadtbezirken verwaltet werden. Ein bedeutendes Naturreservat knapp außerhalb des Stadtgebietes ist der Parc national des Îles-de-Boucherville auf der gleichnamigen Inselgruppe im Sankt-Lorenz-Strom. == Geschichte == === Herkunft des Namens === Der Name der Stadt Montreal leitet sich vom Mont Royal (französisch: „königlicher Berg“) ab. Die Benennung des Höhnezugs auf der Insel im Sankt-Lorenz-Strim nahm Jacques Cartier 1535 zu Ehren von König Franz I. von Frankreich vor. Als der venezianische Kartograf Giacomo Gastaldi 1556 für die von Giovan Battista Ramusio herausgegebene Buchreihe Delle navigationi et viaggi eine auf Cartiers Aufzeichnungen basierende Karte anfertigte, gab er dem Hügelzug die Bezeichnung Monte Real. François de Belleforest verwendete in La Cosmographie universelle de tout le monde, seiner 1575 erschienenen Kosmografie, als erster die davon abgeleitete Namensform Montréal. Nach Erscheinen einer 1612 von Samuel de Champlain angefertigten Karte übertrug sich der Name auf die gesamte Insel. Die 1642 gegründete erste französische Siedlung auf der Insel hieß Ville-Marie. Dieser Name wurde allmählich durch Montréal verdrängt und fiel in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts außer Gebrauch.Nach dem Ende der französischen Herrschaft 1760 behielt die Stadt ihren Namen bei, die englische Schreibweise kommt jedoch ohne Akut aus. Die Stadtbewohner werden auf Englisch als Montrealers bezeichnet, auf Französisch als Montréalais (maskulin) bzw. Montréalaises (feminin), wobei ursprünglich die Form Montréalistes geläufig war. In den irokesischen Sprachen heißt die Stadt Tiohtià:ke, in den Algonkin-Sprachen Moniang. Der ursprüngliche Stadtname wird heute für den zentralen Bezirk Ville-Marie verwendet. === Frühgeschichte und Entdeckung === Die frühesten Hinweise auf die Anwesenheit von Menschen auf dem Gebiet der heutigen Provinz Québec sind rund zehn Jahrtausende alt. Bereits um 5000 v. Chr. lassen sich die Schwerpunkte der kulturellen Entwicklung an den Großen Seen und am Sankt-Lorenz-Strom fassen (Proto-Laurentian). Daraus entwickelte sich eine weiträumige Regionalkultur, die als Middle Great Lakes-St. Lawrence-Kultur bezeichnet wird. Die ältesten Spuren auf dem Gebiet von Montreal stammen aus der Zeit um 2000 v. Chr. Zwischen 1000 v. und 500 n. Chr. spricht man von der Frühen Woodland-Periode, die durch Tongefäße und den Gebrauch von Pfeil und Bogen gekennzeichnet ist. Der Anbau von Kürbissen prägte zunehmend die Kultur und ermöglichte eine sesshaftere Lebensweise von Gruppen, die als Vorgänger von Algonkin und Irokesen gelten. Im Stadtteil Lachine kamen 2009 an der Fundstelle LeBer-LeMoyne rund 32.000 Artefakte zum Vorschein, die auf zwei Siedlungsphasen hinweisen. Die ältere dauerte von etwa 500 bis 1200, die jüngere setzte zwischen 1200 und 1350 ein. Im Jahr 2010 gab es auf dem Stadtgebiet Montreals insgesamt 125 archäologische Fundstellen, die vom Bureau du patrimoine betreut werden. Entlang dem Sankt-Lorenz-Strom siedelten die Sankt-Lorenz-Irokesen, die zusammen mit den Huronen und den Irokesen einer gemeinsamen Sprachfamilie angehörten. Um das Jahr 1000 begannen sie verstärkt von Gartenwirtschaft zu leben, vor allem von Kürbis, Mais und Bohnen. Sie erbauten mit Palisaden befestigte und von Feldern umgebene Dörfer, von denen einige über tausend Einwohner zählten. Dabei bevorzugten sie erhöhte Standorte, um vor Überschwemmungen geschützt zu sein. Ließ die Fruchtbarkeit der Böden nach, zerlegten sie ihre aus Langhäusern bestehenden Dörfer und bauten sie andernorts wieder auf. Südwestlich von Montreal wird ein Dorf der Sankt-Lorenz-Irokesen ausgegraben, das aus der Mitte des 15. Jahrhunderts stammt. Der erste Europäer, der in die Gegend der heutigen Stadt gelangte, war der französische Seefahrer Jacques Cartier. Am 2. Oktober 1535 entdeckte er am Fuße des Mont Royal, in einiger Entfernung vom Flussufer, das befestigte Dorf Hochelaga, dessen Name in der Sprache der Einheimischen (Laurentisch) „Biberdamm“ bedeutete. Im Jahr 1603 begab sich Samuel de Champlain auf Cartiers Spuren. Die Sankt-Lorenz-Irokesen und ihre Siedlungen waren jedoch mittlerweile verschwunden, wofür es mehrere Theorien gibt: Konflikte mit benachbarten Stämmen, die Auswirkungen der von Europäern eingeschleppten Epidemien oder eine Wanderungsbewegung in Richtung der Großen Seen. Archäologische Anhaltspunkte und der historische Kontext deuten am ehesten auf kriegerische Auseinandersetzungen mit anderen Irokesenstämmen hin, insbesondere den Mohawk. Die wenigen Überlebenden scheinen von diesen oder den Algonkin assimiliert worden zu sein.Nach weiteren Erkundungsreisen in Neufrankreich kehrte Champlain im Juni 1611 zurück und richtete einen temporären Pelzhandelsposten ein. Als Standort wählte er eine Landzunge an der Mündung des Flüsschens Petite Rivière in den Strom, die Pointe-à-Callière. Die vorgelagerte Île Sainte-Hélène merkte er als geeigneten Standort für eine allfällige Stadtgründung vor, aus diesen Plänen ergab sich jedoch letztlich nichts. === Französische Besiedlung === Die Compagnie de la Nouvelle France, die das Handelsmonopol in Neufrankreich besaß, übertrug 1636 die Grundherrschaft (Seigneurie) über die Île de Montréal an Jean de Lauzon, einen späteren Gouverneur von Neufrankreich. Er nutzte sein Vorrecht aber nicht, weshalb die Seigneurie an die Société Notre-Dame de Montréal übertragen wurde. Diese 1639 gegründete religiöse Laiengemeinschaft wollte im Rahmen eines idealistisch-utopischen Siedlungsprojekts eine katholische Missionsstation aufbauen, um die Indianer zu bekehren. Im Auftrag der Gemeinschaft segelten der Offizier Paul Chomedey de Maisonneuve und die Krankenpflegerin Jeanne Mance mit rund 40 Kolonisten nach Neufrankreich. Sie gründeten am 17. Mai 1642 an der Pointe-à-Callière das Fort Ville-Marie, benannt nach der Jungfrau Maria. In den ersten Jahren ihres Bestehens war die Kolonie häufig Angriffen der Irokesen ausgesetzt, die die Pelzhandelswege unter ihre Kontrolle bringen wollten. Die Bewohner waren gezwungen, fast ständig hinter der Befestigung zu leben, weshalb die Landwirtschaft sich kaum entwickelte. Zudem gelang es der Société Notre-Dame de Montréal entgegen ihrer Absicht kaum, Indianer zu bekehren. Erst als Maisonneuve 1653 und 1659 in Frankreich rund zweihundert weitere Kolonisten anwarb, konnte das langfristige Überleben von Ville-Marie gesichert werden. Zu den Neuankömmlingen gehörte Marguerite Bourgeoys, die 1982 heiliggesprochene Begründerin der ersten Schule und der Congrégation de Notre-Dame de Montréal. König Louis XIV. unterstellte Neufrankreich 1663 direkt der französischen Krone. Im selben Jahr löste sich die Société Notre-Dame de Montréal auf, und ihre Grundherrschaftsrechte gingen an die Sulpizianer über. Der Orden nutzte seine größeren Ressourcen, um die Infrastruktur der Stadt auszubauen und die Insel für die Landwirtschaft zu erschließen. Weitere Orden von Bedeutung für die Entwicklung der Stadt waren die Jesuiten und die Franziskaner-Rekollekten. Militärische Interventionen des nach Neufrankreich entsandten Carignan-Salières-Regiments drängten 1665/66 die unmittelbare Gefährdung durch die Irokesen vorläufig zurück. Montreal entwickelte sich zu einem bedeutenden Zentrum des Pelzhandels, denn die Stadt lag strategisch günstig am Ausgangspunkt verschiedener Handelsrouten, die über die Großen Seen bis ins Tal des Mississippi und die westliche Prärie reichten. 1687 wurde die Stadt mit einer Holzpalisade befestigt.Trotz militärischer Präsenz drangen die Irokesen im Verlaufe der Biberkriege immer wieder in Richtung Montreal vor. Mehrere Dutzend Siedler kamen ums Leben, als am 5. August 1689, kurz nach Beginn des King William’s War, das nahe gelegene Dorf Lachine überfallen wurde. Gegen Ende des 18. Jahrhunderts waren die Indianer nicht nur durch Kriege und Epidemien stark dezimiert, sondern infolge der übermäßigen Bejagung der Pelztiere auch wirtschaftlich geschwächt. Im August 1701 unterzeichneten Vertreter von 39 Stämmen den Großen Frieden von Montreal, mit dem sie die Einstellung aller Feindseligkeiten untereinander und gegen die Franzosen vereinbarten.Im Queen Anne’s War (1702–1713) und dem King George’s War (1744–1748) gelang es Großbritannien unter Ausnutzung der höheren Einwohnerzahl und Produktionskapazität seiner Kolonien, die Machtverhältnisse in Nordamerika zu seinen Gunsten zu verschieben. In diesem Zusammenhang errichteten die Franzosen zwischen 1717 und 1738 die Stadtmauern von Montreal. In den 1730er Jahren, als Montreal mehr als 3.000 Einwohner zählte, entstanden die ersten Vororte. Der 1737 fertiggestellte Chemin du Roy ermöglichte einen intensiveren Warenaustausch mit der Stadt Québec, da nun der im Winter nicht schiffbare Sankt-Lorenz-Strom keine Behinderung mehr darstellte. === Beginn der britischen Herrschaft === Im Siebenjährigen Krieg setzten sich die Briten endgültig gegen Frankreich durch. Nach der Schlacht auf der Abraham-Ebene und der Eroberung Québecs am 13. September 1759 war Montreal isoliert. Die dort stationierte Garnison ergab sich am 8. September 1760 kampflos den zahlenmäßig überlegenen britischen Truppen. Der Frieden von Paris (1763) besiegelte das Ende Neufrankreichs und den Beginn der britischen Herrschaft über dessen Gebiete. Der 1774 in Kraft getretene Quebec Act garantierte die Religionsfreiheit und stellte den französischen Code civil im Privatrecht wieder her. Auf diese Weise sicherten sich die Briten die Loyalität der französischstämmigen Großgrundbesitzer und des frankophonen katholischen Klerus.Am 13. November 1775 nahm die Kontinentalarmee Montreal im Zuge der (letztlich erfolglosen) Invasion Kanadas ein. Die Montrealer feierten die aufständischen Amerikaner zunächst als Befreier. Doch die Besatzer machten sich mit umstrittenen Maßnahmen, darunter die Bezahlung von Gütern und Dienstleistungen mit Papiergeld anstatt mit Gold sowie ein Verbot des Handels mit Indianern, unbeliebt. Eine Delegation des Kontinentalkongresses unter der Leitung von Benjamin Franklin versuchte im April/Mai 1776 vergeblich, die Montrealer Bevölkerung für ihre Sache zu gewinnen. Am 15. Juni 1776 zog die Kontinentalarmee ab. Zwei Tage später brachten die Briten die Stadt wieder unter ihre Kontrolle. Montreal blieb unter britischer Herrschaft organisatorischer Mittelpunkt des Pelzhandels. Die frankokanadischen Händler wurden allmählich an den Rand gedrängt, da ihnen kaum noch Transportverträge und Expeditionsfinanzierungen erteilt wurden. An ihre Stelle traten überwiegend Schotten. Diese bündelten ihre Interessen in der 1779 gegründeten North West Company, die zur Hudson’s Bay Company (HBC) in Konkurrenz trat. Zwischen 1804 und 1817 wurden die Stadtmauern abgerissen, da immer mehr Bewohner aus dem ummauerten Teil in die Vororte zogen. Ab 1815 setzte eine Einwanderungswelle von Engländern und Iren ein, die eine Stimulierung und Diversifizierung der Wirtschaft bewirkte. 1817 nahm die Bank of Montreal, die älteste Bank Kanadas, ihre Tätigkeit auf. Die Bedeutung des Pelzhandels nahm hingegen ab, und 1821 fusionierte die North West Company mit der HBC. Die Montrealer Handelshäuser setzten zunehmend auf den Weizenexport und den Import von Konsumgütern. Zur Umgehung der für Frachtschiffe unpassierbaren Lachine-Stromschnellen wurde der Lachine-Kanal erbaut, der von 1825 an den Handel mit Oberkanada erleichterte. Von den frühen 1830er Jahren hatte Montreal vorübergehend eine englischsprachige Bevölkerungsmehrheit. Engländer und Schotten lebten überwiegend im Westen, Frankokanadier im Osten, die Iren waren in den ärmlichen Arbeitervierteln im Südwesten konzentriert. Als Verkehrssprache dominierte das Englische. 1832 erhielt Montreal das Stadtrecht und somit die Berechtigung, sich mit einem Stadtrat und einem Bürgermeister selbst zu verwalten. Ab 1844 war Montreal Hauptstadt der Provinz Kanada, einem Zusammenschluss der Kolonien Ober- und Niederkanada. Wegen der Aufhebung von Schutzzöllen auf Exporte nach Großbritannien herrschte eine Wirtschaftskrise, zudem waren die politischen Verhältnisse instabil. Als das Parlament im März 1849 beschloss, sämtliche Geschädigten der Rebellionen von 1837, also auch die damaligen Aufständischen, für ihre Verluste zu entschädigen, kam es zu Protesten von anglophonen Konservativen. Eine aufgebrachte Menge steckte am 25. April 1849 nach zweitägigen Straßenkämpfen den Marché Sainte-Anne, das provisorische Parlamentsgebäude, in Brand, das vollständig zerstört wurde. Aufgrund der unsicheren Lage beschloss die Regierung, Toronto zur neuen Provinzhauptstadt zu erheben. Montrealer Geschäftsleute finanzierten den Bau der ersten Eisenbahnlinie auf kanadischem Boden: Die 1836 eröffnete Champlain and St. Lawrence Railroad führte vom Südufer des Sankt-Lorenz-Stroms nach Saint-Jean-sur-Richelieu. Die erste kurze Bahnlinie auf dem Stadtgebiet, die 1847 eröffnete Montreal and Lachine Railroad, diente als Ergänzung zum Lachine-Kanal. Ab 1853 verband die Atlantic and St. Lawrence Railroad Montreal mit Portland (Maine), 1856 nahm die Grand Trunk Railway die Hauptstrecke nach Toronto in Betrieb. Mit der Inbetriebnahme weiterer Strecken in den folgenden Jahren entwickelte sich Montreal zu einem bedeutenden Eisenbahnknotenpunkt.Bis in die 1850er Jahre war die rasch wachsende Stadt wiederholt von Cholera- und Typhus-Epidemien betroffen, die zahlreiche Tote forderten. Der folgenschwerste Brand ereignete sich im Jahr 1852, als 1.200 Häuser zerstört und 9.000 Menschen obdachlos wurden. Wohlfahrtsverbände, Stiftungen und Hospize konnten gegen die zunehmende Verarmung zunächst kaum etwas ausrichten. === Industrialisierung und rasches Wachstum === Um 1860 war Montreal die größte Stadt in Britisch-Nordamerika, im 1867 gegründeten Bundesstaat Kanada das unumstrittene Zentrum von Wirtschaft und Kultur. Die sieben Jahrzehnte zwischen 1860 und 1930 werden bisweilen als „goldenes Zeitalter“ bezeichnet. In diesem Zeitraum nahm die Einwohnerzahl um das Neunfache zu, von rund 90.000 auf knapp 820.000. Ursache dieser Entwicklung war die rasch voranschreitende Industrialisierung. Insbesondere entlang dem Lachine-Kanal und dem Sankt-Lorenz-Strom ließen sich unter anderem folgende Wirtschaftszweige nieder: Metallverarbeitung, Maschinenbau, Lebensmittelindustrie, Brauereien, Schuhindustrie und Textilindustrie. Von großer Bedeutung für den Transportsektor waren der Hafen von Montreal sowie die Güterbahnhöfe der Grand Trunk Railway und der Canadian Pacific Railway. Nach 1866 war die Bevölkerung Montreals wieder mehrheitlich französischsprachig: Die prosperierende Industrie benötigte viele Arbeitskräfte, was wiederum zahlreiche Bewohner ländlicher Gegenden der Provinz Québec dazu bewog, in die Stadt zu ziehen, da sie sich hier bessere Verdienstmöglichkeiten erhofften. Die städtische Gesellschaft war zweigeteilt. Das anglophone Bürgertum kontrollierte die bedeutendsten Konzerne Kanadas und unterhielt enge Beziehungen zu Großbritannien. Der wirtschaftliche Einfluss der frankophonen Mittelschicht beschränkte sich weitgehend auf kleine und mittelständische Unternehmen. Die Zweiteilung manifestierte sich ebenso in einem getrennten Bildungs- und Gesundheitswesen. Während die anglophonen Institutionen weitgehend säkular waren, übte die katholische Kirche in den frankophonen Institutionen großen Einfluss aus. Ab den 1880er Jahren ließen sich osteuropäische Juden in großer Zahl nieder. Mit weiteren Flüchtlings- und Einwanderungswellen kamen insbesondere Italiener, Polen und Russen in die Stadt, aber auch Chinesen. Durch die Eingemeindung zahlreicher Vororte in den Jahren 1883 bis 1918 erweiterte sich das Stadtgebiet um das Fünffache. Dabei handelte es sich allerdings überwiegend um Gemeinden mit ärmlichen Arbeitervierteln, die sich beim Ausbau der Infrastruktur finanziell übernommen hatten. Verbunden mit den sozialen Auswirkungen des Ersten Weltkriegs bürdete sich die Stadt Montreal eine derart große Schuldenlast auf, dass die Provinzregierung sie von 1918 bis 1921 unter Treuhandverwaltung stellen musste. Die 1920er Jahre waren vom Aufschwung des Dienstleistungssektors geprägt. === Relativer Bedeutungsverlust und Strukturwandel === Die 1929 einsetzende Weltwirtschaftskrise hatte für Montreal schwerwiegende Auswirkungen. Besonders stark betroffen war die Industrie, die zu einem großen Teil auf der Verarbeitung von natürlichen Rohstoffen basierte und vom Export abhängig war. Die Arbeitslosigkeit stieg rasant, worauf die Stadtverwaltung mit Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen zu reagieren versuchte. Sinkende Steuereinnahmen und stark steigende Sozialausgaben belasteten das Stadtbudget; erschwerend kam hinzu, dass religiöse, soziale und erzieherische Institutionen von Grundsteuern befreit waren. Die Stadt widerstand Forderungen von Geschäftsleuten, die Steuern zu senken, und führte 1935 stattdessen die erste Umsatzsteuer in der Provinz ein. Dennoch verschlechterte sich die finanzielle Situation zusehends, sodass die Stadt von 1940 bis 1944 erneut unter Treuhandverwaltung gestellt werden musste. Die Kriegswirtschaft während des Zweiten Weltkriegs sorgte vorübergehend für Vollbeschäftigung; aufgrund steigender Steuereinnahmen konnte die Schuldenlast rasch abgebaut werden. Dennoch verlor Montreal allmählich seine wirtschaftliche Vorrangstellung in Kanada. Der Außenhandel war nicht mehr auf Europa ausgerichtet, sondern auf die Vereinigten Staaten; im Binnenhandel spielte Westkanada eine immer größere Rolle. Das zentral gelegene Toronto profitierte davon und stieg zum neuen Wirtschaftszentrum auf. Nach der Eröffnung des Sankt-Lorenz-Seewegs 1959 konnten hochseetaugliche Schiffe vom Atlantik über Montreal bis zu den Großen Seen verkehren. Mit der ökonomischen Neuausrichtung verbunden war auch ein Bedeutungsverlust der anglophonen Montrealer Elite. Während der Stillen Revolution in den 1960er Jahren erlebte die frankophone Gesellschaft eine durchgreifende Modernisierung. Sie drängte den Einfluss der katholischen Kirche zurück, übernahm die Kontrolle über die eigene Wirtschaft und trat selbstbewusster auf. Dabei bildete sich eine separatistische Bewegung heraus. Die linke terroristische Gruppierung Front de libération du Québec verübte im Großraum Montreal zahlreiche Anschläge, bis sie 1970 im Zuge der Oktoberkrise zerschlagen wurde. Gemäßigte separatistische Kräfte sammelten sich nun im Parti Québécois, der bei den Wahlen 1976 erstmals mehrheitsfähig wurde und die Regierung der Provinz Québec bildete. Im Jahr 1977 setzte die Provinzregierung die Charta der französischen Sprache in Kraft, die dem Französischen Vorrang in sämtlichen Lebensbereichen garantiert. Daraufhin verlegten einige bedeutende Unternehmen ihren Hauptsitz von Montreal nach Toronto, da die politische und ökonomische Zukunft in Québec als unsicher galt. Mit der Verdrängung der Industrie durch den Dienstleistungssektor wandelte sich das Stadtbild Montreals grundlegend. Es entstanden zahlreiche Wolkenkratzer und das Stadtzentrum verlagerte sich weg von der am Flussufer gelegenen Altstadt (Vieux-Montréal) näher an den Mont Royal. Neue Autobahnen und Brücken ermöglichten schnellere Verbindungen in die Vororte, wobei sich der Siedlungsgürtel über den Hochelaga-Archipel hinaus auszubreiten begann. Die Fertigstellung des Grundnetzes der Metro Montreal in den Jahren 1966/67 ermöglichte einerseits das Entstehen der weit verzweigten Untergrundstadt (Ville intérieure), andererseits wurde mit dem Aushubmaterial eine neue Insel im Sankt-Lorenz-Strom aufgeschüttet, die Île Notre-Dame. Auf dieser und der benachbarten Île Sainte-Hélène fand 1967 die Weltausstellung Expo 67 statt, die zugleich das Hauptereignis der Hundertjahrfeier Kanadas war. Als Austragungsort der Olympischen Sommerspiele 1976 stand Montreal ein weiteres Mal im Fokus der Weltöffentlichkeit. Ein Boykott zahlreicher afrikanischer Staaten überschattete die Veranstaltung. Massive Kostenüberschreitungen beim Bau des Olympischen Dorfes und der Sportstätten im Olympiapark führten zur Anhäufung eines Schuldenbergs in der Höhe von 1,5 Milliarden kanadischer Dollar. Zur Begleichung der Schulden musste die Provinz eine Sondersteuer auf Tabakwaren erheben. Das zum Zeitpunkt der Spiele noch fehlende Dach des Olympiastadions wurde mit elfjähriger Verspätung fertiggestellt, die Schulden waren erst 2006 abbezahlt.Das Wirtschaftswachstum fiel in den 1980er Jahren geringer aus als in anderen kanadischen Großstädten. In den 1990er Jahren hatte sich das ökonomische Umfeld Montreals jedoch erheblich verbessert, da neue Unternehmen und Institutionen die traditionellen Wirtschaftszweige abzulösen begannen. 1992 feierte die Stadt ihr 350-jähriges Bestehen mit vielen kulturellen Ereignissen. Die Eröffnung der zwei höchsten Wolkenkratzer der Stadt im selben Jahr symbolisierte augenfällig den Wiederaufschwung Montreals. Im Zuge eines umfangreichen Stadterneuerungsprojekts zu Beginn des 21. Jahrhunderts konnten mehrere internationale Organisationen dazu bewogen werden, ihre Hauptsitze nach Montreal zu verlegen. === Fusionen und Abspaltungen === 2001 beschloss die Provinzregierung der Parti Québécois zahlreiche Gemeindefusionen; vorgesehen war unter anderem der Zusammenschluss sämtlicher Gemeinden auf der Île de Montreal. Die Regierung argumentierte, größere Städte seien effizienter und könnten besser gegen andere kanadische Metropolen bestehen, die ihr Territorium bereits vergrößert hatten. Besonders im überwiegend anglophonen Gebiet West Island regte sich heftiger Widerstand gegen die erzwungenen Fusionen. Die Gegner äußerten die Besorgnis, die Eigenständigkeit der Vororte ginge verloren, die Steuerlast würde sich erhöhen und die Sprachminderheiten würden in der mehrheitlich frankophonen Stadt an Einfluss verlieren.Trotz der Bedenken setzte die Regierung die Vereinigung von 27 Gemeinden mit Montreal am 1. Januar 2002 durch. Bei den Provinzwahlen im April 2003 siegte die Parti libéral du Québec, die traditionell den Anglophonen nahesteht. Eines ihrer Wahlversprechen lautete, in ganz Québec die Fusionen nachträglich einem Referendum zu unterstellen. Die neue Regierung legte aber schwierig zu erfüllende Bedingungen fest. Erstens mussten ein Zehntel aller registrierten Wähler eine Petition unterschreiben, um eine Abstimmung herbeizuführen. Zweitens mussten mindestens 35 % aller registrierten Wähler zustimmen, eine einfache Mehrheit reichte somit nicht für die Abspaltung.In 22 ehemaligen Gemeinden fanden am 20. Juli 2004 Abstimmungen statt. Sämtliche Gemeinden stimmten der Loslösung von Montreal zu, doch Anjou, LaSalle, L’Île-Bizard, Pierrefonds, Roxboro, Sainte-Geneviève und Saint-Laurent verfehlten das Quorum, weshalb diese Gemeinden endgültig bei der Stadt verblieben. Keine Abstimmungen gab es in Lachine, Montréal-Nord, Outremont, Saint-Léonard und Verdun. Die übrigen 15 Gemeinden wurden am 1. Januar 2006 neu gegründet, mussten aber zahlreiche ihrer früheren Kompetenzen an den Gemeindeverband abtreten. Ungeachtet der Abspaltungen resultierte für Montreal letztlich eine Verdoppelung des Stadtgebiets und eine Erhöhung der Bevölkerungszahl von einer Million auf 1,6 Millionen Einwohner. == Bevölkerung == === Bevölkerungsentwicklung === Am Stichtag 10. Mai 2011 ermittelte Statistics Canada folgende Einwohnerzahlen: Die Stadt Montreal zählte 1.649.519 Einwohner, die Verwaltungsregion Montreal (entspricht dem Gebiet der Stadt und von 15 weiteren Gemeinden auf der Île de Montréal) 1.886.481 Einwohner und die Metropolregion Communauté métropolitaine de Montréal 3.824.221 Einwohner. Somit ist Montreal die bevölkerungsreichste Gemeinde der Provinz und hinter Toronto die zweitgrößte Stadt Kanadas. Die nachfolgende Tabelle zeigt die Bevölkerungsentwicklung gemäß den Ergebnissen der kanadischen Volkszählungen, wobei wiederum die Stadt, die Verwaltungsregion und die Metropolregion miteinander verglichen werden. Bis zur zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts stieg die Einwohnerzahl kontinuierlich an. Die Volkszählung von 1966 ergab ein vorläufiges Maximum von 1.293.992 Einwohnern. Bis Ende der 1970er Jahre sank die Einwohnerzahl auf knapp über eine Million und stagnierte die folgenden zwei Jahrzehnte. Die Zunahme um rund 600.000 Einwohner zu Beginn des 21. Jahrhunderts ist auf verschiedene Eingemeindungen zurückzuführen. Weitaus größere Zuwachsraten sind in der Metropolregion feststellbar: Lebten 1901 noch 82,7 % aller Einwohner auf dem Gebiet der Metropolregion in Montreal, so waren es hundert Jahre später nur noch 30,3 %. Die Eingemeindungen bewirkten eine Zunahme auf 44,6 %. Gemäß Einschätzungen von Statistics Canada werden im Jahr 2030 für die gesamte Metropolregion 4,9 Millionen Einwohner erwartet. === Sprachen === Die wichtigste Sprache Montreals ist Französisch. Ab etwa 1760 kam Englisch hinzu, das ab den 1830er Jahren vorübergehend eine dominierende Position einnahm. Zugleich ist der Gebrauch verschiedener Sprachen vielfach ein Signum gesellschaftlicher Zugehörigkeit und Ungleichheit. Das galt bis in die 1980er Jahre für die beiden Hauptsprachen und gilt bedingt noch heute für die weniger häufig gebrauchten Sprachen.Der Anteil der Einwohner französischer Muttersprache beträgt 53,6 %, jener englischer Muttersprache 12,8 %. Mit einem Anteil von 33,1 % bilden die Allophonen (Anderssprachige), deren Muttersprache weder Französisch noch Englisch ist, die zweitgrößte Gruppe. Die bedeutendste Sprache unter Einwanderern ist Italienisch (5,6 %), gefolgt von Arabisch (4,3 %), Spanisch (3,7 %), Chinesisch (2,3 %), Haitianisch (2,1 %) und Griechisch (1,3 %).Die Verteilung der Sprachgruppen auf die Arrondissements der Stadt ist sehr verschieden. Der Anteil der Frankophonen reicht von 25,8 % in Côte-des-Neiges–Notre-Dame-de-Grâce bis 80,4 % in Mercier–Hochelaga-Maisonneuve. Am kleinsten ist der anglophone Anteil in Rosemont–La Petite-Patrie mit 3,7 %, am größten in Pierrefonds-Roxboro mit 33,7 %. Auffallend ist der hohe Anteil von Italienisch in Saint-Léonard (30,7 %), von Arabisch in Saint-Laurent (13,9 %) und von Jiddisch in Outremont (10,1 %). In den 15 Gemeinden, die sich 2006 von Montreal abspalteten, ist der Anteil der englischen Muttersprachler bedeutend höher als in der Stadt (einzige Ausnahme ist das überwiegend frankophone Montréal-Est). Hier stellen die Anglophonen einen Anteil von 47,5 %, die Frankophonen kommen lediglich auf 24,7 %. Den höchsten anglophonen Anteil weist Montréal-Ouest mit 67,6 % auf, den kleinsten frankophonen Anteil Hampstead mit 14,3 %.Eine Besonderheit Montreals im Vergleich zu anderen kanadischen Großstädten ist, dass über die Hälfte der Bevölkerung (56,0 %) sowohl Französisch als auch Englisch versteht. 33,5 % verstehen ausschließlich Französisch, 10,0 % ausschließlich Englisch und 2,7 % keine dieser Sprachen. Für 71,6 % der Erwerbstätigen ist Französisch die vorherrschende Sprache am Arbeitsplatz, der Anteil des Englischen beträgt in diesem Bereich 26,7 %. === Die „sichtbaren“ Minderheiten === Die überwiegende Mehrheit der europäischstämmigen Bevölkerung ist französischer, britischer, irischer oder italienischer Herkunft. Als „sichtbare Minderheiten“ (französisch minorités visibles, englisch visible minorities) werden von den kanadischen Statistikbehörden jene Einwohner bezeichnet, die nicht-europäischer Herkunft sind (davon ausgenommen sind die Ureinwohner). In Montreal gehören 26,0 % der Bevölkerung einer sichtbaren Minderheit an. Den größten Anteil stellen Afrokanadier mit 7,7 %; es folgen Araber mit 4,3 %, Lateinamerikaner mit 3,4 %, Südasiaten und Chinesen mit je 3,2 % sowie Südostasiaten mit 1,9 %. Der Anteil der Ureinwohner an der Bevölkerung beträgt weniger als ein halbes Prozent. Im Jahr 2006 bezeichneten sich 4.285 Personen als Angehörige einer indianischen First Nation, 2.650 als Métis und 205 als Inuit.Seit 1835 nimmt sich die Deutsche Gesellschaft zu Montreal der Migranten aus Deutschland an. === Religionen === Montreal ist ein bedeutendes Zentrum der römisch-katholischen Kirche. Mit einem Anteil von 65,9 % der Bevölkerung (letzte Erhebung 2001) ist sie die dominierende christliche Konfession. Seit der Stillen Revolution hat sie aber markant an sozialem und politischem Einfluss verloren. Darüber hinaus ist der Anteil der regelmäßigen Kirchgänger in der Provinz Québec zwischen 1960 und 2008 von 90 % auf 6 % geschrumpft und ist somit der tiefste in der westlichen Welt.Während die katholische Kirche überwiegend Frankokanadier sowie Einwanderer aus Irland, Polen, Italien und Lateinamerika verbindet, sind bei den Anglophonen die Protestanten überproportional vertreten. Ihr Anteil an der Bevölkerung beträgt 6,0 %, wobei hier aufgrund der britischen Kolonialtradition die Anglican Church of Canada vorherrscht, gefolgt von der United Church of Canada. Der Anteil der Orthodoxen beträgt 3,5 % (überwiegend griechische und russische Einwanderer). 1,4 % gaben die Zugehörigkeit zu einer nicht näher definierten christlichen Konfession an, 5,4 % zum Islam (vor allem Einwanderer aus Nordafrika und dem Libanon), 2,1 % zum Buddhismus und 1,5 % zum Hinduismus. Der Anteil der Juden an der Bevölkerung beträgt 2,4 %, wobei starke regionale Unterschiede bestehen. In den Arrondissements Outremont, Côte-des-Neiges–Notre-Dame-de-Grâce und Saint-Laurent stellen sie über ein Zehntel der Bevölkerung, in den benachbarten Gemeinden Côte-Saint-Luc und Hampstead sogar mehr als zwei Drittel. === Sichtbare soziale Probleme === Das Problem der Obdachlosigkeit kam spätestens Mitte des 19. Jahrhunderts auf, als der Wechsel von Wirtschaftskrisen und Zuwanderungswellen die Zahl der Menschen auf der Straße anwachsen ließ. Anfangs reagierten Wohltätigkeitsorganisationen und Kirchen darauf, indem sie Armenküchen, Unterkünfte und Betreuung anboten. In den 1890er Jahren bestanden mehr als ein Dutzend Obdachlosenasyle. In den 1970er Jahren wies Montreal die höchste Obdachlosenrate im Land auf. Mitte der 1980er Jahre schätzte man die Zahl der Obdachlosen auf 10.000 bis 15.000. Obwohl das Problem für jeden sichtbar wurde, stieg ihre Zahl bis 2000 auf über 28.000, von denen mehr als 12.000 seit über einem Jahr kein Dach über dem Kopf hatten. Dabei nahm der Anteil der Frauen allein zwischen 1989 und 1996 von 15 auf 20 % zu. Inzwischen sind 150 bis 200 Vollzeitkräfte angestellt, um den Obdachlosen zu helfen. Unter den Jugendlichen und jungen Erwachsenen waren viele drogen- und alkoholkrank, sie litten erheblich häufiger unter Hepatitis und anderen typischen Krankheiten. Seit 1992 erhielt die Frage der Obdachlosigkeit Priorität und das Montreal model wurde entwickelt. Zum Kern wurde das Réseau d'aide aux personnes seules et itinérantes de Montréal (RAPSIM), zu dem 60 Hilfsorganisationen zählen. Hinzu kamen ein Forschungsinstitut und die Fédération des organismes sans but lucratif d'habitation de Montréal (FOHM), der 1995 bereits 60 Häuser zur Verfügung standen. == Politik und Verwaltung == === Übergeordnete Verwaltung === Die Communauté métropolitaine de Montréal (CMM) ist ein übergeordneter Zweckverband, dem 82 Gemeinden im Hochelaga-Archipel und in den angrenzenden Regionen Rive-Nord und Rive-Sud angehören, darunter die Großstädte Laval, Longueuil und Terrebonne. Die CMM besitzt Planungskompetenzen in den Bereichen Raumplanung, Wirtschaftsentwicklung, Kunst- und Kulturförderung, öffentlicher Nahverkehr, Hauptstraßennetz, Sozialwohnungsbau, Infrastruktur und Dienstleistungen von regionaler Bedeutung, Abfallentsorgung, Naturschutz und Luftqualität.Die Verwaltungsregion Montreal besteht aus der Stadt selbst sowie jenen 15 Gemeinden, die von 2002 bis 2006 mit ihr fusioniert waren. Geleitet wird sie von einem Regionalrat (conférence régionale des élus) mit 31 Mitgliedern, von denen 16 Montreal vertreten. Die Verwaltungsregion ist für die Bereitstellung folgender interkommunaler Dienstleistungen verantwortlich: Polizei, Feuerwehr, Trinkwasserversorgung, Wasserleitungen, Abwasserreinigung, öffentlicher Nahverkehr und Unterhalt von Hauptstraßen. === Städtische Behörden === Die städtische Charta (Charte de la ville de Montréal) regelt die Zuständigkeiten der verschiedenen Aufgabenträger auf kommunaler Ebene. Der alle vier Jahre im Mehrheitswahlverfahren gewählte Stadtrat (Conseil municipal) ist die Legislative. Ihm gehören 45 Stadträte, 19 Bezirksbürgermeister und der Bürgermeister an, insgesamt 65 Personen. Er ist zuständig für öffentliche Sicherheit, Vereinbarungen mit Regierungsbehörden, Subventionen, Umwelt, Gebietsentwicklungsplan und Baufinanzierung. In Kanada sind Parteien auf Bundes- und Provinzebene in der Regel voneinander getrennt (Mitglieder der einen Partei müssen nicht zwingend der anderen angehören). In Montreal setzt sich dieses System auch auf lokaler Ebene fort. Die letzten Stadtratswahlen fanden am 3. November 2013 statt. Derzeit vertreten sind die Équipe Denis Coderre pour Montréal (27 Sitze), der Projet Montréal (20 Sitze), die Coalition Montréal (6 Sitze), Vrai changement pour Montréal (4 Sitze), verschiedene lokale Gruppen (7 Sitze) und ein Unabhängiger. Aus den Reihen des Stadtrates wird das zwölfköpfige Exekutivkomitee (Comité exécutif) bestimmt, das die Exekutivgewalt ausübt und dessen Mitglieder für einzelne Abteilungen der Stadtverwaltung zuständig sind. Vorsitzender des Stadtrates und des Exekutivkomitees ist der Bürgermeister, der als Erster unter Gleichen gilt; er ist zugleich Vorsitzender des CMM und des Agglomerationsrates. Seit dem 3. November 2013 hat Denis Coderre dieses Amt inne. Montreal ist weiter in 19 Arrondissements unterteilt. Diese Stadtbezirke sind auf lokaler Ebene für bestimmte zugewiesene Aufgaben verantwortlich. Jedes Arrondissement hat einen eigenen Bezirksbürgermeister (zugleich Mitglied des Stadtrates) und einen Bezirksrat (Conseil d’arrondissement) mit drei bis sieben gewählten Mitgliedern. Beschlüsse der Bezirksräte unterstehen der Kontrolle des Stadtrates und benötigen dessen Zustimmung. === Stadtgliederung === Von 2002 bis 2006 war Montreal in 27 Arrondissements unterteilt. Seit der Abspaltung einiger zuvor fusionierter Gemeinden sind es noch 19: Ahuntsic-Cartierville (1) Anjou (2) Côte-des-Neiges–Notre-Dame-de-Grâce (3) Lachine (4) LaSalle (5) Le Plateau-Mont-Royal (6) Le Sud-Ouest (7) L’Île-Bizard–Sainte-Geneviève (8) Mercier–Hochelaga-Maisonneuve (9) Montréal-Nord (10) Outremont (11) Pierrefonds-Roxboro (12) Rivière-des-Prairies–Pointe-aux-Trembles (13) Rosemont–La Petite-Patrie (14) Saint-Laurent (15) Saint-Léonard (16) Verdun (17) Ville-Marie (18) Villeray–Saint-Michel–Parc-Extension (19) === Wappen und Flagge === Das Wappen von Montreal besteht seit 1833 und wurde von Jacques Viger, dem ersten Bürgermeister der Stadt, entworfen. Die heute verwendete Version stammt aus dem Jahr 1938 und wurde zuletzt 2017 geändert. Der unten spitz zulaufende und von einem Ahornkranz umgebene Wappenschild wird durch ein breites rotes Kreuz in vier silberne Felder unterteilt. Diese enthalten Blumensymbole, die für die wichtigsten historischen Bevölkerungsgruppen Montreals stehen: Eine blaue Fleur-de-Lys für die Franzosen bzw. Frankokanadier, eine rote Rose für die Engländer, eine purpurne Distel für die Schotten und ein grüner dreiblättriger Shamrock für die Iren. Die Weymouth-Kiefer im Zentrum des Wappens repräsentiert die fünf Stämme der Irokesen-Konföderation. Die im Jahr 1939 eingeführte Flagge von Montreal basiert auf dem Wappenschild. Ein rotes Georgskreuz teilt die Flagge in vier weiße Felder mit den Blumensymbolen. Für den alltäglichen Behördenverkehr verwendet die Stadt seit 1981 ein Logo. === Städtepartnerschaften === Seit 1979 unterhält Montreal offizielle bilaterale Beziehungen mit anderen Städten. Diese Kooperationen haben zum Ziel, den Austausch von Informationen und Fachwissen in Bereichen von gemeinsamem Interesse zu ermöglichen. Mit den sechs nachfolgenden Städten pflegt Montreal besonders enge Beziehungen. Hinzu kommen rund ein Dutzend weitere Städte, mit denen ein begrenzter Austausch auf einzelnen Gebieten erfolgt. Frankreich Lyon, Frankreich (1979) China Volksrepublik Shanghai, China (1985) Haiti Port-au-Prince, Haiti (1995) Japan Hiroshima, Japan (1998) Frankreich Paris, Frankreich (2008) Mali Bamako, Mali (2008) == Stadtbild und Architektur == Das Stadtbild ist vom Nebeneinander einer Vielzahl historischer und moderner Baustile geprägt, wobei die französische, die britische und die amerikanische Architekturtradition aufeinandertreffen. Mehr als anderthalb Jahrhunderte lang war Montreal das wirtschaftliche Zentrum des Landes. Aus diesem Grund gehören nicht nur Wohnhäuser und Geschäftsbauten zum architektonischen Erbe, sondern auch Fabriken, Silos, Lagerhäuser, Mühlen und Raffinerien. Die Stadt zählt 49 historisch bedeutende Stätten (National Historic Sites), mehr als jede andere Stadt Kanadas.Das Arrondissement Ville-Marie, zwischen dem Mont Royal und dem Sankt-Lorenz-Strom gelegen, umfasst das Stadtzentrum mit den wichtigsten Institutionen, öffentlichen Einrichtungen und Sehenswürdigkeiten. Um das Kerngebiet mit Altstadt und Geschäftszentrum liegen mehrere dicht besiedelte Wohnviertel. Typisch für die älteren Viertel sind zwei- oder dreistöckige Reihenhäuser, deren Treppen außen an der Vorderfassade angebracht sind. An den Hängen des Mont Royal erstrecken sich repräsentative Villenviertel. Das übrige Stadtgebiet ist, von verdichteten Stadtteilzentren abgesehen, suburban geprägt. === Vieux-Montréal (Altstadt) === Vieux-Montréal, am Ufer des Sankt-Lorenz-Stroms gelegen, ist der älteste Stadtteil. Seine Grenzen entsprechen im Wesentlichen dem früheren Verlauf der Montrealer Stadtmauer. Ein rund 250 Meter langes Teilstück wurde in der Parkanlage Champ-de-Mars, dem ehemaligen Exerzierplatz, freigelegt. Die Hauptverkehrsachse der Altstadt ist die Rue Notre-Dame, die parallel dazu verlaufende Rue Saint-Jacques war bis in die 1950er Jahre das Finanzzentrum. Der Alte Hafen (Vieux-Port) umfasst ehemalige Pieranlagen, die durch eine Uferpromenade verbunden sind, sowie den Uhrenturm Tour de l’Horloge. Das vorherrschende Baumaterial der Altstadthäuser ist grauer Kalkstein. Ältestes Bauwerk in Montreal ist das Seminar des Sulpizianerordens (Vieux Séminaire de Saint-Sulpice), erbaut von 1684 bis 1687. Rund zwanzig Jahre jünger ist das Château Ramezay, die ehemalige Gouverneursresidenz. Weitere herausragende Bauwerke sind das Rathaus (Hôtel de Ville) und die Markthalle Marché Bonsecours. Von wenigen Ausnahmen abgesehen stammen die meisten übrigen Gebäude der Altstadt aus dem 19. Jahrhundert, dabei handelt es sich in der Regel um Wohn-, Geschäfts- und Lagerhäuser. Mit der Verlagerung des Geschäftszentrums geriet die Altstadt allmählich in eine Krise und wies Ghettoisierungsanzeichen auf. Zu Beginn der 1960er Jahre gab es Pläne, weite Teile von Vieux-Montréal abzureißen. Der niederländische Stadtplaner Sandy van Ginkel konnte die Behörden davon überzeugen, die an dieser Stelle vorgesehene Stadtautobahn in den Untergrund zu verlegen. 1964 wurde die Altstadt als arrondissement historique (historischer Bezirk) unter Schutz gestellt, was in den folgenden Jahren zahlreiche Restaurierungen nach sich zog. Aufgrund der gut erhaltenen Kolonialarchitektur ist Vieux-Montréal heute eine beliebte Touristendestination; kopfsteingepflasterte Straßen und darauf verkehrende Kaleschen heben das historische Flair zusätzlich hervor. === Centre-Ville (Downtown) === Die Centre-Ville ist die Downtown und der wirtschaftliche Mittelpunkt Montreals. Hier befinden sich die meisten Hochhäuser und alle Wolkenkratzer der Stadt. Dieses Gebiet am Fuße des Mont Royal wird begrenzt von der Rue Sherbrooke im Nordwesten, dem Boulevard Saint-Laurent im Nordosten, der Rue Guy im Südwesten und der unterirdisch verlaufenden Autoroute 720 im Südosten. Zentrale Längsachsen sind die Rue Sainte-Catherine (die bedeutendste Einkaufsstraße der Stadt) und der Boulevard René-Lévesque. Gemäß städtischer Bauordnung darf kein Gebäude den 233 Meter hohen Gipfel des Mont Royal überragen. Darüber hinaus sind Gebäude von mehr als 120 Metern Höhe auf bestimmte Parzellen beschränkt. Mit diesen Maßnahmen soll erreicht werden, dass der Hügelzug eine bedeutende Landmarke bleibt.Eine Besonderheit ist die Ville intérieure, die weit verzweigte Untergrundstadt. Dabei handelt es sich um ein System von Ladenpassagen und Fußgängertunneln, das sich über eine Fläche von zwölf Quadratkilometern erstreckt. Es verbindet zehn U-Bahn-Stationen und zwei Bahnhöfe mit Hunderten von Läden, Restaurants und Kinos, mit zahlreichen öffentlichen Einrichtungen sowie mit 35 % der Wohn- und 80 % der Büroflächen der Centre-Ville. Fußgänger können sich auf diese Weise vor allem im strengen Winter vor klimatischen Einflüssen geschützt in der Innenstadt bewegen. Mit einer Gesamtlänge von 32 Kilometern ist die Ville intérieure das längste Tunnelnetzwerk dieser Art weltweit.Bis Ende der 1920er Jahre war die Höhe von Gebäuden auf elf Stockwerke beschränkt. Die Aufhebung dieser Regelung ermöglichte den Bau der ersten Wolkenkratzer, wobei Architekten die Baustile Beaux-Arts und Art déco bevorzugten. Herausragende Bauwerke jener Epoche sind der Tour de la Banque Royale von 1928 (121 m) und das Édifice Sun Life von 1931 (122 m). Im Britischen Empire waren sie zum Zeitpunkt ihrer Eröffnung das höchste Gebäude bzw. das Gebäude mit der größten Geschossfläche. Die meisten Wolkenkratzer entstanden in den 1960er Jahren, wobei damals der Internationale Stil vorherrschte. Zwischen 1962 und 1964 lösten sich drei Bauten als höchstes Gebäude der Stadt ab: der Tour CIBC (187 m), der Place Ville-Marie (188 m) und der Tour de la Bourse (190 m). Nachdem die Hochbautätigkeit in den zwei folgenden Jahrzehnten merklich abflaute, kam es in den 1990er Jahren zu einer dritten Phase mit vorwiegend postmodernen Bauten. 1000 de La Gauchetière (205 m) und 1250 René-Lévesque (199 m), die zwei höchsten Gebäude Montreals, wurden beide 1992 eröffnet. === Urbane Freiräume === Als Hausberg Montreals ist der Mont Royal ein beliebtes Ausflugsziel für Einwohner und Touristen. Am Osthang, der dem Stadtzentrum zugewandt ist, erstreckt sich der Parc du Mont-Royal. Diese bewaldete Parkanlage mit einer Fläche von 190 Hektar wurde von Frederick Law Olmsted, dem Planer des New Yorker Central Park, entworfen und 1876 eröffnet. Von zwei Aussichtsterrassen aus kann die Stadt überblickt werden. Am südlichen Ende des Parks befindet sich der künstliche See Lac aux Castors („Bibersee“), am nördlichen Ende das George-Étienne-Cartier-Monument. Nahe dem Gipfel stehen das Mont-Royal-Kreuz und der Sendeturm Mont Royal. Zwei ausgedehnte Friedhöfe liegen auf der Westseite des Mont-Royal, der Friedhof Notre-Dame-des-Neiges und der Friedhof Mont-Royal. Der Parc Jean-Drapeau, der den größten Teil der Inseln Île Sainte-Hélène und Île Notre-Dame umfasst, ist das ehemalige Ausstellungsgelände der Weltausstellung Expo 67. Nur wenige der damaligen Bauten stehen noch, darunter der amerikanische Expo-Pavillon Biosphère, eine von Richard Buckminster Fuller entworfene geodätische Kuppel. Eine weitere bedeutende Parkanlage ist der Parc Maisonneuve im Arrondissement Rosemont–La Petite-Patrie. An dessen Südrand befindet sich der Botanische Garten Montreal, der mit über 22.000 verschiedenen Pflanzenarten, 30 Themengärten und einem Arboretum zu den umfangreichsten Einrichtungen dieser Art weltweit gehört.Mehrere Plätze sind fußgängerfreundlich gestaltet: der Place d’Armes mit dem Maisonneuve-Denkmal und der Place Jacques-Cartier in der Altstadt sowie der Square Victoria, der Square Dorchester und der Place du Canada in der Centre-Ville. === Sakralbauten === Montreal zählt über 600 Sakralbauten verschiedener Glaubensrichtungen. Es handelt sich dabei überwiegend um christliche Kirchen, von denen die große Mehrheit der römisch-katholischen Konfession dient. Montreal wird häufig als „Stadt der hundert Kirchtürme“ (Ville aux cent clochers) bezeichnet. 1881 sagte der amerikanische Schriftsteller Mark Twain: „Dies ist das erste Mal, dass ich jemals in einer Stadt war, wo man keinen Ziegel werfen könnte, ohne ein Kirchenfenster zu zerbrechen“ (This is the first time I was ever in a city where you couldn’t throw a brick without breaking a church window).Vier römisch-katholische Kirchengebäude tragen den Ehrentitel einer Basilica minor. Das St.-Josephs-Oratorium, an exponierter Stelle am Südwesthang des Mont Royal gelegen, ist eine bedeutende Wallfahrtskirche. In den Jahren 1924 bis 1967 erbaut, wird sie von zwei Millionen Menschen jährlich besucht. Mit einer Höhe von 97 Metern ist der markante Kuppelbau die größte Kirche Kanadas. Die Basilika Notre-Dame de Montréal, erbaut von 1823 bis 1843, ist 69 Meter hoch und war bis 1928 das höchste Gebäude der Stadt. Sitz des römisch-katholischen Erzbistums Montreal ist die Kathedrale Marie-Reine-du-Monde de Montréal. Sie wurde von 1875 bis 1894 erbaut und ersetzte die Kathedrale Saint-Jacques de Montréal, die 1852 durch einen Brand zerstört worden war. Die Basilika Saint-Patrick de Montréal entstand von 1843 bis 1847 als Hauptkirche der Einwohner irischer Herkunft. Das älteste erhaltene Kirchengebäude im Stadtzentrum ist die Wallfahrtskapelle Notre-Dame-de-Bon-Secours (erbaut 1771–1773). Der Sitz des anglikanischen Bistums Montreal ist die von 1857 bis 1860 erbaute Christ Church Cathedral; sie ist zugleich die bedeutendste protestantische Kirche der Stadt. Vier weitere Konfessionen verfügen ebenfalls über eine Kathedrale: die Melkitische Griechisch-katholische Kirche (Saint-Sauveur), die Syrisch-Maronitische Kirche von Antiochien (Saint-Maron), die Russisch-Orthodoxe Kirche (Saints Pierre et Paul) und das ukrainisch-orthodoxe Ökumenische Patriarchat von Konstantinopel (Sainte-Sophie). === Weitere Sehenswürdigkeiten === Die Architektur einiger Stadtteile ist von ethnischen Minderheiten geprägt. Am Übergang zwischen Centre-Ville und Altstadt befindet sich die Chinatown (Quartier chinois), deren Grenzen von vier Scheintoren (Pailou) markiert werden. Dieser Bereich war bis in die 1920er Jahre die bevorzugte Wohngegend von Juden. Danach übernahm das Arrondissement Outremont diese Rolle; vor allem im nördlichen und östlichen Teil Outremonts gibt es Synagogen sowie jüdische Schulen und Geschäfte. Das Zentrum der italienischen Gemeinschaft ist Petite Italie im Arrondissement Rosemont–La Petite-Patrie; dort befindet sich auch der Marché Jean-Talon, ein überdachter Marktplatz. Das Arrondissement Mercier–Hochelaga-Maisonneuve ist Standort des Olympiaparks mit dem Montrealer Olympiastadion von 1976. Es bietet Platz für 66.000 Zuschauer und ist das größte Stadion Kanadas. Eine architektonische Besonderheit ist der 175 Meter hohe Stadionturm, der einen Neigungswinkel zwischen 22,5 und 81 Grad aufweist und mit einer Zahnradbahn erklommen werden kann. Habitat 67, ein Wohnkomplex auf einer Halbinsel im Sankt-Lorenz-Strom, ist ein weiteres Beispiel futuristischer Architektur. Er besteht aus 354 stufenförmig aufgeschichteten Betonquadern mit 158 Wohneinheiten. An die landwirtschaftliche Vergangenheit der Île de Montréal erinnern zwei Windmühlen, die 1719 erbaute Windmühle Pointe-aux-Trembles und die Fleming-Windmühle aus dem Jahr 1827. == Wirtschaft und Infrastruktur == Die Wirtschaft Montreals zeichnet sich durch einen hohen Grad an Diversifikation aus. Im Jahr 2010 betrug das in der Verwaltungsregion Montreal erwirtschaftete Bruttoinlandsprodukt (BIP) 102,986 Milliarden kanadische Dollar, was 34,5 % der Wirtschaftsleistung der Provinz Québec entspricht. Mit einem Pro-Kopf-BIP von 50.012 Dollar im Jahr 2009 nahm Montreal unter den 17 Verwaltungsregionen Québecs den zweiten Platz ein, hinter der rohstoffreichen Region Nord-du-Québec. Bedeutendster Wirtschaftssektor ist mit großem Abstand der Dienstleistungssektor mit einem Anteil von 86 % der Beschäftigten, der Rest entfällt auf Industrie und Bauwirtschaft. Zwischen 2000 und 2010 betrug die Arbeitslosenquote im Durchschnitt 10,1 %. === Industrie === Mehrere bedeutende Industriekonzerne haben ihren Hauptsitz in Montreal. International am bekanntesten sind Bombardier, das auf den Bau von Flugzeugen und Schienenfahrzeugen spezialisiert ist, sowie Rio Tinto Alcan, einer der größten Hersteller von Aluminium. Die staatliche Hydro-Québec mit Sitz im Édifice Hydro-Québec versorgt die Provinz Québec und den Nordosten der USA mit elektrischer Energie. SNC Lavalin ist in den Bereichen Industrie- und Anlagenbau tätig. Im Bereich der Nahrungsmittelindustrie sind insbesondere Molson und Saputo zu nennen; ersterer ist der kanadische Teil des fünftgrößten Brauereikonzerns Molson Coors Brewing Company, letzterer Kanadas größter Hersteller von Milchprodukten. Neben Seattle und Toulouse gehört die Region Montreal zu den bedeutendsten Zentren der Luftfahrtindustrie. Nach den USA, Frankreich, Großbritannien und Deutschland gilt Québec als fünftgrößter Exporteur in dieser Branche. 80 % aller Erzeugnisse werden exportiert. Neben 15 Großunternehmen haben sich über 200 kleine und mittlere Zulieferbetriebe angesiedelt. Die Unternehmen Bombardier Aerospace (Geschäfts- und Regionalflugzeuge), Bell Flight (Hubschrauber), Pratt & Whitney Canada (Motoren) und CAE (Flugsimulatoren) sind in ihren Bereichen Weltmarktführer. Ihren Hauptsitz in Montreal haben die Fluggesellschaften Air Canada und Air Transat, während die Raumfahrtorganisation Canadian Space Agency im benachbarten Longueuil domiziliert ist. Montreal gehört neben Edmonton und Sarnia zu den Zentren der kanadischen Mineralölindustrie. Im Nordosten des Stadtgebiets und in der Enklave Montréal-Est befinden sich mehrere Erdölraffinerien und petrochemische Betriebe. Vertreten sind unter anderem die Unternehmen Suncor Energy, Gulf Oil, NOVA Chemicals, Shell Canada, Petro-Canada, Basell Polyolefins und Ultramar. Die benötigten Rohstoffe werden über Pipelines und Erdölterminals im nahen Hafen angeliefert. Verschiedene Unternehmen der Papierindustrie sind ebenfalls in Montreal ansässig. Dazu gehören Resolute Forest Products, Domtar, Kruger und Tembec. Darüber hinaus ist die Pharmaindustrie mit Zweigstellen von über 20 verschiedenen Unternehmen präsent. Zu diesen gehören Pfizer, MSD Sharp & Dohme, Novartis, AstraZeneca, Sanofi, Bristol-Myers Squibb, GlaxoSmithKline und Boehringer Ingelheim. === Dienstleistungen === Mit über 100.000 Beschäftigten in mehr als 3000 Unternehmen ist die Finanzdienstleistungsbranche ein wichtiger Pfeiler der wirtschaftlichen Aktivitäten. Unter den internationalen Finanzzentren belegt Montreal den 13. Platz, in Nordamerika den fünften Platz und in Kanada hinter Toronto den zweiten Platz (Stand: 2018). Ihren Hauptsitz haben hier unter anderem die Großbanken Bank of Montreal und National Bank of Canada, die Beteiligungsgesellschaft Power Corporation of Canada, der Versicherungskonzern Standard Life Canada und der Pensionsfonds Caisse de dépôt et placement du Québec. Bedeutende Niederlassungen betreiben die Genossenschaftsbank Caisses Desjardins, die Royal Bank of Canada sowie die französischen Geschäftsbanken Société Générale und BNP Paribas. Die 1874 gegründete Börse von Montreal ist auf Termingeschäfte spezialisiert und wurde 2007 von der Toronto Stock Exchange übernommen. Wichtige Medienunternehmen aus Montreal sind Astral Media, Quebecor und Transcontinental. Größter Telekommunikationsanbieter im Osten Kanadas ist die von hier aus operierende Bell Canada, während die CGI Inc. führend im Informations- und Prozessmanagement ist. Im Lebensmittel-Einzelhandel sind die Unternehmen Metro Inc. und Provigo tätig, im Pharmagroßhandel die Drogeriekette Uniprix. Eine hohe Wertschöpfung generiert die Computerspielbranche. Am Anfang des Booms stand 1997 die Gründung von Ubisoft Montreal, heute eines der weltweit größten Entwicklerstudios (das Unternehmen beschäftigte 2014 bereits über 2.700 Mitarbeiter in Montreal). Steuererleichterungen der Provinzregierung und das Vorhandensein zahlreicher Fachkräfte vor Ort bewogen mehrere weitere Spieleentwickler dazu, hier ebenfalls Niederlassungen zu gründen. Dazu gehören Behaviour Interactive, BioWare, Eidos Interactive, Electronic Arts, Strategy First, THQ und Warner Bros. Ebenfalls in Montreal ansässig sind zahlreiche Unternehmen im Bereich Design. Die Stadt wurde aus diesem Grund im Jahr 2006 von der UNESCO zur City of Design ernannt und in das Creative Cities Network aufgenommen.Montreal ist Sitz von mehr als 60 internationalen Organisationen, die überwiegend im Quartier international angesiedelt sind. Zu den bekanntesten gehören die Internationale Zivilluftfahrt-Organisation ICAO, die internationale Flugtransportvereinigung IATA, die Welt-Antidoping-Agentur WADA und das statistische Institut der UNESCO. Diese Organisationen erzeugen einen regen Konferenzverkehr; es finden zahlreiche Konferenzen und Kongresse statt, beispielsweise im Palais des congrès de Montréal. Die zahlreichen Sehenswürdigkeiten und kulturellen Angebote beleben die Tourismusbranche zusätzlich. Im Jahr 2012 hielten sich 8,4 Millionen Besucher mehr als 24 Stunden in der Stadt auf. === Medien === Eine Vielzahl von Medien ist von Montreal aus tätig, wozu Fernseh- und Radiosender, Zeitungen und Zeitschriften gehören. Der frankophone Teil der öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalt CBC/Radio-Canada hat seinen Sitz im Maison de Radio-Canada, in dem auch die wichtigsten Fernseh- und Radioprogramme produziert werden. Weitere französischsprachige Fernsehsender sind TVA, V, Télé-Québec und Canal Savoir. In englischer Sprache werden Programme von CBC/Radio-Canada, CTV und Global Montreal ausgestrahlt, während CJNT sich an ein multikulturelles Publikum wendet. In Montreal erscheinen die französischsprachigen Tageszeitungen La Presse, Le Journal de Montréal und Le Devoir sowie die englischsprachige Tageszeitung Montreal Gazette. Ergänzt wird das Angebot durch die Gratiszeitungen 24 heures und Metro sowie durch diverse Wochenzeitungen, Studentenzeitungen und Lokalblätter. === Versorgungsbetriebe und öffentliche Einrichtungen === Die Wasserversorgung wird vom Service de l’eau sichergestellt, einem Gemeinschaftsbetrieb der Verwaltungsregion. Das Trinkwasser stammt überwiegend aus dem Sankt-Lorenz-Strom. 1853 ließ die Stadt den acht Kilometer langen Canal de l’Aqueduc von den Lachine-Stromschnellen ins Stadtzentrum errichten. Die daran angeschlossenen Wasserwerke Atwater und Charles-Jules Des Baillets stellen zusammen 88 % des Trinkwasserbedarfs bereit. Vier kleinere Werke beziehen Wasser aus dem Rivière des Prairies und dem Lac Saint-Louis. Die gesamten Abwässer der Insel werden in der Station J.-R. Marcotte, der drittgrößten Kläranlage Nordamerikas, gereinigt. Seit 1837 bzw. 1884 besteht die Gas- und Stromversorgung, die zunächst in privater Hand war. Aus der Fusion zweier Unternehmen entstand 1901 die Montreal Light, Heat and Power (MLH&P), die in der Region das Energiemonopol besaß. 1944 verstaatlichte die Provinz Québec die MLH&P und übertrug die Gas- und Elektrizitätswerke der neu gegründeten Hydro-Québec. 1957 wurde die Gasversorgung an die halbstaatliche Gaz Métro übertragen. In der Stadt gibt es vier Gerichte, die bei Verstößen gegen das Provinzrecht von Québec zuständig sind. Das Munizipalgericht (Cour municipale) behandelt vor allem Verkehrsdelikte. Im Palais de Justice sind die erstinstanzlichen Gerichte für Straf-, Privat- und Jugendrecht sowie das Obergericht (Cour supérieure) untergebracht, im Édifice Ernest-Cormier eines von zwei Appellationsgerichten der Provinz. Montreals Polizei besteht seit 1843; der Service de police de la ville de Montréal zählt rund 4400 Polizeibeamte und ist seit 2002 für die gesamte Verwaltungsregion zuständig. Im selben Gebiet tätig ist die Montrealer Feuerwehr, der 1863 gegründete Service de sécurité incendie de Montréal mit über 2700 Bediensteten.Montreals Krankenhäuser werden in drei Gruppen unterteilt. Das McGill University Health Centre ist ein Zusammenschluss von Krankenhäusern, die mit der McGill University verbunden sind. Im Verbund mit der Université de Montréal stehen die Krankenhäuser des Centre hospitalier de l’Université de Montréal; dazu gehört auch das 1645 von Jeanne Mance gegründete Hôtel-Dieu de Montréal, das älteste Krankenhaus auf kanadischem Boden. Die dritte Gruppe umfasst allgemeine Krankenhäuser, die von der Provinz Québec betrieben werden. == Verkehr == === Brücken und Straßen === Aufgrund der Insellage ist Montreal auf dem Landweg nur über Brücken und Tunnel erreichbar, was im Straßenverkehr häufig zu Überlastungen führt. Die älteste Brücke wurde 1847 über den Rivière des Prairies zur benachbarten Île Jésus errichtet, sieben Jahre später folgte die erste Brücke über den Ottawa zum Festland. 1859 konnte mit der Pont Victoria, der damals längsten Brücke der Welt, erstmals auch der Sankt-Lorenz-Strom überbrückt werden. Heute stehen 24 Brücken und drei Tunnel zur Verfügung, die von Straßenfahrzeugen, Eisenbahnen und U-Bahnen genutzt werden. Montreal ist der wichtigste Autobahn-Knotenpunkt der Provinz Québec. Die Autoroute 40 durchquert die gesamte Île de Montréal von Südwest nach Nordost und bildet eine Art Rückgrat des Straßennetzes. Dem Südufer der Insel folgt die Autoroute 20. Von dieser zweigen die Autoroute 520 und die Autoroute 720 ab, wobei letztere das Stadtzentrum zum Teil unterirdisch erschließt. Vom Stadtzentrum aus in östlicher Richtung führt die Autoroute 10. Querverbindungen stellen die Autoroute 13, die Autoroute 15 und die Autoroute 25 her. Seit 2012 umfährt die Autoroute 30 das Stadtgebiet weiträumig im Süden. Das innerstädtische Straßennetz ist im Grundsatz gitterförmig angelegt, aufgrund der unregelmäßigen Topografie ergeben sich jedoch zahlreiche Abweichungen. Im Gegensatz zum Rest der Provinz Québec ist es auf der Île de Montréal nicht gestattet, an Ampelkreuzungen bei Rotlicht rechts abzubiegen. Ausgangspunkt der meisten Fernbuslinien ist der Gare d’autocars de Montréal. === Flugverkehr === Der 1941 eröffnete Flughafen Pierre-Elliott-Trudeau (früherer Name: Montréal-Dorval) liegt in der Nachbargemeinde Dorval. Er ist ein Drehkreuz von Air Canada und mit fast 13 Millionen Fluggästen jährlich der am drittmeisten frequentierte Passagierflughafen Kanadas. Aufgrund des starken Wachstums des Flugverkehrs beschloss die Bundesregierung 1969 den Bau des Flughafens Mirabel, der Dorval vollständig ersetzen sollte. Die stadtferne Lage (55 Kilometer entfernt), das Fehlen leistungsfähiger Verkehrsanbindungen und die Konkurrenz Torontos hatten jedoch eine geringe Auslastung zur Folge. Seit 2004 wird Mirabel ausschließlich für den Frachtverkehr genutzt. Ältester Flughafen der Region ist der 1928 eröffnete Flughafen Saint-Hubert. Er liegt 16 Kilometer östlich des Stadtzentrums in der Nachbarstadt Longueuil und dient der allgemeinen Luftfahrt. Trotz fehlendem Passagierverkehr ist er gemessen an den Flugbewegungen der fünftwichtigste Flughafen des Landes. === Schifffahrt === Der Hafen erstreckt sich nördlich des Stadtzentrums entlang dem Ufer des Sankt-Lorenz-Stroms. Im Jahr 2010 fertigte er 28 Millionen Tonnen Güter und 46.000 Kreuzfahrtpassagiere ab. Gemessen an der Gütermenge ist er der zweitgrößte Hafen Kanadas und der größte Binnenhafen auf dem amerikanischen Kontinent. Aufgrund des geringen Höhenunterschieds bis zum Atlantik und der Breite des Stroms können auch hochseetaugliche Frachtschiffe den Hafen ansteuern. Eisbrecher sichern im Winter den Zugang, während der zum Ontariosee führende Sankt-Lorenz-Seeweg jeweils während rund drei Monaten zugefroren ist. === Eisenbahn === Seit Mitte des 19. Jahrhunderts ist Montreal ein bedeutender Knotenpunkt im kanadischen Eisenbahnnetz. Die staatliche Bahngesellschaft Via Rail, die hier ihren Hauptsitz hat, bietet mehrmals täglich Zugverbindungen nach Québec, Ottawa, Toronto und anderen Städten im Québec-Windsor-Korridor an. Weniger regelmäßig (drei- bis sechsmal wöchentlich) verkehren Züge nach Gaspé, Halifax, Saguenay und Senneterre. Einmal täglich verkehrt der Amtrak-Schnellzug Adirondack nach New York. Die Bahngesellschaften Canadian Pacific Railway (CPR) und Canadian National Railway (CN) traten 1978 den Personenverkehr an Via Rail ab und konzentrieren sich seither auf den Güterverkehr. Industriebetriebe vor Ort, Rangierbahnhöfe und der Hafen sorgen für ein hohes Verkehrsaufkommen. Die CPR verlegte 1996 ihren Hauptsitz nach Calgary, die CN ist weiterhin in Montreal ansässig. Weitere im Güterverkehr tätige Bahngesellschaften, die Montreal bedienen, sind die Delaware and Hudson Railway, die Chemins de fer Québec-Gatineau und die Central Maine and Quebec Railway. Ausgangspunkt sämtlicher Fernverkehrszüge ist der Gare Centrale, der 1943 mehrere Bahnhöfe der CN ersetzte. Die Zufahrt von Westen her erfolgt durch den 5,2 Kilometer langen Mont-Royal-Tunnel. Der Gare Windsor, der 1889 eröffnete CPR-Hauptbahnhof, wurde 1993 geschlossen. === Öffentlicher Nahverkehr === Die staatliche Behörde Autorité régionale de transport métropolitain (ARTM) ist für die Planung des gesamten öffentlichen Personennahverkehrs in der Metropolregion Montreal zuständig. Sie beauftragt das Verkehrsunternehmen exo mit dem Betrieb von Buslinien und eines S-Bahn-ähnlichen Eisenbahnverkehrs in die Vororte: Die Trains de banlieue verkehren auf fünf Linien und verbinden Montreal mit verschiedenen Städten in der Region. Endstationen im Stadtzentrum sind der Gare Centrale und der Gare Lucien-L’Allier. Für den Betrieb des öffentlichen Nahverkehrs innerhalb der Stadt und in einigen Nachbargemeinden auf der Île de Montréal ist die Verkehrsgesellschaft Société de transport de Montréal (STM) verantwortlich. Wichtigstes Verkehrsmittel ist die Metro Montreal, ein 69 Kilometer langes U-Bahn-Netz mit vier Linien, von denen je eine nach Laval und Longueuil führt. Die Metro wird täglich von mehr als 1,1 Millionen Fahrgästen genutzt und ist somit die meistfrequentierte U-Bahn Kanadas. Besonderheiten der Metro sind die Gestaltung zahlreicher Stationen mit Kunstwerken und der Einsatz gummibereifter Züge. Im Bau ist zurzeit das Réseau express métropolitain (REM), ein 67 km langes Streckennetz, auf dem ab 2022 eine fahrerlose Leicht-U-Bahn verkehren soll; das REM wird Montreal mit Brossard, Deux-Montagnes, Sainte-Anne-de-Bellevue und dem Flughafen verbinden. Für die Feinerschließung sorgt das STM-Busnetz mit 197 Tages- und 23 Nachtlinien, auf dem täglich durchschnittlich 1,4 Millionen Fahrgäste befördert werden. Der mit Abstand größte Busbahnhof auf Stadtgebiet ist der von der AMT betriebene Terminus Centre-ville, Endstation zahlreicher Buslinien in die südlichen und östlichen Vororte. Die Geschichte des öffentlichen Nahverkehrs in Montreal reicht bis ins Jahr 1861 zurück, als die Montreal Street Railway Company die erste Pferdebahn eröffnete. Von 1884 bis 1918 fuhr eine Standseilbahn auf den Mont Royal, 1892 verkehrte die erste elektrische Straßenbahn. Die erste Buslinie nahm 1919 ihren Betrieb auf, das rasch wachsende Netz wurde von 1937 bis 1966 durch Trolleybusse ergänzt. Nachdem die Stadt 1950 die privaten Straßenbahngesellschaften übernommen hatte, legte sie bis 1959 sämtliche Strecken still. Das erste Teilstück der Metro wurde 1966 eröffnet. === Fahrradverkehr === Im Vergleich zu anderen nordamerikanischen Städten ist der Fahrradverkehr bedeutend. Das Radwegenetz auf der Île de Montréal ist über 530 Kilometer lang und wird laufend ausgebaut. Darüber hinaus ist Montreal an die Route Verte angebunden, ein über 4300 Kilometer langes Radwanderwegnetz. Seit 2009 stellt das Fahrradverleihsystem Bixi an über 400 Verleihstationen mehr als 5000 Fahrräder bereit. == Bildung == Älteste Universität der Stadt ist die 1821 gegründete englischsprachige McGill University, die bisher zehn Nobelpreisträger hervorbrachte. McGill gehört zu den renommiertesten Universitäten weltweit und ist in verschiedenen Hochschulrankings regelmäßig auf vorderen Plätzen zu finden. Die englischsprachige Concordia University entstand 1974, als die Sir George Williams University und das jesuitische Loyola College säkularisiert wurden und sich zusammenschlossen. Älteste französischsprachige Universität Montreals und mit 55.000 Studenten die zweitgrößte Kanadas ist die Université de Montréal (UdeM). 1878 als Zweigstelle der in Québec beheimateten Université Laval gegründet, machte sie sich 1920 selbständig. Die Säkularisierung der UdeM erfolgte 1967. Ebenfalls französischsprachig ist die Université du Québec à Montréal (UQAM), die dem Verbund der Université du Québec angehört. Sie besteht seit 1969, als die Provinzregierung vier Hochschulen und ein säkularisiertes Jesuitenkollegium zusammenschloss. Neben den vier Universitäten gibt es mehrere Hochschulen. Mit der UdeM verbunden sind die Wirtschaftshochschule École des hautes études commerciales und die technische Hochschule École polytechnique de Montréal. Im Verbund mit der Concordia University ist die John Molson School of Business, im Verbund mit der UQAM sind unter anderem die Ingenieurhochschule École de technologie supérieure, die Verwaltungshochschule École nationale d’administration publique und das Forschungsinstitut Institut national de la recherche scientifique. Auf der Mittelschulstufe gibt es in Montreal elf Cégeps (Collège d’enseignement général et professionnel), welche die Vorbereitung auf die universitäre Bildung und die technische Berufsschule vereinen. Von diesen sind neun französisch- und zwei englischsprachig. Hinzu kommen mehrere private Mittelschulen. Traditionell war das Schulwesen in Québec konfessionell getrennt. Im Rahmen einer laizistischen Schulreform erfolgte eine Neuaufteilung nach sprachlichen Kriterien. Seit 1998 sind in der Verwaltungsregion Montreal fünf neue Schulbehörden tätig, die für Kindergärten, Grund- und Sekundarschulen, Erwachsenenbildung und Berufsbildung zuständig sind. Frankophone Schulbehörden sind die Commission scolaire de Montréal, die Commission scolaire Marguerite-Bourgeoys und die Commission scolaire de la Pointe-de-l’Île. Anglophone Schulbehörden sind das English Montreal School Board und das Lester B. Pearson School Board. Die Aufsicht erfolgt durch Schulräte, die von den Einwohnern der betreuten Gebiete gewählt werden. Die Bibliothèques publiques de Montréal sind ein Verbund von 43 öffentlichen Bibliotheken in der Verwaltungsregion Montreal. Größte Bibliothek der Stadt ist die Grande Bibliothèque, die Haupteinrichtung der Bibliothèque et Archives nationales du Québec. Die Jewish Public Library besitzt Nordamerikas umfangreichste Sammlung an Judaica. == Kultur == Montreal ist für seine vielfältige kulturelle Szene bekannt und gilt als „Kulturhauptstadt Kanadas“. Die Präsenz einer bedeutenden frankophonen Bevölkerung verleiht der Stadt unter den nordamerikanischen Metropolen einen besonderen Charakter. Französische, britische und amerikanische Einflüsse verbinden sich, zusätzlich bereichert durch kulturelle Einflüsse verschiedener Einwanderergruppen. Eine weitere Besonderheit Montreals ist die (für Nordamerika untypische) belebte Innenstadt. Dies kommt besonders im Sommer mit zahlreichen Festivals sowie anderen kulturellen und sozialen Veranstaltungen zum Ausdruck. Als Zentrum des kulturellen Lebens gilt das Quartier des Spectacles. === Museen === In Montreal gibt es über drei Dutzend Museen, von denen die meisten dem Interessenverband Société des directeurs des musées montréalais angehören. Größtes Museum der Stadt ist das Musée des beaux-arts de Montréal mit diversen Kunstausstellungen. Auf zeitgenössische Kunst spezialisiert sind das Musée d’art contemporain de Montréal und die DHC/ART Foundation for contemporary art. Mit Forschung und Technik befassen sich das Wissenschaftsmuseum Centre des sciences de Montréal, das Umweltmuseum Biosphère und das Biodôme Montréal im früheren olympischen Radstadion. Das Insectarium de Montréal ist das größte Insektarium Nordamerikas. Das McCord Stewart Museum befasst sich mit der Geschichte Kanadas, das Redpath-Museum mit Naturgeschichte, Ethnologie und Archäologie. Am einstigen Standort des Fort Ville-Marie steht das Musée Pointe-à-Callière, ein Museum über die Geschichte und Archäologie der Stadt Montreal. Weitere stadtgeschichtliche Ausstellungen bietet das Centre d’histoire de Montréal. Das Château Ramezay dient als ethnologisches Museum und Porträtgalerie. In der Fabrikantenvilla Château Dufresne finden zeitgeschichtliche Ausstellungen statt. An die Opfer des Holocausts erinnert das Centre commémoratif de l’Holocauste à Montréal. Mehrere Museen befassen sich mit dem Kulturerbe. Das Musée Marguerite-Bourgeoys erläutert Leben und Wirken der Heiligen Marguerite Bourgeoys. Im Maison Saint-Gabriel, dem ältesten erhalten gebliebenen Bauernhaus Montreals, wird die Lebensweise der frühen französischen Siedler präsentiert. Das Musée des maîtres et artisans du Québec widmet sich dem Kunsthandwerk, das Centre canadien d’architecture der Architekturgeschichte, das Pelzhandelsmuseum Lachine dem nordamerikanischen Pelzhandel. Das Musée des ondes Emile Berliner bietet einen Einblick in die Geschichte der Schallplattenindustrie. === Theater und Film === Es bestehen zahlreiche Theater, wobei französischsprachige Produktionen überwiegen. Der Place des Arts im Quartier des Spectacles ist das bedeutendste Zentrum für darstellende und bildende Künste und umfasst unter anderem fünf Theatersäle. Besonders hoch ist die Dichte an Theatern im angrenzenden Universitätsviertel Quartier Latin. Als bekannteste Häuser gelten das Théâtre Saint-Denis, das Théâtre du Rideau Vert und das Théâtre du Nouveau Monde. Englischsprachige Produktionen werden vor allem im Centaur Theatre, dem ehemaligen Börsengebäude, aufgeführt. Mehrere Theater dienen gemeinsam als Austragungsort des Comedy-Festivals Juste pour rire. Das Montreal World Film Festival ist das einzige Filmfestival mit Wettbewerb in Nordamerika, das beim internationalen Filmproduzentenverband FIAPF akkreditiert ist. Daneben finden weitere kleinere Filmfestivals statt: Das Festival du Nouveau Cinéma ist auf Independentfilme spezialisiert, die Cinemania auf französischsprachige Filme, das Rendez-vous du cinéma québécois auf Filme aus Québec und die FanTasia auf Filme in den Bereichen Fantasy, Science-Fiction und Horror. Das Filmarchiv Cinémathèque québécoise konserviert und dokumentiert Filme und Fernsehsendungen. Montreal ist auch Sitz der staatlichen Filmbehörde National Film Board of Canada. === Musik und Tanz === Das Kulturzentrum Place des Arts bietet auch Konzertsäle für klassische Musik. Ihr Domizil haben dort die beiden Sinfonieorchester Orchestre symphonique de Montréal und Orchestre Métropolitain sowie die Opéra de Montréal. Aus Montreal stammen ebenfalls die Kammerorchester I Musici de Montréal und Orchestre classique de Montréal. Die Stadt verfügt über eine lange Tradition in der Jazzmusik, verkörpert durch bekannte Musiker wie Maynard Ferguson, Oliver Jones und Oscar Peterson. Das Festival International de Jazz de Montréal gehört mit über 3.000 beteiligten Musikern, 800 Konzerten und 2,5 Millionen Besuchern zu den führenden Jazzfestivals der Welt.Zahlreiche Vertreter der örtlichen Rock- und Popszene haben Bekanntheit erlangt, sei dies in französischer oder englischer Sprache. Dazu gehören die Solokünstler Isabelle Boulay, Leonard Cohen, Robert Charlebois, Céline Dion, Diane Dufresne und Marie-Mai sowie die Bands Arcade Fire, A Silver Mt. Zion, Beau Dommage, Bran Van 3000, Godspeed You! Black Emperor, Les Cowboys Fringants, Offenbach, Simple Plan, The Dears, The Sainte Catherines und Wolf Parade. Montreal ist Austragungsort mehrerer jährlich wiederkehrender Musikfestivals. Auf über fünfzig Standorte verteilt ist das Festival Pop Montréal mit rund 400 Konzerten. Das FrancoFolies de Montréal ist auf Chansons spezialisiert und einer der größten Anlässe dieser Art weltweit. Mehrere Zehntausend Besucher zählen ebenfalls die Openair-Festivals Heavy MONTRÉAL (Metal, Hardrock) und Osheaga (Rock, Pop). An Sonntagnachmittagen im Sommer versammeln sich am George-Étienne-Cartier-Denkmal mehrere hundert Trommler und Tänzer zu den Tam-Tams.Montreal ist Hauptsitz des Zirkusunternehmens Cirque du Soleil, dessen Produktionen auf artistischen und theatralischen Elementen basieren. Das TOHU ist ein vom Cirque du Soleil unterstütztes Ausbildungszentrum für Zirkusartisten und -produzenten. Die Grands Ballets Canadiens sind eine Ballettkompanie mit internationalem Ensemble. Weitere Tanz- und Theaterproduktionen bieten die Agora de la danse und das Segal Centre for Performing Arts. === Freizeitaktivitäten === Die Stadt besitzt ein vielfältiges Nachtleben mit den längsten Öffnungszeiten Kanadas. Die internationale Ausstrahlung wurde in den 1920er Jahren begründet, als die Prohibition in den Vereinigten Staaten in Kraft war. Zahlreiche Amerikaner kamen damals nach Montreal, um sich bei Alkohol und Glücksspiel sowie in Nachtclubs und Bordellen zu vergnügen. Der Ruf, eine Sin City („Stadt der Sünden“) zu sein, blieb bis heute bestehen. Heute konzentriert sich das Nachtleben überwiegend an sechs Orten: Le Plateau-Mont-Royal, Rue Crescent, Boulevard Saint-Laurent, Rue McGill, Quartier Latin und Village gai (Schwulen- und Lesbenviertel). An der Nordspitze der Île Sainte-Hélène befindet sich La Ronde, ein von Six Flags betriebener Freizeitpark mit mehreren Achterbahnen. Im Sommer ist er auch Austragungsort des Feuerwerkwettbewerbs L’International des Feux Loto-Québec. Dessen Hauptsponsor, die Lotteriegesellschaft Loto-Québec, betreibt seit 1993 in den ehemaligen Expo-Pavillons von Frankreich und Quebec auf der Île Notre-Dame die Spielbank Casino de Montréal, die zu den zehn größten weltweit gehört und eines von vier Casinos in der Provinz darstellt. === Sport === Die McGill University spielte bei der Entwicklung mehrerer moderner Sportarten eine führende Rolle. Das erste Rugbyspiel mit festen Regeln auf nordamerikanischem Boden fand 1865 in Montreal zwischen britischen Offizieren und McGill-Studenten statt. 1874 traten die Universitäten McGill und Harvard in zwei fußballähnlichen Spielen mit unterschiedlichen Regeln aufeinander. Die sich daraus ergebenden Kompromissregeln bildeten die Grundlage für American Football und Canadian Football. Der Student James Creighton organisierte 1875 das erste Eishockeyspiel in einer Halle und entwickelte die Eishockey-Regeln weiter. 1877 folgte die Gründung des ersten Eishockeyvereins. James Naismith, ein McGill-Absolvent, erfand 1891 die Basketball-Regeln und wird oft auch als Erfinder der Footballhelms bezeichnet. Das Interesse an Eishockey in Montreal seitens der Öffentlichkeit war stets sehr hoch, so dass die Stadt auch als „Welthauptstadt des Eishockey“ bezeichnet wird. Sechs verschiedene Teams konnten zusammen 41 Mal den Stanley Cup, die wichtigste Trophäe in dieser Sportart, gewinnen. Rekordmeister mit 24 Titeln sind die Canadiens de Montréal. Sie gehören der nordamerikanischen Profiliga National Hockey League an und tragen ihre Heimspiele im Centre Bell aus. Die Montreal Alouettes in der Canadian Football League gewannen bisher siebenmal den Grey Cup, den Canadian-Football-Meisterpokal. Ihr Heimstadion ist das Stade Percival-Molson, für Playoff-Spiele nutzen die Alouettes das Olympiastadion. Ein bedeutender Nutzer des Olympiastadions war auch das Baseball-Team Montreal Expos, ein Franchise der Major League Baseball, das 2005 nach Washington D.C. umzog. Montreal Impact spielt derzeit in der höchstklassigen Fußballprofiliga Major League Soccer. Der Circuit Gilles-Villeneuve, eine rund 4,4 Kilometer lange temporäre Motorsport-Rennstrecke auf der Île Notre-Dame, ist seit 1978 Schauplatz des Großen Preises von Kanada der Formel 1. Seit 2007 finden dort auch NASCAR-Rennen der Xfinity Series statt. Ein international bedeutendes Tennisturnier ist das gemeinsam mit Toronto ausgetragene Canada Masters (auch als Rogers Cup bekannt), wobei die Städte sich jährlich in der Organisation des Männer- und des Frauenturniers abwechseln; Spielort in Montreal ist das Stade IGA. Der Royal Montreal Golf Club organisiert gelegentlich das RBC Canadian Open, ein Golfturnier im Rahmen der PGA Tour. Jährlich wiederkehrende Sportveranstaltungen sind außerdem der Montreal-Marathon und das Straßenradrennen Grand Prix Cycliste de Montréal. Das Sportereignis mit der international größten Ausstrahlung waren die Olympischen Sommerspiele 1976. In Montreal fanden unter anderem auch die die Straßen-Radweltmeisterschaften 1974, die Turn-Weltmeisterschaften 1985, die Schwimmweltmeisterschaften 2005 und die Outgames 2006 statt. Für den Amateur- und Breitensport können zahlreiche städtische Sportanlagen genutzt werden, darunter der Complexe sportif Claude-Robillard, das CEPSUM und das Centre Pierre-Charbonneau. Daneben gibt es mehrere Dutzend Hallenbäder und Freibäder. Im Winter stehen zahlreiche Eisbahnen sowie 170 Kilometer Skilanglauf-Loipen zur Verfügung. Die Lachine-Stromschnellen verursachen mehrere permanente stehende Wellen. Insbesondere die Welle Habitat 67, nahe bei dem gleichnamigen Wohnviertel gelegen, erfreut sich bei Wildwasserpaddlern, Raftern und Flusssurfern großer Beliebtheit. == Persönlichkeiten == Montreal ist der Geburts- und Wirkungsort zahlreicher prominenter Persönlichkeiten, beispielsweise der Schriftsteller Saul Bellow, Naomi Klein und Mordecai Richler. Als bekanntester Montrealer Schauspieler gilt William Shatner und als bekanntester Montrealer Sänger gilt Leonard Cohen. Unter den bekanntesten Sportlern sind hauptsächlich Eishockeyspieler zu finden, die mehrmals den Stanley Cup gewinnen konnten. Zu diesen gehören Mike Bossy, Scotty Bowman, Doug Harvey, Mario Lemieux und Maurice Richard. Ihre Kindheit in Montreal verbracht haben die deutsche Komikerin Anke Engelke und die französische Popsängerin Mylène Farmer. Aufgrund der kurzen Amtszeiten hatten bis ins 20. Jahrhundert hinein nur wenige Bürgermeister einen nachhaltigen Einfluss auf die Entwicklung der Stadt. Einige von ihnen wurden vor allem durch andere Tätigkeiten bekannt, beispielsweise der spätere Premierminister Kanadas John Abbott sowie der Journalist und Schriftsteller Honoré Beaugrand. Vier Amtszeiten von insgesamt 18 Jahren Länge hatte Camillien Houde zwischen 1928 und 1954. Er führte Montreal durch die Weltwirtschaftskrise und wurde von 1940 bis 1944 ohne Anklage inhaftiert, nachdem er sich öffentlich gegen die Einführung der Wehrpflicht ausgesprochen hatte. Am längsten im Amt war Jean Drapeau, von 1954 bis 1957 und von 1960 bis 1986. In diese Zeit fallen der Bau von Wolkenkratzern und Métro sowie die Ausrichtung der Weltausstellung Expo 67 und der Olympischen Spiele 1976. Ebenfalls aus Montreal stammen Pierre Trudeau (Premierminister Kanadas), Georges Vanier (Generalgouverneur Kanadas) sowie Charles-Eugène Boucher de Boucherville, Robert Bourassa und Jacques Parizeau (alle Premierminister Québecs). Zu den bedeutendsten Wirtschaftsvertretern gehören der Reeder Montagu Allan, der Pressemagnat Conrad Black und der Brauereiunternehmer John Molson. Das Testament des Pelzhändlers James McGill ermöglichte die Gründung der nach ihm benannten McGill University. Zwei aus Montreal stammende Chemiker, Sidney Altman und Rudolph Arthur Marcus, erhielten den Nobelpreis. Der kanadische Richter bei den Tokioter Prozessen, Edward Stuart McDougall stammt ebenso aus Montreal. == Literatur == Paul-André Linteau: Histoire de Montréal depuis la Confédération. Éditions Boréal, Montreal 1992, ISBN 2-89052-441-8. Stéphane Castonguay, Michèle Dagenais: Metropolitan Natures: Environmental Histories of Montreal. University of Pittsburgh Press, Pittsburgh 2011, ISBN 978-0-8229-4402-7. Gilles Havard: The Great Peace of Montreal of 1701. French-Native Diplomacy in the Seventeenth Century. McGill-Queen's University Press, Montreal/Kingston 2001, ISBN 978-0-7735-2219-0. Robert David Lewis: Manufacturing Montreal. The Making of an Industrial Landscape, 1850 to 1930. Johns Hopkins University Press, Baltimore 2000, ISBN 0-8018-6349-X. Filippo Salvatore: Fascism and the Italians of Montreal. An Oral History 1992–1945. Guernica Editions, Montreal 1995, ISBN 1-55071-058-3. Serge Jaumain, Paul-André Linteau: Vivre en Ville. Bruxelles et Montréal aux XIXe et XXe siècles, Brüssel 2006, ISBN 1-55071-058-3. == Weblinks == Website der Stadt Montreal (französisch, englisch) Website von Montreal Tourismus (französisch, englisch) Historische Fotos aus den Jahren 1920 bis 1960 (französisch) Touristische Informationen zu Montreal (englisch, auch französisch) Commission de toponymie du Québec: Montréal (Stadt) Historische Karte von Montreal, 1777 beim Digitalen Archiv Marburg (Hessisches Staatsarchiv Marburg) == Einzelnachweise ==
https://de.wikipedia.org/wiki/Montreal
Papier
= Papier = Papier (von lateinisch papyrus, aus altgriechisch πάπυρος pápyros ‚Papyrusstaude‘) ist ein flächiger Werkstoff, der im Wesentlichen aus Fasern pflanzlicher Herkunft besteht und durch Entwässerung einer Fasersuspension auf einem Sieb gebildet wird. Das entstehende Faservlies wird verdichtet und getrocknet.Papier wird aus Faserstoffen hergestellt, die heute vor allem aus dem Rohstoff Holz gewonnen werden. Die wichtigsten Faserstoffe sind Zellstoff, Holzstoffe und Altpapierstoff. Das durch Papierrecycling wiederverwertete Altpapier ist mittlerweile die wichtigste Rohstoffquelle in Europa. Außer dem Faserstoff oder einer Faserstoffmischung enthält Papier auch Füllstoffe und weitere Zusatzstoffe. Es gibt rund 3000 Papiersorten, die nach ihrem Einsatzzweck in vier Hauptgruppen eingeteilt werden können: Grafisches Papier (Druck- und Schreibpapier), Verpackungspapier und -karton, Hygienepapier (z. B. Toilettenpapier, Papiertaschentücher) sowie die vielfältigen technischen Papiere und Spezialpapiere (z. B. Filterpapier, Zigarettenpapier, Banknotenpapier). == Abgrenzung == === Papier, Karton, Pappe === Papier, Karton und Pappe werden unter anderem anhand der flächenbezogenen Masse unterschieden. DIN 6730 vermeidet den Begriff Karton und unterscheidet allein Papier und Pappe, und zwar anhand des Grenzwerts 225 g/m² (Massenbelegung). Umgangssprachlich ist Karton jedoch eine übliche Bezeichnung für ein Material im Bereich 150 g/m² bis 600 g/m², das typischerweise dicker und steifer ist als Papier. Bei der Zuordnung zur flächenbezogenen Masse ergeben sich Überschneidungsbereiche zwischen Papier und Karton sowie zwischen Karton und Pappe: Teilweise werden im Fall der umgangssprachlichen Dreiteilung in Papier, Karton, Pappe bei den Überschneidungsbereichen andere Grenzwerte genannt, zum Beispiel: Das Mindest-Flächengewicht von Pappe wird je nach Quelle noch anders angegeben, zum Beispiel mit 220 g/m² oder auch 600 g/m². Die fließenden Gewichtsgrenzen beruhen auf Neuerungen in der Produktionstechnik. Das Flächengewicht ist somit als ein ungefährer Anhaltspunkt und als eines von mehreren Unterscheidungskriterien zu betrachten. === Pseudopapiere === Pseudopapiere (Papierähnliche) wie Papyrus, Tapa, Amatl und Huun – alle pflanzlichen Ursprungs – unterscheiden sich vom Papier vor allem durch die Technik der Herstellung: Pflanzliche Fasern werden durch Klopfen miteinander verbunden und zu einem Blatt geformt. Bei der Herstellung von richtigem Papier werden die Fasern in Wasser eingeweicht und voneinander getrennt. Dann müssen die Fasern als dünne Schicht auf ein Sieb gebracht, entwässert und getrocknet werden. Die ineinander verschlungenen, verfilzten Fasern bilden das Papier. == Geschichte == === Frühe Schriftträger === Höhlenzeichnungen sind die ältesten Dokumente, die der Mensch mit Pigment­farbe auf einen Untergrund gezeichnet hat. Die Sumerer, als Träger der ältesten bekannten Hochkultur, schrieben seit etwa 3200 v. Chr. mit Keilschrift auf weiche Tontafeln, die zum Teil durch Zufälle gebrannt, überliefert sind. Aus Ägypten sind Schriftträger aus anorganischen Materialien bekannt, beispielsweise die Narmer-Palette – eine Prunkpalette des Königs Narmer (3100 v. Chr.) aus Schiefer. Papierähnlichere sind aus Papyrus gefertigt. Dieses Papyrus(papier) besteht aus den flach geschlagenen, über Kreuz gelegten und gepressten Stängeln der am gesamten unteren Nil in ruhigen Uferzonen wachsenden Schilfpflanzen (echter Papyrus), die dünnen, gepressten Schichten werden dann zusammengeklebt (laminiert). Geschrieben wurde darauf mit schwarzer und roter Farbe. Die schwarze Tusche bestand aus Ruß und einer Lösung von Gummi arabicum, die rote Farbe wurde auf Ocker-Basis hergestellt. Das Schreibgerät war ein Pinsel aus Binsen. Papyrus wurde im Alten Ägypten seit dem dritten Jahrtausend v. Chr. als Schreibmaterial benutzt. Zwar gab es Papyrus im antiken Griechenland, jedoch war eine Verbreitung über Griechenland hinaus kaum bekannt. Im 3. Jahrhundert v. Chr. ersetzten die Griechen den Pinsel durch eine gespaltene Rohrfeder. Im Römischen Reich wurden sowohl Papyrus als auch Wachs­tafeln benutzt. In die Letzteren wurde der Text mittels angespitzter Griffel geritzt. Nach dem Auslesen wurde das Wachs mit einem Schaber geglättet und die Tafel konnte erneut beschrieben werden. Öffentliche Verlautbarungen wurden meist als dauerhafte Inschrift (Steintafeln oder Metallplatten) an Tempeln oder Verwaltungsgebäuden angebracht. Die Römer bezeichneten Papyrus-Rindenbast mit lateinisch liber, aus dem sich später die Bezeichnung „Library“ (Bibliothek) entwickelte. In China wurden Tafeln aus Knochen, Muscheln, Elfenbein und Schildkrötenpanzer benutzt. Später bestanden Schrifttafeln aus Bronze, Eisen, Gold, Silber, Zinn, Jade, Steinplatten und Ton oder häufig aus organischem Material, wie Holz-, Bambusstreifen und Seide. Pflanzenblätter und Tierhäute wurden noch nicht als Schriftträger benutzt. Orakelknochen wurden mit Griffeln geritzt oder mit Tinte mit Lampenruß oder Zinnober als Pigment beschriftet.In Indien und Ceylon wurden die Blätter der Talipot-Palme etwa seit 500 v. Chr. benutzt (Palmblattmanuskripte), sowie Birkenrinde, Holzblöcke, -tafel und Baumwolllappen, außerdem Steintafeln, -blöcke.In den Hochkulturen des Alten Orients und des Mittelmeerraumes wurde von alters her Leder als Beschreibstoff verwendet. Wie Leder wird Pergament aus Tierhäuten hergestellt. Durch die Vorteile des Pergaments wurden im mittelalterlichen Europa andere Beschreibstoffe verdrängt. Die Tierhäute werden mit Pottasche oder Kalk gebeizt, gründlich gereinigt und aufgespannt getrocknet, es folgte das Schaben und die Oberflächenbearbeitung. In der neuen Welt wurde Huun, Amatl, ein papierähnlicher Beschreibstoff, bereits vor dem 5. Jahrhundert von den Maya hergestellt. Allerdings ist dieses Material, der Herstellungsart nach, eher dem Papyrus verwandt, denn es wird aus kreuzweise verpressten Baststrängen, nicht aber aus aufgeschlossenen Einzelfasern erzeugt. Der für die Papierdefinition essenziell wichtige Entwässerungsvorgang erfolgt weder auf einem Sieb noch durch mechanischen Wasserentzug. Insofern wäre es falsch, von einer Erfindung des Papieres in Amerika zu sprechen. Die tatsächliche und unabhängige Urherstellung von Papier lässt sich nur für Asien und Europa nachweisen. === Erfindung des Papiers === Obwohl es Funde aus China gibt, die auf etwa 140 v. Chr. datiert werden können und obwohl Xu Shen bereits um 100 n. Chr. die Herstellung von Papier aus Seidenabfällen beschrieb, wird die Erfindung des Papiers offiziell Ts'ai Lun zugeschrieben, der um 105 n. Chr. (Belegdatum der ersten Erwähnung der chinesischen Papierherstellungsmethode) ein Beamter der Behörde für Fertigung von Instrumenten und Waffen am chinesischen Kaiserhof war und erstmals das bekannte Verfahren, Papier herzustellen, beschrieb. Zu seiner Zeit gab es einen papierartigen Beschreibstoff, der aus Seidenabfällen hergestellt wurde (Chi). Diesen mischten die frühen Papiermacher vornehmlich mit Hanf, alten Lumpen und Fischernetzen und ergänzten das Material mit Baumrinde oder Bast des Maulbeerbaumes. Die chinesische Erfindung bestand vor allem in der neuartigen Zubereitung: Die gesäuberten Fasern und Fasernreste wurden zerstampft, gekocht und gewässert. Anschließend wurden einzelne Lagen mit einem Sieb abgeschöpft, getrocknet, gepresst und geglättet. Beim Schöpfen entstand an dem Papier eine „Schönseite“, die an der dem Sieb abgewandten Seite lag, und eine „Siebseite“, die an dem Sieb lag. Der entstehende Brei aus Pflanzenfasern lagerte sich als Vlies ab und war ein relativ homogenes Papierblatt. Diese Technik wurde vermutlich in Korea in einer eigenständigen Form seit dem 2. Jahrhundert n. Chr. angewandt. Ein Autor schrieb 2005, sie feiere seit vielen Jahren unter dem Namen Hanji (한지) eine Renaissance. Papierherstellung dargestellt auf einem chinesischen Holzschnitt (Ming-Dynastie) Da Bast ein Material ist, das im Vergleich zu dem verwendeten Holz längere Fasern und dadurch eine hohe zeitliche Haltbarkeit hat, war das Papier von Ts’ai Lun nicht nur zum Schreiben verwendbar, sondern auch für Raumdekorationen etwa in Form von Tapeten sowie Kleidungsstücken. Die Verwendung von Maulbeerbast lag nahe, da der Seidenspinner sich von den Blättern des Maulbeerbaums ernährte und somit dieses Material ein ohnehin vorhandenes Nebenprodukt aus der Seiden­produktion war. Wie alt die Verwendung von Bast ist, belegt die Gletschermumie Ötzi (ca. 3300 v. Chr.), der Kleidungsstücke aus Lindenbast trägt. === Ostasien === Bereits im 2. Jahrhundert gab es in China Papiertaschentücher, im 3. Jahrhundert wurden Leimstoffe (Stärke) hinzugefügt, daraus resultierte die Erfindung der Leimung (dünner Überzug, um Papier glatter und weniger saugfähig zu machen; die Tinte oder Tusche verläuft weniger stark), sowie die Färbung von Papier. Möglicherweise wurde schon die erste Zeitung (Dibao) herausgegeben. Im 6. Jahrhundert wurde Toilettenpapier aus billigstem Reisstrohpapier hergestellt. Alleine in Peking wurden jährlich zehn Millionen Päckchen mit 1000 bis 10.000 Blatt produziert. Die Abfälle an Stroh und Kalk bildeten bald große Hügel, „Elefanten-Gebirge“ genannt. Für Zwecke des chinesischen Kaiserhofes stellte die kaiserliche Werkstatt 720.000 Blatt Toilettenpapier her. Für die kaiserliche Familie waren es noch einmal 15.000 Blatt hellgelbes, weiches und parfümiertes Papier. Bekannt ist, dass um das Jahr 300 die Thais die Technik des schwimmenden Siebs zur Papierherstellung verwendeten. Das Bodengitter des Siebes war fest mit dem Rahmen verbunden. Jedes geschöpfte Blatt musste im Sieb trocknen und konnte erst dann herausgenommen werden. Entsprechend viele Siebe waren nötig. Um das Jahr 600 gelangte die weiter entwickelte Technik des Schöpfens mit dem Schöpfsieb nach Korea und wurde um 625 in Japan verwendet. Das frisch geschöpfte Blatt kann feucht entnommen und zum Trocknen ausgelegt werden. Diese Technik wird noch bei handgeschöpftem Papier verwendet. Daraus ergibt sich, dass das Schöpfsieb in der Zeit zwischen 300 und 600 erfunden wurde. In Japan wurde die Technik verbessert, indem der Faserbrei mit Pflanzenschleimen z. B. von Abelmoschus manihot aufgewertet wurde. Die Fasern waren gleichmäßiger verteilt, es traten keine Klümpchen auf. Dieses Papier wird als Japanpapier bezeichnet. Die Amtsrobe der japanischen Shintō-Priester, die auf die Adelstracht der Heian-Zeit zurückgeht, besteht aus weißem Papier (Washi), das vorwiegend aus Maulbeerbaum-Bast besteht. In der Tang-Dynastie wurde die Papierherstellung weiter stark verbessert, es wurde gewachst (Chinawachs, Bienenwachs), gestrichen, gefärbt und kalandriert. Um den steigenden Papierbedarf unter den Tang zu decken, wurden die Bambusfasern zur Papierproduktion eingeführt.Der chinesische Kaiser Gaozong (650 bis 683) ließ erstmals Papiergeld ausgeben. Auslöser war ein Mangel an Kupfer für die Münzprägung. Seit dem 10. Jahrhundert hatten sich Banknoten in der Song-Dynastie durchgesetzt. Ab etwa 1300 waren sie in Japan, Persien und Indien im Umlauf und ab 1396 in Vietnam unter Kaiser Tran Thuan Tong (1388–1398). Im Jahr 1298 berichtete Marco Polo in seiner Reisebeschreibung (Il Milione) über die starke Verbreitung des Papiergeldes in China, wo es zu dieser Zeit eine Inflation gab, die den Wert auf etwa ein Prozent des ursprünglichen Wertes fallen ließ. Im Jahr 1425 wurde das Papiergeld allerdings wieder abgeschafft, um die Inflation zu beenden. Um das Inumlaufbringen von Falschgeld zu erschweren, wurde Papiergeld zeitweise aus einem Spezialpapier gefertigt, das Zusätze an Seidenfasern, Insektiziden und Farbstoffen enthielt. === Arabische Welt === Wann genau das erste Papier in der arabischen Welt produziert wurde, ist umstritten. So wird als Datum 750 oder 751 genannt, als vermutlich bei einem Grenzstreit gefangengenommene Chinesen die Technik der Papierherstellung nach Samarkand gebracht haben sollen. Andererseits gibt es Erkenntnisse, die zu der Annahme führen, dass in Samarkand bereits 100 Jahre früher Papier bekannt war und auch hergestellt wurde. Als Papierrohstoff wurden Flachs und Hanf (Hanfpapier) sowie Bast des Maulberbaums benutzt. Im 9. Jahrhundert wurde dieser Zweig zu einem der wichtigsten Wirtschaftsfaktoren der Stadt Samarkand. Allmählich eroberte das besonders dünne und glatte samarkandische Papier die Märkte in der gesamten orientalischen Welt. Es war leichter zu beschreiben und für die arabische Schrift weit besser geeignet als ägyptisches Papyrus und durch die Massenproduktion mit Hilfe von bis zu 400 wassergetriebenen Papiermühlen am Fluss Siyob viel billiger als das in Europa verwendete Pergament. Bis ins 10. Jahrhundert wurde der größte Teil der arabischen Literatur auf Papier aus Samarkand geschrieben. In Bagdad wurde um 795 die Papierherstellung aufgenommen, 870 erschien dort der erste Papiercodex. Papiergeschäfte waren wissenschaftliche und literarische Zentren, die von Lehrern und Schriftstellern betrieben wurden. Das Haus der Weisheit entstand nicht zufällig zu dieser Zeit in Bagdad. In den Kanzleien des Kalifen Hārūn ar-Raschīd wurde auf Papier geschrieben. Es folgten Papierwerkstätten in Damaskus, Kairo, in nordafrikanischen Provinzen bis in den Westen. Die Araber entwickelten die Herstellungstechnik weiter, durch die Einführung der Oberflächenleimung. Man mischte Lumpen und Stricke, diese wurden zerfasert und gekämmt, dann in Kalkwasser eingeweicht, dann zerstampft und gebleicht. Diese Pulpe schmierte man an eine Wand zum Trocknen. Anschließend wurde sie mit einer Stärkemischung glattgerieben und in Reiswasser getaucht um die Poren zu schließen. Genormte Flächenmaße wurden eingeführt, 500 Bogen waren ein Bündel (rizma), worauf der noch in der Papierwirtschaft übliche Begriff Ries zurückgeht. Vom 8. bis zum 13. Jahrhundert dauerte die hohe Blütezeit des islamischen Reiches. Als Kulturzentrum zog Bagdad Künstler, Philosophen und Wissenschaftler, insbesondere Christen und Juden aus Syrien, an. === Indien === In Indien wurde das Papier ab dem 13. Jahrhundert unter islamischem Einfluss eingeführt und begann in Nordindien das bis dahin vorherrschende Palmblatt als Schreibmaterial abzulösen. Die indischen Papiermanuskripte sind aber durch das Vorbild der Palmblattmanuskripte beeinflusst. So wurde das Querformat (das bei Palmblattmanuskripten durch die natürlichen Dimensionen der Palmblätter vorgegeben ist) beibehalten. An die Stelle der Löcher für den Bindfaden, der bei Palmblattmanuskripten die einzelnen Blätter zusammenhält, traten bei den Papiermanuskripten rein ornamentale Kreise. Im westlichen Nordindien ersetzte Papier das Palmblatt bis zum 15. Jahrhundert komplett. In Ostindien blieb das Palmblatt bis ins 17. Jahrhundert in Gebrauch. In Südindien konnte sich Papier dagegen nicht durchsetzen. Hier blieb das Palmblatt bis zum Aufkommen des Buchdrucks im 19. Jahrhundert das bevorzugte Schreibmaterial. === Europa === Über den Kulturkontakt zwischen dem christlichen Abendland und dem arabischen Orient sowie dem islamischen Spanien gelangte das Schreibmaterial seit dem 11. Jahrhundert nach Europa. Ein bedeutender Teil der Ausgangsmaterialien für die frühe europäische Papiererzeugung bestand aus Hanffasern, Flachsfasern (Leinen) und Nesseltuch, die Papiermühlen kauften die erforderlichen Hadern von den für sie arbeitenden Lumpensammlern. In Xàtiva bei Valencia gab es nach einem Reisebericht von Al-Idrisi bereits in der Mitte des 12. Jahrhunderts eine blühende Papierwirtschaft, die auch in die Nachbarländer hochwertige Produkte exportierte. Nach der Vertreibung der Araber aus Spanien blieb das Gebiet um Valencia bedeutend für die Papierwirtschaft, weil dort viel Flachs (Leinen) angebaut wurde, der ein hervorragender Rohstoff für die Papierherstellung ist. Das sogenannte Missale von Silos ist das älteste erhaltene christliche Buch aus handgeschöpftem Papier. Es stammt aus dem Jahr 1151 und wird in der Bibliothek des Klosters Santo Domingo de Silos in der Provinz Burgos (Spanien) aufbewahrt. Die maschinelle Massenproduktion von Papier begann im mittelalterlichen Europa; europäischen Papiermachern gelang es in kurzer Zeit, den Arbeitsprozess durch die Einführung zahlreicher – den Chinesen und Arabern unbekannter – Innovationen zu optimieren: Der Betrieb wassergetriebener Papiermühlen mechanisierte den bis dahin nur in Handarbeit oder mit Tieren im Kollergang praktizierten Zerkleinerungsvorgang. Derartige Wassermühlen, eisenbewehrte Lumpen-Stampfwerke, sind erstmals ab 1282 bezeugt. Das Reißen der Lumpen mit einem Sensenblatt löste die umständliche Praxis des Reißens von Hand oder Schneidens mit Messer oder Schere ab. Papierpressen, konstruiert in Anlehnung an antike Kelter, trockneten das Papier durch Schraubpressdruck.Ebenfalls völlig neu war die Konstruktion des Schöpfsiebs, bei dem ein Metallgeflecht an die Stelle der älteren Bambus- oder Schilfsiebe trat. Das starre Schöpfsieb aus Metalldraht war die technische Voraussetzung für das Anbringen des zur Kennzeichnung dienenden Wasserzeichens, einer italienischen Erfindung. Die Verfeinerung der Papierqualität zu erschwinglichen Preisen trug kurze Zeit später wesentlich zum Erfolg des von Johannes Gutenberg erfundenen modernen Buchdrucks bei.Mit der Ausbreitung der Schriftlichkeit in immer weitere Bereiche der Kultur (Wirtschaft, Recht, Verwaltung und Weitere) trat das Papier gegenüber Pergament seit dem 14. Jahrhundert seinen Siegeszug an. Ab der Mitte des 15. Jahrhunderts begann mit dem Buchdruck auf dem billigeren Papier, das Pergament als Beschreibstoff in den Hintergrund zu treten. Allerdings dauerte es bis ins 17. Jahrhundert, bis es vom Papier weitgehend verdrängt wurde. In der Folge spielte Pergament nur noch als Luxusschreibmaterial eine Rolle. === Verbreitung der Papierherstellung in Europa === Die erste deutsche Papiermühle entstand 1389/1390 bei Nürnberg. Gegründet wurde die Gleismühl vom Ratsherrn und Exportkaufmann Ulman Stromer. Stromer unternahm Geschäftsreisen, unter anderem auch in die Lombardei, und kam dort mit der Papierherstellung in Berührung. Stromer ließ Mitarbeiter und Erben einen Eid ablegen, die Kunst der Papierherstellung geheim zu halten. Die Gleismühl bestand aus zwei mit Wasserkraft angetriebenen Werkseinheiten. Die kleinere Mühle wies zwei Wasserräder auf, die größere verfügte über drei. Insgesamt wurden 18 Stampfen angetrieben. 1389 bis 1394 leitete Stromer selbst die Papiermühle und verpachtete sie dann gegen eine Pacht von „30 Ries gross Papier“ an Jörg Tirman, seinen Mitarbeiter. Die Schedelsche Weltchronik von 1493 zeigt sie als früheste Darstellung einer Papiermühle auf der Darstellung der Stadt Nürnberg. Die Gleismühle brannte später ab. Ab 1393 ist die Papierherstellung in Ravensburg nachgewiesen. Im späten Mittelalter und in der frühen Neuzeit entwickelte sich die oberschwäbischen Reichsstadt zum größten Papierherstellungszentrum im Südwesten. Für das 15. und 16. Jahrhundert wird die Produktion in bis zu sieben Papiermühlen auf etwa 9000 Ries (etwa 4,5 Millionen Blatt) jährlich geschätzt.In Basel begann die Papierherstellung 1433 während des Konzils von Basel. Der Handelsmann und Bürger Heinrich Halbisen der Ältere (um 1390 bis 1451) errichtete in der Allenwinden-Mühle vor dem Riehentor eine Papiermühle, die mit Hilfe von italienischen Papiermachern bis 1451 betrieben worden ist. Unterdessen waren im linksrheinischen St. Albantal innerhalb der Stadtmauern, auf dem Gelände des Klosters St. Alban (Benediktiner des Cluniazenserordens) am Gewerbekanal (genannt St. Alban-Teich) weitere Papiermühlen in Betrieb genommen worden. Heinrich Halbisen der Jüngere (um 1420 bis um 1480) betrieb dort drei Mühlen bis um 1470. Seine Wasserzeichen sind das halbe Hufeisen, der Ochsenkopf und das gotische «p», sowie der Dreiberg mit Kreuz. Benachbart waren dort Anton Gallizian (um 1428–1497), ein Papiermacher, und seine zwei Brüder aus Casella im Piemont (bei Turin), welche die Klingental-Mühle kauften und 1453 zur Papiermühle umrüsteten. Ihr Wasserzeichen war das Antoniuskreuz über dem Ochsenkopf.Dank der im Fernhandel jener Zeit gut vernetzten Basler Handelsgesellschaften verbreitete sich Basler Papier rasch in ganz Nordeuropa. Nachgewiesen ist im 15. Jahrhundert die Verwendung von Basler Papier unter anderem 1447 in Moskau, 1457 in Frankfurt am Main und Heidelberg, 1460 in Lübeck und Mainz, 1464 in Braunschweig und Köln, 1471 in Xanten, 1475 in Kopenhagen, Zürich, Innsbruck und Rostock, 1479 in Nürnberg und Venedig, 1481 in London, 1485 in Schlesien, 1487 in Königsberg. Umgekehrt wurde im ganzen 15. Jahrhundert in Basel auch Papier aus Italien und Frankreich verwendet.Im 15. Jahrhundert bestanden in Basel 8 Papiermühlen, 2 vor dem Tor bei Riehen, sechs im St. Albantal. Unter den 18 Besitzern war eine Frau. Von den Papieren sind 38 mit Namen bekannt, darunter zwei Frauen.Den Papierabsatz förderte in der Folge die Gründung der Universität Basel im Jahr 1460, ebenso der Buchdruck, der 1468 von Berthold Ruppel, einem Gesellen Gutenbergs, in Basel eingeführt wurde. Nun wurde Basel zu einem der Zentren des Humanismus nördlich der Alpen. In den historischen Mühlengebäuden im St. Albantal ist heute ein Museum für Papier, Schrift und Druck eingerichtet unter dem Namen Basler Papiermühle. Östlich der Elbe entstanden die ersten Papiermühlen erst Mitte des 17. Jahrhunderts. Francois Feureton aus Grenoble gründete mit Unterstützung des Friedrich Wilhelm zunächst eine Papierfabrik in Burg und dann in Prenzlau. === Technische Entwicklung bis zum 19. Jahrhundert in Europa === Die benötigten Zellstofffasern wurden bis in die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts aus Hadern gewonnen, also aus Lumpen und abgenutzten Leinentextilien. Lumpensammler und -händler versorgten die Papiermühlen mit dem Rohstoff. Lumpen waren zeitweise so begehrt und rar, dass für sie ein Exportverbot bestand, das auch mit Waffengewalt durchgesetzt wurde. In den Papiermühlen wurden die Hadern in Fetzen geschnitten, manchmal gewaschen, einem Faulungsprozess unterzogen und schließlich in einem Stampfwerk zerfasert. Das Stampfwerk wurde mit Wasserkraft angetrieben. Die Rohstoffaufbereitung erfolgte noch im 17. Jahrhundert in handwerklich organisierten Betrieben sowie teilweise in größeren Manufakturen mit einem höheren Grad der Arbeitsteilung. Im frühen 18. Jahrhundert wurden halbmechanische Lumpenschneider eingeführt, die zunächst nach dem „Fallbeilprinzip“ sowie später nach dem „Scherenprinzip“ arbeiteten. In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts erfolgte der Übergang, statt des Faulens und Reinigens von Hadern, mit Chlor zu bleichen. Der Verlust an Fasern war so geringer, es konnten außerdem auch farbige Stoffe zu weißem Papier verarbeitet werden. Die typische Archivordnung in farbigen Aktendeckeln stammt beispielsweise noch aus der Zeit, als echt gefärbte blaue und rote Lumpen nur zu rosa oder hellblauem Papier verarbeitet werden konnten. Erst im 19. Jahrhundert kommen andersfarbige Aktendeckel (etwa gelb) hinzu. Aus dem dünnen Papierbrei (Stoff) in der Bütte (= Bottich, daher der Name des Büttenpapiers) schöpfte der Papiermacher das Blatt mit Hilfe eines sehr feinmaschigen, flachen, rechteckigen Schöpfsiebes aus Kupfer von Hand. Das Schöpfsieb zeichnet sich durch einen abnehmbaren Rand, den Deckel, aus. Die Größe des Papierbogens wurde von der Größe des Siebes bestimmt. Nun drückte der Gautscher den frischen Bogen vom Sieb auf ein Filz ab, während der Schöpfer den nächsten Bogen schöpfte. Nach dem Gautschen wurden die Bögen in großen trockenen Räumen, vornehmlich auf Speichern und Dachböden, zum Trocknen aufgehängt. Anschließend wurde das Papier nochmals gepresst, geglättet, sortiert und verpackt (eine Pauscht entspricht 181 Bogen Papier). Handelte es sich um Schreibpapier, wurde es geleimt. Dazu wurde es in Leim getaucht, gepresst und getrocknet. Der Leim hindert die Tinte am Verlaufen. Bei Handarbeit, die nur bei Fasern – und somit Papier – hoher Qualität angewendet wird, nehmen die Fasern keine bevorzugte Richtung ein (Isotropie). Der moderne technische Durchbruch begann sich mit der Erfindung des „Holländers“ um 1670 abzuzeichnen. Es handelt sich um eine Maschine, die den Faserbrei (Pulpe) nicht mehr durch reine Schlageinwirkung aufschließt, sondern durch eine kombinierte Schneid- und Schlageinwirkung. Der Holländer bot aufgrund der hohen Rotationsgeschwindigkeit einen schnelleren Faserdurchgang als das Stampfwerk. Somit stieg die Produktivität der Faseraufbereitung. Üblicherweise wurden Holländer anfangs dort eingesetzt, wo nur geringe Wasserkraft zur Verfügung stand (geringe Antriebsmomente, aber hohe Drehzahlen möglich) und/oder eine Feinzeugaufbereitung einem großen Stampfwerk nachgeschaltet werden sollte. Das Zeitverhältnis für 1 kg Ganzstoff liegt bei etwa 12:1 (Stampfzeit/Holländerzeit), wobei die schonende Stampfung eindeutig den besseren Halbstoff ergibt. Der Holländer wurde in deutschen Papiermühlen ab etwa 1710 umfassend eingesetzt. Durch den höheren möglichen Eintrag im Holländer (ca. 15 kg Stoff im Gegensatz zu 2–5 kg im Stampfwerk) und die geringere erforderliche Mannkapazität verbreitete sich das Gerät schnell. Der Holländer ist wartungsärmer als ein Stampfwerk, was sich bei den Reinvestitionskosten erheblich bemerkbar machte. Später wurden dann direkt aus dem Holländerprozess die ersten Stetigmahlerkonstruktionen (Jordan-Mühle Kegelstoffmühle, Scheibenrefiner) entwickelt. ==== Papiermacher ==== Ein Papiermacher ist ein Handwerker, der Papier herstellt. In der Gegenwart ist er in einer Papiermühle mit entsprechenden Produktionseinrichtungen (industrielle Papierfabrik) tätig. Seit dem Jahr 2005 heißt der Beruf nach der Klassifikation in Deutschland Papiertechnologe. In der größten Zahl der Fälle hat jeder leitende Papiermüller ein Wasserzeichen verwendet, das allein für seine Wirkungszeit typisch war. Da die Papiermacher ein Beruf mit einer ausgeprägten Berufstradition innerhalb bestimmter Familien waren, ergänzen sich genealogische und Wasserzeichenforschung gegenseitig. Aus diesem Grunde ist das Deutsche Buch- und Schriftmuseum in der Deutschen Bücherei in Leipzig zugleich Standort einer Papiermacherkartei (siehe Verkartung), in der die Daten von über 8000 Papiermachern, Papiermühlenbesitzern, Lumpensammlern und Papierhändlern samt ihren Familien erfasst worden sind, und einer Kartei der Papiermühlen mit den Papiermachern, die jemals auf ihnen erwähnt worden sind. === Industrialisierung === Der Mangel an Lumpen, Hadern, die für die Papierherstellung notwendig waren, wurde zum Engpass der Papierherstellung. Deshalb wurde bereits um 1700 nach Alternativen für die Hadern gesucht. Der französische Physiker René-Antoine Ferchault de Réaumur schrieb 1719 der französischen Akademie der Wissenschaften in Paris: Einen skurril anmutenden Beitrag lieferte der Arzt Franz Ernst Brückmann zu Wolfenbüttel, der sich vornehmlich mit „Erdgewächsen und Mineralien“ befasste. Entsprechend schlug er zur Lösung des Rohstoffproblems Asbestpapier vor und ließ 1727 zu Braunschweig einige Exemplare seines Werkes „Historiam naturalem curiosam lapidis …“ oder kurz „Historia naturalis de asbesto“ auf Asbestpapier abdrucken. Das Buch enthielt auf diesen unverbrennlichen Bogen auch sein eigenes Bildnis – um „unsterblich“ zu werden.Frühe und zukunftsweisende Versuche, und sogleich in gewerbsmäßiger Größenordnung, wurden durch den vielseitig genialen braunschweigischen Oberjägermeister Johann Georg von Langen unternommen, denn im Juni 1753 – unter Verweis auf ältere Berichte – gibt er Rechenschaft gegenüber seinem Landesherrn (Carl I.) ab über eine am „Holzminder Bach erbauete Reibe-Mühle, mit Vorstellung des Gebrauchs, so künftig von solcher Mühle zu machen“. Auf dieser Mühle „Porcellain-Masse“ zu mahlen hatte sich gerade zerschlagen, weshalb v. Langen vorschlug, es könne „diese Mühle mit wenig Kosten mit zu Verfertigung des Pack- und anderen Papiers, so aus Holtz gemacht wird, gebrauchet werden.“ Entsprechend hielt er um die herzogliche Konzessionierung an und vermerkte, dass sich „solche (‚Holtz-Papier-Mühle‘) durch Verfertigung einer so gemein nützigen Kauffmanns Waare nicht allein verinteressieren“ würde (wegen der Neuartigkeit dieser Technologie), sondern mit der Zeit völlig bezahlt machen würde. Denn er habe „eine neue Art Papier von Holtz Materie erfunden“, so dass um 1760/61 die Aussicht bestand, der Lumpenbedarf werde mit der Zeit spürbar vermindert werden können. Weiteres steht hier leider noch aus. Von Langen hatte sich durchaus auch mit anderen vegetabilischen Stoffen wie 1756 etwa der Verwendung von „Rohr zum Packpapier“ befasst.Doch umfassendere Experimente führte Jacob Christian Schäffer durch, um Papier aus Pflanzenfasern oder Holz zu gewinnen; dies beschrieb er in sechs Bänden „Versuche und Muster, ohne alle Lumpen oder doch mit einem geringen Zusätze derselben, Papier zu machen“ zwischen 1765 und 1771. Seine Verfahren zur Papierherstellung aus Pappelwolle, Moos, Flechten, Hopfen, Weinreben, Disteln, Feldmelde Atriplex campestris, Beifuß, Mais, Brennnesseln, Aloe, Stroh, Rohrkolben, Blaukohlstrunken, Graswolle, Maiglöckchen, Seidenpflanzen, Ginster, Hanfschäben, Kartoffelpflanzen, Torf, Waldreben, Tannenzapfen, Weiden- und Espenholz sowie Sägespänen und Dachschindeln ergaben aber kein qualitativ gutes Papier und wurden deshalb von den Papiermüllern nicht verwendet. Gleichwohl, inspiriert durch die Schäfferschen Versuche, fanden diese im braunschweigischen Räbke bei Helmstedt ihre Neuauflage. Hier wurden im Jahre 1767, unter Anleitung des braunschweigischen Professors Justus Friedrich Wilhelm Zachariae, Experimente mit anderen „vegetabilischen“ Stoffen als den bisher unentbehrlichen weißen Leinen-Lumpen vorgenommen. Dabei wurden von Fachleuten (Papierfabrikanten) Erprobungen mit durchaus aussichtsreichen Materialien wie der Wilden Karde (Weberdistel), Flachs, Hanf, Baumwolle und schließlich gar mit „Pappelweide“ bzw. dem „gemeinen Weidenbaum“ durchgeführt, also auch mit zukunftsweisenden Holzarten. 1756 In den zu Preußen gehörenden Ländern wird das Lumpenausfuhrverbot erlassen und die Mitführung eines Lumpenpasses durch die Lumpensammler vorgeschrieben. 1774 Die Verwendung von Altpapier als Rohstoff für neues wird durch die Publikation des Göttinger Professor Justus Claproth „Eine Erfindung, aus gedrucktem Papier wiederum neues zu machen und die Druckfarbe völlig auszuwaschen“ eingeleitet. (Deinking-Verfahren) 1784 Der französische Chemiker Claude Louis Graf Berthellet wendet bei der Papierherstellung die Chlorbleiche an. 1798 erhielt der Franzose Nicholas-Louis Robert ein Patent auf eine Längssiebmaschine, die eine maschinelle Fabrikation des Papiers ermöglichte. Bei dieser Papierschüttelmaschine wurde das Schöpfen des Papierbreis durch dessen Aufgießen auf ein rotierendes Metallsieb ersetzt. 1804 Der Engländer Bryan Donkin vervollkommnet die Langsieb-Papiermaschine. 1805 Die erste Rundsiebmaschine wird auf den englischen Mechaniker Joseph Bramah patentiert. 1806 Die Harzleimung des Papiers bereits im Papierbrei, also im Herstellungsprozess, wird vom Uhrmacher Moritz Friedrich Illig aus Erbach im Odenwald erfunden. 1820 Der Engländer Th. B. Crompton meldet Patent zur Trocknung der Papierbahn.Friedrich Gottlob Keller erfand Anfang Dezember 1843 das Verfahren zur Herstellung von Papier aus Holzschliff, wobei er auf einem Schleifstein Holz in Faserquerrichtung mit Wasser zu Holzschliff verarbeitete, der zur Herstellung von qualitativ gutem Papier geeignet war. Er verfeinerte das Verfahren bis zum Sommer 1846 durch die Konstruktion von drei Holzschleifermaschinen. Am 11. Oktober 1845 ließ er eine Reihe von Exemplaren der „Nummer 41“ des Intelligenz- und Wochenblattes für Frankenberg mit Sachsenburg und Umgebung auf seinem Holzschliffpapier drucken. Die industrielle Auswertung seiner Erfindung blieb Friedrich Gottlob Keller versagt, weil ihm die Geldmittel zur technischen Erprobung fehlten und die Patentierung des Verfahrens vom Sächsischen Ministerium des Inneren verweigert wurden. So übertrug er am 20. Juni 1846 die Rechte zur Nutzung des Verfahrens gegen ein geringes Entgelt an den vermögenden Papierfabrikanten Heinrich Voelter, der das Kellersche Holzschliffverfahren weiterentwickelte, in die Praxis einführte und durch die Entwicklung von Hilfsmaschinen zur großtechnischen Nutzung brachte. Ab 1848 arbeitete Voelter mit dem Heidenheimer Papierfabrikanten Johann Matthäus Voith zusammen mit dem Ziel, Papier zur Massenware zu machen. Voith entwickelte das Verfahren weiter und erfand im Jahr 1859 den Raffineur, eine Maschine, die das splitterreiche Grobmaterial des Holzschliffs verfeinert und dadurch eine deutliche Verbesserung der Papierqualität herbeiführt. Seit etwa 1850 wurde der Holzschleifer eingesetzt, mit dem die Papierherstellung aus dem preiswerten Rohstoff Holz im industriellen Maßstab möglich wurde; um 1879 arbeiteten allein in Deutschland rund 340 solcher Holzschleifereien. Die größte Rohstoffnot wurde durch den Einsatz von Holzschliff zwar gemildert, auf Hadern konnte jedoch nicht zur Gänze verzichtet werden. Die älteste erhaltene Holzschleiferei ist die Kartonfabrik von Verla in Finnland, die 1882 erbaut wurde. Die 1964 stillgelegte Fabrikanlage wurde 1996 in das Verzeichnis des UNESCO-Weltkulturerbes aufgenommen. Die Holzschliffpapiere erwiesen sich wegen der in der Schliffmasse enthaltenen Restanteile verschiedener saurer Substanzen als problematisch. Diese Säureanteile stammen aus dem chemischen Aufschlussprozess, der für die Behandlung des zerfaserten Holzstoffes (Lignocellulose) im industriell verbreiteten Sulfitverfahren zwangsläufig benötigt wird. Aus der Schwefligen Säure und ihren Salzen entstehen durch Luftoxidation und Hydrolyse reaktionsrelevante Mengen an Schwefelsäure. Durch die anhaltende Luft- und Luftfeuchteeinwirkung bilden sich weiterhin organische, chemisch sehr aktive Substanzen im Papier. Andere Aufschlussverfahren arbeiten mit Chlorverbindungen und Essigsäure. Diese komplexen Wirkungsmechanismen führen zur Vergilbung sowie zu einer erheblichen Verringerung der Reißfestigkeit, Nassfestigkeit und Biegesteifigkeit im Endprodukt, was sich als „Brüchigkeit“ des Papieres bemerkbar macht. Die verringerte Stabilität im Papier ist eine Folge der durch Säure katalysierten Spaltung des Cellulose­moleküls, die in Form einer fortschreitenden Kettenverkürzung abläuft. Hauptursache für das Vergilben des Holzschliffpapiers sind das Lignin und seine hierbei entstehenden Zersetzungsprodukte (überwiegend aromatische Verbindungen).Häufig wird das Holzschliffpapier fälschlicherweise mit säurehaltigem Papier gleichgesetzt. Das säurehaltige Papier ist eine Folge des Herstellungsprozesses und einiger chemischer Zusätze seiner Leimung. Holzschliffpapier vergilbt besonders stark und verliert schnell seine Elastizität. Billiger Holzschliff und die 1806 erfundene Leimung mit verseiften Harzen wurden massenhaft eingesetzt, so dass insbesondere Papiererzeugnisse (Bücher, Graphiken, Zeitungen, Landkarten) seit der Erfindung der Holzschlifftechnologie durch Friedrich Gottlob Keller nach 1846 und in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts aufgrund beider Ursachen in besonderer Weise den inneren Schadwirkungen unterliegen. Die Restaurierung ist kompliziert und bei hohen Zerfallsraten der Zellulose nur noch durch Massenentsäuerung und nachträgliche Stabilisierungsverfahren wie durch das Papierspaltverfahren möglich.So hat das Holzschliffpapier nicht nur einen Nutzen für die kostengünstige Herstellung von Papier gebracht, sondern auch einen großen Schaden für die schriftliche Überlieferung des 19. und 20. Jahrhunderts. 1850 Erfindung der Kegelstoffmühle (Jordan-Mühle). 1854–1857 Die Engländer Watt, Burgess und Houghton stellen mittels Natronverfahren Holzzellstoff her. 1866–1878 Der Amerikaner Benjamin Chew Tilghman und der Deutsche Alexander Mitscherlich entwickeln auf der Grundlage des Ritter-Kellner-Verfahrens den Sulfitzellstoff durch den chemischen Aufschluss von Holz. um 1870 Stroh als Rohstoff für Papier kann gebleicht werden. 1872 Der Braunschliff von Papier, 1869 von Moritz Behrend (Varzin, Pommern), erfunden, wird vom Papiermacher Oswald Mayh in Zwickau eingeführt. Bereits zur Wiener Weltausstellung 1873 wurde das System erfolgreich präsentiert. 1872 Die preußischen Länder heben das Lumpenausfuhrverbot auf. 1884 Erfindung des Sulfat-Zellstoff-Verfahrens durch C. F. Dahl. 1909 William H. Millspaugh erfindet die Saugwalze. 1919 Die ersten Papiere aus halbsynthetischen Fasern (regenerierte Cellulose) werden durch F. H. Osborne gefertigt. 1921 Beginn der Chlordioxid-Bleiche. 1945 Kontinuierliche Stoffaufbereitung (Pulper und Refiner verdrängen Kollergang und Holländer). 1948 Erste Magnesiumbisulfit-Anlage mit Chemikalienrückgewinnung. 1955 Das erste Papier aus vollsynthetischen Fasern (Polyamid) wird durch J. K. Hubbard hergestellt. ab 1980 Entwicklung der chlorfreien BleicheSeit den 1980er Jahren wird für den Druck hochwertiger Publikationen und Grafiken überwiegend ein „alterungsbeständiges Papier“ oder „säurefreies Papier“ verwendet. Dieses ist durch geeignete chemische Zusätze frei von freien Säuren und freien Chloriden und wird in der DIN EN ISO 9706 genormt. === Technische Entwicklung im 21. Jahrhundert === 2017 Erstmalige Herstellung von mit Nanopartikeln beschichtetem Papier, das in Kombination mit UV-Licht-Druck bis zu 80 mal neu bedruckt werden kann, sofern es vor jedem neuen UV-Druck auf 120 °C erhitzt wurde. == Industrielle Herstellung == Unabhängig von der Faserart kann Papier in Handarbeit oder maschinell hergestellt werden. Für die maschinelle Erzeugung hat sich die Papierindustrie (Wirtschaftszweig „Herstellung von Papier, Karton und Pappe“) etabliert. Papier besteht hauptsächlich aus Cellulosefasern, die wenige Millimeter bis zu einigen Zentimetern lang sind. Die Cellulose wird zunächst weitgehend freigelegt, also von Hemicellulosen, Harzen und anderen Pflanzenbestandteilen getrennt. Der so gewonnene Zellstoff wird mit viel Wasser versetzt und zerfasert. Diesen dünnen Brei nennt der Papiermacher „Stoff“ oder „Zeug“. Wenn dieser in einer dünnen Schicht auf ein feines Sieb gegeben wird, hat er einen Wassergehalt von über 99 % (Papiermaschinenauflauf) beziehungsweise etwa 97 % bei der Handschöpferei. Ein Großteil des Wassers tropft ab. Das Sieb muss bewegt werden, sodass sich die Fasern möglichst dicht über- und aneinander legen und ein Vlies, das Papierblatt, bilden. Wenn das Papier getrocknet ist, kann die Oberfläche mit Hilfe von Stärke, modifizierter Cellulose (beispielsweise Carboxymethylcellulose) oder Polyvinylalkohol geschlossen werden. Dieser Vorgang wird als Leimung bezeichnet, obwohl der Begriff Imprägnierung der richtige wäre. Leimung erfolgt mit Harzseifen oder Alkylketendimeren innerhalb des Stoffes (Masseleimung in der Papiermaschine oder Bütte). Wird auf dem Handschöpf- oder Rundsieb ein Muster aus Draht angebracht, lagern sich an dieser Stelle weniger Fasern ab, und das Muster ist beim fertigen Papier zumindest im Gegenlicht als Wasserzeichen zu erkennen. Wasserzeichen werden fast ausschließlich nur noch auf der Papiermaschine als Egoutteurwasserzeichen gefertigt. === Rohstoffe === Die wichtigsten Rohstoffe für die industrielle Papierherstellung sind Holz und Altpapier. Daneben werden bestimmte Einjahrespflanzen als Rohstoffquelle genutzt. Alle cellulosehaltigen Stoffe sind grundsätzlich zur Papierherstellung geeignet, zum Beispiel Apfelschalen.Aus den Papierrohstoffen werden die Faserstoffe (Halbstoffe) hergestellt. Zu den Primärfaserstoffen, die nur einmal oder erstmals zur Produktion eingesetzt werden, zählen Holzstoff, Halbzellstoff und Zellstoff. Der aus Altpapier hergestellte Altpapierstoff ist ein Sekundärfaserstoff (Recyclingstoff). ==== Holz ==== Zu nahezu 95 % wird Papier aus Holz (in Form von Holzstoff, Halbzellstoff, Zellstoff oder Altpapier) hergestellt. Faserbildung und Härte des Holzes spielen bei der Auswahl als Papierrohstoff eine Rolle, nicht jedes Holz ist für jede Papierart gleich gut geeignet. Häufig werden Nadelhölzer wie Fichte, Tanne, Kiefer und Lärche verwendet. Aufgrund der längeren Fasern gegenüber Laubhölzern verfilzen diese Fasern leichter und es ergibt sich eine höhere Festigkeit des Papiers. Aber auch Laubhölzer wie Buche, Pappel, Birke und Eukalyptus werden gemischt mit Nadelholz-Zellstoff eingesetzt. Sehr kurzfaserige Harthölzer werden nur für hoch ausgerüstete Spezialpapiere verwendet. Die Verfügbarkeit und die regionalen Gegebenheiten bestimmen hauptsächlich, welche Holzart als Primärrohstoff eingesetzt wird, wobei seit den 1960er Jahren große Mengen an Holz für die Papierherstellung mit sogenannten Holzspänetransportern weltweit über See verschifft werden. Allerdings muss beachtet werden, dass die Eigenschaften des gewinnbaren Zellstoffes mit der gewünschten Papierbeschaffenheit korrelieren. Schnellwüchsige Hölzer wie Pappeln kommen dem großen Bedarf entgegen, eignen sich jedoch nur für voluminöse, weiche und weniger reißfeste Papiere. Zellstoffe aus Laubhölzern haben kürzere und dünnere Fasern als jene aus Nadelhölzern. Entsprechend den späteren Anforderungen an das Papier werden unterschiedliche Mischungen von diesen Kurzfaser- und Langfaserzellstoffen beziehungsweise Hart- und Weichfaserstoffen eingesetzt. Die Steuerung der Eigenschaften kann geringfügig über den Aufschlussprozess und die spätere Mahlung variiert werden. So kann ein Fichtenzellstoff sowohl mit Natronlauge hart erkocht werden als auch langfaserig und weicher im Sulfatverfahren. ==== Altpapier ==== Zunehmend ist die Bedeutung von Altpapier als Sekundärrohstoff. Papierabfälle werden bis zu 100 % für weniger wertvolle Papiersorten eingesetzt. Bei Feinpapieren gewinnt moderner Deinkingstoff immer höhere Einsatzanteile. LWC-Papiere enthalten teilweise bis zu 70 % Altpapier-Stoff ohne nennenswerte Einbuße in der Gebrauchsfähigkeit. Altpapier hat in den 2010er Jahren einen Anteil von 61 % an den in Deutschland zur Produktion von Papier, Karton und Pappe eingesetzten Rohstoffen erreicht. Da Altpapier bereits einmal zu Papier verarbeitet wurde, enthält es viele Zusatzstoffe und wurde bereits gemahlen. Die Fasern werden durch die erneute Verarbeitung zu Papier weiter geschädigt, der Anteil der Zusatzstoffe im Verhältnis zu den Faserstoffen nimmt zu. In der Praxis werden Papierfasern im Schnitt nur fünf- bis sechsmal rezykliert. ==== Einjährige Pflanzen ==== In Europa und Amerika werden vereinzelt Weizen und Roggen zur Strohfasergewinnung genutzt. Grassorten aus Nordafrika wie Alfa- und Espartogras können verwendet werden. In Japan wird noch immer Reisstroh verwendet, in Indien ist es schnell wachsender Bambus. Mengenmäßig spielen diese Faserstoffe weltweit im Vergleich zu Zellstoff aus Holz keine große Rolle. Zellstoffe aus Einjahrespflanzen zeigen größtenteils Eigenschaften wie die typischen Nadelholzzellstoffe und werden deshalb als Surrogate für diese eingesetzt (etwa Espartogras statt Fichte). Hanf eignet sich zur Herstellung von Papier. ==== Hadern ==== Bis ins 19. Jahrhundert waren Hadern (Lumpen) in Europa der wichtigste Papierrohstoff. Hadernpapier wird noch für besondere und stark beanspruchte Papiere verwendet, insbesondere für Sicherheitspapiere (zum Beispiel Papiere für Banknoten, Wertpapiere, Briefmarken) oder als hochwertiges Schreibpapier und im künstlerischen Bereich für Aquarelle oder Kupferstiche. ==== Cellulose ==== Die Cellulose ist die eigentliche, qualitativ hochwertige Fasergrundlage eines jeden Papieres. Cellulose ist ein Polysaccharid mit der angenäherten chemischen Formel (C6H10O5)n, aus dem fast alle Zellwände von Pflanzen und Hölzern bestehen. Cellulose kann aus Holz, Altpapier, Einjahrespflanzen (beispielsweise Stroh) und Hadern gewonnen werden. Cellulosemoleküle bestehen aus hunderten bis zu zehntausenden, kettenförmig miteinander verknüpften Glukosemolekülteilen. Aus zwei Glukosemolekülen entsteht durch Abspaltung eines Moleküls Wasser (Kondensation) zunächst ein Cellobiose-Molekül. Die Kette wird durch ein weiteres Glukose- oder Cellobiosemolekül verlängert, wobei wiederum ein Molekül Wasser abgespaltet wird. Diese Reaktion führt Schritt für Schritt zu immer längeren Kettenmolekülen. Die Kettenmoleküle lagern sich an einander und bilden so Molekülbündel Mizellen. Zahlreiche dieser Bündel parallel nebeneinander ergeben eine Fibrille. Erst eine größere Anzahl Fibrillen bildet dann die sichtbare Cellulosefaser. Die Molekülbündel haben kristalline Bereiche mit regelmäßiger Molekül-Anordnung und amorphe Bereiche mit unregelmäßiger Molekülanordnung. Die kristallinen Bereiche sind für die Festigkeit und Steifheit, die amorphen Bereiche für die Flexibilität und Elastizität der Fibrillen und damit des Papiers verantwortlich. Die Länge der Ketten variiert je nach Papierrohstoff und ist für die Qualität und Alterungsbeständigkeit von großer Bedeutung. === Aufbereitung von Halbstoff === ==== Mechanische Aufbereitung ==== Weißer Holzschliff Weißschliff entsteht aus geschliffenen Holzstämmen. Dazu werden geschälte Holzabschnitte mit viel Wasser in Pressenschleifern oder Stetigschleifern zerrieben. (vergleiche auch Holzschleifer) Im gleichen Betrieb wird die stark verdünnte Fasermasse zu Papier verarbeitet oder zum Versand in Pappenform gebracht. Dies geschieht mit Entwässerungsmaschinen. Brauner Holzschliff Braunschliff entsteht, wenn Stammabschnitte erst in großen Kesseln gedämpft und dann geschliffen werden. Thermomechanischer Holzstoff Thermomechanischer Holzstoff (TMP) entsteht aus gehäckselten Holzabfällen und Hackschnitzeln aus Sägereien. Diese werden im TMP-Verfahren (Thermo-mechanical-Pulp-Verfahren) bei 130 °C gedämpft. Die Lignin-Verbindungen zwischen den Fasern lockern sich dadurch. Anschließend werden die Holzstücke in Refinern (Druckmahlmaschinen mit geriffelten Mahlscheiben) und Zusatz von Wasser gemahlen. Thermomechanischer Holzstoff hat im Vergleich zum Holzschliff eine gröbere Faserstruktur. Werden außerdem Chemikalien zugesetzt, handelt es sich um das chemo-thermomechanische Verfahren (CTMP). Durch rein mechanische Verfahren gewonnener Holzstoff (RMP) besteht nicht aus den eigentlichen Fasern, sondern aus zerriebenen und abgeschliffenen Faserverbindungen, diese werden verholzte Fasern genannt. Um die elementaren Fasern zu gewinnen, ist eine chemische Aufbereitung des Holzes notwendig. ==== Chemische Aufbereitung ==== Holzschnitzel werden in einem Kochprozess chemisch behandelt. Die Fasern werden durch zwölf- bis fünfzehnstündiges Kochen von den Inkrusten, den unerwünschten Holzbestandteilen, Begleitstoffen von Cellulose getrennt. Chemisch betrachtet besteht Holz aus: 40 % bis 50 % Cellulose 10 % bis 15 % Hemicellulose 20 % bis 30 % Lignin 6 % bis 12 % sonstigen organischen Stoffen 0,3 % bis 0,8 % anorganischen StoffenEs gibt das Sulfatverfahren, das Sulfitverfahren und das Natronverfahren, die nach den eingesetzten Kochchemikalien unterschieden werden. Das Organocell-Verfahren ist eine neue Entwicklung. Vor allem enthaltenes Restlignin färbt den Zellstoff nach dem Kochen gelblich bis braun, er muss also gereinigt und gebleicht werden. Restlignin und andere unerwünschte Stoffe werden beim Bleichen herausgelöst, chemische Aufhellung beseitigt Verfärbungen. Der gebleichte Zellstoff wird entwässert. Er wird nun entweder direkt zu Papier verarbeitet oder zu Rollen aufgewickelt. Die Ausbeute ist bei der Zellstoffherstellung geringer als bei der Holzstoffherstellung. Zellstofffasern aber haben den Vorteil, dass sie länger, fester und geschmeidiger sind. Aus Nadelholz gewonnene Zellstofffasern sind ca. 2,5 mm bis 4 mm lang, aus Laubholz gewonnene sind etwa 1 mm lang. Der größte Teil, ca. 85 % des benötigten Zellstoffs, vor allem Sulfatzellstoff, wird aus den skandinavischen Ländern, USA und Kanada importiert. Sulfatzellstoff ist im Vergleich zu Sulfitzellstoff langfaseriger und reißfester, somit wird er hauptsächlich für die Herstellung hochweißer Schreib- und Druckpapiere verwendet. Sulfitzellstoff findet überwiegend Verwendung bei der Herstellung weicher Hygienepapiere. ==== Zellstoffbleiche ==== Der Faserstoff muss gebleicht werden, damit daraus weißes Papier entstehen kann. Traditionell wurde der Zellstoff mit Chlor gebleicht. Das führt jedoch zu einer hohen Belastung der Abwässer mit organischen Chlorverbindungen (AOX). Modernere Verfahren ersetzten Chlor durch Chlordioxid für ECF-Zellstoffe (elemental chlorine free, ohne elementares Chlor). Aufgrund der höheren Oxidationswirkung und der besseren Selektivität von Chlordioxid sinkt die AOX Belastung um 60 bis 80 %. Wird vollständig auf Chlorverbindungen verzichtet und Sauerstoff, Ozon, Peroxoessigsäure und Wasserstoffperoxid verwendet, wird der Zellstoff mit TCF (totally chlorine free) bezeichnet. Papier aus ECF-Zellstoffen wird als chlorarm bezeichnet, (es sind noch Chlorverbindungen vorhanden). Chlorarme Druckpapiere sind in hochweißer Qualität schon ab einer flächenbezogenen Masse von 51 g/m² herstellbar, chlorfreie erst ab 80 g/m². TCF-Zellstoff hat eine geringere Faserfestigkeit als chlorgebleichter oder ECF. Vorwiegend aus Holzstoff hergestelltes Papier heißt holzhaltig, im Handel mittelfein. Da Lignin, Harze, Fette und Gerbstoffe im Faserbrei verbleiben, sind sie von geringerer Qualität als holzfreie Papiere. ==== Organocell-Verfahren ==== Das Anfang der 1990er Jahre in Kelheim erprobte, aber wirtschaftlich gescheiterte Organocell-Verfahren dient der schwefelfreien und damit umweltfreundlicheren Zellstoffproduktion. In mehreren Kochstufen werden die Holzschnitzel in einem Ethanol-Wasser-Gemisch unter Zusatz von Natronlauge bei Temperaturen von bis zu 190 °C unter Druck aufgeschlossen. Dabei lösen sich Lignin und Hemicellulose. Es folgen verschiedene Waschstufen, in denen der Zellstoff von der Kochflüssigkeit befreit wird, sowie das Bleichen und Entwässern. Der Zellstoff wird in drei Stufen gebleicht: im alkalischen Milieu mit Sauerstoff unter Verwendung von Wasserstoffperoxid mit Wasserstoffperoxid oder Chlordioxid mit WasserstoffperoxidEthanol und Natronlauge, die Kochchemikalien, werden in einem Recyclingverfahren, welches parallel zur Zellstoffproduktion abläuft, zurückgewonnen. Es werden schwefelfreies Lignin und schwefelfreie Hemicellulose gewonnen, die von der chemischen Industrie verwendet werden können. ==== Strohzellstoff ==== Durch Zerkleinern und Kochen in Natronlauge wird aus Stroh der Halbstoff Strohzellstoff oder, bei anderer Aufbereitung, gelber Strohstoff. ==== Kugelkocher und Pulper ==== Im Kugelkocher werden Hadern gekocht. Dazu werden sie zunächst sortiert, im Haderndrescher gereinigt. Mit Kalklauge und Soda werden die Hadern unter Dampfdruck von 3 bar bis 5 bar im Kugelkocher gekocht. Dabei werden Farbstoffe zerstört, Fett verseift und Schmutz gelöst. Während des mehrstündigen Kochens lockert sich das Gewebe der Hadern und sie lassen sich anschließend leicht zu Halbstoff zerfasern. Der Pulper (Stoffauflöser) ist eine Bütte mit rotierendem Propeller. In ihm wird nach Güteklassen sortiertes, zu Ballen gepresstes Altpapier mit viel Wasser zerkleinert und mechanisch aufgelöst. So werden die Fasern des Altpapiers geschont. Dieser Arbeitsgang wurde früher häufig mit dem Kollergang durchgeführt. Der pumpfähige Faserbrei ist noch verunreinigt. Er gelangt im Pulper in einen Zylinder und wird von einem Rotor zerfasert. Dann wird der grob gelöste Stoff durch ein Sieb gedrückt. Infolge der Zentrifugalkraft werden grobe Verunreinigungen ausgeschieden. An der Zylinderachse sammelt sich der leichte Schmutz. Weitere Fremdstoffe wie Wachse und Druckfarben werden in Spezialanlagen herausgelöst. ==== Entfärbung von Altpapier ==== Beim Deinking werden die Druckfarben mit Hilfe von Chemikalien (Seifen und Natriumsilicat) von den Fasern des Altpapiers gelöst. Durch Einblasen von Luft bildet sich an der Oberfläche des Faserbreis Schaum, in welchem sich die Farbbestandteile sammeln und abgeschöpft werden können. Dieses Trennverfahren heißt Flotation. ==== Faserstoffmahlung ==== Bei der Faserstoffmahlung werden die Halbstoffe in Refinern (Kegelstoffmühle) weiter zerfasert. Als dicker Brei fließt das Halbfertigprodukt im Refiner zwischen einer Messerwalze und seitlich befestigten Grundmessern hindurch. Die Fasern werden dabei zerschnitten (rösche Mahlung) oder zerquetscht (schmierige Mahlung), je nach Einstellung der Messer. Die Enden der gequetschten Fasern sind fibrilliert (ausgefranst), was bei der Blattbildung zu einer besseren Verbindung der Fasern führt. Weiche, voluminöse, saugfähige und samtige Papiersorten entstehen aus rösch gemahlenen Fasern, etwa Löschpapier. Schmierig gemahlene Fasern führen zu festen harten Papieren mit geringer Saugfähigkeit und wolkiger oder gleichmäßiger Transparenz wie für transparentes Zeichenpapier, aber auch Urkunden-, Banknoten- und Schreibmaschinenpapier.Außerdem können die Fasern bei der Mahlung lang oder kurz gehalten werden, wobei die langen Fasern stärker verfilzen als die kurzen. Es ergeben sich daraus vier verschiedene Möglichkeiten der Mahlung. Faserlänge und Mahlart bestimmen Faser- und Papierqualität. Übliche Kombinationen sind „rösch und lang“ oder „schmierig und kurz“. Die Messer des Refiners liegen bei der Kurzfasermahlung sehr eng aneinander, sodass fast kein Zwischenraum vorhanden ist. === Aufbereitung zum Ganzstoff === Zur Herstellung des Ganzstoffes gehören das Mischen der verschiedenen Halbstoffe sowie die Zugabe von Füllstoffen, Farbstoffen und weiteren Hilfsstoffen. ==== Füllstoffe ==== Neben den Faserstoffen werden bis zu 30 % Füllstoffe dem Ganzstoff hinzugefügt. Diese können sein: Kaolin (Porzellanerde, engl. China clay): In der Vergangenheit war Kaolin das bei der Papierherstellung am meisten verwendete Pigment. Kaolin bleibt über ein weites pH-Spektrum chemisch inert und kann deshalb nicht nur in sauren', sondern auch in alkalischen Produktionsverfahren verwendet werden. Etwa seit 1990 ist der Anteil des Kaolins bei der Papierherstellung jedoch deutlich zurückgegangen, da es sowohl als Füllstoff als auch als Streichpigment nach und nach durch Calciumcarbonat ersetzt wurde. Kaolin ist das bevorzugte Material bei der sauren Papierherstellung. Bei der sauren Papierherstellung ist der Einsatz von Calciumcarbonat nicht sehr verbreitet, da dieses aufgrund chemischer Reaktionen mit der Säure zerstört wird und deshalb die ihm zugedachte Funktion nicht mehr erfüllt. Im letzten Jahrzehnt war in der Papierindustrie ein Trend von der Verwendung von Kaolin hin zu Calciumcarbonat zu beobachten. Dieser Trend ist durch mehrere Faktoren verursacht worden: Zum einen durch die steigende Nachfrage nach weißerem Papier und durch die Weiterentwicklung von gefälltem Calciumcarbonat (PCC), die seinen Einsatz in Streichanwendungen für Papier und in mechanischen Druckverfahren erst ermöglichte, zum anderen durch die zunehmende Verwendung von Recyclingpapier, die stärkere und weißere Pigmente, die Carbonate, erforderlich macht. Talkum: Talkum verringert die Porosität von Papier und wird daher zur Verbesserung der Bedruckbarkeit ungestrichener Papiere eingesetzt. Seine Eigenschaften unterscheiden sich jedoch erheblich von denen des Calciumcarbonats. Durch die Verwendung von hochpreisigem Talkum zur Beeinflussung der Holzfaserkörnung werden die Laufeigenschaften des Papiers verbessert. Der Glanz und die erreichte Lichtstreuung liegen jedoch unter denen von Calciumcarbonat. Titanweiß (Titandioxid): Mit Titandioxid können eine hohe Opazität, eine gute Lichtstreuung und ausgezeichneter Glanz erzielt werden, aber dieses Material ist um ein Vielfaches teurer als Calciumcarbonat und wird daher nicht in standardmäßigen Füll- oder Streichanwendungen eingesetzt. Es wird für die Herstellung von hochwertigem Papier mit kleinen Auftragsmengen, wie für Bibeln, verwendet. Stärke Bariumsulfat: Blanc fix Calciumcarbonata) Gemahlenes Calciumcarbonat (GCC): Die chemische Formel CaCO3 bezeichnet einen Rohstoff, von dem es überall auf der Welt natürliche Vorkommen gibt. Trotz der Vielzahl der Lagerstätten sind nur einige von so hoher Qualität, dass der Rohstoff außer im Bausektor und im Straßenbau auch in der Industrie und in der Landwirtschaft verwendet werden kann. Die wichtigsten für die Herstellung von GCC verwendeten CaCO3-haltigen Materialien sind Sedimentgesteine (Kalkstein oder Kreide) und das metamorphe Gestein Marmor, die sowohl im Tagebau als auch unter Tage abgebaut werden. Anschließend werden in einem Siebeverfahren Schlamm und Verunreinigungen wie farbige Silikate, Graphit und Pyrit entfernt. Nach der Siebung wird der Rohstoff weiter zerkleinert und gemahlen, bis die für die betreffende Anwendung erforderliche Körnung erreicht ist. Marmorsplitt aus hochwertigen Lagerstätten kann ohne weitere Bearbeitung direkt an die GCC-Werke geliefert werden. GCC wird aus verschiedenen Quellen (Kalkstein, Kreide, Marmor) gewonnen und hat ein großes Helligkeitspektrum. Wenn ein hoher Helligkeitsgrad erforderlich ist, bevorzugt die Papierindustrie in der Regel Marmor. Kalkstein und Kreide können verwendet werden, haben jedoch einen niedrigeren Helligkeitsgrad. Als Füllstoff enthält GCC zu 40 bis 75 % Körner mit einer Größe von weniger als 2 µm. Mit der Umstellung von der sauren auf die alkalische/neutrale Papierherstellung hat GCC das Kaolin als führendes Füllstoffpigment abgelöst. GCC ist zwar ein wichtiger Papierfüllstoff, in Europa wird er jedoch in erster Linie als Papierstreichpigment verwendet. b) Gefälltes Calciumcarbonat (PCC): PCC ist ein synthetisches Industriemineral, das aus gebranntem Kalk oder dessen Rohstoff, Kalkstein, hergestellt wird. In der Papierindustrie, die der größte Abnehmer von PCC ist, dient das Material als Füllstoff und als Streichpigment. Im Gegensatz zu anderen Industriematerialien ist PCC ein synthetisches Produkt, das geformt und modifiziert werden kann, um dem herzustellenden Papier unterschiedliche Eigenschaften zu verleihen. Die physikalische Form des PCC kann sich im Reaktor erheblich verändern. Variable Faktoren sind unter anderem die Reaktionstemperatur, die Geschwindigkeit, mit der Kohlenstoffdioxidgas zugesetzt wird, und die Bewegungsgeschwindigkeit. Diese Variablen beeinflussen die Körnung und die Kornform des PCC, seine Oberflächengröße und Oberflächenchemie sowie die Korngrößenverteilung. Zwar ergeben sich daraus, dass mithilfe des PCC die Eigenschaften des Papiers gesteuert werden können (größere Helligkeit, Lichtundurchlässigkeit und Dicke als bei GCC), viele Vorteile, PCC kann jedoch nicht unbegrenzt als Füllstoff verwendet werden, da er die Faserfestigkeit reduziert. PCC wird auch als Papierstreichpigment verwendet, jedoch sind die verwendeten Mengen im Vergleich zu den Mengen des als Papierfüllstoff verwendeten PCC gering.Weitere Füllstoffe: In verschiedenen Anwendungen mit geringen Auftragsmengen kommen zahlreiche andere Minerale zum Einsatz. Dazu gehören Gips, Bentonit, Aluminiumhydroxid und Silicate. Diese Minerale werden jedoch nur in sehr geringem Umfang eingesetzt und erreichen lediglich einen Anteil von 3 % an den in der Papierindustrie eingesetzten Pigmenten.Durch das Ausfüllen der Zwischenräume zwischen den Fasern machen die Füllstoffe das Papier weicher und geschmeidiger und geben ihm eine glatte Oberfläche. Der Massenanteil der Füllstoffe drückt sich in der „Aschezahl“ aus. Bei Spezialpapieren, die, wie im Fall des „Theaterprogrammpapieres“, raschelfrei sein sollen, wird ein hoher Aschegehalt mit langen Fasern kombiniert. Zigarettenpapier wird stark gefüllt, damit es glimmt und nicht abbrennt. Die Zusammensetzung und Kristallstruktur der Füllstoffe bestimmen Transparenz und Opazität eines Papiers sowie die Farbannahme beim Druck mit wegschlagenden Farben. Für die Tintenfestigkeit hingegen ist Leim notwendig. Füllstoffe können teilweise die Eigenschaften der Farbstoffe übernehmen. Viele Pigmentfarbstoffe sind ein effektiver Füllstoff. ==== Farbstoffe ==== Auch weiße Papiere enthalten manchmal Farbstoffe, die in unterschiedlichen Mengen zugesetzt werden, denn optische Aufheller zählen zu den Farbstoffen. Es werden für Buntfarben vor allem synthetische Farbstoffe verwendet. Wichtig beim Papierfärben ist die Abstimmung des Farbsystems auf die Fasereigenschaften und das verwendete Leimungssystem. Grundsätzlich werden saure (substantielle, selbstaufziehende) Farbstoffe und alkalische oder saure Entwicklungs- also Verlackungsfarbstoffe eingesetzt. Erstere sind einfach in der Anwendung, reagieren aber empfindlich auf pH-Wert-Schwankungen mit mangelhafter Fixierung. Letztere neigen, der nötigen Fällungsreaktion wegen, zur Verlackung jenseits der Faser, sodass ein Großteil der Flotte unwirksamen Farbverlust aufweist. Farbstoffe reagieren vorzugsweise auf Cellulose oder Holzbestandteile, selten auf beides. Die Auswahl des richtigen Systems passend zum zu färbenden Zellstoff ist wichtig. Eine Sondergruppe stellen die natürlichen oder Pigmentfarbstoffe (Körperfarben) dar. Beide sind nur begrenzt wirksam, da sie meist durch Einlagerung im Lumen und durch Kapillarretention im Blatt gehalten werden. Intensivtönungen sind nur mit Küpenfärbung (Indigo) oder Rotpigmenten (Rotlack, Cochenille) möglich. ==== Leimungsstoffe ==== Leim macht das Papier beschreibbar, weil es weniger saugfähig und weniger hygroskopisch wird. Leimung ist in der Papiermacherei die Hydrophobierung der Fasern. Die Leimstoffe sind chemisch modifizierte (verseifte) Baumharze in Kombination mit sauren Salzen, wie Kalialaun oder Aluminiumsulfat. Auch Polymere auf Basis von Acrylaten oder Polyurethanen werden eingesetzt. Neben verschiedenen Harzen werden zunehmend ASA (Alkenyl Succinic Acids = Alkenylbernsteinsäureanhydride) und Alkylierte Ketendimere (AKD, Ketenleimung) zur Leimung von Papier eingesetzt. Die früher häufig verwendete, saure Leimung mit Harzsäuren und Alaun ist der Hauptgrund dafür, dass so geleimte Papiere bei der Archivierung zerstört werden. Das statt des Alauns benutzte Aluminiumsulfat kann durch überschüssige Restionen Schwefelsäure bilden, die wiederum die Cellulose zerstört. So wird die Leimung meist im neutralen oder schwach alkalischen pH-Bereich durchgeführt. Einige Papierfarbstoffe verlangen aber eine saure Leimung, wobei die Einstufung sauer oder alkalisch sich lediglich auf den prozessbedingten pH-Wert der Bütte bezieht, nicht auf das fertige Endprodukt. Die Wahl der Papierleimung wird ebenfalls durch nachfolgende Arbeitsschritte beeinflusst. Nach dem Bedrucken kann Bindemittel der Druckfarbe in das Papier wegschlagen, den Leimgrad senken und die Beschreibbarkeit des bedruckten Papiers deutlich verringern. Prinzipiell wird bei der Leimung zwischen Masseleimung und der Oberflächenleimung unterschieden. Bei der Masseleimung wird das Leimungsmittel der Flotte zugegeben, bei der Oberflächenleimung wird das schon fertige Papier beschichtet. Verseifte Harze, Alkylketendimere und ASA sind typische Masseleimungsmittel, polymere Leimungsmittel wie Gelatine oder Stärkederivate sind eher als Oberflächenleimungsmittel im Gebrauch. Über den möglichen Einsatz als effektives Masseleimungsmittel entscheiden vor allem die Eigenretention und der technisch mögliche Einsatz von Retentionschemikalien. ==== Nassfestmittel ==== Unbehandeltes Papier wird mechanisch unbeständig, wenn es feucht oder nass wird. Durch die Aufspaltung der Wasserstoffbrücken unter Wasserzutritt verliert das Faservlies seinen inneren Zusammenhalt. Papier wird deshalb als hydroplastisch bezeichnet. Um auch im nassen Zustand eine – wenn auch beschränkte – mechanische Festigkeit zu erhalten, werden dem Papier bei der Herstellung Nassfestmittel zugesetzt. Reißfestes Küchenkrepp dürfte das bekannteste Papier dieser Klasse sein, aber auch Kartons, Landkartenpapiere oder Sicherheitspapier für Geldnoten enthalten große Mengen Nassfestmittel. Nassfestmittel sind im Verarbeitungszustand wasserlösliche Polymere, die vorrangig aus Polyaminen und Epichlorhydrinderivaten hergestellt werden und mit den Papierfasern reagieren. Dabei bilden sich wasserunlösliche Quervernetzungen zwischen den Fasern, die den Papierfilz stabilisieren. Die kovalente Vernetzung verhindert jedoch ein erfolgreiches Recycling, so dass der zunehmende Einsatz von Nassfestmitteln im Hygienepapierbereich weitreichende Konsequenzen für die Altpapierverwertung hat. Der Anfall von unlösbaren Stippen im normalen Löseprozess ist beständig steigend. Werden Nassfestmittel (ähnlich wie Bitumenklebstoffe) chemisch aufgebrochen, so degradiert die Faser untypisch schnell. Die Altpapierqualität nimmt somit schneller ab als bei normalen Recyclingprozessen. Nassfestmittel dürfen nicht mit Leimungschemikalien (beispielsweise AKD) verwechselt werden, da der chemo-physikalische Wirkprozess verschieden ist. So ist etwa ein nassfestes, ungeleimtes Papier nach wie vor hoch kapillar, wohingegen ein überleimtes Papier sich trotzdem nach langem Wasserzutritt zerfasern lässt. ==== Weitere Hilfsstoffe ==== Zu den weiteren Hilfsstoffen zählen Entschäumer, Dispergiermittel, Retentionsmittel, Flockungsmittel und Netzmittel. === Papiermaschine === Auf der Papiermaschine wird die Papierbahn gebildet. Folgende Maschinenstationen sind hintereinander geschaltet: Stoffauflauf Siebpartie Nasspressenpartie Trockenpartie Aufrollung ==== Blattbildung ==== Die Blattbildung findet bei der industriellen Papierproduktion auf der Papiermaschine statt. Der gereinigte und entlüftete Papierbrei, welcher zu ca. 99 % aus Wasser besteht, wird im Stoffauflauf zu einem dünnen, möglichst gleichförmigen Strahl geformt. Dieser trifft bei Langsiebpapiermaschinen auf ein rotierendes, endloses Sieb (siehe dazu auch Metalltuch). Auf dem Sieb orientieren sich die Fasern vermehrt in dessen Bewegungsrichtung, was zu unterschiedlichen Eigenschaften des Papiers in Längs- und Querrichtung führt (siehe Laufrichtung). In der Siebpartie der Papiermaschine läuft innerhalb weniger Sekunden ein sehr großer Teil des Wassers ab und die Papierstruktur entsteht. Hierbei tragen unter dem Sieb angebrachte Sauger sowie Pulsationen erzeugende Foils zur Entwässerung des Faserstoffs bei. Oftmals wird versucht, die Temperatur der Suspension zu erhöhen (beispielsweise über Dampfblaskästen), was über eine niedrigere Viskosität ebenfalls die Entwässerung fördert. Soll das Papier ein Wasserzeichen enthalten, ist dieses in das Sieb eingearbeitet oder wird von oben mittels einer sogenannten Egoutteurwalze aufgebracht. Auf Langsiebpapiermaschinen gefertigtes Papier hat wegen der einseitigen Entwässerung in der Regel eine ausgeprägte Zweiseitigkeit: Die Oberseite ist glatter als die Unterseite, die Füllstoffe sind nicht gleichmäßig verteilt. Abhilfe verschafft hier teilweise die Entwässerung über ein zweites Sieb nach oben (sogenannte Hybrid-Former), die zudem die Gesamtentwässerungsleistung erhöht. Langsiebpapiermaschinen geraten jedoch spätestens ab Geschwindigkeiten von ca. 1200 m/min an physikalische Grenzen, da die erzeugten Luftverwirbelungen über dem Langsieb die Formation zerstören. Moderne Papiermaschinen, insbesondere für graphische Papiere und Tissue, produzieren jedoch mit Geschwindigkeiten von bis zu 2000 m/min bei Arbeitsbreiten von mehr als zehn Metern. Daher sind für diese Maschinen andere Stoffauflaufkonzepte entwickelt worden, sogenannte Gap-Former: Hierbei wird der Papierbrei direkt in einen Spalt zwischen zwei rotierende Siebe gespritzt. Neben der höheren Laufgeschwindigkeit bieten Gap-Former eine deutlich gleichmäßigere Entwässerung und damit verminderte Zweiseitigkeit. ==== Pressen und Trocknen ==== Am Ende des Siebes wird die weiche Papierbahn auf einen Filz übergeben und gelangt in die Pressenpartie. Traditionelle Pressenpartien bestehen aus drei bis vier aufeinanderfolgenden Pressen, in denen die Papierbahn mittels gegeneinandergepresster Walzen zwischen Filzen entwässert wird. Seit Anfang der 1990er Jahre hat sich jedoch zunehmend das Konzept der Schuhpresse durchgesetzt, bei der eine Walze den Filz und das Papier in einen polymerbespannten Schuh presst. Dies hat eine deutlich größere Niplänge zur Folge, womit sich eine schonendere und zugleich stärkere Entwässerung erzielen lässt. In der Trockenpartie findet schließlich die endgültige Entwässerung statt. Hier läuft die Papierbahn durch eine Anzahl dampfbeheizter Trockenzylinder und wird anschließend geglättet und aufgerollt. In einigen Fällen (hochglatte und scharf satinierte Papiere) wird vor dem endgültigen Aufrollen noch ein weiterer Glättungsschritt im Kalander vollzogen. ==== Gestrichenes Papier ==== Gestrichenes Papier (auch Kunst- oder Bilderdruckpapier) ist ein Papier, bei dem die Oberfläche mit einer aus Pigmenten, Bindemittel und Additiven bestehenden Streichfarbe („Strich“) veredelt ist. Das Papier bekommt eine geschlossene, glatte und stabile Oberfläche, wodurch eine bessere Qualität beim Druck erreicht wird. === Normmaße für Papier === Die bekanntesten international genormten Papierformate sind diejenigen der A-Reihe nach DIN 476 Papierformat, die seit 2002 teilweise durch EN ISO 216 ersetzt ist. In einigen Ländern wie den Vereinigten Staaten und Kanada werden andere Formate verwendet. === Papierverarbeitung === Zur Verarbeitung von Papier, insbesondere dem Zuschneiden auf bestimmte Formate, steht eine Reihe an Werkzeugen zu Verfügung. Von alters her Schere und Papiermesser, in neuerer Zeit Papierschneidemaschinen: Rollenschneider, überwiegend für den heimischen Gebrauch zur Zurichtung von einem oder wenigen Bögen an Papier (oder Photographien); meist bestehend aus einem Schnittbrett mit Linealfunktionen und einer Schnittleiste. Hebelschneider in verschiedenen Ausführungsgrößen vom Hausgebrauch bis zum kleingewerblichen Gebrauch etwa in Graphikstudios oder kleinen Copyshops, die mehrere Bögen gleichzeitig schneiden und auf einem eigenen Gestell montiert sein können, die über Sicherheitsmaßnahmen (Schutzhauben), Feinjustierungs- und/oder Feststellmechanismen verfügen können. Stapelschneider, die Papierstapel bis zu 80 mm (ca. 800 Bögen) schneiden, meist mechanisch im Handantrieb, oft 50 kg und mehr wiegen, über einen justierbaren Rückanschlag und Pressvorrichtungen zur Fixierung des Papiers verfügen. Die Schnittflächen variieren meist zwischen DIN A3 und größer. Der Antrieb ist mechanisch oder elektromechanisch. Schneidemaschinen und Planschneider für Druckereien oder industrielle Fertigung, heutigentags meist mit elektronischem Maßwerk, differenziertem Sicherheitssystemen (Zweihandbetrieb, Lichtschranken) und elektromechanischem Antrieb. == Papiermarkt == Weltweit werden jährlich 406 Millionen Tonnen (Stand: 2014) Papier, Karton und Pappe produziert. Die größten Produzenten (Stand: 2014) sind China (108 Millionen Tonnen), die USA (73 Millionen Tonnen), Japan (26 Millionen Tonnen) und Deutschland (22,5 Millionen Tonnen). Ein Drittel der Kapazitäten für die Papierproduktion weltweit entfällt auf die europäische Papierindustrie. Europa ist führend bei der Herstellung von Druck- und Schreibpapier, gefolgt von Asien und Nordamerika, und hat einen Anteil von knapp 26 % an der gesamten Papier- und Pappeproduktion. Durch die Konsolidierung der europäischen Papierindustrie im letzten Jahrzehnt ist die Zahl der Unternehmen, Papierfabriken und Papiermaschinen in Europa gesunken, die Produktionskapazität jedoch gleichzeitig erheblich gestiegen. Es wird geschätzt, dass die 20 größten Papierhersteller derzeit einen Anteil von fast 40 % an der weltweiten Papier- und Pappeproduktion haben. Der Umsatz der europäischen Papierindustrie betrug 2015 rund 79 Milliarden Euro. 180.000 Menschen arbeiten in der europäischen Zellstoff- und Papierindustrie. Neben großen Papierherstellern wie UPM-Kymmene, Stora Enso, International Paper, Svenska Cellulosa Aktiebolaget (SCA), Metsä Board, Sappi oder der Smurfit Kappa Group existiert eine große Zahl mittelgroßer und kleinerer Papierhersteller wie die Papierfabrik Palm oder die Kartonfabrik WEIG.Die deutsche Papierindustrie, deren Interessen durch den Verband Deutscher Papierfabriken (VDP) vertreten werden, ist mit einem Produktionsvolumen von 22,6 Millionen Tonnen (2015) an Papier, Karton und Pappe die Nummer eins in Europa und steht weltweit hinter China, den USA und Japan an vierter Stelle. Die rund 40.600 Mitarbeiter erwirtschaften in der deutschen Zellstoff- und Papierindustrie in 162 Werken einen Umsatz von 14,4 Milliarden Euro (2015), ein Plus von 0,9 % gegenüber dem Vorjahr. == Sorten == Etwa 3000 Papiersorten sind bekannt. Diese ergeben sich aus den vielfältigen Kombinationsmöglichkeiten bei den Rohstoffen, der Fertigung, der Verarbeitung und der Verwendung. == Eigenschaften == Quelle: === Allgemeine Eigenschaften === Hygroskopizität: Anpassung an die Feuchtigkeit der Umgebungsluft durch Adsorption (Feuchtigkeitsaufnahme) und Desorption (Feuchtigkeitsabgabe). Inhomogenität: Schwankungen bei der Faserorientierung, der Verteilung der Bestandteile, dem Füllstoffgehalt; unter Umständen auch ohne Mikroskop als „Wolkigkeit“ des Papiers erkennbar. Anisotropie: Abhängigkeit der Eigenschaften von der Richtung in der Papierebene, siehe unten zur Laufrichtung. Zweiseitigkeit (Unterschiede in der Beschaffenheit beider Papierseiten): Die Oberseite ist eher glatt, dicht, mit höherem Feinstoffanteil, sie wird auch Schönseite oder Filzseite genannt. Die Unterseite, auch Siebseite genannt, ist eher rau, porös, mit höherem Grobstoffanteil. Ursache ist die einseitige Entwässerung durch die Unterseite bei der Blattbildung in der Papiermaschine. Die Zweiseitigkeit bewirkt eine unterschiedliche Bedruckbarkeit der Seiten und oftmals auch eine Rollneigung des Papiers („Curl“). === Geometrische Eigenschaften === ==== Flächenbezogene Masse ==== Die Masse (bzw. umgangssprachlich das Gewicht) von Papier wird meist flächenbezogen angegeben – konkret in Gramm pro Quadratmeter (g/m²). Die flächenbezogene Masse (umgangssprachlich Flächengewicht oder Grammatur genannt) beträgt bei normalem Schreibpapier 80 g/m². Ein A4-Blatt hat damit eine Masse von 5 g. Drei dieser Blätter plus Briefumschlag liegen somit gerade unter der für einen Standardbrief erlaubten Masse von 20 g. 1000 Blatt A4-Papier wiegen 5 kg, 200.000 Blatt A4-Papier wiegen rund eine Tonne. Papier, Karton und Pappe werden vor allem anhand der flächenbezogenen Masse unterschieden (siehe oben). Im internationalen Papierhandel wird die flächenbezogene Masse (in g/m²) als Basisgewicht bezeichnet. In den USA und in Ländern, die Papiere in US-Formaten verwenden, versteht man dagegen unter dem Basisgewicht (engl. basis weight) die Masse von 500 Bogen. Die Angabe des Basisgewichts ist in den USA von den Maßen des Papierbogens abhängig. Papiere für den Buchblock von literarischen oder wissenschaftlichen Büchern haben üblicherweise 80–100 g/m² bei 1,0–1,8-fachem Volumen. ==== Dichte und Dicke ==== Die Dichte von normalem Schreibpapier liegt in der Größenordnung von 800 kg/m³, die Dicke eines einzelnen Blattes also bei 0,1 Millimetern. Dicke eines Einzelbogens, auch Stärke genannt (englisch caliper, Angabe in den USA in 1/1000 inch = 25,4 μm). Normen: DIN EN 20534, ISO 534 (Papier/Pappe); FEFCO 3 (Wellpappe). === Physikalische Eigenschaften === Grundsätzlich ist bei allen Messungen zu beachten, dass Luftfeuchtigkeit und Temperatur einen sehr großen Einfluss auf die Messwerte haben. Deshalb findet die Messung immer in Klimaräumen bei einem nach ISO-Normen festgelegten Normklima (23 °C, 50 % Luftfeuchtigkeit) statt. Meist wird die Papierprobe vor der Messung 24 Stunden in dem Raum gelagert, um sie zu akklimatisieren. Da die Messungen von der flächenbezogenen Masse des Papiers (auch Flächengewicht oder Grammatur genannt) abhängen, werden sogenannte Laborblätter mit einer nach ISO-Norm festgelegten flächenbezogenen Masse verwendet. Porosität: Die Porosität gibt an, wie viel Luft ein Papier durchlässt. Die Maßeinheit der Porosität lautet Gurley. Dazu wird das Normblatt in den Prüfapparat eingespannt und der Prüfapparat drückt 100 ml Luft mit 1,23 kPa durch eine Prüffläche von 6,42 cm² und misst die dafür benötigte Zeit. Eine Zeitdauer von einer Sekunde entspricht dabei einem Gurley. Glätte/Rauhigkeit nach Bekk (in GL (Bekk)s, ISO 5627), Parker Print Surf (PPS Rautiefe in μm, DIN ISO 8791-4), Bendtsen (in mPa·s, ISO 5636-3, DIN 53108), Gurley (in ml/min, ISO 5636-5) oder Sheffield (in ml/min, ISO 8791-3); optische Laser-Messung z. B. mit UBM-Microfocus (DIN 4768). Wasserbeständigkeit DIN 53122-1: gravimetrisch, -2 Wasserdampfdurchlässigkeit nach Brugger. Cobb-Test für das Wasseraufnahmevermögen nach DIN EN 20535, ISO 535 Witterungsbeständigkeit Feuchtigkeitsgehalt/-grad DIN EN 20287, ISO 287. Gleichgewichtsfeuchte Ölaufnahme, Ölabsorption nach Cobb-Unger; Fettdurchlässigkeit DIN 53116, ISO/DIS 16532-1. Saugfähigkeit, Absorptionsvermögen, Leimungsgrad (DIN 53126, Zellcheming V/15/60), Saughöhe (DIN ISO 8787, DIN 53106). Kontaktwinkel eines Flüssigkeitstropfens auf der Oberfläche Leitfähigkeit: Papier gilt allgemein als guter Isolator, weil es im trockenen Zustand gewöhnlich Wärme nicht gut und Strom nahezu gar nicht leitet. Wärmeleiteigenschaften: siehe Temperaturleitfähigkeit Stromleitfähigkeit: siehe Elektrische Leitfähigkeit Beschreibbarkeit Bedruckbarkeit Luftdurchlässigkeit DIN 53120-1 Aschegehalt, Glührückstand DIN 53136, 54370, ISO 2144. === Mechanische Eigenschaften === ==== Zugfestigkeit ==== Prüfungen nach DIN EN ISO 1924: Quotient (in kN/m) aus Bruchlast und Breite eines Papierstreifen; abgeleitet: Zugindex/-steifigkeit (in N/m); Zugsteifigkeitsindex (in Nm/kg) als Quotient aus Zugfestigkeit und Grammatur. Die Zugfestigkeit ist einer der zentralen physikalischen Werte bei der Papierherstellung, bei Kraftpapier ist sie sogar der wichtigste Wert. Die Maßeinheit der auf die Breite der Papierprobe bezogenen Zugfestigkeit ist N/m. Da die Zugfestigkeit vorwiegend von der flächenbezogenen Masse abhängt, wird auch der Zugfestigkeitsindex (ZFI) mit der Maßeinheit Nm/g verwendet. Zur Bestimmung dieses Wertes wird eine Zerreißprobe gemacht. Dazu werden Papierstreifen einer genormten Länge und Breite mechanisch eingespannt, der so genannte „Reißapparat“ zieht die Probe auseinander und zeichnet die benötigte Kraft auf. Die im Moment des Zerreißens benötigte Kraft ist die Zugfestigkeit. Um einen Durchschnittswert zu erhalten, werden meist zehn Streifen zerrissen, wovon fünf längs der Laufrichtung und fünf quer zur Laufrichtung der Papiermaschine genommen werden. Als Nebenprodukt dieser Messung werden noch die Bruchdehnung und die Zugbrucharbeit ermittelt. Die Bruchdehnung wird in Prozent angegeben und gibt an, um wie viel Prozent der Papierstreifen sich im Moment des Bruchs verlängert. Die Zugbrucharbeit wird in J/m² angegeben und ist die aufgewendete Zugkraft pro Papierfläche. ==== Spezifischer Weiterreißwiderstand ==== Durch-/Weiter-/Fortreißfestigkeit, Normen: ISO 1974, DIN 53115 (Brecht-Imset), DIN EN 21974 (grammaturbezogener Elmensdorf-Durchreißindex in mNm³/g). Die Maßeinheit des spezifischen Weiterreißwiderstandes ist mN·m²/g. Diese Maßeinheit gibt an, wie leicht ein Papier, das bereits eingerissen ist, weiterreißt. Dazu wird das Papier mit einem Schnitt versehen und in das Reißfestigkeitsprüfgerät (nach Elmendorf) eingespannt. Durch einen Knopfdruck wird ein blockiertes Pendel ausgelöst, welches die Probe im Zuge der Pendelbewegung zerreißt und dabei die Kraft misst. ==== Berstwiderstand ==== Druck (in kPa), dem ein Substrat nicht mehr standhält; abgeleitet ist der Berstfaktor (Druck durch Grammatur); Berstfestigkeit nach Mullen (DIN ISO 2758: Papier; DIN 53141-1: Pappe), nach Schopper (DIN 53113), an Wellpappe (ISO 2759, DIN/ISO 3689: nass, FEFCO 4). Der Berstwiderstand gibt den benötigten Druck an, um ein Papier zum Bersten zu bringen. Die Maßeinheit des Berstwiderstandes lautet kPa. Dazu wird das Normblatt in den Prüfapparat eingespannt und eine Membran mit genormter Fläche drückt mit ansteigender Kraft gegen das Papier. Der Druck, der zum Durchstoßen des Papiers erforderlich ist, wird Berstwiderstand genannt. ==== Spaltwiderstand/-festigkeit ==== Widerstand, den Papier, Karton oder ein Verbund einer senkrecht einwirkenden Dehnung (TAPPI T 541) oder einer Schiebebewegung (Scott-Bond-Test: TAPPI T 833 pm-94 und T 569, Brecht-Knittweis-Spaltwiderstand: DIN 54516) entgegensetzt. Der Spaltwiderstand gibt die aufzubringende Kraft an, welche benötigt wird, die Papierbahn in der Masse zu spalten. Dies wird gewöhnlich bei mehrlagigen Papieren angewandt, bei denen mehrere Papierbahnen nass (25–35 %) vergautscht wurden, so beispielsweise bei Faltschachtelkarton (FSK) oder besonders voluminösen Papieren (Rohdichte <1,5) wie bei Bierdeckeln. ==== Weitere mechanische Parameter ==== Biegesteifigkeit: ISO 5628, DIN 53121 Bruchwiderstand/Bruchlast: DIN53112 Bruch-/Zerreißdehnung: DIN EN ISO 1924-2 Curling, Wölbung: ISO 14968: Bogen aus Stapel DIN 6723-1/-2: Wölbneigung, DIN 6023: Wölbhöhe nach Brecht. Durchstoßwiderstand, Punktionsfestigkeit': ISO 3036, DIN 53142 Einreißwiderstand Elastizitätsmodul: DIN 53457 (E-Modul) Dehnung Falzbrechen: DIN 55437 Falzzahl: ISO 5626 (Doppelfalzzahl nach Schopper) Falzwiderstand: ISO 526 Randschrumpf Rupffestigkeit: gute Korrelation zwischen IGT- (ISO 3783) und Prüfbau-Rupftests Schnittkantenqualität: ISO 22414 Ringstauchwiderstand: ISO 12192 === Optische Eigenschaften === ==== Lichtundurchlässigkeit ==== Prozent-Verhältnis aus den Reflexionsfaktoren eines Einzelbogens über einer schwarzen Unterlage und eines Stapels aus mindestens 20 Bogen (DIN 53146, ISO 2471), ferner die Strahlungsdurchlässigkeit im UV-vis-Bereich (DIN 10050-9). Der Grad der Lichtundurchlässigkeit des Papiers bezieht sich auf seine Fähigkeit, Licht nicht durchscheinen zu lassen. Papier ist lichtundurchlässig, wenn das einfallende Licht zurückgestreut oder im Papier absorbiert wird. Je höher die Streuung des Lichts, umso lichtundurchlässiger ist das Papier. Lichtundurchlässigkeit ist eine erwünschte Qualität, die das Durchscheinen des Druckes minimiert. Ein Blatt mit 100-prozentiger Lichtundurchlässigkeit lässt überhaupt kein Licht durchscheinen und damit auch nicht den Druck, sofern die Druckfarbe nicht eindringt. Im Allgemeinen ist die Lichtundurchlässigkeit des Papiers umso geringer, je niedriger seine flächenbezogene Masse ist. Der Weißegrad und die Helligkeit des Füllstoffs, seine Kornstruktur und -größe, sein Brechungsindex und der Füllstoffgehalt sind Faktoren, die die Lichtundurchlässigkeit des Papiers bestimmen. ==== Helligkeit ==== Die Helligkeit ist ein Maß für die Licht reflektierenden Eigenschaften des Papiers, die die Wiedergabe von Kontrasten und Halbtönen beeinflussen. Der Unterschied zwischen dem Helligkeitsgrad, der durch Kaolin erzielt wird (80 bis 90 auf der ISO-Helligkeitsskala), und dem Helligkeitsgrad, der durch Calciumcarbonate erzielt wird (GCC über 90 und PCC 90-95), ist erheblich. ==== Weißgrad ==== Der Weißgrad ist ein technischer Kennwert für die Reflexionsfähigkeit des Papieres für weißes Licht. Er wird idealerweise mit einem Spektralphotometer gemessen. Aus der spektralen Verteilung wird der Zahlenwert nach verschiedenen Formeln berechnet. Für Papier wird meist der Weißgrad nach Berger genutzt. Bei einem normalen Kopierpapier ohne UV-sensible Aufheller liegt der Weißgrad nach Berger etwa bei 160. Durch optische Aufheller und Farbstoffe werden die Messergebnisse beeinflusst. Darum wird der Weißgrad üblicherweise unter Normlicht bestimmt, das gegenüber Tageslicht einen geringeren Anteil an kurzwelliger UV-Strahlung hat. Handelsübliche weiße Papiere sind meist aufgehellt. Unter Normlicht gemessene neutralweiße Papiere sehen so unter Glühlampenlicht gelblicher, im sonnigen Tageslicht oder unter Leuchtstofflampen dagegen bläulich-weiß aus. Der Weißgrad gibt lediglich den Unbuntanteil einer gemessenen Fläche bezogen auf eine ideal weiße oder ideal schwarze Fläche an. Bei zwei Papieren, die messtechnisch den gleichen Weißgrad besitzen, kann ein sichtbarer Farbstich bestehen, der den subjektiven Weißeindruck verfälscht. Menschen empfinden leicht gelbliches oder rötliches Papier als weniger weiß, also grauer gegenüber einem leicht bläulichen oder grünlichen des gleichen Weißgrades. Der Weißgrad wird als Standardprüfung in der Papierproduktion verwendet. Um unerwünschte Farbstiche zu vermeiden, ist vom Anwender neben dem Weißgrad auch der Farbstich des Papieres zu beachten. Den Effekt der „Weißgraderhöhung“ durch optische Verschiebung wird unter anderem beim „Bläuen“ des Papieres ausgenutzt. Durch Zugabe blauer Pigmente wird ein Gelbstich verringert. Beim sogenannten „Drücken“ wird ein zu weißes Papier durch Zugabe roter oder brauner Pigmente gebrochen. In beiden Fällen nimmt der technische Weißgrad leicht ab, der subjektive Weißeindruck jedoch wird beim Bläuen erhöht und beim „Drücken“ verringert. ==== Weitere optische Eigenschaften ==== Glanzkennwerte 45°DIN-Glanz 75°DIN-Glanz 75°TAPPI-GlanzFarbkennwerte LAB-Wert CIE-Weiße R457-Reinheit WeißgehaltKubelka-Munk-Werte: Bestimmung des Lichtstreuungs- und Absorptionskoeffizienten Absorptionsvermögen Streuvermögen Opazität TransparenzFarbstich: Abweichung vom Papierweiß (ISO 11958, DIN 55980: absoluter Farbstich DIN 55981: relativer Farbstich ISO 11475: Tonabweichungszahl vom CIE-Weißgrad) Farbton, Färbung: Farbmaßzahlen für getönte Substrate, z. B. CIE L*a*b* bzw. Farbunterschied Delta E* (ISO 7724, DIN 5033 oder 53140 oder mit Elrepho DIN 53145), diffuser Reflexionsfaktor (ISO 2469, für C/2° ISO 5631). Lichtechtheit: DIN EN ISO 105-B02, Xenotest Alpha Mottling-Test: Bildanalyse-Verfahren (Mottling Viewer von Only Solutions), mit dem die Wolkigkeit von Papieren bewertet wird Transparenz: DIN 53147 Vergilbung: DIN 6167 === Laufrichtung === Während bei der Papierherstellung von Hand die Fasern gleichmäßig in allen Richtungen liegen, tritt bei der maschinellen Papierherstellung auf einem Endlossieb eine (teilweise) Ausrichtung der Fasern längs des Bandes auf. Die Längsrichtung des Bandes in der Papiermaschine, auch Maschinenrichtung genannt, entspricht somit der bevorzugten Richtung der Fasern. Im Papier ist dies die Laufrichtung. Die Querrichtung liegt quer zur Laufrichtung. Die Querrichtung ist zugleich die Richtung der Faserdicke, so dass in Querrichtung eine etwa dreifache Quellung und Schwindung des Papieres gegenüber der Laufrichtung auftritt. In Querrichtung ist das Papier dehnbarer als in Laufrichtung. Im Papierhandel und in der Druckerei werden Lauf- und Querrichtung durch die Begriffe Schmalbahn und Breitbahn einem Format zugeordnet: Breitbahn (SG): Blatt, bei dem die kurze Kante parallel zur Maschinenlaufrichtung verläuft Schmalbahn (LG): Blatt, bei dem die lange Kante parallel zur Maschinenlaufrichtung verläuftDieses Wissen ist wichtig für die anzuwendende Formatlage bei verschiedenen Maschinenbauarten und zu beachtenden Weiterverarbeitungsprozessen (Falzlagen, späteres Buchformat). So kann der Passer in Umfangsrichtung innerhalb der Druckmaschine verstellt werden, in Querrichtung hingegen nicht. Bei Offsetarbeiten mit hohem Feuchtmittelanfall muss also die erste Platte in der Maschine kürzer eingerichtet werden als die letzte und das Papier muss in Breitbahn laufen, so dass die Quellung von Werk zu Werk passgenau ausgeglichen werden kann. In Katalogen und auf Preisetiketten wird das Maß quer zur Laufrichtung unterstrichen oder fett ausgezeichnet oder zuerst genannt. Üblich sind auch die Abkürzungen SB (Schmalbahn) und BB (Breitbahn) oder ein Pfeil, der die Laufrichtung markiert. In Abhängigkeit von der vorherrschenden Faserrichtung beeinflussen Feuchtigkeit, Temperatur und Alterung das Papier. Bei einer ungleichmäßigen Ausrichtung ändert somit jede Karte im Laufe der Zeit und mit dem Wechsel der Witterung bzw. des Raumklimas ihren genauen Maßstab unterschiedlich in den beiden Richtungen. Nur durch spezielle beziehungsweise geschichtete Papiersorten kann dieser Effekt bei maschinell produzierten Papieren verringert werden. Bei der Herstellung von Büchern (und anderen aus Papier bestehenden Gegenständen) ist darauf zu achten, dass die Laufrichtung aller Seiten, des Buchdeckel- und Überzugmaterials parallel zum Buchrücken verläuft, da Papier sich immer quer zu seiner Laufrichtung ausdehnt bzw. schrumpft. Andernfalls bricht das Buch leicht an der Bindung auseinander bzw. lässt sich schlecht durchblättern. Wird beim Verkleben von Papier und Pappe die Laufrichtung der zu kombinierenden Materialien ignoriert, kommt es zu wellenartigen Verwerfungen, die irreversibel sind. Zur Prüfung der Laufrichtung gibt es mehrere praxisbezogene Methoden. Durch das Aufeinanderkleben mehrerer Papierschichten abwechselnder Laufrichtung entsteht starres Papier (vergleichbar zum Sperrholz), wie bei den mindestens dreilagigen Bristolkarton. === Alterungsbeständigkeit === Die Anforderungen bezüglich der Alterungsbeständigkeit von Büchern sind in den so genannten Frankfurter Forderungen der Deutschen Bibliothek und der Gesellschaft für das Buch, sowie in der US-Norm ANSI/NISO Z 39.48–1992 und ISO-Norm 9706, beschleunigte Alterung (Simulation: ISO 5630, DIN 6738) fixiert.Ein alterungsbeständiges Papier soll folgende Kriterien erfüllen: Das Naturpapier oder das Streichrohpapier muss aus 100 % gebleichtem Zellstoff (ohne verholzte Fasern) hergestellt sein, einen pH-Wert von pH 7,5 bis pH 9 aufweisen, einen Calciumcarbonatanteil von mindestens 3 % als zusätzlichen Schutz gegen schädigende Umwelteinflüsse beinhalten, Calciumcarbonat-Puffer (CaCO3-Puffer), einen definierten Durchreißwiderstand längs und quer von 350 mN haben bei Papieren mit einer flächenbezogenen Masse ab 70 g/m², eine hohe Oxidationsbeständigkeit aufweisen, ausgedrückt in der Kappa-Zahl.Als Orientierungshilfe für die Alterungsbeständigkeit von gestrichenen und ungestrichenen Papieren wurden Lebensdauerklassen (LDK) ausgearbeitet. LDK 24 bis 85: Diese Papiere dürfen „Alterungsbeständig“ genannt werden LDK 12 bis 80: Einige 100 Jahre Lebensdauer LDK 6 bis 70: Mindestens 100 Jahre Lebensdauer LDK 6 bis 40: Mindestens 50 Jahre LebensdauerEntgegen der Normung werden auch alterungsbeständige Recyclingpapiere angeboten, da durch Forschungsergebnisse nachgewiesen wurde, dass sich Holzschliff und Alterungsbeständigkeit nicht ausschließen. So sind zum Beispiel Recycling-Kopierpapiere auf dem Markt, die die Vorgaben nach der Lebensdauerklasse LDK 24 bis 85 erfüllen und auch über eine Alkalireserve in Form von Carbonat verfügen. == Verwendung == Papier wird vorwiegend zum Beschreiben und Bedrucken sowie, meist als Pappe oder Karton, zum Verpacken verwendet. Der Anteil dieser beiden Papiergruppen an der Papierproduktion in Deutschland betrug im Jahr 2015 38 % bzw. 49 %. Mit großem Abstand folgen Hygienepapiere mit einem Anteil von 6 % sowie die technischen Papiere und Spezialpapiere mit einem Anteil von 6 %. === Schreib- und Druckpapiere === Beim Beschriften oder Bedrucken wird ein Farbstoff (beispielsweise Tinte, Toner und Druckfarbe) mit einem Gerät auf Papier aufgetragen. Dies kann von Hand mit einem Federkiel, einem Füllfederhalter, einem Bleistift, einem Buntstift, einem Filzstift oder einer Schreibmaschine geschehen. Seit der Erfindung des Buchdrucks gibt es Maschinen, die einen Text seitenweise auf Papier übertragen können. Mit der im 19. Jahrhundert erfundenen Druckmaschine ist dies millionenfach möglich. Es werden verschiedene Druckverfahren eingesetzt: Buchdruck, Tiefdruck oder Offsetdruck. In Büros werden Tintenstrahldrucker oder Laserdrucker für kleinere Seitenzahlen eingesetzt. Während anfänglich der zur Verfügung stehende Rohstoff nur wenige unterschiedliche Papiereigenschaften zuließ, kann mittlerweile Papier weitestgehend den verschiedenen Anforderungen angepasst werden: gestrichenes Bilderdruckpapier zum Kunstdruck, Zeitungsdruck als billiges, reißfestes Papier und holzfreies ungestrichenes Papier als Kopierpapier. === Verpackungspapiere === Karton wird vorwiegend als Kartonage verwendet. Mit einer Kunststoffbeschichtung und eventuell einer Aluminiumfolie als Zwischenlage kann sie als Getränkekarton sogar Flüssigkeiten verpacken. Die am meisten verbreitete Pappe ist die Wellpappe, die in den vielfältigsten Sorten vorkommt. Pappe und Kartons werden vorwiegend aus Recyclingpapier produziert. Das Papier mit der größten relativen Zugfestigkeit wird Kraftpapier genannt. Es besteht zu beinahe 100 % aus langfaserigen Zellstofffasern von Nadelhölzern. Es wird besonders für Papiersäcke verwendet. === Hygienepapiere === Hygienepapiere sind feinporige und saugfähige Papiere, die auf speziellen Papiermaschinen mit einem einzigen Trocken- oder Kreppzylinder mit 4-5 Meter Durchmesser hergestellt werden. Typische Produkte sind nur einmal verwendbare Toilettenpapiere, Papiertaschentücher, Küchenrollen und Papierservietten. Diese Papiere können aus Zellstoff oder aus Recyclingpapier hergestellt werden. === Technische und Spezialpapiere === Zu dieser vielfältigen Gruppe von Papieren zählen unter anderem Filterpapiere (z. B. Luftfilter für Fahrzeuge und Staubsauger), Kabelisolierpapiere, medizinische Papiere, Zigarettenpapier und Thermopapiere. Papiere finden sich ebenfalls in Metallpapierkondensatoren und Elektrolytkondensatoren, wo sie als Isolator oder Träger des flüssigen Elektrolyten dienen. === Bildende Kunst === Pappmaché ist ein Gemisch aus Papier, Bindemittel und Kreide oder Ton, das im 18. Jahrhundert als Ersatz für Stuck in der Innenausstattung verwendet wurde. So gab es eine Manufaktur, in der aus alten Akten für das Schloss Ludwigslust Deckenverzierungen, Büsten und sogar Statuen, die wenige Monate im Freien aufgestellt werden konnten, hergestellt wurden. Papier findet sich im Modellbau, in der japanischen Papierfaltkunst Origami und bei Collagen und Assemblagen. Aquarellpapier für Aquarelle hat eine flächenbezogene Masse von bis zu 850 g/m². Fotopapier muss speziell beschichtet werden, damit es als Träger für die Fotoemulsion oder zum Einsatz für Tintenstrahldrucker geeignet ist. === Luxuspapiere === Dies ist die Bezeichnung für veredelte, geschmückte und verzierte, oft aufwendig bearbeitete Papiererzeugnisse die von etwa 1820/1860 bis 1920/1930 hergestellt wurden, als es eine eigene Luxuspapierindustrie gab. Zur Veredlung wurden eine Reihe von Bearbeitungsverfahren eingesetzt, wie Kolorierung als Hand- und Schablonenkolorierung, Farbendruck als Chromolithografie, Gold- und Silberdruck, Prägen (Gaufrieren) und Stanzen, das Aufbringen von Fremdmaterialien, wie Glimmer, Seide sowie das Anbringen von Laschen, Klappen und Mechanismen bei Spielzeugen. Unter Luxuspapiere fallen Andachts- und Fleißbildchen, viele Ansichts- (Leporello), Gelegenheits- (Glückwunsch-, Weihnachts- und Neujahrskarten) und Bildpostkarten (Motivkarten), verzierte Briefbogen, Etiketten, allerlei Papierspielzeug (Papiertheater), Reklamemarken und Sammelbilder und vieles mehr. Solche Luxuspapiere sind Sammelobjekte. In Japan und China wird Papier in der Inneneinrichtung in vielfältiger Weise verwendet, beispielsweise die japanischen Shōji, mit durchscheinendem Washi-Papier bespannte Raumteiler. === Fliegen mit Papier === Es gibt Flugdrachen aus Papier in China, seitdem es dieses Material gibt. Die 1783 erbaute Montgolfière der Gebrüder Montgolfier war ein Heißluftballon aus Leinwand, der mit einer dünnen Papierschicht luftdicht verkleidet war. Im Zweiten Weltkrieg produzierte Japan ca. 10.000 Ballonbomben aus Papier, die mit Lack gasdicht gemacht wurden und Brand- und Sprengsätze (5 bis 15 Kilogramm) über den Pazifik nach Amerika transportierten. Im Flugzeugmodellbau wird Papier als Bespannung (Spannpapier) von Tragflächen in Holm-Rippen-Bauweise und für Flugzeugrümpfe verwendet. Dazu wird es aufgeklebt, mit Spannlack getränkt und überlackiert, sobald durch Trocknen die nötige Oberflächenspannung erreicht ist. Des Weiteren wird Papier zum Basteln von Papierfliegern benutzt. Dazu wird das Papier in eine einem Flugzeug ähnelnde Form gefaltet. === Textilien === Papier kann zu Textilien verarbeitet werden, einerseits direkt aus Papier, andrerseits kann es in Streifen geschnitten, versponnen und zu Textilen verwebt werden. Bei dem in den 1970er Jahren auf den Markt gekommenen „Papierkleid“ handelte es sich allerdings um speziell gefertigte Vliesstoffe, die billiger als Kleiderstoffe waren. == Umweltaspekte und Recycling == Wie jede industrielle Produktion verbraucht auch die Papierherstellung Ressourcen. In der Diskussion stehen dabei die Themen Holz, Wasser und Energie sowie der Papierverbrauch in der Gesellschaft insgesamt. === Recycling === Altpapier ist der wichtigste Rohstoff für die deutsche Papierindustrie. Die Altpapier-Einsatzquote betrug 78 Prozent im Jahr 2019, d. h., für die Produktion einer Tonne Papier wurden durchschnittlich 780 kg Altpapier eingesetzt. Das Altpapier stammt je zur Hälfte aus gewerblichen und haushaltsnahen Sammlungen. Deutschland ist Nettoimporteur von Altpapier. Die Entsorgungswirtschaft stellt der Papierindustrie Altpapier in 40 Handelsklassen zur Verfügung. Das Altpapier wird von der Papierindustrie in eigenen Anlagen gereinigt und wieder in der Papierproduktion eingesetzt. === Holz === Als Primärfaser wird für die Zellstoff- und Papierherstellung vor allem Holz genutzt. Rund 20 % des weltweit eingeschlagenen Holzes werden zu Papier verarbeitet. In Deutschland werden vereinzelt Grasfasern eingesetzt. Das hier eingesetzte Holz stammt aus Durchforstungen oder fällt als Nebenprodukt in Sägewerken an. In Europa dienen seit Jahrhunderten Wirtschaftswälder der Rohstoffversorgung. In Deutschland wird der Wald schon seit über 300 Jahren nachhaltig genutzt. Zellstoff wird hier aus heimischem und grenznahem Importholz hergestellt. Die deutsche Papierindustrie bezieht Zellstoff aus Plantagen in Spanien und Portugal und aus Südamerika. Für diese Pflanzungen wurden keine Naturwälder gerodet. Sie wurden auf früher landwirtschaftlich genutzten Flächen angelegt, die nicht mehr produktiv waren. Zur Dokumentation einer nachhaltigen Forstwirtschaft unterstützt die Papierindustrie deren Zertifizierung. Dies macht den Waldschutz für Kunden und Konsumenten nachprüfbar.  Die deutsche Papierindustrie ist deshalb Mitglied bei den beiden großen Zertifizierungssystemen, dem „Programme for the Endorsement of Forest Certification Schemes“ (PEFC) und dem „Forest Stewardship Council“ (FSC). Die europäische Papierindustrie hält sich zudem streng an die Regeln der Europäischen Holzhandelsverordnung, die die Einfuhr von Holz oder Zellstoff aus illegalem Einschlag verbietet. === Energie === Die Papierindustrie benötigt Energie für den Betrieb ihrer Anlagen, vorwiegend, um das bei der Herstellung benötigte Wasser wieder aus der Papierbahn zu entfernen. Rund die Hälfte der benötigten Energie stammt bereits aus erneuerbaren Energiequellen und die Branche arbeitet allein aus Kostengründen ständig daran, den Energieverbrauch immer weiter zu reduzieren. Lag der spezifische Energieverbrauch 1955 noch bei rund 8200 kWh/t, beträgt er heute nur noch rund 2645 kWh/t. Das entspricht einer Einsparung von 68 Prozent. Trotz aller Anstrengungen zählt die Papierindustrie zu den energieintensiven Industrien und wäre ohne Ausnahmeregelungen – z. B. durch die besondere Ausgleichsregelung für stromintensive Unternehmen beim Erneuerbaren Energiegesetz – international nicht wettbewerbsfähig. === Wasser === Wasser wird in der Papierherstellung z. B. als Dispergier- und vor allem als Transportmittel für die eingesetzten Fasern verwendet. Wasser wird in der Papierproduktion auch für die Reinigung der Bespannung oder das Kühlen von Zylindern genutzt. Rund 250 Mio. Kubikmeter Frischwasser setzt die deutsche Papierindustrie im Jahr ein. 72 Prozent davon stammen aus Oberflächengewässern, 27 Prozent aus Brunnen oder Quellen. Lediglich 1 Prozent wird der örtlichen Trinkwasserversorgung entnommen. Die Entnahme und Rückführung von Wasser unterliegen in Deutschland strengen Auflagen. Zuvor waren insbesondere durch die Chlorbleiche in die Umwelt eingetragene chlororganischen Verbindungen von großem öffentlichen Interesse. Nicht nur, dass das Wasser selbst aufbereitet werden muss, die meisten Bundesländer erheben zudem Entgelte für die Entnahme. Rechtsgrundlage ist die EU-Wasserrahmenrichtlinie, die die Maßstäbe für die Abwasserbehandlung nach dem aktuellen Stand der Technik vorgibt. Der Einsatz von Wasser ist also für die Papierindustrie nicht nur eine ökologische, sondern auch eine ökonomische Frage. Entsprechend werden auch die Prozesse optimiert und die Kreisläufe immer weiter geschlossen. Die spezifische Abwassermenge pro Kilogramm Papier, die gemeinhin als Messgröße für den Wasserverbrauch in der Papierindustrie genannt wird, lag noch in den 1970er Jahren des vergangenen Jahrhunderts bei knapp 50 Litern und sank in den 2010er Jahren aufetwa 7 Liter pro Kilogramm Papier. Der Verband Deutscher Papierfabriken erhebt diese Daten regelmäßig in eine Abwasser- und Rückstandsumfrage. Rund 30 Prozent der Abwässer aus der Papierproduktion werden – nach einer Vorreinigung – an kommunale Kläranlagen abgegeben. Die restlichen 70 Prozent werden in betriebseigenen Anlagen mechanisch und biologisch gereinigt. Immerhin 4 Prozent der Papierproduktion stammt aus Werken, die ihren Wasserkreislauf völlig geschlossen haben, was aber nur mit salz- und härtearmen Wasserqualitäten und für geeignete Anwendungen möglich ist. === Papierverbrauch === Der individuelle Pro-Kopf-Verbrauch an Papier liegt in Deutschland laut einer Studie von INTECUS bei etwa 100 kg, gesamtwirtschaftlich bei etwa 240 kg. Der im internationalen Vergleich relativ hohe Papierverbrauch hängt vor allem mit der wichtigen Rolle von Papier, Karton und Pappe in der Logistik der exportstarken deutschen Wirtschaft zusammen, die das Material für ihre Transport- und Produktverpackungen benötigt. == Schädlinge und Konservierung == === Tierische Schädlinge === Silberfischchen und Papierfischchen fressen Papier oberflächlich an und verursachen im weiteren Verlauf Löcher. Besonders viele Schäden verursachen auch Anobien, deren Larven durch ihre Fraßgänge das Papier schwächen, bzw. ab einer höheren Befallsdichte zerstören. Auch andere Käfer schädigen Bücher aus Papier direkt oder indirekt. Ein weiterer, allerdings nicht so bedeutender tierischer Schädling ist die Bücherlaus, die sich parthenogenetisch fortpflanzt und somit schnell massenhaft feucht gewordene Papiere befallen kann. Mindestens genauso zerstörend wirken Mikroorganismen. Unter den Pilzen sind Schimmelpilze von großer Bedeutung, die ebenfalls durch Feuchtigkeit begünstigt werden und beispielsweise infolge von Wasserschäden auftreten können. Schließlich zählen Nager zu den tierischen Schädlingen, die Papier zum Nestbau verwenden. === Chemische Schadstoffe === Aus bestimmten Inhaltsstoffen von Papieren (z. B. Aluminiumsulfat, das bei der sauren Masseleimung eingesetzt wurde) können Säuren gebildet werden, die das Papier zerstören. === Konservierung === Ein wichtiger Schritt bei der Konservierung nass gewordenen Papiers ist die umgehende Gefriertrocknung. Um dem sauren Abbauprozess entgegenzuwirken, wurden automatisierte Masseentsäuerungsanlagen gebaut, in denen das „saure“ Papier neutralisiert und eine alkalische Reserve eingebracht wird. == Papierforschung == Gründe zur Papierforschung ergeben sich aus sehr verschiedenen wissenschaftlichen Ansätzen. Neben technischen Fragestellungen der Papierindustrie sind das auch komplexe Themen in historischen Bibliotheks- und Archivbeständen. Dazu gehören beispielsweise die Herkunftsorte historischer Papiere einschließlich ihrer Wasserzeichen sowie das Alterungsverhalten aus konservatorischer und restauratorischer Sicht. Auf diesem Gebiet sind weltweit zahlreiche wissenschaftliche Bibliotheken und einige private Institutionen tätig. Die industrielle Papierforschung wird in Deutschland gebündelt in der Papiertechnischen Stiftung (PTS), die im Jahr 1951 gegründet wurde und von den Unternehmungen der Papierindustrie gefördert wird. Es werden Auftragsforschungen und Dienstleistungen für die Papierindustrie und deren Zulieferfirmen erbracht. Darüber hinaus betreiben verschiedene Zulieferer eigenständige Forschungsanlagen. Die Technischen Universitäten in Darmstadt und Dresden, die Fachhochschule München sowie die Duale Hochschule Baden-Württemberg in Karlsruhe bilden Papieringenieure aus. Forschungsschwerpunkte in Darmstadt sind Recyclingverfahren sowie Wasserkreisläufe; in Dresden wird vornehmlich zu Energieeffizienz sowie Oberflächeneigenschaften geforscht. Eine weitere Forschungsanlage betreibt der größte Hersteller für chemische Produkte zur Papierherstellung, die BASF in Ludwigshafen, teilweise in Partnerschaft mit der Omya. == Literatur == === Bücher === Josep Asunción: Das Papierhandwerk. Verlag Paul Haupt, Bern/Stuttgart/Wien 2003, ISBN 978-3-258-06495-6. Jürgen Blechschmidt (Hrsg.): Papierverarbeitungstechnik. 2. Auflage, Fachbuchverlag, 2013, ISBN 978-3-446-43802-6. Paul Ludger Göbel: Papier als Werkstoff in der Bildenden Kunst. Eine Bestandsaufnahme der Moderne und die gestalterischen Möglichkeiten für den Kunstunterricht. Dissertation, Universität Potsdam 2007 (Volltext). Wolfgang Walenski: Das PapierBuch. Verlag Beruf + Schule, Itzehoe 1999, ISBN 3-88013-584-3.Geschichte des Papiers Klaus B. Bartels: Papierherstellung in Deutschland. 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In: Historisches Lexikon der Schweiz.Industrieverbände Verband Deutscher Papierfabriken (VDP) Hauptverband Papier- und Kunststoffverarbeitung (hpv) Austropapier – Vereinigung der Österreichischen Papierindustrie Confederation of European Paper Industries == Einzelnachweise ==
https://de.wikipedia.org/wiki/Papier
Leopard
= Leopard = Der Leopard (Panthera pardus), auch Panther oder Panter, ist eine Art aus der Familie der Katzen, die in Afrika und Asien verbreitet ist. Darüber hinaus kommt sie auch im Kaukasus vor. Der Leopard ist nach Tiger, Löwe und Jaguar die viertgrößte Großkatze. Auf der Roten Liste gefährdeter Arten der IUCN sind Leoparden in der Vorwarnliste als Vulnerable ‚gefährdet‘ klassifiziert. Das Wort Leopard stammt über das lateinische leopardus vom altgriechischen λεόπαρδος leopardos ab, das sich aus λέων leon, deutsch ‚Löwe‘ und πάρδος pardos, deutsch ‚Panther‘ zusammensetzt. == Merkmale == Maße und Gewicht des Leoparden sind innerhalb des großen Verbreitungsgebietes sehr unterschiedlich. Generell sind waldbewohnende Leoparden meist kleiner und gedrungener, die der offenen Lebensräume in der Regel schlanker und größer. Der Leopard wird 90–190 cm lang, den 60–110 cm langen Schwanz nicht mitgerechnet. Männliche Leoparden wiegen im Schnitt 58 kg und haben eine Schulterhöhe von 70–80 cm. Sehr große Exemplare können bis zu 90 kg schwer werden. Weibchen sind kleiner und wiegen durchschnittlich nur 38 kg. Kleine Weibchen messen nur 45 cm an der Schulter. In der Kapregion in Südafrika kommen relativ kleine Leoparden vor. Männchen wiegen hier nur 20–45 kg. === Fellzeichnung === Die Fellzeichnung ist je nach Unterart oft sehr verschieden, aber auch innerhalb eines Gebietes treten individuelle Unterschiede auf. Fast immer zeigt das Fell Rosetten, die besonders in Längsrichtung des Rückens reihenförmig angeordnet sind. An der Brust und am unteren Hals findet man häufig statt nebeneinander stehender Rosetten Erdbeerflecken, die in einer Richtung angeordnet sind und wie Halsbänder wirken. An der Oberseite des langen Schwanzes setzen sich die Rosetten entlang der Mittellinie fort. Zum Schwanzende werden die Rosetten immer weniger ausgeprägt, können aber manchmal noch zu mehreren Querringen verschmelzen. Die Schwanzunterseite ist allerdings zum Ende hin sehr hell bis weiß. Der Bauch und die oberen Beininnenseiten sind ebenfalls frei von Rosetten und weiß, gelblich-weiß oder in grau übergehend gefärbt. Weiter zu den Pranken hin sind Vollflecken zu finden, die nach unten zu immer kleiner werden. Am Kopf und oberen Hals und Nacken sind ebenfalls nur schwarze Vollflecken vorhanden. Waldleoparden sind im Allgemeinen intensiver gefärbt als Leoparden offener Landschaften. === Schwarze Panther === In großen Höhenlagen und im tropischen Regenwald findet man manchmal Schwärzlinge, die auch Schwarzer Panther genannt werden. Die Ausprägung des schwarzen Fells ist erblich und wird über ein einziges Gen (monogenetisch) rezessiv vererbt. Damit kann die Erbanlage auch bei einem normal gefleckten Leoparden vorhanden sein oder es können in einem Wurf Schwärzlinge neben normal gefärbten Jungtieren vorkommen. Bei schräg einfallendem Licht kann man jedoch auch bei schwarzen Leoparden die typischen Rosetten erkennen. In einigen Gebieten, etwa auf der Malaiischen Halbinsel, sind bis zu 50 Prozent aller Leoparden schwarz. In Afrika traten Schwärzlinge am häufigsten im Äthiopischen Bergland auf. 2019 wurden Aufnahmen von schwarzen Leoparden in Afrika veröffentlicht, bei der von Medien fälschlicherweise behauptet wurde, dies sei erstmals seit 1909 eine solche Sichtung in Afrika. === Sinnesorgane === Die Ohren sind gerundet. Der Gehörsinn ist ausgezeichnet entwickelt. Leoparden können sehr hohe, für Menschen nicht mehr hörbare Frequenzen bis zu 45.000 Hertz wahrnehmen. Die Augen sind nach vorn gerichtet und weisen eine breite Überschneidung der Sehfelder auf. Das ermöglicht ihnen ein ausgezeichnetes räumliches Sehen. Bei Tag entspricht das Sehvermögen eines Leoparden in etwa dem eines Menschen, in der Nacht verfügt der Leopard jedoch über ein fünf- bis sechsfach besseres Sehvermögen: Leoparden können die runde Pupille sehr weit öffnen, sodass mehr Licht ins Auge gelangen kann; weiterhin besitzen Leoparden wie alle Katzen eine reflektierende Schicht hinter der Netzhaut, das sogenannte Tapetum lucidum, das durch Rückspiegelung die Lichtausbeute steigert. Auch der Geruchssinn ist hervorragend ausgeprägt. == Lebensraum == === Verbreitungsgebiet === Der Leopard war in geschichtlicher Zeit über ganz Afrika beiderseits der Sahara sowie über große Teile Asiens verbreitet. In Afrika lebt er sowohl in den zentralen Regenwäldern als auch in den Gebirgen, Savannen und Halbwüsten von Marokko bis zum Kap der Guten Hoffnung. Lediglich die großen, wasserlosen Wüsten meidet der Leopard und fehlt daher naturgemäß in der Sahara und den trockensten Regionen der Namib. In Asien bewohnt er die Nadelwälder am Amur ebenso wie die Tropen Indiens und Südostasiens. Hier dringt er im Südwesten bis auf die Arabische Halbinsel, nach Israel und Anatolien vor und im Südosten bis auf die Insel Java. Er fehlt allerdings auf Sumatra und Borneo, sowie in den wasserlosen Kernwüsten Asiens, wie etwa der Rub al-Chali. Fossilfunde zeigen jedoch, dass der Leopard einst auch Sumatra bewohnt hat. Die Nordgrenze des asiatischen Verbreitungsgebietes verläuft heute vom Kaukasus über Nordpersien, Afghanistan und Kaschmir, entlang des Himalaya bis zum Amurfluss in Ostsibirien. In vorgeschichtlicher Zeit gab es Leoparden auch in Mitteleuropa. Hier verschwanden sie aber bereits am Ende der Eiszeit. In Griechenland lebten sie noch in historischer Zeit. Der Leopard hat von allen sieben Großkatzen das größte Verbreitungsgebiet. === Bestandsverhältnisse === In vielen Gegenden sind Leoparden heute allerdings ausgestorben. Hierzu zählen Marokko, die Sinai-Halbinsel und die Insel Sansibar. In anderen Regionen, wie dem Kaukasus und der Amurregion ist ein Aussterben wohl kaum noch zu verhindern. Auf der arabischen Halbinsel gibt es weniger als 250 freilebende, ausgewachsene Individuen in zersplitterten Populationen, davon 50–100 in Oman (2013). Noch geringer sind die Bestandszahlen in Anatolien und Palästina. Im Kaukasus überleben nach Schätzungen des WWF noch knapp 50 Individuen, deren Schutz derzeit Objekt großer Bemühungen ist. Im Iran und in Turkmenistan leben nur wenige hundert Exemplare des Persischen Leoparden, in Pakistan und Bangladesch sind Leoparden heute ebenfalls sehr selten. In China gibt es Leoparden fast nur noch in isolierten Restbeständen. In Indien leben dagegen Schätzungen zufolge noch etwa 14.000 Leoparden. Die meisten Leoparden leben heute in Afrika, südlich der Sahara. Hier wird die Zahl der Leoparden auf bis zu 700.000 (Stand 1988) geschätzt. == Lebensweise == === Ernährung === Was Leoparden fressen, richtet sich in erster Linie nach dem Nahrungsangebot des jeweiligen Lebensraumes. So haben Leoparden ein außerordentlich breites Beutespektrum, das von Käfern über Reptilien bis hin zu Vögeln und Großsäugern reicht. Wenn irgendwie möglich, versuchen Leoparden aber, Säugetiere im Gewicht von 30 bis 50 Kilogramm zu erbeuten. Meist handelt es sich dabei um mittelgroße Huftiere. Je nach Region sind seine Hauptbeutetiere Hirsche wie Axishirsch und Sikahirsch oder Antilopenarten wie Sasins, Schirrantilope oder Impala. Einen relativ großen Teil seiner Nahrung machen kleinere Raubtiere wie Mangusten oder Schakale aus. Er wagt sich aber auch an so wehrhafte Tiere wie Wildschweine, Buschschweine, Stachelschweine und Paviane, die er normalerweise im Schutze der Nacht überfällt. Zebras sind als Beute bereits zu groß, aber gelegentlich reißt er ein unvorsichtiges Fohlen dieser Einhufer. ==== Jagdweise ==== Meist werden Leoparden als nächtliche Jäger angesehen, doch wurde bisher keine generelle Vorliebe für bestimmte Jagdzeiten gefunden. Der Zeitpunkt einer Jagd hängt wohl mit der Verfügbarkeit der Beutetiere in seinem Jagdrevier zusammen. Grundsätzlich kann man bei Leoparden zwei prinzipiell verschiedene Jagdweisen beobachten: die Anschleichjagd und die eher passive Lauerjagd. Anschleichjagden gehören zu den häufigsten Jagdmethoden des Leoparden. Leoparden sind zwar schnell im Antritt und überwinden mit wenigen Sätzen etliche Meter, doch schon auf mittleren Distanzen sind ihnen die meisten Beutetiere an Geschwindigkeit überlegen. Die Katze versucht daher so nahe wie möglich unbemerkt an ihr Opfer heranzukommen, um den Abstand vor dem Angriff zu verkürzen. Bei der Anschleichjagd erbringen Leoparden oft enorme Leistungen. In der Kalahari und anderen kargen Wüstengegenden müssen sie sich über enorme Strecken fast ohne Deckung an ihre Opfer heranschleichen. Die reine Lauerjagd, bei der der Jäger auf sein Opfer wartet, ist bei Leoparden ebenfalls eine häufig zu beobachtende Jagdmethode. Leoparden, die den Tag auf Bäumen verbringen, benutzen diese oft als erhöhten Ansitz. Mit bemerkenswerter Geduld lassen sie Herden grasender Tiere in geeigneter Größe an sich oder gelegentlich direkt unter ihrem Ausguck vorbeiziehen oder weiden. Wenn der Ast, auf dem der Leopard ruht, nicht zu hoch ist, kann er direkt von oben auf seine Beute springen. Meistens verlässt er aber vor dem eigentlichen Angriff den Baum. Er klettert dazu vorsichtig an der für das auserwählte Opfer nicht sichtbaren Seite des Baumstammes herab und sucht Deckung hinter dem Stamm oder – wenn vorhanden – hinter anderer dichter Vegetation. Dabei können sie nach sehr langer Wartezeit auf einem Ast des Baumes noch einmal dieselbe Zeit am Fuß des Baumes zubringen, um auf solche Tiere zu warten, die sie von oben über längere Zeit bei der Annäherung zu dem betreffenden Baum beobachtet haben. Es liegen keine Beobachtungen oder Berichte darüber vor, ob Leoparden sich ihre Opfer bereits zu Beginn der Anschleich- oder auch Ansitzjagd auswählen oder ob sie es mehr dem Zufall überlassen, welches Tier einer Gruppe sie töten wollen. Nicht zuletzt aufgrund des Stellreflexes von Katzen haben Leoparden kaum Verletzungen bei Sprüngen oder Stürzen von Bäumen zu befürchten. Gelegentlich stöbert der Räuber seine Beute auch einfach beim Umherstreifen im Revier auf und überrascht sie. Abseits liegende Kitze von Hornträgern oder sich reglos an den Boden drückende Hasen werden oft rein durch Zufall im Vorübergehen entdeckt, und nicht gezielt angeschlichen. Leoparden nehmen auch mit Aas vorlieb oder vertreiben schwächere Raubtiere, wie Geparden, von ihrem Riss. ==== Beutesicherung ==== Manchmal wird dem Leoparden seine selbst erlegte Beute von Löwen, Tüpfelhyänen oder Schabrackenhyänen abgenommen, die meist durch Geier aufmerksam werden. Daher versucht er seine Beute in der Regel in ein schützendes Dickicht zu zerren oder sie auf einen Baum zu bringen. Er frisst den Riss von der Unterseite her an, bis schließlich nur noch Kopf, Hals und Rücken vorhanden sind. Nach dem Mahl bedeckt er seine Beutereste, wenn sie am Boden liegen, mit Gras, Zweigen oder Laub, indem er dieses bedeckende Material mit allen vier Beinen darüber scharrt. === Fortbewegung === Die normale Fortbewegungsart ist der Schritt im typischen Kreuzgang. Bei dieser Gangart werden die einander diagonal gegenüber liegenden Beine gleichzeitig angehoben und wieder aufgesetzt. In dieser Fortbewegungsart können Leoparden große Strecken zurücklegen. Schneller ist der Trab, mit dem Leoparden kurze Strecken zurücklegen. Bei der Anschleichjagd kann es vorkommen, dass die ersten 10 bis 30 Meter im Trab zurückgelegt werden, wobei der Körper sich zunehmend mehr duckt. Hier spricht man auch vom Schleichlauf. Auf der Jagd wird dieser Schleichlauf dann durch das Schleichkriechen abgelöst, bei dem der Bauch schon fast den Boden berührt und ein ganz langsamer Schritt eingehalten wird, der in jeder Phase unterbrochen werden kann. Das geschieht meistens dann, wenn das angeschlichene Beutetier aufmerksam wird. Der Leopard bleibt in dieser Position, bis die Wachsamkeit des Opfers nachlässt und er weiter schleichen kann. Im Sprint kann ein Leopard mehr als 60 km/h erreichen. Der ist vor allem in der Endphase einer Jagd zu beobachten; so benutzt er für die letzten Meter nach dem Anschleichen oder aus dem Ansitz heraus die raumgreifenden Sprünge, bei denen er meistens mit beiden Hinterbeinen zugleich losspringt. Mit so hoher Geschwindigkeit können Leoparden allerdings nur kurze Strecken überwinden. Eine besondere Fortbewegungsart ist das Erklettern von Bäumen und das Umherklettern auf Ästen verschiedener Dicke innerhalb der Baumkrone. Beim Erklettern des Baumes werden die Krallen, die normalerweise eingezogen sind, ausgefahren und fixieren den schweren Leopardenkörper selbst an einem glatten, senkrechten, dicken Stamm, indem sie tief in die Rinde eindringen. Ein steiler Baum wird in Sprüngen bezwungen. Die Vorderbeine werden weit gespreizt und können dicke Stämme so geradezu umarmen. Häufig macht der Leopard gerade vom Boden aus einen besonders großen Sprung nach oben, der schon den Schwung für die weiteren Sprünge liefert. Beim Absteigen von einem Baum geht der Leopard so lange vorwärts wie die Äste oder Stämme nicht ganz senkrecht sind. Bei wirklich steilen Bäumen, die keinerlei Halt geben, erfolgt der Abstieg so lange rückwärts, bis ein Abstand vom Erdboden erreicht ist, den der Leopard springend überwinden kann. Dazu dreht er sich am Baumstamm um, macht eventuell noch einen Abstieg von ein bis zwei Metern und springt dann aus zwei bis vier Metern Höhe herunter. Leoparden sind auch gute Schwimmer. Es wurden Leoparden beobachtet, die den Tag auf einer Insel in einem Fluss verbrachten und zur Jagd zurück ans Ufer schwammen. === Territorialverhalten === Leoparden sind typische Einzelgänger. Die Streifgebiete benachbarter Leopardinnen überlappen sich teilweise erheblich. Die viel größeren Streifgebiete männlicher Leoparden können sich mit denen mehrerer Weibchen überschneiden. Nach einer Studie im Kruger-Nationalpark beanspruchen Männchen je nach Beutetierdichte etwa 16–96 Quadratkilometer und Weibchen 5–30 Quadratkilometer. In sehr kargen, beutearmen Regionen können die Streifgebiete auch um einiges größer sein. Das Territorium wird markiert und gegen gleichgeschlechtliche Artgenossen unter Drohverhalten und notfalls im territorialen Kampfverhalten verteidigt. Ein Territoriumsinhaber kann sich das Privileg des Zugangs zu Sexualpartnern, aber auch zu Nahrungsquellen, Wasserstellen, Schattenplätzen und Deckungsmöglichkeiten sichern. In erster Linie markieren Leoparden ihr Revier durch Urin und Kot, aber auch akustisch durch ihr charakteristisches Sägen – ein Laut, der an Holzsägen erinnert. Darüber hinaus kennzeichnen sie die Reviergrenzen auch optisch durch Kratzspuren an Bäumen oder am Boden. Die Markierung hat einerseits die Funktion, Artgenossen fernzuhalten und andere Tiere über die Anwesenheit des Territoriumsinhabers zu informieren, andererseits dient sie aber auch der Strukturierung des Streifgebiets. Geruchliches Markieren erleichtert dort das Zurechtfinden. === Fortpflanzung === An wenigen Tagen duldet ein weiblicher einen männlichen Leoparden in seiner Umgebung: wenn sie im Östrus und somit 6–7 Tage lang zur Paarung bereit ist. Dann durchstreift sie mit großer Unruhe vor allem das Kerngebiet ihres Streifgebietes und markiert unzählige auffällige Stellen wie Bäume, Felsen, Felsbrocken, Büsche und Grasbüschel mit Urin und kratzt mit ihren Hinterläufen am Boden. Mit diesen Duftmarken und visuellen Hinweisen lockt sie den männlichen Leoparden des Territoriums an. Nicht selten wälzen sich paarungswillige Leopardinnen in den Harnstellen männlicher Leoparden. Sie rollen sich dann auf diesen Duftmarken im Gras hin und her und versuchen, möglichst viel Fell damit in Berührung zu bringen. Die Bezeichnung Rolligkeit für dieses Verhalten ist sehr treffend. Die beiden bleiben 8–9 Tage lang zusammen und paaren sich wiederholt. Während dieser Zeit jagen sie auch zusammen und teilen sich mitunter auch die Beute. Wird die Leopardin in diesen Tagen nicht trächtig, wiederholt sich ihr Östrus 25–28 Tage später. Nach einer Tragzeit von 90 bis 105 Tagen bringt sie zwei bis vier Jungen zur Welt, die je etwa 500 g wiegen. Eine feste Geburtensaison ist bei Leoparden in Ostafrika und in den Waldgebieten nicht bekannt. Im Kruger-Nationalpark fallen die Geburten der Leoparden meist zusammen mit der Geburtenhäufung der Impala-Antilopen, die dort die wichtigste Beute der Leoparden sind. Als Geburtsort dienen unzugängliche Verstecke. In weiten Teilen Afrikas sind das Höhlen in Felsen, aufeinander liegende Felsblöcke, buschbestandene Bodenvertiefungen oder Strauchdickichte. Solche Plätze und ihre Umgebung dienen dann später auch der Jungenaufzucht. Im Wald lebende Leoparden benutzen zur Aufzucht oft ausgehöhlte Baumstämme. === Aufzucht der Jungen === Gelegentlich wurde beobachtet, dass männliche Leoparden auch nach der Paarung bei ihrer Partnerin blieben und sich sogar an der Aufzucht der Jungen beteiligten. Doch in der Regel kümmern sich nur die Mütter um ihre Jungen. Leoparden beginnen durchschnittlich im Alter von 2 bis 3 Monaten Fleisch zu fressen. Sie sind dann schon in der Lage, der Mutter ein paar hundert Meter hinterherzulaufen, doch manchmal bringt auch in diesem Alter die Mutter den Riss noch zu den Jungen. Junge Leoparden verlassen ihre Mütter etwa im Alter zwischen 13 und 18 Monaten, männliche meist früher als weibliche Jungtiere. Die Lösung des Mutter-Kind-Verhältnisses erfolgt erst, nachdem die Jungtiere in der Nahrungsversorgung unabhängig geworden sind. Im Allgemeinen bleiben junge Leoparden noch für unterschiedlich lange Zeit im Streifgebiet der Mutter. Weiblicher Nachwuchs kann sogar das eigene Streifgebiet in der Nachbarschaft zu dem der Mutter mit mehr oder weniger großer Überlappung lebenslang etablieren. Männliche Jungleoparden pflegen auch in weite Entfernungen auszuwandern. == Systematik == Der Leopard gehört zur Gattung Panthera. Genetischen Untersuchungen zufolge sind seine nächsten Verwandten der Jaguar und der Löwe. Vor etwa 1,9 Millionen Jahren spaltete sich die Jaguar-Linie von Löwe und Leopard ab, die sich erst vor 1 bis 1,25 Millionen Jahren voneinander trennten. Der Schneeleopard wurde ursprünglich meist an der Basis der Gattung Panthera gesehen, neuere molekulargenetische Untersuchungen legen jedoch nahe, dass er die Schwesterart des Tigers ist. Ursprünglich wurden vor allem anhand der Fellfärbung 27 Unterarten des Leoparden beschrieben. Im Jahr 2009 erschienenen Raubtierband des Handbook of the Mammals of the World werden noch folgende Unterarten anerkannt: Afrikanischer Leopard (P. p. pardus (Linné, 1758)) – lebt in Afrika, hauptsächlich südlich der Sahara, schließt die als Berberleopard bekannten Populationen im Norden Afrikas mit ein † Sansibar-Leopard (P. p. adersi Pocock, 1932) – lebte bis 1991 auf der ostafrikanischen Insel Sansibar und ist dort höchstwahrscheinlich ausgerottet worden Äthiopischer Leopard (P. p. adusta Pocock, 1927) – Hochland von Äthiopien Persischer Leopard (P. p. ciscaucasicus (Satunin, 1914)), später als (P. p. saxicolor Pocock, 1927) beschrieben – lebt in Teilen Vorderasiens und Zentralasiens: im Kaukasus, Turkmenistan, im Norden Irans und evtl. noch im Südosten der Türkei und ist stark gefährdet P. p. dathei – Zentrum und Süden Irans Indochinesischer Leopard (P. p. delacouri Pocock, 1930) – lebt in Myanmar, Thailand, Malaysia, Laos, Kambodscha, Vietnam und im Süden der Volksrepublik China; Indischer Leopard (P. p. fusca (Meyer, 1794)) – lebt auf dem Indischen Subkontinent: in Indien, Südost-Pakistan, Nepal und Bhutan Chinesischer Leopard (P. p. japonensis (Gray, 1862)) – lebt im nördlichen China und ist stark gefährdet P. p. jarvisi – Sinai Sri-Lanka-Leopard (P. p. kotiya Deraniyagala, 1956) – lebt in Sri Lanka und ist stark gefährdet. Westafrikanischer Leopard (P. p. leopardus (Schreber, 1777)) – Regenwälder Zentral- und Westafrikas Südafrikanischer Leopard (P. p. melanotica (Günther, 1775)) – Südliches Afrika Java-Leopard (P. p. melas Cuvier, 1809) – lebt in Java und ist stark gefährdet Somalia-Leopard (P. p. nanopardus (Thomas, 1904)) – Trockengebiete Somalias Arabischer Leopard (P. p. nimr (Hemprich & Ehrenberg, 1833)) – lebt auf der Arabischen Halbinsel und ist vom Aussterben bedroht Amurleopard (P. p. orientalis (Schlegel, 1857)) – lebt im östlichen Sibirien und ist vom Aussterben bedroht; Berberleopard (P. p. panthera (Schreber, 1777)) – Nordafrika P. p. pernigra – Kaschmir, Nepal, Sichuan Kamerun-Leopard (P. p. reichenowi Cabrera, 1918) – Savannengebiete Kameruns Ruwenzori-Leopard (P. p. ruwenzori (Camerano, 1906)) – Ruwenzori- und Virungaberge P. p. saxicolor – nördlicher Iran, südliches Turkmenistan, östliches Afghanistan Balutschistan-Leopard (P. p. sindica Pocock, 1930) – lebt im Zentrum und im Süden von Pakistan und möglicherweise auch im Südosten von Afghanistan Ostafrikanischer Leopard (P. p. suahelicus (Neumann, 1900)) – Ostafrika zwischen Kenia und Mosambik Anatolischer Leopard (P. p. tulliana (Valenciennes, 1856)) – Westteil der Türkei, vom Aussterben bedrohtGenetische Studien zeigen jedoch, dass sich alle asiatischen Leoparden auf sieben Unterarten zurückführen lassen. Die afrikanischen Leoparden lassen sich in einer einzigen lebenden Unterart (Panthera pardus pardus) zusammenfassen. Nach einer im Jahr 2017 veröffentlichten und von der Cat_Specialist_Group der IUCN durchgeführten Revision der Katzensystematik werden die folgenden Unterarten anerkannt: Afrikanischer Leopard (P. p. pardus (Linné, 1758)) – umfasst alle afrikanischen Leoparden Indischer Leopard (P. p. fusca (Meyer, 1794)) – auf dem Indischen Subkontinent Java-Leopard (P. p. melas Cuvier, 1809) – auf Java Arabischer Leopard (P. p. nimr (Hemprich & Ehrenberg, 1833)) – in wenigen Rückzugsgebieten auf der Arabischen Halbinsel Persischer Leopard (P. p. tulliana (Valenciennes, 1856), Syn.: P. p. saxicolor Pocock, 1927 u. P. p. ciscaucasica (Satunin, 1914)) – Vorderasien Amurleopard (P. p. orientalis (Schlegel, 1857)) (Syn.: P. p. japonensis (Gray, 1862)) – im östlichen Sibirien und in China Indochinesischer Leopard (P. p. delacouri Pocock, 1930) – festländisches Südostasien Sri-Lanka-Leopard (P. p. kotiya Deraniyagala, 1956) – auf Sri LankaFossile Unterarten: † Panthera pardus spelaea (Bächler, 1936) – Eine ausgestorbene Unterart, die im Jungpleistozän Europas vorkam und vor etwa 24.000 Jahren ausstarb. == Leopard und Mensch == Berührungspunkte zwischen Leopard und Menschen gab es bereits in der Frühzeit der Menschwerdung. Schon in der Olduvai-Schlucht in Nord-Tansania wurden während umfangreicher Ausgrabungen Skelette von Leoparden neben denen von Frühmenschen gefunden. Nach anthropologischen Forschungen ist es durchaus wahrscheinlich, dass diese Vorfahren der heutigen Menschen ihren Fleischbedarf als marginale Aasfresser deckten. Sie ernährten sich von den Resten der Beute aller Raubtiere sowie auch von verendet aufgefundenen Tieren. Sie nahmen dabei wohl auch dem Leoparden seine Beute ab. Da er ein Einzeljäger ist, dürfte es wesentlich leichter gewesen sein, einen Leoparden von seinem Riss zu vertreiben als ein Löwenrudel von seiner Beute. Seit 186 v. Chr. wurden Leoparden meist aus Afrika und Kleinasien für Venationen und Tierkämpfe nach Rom geliefert. Die Leopardenjagd wurde bereits von Homer beschrieben. Zum Fang dienten Fallgruben und Giftpfeile. Gezähmte Leoparden kannte man in Indien, in den Diadochenstaaten und am römischen Kaiserhof. In den letzten Jahrhunderten waren die Beziehungen zwischen Leopard und Mensch überwiegend durch die wirtschaftlichen Interessen des Menschen bestimmt. Einmal gefährdete der Leopard die Haustiere und man hielt ihn sogar für einen gefährlichen menschenfressenden Nachbarn, dann war sein Pelz ein begehrenswertes Handelsobjekt für luxuriöse Kleidung. Schließlich war die Sportjagd überseeischer Großwildjäger eine Einnahmequelle für die Landeigner, in deren Regionen Leoparden vorkamen. Erst in den letzten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts begann man die außerordentliche Ästhetik dieser eleganten, geschmeidigen Großkatze zu würdigen. Zu Beginn des 21. Jahrhunderts interessieren sich inzwischen viele Menschen mehr für die faszinierende Lebensweise und die Eleganz des Leoparden, als für dessen Abschuss aus Mode- oder Statusgründen. So gehört er zum Beispiel zu den Big Five, den fünf Hauptattraktionen einer Afrika-Safari. Nachdem durch das Artenschutzabkommen der Fellhandel unter Kontrolle gekommen ist und sich das Modebewusstsein gewandelt hat, konnte auch die Wilderei auf Leoparden in Afrika deutlich eingedämmt werden. In vielen afrikanischen Ländern wurden Maßnahmen zu ihrer Bekämpfung eingeführt, die durchaus erfolgreich sind. Dagegen hat sich der Druck durch Besiedelung und Zerstörung des Lebensraumes auf den Leoparden verstärkt. Welche Einstellung der einzelne Mensch dem Leoparden gegenüber einnimmt, hängt von seiner persönlichen Situation ab. So kann der Leopard für den Menschen verteufelter Feind der Haustiere, lockender Pelzlieferant für exklusive Kleidung, begehrtes Objekt für die Trophäenjagd oder bezauberndes Mitgeschöpf mit großartigen Lebensgewohnheiten sein. Dorfbewohner in landwirtschaftlich genutzten Gebieten, in denen Leoparden existieren, sind keine Freunde der gefleckten Katze. Leoparden leben inzwischen auch gerne in dichtbesiedelten Gebieten. So wurde um 1970 von einer beträchtlichen Zahl Leoparden berichtet, die in den mit Waldstrecken durchsetzten Vororten von Nairobi lebten. So ist der anpassungsfähige Leopard heute die häufigste Großkatze und gilt nicht als bedroht. Normalerweise gehen Leoparden dem Menschen aus dem Weg, doch gelegentlich kommt es vor, dass einzelne Leoparden Menschen töten und auch fressen. Oft handelt es sich bei menschenfressenden Leoparden um kranke oder altersschwache Tiere, deren Jagdvermögen eingeschränkt ist. Als Menschenfresser berühmt wurde der Leopard von Rudraprayag in Indien, dem in den Jahren 1916 bis 1925 angeblich über 125 Menschen zum Opfer fielen, die in seinem Revier auf Pilgerschaft unterwegs waren. Der berühmte Großwildjäger Jim Corbett erlegte ihn 1925. == Literatur == Andrew B. Stein, Virginia Hayssen: Panthera pardus (Carnivora: Felidae). In: Mammalian Species. Band 900, 2013, S. 30–48 (Abstract). Wally Hagen, Horst Hagen, Fritz Pölking: Der Leopard. Einblicke in das Leben der großen gefleckten Katze Afrikas. Tecklenborg, Steinfurt 1995, ISBN 3-924044-21-X. K. Nowell, P. Jackson (Hrsg.): Wild cats: status survey and conservation action plan. IUCN/SSC Cat Specialist Group. IUCN, Gland 1996, ISBN 2-8317-0045-0. D. Hancock: A Time with Leopards. Swan Hill Press, Shrewsbury 2000, ISBN 1-84037-194-3. G. Mills, M. Harvey: African Predators. Struik Publishers, Cape Town 2001, ISBN 1-86872-569-3. Ronald M. Nowak: Walker’s Mammals of the World. Band 1. 6. Auflage. Johns Hopkins University Press, Baltimore 1999, ISBN 0-8018-5789-9, S. 828. J. Scott, A. Scott: Big Cat Diary Leopard. HarperCollins, London 2003, ISBN 0-00-714667-1. R. D. Estes: The Behavior Guide to African Mammals. University of California Press, Berkeley 1991, ISBN 0-520-08085-8, S. 366.Video-Dokumentationen „Universum (Fernsehserie)“: Der Leopard Ein Schatten im Gras. Produktion von BBC und ORF, 1997. „Wildnis Pur“: Der Leopard Ein Schatten im Gras. Produktion von BBC und VOX, 1986. == Weblinks == Ursprüngliche Quelle Artenprofile Panthera pardus (Afrika) & Panthera pardus (Asien); IUCN/SSC Cat Specialist Group in Englisch Panthera pardus in der Roten Liste gefährdeter Arten der IUCN 2008. Eingestellt von: U. Breitenmoser u. a., 2008. Abgerufen am 1. Januar 2009. Leoparden .:. wild-katze.org Anthologie über Forschung und Naturschutz von Leoparden How the Leopard got his spots – eine Just-so-story von Rudyard Kipling (englisch) Leoparden (Panthera pardus) im WWF-Artenlexikon == Einzelnachweise ==
https://de.wikipedia.org/wiki/Leopard
Seele
= Seele = Der Ausdruck Seele hat vielfältige Bedeutungen, je nach den unterschiedlichen mythischen, religiösen, philosophischen oder psychologischen Traditionen und Lehren, in welchen er vorkommt. Im heutigen Sprachgebrauch ist hierbei oft die Gesamtheit aller Gefühlsregungen und geistigen Vorgänge beim Menschen gemeint. In diesem Sinne ist „Seele“ weitgehend gleichbedeutend mit „Psyche“, dem griechischen Wort für Seele. „Seele“ kann aber auch ein Prinzip bezeichnen, von dem angenommen wird, dass es diesen Regungen und Vorgängen zugrunde liegt, sie ordnet und auch körperliche Vorgänge herbeiführt oder beeinflusst. Darüber hinaus gibt es religiöse und philosophische Konzepte, in denen sich „Seele“ auf ein immaterielles Prinzip bezieht, das als Träger des Lebens eines Individuums und seiner durch die Zeit hindurch beständigen Identität aufgefasst wird. Oft ist damit die Annahme verbunden, die Seele sei hinsichtlich ihrer Existenz vom Körper und damit auch dem physischen Tod unabhängig und mithin unsterblich. Der Tod wird dann als Vorgang der Trennung von Seele und Körper gedeutet. In manchen Traditionen wird gelehrt, die Seele existiere bereits vor der Zeugung, sie bewohne und lenke den Körper nur vorübergehend und benutze ihn als Werkzeug oder sei in ihm wie in einem Gefängnis eingesperrt. In vielen derartigen Lehren macht die unsterbliche Seele allein die Person aus; der vergängliche Körper wird als unwesentlich oder als Belastung und Hindernis für die Seele betrachtet. Zahlreiche Mythen und religiöse Dogmen machen Aussagen über das Schicksal, das der Seele nach dem Tod des Körpers bevorstehe. In einer Vielzahl von Lehren wird angenommen, dass eine Seelenwanderung (Reinkarnation) stattfinde, das heißt, dass die Seele nacheinander in verschiedenen Körpern eine Heimstatt habe. In der Frühen Neuzeit wurde ab dem 17. Jahrhundert das traditionelle, aus der antiken Philosophie stammende Konzept der Seele als Lebensprinzip aller Lebewesen, das die körperlichen Funktionen steuert, zunehmend abgelehnt, da es zur Erklärung der Affekte und Körpervorgänge nicht benötigt werde. Einflussreich war das Modell von René Descartes, der nur dem Menschen eine Seele zuschrieb und deren Funktion auf das Denken beschränkte. An Descartes’ Lehre knüpfte die Debatte über das „Leib-Seele-Problem“ an, die weiterhin andauert und heute Gegenstand der Philosophie des Geistes ist. Dabei geht es um die Frage nach dem Verhältnis von geistigen und körperlichen Zuständen. In der modernen Philosophie wird ein breites Spektrum von stark divergierenden Ansätzen diskutiert. Es reicht von Positionen, die von der Existenz einer eigenständigen, körperunabhängigen seelischen Substanz ausgehen, bis zum eliminativen Materialismus, dem zufolge alle Aussagen über Mentales unangemessen sind, da ihnen nichts in der Realität entspreche; vielmehr seien alle scheinbar „mentalen“ Zustände und Vorgänge restlos auf Biologisches reduzierbar. == Etymologie und Bedeutungsgeschichte im Deutschen == Das deutsche Wort „Seele“ stammt über mittelhochdeutsch sële und althochdeutsch së(u)la, gotisch saiwala von einer urgermanischen Form *saiwalō oder *saiwlō ab. Diese ist einer Hypothese zufolge als „die vom See stammende“ von dem ebenfalls urgermanischen *saiwaz (See) abgeleitet; der Zusammenhang soll darin bestehen, dass nach einem altgermanischen Glauben die Seelen der Menschen vor der Geburt und nach dem Tod in bestimmten Seen leben. Unklar ist allerdings, wie verbreitet dieser Glaube war; daher wird der Zusammenhang in der Forschung nicht allgemein akzeptiert, zumal eine Verbindung zwischen dem Totenreich und *saiwaz (bzw. davon abgeleiteten Formen) in germanischen Quellen nicht bezeugt ist. Es wird ein Zusammenhang mit samisch saivo angenommen, einem urnordischen Lehnwort, das ein Totenreich bezeichnet.Schon im Althochdeutschen und Mittelhochdeutschen waren formelhafte Wendungen wie „mit (oder an) Leib und Seele“ häufig, die sich im Sinne von „völlig, ganz und gar“ nachdrücklich auf den gesamten Menschen beziehen. Der seit dem Spätmittelalter beliebte Ausdruck „schöne Seele“ hat antike (nobilitas cordis), altfranzösische (gentil cuer) und spirituelle (edeliu sêle) Wurzeln und tritt in der Variante der edelen herzen bei Gottfried von Straßburg († um 1215) programmatisch auf. Im 14. Jahrhundert wird „schöne Seele“ in der spirituellen Literatur üblich. In religiösem Sinne wird der Begriff noch im Pietismus verwendet, so etwa von Susanna Katharina von Klettenberg, einer Freundin von Goethes Mutter. Seit dem 17./18. Jahrhundert bezeichnet „Seele“ häufig den ganzen Menschen („er ist eine gute Seele“; „keine Seele“ für „niemand“). Die Strömung der Empfindsamkeit im Zeitalter der Aufklärung gebrauchte „schöne Seele“ auch in einem weiteren, nicht mehr nur religiösen Sinne zur Kennzeichnung eines empfindsamen und tugendhaften Gemüts oder Menschen. Friedrich Schiller bezeichnet mit der „schönen Seele“ den Einklang von Sinnlichkeit und Sittlichkeit. In diesem Sinne deutet Georg Wilhelm Friedrich Hegel in seinen theologischen Jugendschriften Jesus. Sarkastisch formuliert dagegen Friedrich Nietzsche: „zu fordern, dass Alles ‚guter Mensch‘, Heerdenthier, blauäugig, wohlwollend, ‚schöne Seele‘ – oder, wie Herr Herbert Spencer es wünscht, altruistisch werden solle, hiesse dem Dasein seinen grossen Charakter nehmen, hiesse die Menschheit castriren und auf eine armselige Chineserei herunterbringen. – Und dies hat man versucht! ... Dies eben hiess man Moral.“ Nach der Meinung von Theodor W. Adorno und Max Horkheimer gewährte die bürgerliche Gesellschaft der Frau „Aufnahme in die Welt der Herrschaft, aber als gebrochene“, und lobte sie dann als schöne Seele; hinter dieser Fassade habe sich jedoch die Verzweiflung der Frau über ihre Unterjochung verborgen.Im 20. Jahrhundert hat sich durch den Sprachgebrauch der Psychologie das Fremdwort „Psyche“ eingebürgert. Es steht für eine nüchternere, eher wissenschaftlich orientierte Betrachtung des menschlichen Innenlebens ohne den gefühlsbetonten Beiklang von „Seele“. Der Unterschied zwischen Psyche und Seele wird beispielsweise bei Goethe deutlich, der seine Figur der Iphigenie auf Tauris ausrufen lässt: „Und an dem Ufer steh ich lange Tage, das Land der Griechen mit der Seele suchend“. Hier wäre auch nach dem Sprachgefühl heutiger Leser „das Land der Griechen mit der Psyche suchend“ unpassend. == Traditionelle Vorstellungen und Lehren == === Ethnische Religionen === In vielen indigenen Kulturen, deren religiöse Traditionen die allgemeine und vergleichende Religionswissenschaft untersucht, besteht eine Fülle von Vorstellungen und Begriffen, die sich ungefähr auf das beziehen, was Europäer traditionell unter Seele (im metaphysisch-religiösen Sinn) verstehen, oder zumindest auf etwas in bestimmter Hinsicht damit Vergleichbares. Aus religionswissenschaftlicher Sicht umfasst „Seele“ alles das, was sich „dem religiösen Menschen (an ihm selber und an anderen) als Mächtigkeit physischen und hyperphysischen (paraphysischen, parapsychischen, psychisch-geistigen und postmortalen) Lebens offenbart“. In den indigenen Traditionen wird gewöhnlich davon ausgegangen, dass der Vielfalt mentaler und körperlicher Funktionen eine Vielfalt von Verursachern entspricht. Daraus ergibt sich die Annahme einer Vielzahl eigenständiger seelischer Mächte und Kräfte oder sogar eigenständiger „Seelen“, die sich in einem Individuum betätigen und dessen mannigfaltige Lebensäußerungen bewirken. Für jede dieser Instanzen gibt es einen eigenen Begriff, doch die Zuordnung der einzelnen Funktionen zu den seelischen Mächten ist oft unscharf. Zum Teil ist unklar, inwieweit bei den Vorstellungen von diesen Mächten individuelle oder eher überpersönliche Aspekte im Vordergrund stehen. Häufig fehlt überhaupt das Bedürfnis nach einer Unterscheidung zwischen subjektiver und objektiver Realität. Ebenso wird auch kein prinzipieller Unterschied zwischen Materiellem und Geistigem gemacht; nichts ist ausschließlich materiell und nichts rein geistig. Die Seele ist gewöhnlich mehr oder weniger stofflich oder feinstofflich gedacht und kommt nur in Zusammenhang mit ihren physischen Trägern oder ihren wahrnehmbaren Manifestationen ins Blickfeld.Trotz der Unschärfe kann eine Klassifikation vorgenommen werden; Kriterien dafür sind zum einen die Funktion der Seele und ihr räumliches Verhältnis zu ihrem Träger, zum anderen ihre Gestalt.Die Betrachtung der Seele unter dem Gesichtspunkt von Funktion und Verhältnis zum Träger ergibt folgende Einteilung: Die Vitalseele (Körperseele) reguliert die Körperfunktionen. Sie kann als Teil des Organismus untrennbar an ein bestimmtes Organ oder einen Körperteil gebunden sein. Als Sitz oder körperlicher Träger einer solchen Seele erscheinen in den verschiedenen Kulturen unter anderem der Kopf, die Kehle, das Herz, die Knochen, die Haare und das Blut. Die Existenz dieser Seele endet mit der des Körpers. Die Ichseele reguliert das geistige Leben im Normalzustand (Wachzustand) und ermöglicht das Selbstbewusstsein. Sie ist ebenfalls an den Körper oder ein bestimmtes Organ gebunden und sterblich. Die Freiseele (Exkursionsseele) kann den Körper verlassen, was im Schlaf oder in Ekstase geschieht. Beim Tod gibt sie den Körper auf und wird zur Totenseele; durch ihre Unsterblichkeit ermöglicht sie die individuelle Fortexistenz der Person. Sie kann sich in ein Jenseits (Totenreich) begeben oder auch im Diesseits verbleiben bzw. dorthin zurückkehren oder manchen Traditionen zufolge als Reinkarnationsseele verschiedene Körper nacheinander bewohnen. Die Außenseele hält sich außerhalb des Körpers auf und verbindet den Menschen mit seiner natürlichen Umwelt oder auch mit einem geistigen oder jenseitigen Bereich. Wenn sie als zerstörbar gilt, bedeutet ihre Vernichtung für den Menschen den Tod.Die Betrachtung unter dem Gesichtspunkt der Gestalt führt zur Unterscheidung folgender Erscheinungsformen des Seelischen: Die Seele erscheint in menschlicher Gestalt. Diese muss nicht in jedem Fall der körperlichen Gestalt des betreffenden Individuums entsprechen; so erscheint die Exkursionsseele eines Mannes oft als Frau. Die Seele nimmt eine Tiergestalt an, besonders häufig die eines Vogels („Seelenvogel“). Die Seele zeigt sich in elementarer oder feinstofflicher Gestalt. Eine solche Elementarseele stellt man sich als Luft, Wind, Hauch, Feuer, Licht, Wasser oder Rauch vor. Die Seele macht sich als optisches oder akustisches Phänomen bemerkbar, etwa als Schatten, Spiegelbild oder Schall (speziell als Name).Dabei ist zu beachten, dass je nach religiöser Tradition einem der Seelenbegriffe eine oder auch mehrere der genannten Funktionen zugeordnet sein können.Auf Seelenvorstellungen in der Jungsteinzeit lassen Gräberfelder mit frühneolithischen Brandbestattungen schließen, die auf eine Absicht deuten, der offenbar als feinstofflich aufgefassten Seele den Weg ins Jenseits zu erleichtern. Besitztümer des Verstorbenen und Fleischnahrung als Wegzehrung wurden mit auf den Scheiterhaufen gelegt. === Indien === Die religiösen und philosophischen Konzepte indischen Ursprungs fußen teils auf der vedischen Religion, aus der sich die verschiedenen Strömungen des Hinduismus entwickelt haben. Einige Lehren stehen jedoch in scharfem Gegensatz zur Autorität des vedischen Schrifttums: Buddhismus, Sikhismus und Jainismus. Ein gemeinsames Merkmal aller indischen Traditionen ist, dass sie keinen Unterschied zwischen menschlichen Seelen und den Seelen anderer Lebensformen (Tiere, Pflanzen, auch Mikroben) machen. Die alten indischen Lehren mit Ausnahme der materialistischen (nāstika) und des Buddhismus gehen davon aus, dass der menschliche Körper von einer Vitalseele (jīva, wörtlich „Leben“, „Lebewesen“) beseelt wird, die zugleich Träger des individuellen Selbstbewusstseins (Ich-Seele) ist. Jede jīva kann aber auch ebenso jeden beliebigen anderen Lebewesen-Körper bewohnen. Im Kreislauf der Wiedergeburt (Samsara, Seelenwanderung) verbindet sie sich nacheinander mit zahlreichen menschlichen, tierischen und pflanzlichen Körpern. Die Seele bzw. das Selbst hat demnach immer Priorität vor dem Körper und überdauert seinen Tod. Im Buddhismus gilt dies statt für die Seele für die Gesamtheit der ein Individuum prägenden mentalen Faktoren. Beim Tod trennt sich die Seele vom Körper. Die Ich-Seele ist daher zugleich Freiseele; als solche wird sie auch ātman oder purusha genannt. Die traditionellen Systeme, die die Existenz einer Seele, eines Selbst oder den Körper überdauernder geistiger Bestandteile des Lebewesens annehmen, betrachten die Verbindung der Seele mit materiellen Körpern bzw. die Bildung eines Geist-Körper-Komplexes als einen Fehler und ein Unglück, dessen endgültige Beseitigung und künftige Vermeidung angestrebt wird. Der Weg dazu ist die Behebung der Unwissenheit. Dies wird als Befreiung (moksha) aus dem Kreislauf bezeichnet und ist das Endziel der philosophischen oder religiösen Bestrebungen.Ein wesentlicher Unterschied zu den im Westen dominierenden Seelenauffassungen platonischen oder christlichen Ursprungs besteht darin, dass in einem großen Teil der indischen religiös-philosophischen Lehren die individuelle Seele nicht als ewig betrachtet wird. Oft wird angenommen, dass sie sich eines Tages in einer übergeordneten, unpersönlichen metaphysischen Realität (Brahman) auflösen wird, mit der sie wesensgleich ist. Dieser Auffassung zufolge hat sie sich einst vom umfassenden Dasein des Brahman getrennt oder in die Illusion begeben, es gebe eine solche Trennung; wenn sie diesen Vorgang rückgängig macht, endet ihre individuelle Existenz bzw. die Selbsttäuschung, es gebe tatsächlich eine solche Existenz. Zwecks Abgrenzung vom gängigen westlichen Seelenbegriff wird bei der Übersetzung und Kommentierung von Texten aus solchen Traditionen oft bewusst auf die Verwendung des Ausdrucks „Seele“ verzichtet. ==== Hinduistische Richtungen ==== Im Hinduismus existieren zwei Hauptrichtungen, deren Seelenlehren trotz Harmonisierungsversuchen im Grunde unvereinbar sind: Vedanta und Samkhya. Ihrerseits teilt sich die Philosophie des Vedanta in Advaita („Nicht-Zweiheit“, Monismus), Dvaita („Zweiheit“, Dualismus) und Vishishtadvaita auf, eine gemäßigt monistische Lehre, die eine reale Vielheit innerhalb der Einheit annimmt. Die Anhänger des Advaita sind radikale Monisten, die nur eine einzige, einheitliche metaphysische Realität akzeptieren. Sie halten alle Pluralität oder Dualität für eine Scheinwirklichkeit, die sich auflöse, wenn sie durchschaut werde. Demnach existieren die individuellen Seelen ebenso wie die von ihnen beseelten Körper ontologisch nicht als eigenständige Entitäten, sondern sind illusionäre Bestandteile einer eigentlich wert- und bedeutungslosen Scheinwelt der vergänglichen Einzeldinge. Gegenpositionen zum indischen radikalen Monismus sind der Dualismus der Samkhya-Philosophie und des Klassischen Yoga von Patañjali, dem zufolge die Urmaterie und das Urseelische zwei ewige Urprinzipien sind, der gemäßigte Monismus (Vishishtadvaita nach Ramanuja), den viele Praktizierende des Bhakti-Yoga vertreten, und die Auffassung des im 13. Jahrhundert lehrenden Brahmanen Madhva, der Gott, die Einzelseelen und die Materie als drei ewige Entitäten betrachtete. In diesen Systemen, die den radikalen Monismus verwerfen, wird eine reale individuelle Unsterblichkeit der Seele (des Selbst) bejaht; Ziel ist das endgültige Ausscheiden aus dem Kreislauf der Seelenwanderung und der Eintritt in eine jenseitige Welt, in der die Seele dauerhaft verbleibt. ==== Buddhismus ==== Der Buddhismus vertritt vorwiegend die Anatta-Lehre. Anatta, ein Wort der Sprache Pali, bedeutet „Nicht-Atman“, das heißt „Nicht-Selbst“ oder „Nicht-Seele“. Buddhisten bestreiten die Existenz einer Seele oder eines Selbst im Sinne einer den Tod überdauernden einheitlichen und beständigen Realität. Aus buddhistischer Sicht ist das, was den Tod überdauert und den Kreislauf der Wiedergeburt in Gang hält, nichts als ein vergängliches Bündel von mentalen Faktoren, hinter dem kein Personenkern als eigenständige Substanz steckt. Dieser Komplex löst sich früher oder später in seine Bestandteile auf, indem er sich fortlaufend schrittweise umwandelt, wobei Teile ausscheiden und andere hinzukommen. Der metaphysische Begriff ātman (Seele) ist demnach leer, da ihm kein konstanter Inhalt entspricht. ==== Sikhismus ==== Im Sikhismus werden die Welt und die Lebewesen (Seelen) in ihr als real betrachtet, aber nicht als ewig. Sie seien durch Emanation aus Gott hervorgegangen und würden in ihn zurückkehren. ==== Jainismus ==== Im Jainismus wird die individuelle Seele (jīva) als unvergänglich angesehen. Sie kann sich durch Askese reinigen, von ihrer Verknüpfung mit den materiellen Existenzformen befreien und in eine jenseitige Welt überwechseln, in der sie dauerhaft und ohne jeden Kontakt mit der materiellen Welt und deren Bewohnern verbleibt. Ihre Erlösung muss sie aus eigener Kraft vollbringen, da die Jainas als Atheisten keinen göttlichen Beistand für möglich halten. ==== Ajivikas ==== Die Ajivikas sind als Weltanschauungsgemeinschaft verschwunden; nachweisbar sind sie bis ins 14. Jahrhundert. Es handelte sich um eine streng deterministische Strömung. Sie nahmen eine unsterbliche, aber materielle, aus einer besonderen Art von Atomen bestehende Seele ohne freien Willen an, deren Schicksal sich unabänderlich nach vorgegebener Notwendigkeit vollzieht. ==== Altindischer Materialismus ==== Der altindische atheistische Materialismus ist als philosophische Schule untergegangen. Zu seinen Vertretern, die Nastikas (Verneiner, Negativisten) genannt wurden, zählten insbesondere die Anhänger der von Charvaka stammenden Lokayata-Lehre, die schon im ersten Jahrtausend v. Chr. verbreitet war. Sie akzeptierten nur vier sinnlich wahrnehmbare Elemente als real und betrachteten alle mentalen Erscheinungen als Resultate bestimmter zeitweiliger Kombinationen der Elemente, die mit dem physischen Tod enden. Auf der Basis dieser Überzeugung bestritten sie die Existenz der Götter, einer moralischen Weltordnung und einer vom Leib verschiedenen Seele. === China === Wie zahlreiche frühgeschichtliche und indigene Völker hatten auch die Chinesen in frühgeschichtlicher Zeit verschiedene Ausdrücke für die Seelen in einem Individuum. Man nahm eine Körperseele (p'o oder p'êh) und eine Hauchseele (hun) als zwei separate Entitäten im Menschen an. Die Körperseele ist für körperliche Funktionen (insbesondere die Bewegung des Körpers) zuständig, die Hauchseele für Bewusstsein und Verstand. Die Hauchseele ist eine Freiseele und Exkursionsseele, die den Körper schon zu Lebzeiten verlassen kann und sich bei seinem Tod endgültig von ihm trennt. Auch die Körperseele besteht nach dem Tode fort, doch bleibt sie mit dem Körper verbunden und begleitet ihn normalerweise ins Grab, wo die Grabbeigaben für ihr Wohlergehen sorgen sollen. Daneben bestand die seit dem 8. Jahrhundert v. Chr. bezeugte Vorstellung, dass die P'o-Seele eines Verstorbenen in die Unterwelt gelangen kann, zu den Gelben Quellen (Huángquán), wo es ihr übel ergeht. Im traditionellen chinesischen System der universellen Klassifizierung ist die P'o-Seele dem dunklen, weiblichen Yin-Prinzip und der Erde zugeordnet. Sie entsteht zugleich mit dem Embryo. Die Hun-Seele ist dem männlichen, hellen Yang-Prinzip und dem Himmel zugeordnet. Sie entsteht, wenn der Mensch bei seiner Geburt ins Licht kommt. Mit der Nahrung nimmt der Mensch feinstoffliche Materie (ching) auf, die von beiden Seelen zur Kräftigung benötigt wird. Somit sind beide Seelen nicht als immateriell gedacht. Die Hun-Seele kann sich nach einem natürlichen Tod des Körpers in den Himmel oder in einen anderen Jenseitsbereich begeben. Bei einem gewaltsamen Tod ist jedoch damit zu rechnen, dass beide Seelen im sozialen Umfeld des Verstorbenen verbleiben und dort als Gier- und Rachegeister ihr Unwesen treiben. Eine dem Menschen innewohnende und seinen Körper überlebende, aber entstandene (nicht individuell präexistente) geistige Entität wurde auch als shen bezeichnet. Der schon sehr früh, zur Zeit des Shang-Staates im 2. Jahrtausend v. Chr., stark entwickelte Ahnenkult – eine Konstante in der chinesischen Kulturgeschichte – und die reichen frühgeschichtlichen Grabausstattungen sind nicht nur als Ausdruck der Pietät gegenüber den Vorfahren zu deuten, sondern zeigen die Macht der Vorstellung, dass die Seelen der Toten die gleichen Bedürfnisse haben wie Lebende und dass sie fördernd oder störend ins Leben der Hinterbliebenen eingreifen.Mo Ti, der im 5. Jahrhundert v. Chr. den nach ihm benannten Mohismus begründete, lehrte die Fortexistenz nach dem Tode. Die Anhänger des seit dem 2. Jahrhundert v. Chr. in China als Staatsdoktrin etablierten Konfuzianismus hingegen betrachteten Spekulationen darüber als unnütz und überließen das Thema der traditionellen chinesischen Volksreligion. Eine philosophische Auseinandersetzung um die Seele und um die Frage, ob eine seelische oder mentale Entität den Körper überlebt oder gar ewig weiterbesteht, setzte anscheinend erst spät ein, und zwar als sich zur Zeit der Han-Dynastie (206 v. Chr.–220 n. Chr.) der Buddhismus auszubreiten begann. An der Debatte beteiligten sich Skeptiker und Materialisten, die sich gegen die Vorstellung einer eigenständig existierenden Seele wandten und alle mentalen Funktionen auf körperliche zurückführten. In diesem Sinne argumentierten die Philosophen Wang Chong (1. Jahrhundert n. Chr.) und Fan Zhen (5./6. Jahrhundert n. Chr.). Fan Zhen schrieb eine Abhandlung über die Auslöschung der Seele (Shenmie lun), die am Hof des Kaisers Wu von Liang Aufsehen erregte. Die Polemik der Skeptiker richtete sich gegen den Buddhismus, da die Buddhisten als Anhänger der Unsterblichkeitsidee betrachtet wurden. Der Buddhismus lehnt zwar eigentlich das Konzept einer unsterblichen Seele entschieden ab, doch in China wurde er oft durch volkstümliche Vorstellungen abgewandelt, die auf eine durch den Kreislauf der Wiedergeburten schreitende beständige Seele hinausliefen. === Japan === In Japan hängen die traditionellen Seelenvorstellungen eng mit dem seit vorgeschichtlicher Zeit verbreiteten Ahnenkult zusammen, der ein wichtiger Teil der indigenen Volksreligion, einer Frühform des Shintoismus, war. Außerdem sind sie von den japanischen Ausprägungen des im 6. Jahrhundert eingeführten Mahayana-Buddhismus beeinflusst. Unterschiedliche Varianten des alten shintoistischen Volksglaubens besagten, dass die Seelen Verstorbener entweder in der Unterwelt (yomo-tsu-kuni oder soko-tsu-kuni) oder in einem himmlischen Reich (takama-no-hara) leben, oder auch in einem als „beständiges Land“ (toko-yo) bezeichneten Totenreich jenseits des Ozeans. Man ging aber auch davon aus, dass sie dort nicht unerreichbar sind, sondern die diesseitige Welt aufsuchen und unter den Menschen weilen. Ab dem 9. Jahrhundert, nachdem der japanische Buddhismus beträchtlichen Einfluss auf die religiösen Sitten gewonnen hatte, wurden zur Beschwichtigung des Zorns der Seelen von gewaltsam ums Leben Gekommenen Feiern abgehalten, die im Volk beliebt waren. Man baute Seelenschreine, in denen prominenter Verstorbener gedacht wurde, denen zu ihren Lebzeiten Unrecht geschehen war und deren Seelen besänftigt werden sollten.Einer anderen, bis in die Moderne verbreiteten Ansicht zufolge wohnen die Totenseelen auf bestimmten hohen Bergen. Zu der berühmten Seelenkultstätte auf dem Berg Iya zogen noch im 20. Jahrhundert jährlich Hunderttausende von Pilgern. Ein Höhepunkt des Seelenkultes ist das seit dem 7. Jahrhundert alljährlich im Sommer gefeierte buddhistische Obon-Fest, zu dem sich die Familien versammeln; damit soll nicht den Lebenden der Segen der Totenseelen verschafft werden, sondern die rituellen Handlungen sollen dem Wohlergehen der Totenseelen dienen, die bei diesem Anlass jeweils zu ihren lebenden Angehörigen zurückkehren.Die Bezeichnung für die Seele ist tama oder mitama (Grundbedeutung: kostbar, wunderbar, geheimnisvoll). Das tama wurde als uneinheitlich betrachtet; ein milder und glücklicher Seelenteil kümmert sich um das Wohlergehen der Person, ein anderer Teil ist wild und leidenschaftlich, setzt den Menschen Risiken aus und kann auch Übeltaten vollbringen. Verbreitet war und ist die Überzeugung, dass die Seelen Lebender als Exkursionsseelen den Körper verlassen. === Altes Ägypten === Im Alten Ägypten waren drei Begriffe zur Bezeichnung dreier Aspekte des Seelischen gebräuchlich: Ka, Ba und Ach. Kennzeichnend für die altägyptische Denkweise ist eine sehr enge Bindung des Seelischen an das Körperliche und daher noch über den Tod hinaus an den Leichnam und dessen Grab. Der bestattete Leichnam galt als weiterhin beseelbar und somit im Prinzip handlungsfähig. Daher war die Konservierung des Körpers durch Mumifizierung für den ägyptischen Totenglauben von zentraler Bedeutung. Daneben gab es aber auch mancherlei Vorstellungen über eine Existenz im Jenseits; anscheinend wurde kaum versucht, die unterschiedlichen Konzepte zu einem stimmigen Ganzen zu verbinden.Der in der Epoche des Alten Reichs dominierende Begriff Ka bezeichnete die Quelle der Lebenskraft. Nach dem ägyptischen Seelenverständnis machte das Vorhandensein des Ka den Unterschied zwischen einem Lebenden und einer Leiche aus. Ferner konnte der Ka als Doppelgänger oder Schutzgeist des betreffenden Menschen fungieren. Er war „beständig“ und Garant der Kontinuität, denn er wurde vom Vater auf den Sohn übertragen und stand damit für die ununterbrochene Fortdauer der Lebenskraft in der Ahnenfolge. Daher trat er bei der Geburt stark hervor. Beim Tod verließ er den Leichnam, blieb aber in dessen Nähe. Seine Wohnstätte war eine eigens für ihn errichtete Statue im Grab, wo er für das Fortleben der Person unentbehrlich war. Im Alten Reich wurden für den Ka – das heißt für die Leiche, die er beleben sollte – an einer Opferstelle über dem Grab Speise- und Getränkegaben bereitgestellt. Die Vorstellung war so materiell, dass es folgerichtig in manchen Gräbern sogar einen Abort gab. Diese Totenfürsorge kam allerdings nur für Angehörige der Oberschicht in Betracht. Königen und Göttern wurden mehrere Kas zugeschrieben, und auch in Totengebeten von Privatgräbern des Alten Reichs kommt der Begriff Ka für eine Person im Plural vor. Im Mittleren Reich erlangte das Konzept Ba zunehmende Bedeutung. Als Ba bezeichnete man eine persönliche Lebenskraft, die dem damaligen Glauben zufolge Träger der individuellen Existenz ist und den Tod überdauert. Im Alten Reich hatte man Ba als Manifestation besonderer Macht aufgefasst und anscheinend nur dem König zugeschrieben, doch später wurde das Konzept in umgewandelter Form auf alle Menschen ausgedehnt. Man verstand nun unter Ba einen sehr beweglichen Aspekt des Seelischen, der nach dem Volksglauben beim lebenden Menschen zwar schon vorhanden ist, aber kaum eine Rolle spielt; erst beim Tod tritt er hervor, denn der leibliche Tod bedeutet für ihn eine Art Geburt. Meist wurde Ba als Vogel dargestellt, oft mit Menschenkopf. Damit zeigt sich seine Zugehörigkeit zu dem bei indigenen Völkern verbreiteten Typus des „Seelenvogels“. Die Ba-Vögel waren nach der ägyptischen Vorstellung eigentlich Himmelswesen und lebten in einer nördlichen Region (Qebehu), doch bewahrte Ba ebenso wie Ka eine dauerhafte Bindung an den Leichnam, das heißt an die Mumie. Um den Ba zum Aufsuchen des Grabes zu bewegen – was offenbar als eine Art Wiederbelebung des Leichnams betrachtet wurde und sehr erwünscht war –, wurde ihm dort Trinkwasser bereitgestellt, das ihn anlocken sollte. Der Ach (Lichtgeist, abgeleitet von einem Wort für „Lichtglanz“) war die Verklärungsseele eines Verstorbenen, die erst nach dessen Tod entstand. Im Unterschied zum Ka war er nicht ortsgebunden. Ach war eine götterähnliche Existenzform, die nach dem Tod durch entsprechende Bemühungen erlangt wurde, indem der Tote sich die Ach-Kraft aneignete und dadurch zum Ach wurde. Diesem Zweck dienten magisch-rituelle Maßnahmen. Dazu gehörten Riten, die am Grab vollzogen wurden, Inschriften, die man dort oder auf dem Sarg anbrachte, und Texte, die der Tote zu rezitieren hatte. Von Göttern wie Re und Osiris erhoffte man Hilfe bei der Ach-Werdung. Waren die Verklärungsriten am Grab richtig vollzogen, so erlangte der Tote den Status eines „wirksamen“, „versehenen (vollausgestatteten)“ und „verehrungswürdigen“ Ach; als solcher konnte er auf die Welt der Lebenden einwirken. Im Unterschied zu Ka und Ba konnte sich der „wirksame“ Ach als Gespenst zeigen und wohltätig oder Schaden anrichtend in das Leben der Menschen eingreifen. Wie Ka und Ba zeigte auch Ach einen starken Bezug zum Grab und Interesse an dessen Zustand. Dort deponierten die Ägypter ihre an den Ach des Beerdigten gerichteten Botschaften.Manche Aspekte des Ach-Glaubens unterlagen einem Wandel; so wurde im Alten Reich eine zeremonielle Speisung des Ach vorgenommen, später bedurfte er aber im Gegensatz zu Ka und Ba keiner materiellen Versorgung im Vollzug des Totendienstes mehr. In der älteren Form dieses Glaubens war moralisches Verhalten unwesentlich; für den Ach-Status gab es keine ethischen Voraussetzungen, ein Ach konnte ebenso wie ein Lebender gut- oder böswillig sein. Im Neuen Reich begann man jedoch einen Zusammenhang zwischen moralischen Verdiensten und dem Ach-Werden herzustellen. Die Vorstellungen vom Totenreich waren stark von den zahlreichen Gefahren geprägt, die den Verstorbenen dort drohten, teils durch die Unwirtlichkeit des Geländes, teils durch Nachstellungen von Dämonen. So versuchten beispielsweise Dämonen den vogelgestaltigen Ba mit Vogelnetzen zu fangen. Gefangenen drohte Folter und Verstümmelung. Dagegen halfen göttlicher Beistand und vor allem Kenntnis der festgelegten, zur Bannung der Gefahren erforderlichen Zaubersprüche, die in Sargtexten überliefert sind. Das jenseitige Dasein war eine Fortsetzung des diesseitigen; so gab es dort auch Landarbeit. Die Toten hatten ihre Wohnsitze „im Westen“ und waren das „Volk des Westens“ (Imentiu), die Lebenden wohnten im Osten (am Nil).Die Toten wurden vor das Totengericht gestellt, wo ihr Herz mit einer Waage gegen die Wahrheit (Maat) abgewogen wurde, das heißt ihr Freisein von Verfehlungen geprüft wurde (Psychostasie). Im Falle einer Verurteilung wurden sie von einem Untier (Ammit) gefressen, also vernichtet. Dieses moralische Konzept konkurrierte und vermischte sich mit dem ethisch indifferenten, welches das nachtodliche Schicksal von korrekter Praktizierung der rituellen Magie abhängig machte.Somit waren die Seelen nach den altägyptischen Vorstellungen weder immateriell noch prinzipiell unzerstörbar. Vor der Entstehung des Körpers existierten sie nicht, Reinkarnation wurde nicht in Betracht gezogen. Denjenigen, die den jenseitigen Gefahren entgingen oder vom Totengericht freigesprochen wurden, wurde zwar ein erfreuliches Leben in einer angenehmen Welt in Aussicht gestellt, doch stießen solche Verheißungen seit der Zeit des Mittleren Reichs in manchen Kreisen auf erhebliche Zweifel. Skeptiker stellten die Wirksamkeit der aufwendigen Vorkehrungen für ein glückliches oder zumindest befriedigendes nachtodliches Dasein in Frage. Sie wiesen auf die Ungewissheit des Schicksals nach dem Tod oder auf düstere Aussichten für die Verstorbenen hin. Mit der Herabsetzung des Jenseits wurde oft die Aufforderung verbunden, diesseitigen Lebensgenuss anzustreben. === Mesopotamien === Über Seelenvorstellungen der Sumerer und später der Akkader bieten weder die Schriftquellen noch die Archäologie konkrete Informationen, obwohl sich die sumerische Religion, mit der die akkadische eng verwandt ist, aus den Quellen gut erschließen lässt. In der sumerischen und der akkadischen Sprache kommen keine Ausdrücke vor, deren Bedeutungsgehalt sich mit demjenigen von „Seele“ deckt. Man kann den akkadischen Begriff napischtu(m)/napschartu („Kehle“, „Leben“, „Lebenskraft“, auch „Person“) als Bezeichnung für eine Seele ansehen, in Analogie zu den verwandten hebräischen Wörtern nefesch und neschama, die von der konkreten Grundbedeutung „Atem“ ausgehend das sich im Atem zeigende Leben bezeichnen. Damit (und mit anderen Begriffen von gleicher oder ähnlicher Bedeutung) ist aber nur eine mit dem Körper entstehende und sterbende Vitalseele (Körperseele) von Mensch und Tier gemeint; darüber hinaus ergeben sich keine Folgerungen. Das entsprechende Wort im Sumerischen ist zi, das mit dem Verb zi-pa-ag2 („atmen“, „blasen“) zusammenhängt; es gibt eine Redewendung zi-pa-gá-né-esch, die sich auf das Überprüfen bezieht, ob in einem Körper noch Leben festzustellen oder der Lebenshauch aus ihm gewichen ist. Daneben existiert im Sumerischen der Ausdruck libisch/lipisch für „Innerstes“ (des Menschen) und im Babylonischen libbu für „Herz“, vergleichbar unserer Verwendung von „Herz“ in psychischer Bedeutung. Die Babylonier lokalisierten die von einer Gottheit verliehene Quelle der Lebenskraft außer im Atem auch im Blut. Auf eine anthropologische Analyse und eine konkrete Beschreibung der Seele legten sie anscheinend keinen Wert.Ein Totenreich kur-nu-gi-a („Land ohne Wiederkehr“) und ein Totengericht ist für die Sumerer bezeugt. Andererseits war bei ihnen aber auch die Vorstellung verbreitet, dass sich die Toten an ihren Grabstätten aufhalten. Daher wurden den Verstorbenen dort Speisen und Getränke dargebracht. Auch in Babylonien war der Ahnenkult für das Wohlergehen der Toten sehr wichtig; täglich mussten die Ahnen mit Nahrung versorgt werden. In einem Anhang zum Gilgamesch-Epos kehrt der ins Totenreich hinabgestiegene Enkidu, d. h. sein Totengeist (utukku), in die Welt der Lebenden zurück und schildert die Schicksale der Toten, die von der Todesart, der Anzahl ihrer Kinder und der Fürsorge der überlebenden Angehörigen abhängen. Schlimm erging es den Unbegrabenen und denen, deren Grab geschändet wurde, denn der Totengeist war offenbar eng mit dem Leichnam verbunden.Bei den mesopotamischen Völkern herrschte die Überzeugung, dass böswillige Totengeister (sumerisch gidim, akkadisch eṭimmu oder eṭemmu) ebenso wie unzählige sonstige Dämonen den Lebenden Unheil bereiten. Die Totengeister galten als sichtbar und hörbar. Daneben gab es aber auch hilfreiche Schutzgeister, die möglicherweise den aus verschiedenen indigenen Kulturen bekannten Außenseelen des Menschen vergleichbar sind. Aus dem Atraḫasis-Epos (um 2000–1800 v. Chr.) geht hervor, dass eṭemmu, der gespenstartige Aspekt des Menschen, der dessen Tod überdauert, ursprünglich zusammen mit dem menschlichen Körper aus dem Fleisch eines getöteten Gottes geschaffen wurde. Aus dem Blut des Gottes entstand wohl die sterbliche, bis zum physischen Tod bestehende Vitalseele; sie wurde als Basis des menschlichen Verstandes (ṭēmu) betrachtet. === Iranisches Hochland === Die ostiranische avestische Sprache, die zu den altiranischen Sprachen gehört, weist eine Reihe von Ausdrücken für die Seele oder für psychische Funktionen auf, die schon in der vorzoroastrischen Zeit gebräuchlich waren und großenteils später auch in den Dokumenten der zoroastrischen Religion verwendet wurden. Zum Teil beziehen sie sich auf Wahrnehmungsfunktionen, beispielsweise uši (ursprünglich das Ohr, daher auch das Gehör und in übertragenem Sinn die Auffassungsfähigkeit, der Verstand). Außer der Vitalseele (ahu oder uštāna, als Hauchseele vyāna) gab es nach den im Iran herrschenden Vorstellungen die auch unabhängig vom Körper agierende Freiseele (urvan oder auch als Verstandesseele manah) sowie die daēnā, eine seelische Instanz mit nährender Funktion. Eine wichtige Rolle spielten die fravašis; das waren schützende Ahnengeister, aber auch Außenseelen lebender frommer Menschen. In letzterem Sinne verstand man unter fravaši anscheinend ein den Menschen zu seinen Lebzeiten von außen beeinflussendes „höheres Selbst“. Die im Körper lebende unsterbliche Freiseele vereinigte sich nach dessen Tod mit ihrer fravaši. Ausdrücke, die ursprünglich den Körper bezeichneten, wie tanu und das etymologisch mit „Körper“ verwandte Wort kəhrp, wurden auch für die Person als Gesamtheit unter Einschluss der seelischen Dimension verwendet, was auf ein nicht dualistisches Denken deutet.Die Zoroastrier scheinen sich nicht um die Ausarbeitung einer detaillierten anthropologischen Seelenlehre und um terminologische Klarheit bemüht zu haben, zumindest haben sich keine entsprechenden Texte erhalten. Bezeugt ist im Zoroastrismus immerhin die Vorstellung, dass die Vitalseele schon vor dem Körper geschaffen wurde und dieser dadurch entstanden ist, dass die Lebenskraft von der Gottheit „körperlich gemacht“ wurde. Diese Vitalseele, die uštāna, wurde mit dem Tode des Körpers vernichtet. Charakteristisch für den Zoroastrismus ist eine scharfe Trennung zwischen „guten“ und „bösen“ Menschen, nicht zwischen einem an sich schlechten Körper und einer moralisch höherwertigen Seele. Eine Gesamtseele oder Weltseele scheint der Zoroastrismus nicht gekannt zu haben.Nach dem Tod blieb die Freiseele urvan drei Nächte lang in der Nähe des Leichnams, bis ihr ihre eigene daēnā entgegentrat. Die daēnā erschien in Frauengestalt, als Kuh oder als Garten, was auf ihre nährende Funktion hinweist. Als Frau war sie ein schönes Mädchen oder eine scheußliche Hexe, je nach den Taten, die der Mensch zu seinen Lebzeiten vollbrachte. Nach der Begegnung mit ihr begab sich die Seele urvan auf den Weg ins Jenseits.Neben den Vorstellungen vom jenseitigen Fortleben der Seele gab es auch einen wohl sehr alten Glauben an eine Auferstehung als Wiederbelebung toter Körper, die als möglich galt, falls die Knochen der Verstorbenen vollzählig und intakt aufbewahrt wurden; offenbar wurde unter dem Gesichtspunkt der Lebenskraft den Gebeinen eine seelische Qualität zugeschrieben. In seiner religiösen Ausformung im Rahmen des Zoroastrismus richtete sich dieser iranische Auferstehungsglaube auf eine eschatologische Zukunft, in der auch ein allgemeines Weltgericht erwartet wurde. === Vorchristliche Antike === ==== Älteste griechische Vorstellungen ==== Das altgriechische Substantiv psychḗ (ψυχή) hängt mit dem Verb psychein („blasen“, „atmen“) zusammen; es bedeutete ursprünglich „Hauch“, „Atem“ und daher auch „Leben“. Erstmals belegt ist es in den zunächst mündlich überlieferten homerischen Epen Ilias und Odyssee. Es bezeichnet hier etwas an Mensch und Tier, das normalerweise während des Lebens eines Individuums nicht aktiv zu sein scheint, dessen Präsenz aber für das Leben notwendig ist.Die psychē im Sinne von Homers Sprachgebrauch verlässt einen Menschen bei Ohnmacht. Im Tod trennt sie sich vom Körper und begibt sich als dessen schattenhaftes Abbild in die Unterwelt. Homer benutzt für die körperlose Seele neben dem Ausdruck psychē auch den Begriff eidōlon (Abbild, Schattenbild). Die Seele eines Verstorbenen ist dem lebenden Menschen so ähnlich, dass Achilleus vergeblich versucht, die Seele des toten Patroklos, die ihm erscheint und ihn anredet, zu umarmen. Der Dichter lässt die nach dem Tod körperlose Seele Gefühle zeigen und Überlegungen anstellen. Sie jammert, beklagt ihr Schicksal und sorgt sich um das Begräbnis des Leichnams.Der thymós – mit diesem Wort bezeichnet Homer die Quelle der emotionalen Antriebe – gilt ebenso wie die psychē als zum Leben notwendig; auch er verlässt im Tod den Körper. Zwar sagt der Dichter nicht, dass der thymós sich in die Unterwelt begibt, doch an einer Stelle der Ilias wünscht ein Lebender, dass dies geschehen möge. Homer beschreibt den thymós als zerstörbar. Während des menschlichen Lebens wird er durch Ereignisse gemehrt oder gemindert. Im Gegensatz zur psychē, die wie ein kalter Hauch erscheint, ist der thymós heiß.Von der psychē ist nur im Zusammenhang mit lebensbedrohlichen Situationen die Rede. So spricht Achilleus davon, im Kampf die eigene psychē in Gefahr zu bringen. Gewöhnlich ist dieser Begriff auf die Bedeutung Träger des Belebtseins begrenzt, während die Emotionen – aber auch mit ihnen verbundene Gedanken – sich im thymós abspielen. Eine weitere für die mentalen Funktionen wichtige Instanz ist der nóos (im späteren Griechisch nous). Er ist in erster Linie für Tätigkeiten des Intellekts zuständig, erscheint aber auch gelegentlich als Träger von Gefühlen. Eine klare Abgrenzung zwischen den Begriffen gibt es in den homerischen Epen nicht. Der thymós befindet sich im Zwerchfell oder allgemeiner in der Brust. Auch der nóos ist in der Brust lokalisiert, doch ist er anscheinend immateriell gedacht. Der psychē weist Homer keinen bestimmten Sitz im Körper zu. Sie ist Voraussetzung des Lebens für Tiere ebenso wie für Menschen. In der Odyssee entweicht bei der Schlachtung eines Schweins dessen psychē, doch ob sie in die Unterwelt gelangt, erfährt man nicht. Hesiod und Pindar erwähnen die psychē der Schlange. ==== Bedeutungswandel in der nachhomerischen Zeit ==== In poetischen und philosophischen Texten des 6. und 5. Jahrhunderts bürgerte sich ein neuer, erweiterter Begriff von psychē ein, der den Bedeutungsgehalt von thymós mit einschloss. Für den Lyriker Anakreon spielten sich die erotischen Empfindungen in der psychē ab, bei Pindar war sie Trägerin moralischer Eigenschaften. Auch in der Tragödie trat die Seele in einem moralischen Kontext auf, bei Sophokles konnte sie daher als „schlecht“ bezeichnet werden. Die alte Grundbedeutung – belebendes Prinzip im Körper – war weiterhin geläufig, beseelt (émpsychos) zu sein bedeutete lebendig zu sein, doch daneben war die Seele nun auch für das Gefühlsleben zuständig und stellte Überlegungen an.Die philosophisch-religiösen Bewegungen der Orphiker und der Pythagoreer erweiterten das archaische Konzept einer den Leichnam verlassenden psychē. Sie bauten es zu Lehren aus, in denen die Seele als unsterblich galt und mehr oder weniger detaillierte Aussagen über ihr Schicksal nach dem Tod gemacht wurden. In diesen Strömungen sowie auch bei Empedokles und in der Lyrik bei Pindar machten sich – in markantem Gegensatz zu Homer – optimistische Annahmen über die nachtodliche Zukunft der Seele geltend. Sie kann diesen Konzepten zufolge unter bestimmten Voraussetzungen, insbesondere indem sie sich von Schuld reinigt, Zugang zur Götterwelt gewinnen und göttlich werden oder ihre eigene ursprüngliche göttliche Natur wiedererlangen. ==== Seelenwanderung ==== In manchen Kreisen (Orphiker, Pythagoreer, Empedokles) wurde die Unsterblichkeitslehre mit der Vorstellung der Seelenwanderung verbunden und damit die Annahme einer natürlichen Bindung der Seele an einen bestimmten Körper aufgegeben. Der Seele wurde ein eigenständiges Dasein schon vor der Entstehung des Körpers und damit eine zuvor unbekannte Autonomie zugesprochen. Die früheste namentlich bekannte Persönlichkeit, die sich zur Seelenwanderung bekannte, war der um 583 geborene Pherekydes von Syros, dessen Schrift über die Götter allerdings nicht erhalten ist. Sein etwas jüngerer Zeitgenosse und angeblicher Schüler Pythagoras verbreitete diese Lehre im griechisch besiedelten Süditalien; seine Prominenz verschaffte ihr in weiten Kreisen Bekanntheit. Die frühen Pythagoreer meinten, dass die Seelen der Menschen auch in Tierleiber eingehen; sie gingen davon aus, dass zwischen menschlichen und tierischen Seelen kein Wesensunterschied bestehe. ==== Naturphilosophisches Verständnis der frühen Vorsokratiker ==== Die als Vorsokratiker bezeichneten frühen Denker setzten sich unter naturphilosophischen Gesichtspunkten mit der Seele auseinander. Bei ihnen erscheint die psychē als Bewegungsprinzip des sich selbst und anderes Bewegenden. In diesem Sinne hielt Thales außer den Lebewesen auch den Magneten und wegen der elektrischen Anziehung den Bernstein für beseelt, nicht jedoch – wie ihm irrtümlich unterstellt wurde – sonstige Gegenstände. Anaxagoras sah im universalen nous (Geist) die Bewegungsursache und den Herrscher aller Dinge einschließlich der beseelten; den Angaben des Aristoteles zufolge unterschied er nicht klar zwischen dem nous und der psychē, die er ebenfalls als Beweger bezeichnete. Er beschrieb den nous als das „feinste“ und „reinste“ aller Dinge, dachte also auch ihn nicht wirklich unstofflich. Einige Vorsokratiker fassten die Seele zudem als Wahrnehmungs- oder Erkenntnisprinzip auf.Die theoretische Beschreibung der Seele als Lebensprinzip bestand dabei überwiegend in einem reduktiven Physikalismus, der die psychē auf etwas Materielles oder Materiellem Ähnliches (Feinstoffliches) zurückführte. So soll Empedokles gelehrt haben, die psychē, die er im traditionellen Sinn mit dem physischen Leben verband, bestehe aus den vier Elementen. Nicht sie, sondern ein Wesen, das er daimōn nannte, war für ihn die unsterbliche Seele, der er die Seelenwanderung zuschrieb. Den daimōn, dessen Befreiung aus dem Kreislauf von Geburt und Tod er anstrebte, bezeichnete er ausdrücklich als einen Gott.Als Luft wird die Seele in einem traditionell dem Philosophen Anaximenes zugeschriebenen Fragment bezeichnet, das jedoch nach heutigem Forschungsstand von Diogenes von Apollonia stammt. Auch Anaximander und Anaxagoras sollen sie für luftartig gehalten haben. Daneben gab es eine von manchen Pythagoreern vertretene, vermutlich ursprünglich aus ärztlichen Kreisen stammende Vorstellung, wonach die Seele eine Harmonie der Körperfunktionen sei. Diese Auffassung war mit dem Unsterblichkeitsgedanken unvereinbar.Auch in Heraklits Seelenlehre, deren Einzelheiten aus den erhaltenen Fragmenten nicht klar hervorgehen, hat die psychē eine stoffliche Qualität. Sie bewegt sich zwischen zwei gegensätzlichen Zuständen hin und her, von denen der eine feucht oder wässrig, der andere trocken ist. Wenn sie trocken und damit dem feurigen Vernunftprinzip nahe ist, befindet sie sich in ihrer bestmöglichen Verfassung und ist weise. Das Ausmaß ihrer Verständigkeit hängt von demjenigen ihrer aktuellen Trockenheit ab. Durch Trunkenheit wird sie feucht und büßt damit die Fähigkeit des Verstehens ein. Setzt sich das wässrige Prinzip gänzlich durch, so stirbt die Seele, doch erscheint ihr dies nicht als Untergang, sondern sie empfindet es als Genuss. Somit unterliegt sie ebenso wie der Kosmos als Ganzes unablässigen Umwandlungsprozessen. Heraklit hielt sie für so tiefgründig, dass man ihre Grenzen nicht finden könne. ==== Demokrits materialistisches Modell ==== Demokrit, der letzte bedeutende Vorsokratiker, erklärte im Rahmen seiner konsequent materialistischen Weltdeutung die Seele als Zusammenballung von kugelförmigen, glatten Seelenatomen, die sich von den übrigen Atomen durch größere Beweglichkeit unterscheiden, welche sie ihrer Form und ihrer Kleinheit verdanken. Die Seelenatome Demokrits sind aber nicht – wie in der älteren Forschungsliteratur oft angenommen wurde – durch eine feuerartige Qualität gekennzeichnet. Vielmehr sind alle Atome hinsichtlich ihrer materialen Beschaffenheit von gleicher Qualität, sie unterscheiden sich nur durch Größe, Form und Geschwindigkeit. Phänomene wie Wärme, Kälte und Farbe entstehen erst durch die beständige Bewegung und Interaktion der Atome. Die Seelenatome schweben in der Luft; durch die Atmung werden sie ihr entnommen und wieder an sie zurückgegeben. Der Tod ist das Ende dieses Stoffwechsels, mit ihm zerstreuen sich die Seelenatome des Verstorbenen. Eine Unsterblichkeit der Seele ist in diesem System undenkbar. Körper und Seele schützen einander durch ihre Verbindung vor der ihnen ständig drohenden Auflösung. Die Seele ist eine atomare Struktur, deren Bestandteile, die Seelenatome, ständig ausgetauscht werden; sie verflüchtigen sich fortlaufend und werden durch neu eingeatmete Seelenatome ersetzt. Während des Lebens sind die Seelenatome im ganzen Körper verbreitet und setzen die Körperatome in Bewegung. Auch alle mentalen Phänomene sind durch Bewegungen konzentrierter Massen von Seelenatomen mechanisch erklärbar. Wahrnehmung geschieht dadurch, dass sich von den Objekten Atome ablösen und in Form von Bildchen (eidola) in alle Richtungen ausströmen; diese Abbilder der Objekte dringen ins Auge ein und vermitteln dem Wahrnehmenden so deren Gestalten. Auch das ethische Verhalten und das Wohlbefinden der Person sind von den Atombewegungen verursacht. Zu heftige Atombewegungen bedeuten schädliche seelische Erschütterungen; Gemütsruhe und eine pragmatische Haltung entsprechen relativer Stabilität der atomaren Strukturen. ==== Sokrates und Platon ==== In der von Platon überlieferten Fassung der Verteidigungsrede seines Lehrers Sokrates (469–399) tritt der Gedanke in den Vordergrund, dass die Sorge um die Seele (epiméleia tēs psychēs) eine vorrangige Aufgabe sei. Das Wohlergehen der Seele erscheint mit der Einsichtsfähigkeit des Menschen und seinem Zugang zur Wahrheit verknüpft: Für Platon (428/7–348/7), der in seinen Werken seine Gedanken Sokrates in den Mund zu legen pflegt, ist die Seele immateriell und unsterblich, sie existiert unabhängig vom Körper, also schon vor dessen Entstehung. Daraus ergibt sich ein konsequenter anthropologischer Dualismus: Seele und Körper sind nach ihrer Beschaffenheit und nach ihrem Schicksal völlig verschieden. Ihr vorübergehendes Zusammentreten und Zusammenwirken ist somit nur zeitweilig bedeutsam, ihre Trennung erstrebenswert; der Körper ist „Grab der Seele“. Sokrates und Platon setzen die Seele sowohl ethisch als auch kognitiv mit der Person gleich. Da allein die Seele eine Zukunft über den Tod hinaus hat, kommt es nur auf ihre Förderung und ihr Wohlergehen an. Wegen ihrer Gottähnlichkeit als unsterbliches Wesen steht es ihr zu, über den vergänglichen Körper zu herrschen. In mehreren Mythen beschreibt Platon das Leben der Seele im Jenseits, das Seelengericht und die Seelenwanderung. Dabei verknüpft er das Schicksal der Seele mit ihren ethischen Entscheidungen.Mit folgenden Überlegungen will Platon seine Auffassung plausibel machen: Für die gesamte Natur gilt, dass entgegengesetzte Dinge auseinander entstehen und ineinander übergehen; darin besteht das Werden und der Kreislauf der Natur, der ihren Fortbestand gewährleistet. Solche Gegensätze sind auch „Leben“ und „Totsein“, „Sterben“ und „Wiederaufleben“. Der Entwicklung, die zum Lebensende hinführt, entspricht daher eine gegenläufige, die vom Tod zu einem Wiederaufleben führt. Das bedeutet Wiedergeburt (Seelenwanderung).Die Seele ist in der Lage, sinnlich nicht wahrnehmbare Erkenntnisgegenstände (Ideen) wie „das Gerechte“, „das Schöne“ oder „das Gute“ zu erfassen. Sie wird von ihrer eigenen Natur angetrieben, ihr Interesse darauf zu richten. Das zeigt ihre Wesensverwandtschaft mit dem, wonach sie strebt. Die Ideen existieren jenseits der Vergänglichkeit und unabhängig von einzelnen Sinnesobjekten. Wäre die Seele selbst vergänglich, so hätte sie keinen Zugang zum Unvergänglichen.Das Lernen ist eine Aktivität der Seele. Es besteht nicht darin, dass die Seele etwas Neues und Fremdes von außen aufnimmt, sondern darin, dass sie sich – etwa durch einen Anstoß von einem Lehrer – an ein Wissen erinnert, das sie eigentlich bereits zuvor besessen hat, über das sie aber bis zu diesem Zeitpunkt nicht bewusst hat verfügen können. Dieses Wissen, die Kenntnis der Ideen und aller Dinge, hat sie aus ihrem vorgeburtlichen Dasein mitgebracht. Sie hat es an einem „überhimmlischen Ort“ erworben; hinzu kommen ihre Erfahrungen aus ihren früheren Erdenleben und aus der Unterwelt. Durch Wiedererinnerung (Anamnesis) macht sie sich das verschüttete Wissen verfügbar.Die Einzeldinge bewegen sich zwar zwischen den Gegensätzen hin und her, aber die Gegenpole selbst bleiben sich immer gleich. Die Seele ist ein solcher Pol, denn sie ist das Leben in uns. Daher ist sie todlos; sterben kann nur etwas Belebtes, nicht das Leben selbst.Im Unterschied zu allen Objekten, deren Bewegungen von außen verursacht werden und mit dem Wegfall des äußeren Verursachers aufhören, bewegt die Seele sich selbst und bewegt auch anderes. Die Eigenschaft, als erste Bewegungsursache von sich aus Bewegung bewirken zu können, gehört zu ihrer Natur und ist ein Definitionsmerkmal. Diese Eigenschaft kommt ihr daher nicht nur in einem bestimmten Zeitraum zu, sondern ist ohne Anfang und Ende. Als erster Ursprung aller Bewegung hat die Selbstbewegung keinen Ursprung in der Welt des Werdens und Vergehens, die eine solche Fähigkeit nicht besitzt und nicht aus sich hervorbringen kann. Daher ist die Seele als Träger dieser Fähigkeit ewig.Zu jedem Ding gehören fördernde und schädigende Faktoren; zu letzteren zählt beispielsweise für das Auge eine Augenkrankheit, für das Eisen Rost. Für die Seele ist das Übel, das sie schädigt, „Ungerechtigkeit“ – ein durch Unwissenheit bedingtes Handeln gegen die eigene Natur. Bei einem ungerechten Menschen zeigt sich, dass seine Bosheit seine Seele nicht zerstört wie eine Krankheit den Körper. Das Körperübel kann den Körper zerstören, das Seelenübel kann die Seele nicht zerstören. Also ist die Seele nicht zerstörbar. Die inneren Konflikte der Menschen erklärt Platon damit, dass die Seele aus wesensverschiedenen Teilen bestehe, einem vernunftbegabten (logistikón) mit Sitz im Gehirn, einem triebhaften, begehrenden (epithymētikón) mit Sitz im Unterleib und einem muthaften (thymoeidēs) mit Sitz in der Brust. Der muthafte Seelenteil ordnet sich leicht der Vernunft unter, der begehrende neigt dazu, sich ihr zu widersetzen. Dafür verwendet Platon das Bild eines Pferdewagens: die Vernunft hat als Wagenlenker ein Zweigespann von zwei verschiedenartigen Rossen (Wille und Begehren) zu lenken und dabei das schlechte Ross (das Begehren) zu bändigen, damit jeder Seelenteil die ihm zukommende Funktion in rechter Weise erfüllt. Die naturgemäße Ordnung ist dann gegeben, wenn die Vernunft die sinnlichen Begierden zügelt, welche sie von ihren wesentlichen Aufgaben ablenken, und wenn sie bei ihrer Wahrheitssuche vom Immaterielle – der absolut zuverlässigen Ideenwelt – ausgeht und den irrtumsanfälligen Sinneswahrnehmungen misstraut. Die Funktionen sind nicht strikt aufgeteilt, vielmehr hat jeder Seelenteil eine ihm eigene Form des Begehrens und verfügt über eine kognitive Fähigkeit. Daher können auch die nichtrationalen Teile eigene Meinungen oder zumindest Vorstellungen bilden.Durch die sehr unterschiedliche Beschaffenheit ihrer Teile ist die Seele uneinheitlich. Dennoch bildet sie nach Platons ursprünglichem Konzept insofern eine Einheit, als alle Seelenteile an der Unsterblichkeit und an der jenseitigen Existenz der Seele teilhaben. Im Spätwerk jedoch fasst Platon die beiden niederen Seelenteile als vergängliche Hinzufügungen zur unsterblichen Vernunftseele auf. Durch diese Verselbständigung der Vernunftseele entsteht ein dreiteiliges (trichotomes) Menschenbild; der Mensch ist aus der Vernunftseele, dem nichtrationalen Seelenbereich und dem Körper zusammengesetzt, die Person ist die Vernunftseele.Da Platon jede selbständige Bewegung als Beweis für Beseeltheit betrachtet, hält er nicht nur Menschen, Tiere und Pflanzen, sondern auch die Gestirne für beseelt. Auch dem Kosmos als Ganzem schreibt er dieses Merkmal zu; er bezeichnet ihn als ein von der Weltseele beseeltes Lebewesen. Die vernunftbegabte Weltseele ist nach seiner Darstellung vom Demiurgen geschaffen. Auch die Einzelseelen nennt er an verschiedenen Stellen etwas Entstandenes. Wenn man diese Aussage wörtlich im zeitlichen Sinne versteht, widerspricht sie dem Prinzip der Anfangslosigkeit des Unvergänglichen. Schon für die antiken Interpreten stellte sich daher die Frage, was genau mit „geworden“ (gégonen) gemeint ist. Meist deuteten sie – wohl mit Recht – die „Erschaffung“ des Kosmos bzw. der Weltseele im Sinne einer metaphorischen Redewendung, die auf eine ontologische Hierarchie hinweisen soll und nicht im wörtlichen Sinne einer Entstehung zu einem bestimmten Zeitpunkt aufzufassen ist. Demnach ist die Seele überzeitlich, aber ontologisch ist sie etwas Abgeleitetes.Im Dialog Phaidros beschreibt Platon die Seele als geflügelt. Nach dem Verlust ihrer Flügel sinke sie zur Erde hinab und nehme einen irdischen Körper an. Wenn ein Mensch philosophiere, könnten seiner Seele neue Flügel wachsen, über die sie in der Todesstunde verfüge. ==== Aristoteles ==== Die Seelenlehre des Aristoteles ist in seinem Werk Über die Seele (Peri psychēs, lateinisch De anima) dargelegt; ferner äußert er sich darüber in seinen kleinen naturphilosophischen Schriften („Parva naturalia“). Die Abhandlung Über die Seele bietet auch eine Fülle wertvoller Informationen über die Seelenvorstellungen der Vorsokratiker. In seiner Jugendzeit schrieb Aristoteles den Dialog Eudemos oder Über die Seele, der bis auf Fragmente verloren ist. Aristoteles erörtert und kritisiert die Auffassungen früherer Philosophen, insbesondere diejenige Platons, und präsentiert seine eigene. Er definiert die Seele als „die erste Entelechie“ (Aktualität, Verwirklichung, Vollendung) „eines natürlichen Körpers, der potentiell Leben hat“; einen solchen Körper bezeichnet er als „organisch“. Die Feststellung, dass der Körper potentiell Leben hat, besagt, dass er von sich aus nur zum Belebtsein geeignet ist; dass die Belebung tatsächlich verwirklicht wird, ergibt sich durch die Seele. Die Seele kann nicht unabhängig vom Körper existieren. Sie ist seine Form und daher nicht von ihm trennbar. Mit der ersten Wirklichkeit der Seele spricht Aristoteles ihre Grundtätigkeit an, die auch im Schlaf nicht aussetzt. Die Grundtätigkeit hält den Organismus zusammen und bewirkt, dass er nicht zerfällt. Sie unterscheidet sich von den Tätigkeiten einzelner seelischer Aspekte, die den verschiedenen Seelenvermögen entsprechen, nach deren Vorkommen Aristoteles das Leben klassifiziert. Die grundlegenden vegetativen Seelenvermögen Ernährung, Wachstum und Fortpflanzung kommen allem Leben zu, Wahrnehmung, Fortbewegung und Strebevermögen nur den Tieren und dem Menschen. Nur dem Menschen ist das Denken eigen. Die Besonderheit des Menschen, seine für die Denktätigkeit zuständige Instanz, ist der Geist (nous). Der nous ist zwar als Möglichkeit, als „möglicher Intellekt“ (griechisch nous pathētikós oder nous dynámei, lateinisch intellectus possibilis) in der Seele angelegt, als bewirkender Intellekt (später lateinisch intellectus agens genannt) ist er jedoch eine vom Körper und auch von der Seele unabhängige Substanz, die „von außen“ hinzutritt und erst dadurch aus der Möglichkeit des menschlichen Denkens eine Wirklichkeit macht. So entsteht die menschliche Denkseele (noētikḗ psychḗ oder speziell unter dem Aspekt ihrer diskursiven Aktivität dianoētikḗ psychḗ). Sie kann alle Formen in sich aufnehmen. Ihre Erkenntnisse gewinnt sie nicht wie bei Platon durch Wiedererinnerung, sondern aus den Objekten der Sinneswahrnehmung, indem sie abstrahiert. Die Sinneswahrnehmungen und die Emotionen, darunter Affekte, die auch körperlich stark hervortreten – Zorn ist etwa begleitet von einem „Sieden des Blutes und des Warmen um das Herz herum“ –, sind Phänomene der „Sinnenseele“ (to aisthētikón oder aisthētikḗ psychḗ, lateinisch anima sensitiva).Für Aristoteles ist die Seele ein immaterielles Formprinzip der Lebewesen, Ursache der Bewegung, aber selbst unbewegt. Er lokalisiert sie beim Menschen und den höheren Tierarten hinsichtlich aller ihrer Funktionen im Herz. Sie steuert alle Lebensvorgänge über die Lebenswärme, die im gesamten Körper vorhanden ist. Die Seele wird durch die Zeugung an die Nachkommen weitergegeben; sie ist bereits im Samen anwesend. Die Existenz von Körper und Seele einschließlich des möglichen Intellekts endet für Aristoteles mit dem Tod. Der aktive Intellekt hingegen ist und bleibt vom physischen Organismus getrennt und ist daher von dessen Tod nicht betroffen; er ist leidensunfähig und unvergänglich. Daraus leitet Aristoteles jedoch keine individuelle Unsterblichkeit der einzelnen Person ab. ==== Stoiker ==== Die Stoa, eine im späten 4. vorchristlichen Jahrhundert gegründete Philosophenschule, entwickelte ihre Seelenvorstellung von einem materialistischen Ansatz aus. Eine Hauptquelle zur altstoischen Seelenlehre sind Auszüge aus einem verlorenen Werk des Chrysippos von Soloi, das den Titel Über die Seele trug. Chrysippos war das dritte Schuloberhaupt der Stoa. Seine Lehre ist eine Weiterentwicklung derjenigen des Schulgründers Zenon von Kition. Die Stoiker betrachteten im Gegensatz zu Platonikern und Peripatetikern die Seele als körperlich (feinstofflich). Nach der stoischen Lehre ist die ganze Welt der sinnlich wahrnehmbaren Materie von einer feuerartigen Substanz, dem pneuma, durchzogen. Schon Zenon von Kition nahm eine vernunftbegabte, feurige Weltseele an, die er pneuma nannte. Die Seele eines irdischen Lebewesens (psyche) ist in ihrer Gesamtheit eine spezielle Erscheinungsform des pneuma. Die Einzelseele von Mensch und Tier entsteht zwischen Zeugung und Geburt, indem sich das relativ dichte pneuma in die feinere Qualität der psyche umwandelt; dieser Prozess wird mit der Geburt abgeschlossen. Pflanzen haben keine psyche; ihr Leben basiert auf einer anderen Art von pneuma. Die Seele durchdringt den ganzen Körper, bewahrt dabei aber stets ihre eigene Identität. Im Tod trennt sie sich vom Körper. Sie überlebt zwar nach der altstoischen Lehre zumindest bei manchen Menschen diese Trennung, ist jedoch nicht unsterblich, sondern löst sich zu einem späteren Zeitpunkt auf. Eine Unterwelt als Totenreich gibt es nicht, denn die Seele kann wegen ihrer relativen Leichtigkeit nur emporsteigen.Die menschliche Seele hat als Besonderheit einen „herrschenden Teil“ (hēgemonikón), der die Tätigkeiten des Intellekts ausführt. Sein Sitz ist nach der Mehrheitsmeinung der Stoiker im Herzen. Vom hēgemonikón gehen auch alle emotionalen Antriebe und überhaupt jede psychische Aktivität aus. Dort werden alle Eindrücke aufgenommen und gedeutet. Neben dem hēgemonikón gibt es sieben untergeordnete Teile bzw. Funktionen: die fünf Sinne, das Sprachvermögen und das Fortpflanzungsvermögen. Im Rahmen dieser materiellen Seelentheorie deuteten die Stoiker die Wechselwirkung zwischen der Seele und dem Körper physikalistisch. Sie führten sie darauf zurück, dass die Seele sich anspanne und entspanne und damit auf den Körper Druck ausübe, worauf sie dessen Widerstand als Gegendruck registriere. Auf diesem Effekt beruhe die Selbstwahrnehmung des Individuums.Die frühen Stoiker verwarfen die platonische Annahme verschiedenartiger Seelenteile mit unterschiedlichen oder gegensätzlichen, teils irrationalen Neigungen. Sie stellten ihr die Überzeugung entgegen, der herrschende intellektuelle Teil der Seele, das hēgemonikón, sei die einheitliche Instanz, die alle Entscheidungen fälle. Unerwünschte und schädliche Gefühlsregungen erklärten sie als Fehlfunktionen des hēgemonikón, die von seinen falschen Einschätzungen herrührten und insbesondere in Überschreitung der Grenzen des Angemessenen bestünden. So wurde das gesamte Gefühlsleben auf rationale Vorgänge in der Seele zurückgeführt. Was als emotionaler Konflikt erscheint, ist demnach nur Ausdruck eines Schwankens der Vernunft in der Frage, welcher Vorstellung sie zustimmen soll. Daraus zogen die Stoiker die Konsequenz, den Tieren mentale Funktionen weitgehend abzusprechen.Diese altstoischen Lehren verbreiteten sich in der radikalen, von Chrysippos stammenden Version, wurden aber schon in der mittleren Periode der Stoa erheblich abgewandelt. So lehrte Panaitios von Rhodos im 2. Jahrhundert v. Chr., dass die Seele mit dem Körper sterbe. Sein Schüler Poseidonios vertrat die Existenz der Seele vor der Entstehung des Körpers und ihre Fortdauer nach dem Tod, hielt aber an ihrer Vergänglichkeit fest. Er sprach ihr eine irrationale Komponente zu. In der jüngeren Stoa der römischen Kaiserzeit vermieden Seneca († 65) und Mark Aurel († 180) eine eindeutige Festlegung hinsichtlich der Frage, was beim Tod aus der Seele wird, doch stand auch für diese Stoiker fest, dass ein allfälliges Fortbestehen der körperlosen Seele zeitlich begrenzt und Unvergänglichkeit auszuschließen ist. ==== Epikureer ==== Epikur (342/341–271/270) fasste im Rahmen seines konsequenten Atomismus auch die Seele als materiellen Bestandteil des physischen Organismus auf, er hielt sie für einen Körper innerhalb des Körpers. Daher gehört in seiner Philosophie die Seelenkunde zur Physik. Er verglich die Seelenmaterie mit Wind und Hitze und meinte, dass sie sich über den gesamten Körper verteile. Von der grobstofflichen Materie unterscheide sich die seelische durch ihre feinere Beschaffenheit. Der römische Epikureer Lukrez beschrieb sie als eine Mischung von wärmeartigen, luftartigen und windartigen Atomen sowie einer vierten Atomart, welche die Übermittlung von Sinneswahrnehmungen an den Verstand ermögliche. Diese Atome seien glatt, rund und besonders klein und daher beweglicher als diejenigen der sonstigen Materie. Dies erkläre die Geschwindigkeit der Gedanken. Als den Ort der psychischen Aktivität bezeichnete Lukrez die Brust. Wenn der Tod eintritt, löst sich nach der epikureischen Lehre die Seele auf, da ihre atomaren Bestandteile sich schnell zerstreuen. Der Zusammenhalt der Seelenmaterie ist nur durch deren Anwesenheit im Körper möglich. Die Wahrnehmung geschieht dadurch, dass sich von den Wahrnehmungsobjekten ständig Atome ablösen, die der Struktur ihrer Herkunftsobjekte entsprechen und daher deren Abbilder sind. Sie strömen in alle Richtungen und erreichen so auch die wahrnehmende Seele, in der sie entsprechende Eindrücke erzeugen. Somit setzt jede mentale Veränderung eine atomare voraus. Den durchgängigen Determinismus, der aus einem solchen Weltbild abgeleitet werden kann, lehnte Epikur jedoch ab; er schrieb den Atomen geringfügige nicht determinierte Abweichungen von den Bahnen zu, denen sie nach physikalischer Gesetzmäßigkeit folgen müssten, und schaffte damit Raum für die Vorstellung, dass es einen Zufall gibt. ==== Mittel- und Neuplatoniker ==== Der einflussreiche Mittelplatoniker Numenios und die Neuplatoniker forderten eine Rückkehr zur ursprünglichen Lehre Platons, wobei sie die Kosmologie und die Seelenlehre betonten. Im Neuplatonismus wurde der platonische Grundsatz, das philosophische Leben als Vorbereitung auf den Tod – das heißt auf ein nachtodliches Dasein der Seele – aufzufassen, besonders akzentuiert. In der Spätantike stand die religiöse Dimension des Platonismus im Vordergrund. Der Neuplatonismus präsentierte sich als seelenbezogener Erlösungsweg und konkurrierte als solcher mit dem Christentum. Die Präexistenz und Unsterblichkeit der Seele und die Seelenwanderung sowie das Ziel der Befreiung von der Materie waren Kernpunkte der neuplatonischen Philosophie, ebenso wie die Herkunft der Seele aus der immateriellen, göttlichen Welt und die Möglichkeit ihrer Rückkehr in diese Heimat. In manchen Einzelheiten gingen die Meinungen der Neuplatoniker allerdings auseinander. Plotin hielt an der pythagoreischen, auch von Platon vertretenen Auffassung fest, dass tierische und menschliche Seelen von Natur aus wesensgleich seien. Aus seiner Sicht sind die Unterschiede zwischen Menschen, Tieren und Pflanzen nur Äußerlichkeiten, die mit der Verschiedenheit ihrer Körperhüllen zusammenhängen; sie spiegeln den jeweiligen zeitbedingten Zustand der Seelen. Konsequenterweise behauptete er sogar, die menschlichen Seelen seien von Natur aus den Göttern gleich. Im Gegensatz dazu lehrten Iamblichos von Chalkis, Syrianos und die anderen späten Neuplatoniker, die Menschenseele sei ihrer Natur nach von den Seelen der vernunftlosen Lebewesen verschieden und inkarniere sich daher nur in menschlichen Körpern. Iamblichos verwarf auch die Lehre Plotins, nach der die Seele während ihres Aufenthalts im Körper ständig mit der intelligiblen Welt verbunden ist, da ihr oberster Teil immer dort weilt. Diese Annahme hielt er für unvereinbar mit der Erfahrung, dass die Seele im Körper Unglück erlebt. Auch Proklos lehnte diese Auffassung Plotins ab.Auch das platonische Konzept der Weltseele bauten die Mittel- und Neuplatoniker aus. So betrachtete Plotin die Weltseele als dritthöchste Hypostase im hierarchischen Aufbau der Gesamtwirklichkeit. Sie steht in Plotins Modell unterhalb des Einen und des aus dem Einen hervorgegangenen nous, der Weltvernunft. Die Weltseele ist aus dem nous „entstanden“, was aber nicht in zeitlichem Sinn zu verstehen ist, sondern metaphorisch im Sinn einer überzeitlichen ontologischen Ordnung. Sie gehört der intelligiblen Welt als deren unterster Teil an. Unmittelbar darunter beginnt die sinnlich wahrnehmbare Welt, die Welt des „Werdens und Vergehens“, auf welche die Weltseele einwirkt. Nach Plotins Überzeugung umfasst die Weltseele alle Einzelseelen. Das Weltall ist ein einheitliches, von ihr beseeltes Lebewesen, woraus sich die Verbundenheit aller seiner Teile miteinander ergibt. ==== Mythologie und Kunst ==== In der Mythologie ist Psyche erst im 2. Jahrhundert literarisch belegt, als Hauptfigur in der Erzählung Amor und Psyche des römischen Schriftstellers Apuleius. Dort erscheint Psyche als sterbliche Königstochter, die von ihrem Gemahl, dem Gott Amor, verlassen wird. Erst nachdem sie gefährliche Aufgaben bewältigt hat, darunter einen Abstieg in die Unterwelt, kann sie wieder mit ihm vereint werden und wird unter die Unsterblichen aufgenommen. Ob das Hauptanliegen des Autors phantasievolle, humoristische Unterhaltung war oder ein religiöses, an den Himmelsflug der Seele in Platons Phaidros anknüpfendes Läuterungsmotiv, wobei Psyche als Allegorie der menschlichen Seele aufzufassen wäre, wird in der Literaturwissenschaft kontrovers diskutiert.Das Motiv der Verbindung von Amor und Psyche ist allerdings weit älter. In der griechischen bildenden Kunst kommen Mädchen mit Vogelflügeln (später auch Schmetterlingsflügeln), die wohl als Psyche-Darstellungen anzusehen sind, an der Seite von ebenfalls geflügelten Amor-Gestalten schon seit dem 5. Jahrhundert v. Chr. vor. Gelegentlich erscheint auf Gemälden in Pompeji Psyche mit Fledermausflügeln in Anknüpfung an eine Stelle in der Odyssee, wo die Seelen der Toten mit Fledermäusen verglichen werden. Beliebt waren in der Antike Abbildungen der Seele als Seelenvogel oder Schmetterling, vor allem als Nachtfalter. Vasenmaler stellten die Seele oft als eidōlon dar, als kleine geflügelte oder ungeflügelte, meist in der Luft flatternde oder durch die Luft eilende Gestalt eines Verstorbenen. Mitunter findet sich in Kunst und Literatur auch das Motiv der Seele in Schlangengestalt; so berichtet Porphyrios in seiner Biographie Plotins über den Tod des Philosophen: „Da kroch eine Schlange unter der Bettstatt hindurch, auf der er lag, und schlüpfte in ein Loch in der Wand, und er gab seinen Geist auf.“ Offensichtlich ist hier die Seelenschlange gemeint. ==== Die Frage nach dem Sitz der Seele ==== Schon in der Antike wurde versucht, den Sitz der Seele im Körper zu ermitteln und auch einzelne psychische Funktionen zu lokalisieren. Heraklit verglich die Seele mit einer Spinne, die in der Mitte ihres Netzes sitzt und, sobald eine Fliege einen der Fäden zerreißt, schnell herzueilt, als würde ihr der Schaden im Netz Schmerz bereiten. So wie die Spinne begebe sich die Seele, wenn ein Körperteil verletzt sei, schleunig dorthin, als wäre ihr die Verletzung des Körpers unerträglich. Aristoteles hielt das Gehirn für blutlos und meinte daher, es könne für die Verarbeitung der Sinneswahrnehmungen keine Rolle spielen. Er nahm an, dass alle Nerven von Sinnesorganen und Haut zum Herzen führten und dieses der Sitz der Seele und der Sinnesempfindungen sei. Im Zeitalter des Hellenismus gingen die Meinungen über den Ort des Steuerungszentrums (hēgemonikón) der mentalen Vorgänge auseinander; die Lokalisierung im Herzen wurde von einem großen Teil der Gelehrten vertreten, während andere für das Gehirn plädierten. Schon im 3. Jahrhundert v. Chr. untersuchte der Anatom Herophilos von Chalkedon die vier Hirnventrikel; er vermutete das wichtigste Steuerungszentrum im vierten (hintersten) Ventrikel.Ein Hauptvertreter der Gehirnhypothese war der berühmte Arzt Galenos (2. Jahrhundert), der anatomisch argumentierte. Er meinte zwar, dass die Seele sich im Gehirn befinde, ortete sie aber nicht im Ventrikelsystem und wies die einzelnen Verstandestätigkeiten nicht bestimmten Hirnbereichen zu. Diese Zuweisung ist erst im späten vierten Jahrhundert bezeugt (Poseidonios von Byzanz, Nemesios von Emesa). Nemesios bezeichnete die beiden vorderen Ventrikel als die Organe, die für die Auswertung der Sinneswahrnehmungen und das Vorstellungsvermögen (phantastikón) zuständig sind, den mittleren als Organ des Denkvermögens (dianoētikón) und den hintersten als Organ des Gedächtnisses (mnēmoneutikón). Er argumentierte, man könne dies bei Schädigungen einzelner Ventrikel erkennen, die jeweils zur Störung oder zum Verlust der zugehörigen mentalen Funktionen führen, und erklärte damit auch unterschiedliche psychische Krankheiten. === Judentum === ==== Antike ==== In der hebräischen Bibel, dem Tanach, stellen „Seele“ und Körper Aspekte des als Einheit aufgefassten Menschen dar. Die den Körper belebende Kraft – in religionswissenschaftlicher Terminologie die Körperseele oder Vitalseele – heißt im biblischen Hebräisch nefesch (נפש), neschama oder auch ru'ach (רוח). Alle drei Begriffe bezeichnen ursprünglich den Atem. Weder nefesch noch neschama noch ru'ach ist etwas spezifisch Menschliches; die drei Ausdrücke werden auch für Tiere verwendet. ===== Neschama ===== Neschama (hebräisch נְשָׁמָה) ist der Lebensatem, den laut dem Buch Genesis Gott seinem aus Erde geformten Geschöpf Adam in die Nase einblies, womit er ihn zu einem lebendigen Wesen (nefesch) machte. Die konkrete Grundbedeutung von nefesch ist „Atem“ und „Atemweg“, „Kehle“ sowie wegen des Fehlens einer begrifflichen Unterscheidung zwischen Luft- und Speiseröhre auch „Gurgel“, „Schlund“. Daher bezeichnet das Wort auch die Quelle des mit der Nahrungsaufnahme verbundenen Verlangens (Hunger und Durst, Appetit und Gier) und in erweitertem Sinne auch den Sitz von sonstigem Begehren, von Leidenschaften und Gefühlen wie Rachedurst, Sehnen und Zuneigung. ===== Nefesch ===== Nefesch (hebräisch נֶפֶשׁ næfæš) ist als der belebende Atem die Lebenskraft, die den Menschen beim Tode verlässt, und das Leben, das bedroht, riskiert oder ausgelöscht wird. Im weitesten Sinne steht nefesch auch für den gesamten Menschen mit Einbeziehung des Körpers und bedeutet dann „Person“ (auch beim Zählen von Personen). Der Mensch hat nicht eine nefesch, sondern er ist sie und lebt als nefesch. Daher wird nefesch auch als Ersatz für ein Pronomen verwendet, etwa in der Bedeutung von „jemand“. Der Gott JHWH hat eine nefesch, bei der er schwört. Sie kommt im Tanach einundzwanzigmal vor, allerdings nicht in allen seinen Teilen. Der physische Träger der Lebenskraft ist das Blut. Ob das Wort nefesch sogar „Leichnam“ bedeuten konnte, ist strittig. Jedenfalls ist die in älteren deutschen Übersetzungen des Tanach übliche Wiedergabe mit „Seele“ unpassend. Der Tanach schreibt nefesch weder eine Existenz vor der Entstehung des Körpers noch Unsterblichkeit zu, und nefesch tritt nirgends losgelöst vom Körper auf. ===== Ru'ach ===== Ru'ach (hebräisch רוּחַ rûaḥ) verbindet die Bedeutungen „Atem“, „Wind“ und „Geist“. Zu den einschlägigen hebräischen Ausdrücken gehört ferner das Wort leb („Herz“). Es bezeichnet neben dem physischen Organ auch die Lebenskraft, den Sitz der intellektuellen Fähigkeiten und der Gefühle, des Willens und der Entschlüsse und im weitesten Sinne die ganze Person. ===== Hellenistisches Judentum ===== Teile des späten, insbesondere des hellenistischen Judentums kannten eine Fortexistenz des Menschen nach seinem irdischen Tode, die für einen Teil der Autoren mit einer leiblichen Auferstehung verbunden sein musste, während andere an eine vom Körper losgelöste Seele dachten. Es wurde ein Weltgericht beschrieben, in welchem die Toten nach ihren Werken gerichtet werden.In den Schriften aus der Zeit des Zweiten Tempels und im Judentum der Diaspora (vor und nach der Zerstörung des Tempels im Jahre 70 n. Chr.) bestanden widersprüchliche Vorstellungen nebeneinander. Die rabbinischen Theologen vertraten sehr unterschiedliche Ansichten. Einerseits wurde die „Seele“ weiterhin mit dem Leben oder der Person gleichgesetzt, andererseits übernahmen griechisch beeinflusste gebildete Juden aus dem Platonismus und den philosophischen Strömungen des Hellenismus die Auffassung der Seele als eines eigenständigen, unabhängig vom Körper existierenden Wesens. Unter ihnen war die Ansicht verbreitet, die Seele sei himmlischer Herkunft, der Leib irdischen Ursprungs. Die Essener nahmen nach dem Bericht des jüdischen Geschichtsschreibers Flavius Josephus eine unsterbliche, feinstoffliche Seele an, die im Körper wie in einem Gefängnis lebt und beim Tode befreit wird. Die Pharisäer glaubten an eine Auferstehung, die Sadduzäer hingegen bestritten Unsterblichkeit und Auferstehung. Der im frühen 1. Jahrhundert tätige, stark vom Platonismus beeinflusste Philosoph Philon von Alexandrien meinte, die Vernunftseele sei zwar für ein ewiges Leben bestimmt, doch seien manche Seelen nicht in der Lage, diese Bestimmung zu erfüllen. Die Unsterblichkeit komme nicht von Natur aus allen Seelen zu, sondern sei die Belohnung für richtiges Verhalten während des irdischen Lebens. Nur den Tugendhaften sei die Ewigkeit beschieden, für schlechte Menschen sei der Tod des Körpers mit Auslöschung ihrer Seelen verbunden.Bei amoräischen Gelehrten kam die Annahme der Präexistenz der Seele hinzu. Um 300 n. Chr. lehrte Rabbi Levi, Gott habe sich mit den Seelen beraten, bevor er sein Schöpfungswerk ausführte. ==== Mittelalter und Neuzeit ==== In der mittelalterlichen jüdischen Philosophie setzte sich seit dem 9. und 10. Jahrhundert (Saadja ben Josef Gaon, Isaak Israeli) unter dem prägenden Einfluss des Platonismus (nunmehr einschließlich des Neuplatonismus), der später auch indirekt über Avicenna rezipiert wurde, die Überzeugung von der Unsterblichkeit der Seele durch, die Saadja mit einem betonten Auferstehungsglauben verband. Für die Unsterblichkeit plädierten insbesondere jüdische Neuplatoniker des 11. und 12. Jahrhunderts wie Solomon ibn Gabirol (Avicebron), Bachja ben Josef ibn Paquda, Abraham bar Chijja und Abraham ben Meir ibn Ezra. Allerdings verstanden manche jüdische Philosophen des Mittelalters unter Unsterblichkeit nicht eine individuelle Fortexistenz, sondern ein Aufgehen der Seelen der Verstorbenen in der geistigen Welt. Dabei gingen sie davon aus, dass die Materie als Individuationsprinzip mit dem Tode wegfalle und die einzelne Seele ihr auf diesem Prinzip basierendes separates Dasein ohne den Körper nicht fortsetzen könne. Die Seele, die Saadja noch für feinstofflich gehalten hatte, wurde seit dem Hochmittelalter allgemein als unkörperliche Substanz aufgefasst; man betonte ihren rationalen Aspekt. Schwierigkeiten bereitete die Unsterblichkeitsidee den Aristotelikern des 12. Jahrhunderts, Abraham ibn Daud (Abraham ben David Halevi) und Maimonides (Mosche ben Maimon), die die Seele in aristotelischem Sinne als Form des Körpers betrachteten. Während Abraham ibn Daud meinte, dass die Seele mit dem Körper entstehe, aber in der Unsterblichkeitsfrage der platonischen Auffassung folgte, unterschied Maimonides zwischen einer angeborenen, sterblichen Seele und einer erworbenen, den Körper überdauernden Vernunftseele. Anscheinend glaubte Maimonides, dass die Vernunftseele im Jenseits nicht ein separates Individuum bleibe, sondern im göttlichen aktiven Intellekt aufgehe, doch vermied er es, dies klar zu formulieren.Noch stärker als bei den mittelalterlichen jüdischen Philosophen machte sich die neuplatonische Denkweise in der Kabbala bemerkbar. Dort wurde die Präexistenz der Seele und die Seelenwanderung (hebräisch gilgul) gelehrt. Nach einer im Buch Bahir dargestellten Tradition gibt es eine feste Zahl von präexistenten Seelen. Anfänglich waren sie alle an einem guf genannten Ort versammelt, der Stätte der Seelen, die auf ihren Eintritt in einen Körper warten. Da laufend Menschen geboren werden, entleert sich der guf im Lauf der Zeit, bis schließlich die Geschichte durch völlige Entleerung des guf ihr Ende erreichen wird. Allerdings verzögert sich dieser Prozess durch die Sünde, denn unreine Seelen müssen zu ihrer Läuterung die Seelenwanderung durchmachen. In kabbalistischem Schrifttum kommt die Seelenwanderung seit dem 12. Jahrhundert vor. Insbesondere in der von Isaak Luria (1534–1572) begründeten lurianischen Kabbala, einer in der Folgezeit einflussreichen Strömung, spielt sie eine wichtige Rolle. === Christentum === ==== Neues Testament ==== Im Neuen Testament kommt der griechische Begriff ψυχή (psyche) vor, der in älteren Bibelübersetzungen mit „Seele“ wiedergegeben wird. Schon in der Septuaginta, der von jüdischen Gelehrten angefertigten griechischen Tanach-Übersetzung, war der hebräische Begriff נפש (nefesch) mit psyche übersetzt worden. In den Evangelien ist an den meisten Stellen, wo von psyche die Rede ist, „Leben“ im Sinne von nefesch gemeint, speziell zur Bezeichnung der Eigenschaft eines bestimmten Individuums – Mensch oder Tier –, lebendig zu sein. Dahinter steht die traditionelle Vorstellung eines mit dem Atem verbundenen, in der Kehle lokalisierten „Lebensorgans“. In diesem Sinne ist davon die Rede, dass die psyche als das Leben einer Person bedroht ist (Mt 2,20 ), etwa durch Mangel an Nahrung (Mt 6,25 ; Lk 12,22f. ), oder dass sie entzogen wird (Lk 12,20 ) und verloren wird (Mk 8,35–37 ). Die psyche ist der Sitz und Ausgangspunkt des Denkens, Fühlens und Wollens. In den neueren Bibelübersetzungen wird psyche nicht mit „Seele“, sondern mit „Leben“, „Mensch“ oder einem Personalpronomen übersetzt. Dieser ganzheitlichen Auffassung vom Menschen entspricht die schon im Urchristentum vorhandene Vorstellung einer leiblichen Auferstehung und einer leib-seelischen Einheit bei den Auferstandenen im Jenseits. Die Auferstehung Jesu wird als „Wiederaufnehmen“ der zuvor „hingegebenen“ psyche verstanden (Joh 10,17f. ). Andere Stellen zeigen jedoch, dass das neutestamentliche Verhältnis von Leib und Seele kompliziert ist. Der Begriff psyche ist unscharf, an manchen Stellen wohl mehrdeutig, die Übergänge zwischen seinen Bedeutungen sind fließend. Erkennbar ist ein Bedeutungswandel: Die Sprachentwicklung spiegelt das Aufkommen dualistischer Vorstellungen von Leib und Seele in der Anthropologie des hellenistischen Judentums. Die psyche im Sinne des neuen, hellenistisch geprägten Sprachgebrauchs existiert – anders als die alttestamentliche nefesch – unabhängig vom Leib und kann nicht getötet werden (Mt 10,28 ; siehe auch Offb 6,9 und Offb 20,4 ). Sie wird als ein dem Leib gegenüberstehender Teil des Menschen aufgefasst. Diese Bedeutungsverschiebung lässt sich durch den Einfluss philosophischer Konzepte griechischen Ursprungs erklären. Nach 1 Petr 3,19f. begab sich Jesus – anscheinend zwischen seinem Tod und seiner Auferstehung, also ohne seinen Leib – zu „im Kerker“ gefangenen „Geistern“, die zur Zeit der Sintflut ungehorsam gewesen waren, und predigte ihnen. Mit „Geistern“ (griechisch pneúmasin) sind hier vermutlich Seelen gemeint, die den Tod ihrer Körper überlebt haben und sich in der Unterwelt (Scheol) aufhalten; die Aussage wird traditionell und auch in neuerer Fachliteratur auf die „Höllenfahrt Christi“ bezogen, die Interpretation der schwierigen Stelle ist allerdings strittig. Dass den Toten – also körperlosen Seelen verstorbener Menschen – das Evangelium verkündet worden sei, wird in 1 Petr 4,6 mitgeteilt. In Offb 6,9–11 sieht der Visionär „die Seelen (psychás) derer, die geschlachtet worden waren“ und hört sie mit lauter Stimme rufen. Hier wird die Vorstellung einer Wahrnehmungs- und Handlungsfähigkeit der Seelen, die nach der Vernichtung ihrer Körper weiterhin leben, vorausgesetzt. Der Apostel Paulus verwendet den Begriff psyche in seinen Briefen nur elfmal und vermeidet ihn bei Aussagen über das Leben nach dem Tode. Seine Seelenvorstellung ist teils von jüdischem Denken, teils von der griechischen Philosophie und ihrer Terminologie geprägt. ==== Epoche der Kirchenväter ==== Die Apologeten des 2. Jahrhunderts setzten sich im Rahmen ihrer Verteidigung des Christentums auch mit den damals verbreiteten philosophischen Auffassungen über die Seele auseinander. Sie nahmen zwar wie die Platoniker und alle späteren Kirchenväter eine Fortexistenz der Seele bzw. des Geistes nach dem Tode an, bestanden aber wegen der Auferstehungslehre auf einer Verbindung von Leib und Seele auch im Jenseits, einer für Platoniker ausgeschlossenen Vorstellung. Justin der Märtyrer verwarf die platonische Lehre, wonach die Seele von Natur aus unsterblich ist; er meinte, sie sei ihrer eigenen Natur nach vergänglich und nur durch Gottes Willen unsterblich. Tatian bezeichnete die Seele als zusammengesetzt. Er unterschied zwischen einer von Natur aus sterblichen Seele (psyche), welche auch Tiere haben (denen er sogar Verstand zusprach), und einem unsterblichen Geist (pneuma) des Menschen. In der Schrift Über die Auferstehung der Toten aus dem 2. Jahrhundert, die vielleicht von Athenagoras von Athen stammt, wird behauptet, die Auferstehung des Leibes und seine Wiedervereinigung mit der Seele sei notwendig. Der Argumentation des Autors zufolge würde die menschliche Natur als solche aufgehoben, wenn die Seele allein fortbestünde. Die Verbindung der Seele mit dem Körper wäre zwecklos, wenn sie auf die Dauer des irdischen Lebens beschränkt bliebe. Diese Möglichkeit sei auszuschließen, denn unter Gottes Werken und Gaben könne nichts Unnützes sein. Daher müsse auch die Verbindung der beiden Bestandteile des Menschen sinnvoll und somit auf Dauerhaftigkeit angelegt sein.Auch Bischof Irenäus von Lyon, der sich in der zweiten Hälfte des 2. Jahrhunderts als theologischer Schriftsteller betätigte, nahm zum nachtodlichen Schicksal der Seele Stellung. Er lehrte, dass nach dem Tode des Körpers die Seele dessen Merkmale und Form behalte und sich in die Unterwelt (Hades) begeben müsse, die sie erst zur Zeit der künftigen Auferstehung verlassen werde. Bei der Auferstehung erhalte sie wiederum ihren Leib. Irenäus bekämpfte die christlichen Gnostiker, darunter die Karpokratianer, die die Seele für präexistent hielten und eine Seelenwanderung annahmen. Er meinte, der „natürliche“ Mensch sei aus Leib und Seele zusammengesetzt, der „vollkommene Mensch“ hingegen sei dreiteilig, da der „Geist Gottes“ in seine Seele eintrete und sich mit ihr verbinde.Tertullian († nach 220), der sich scharf gegen die griechische Philosophie wandte, verfasste eine Schrift Über die Seele. Er betrachtete die Seele als materiell (feinstofflich, licht- und luftartig) und schrieb ihr eine Gestalt zu, die derjenigen des Körpers entspreche. Dabei argumentierte er, dass die Seele keine Auswirkungen körperlicher Zustände erleben könnte, wenn sie nicht selbst körperlich wäre. Nach seiner Ansicht ist sie von Natur aus unsterblich und hinsichtlich ihrer Substanz einfach (einheitlich), er lehnte also die Idee von Seelenteilen ab. Tertullian meinte, dass die Seele des Kindes bei der Zeugung aus dem Samen des Vaters hervorgehe wie ein Spross aus einer Pflanze und daher jede Menschenseele ein Zweig aus Adams Seele sei. Durch diese Übertragung elterlicher Seelensubstanz auf das Kind erklärte er die Vererbung geistiger Eigenschaften und die (damals noch nicht so bezeichnete) Erbsünde. Diese Lehre, der Traduzianismus (von lateinisch tradux, „Spross“), eine Form des Generatianismus, fand als Erklärung für die Erbsünde manche Befürworter, wurde aber später von der katholischen Kirche verworfen. Clemens von Alexandria († 215 oder 221) war stark von der platonischen und der stoischen Denkweise beeinflusst. Er hielt die Seele zwar für feinstofflich, im Unterschied zu Tertullian bezeichnete er sie jedoch als (relativ) unkörperlich. Er unterschied zwei Seelenteile, das pneuma hegemonikón („regierender Geist“, Vernunftseele) und einen niederen, vernunftlosen Teil (Wahrnehmung, emotionale und vegetative Funktionen); daneben verwendete er gelegentlich auch ein auf stoischen Ideen fußendes Schema mit zehn Seelenteilen. Für den vernunftlosen Seelenteil nahm er Fortpflanzung im Sinne des Generatianismus an, die Vernunftseele trete dann hinzu. Wie auch andere Kirchenväter meinte Clemens, die Seele warte im Hades auf die Auferstehung des Leibes.Ein Schüler des Clemens war Origenes († um 253/254). Nach seiner Argumentation muss die Seele (das heißt, ihr geistiger Teil oder Aspekt) unkörperlich sein, denn sonst könnte sie Unsichtbares und Unkörperliches nicht erkennen und auch nicht über ein Gedächtnis verfügen; auch müsste ihr, wenn sie körperlich wäre, eine bestimmte sinnlich wahrnehmbare Substanz als Objekt zugeordnet sein so wie den körperlichen Sinnen. Origenes nahm eine Präexistenz der Seele an. Später wurde ihm von gegnerischer Seite unterstellt, er habe auch die Seelenwanderung gelehrt. Er vertrat eine trichotome (dreiteilige) Anthropologie, wonach der Mensch aus einer Dreiheit besteht: Körper, Seele und „Lebensgeist“; außerdem erwog er die Möglichkeit, dass im Menschen zwei Seelen sind, eine präexistente himmlische und daneben eine niedere irdische, die bei der Zeugung entsteht; diese Frage ließ er offen.Laktanz († wohl 325) vertrat als erster klar und nachdrücklich den Kreatianismus, die dem Traduzianismus entgegengesetzte Lehre, die sich später in der katholischen Kirche gänzlich durchgesetzt hat. Der Kreatianismus besagt, dass die Seele weder vor der Zeugung bereits in einer geistigen Welt existiert noch durch die Fortpflanzung von den Eltern empfangen wird, sondern zum Zeitpunkt der Empfängnis unmittelbar von Gott geschaffen und in den sich bildenden Körper eingefügt wird. Auch Hieronymus trat für den Kreatianismus ein. Augustinus († 430) hingegen schwankte, da er für den Kreatianismus einerseits Verständnis aufbrachte, andererseits aber nicht in der Lage war, eine solche Erschaffung der Seelen mit der Erbsünde zu vereinbaren. Er vertrat die Einheit der Seele gegen die platonische Lehre von den Seelenteilen, nahm aber innerhalb der Seele eine Stufung in Anlehnung an die aristotelischen Tradition vor: rationale Seele (Seelenfunktion) mit Geist (mens) und Willen, irrationale Seelenfunktion mit Trieb, Sinneswahrnehmung und Gedächtnis und „nur lebende“ (vegetative) Seelenfunktion. Eingehend bemühte sich Augustinus um einen Nachweis der Unkörperlichkeit und Immaterialität der Seele.Eine dreiteilige Anthropologie mit soma, psyche und nous (Körper, Seele und Geist) vertrat im späten 4. Jahrhundert der Bischof Apollinaris von Laodicea, wobei er sich auf eine Paulus-Stelle berief. Seine Anwendung dieser Lehre auf die Christologie, wonach Christus eine menschliche psyche hat, an die Stelle des menschlichen nous bei ihm jedoch der göttliche logos tritt, wurde später von der Kirche verurteilt. ==== Mittelalter ==== Die katholische Seelenlehre des Mittelalters orientierte sich jahrhundertelang an den Kirchenvätern, vor allem an Augustinus, dessen Ansichten in dem populären Traktat De statu animae („Über die Beschaffenheit der Seele“) des Kirchenschriftstellers Claudianus Mamertus (5. Jahrhundert) und in der aus dem 6. Jahrhundert stammenden Schrift Cassiodors De anima („Über die Seele“) zusammengefasst waren. Der Einfluss der platonischen Denkweise machte sich sowohl durch Augustinus als auch durch die ebenfalls sehr geschätzten theologischen Werke des spätantiken Neuplatonikers Pseudo-Dionysius Areopagita geltend. Hinzu kam der seit dem 11. Jahrhundert in lateinischer Übersetzung vorliegende spätantike Traktat Über die Natur des Menschen des Bischofs Nemesios von Emesa, der für die Betrachtung der Seele unter anthropologischem Gesichtspunkt eine wichtige Rolle spielte. Nemesios trat für die Präexistenz der Seele ein. Als Anhänger der platonischen Auffassung, die der Seele ein eigenständiges Dasein zuschreibt, bekämpfte er die aristotelische Lehre von der Seele als Entelechie des Leibes.Besonders stark vom Platonismus beeinflusst war der irische Philosoph Johannes Scottus Eriugena (9. Jahrhundert), der meinte, dass der Mensch nicht einen Intellekt habe, sondern sein „wahres und höchstes Wesen“ nichts anderes als der Intellekt sei. Die menschliche Seele betrachtete Eriugena als einen Aspekt der Weltseele. Auch im 12. Jahrhundert griffen einige Theologen, insbesondere Abaelard, Wilhelm von Conches und Thierry von Chartres, die platonische Idee einer Weltseele auf. Sie identifizierten die Weltseele mit dem Heiligen Geist. Diese Auffassung erregte allerdings Anstoß und wurde auf Betreiben Bernhards von Clairvaux von der Kirche verurteilt; daraufhin gaben Abaelard und Wilhelm von Conches sie auf. Andere Theologen des 12. Jahrhunderts wie Robert von Melun und der einflussreiche Augustiner-Chorherr Hugo von St. Viktor meinten, dass das Personsein des Menschen allein der Seele zukomme und diese daher der eigentliche Mensch sei. Die Gegenposition, wonach nicht die Seele, sondern nur der Mensch als Person bezeichnet werden kann, vertraten Gilbert von Poitiers (Gilbertus Porretanus) und seine Schüler; dieser Standpunkt setzte sich schließlich durch. Die meisten Theologen waren damals der Meinung, die Unsterblichkeit der Seele sei philosophisch nicht beweisbar und nur aus der biblischen Offenbarung abzuleiten.Die Vorherrschaft der platonischen Seelenauffassung endete, nachdem die im 12. Jahrhundert von Jakob von Venedig angefertigte lateinische Übersetzung von Aristoteles’ Schrift De anima („Über die Seele“) im frühen 13. Jahrhundert in Gelehrtenkreisen allgemein bekannt geworden war. Dieses Werk wurde zusammen mit dem ausführlichen Kommentar des Averroes eifrig studiert und oft kommentiert; ebenso wie andere Schriften des Aristoteles wurde es an den Universitäten ein grundlegendes Lehrbuch. Der aristotelische Grundsatz, dass die Seele die Entelechie des Körpers ist und das Verhältnis der beiden dasjenige von Form und Materie ist, und die Lehre von den drei Seelenteilen (intellektive, sensitive und vegetative Seele im Menschen) waren die Basis der Überlegungen und Diskussionen der spätmittelalterlichen Magister; den Rahmen ihrer anthropologischen Erkenntnisbemühungen bildeten generell die Terminologie und die Definitionen des Aristoteles. Ein schwieriges, oft erörtertes Problem bestand in der Aufgabe, das aristotelische Seelenverständnis mit dem Unsterblichkeitskonzept zu vereinbaren, auf das auch die Aristoteliker aus theologischen Gründen nicht verzichten wollten. Dabei ging es um die Frage, ob die Seele eine wesenhaft selbständige Substanz ist, ein hoc aliquid („dieses Etwas“), das die vollständige Natur einer Spezies in sich trägt, wie die platonisch denkenden Gelehrten meinten, oder ob sie im Sinne der von Aristoteles gegebenen Definition als Form des Körpers nur Teil eines solchen hoc aliquid – nämlich des Menschen – ist. Die erstere Auffassung vertraten zahlreiche Theologen und Philosophen in teils radikaleren, teils gemäßigten Varianten, teils nur hinsichtlich der intellektiven Seele (Roger Bacon), teils auch hinsichtlich der sensitiven Seele der Tiere und der vegetativen der Pflanzen (Galfrid von Aspall). Daraus wurde mitunter ausdrücklich die Konsequenz gezogen, im Sinne der neuplatonischen Tradition die Seele als zusammengesetzt aus Form und geistiger Materie (materia spiritualis) aufzufassen und damit ihre Eigenständigkeit gegenüber dem Körper zu untermauern (Roger Bacon, Bonaventura). Die aristotelische Gegenposition vertrat der Dominikaner Thomas von Aquin so konsequent, wie es bei Berücksichtigung der Unsterblichkeitslehre möglich war. Er stellte die Behauptung auf, die Seele sei die einzige Form des Körpers (anima unica forma corporis), womit er die Zusammengehörigkeit von Seele und Körper unterstrich. Dieser Satz wurde ein Kernbestandteil des von ihm begründeten Thomismus. Die gegenteilige Position, wonach es im Menschen eine Mehrzahl von Formen gibt und der Körper unabhängig von der Seele eine eigene Form (forma corporeitatis) hat, wurde insbesondere von Franziskanern vertreten, darunter Bonaventura und Johannes Duns Scotus.Von einer Lehrmeinung des Augustinus ausgehend meinten manche Philosophen, die Seele sei für sich selbst ein unmittelbar zugängliches Erkenntnisobjekt; daher sei die zuverlässigste Erkenntnis, die sie besitzen könne, die intuitive Selbsterkenntnis. Über diese verfüge sie ohne Hilfe eines von anderswoher empfangenen Erkenntnisbildes. Der gegenteiligen, streng aristotelischen Sichtweise zufolge, die Thomas von Aquin vertrat, gelangt die Seele nur indirekt zur Selbsterkenntnis, nämlich durch einen Akt, der sich auf ein äußeres Erkenntnisobjekt richtet; dadurch erhält sie ein Erkenntnisbild, und die Erkenntnisgewinnung geschieht diskursiv und reflexiv durch Rückwendung der Seele auf sich selbst.Hinsichtlich des Verhältnisses der Seele zur Außenwelt wurde kontrovers diskutiert, inwieweit die Seele gemäß einer berühmten Feststellung des Aristoteles „in gewisser Weise alles“ (Seiende) sei. Diese Aussage wurde im Sinne des Aristoteles damit begründet, dass die Seele fähig sei, die Erkenntnisbilder alles Erkennbaren aufzunehmen und in sich zu tragen. Ferner wurde behauptet, die Seele verfüge über angeborene Erkenntnisbilder der Außenweltobjekte. Überdies wurde angeführt, es bestehe eine Ähnlichkeits- oder Analogiebeziehung zwischen der Seele und den Außenweltobjekten; insofern umfasse die Seele als „Mikrokosmos“ den „Makrokosmos“ (die gesamte Wirklichkeit), da sie ihn abbilde. Eine solche Realentsprechung oder Analogie zwischen der Seele und dem gesamten Kosmos war die starke Variante der Mikrokosmos-Theorie; die schwache Variante ließ die Theorie nur „in gewisser Weise“ gelten.Turbulent verliefen die Auseinandersetzungen um den Averroismus. Der muslimische Philosoph Averroes, der als Aristoteles-Kommentator in der katholischen Welt viel Beachtung fand, hatte an Aristoteles anknüpfend gelehrt, dass es nur einen einzigen universellen Intellekt gebe und daher in allen Menschen ein und derselbe Intellekt tätig sei und die Erkenntnis herbeiführe. Damit wurde das individuelle Fortleben der vernunftbegabten Seele nach dem Tode in Zweifel gezogen, was zu heftigen Reaktionen mancher Theologen und der kirchlichen Obrigkeit führte. Außerdem war in averroistisch beeinflussten Kreisen die Überzeugung verbreitet, die Tätigkeit des Intellekts sei das Merkmal, das den Menschen zum Menschen mache, und daher sei das philosophische Leben die Vollendung des Menschseins; wer den Intellekt vernachlässige, könne nur in einem uneigentlichen Sinne (aequivoce) Mensch genannt werden. Auch Albert der Große betonte, der Mensch sei seinem Wesen nach identisch mit dem, was das Vorzüglichste in ihm sei, nämlich dem Intellekt (homo solus intellectus). Dagegen wurde jedoch eingewendet, dass nach Aristoteles die Körpermaterie zur Wesens- und Begriffsbestimmung des Menschen gehört. Besonders Thomas von Aquin bekämpfte die Gleichsetzung des Menschen – als Art oder auch als Individuum – mit der Seele; die Formulierung, dass der Mensch Intellekt sei, akzeptierte er nur in einer stark abgeschwächten Auslegung. Intensiv wurden im Spätmittelalter Fragen diskutiert, die sich auf die Rolle des möglichen und des tätigen Intellekts und das Verhältnis des Intellekts zur Seele oder die Funktion des Intellekts in der Seele bezogen. An neuplatonische Ideen anknüpfend fasste Dietrich von Freiberg den tätigen Intellekt als „Seelengrund“ auf, also nicht als Potenz der Seele, sondern als begründenden Ursprung ihres Wesens. Dieses Konzept wurde von Meister Eckhart abgewandelt. Er betonte, dass der Seelengrund oder das „Seelenfünklein“ nicht der tätige Intellekt und nicht „etwas an der Seele“ (aliquid animae) sei, sondern „etwas in der Seele“ (aliquid in anima). Dieses Fünklein sei in gewisser Hinsicht geschaffen, in anderer – wesentlicherer – Hinsicht ungeschaffen und unerschaffbar und damit zur Gotteserkenntnis befähigt, welche allem Geschaffenen prinzipiell verschlossen bleibe, weil Gott ungeschaffen und damit von allem Geschaffenen absolut verschieden sei.Ein weiterer Themenbereich, dem die spätmittelalterlichen Philosophen im Anschluss an Aristoteles viel Beachtung schenkten, war die Beschaffenheit der Tierseele, also die Frage nach den mentalen Fähigkeiten der Tiere (Gelehrigkeit, Vorstellungskraft, Gedächtnis, zweckmäßiges Handeln, Verständigung über innere Zustände durch Lautäußerungen, deren Bedeutung erfasst wird). Den Tieren wurde anstelle des menschlichen Verstandes eine „Einschätzungskraft“ (virtus aestimativa) der sensitiven Seele zugeschrieben, mit der beispielsweise ein Schaf den Wolf auch dann als Feind erkennt, wenn es noch nie zuvor einen Wolf gesehen hat, und mit der die Tiere wissen, welche Nahrung für sie bekömmlich ist. Diskutiert wurde, inwieweit diese Fähigkeit der Tierseele als verstandesähnlich einzustufen ist. Eine weitere Frage war, ob bei Tieren eine freie Wahlentscheidung vorkommt. In diesem Zusammenhang richtete sich das Interesse auch auf die mentalen Eigenschaften angenommener Mittelwesen oder Zwischenstufen zwischen Mensch und Tier, zu denen manche Gelehrte wie Albert der Große die Pygmäen zählten.Die faktische Gleichsetzung der Person mit der Seele fand in Begriffen wie „Seelenheil“ (salus animae) und „Seelsorge“ (cura animarum) Ausdruck. Das Gebet für das Heil der „armen Seelen“ Verstorbener im Fegefeuer war in der Volksfrömmigkeit verwurzelt. Es wurde eifrig betrieben und bildete insbesondere eine wichtige Aufgabe der Mönche, die diesen Gebetsdienst im Rahmen der Liturgie vollzogen. Zur allgemeinen Fürbitte für die Seelen im Fegefeuer wurde der Gedenktag Allerseelen eingeführt, der in der katholischen Kirche alljährlich am 2. November begangen wird. ==== Neuzeit ==== In der Neuzeit ist die Seelenlehre der Kirchenväter in ihren Grundzügen sowohl auf katholischer als auch auf evangelischer Seite bis in die Moderne vorherrschend geblieben, wenngleich es in der evangelischen Theologie schon in der Reformationszeit zur Neuinterpretation einzelner Aspekte kam. Nachdem aristotelisch und averroistisch orientierte Philosophen Argumente gegen die herkömmliche Unsterblichkeitslehre vorgebracht hatten, reagierte die katholische Kirche auf dem Fünften Laterankonzil mit einer dogmatischen Definition, die am 19. Dezember 1513 von den Konzilsvätern beschlossen wurde. In der Bulle Apostolici regiminis schrieb das Konzil die individuelle Unsterblichkeit der menschlichen Seele als verbindliche Glaubenswahrheit fest. Der Konzilstext drückte die Überzeugung aus, es handle sich um eine nicht nur geoffenbarte, sondern auch auf natürlichem Wege mittels der Vernunft einsehbare Tatsache; gegenteilige Meinungen seien nicht nur theologisch, sondern auch philosophisch unhaltbar. Ein namhafter Vertreter der Gegenmeinung war der Philosoph Pietro Pomponazzi (1462–1525), der lehrte, die Unsterblichkeit der Seele sei eine bloße Glaubenswahrheit und philosophisch nicht bewiesen. Die lehramtliche Festlegung des Fünften Laterankonzils ist noch heute ein fester Bestandteil der katholischen Dogmatik. Auch hinsichtlich der Entstehung der Seele und ihrer Verbindung mit dem Körper steht die katholische Kirche in der antiken und mittelalterlichen Tradition. So stellte Papst Pius XII. 1950 in der Enzyklika Humani generis fest: Daß nämlich die Seelen unmittelbar von Gott geschaffen werden, heißt uns der katholische Glaube festzuhalten. Damit wendet sich die Kirche gegen den Traduzianismus, der annimmt, die Seele des Kindes werde diesem bei der Zeugung aus den Seelen der Eltern mitgeteilt, indem ein Teil der elterlichen Seelensubstanz durch den körperlichen Samen auf das Kind übergehe. Die traditionelle Lehre wurde 2005 im Katechismus der Katholischen Kirche bekräftigt: Die Geistseele kommt nicht von den Eltern, sondern ist unmittelbar von Gott geschaffen; sie ist unsterblich. Sie geht nicht zugrunde, wenn sie sich im Tod vom Leibe trennt […].Auf evangelischer Seite wandte sich Martin Luther gegen die aristotelische Bestreitung der Unsterblichkeit der Seele. Er lehnte aber auch das Dogma des Fünften Laterankonzils nachdrücklich ab. Ihm missfiel die Vorstellung des Thomismus und der Konzilsväter, die Seele werde unabhängig vom Leib erschaffen und diesem dann eingegossen. Eine solche Anthropologie kann nach Luthers Meinung die erbsündliche Verdorbenheit des ganzen Menschen nicht erklären. Daher nahm er an, die Seele werde nicht von außen her in den Leib hineingestoßen, sondern Gott wirke sie von innen heraus durch seinen belebenden Atemhauch und sein allmächtiges Wort. Anderer Meinung war der Reformator Johannes Calvin, der eine stark platonisch geprägte Seelenlehre vertrat und den Körper als Gefängnis der Seele bezeichnete. Er betrachtete die Seele als immaterielle und unsterbliche Substanz und deutete den Tod als Befreiung der Seele vom Körper und damit auch als Erlösung von den Sünden.In der Moderne haben manche evangelische Theologen einen radikalen Bruch mit der herkömmlichen Seelenlehre vollzogen, indem sie die Existenz der Seele als eigenständige Substanz und damit auch ihre Trennbarkeit vom Leib und ihre Unsterblichkeit bestritten. Ihrer Auffassung nach stirbt die Seele zusammen mit dem Körper, da sie mit ihm eine unauflösliche Einheit bildet. Die künftige Auferstehung ist somit nicht eine Wiederverbindung der ununterbrochen fortexistierenden Seele mit dem auferstandenen Körper, sondern Auferstehung des ganzen Menschen. Diese Lehre ist als „Ganztodtheorie“ bekannt. Zu ihren Vertretern zählen Paul Althaus, Karl Barth, Emil Brunner, Eberhard Jüngel, Jürgen Moltmann und Oscar Cullmann. Die dem Ganztod-Konzept zugrundeliegende Denkweise hat auch auf katholischer Seite Zustimmung gefunden, insofern sie eine reale Trennung von Leib und Seele verneint. Beispielsweise schrieb Johann Baptist Metz 1964 im katholischen Lexikon für Theologie und Kirche über den Menschen: „Die Wirklichkeit seines Leibes ist nichts anderes als seine wirkliche Seele, […] so wie etwa […] ein Nadelstich, mit dem man ein Loch in ein Stück Papier sticht, in seiner Wirklichkeit nur gegeben ist als durchstochenes Papier […] ‚Seele‘ ist darum immer eine Aussage über den ganzen Menschen.“ Katholische Theologen, die den Gedanken der Ganzheitlichkeit des Menschen betonen, meinen, der Mensch als Leib-Seele-Einheit sterbe als ganzer. Sie unterscheiden sich aber von den evangelischen Ganztod-Befürwortern durch ihre Ansicht, der Tod sei nicht als gänzliche Auslöschung zu verstehen. Kritiker der Ganztodtheorie bringen vor, der Ganztod lasse keine Kontinuität zwischen dem geschichtlichen und dem auferstandenen Menschen zu. Bei einer Auferstehung aus dem Nichts wäre der Auferstandene ein neues Subjekt. Daher werde eine unsterbliche Seele als Träger der Kontinuität des menschlichen Ich benötigt. === Gnosis === Bei den antiken Gnostikern wurde eine Vielzahl von teils christlichen, teils nichtchristlichen Heilslehren verkündet. Es gab keine einheitliche Seelenvorstellung aller gnostischen Richtungen und insbesondere keine einheitliche Terminologie. Die griechisch schreibenden Gnostiker übernahmen für ihre Anthropologie gängige Ausdrücke der Platoniker, gaben aber dem Begriff psyche eine abgewandelte Bedeutung und schätzten die Seele anders ein. Während sich die Platoniker zum Ideal einer von der Vernunft gelenkten Seele bekannten, welche die gute, göttliche Weltordnung erkenne und sich nach ihr richte, war unter den Gnostikern eine wesentlich ungünstigere Bewertung der psyche verbreitet. Die Abwertung der psyche hing mit der gnostischen Ablehnung des sinnlich wahrnehmbaren Kosmos zusammen. Die Gnostiker unterschieden zwischen der göttlichen Lichtwelt, die sie pleroma nannten, und dem Bereich der Finsternis, dem von der Materie geprägten Diesseits, dem sie zu entkommen trachteten. Nur den menschlichen Geist (pneúma) ordneten sie der Lichtwelt zu. Unter psyche verstanden viele Gnostiker einen vom Geist verschiedenen, zwar immateriellen, aber zum Diesseits gehörenden und damit der Materie zugeordneten Teil des Menschen. Sie meinten, die psyche sei an sich wertlos und könne nur durch ihre Verbindung mit dem pneuma eine gewisse Bedeutung erlangen. Im Gegensatz zu den Platonikern, die den Hervorgang der Seele aus dem Geist als eine naturgemäße Selbstentfaltung des Geistes deuteten und daher positiv werteten, sahen die Gnostiker in der Entstehung des seelischen Bereichs eine bedauerliche Entfremdung des Geistes von sich selbst, die rückgängig zu machen sei. Sie strebten nach Erlösung der Geistpartikel, die sich im Diesseits verirrt hätten und in den Seelen gebunden seien. Nur der Geist, nicht die Seele könne erlöst werden. Allerdings verwendeten manche gnostische Autoren den Begriff psyche synonym zu pneuma oder fassten das Verhältnis von Seele und Geist anders auf. Der einflussreiche Gnostiker Basilides verglich die psyche mit einem Vogel und das pneuma mit dessen Flügeln: der Vogel könne ohne Flügel nicht fliegen, die Flügel seien ohne Vogel nutzlos. === Islam === Die frühe arabische Dichtung bezeichnet mit nafs das Selbst bzw. die Person. Der Koran verwendet das Wort ebenfalls in diesem Sinn (auch für die Person Gottes), aber auch im Sinn von „menschliche Seele“; dabei geht es auch um die psychischen Funktionen, insbesondere um unerwünschte Begierden, die von der Seele ausgehen und zu zügeln seien. Daneben findet sich bei den frühen Dichtern und im Koran das Wort rūḥ, das ursprünglich „Atem“ oder „Wind“ bedeutet und dann religiös den Hauch oder Atem, den Gott Adam einbläst, um seinem Körper das Leben zu verleihen (Vitalseele). Außerdem bezeichnet rūḥ im Koran auch eine besondere kognitive Qualität, die Gott ausgewählten Geschöpfen verleiht, und in übertragenem Sinne die damit ausgestatteten göttlichen Botschafter. Seit der Epoche der Umayyaden wird rūḥ oft gleichbedeutend mit nafs als Bezeichnung für die menschliche Seele verwendet, doch legen manche Autoren Wert auf eine Unterscheidung zwischen diesen Begriffen. Im Koran steht, dass Gott die Seelen im Schlaf aus den Körpern austreten lässt und danach zurückschickt.Über rūḥ wird im Koran festgestellt: Ar-rūḥ gehört zu der Fügung meines Herrn. Aber ihr habt nur wenig Wissen erhalten. Daraus ergibt sich aus theologischer Sicht, dass das Wesen der Seele geheimnisvoll und normaler menschlicher Erkenntnis weitgehend entzogen ist.Namhafte muslimische Philosophen wie al-Kindī († 873), al-Fārābī († 950) und Avicenna († 1037) gingen von der aristotelischen Seelenlehre aus, waren aber auch von der neuplatonischen Metaphysik beeinflusst. Wie frühere Denker übernahm Avicenna aus der aristotelischen Tradition den Begriff des aktiven Intellekts und verband ihn mit einer neuplatonischen Emanationslehre, welche die Seele auf den Geist (Nous) zurückführt. Im aktiven Intellekt sah er das universelle Prinzip, das dafür sorgt, dass der menschliche Intellekt aus Potentialität zum Akt übergeht. Der aktive Intellekt gibt dem Intellekt des Menschen die intelligiblen Formen ein, durch welche Wissen konstituiert wird. Die Sinneswahrnehmung kann die Aufnahme der Formen nicht herbeiführen, sie disponiert nur dazu. In Avicennas Modell geht die Seele aus dem aktiven Intellekt hervor; sie ist immateriell, unzerstörbar, unsterblich und nicht notwendig an den Körper gebunden. Nach seiner Überzeugung könnte ein Mensch in gesundem Zustand, wenn er zeitweilig nichts von seinem Körper wahrnehmen könnte, seine eigene Identität als Selbst oder Seele nicht leugnen, auch wenn ihm sonst nichts bekannt wäre.Der persische Philosoph Rhazes († 925 oder 935) führte den Eintritt der Seele in die materielle Welt auf ihre Unwissenheit zurück. Sie habe das Dasein im Körper erleben wollen und Gott habe es ihr nicht verwehrt, sondern den verhängnisvollen Schritt zugelassen, damit sie aus eigener Erfahrung lernen und schließlich die unzuträgliche Umgebung verlassen könne.Der einflussreiche Theologe al-Ghazālī († 1111) meinte, der Islam bestätige zwar die Existenz der Seele als einer eigenständigen Substanz, doch handle es sich dabei um eine Glaubenswahrheit und die Philosophen seien nicht in der Lage, einen philosophischen Beweis dafür zu erbringen. Er hielt die Seele für eine unkörperliche, rein spirituelle Substanz, die über Wissen und Wahrnehmung verfügt. Diese Auffassung wurde zwar von manchen Philosophen geteilt, hat sich aber nicht in der islamischen Theologie durchsetzen können. Die traditionell dominierende Ansicht ist die gegenteilige, die der prominente Theologe ibn al-Qaiyim († 1350) am ausführlichsten dargelegt hat. In seinem Buch über die Seele (kitāb ar-rūḥ) argumentierte er, dass die Seele, wenn sie unkörperlich wäre, keine Beziehung zum Räumlichen und Körperlichen haben könnte. Sie sei materiell, wenn auch von anderer Beschaffenheit als der physische Körper, und stelle einen eigenständigen Körper dar.Nach der Lehre des von al-Ghazali beeinflussten Theologen Fachr ad-Dīn ar-Rāzī († 1209) ist nafs die unsterbliche individuelle Seele, rūḥ eine feinstoffliche Materie im Körper, die zwischen nafs und den grobstofflichen Körperorganen vermittelt.Hinsichtlich der Präexistenz der Seelen gingen die Meinungen auseinander. Nach einer verbreiteten Auffassung, die u. a. der spanische Gelehrte Ibn Hazm († 1064) vertrat, sind die Seelen aller Menschen schon vor Adam und Eva erschaffen worden; sie warten an einem Himmelsort, bis sie in einen Embryo eingehaucht werden. Andere Theologen nahmen einen späteren Erschaffungszeitpunkt an.Unter den Philosophen gab es Anhänger der auf antiker Tradition fußenden Auffassung, dass es eine Weltseele (an-nafsu’l-kulliyya) gebe und die menschlichen Seelen deren Ausfluss seien und an ihr teilhätten. Dieser Meinung war schon al-Kindī und später der berühmte Sufi Ibn ʿArabī († 1240).Eine Sonderposition nahm der Aristoteliker Averroes († 1198) ein, der – Aristoteles folgend – die individuelle Unsterblichkeit verwarf. Seit dem Mittelalter befassen sich die Theologen – vor allem die Sufis und vom Sufismus beeinflusste Autoren – mit der Seele in erster Linie unter dem Gesichtspunkt ihrer Triebhaftigkeit. Für die Seele als triebhafte Instanz wird stets die Bezeichnung nafs verwendet. Die Triebseele gilt als schlimmster Feind des Menschen, da sie ihn mit ihrer Unwissenheit, Sprunghaftigkeit und unersättlichen Gier ins Verderben bringe. Daher wird gefordert, ihr nicht nachzugeben, sondern sie zu verachten und streng zu disziplinieren. Man soll sie sogar „töten“, was aber nur metaphorisch gemeint ist, denn angestrebt wird nicht ihre Vernichtung, sondern ihre radikale Umwandlung in mehreren Entwicklungsstufen. Im Laufe dieses Prozesses soll sie geläutert werden, sich zunehmend von körperlichem Genuss abwenden und sich in den Dienst des Geistes stellen. === Neuzeitliche Anknüpfungen an traditionelle Konzepte === Eine Anknüpfung an Seelenvorstellungen antiken Ursprungs ist in der Neuzeit sowohl in religiös-weltanschaulichem Kontext als auch in der Kunst erfolgt. Insbesondere in der Moderne und bis in die Gegenwart sind Einzelpersonen sowie neue religiöse oder weltanschauliche Bewegungen und Gemeinschaften mit eigenen Seelenlehren hervorgetreten, die sie oft empirisch, jedoch subjektiv, d. h. auf der Basis persönlicher Erfahrungen begründen. Häufig berufen sich die Vertreter dieser Lehren auf Aussagen einzelner Personen, die den Anspruch erheben, durch ihre Erfahrungen einen Zugang zu Wissen über die Seele erlangt zu haben. In manchen Fällen wird behauptet, den ursprünglichen Verkündern der Lehren seien Neuoffenbarungen von Gott, von Christus oder von Boten Gottes oder Geistwesen zuteilgeworden. Andere Anhänger neuer Seelenkonzepte führen das beanspruchte Wissen auf eine Fähigkeit zu außersinnlicher Wahrnehmung zurück. Oft wird an traditionelle Seelenvorstellungen angeknüpft. Wie im Platonismus und der platonisch beeinflussten christlichen Tradition wird die Seele oder zumindest ihr Kern als immaterielle, vom Körper trennbare und unvergängliche Substanz beschrieben. In der modernen Esoterik sind zahlreiche Konzepte verbreitet, die auf dieser Grundannahme basieren. Dabei werden auch Begriffe wie „Selbst“ synonym zu „Seele“ verwendet. Zum Teil handelt es sich um Weiterentwicklungen von Gedankengut indischen Ursprungs mit entsprechender Terminologie. ==== Kunst ==== Bildende Künstler haben das Motiv der Seele – ikonographisch als Psyche in der Tradition antiker Darstellungen – aufgegriffen und neu gestaltet. Die Bildhauer Wolf von Hoyer (1806–1873) und Georgios Bonanos (1863–1940) schufen Skulpturen der geflügelten Psyche. Die Himmelfahrt der Seele nach dem Tode ist unter anderem auf Gemälden von Antonio Balestra (1666–1740) und William Adolphe Bouguereau (1825–1905) dargestellt. Vor allem die Psyche-Gestalt aus der antiken Erzählung von Amor und Psyche hat sich bis in die Moderne in der bildenden Kunst großer, anhaltender Beliebtheit erfreut. ==== Neuoffenbarungen ==== Der schwedische Gelehrte Emanuel Swedenborg (1688–1772) gab an, er habe durch göttliche Gnade die Fähigkeit erhalten, die geistige Welt wahrzunehmen und mit Engeln und Geistern Gespräche zu führen. Er identifizierte den Menschen mit der unsterblichen Seele, die den Körper nur vorübergehend als Organ nutze. Beim Tod trenne sich die Seele vom Körper und gehe in eine andere Welt über. Jakob Lorber (1800–1864) bezeichnete sich als „Schreibknecht Gottes“, der Neuoffenbarungen einer inneren Stimme, der Stimme Christi, aufgezeichnet habe. Er unterschied zwischen dem Leib, der als menschengestaltig beschriebenen Seele und dem reinen Geist, der in der Seele wohne und zu ihrer Leitung berufen sei. Die Aufgabe der Seele sei es, sich dem Geistigen zu öffnen und sich nach dem Geist zu richten. Der Tod befreie die Seele vom Leib. Ähnliche Seelenkonzepte, in denen der Tod als Trennung der unsterblichen Seele vom Körper aufgefasst wird und die Schicksale der Seelen im Jenseits beschrieben werden, finden sich in einer Reihe von Neuoffenbarungen, beispielsweise bei Bertha Dudde (1891–1965). ==== Theosophie und Anthroposophie ==== Die Seelenkunde bildet einen wichtigen Bestandteil der von Helena Petrovna Blavatsky (1831–1891) begründeten Theosophie sowie der von Rudolf Steiner (1861–1925) begründeten Anthroposophie und des auf Steiners Weltanschauung fußenden Gedankenguts der Christengemeinschaft. Blavatsky ging von einer Dualität des geistigen Menschen aus, der aus einer sterblichen und einer unsterblichen Seele bestehe; die unsterbliche sei göttlicher Natur und mit dem Nous gleichzusetzen. Den Aufenthalt der Seele im Körper betrachtete Blavatsky als Gefangenschaft und Verunreinigung und daher als Übel. Dabei berief sie sich sowohl auf die platonische Tradition als auch auf die buddhistische Deutung des menschlichen Daseins.Rudolf Steiner bekämpfte die Ansicht, der Mensch bestehe aus zwei Teilen, Leib und Seele. Ihr stellte er die anthroposophische Auffassung entgegen, der zufolge eine „dreigliedrige Einteilung der menschlichen Wesenheit“ anzunehmen ist. Die drei Glieder seien Körper, Seele und Geist. Auch die Seele weise eine Dreigliederung auf; sie sei aus der Empfindungsseele, der Verstandes- oder Gemütsseele und der Bewusstseinsseele zusammengesetzt. Die Empfindungsseele sei für die Sinneswahrnehmungen zuständig, sie sei auch der Sitz der Triebe, Begierden und Willensimpulse. Die Verstandes- oder Gemütsseele wandle die Affekte der Empfindungsseele in höhere Regungen wie etwa Wohlwollen um. Die Bewusstseinsseele sei diejenige seelische Instanz, die durch das Denken nach der Erkenntnis einer in ihr selbst gegenwärtigen Wahrheit strebe. Diese Seelenlehre hat Steiner in zahlreichen Publikationen detailliert dargelegt. ==== Spiritismus und Parapsychologie ==== Im Spiritismus wird die Totenbeschwörung praktiziert. Spiritisten behaupten, mit den Geistern Verstorbener kommunizieren zu können. Die Annahme eines Fortlebens nach dem Tode ist daher die Grundvoraussetzung einer spiritistischen Weltanschauung. Zwar ist in der spiritistischen Literatur oft nicht von Seelen, sondern von Geistern die Rede, doch ist dabei mit „Geist“ ein als unsterblich und vom Körper unabhängig geltender Teil des Menschen gemeint, also das, was in vielen traditionellen Seelenlehren als Seele oder Geistseele bezeichnet wird. Allan Kardec, ein führender Theoretiker des Spiritismus, verwendete die Begriffe „Seele“ und „Geist“ synonym.In der Parapsychologie werden die Phänomene, auf die sich die Spiritisten als empirische Grundlage ihrer Theorie berufen, unterschiedlich gedeutet. Die erörterten Erklärungen zerfallen in mehrere Hauptgruppen, wobei zwei Deutungstypen in der Diskussion im Vordergrund stehen: die „animistische Hypothese“ und die „spiritistische Hypothese“ oder „survival hypothesis“. Die spiritistische Hypothese besagt, es handle sich vermutlich zumindest bei einem Teil der Phänomene tatsächlich um reale Kontakte mit fortlebenden Verstorbenen, das heißt – je nach Terminologie – mit deren Seelen, Geistern oder Astralleibern. Unter dem Begriff „animistische Hypothese“ werden Deutungen zusammengefasst, die alles, was nicht mit normaler Informationsübermittlung erklärbar zu sein scheint, auf verschiedene Formen von außersinnlicher Wahrnehmung zurückführen. Diese Modelle kommen ohne die Annahme realer Geistwesen aus.Verschiedentlich werden Nahtoderfahrungen als Hinweise auf ein Weiterleben der Seele nach dem Tod gedeutet. == Neuzeitliche Philosophie, Psychologie und Anthropologie == Unter moderner systematischer Perspektive lassen sich die mit der Thematik der Seele zusammenhängenden philosophischen Fragen zu unterschiedlichen Themenfeldern gruppieren. Diese gehören größtenteils zu den Gebieten Erkenntnistheorie (einschließlich Wahrnehmungstheorie), Philosophie des Geistes und Ontologie. Zentral ist das sog. Leib-Seele-Problem oder auch Körper-Geist-Problem, also die Frage, wie körperliche und geistige Phänomene zusammenhängen. Gefragt wird beispielsweise, ob körperlichen und geistigen Phänomenen dieselbe oder eine ontologisch verschiedene Substanz zugrunde liegt und ob es eine wirkliche Interaktion von Überlegungen und Körperzuständen gibt oder das Bewusstsein bloße Folgewirkung somatischer und insbesondere neuronaler Determinanten ist. === Das cartesianische Modell und seine Nachwirkung === Neue Impulse bekam die Debatte in der Neuzeit insbesondere durch die Naturphilosophie und Metaphysik von René Descartes (1596–1650). Seine Denkweise wird in Anlehnung an die latinisierte Namensform des Philosophen als cartesianisch bezeichnet. Descartes verwarf das traditionelle aristotelische Verständnis der Seele als Lebensprinzip, das Tätigkeiten der Lebewesen wie Ernährung, Bewegung und Sinneswahrnehmung ermöglicht und steuert sowie für die Affekte zuständig ist. Alle Vorgänge, die nicht nur beim Menschen, sondern auch bei Tieren ablaufen, hielt er für seelenlos und rein mechanisch. Demnach haben die Tiere keine Seele, sondern sind maschinenartig. Die Seele identifizierte er ausschließlich mit dem Geist (lateinisch mens), dessen Funktion nur das Denken sei. Nach Descartes' Auffassung hat man streng zwischen der durch ihre räumliche Ausdehnung gekennzeichneten Materie (res extensa) und der ausdehnungslosen denkenden Seele (res cogitans) zu unterscheiden. Das denkende Subjekt kann sich nur von seiner eigenen Denktätigkeit unmittelbar Gewissheit verschaffen. Damit kann es einen Ausgangspunkt der Natur- und Welterkenntnis gewinnen. Der Körper, zu dessen Bereich Descartes die irrationalen Lebensakte zählt, ist ein Teil der Materie und lässt sich vollständig im Rahmen der Mechanik erklären, während sich die denkende Seele als immaterielle Entität einer solchen Erklärung entzieht. Die Seele ist für Descartes eine reine, unveränderliche Substanz und daher von Natur aus unsterblich. Descartes’ zentrales Argument für seine dualistische Position wird mit Abwandlungen bis heute in der Philosophie diskutiert. Es lautet, zunächst könne man sich klar und deutlich vorstellen, dass sich das Denken als seelischer Vorgang unabhängig vom Körper vollziehe. Alles, was man sich klar und deutlich vorstellen könne, sei zumindest theoretisch auch möglich, es könne von Gott entsprechend eingerichtet worden sein. Wenn es zumindest theoretisch möglich sei, dass Seele und Körper unabhängig voneinander existieren, so müsse es sich um verschiedene Entitäten handeln. Ein zweites, naturphilosophisches Argument besagt, dass die Fähigkeit zu sprechen und intelligent zu handeln sich durch die Interaktion physischer Komponenten nach Naturgesetzen nicht erklären lasse, sondern vielmehr etwas Nichtphysisches voraussetze, das man mit Recht Seele nennen könne.Im Kontext der Debatten des 17. Jahrhunderts über den aristotelischen Vitalismus, der die Seele als Form, Individuationsprinzip und Kontrollorgan des Körpers versteht, und die cartesianische mechanistische Interpretation, die alle Körperfunktionen durch Naturgesetze erklären will, vertrat Anne Conway (1631–1679) eine Sonderposition. Sie kritisierte den cartesianischen Dualismus u. a. mit dem Argument, dass er im Widerspruch zu seinen Voraussetzungen lokale und andere Begriffe auf die Seele anwende, die nach dualistischem Verständnis nur für die Materie angemessen seien. Zudem sei im Dualismus die Verbindung von Seele und Körper nicht einsichtig; eine Interaktion von Seele und Körper – wie z. B. geistige Kontrolle oder Schmerzempfinden – setze voraus, dass sie gemeinsame Eigenschaften aufweisen. Daher nahm Conway nur eine einzige Substanz im Universum an. In ihrem System sind Materie und Geist nicht absolut verschieden, sondern zwei Erscheinungsformen der einen Substanz; daher können sie ineinander übergehen.Die Cambridger Platoniker, eine Gruppe von neuplatonisch orientierten englischen Philosophen und Theologen des 17. Jahrhunderts, machten die Verteidigung der individuellen Unsterblichkeit der Seele zu einem ihrer Hauptanliegen. Dabei wandten sie sich sowohl gegen die Vorstellung eines Aufgehens der Einzelseele in einer umfassenden Einheit als auch gegen das materialistische Konzept eines Endes der Persönlichkeit mit dem Tod. Gegen den Materialismus brachten sie insbesondere vor, eine zureichende mechanische Erklärung der Lebensvorgänge und geistigen Prozesse sei nicht möglich. Ihre antimechanistische Grundhaltung führte sie auch zur Kritik an der mechanistischen Naturauffassung der Cartesianer. Gottfried Wilhelm Leibniz (1646–1716) entwickelte sein Seelenkonzept in Auseinandersetzung mit dem cartesianischen Modell. Wie Descartes nahm er immaterielle Seelen an. Im Unterschied zu dem französischen Philosophen hielt er aber nicht den Gegensatz zwischen Denken und Ausdehnung (Materie), sondern den Unterschied zwischen der Fähigkeit, Vorstellungen zu haben, und dem Nichtvorhandensein dieser Fähigkeit für das wesentliche Kriterium. Daher verwarf Leibniz die cartesianische These, dass die Tiere Maschinen seien, und vertrat die Ansicht, dass zumindest manche Tiere eine Seele hätten, da sie ein Gedächtnis besäßen. Er schrieb nicht nur den menschlichen, sondern auch den Tierseelen eine individuelle Fortexistenz nach dem Tode zu.Immanuel Kant (1724–1804) hielt es für unmöglich, auf theoretischer Ebene die Existenz einer unsterblichen Seele zu beweisen oder zu widerlegen. Mit seiner Stellungnahme wandte er sich sowohl gegen die traditionelle, auf dem Platonismus fußende Seelenmetaphysik als auch gegen den Cartesianismus. Seine Argumentation in der Kritik der reinen Vernunft richtete sich aber nicht gegen die Annahme einer unsterblichen Seele. Er bestritt nur ihre Beweisbarkeit und die Wissenschaftlichkeit einer „rationalen Psychologie“, die durch bloße Folgerungen aus etwas unmittelbar Einsichtigem, dem Selbstbewusstsein, unabhängig von aller Erfahrung Erkenntnis über die Seele zu gewinnen versucht. Die rationale Psychologie sei allein auf dem Satz „Ich denke“ erbaut, und diese Grundlage sei zu dürftig für Aussagen über die Substantialität und die Eigenschaften der Seele. Kant legte dar, dass es sich bei den angeblichen Unsterblichkeitsbeweisen um Paralogismen (Fehlschlüsse) handle. Aus der Tatsache des Selbstbewusstseins lasse sich nicht, wie Descartes meinte, eine inhaltliche Selbsterkenntnis der Seele gewinnen. Innerhalb der reinen Rationalität gelange die Selbsterkenntnis nicht über die Feststellung einer inhaltlich leeren Selbstbeziehung hinaus; sobald man aber zu Aussagen über Zustände und Eigenschaften der Seele übergehe, komme man ohne Erfahrung nicht aus. Das Subjekt könne sich in seiner Selbstwahrnehmung nicht als Ding an sich erfassen, sondern nur als Erscheinung, und wenn es über sich selbst nachdenke, sei der Gegenstand dieses Denkens ein reines Gedankending, das von den verschiedenen Varianten der traditionellen Seelenmetaphysik mit einem Ding an sich verwechselt werde. Daraus folgerte Kant aber nicht, dass der Begriff Seele in der Wissenschaft überflüssig sei. Vielmehr hielt er eine empirische Psychologie, die eine Naturbeschreibung der Seele liefert, für sinnvoll; diese könne allerdings nicht zu einer ontologischen Wesensbeschreibung führen. Eine empirisch erforschbare Seele schrieb Kant auch den Tieren zu, wobei er auf Analogien zwischen Mensch und Tier verwies.Unabhängig von seiner Kritik an der rationalen Psychologie bejahte Kant die Annahme, dass die menschliche Seele unsterblich sei, auf der Grundlage moralphilosophischer Überlegungen. Nach seiner Argumentation handelt es sich dabei um ein Postulat der praktischen Vernunft. Unsterblich ist die Seele nicht schon dann, wenn sie nach dem Tode leben und fortdauern wird, sondern nur dann, wenn sie dies ihrer Natur nach muss. Letzteres ist anzunehmen, wenn man das moralische Subjekt als Wesen versteht, dessen Wille durch das moralische Gesetz bestimmt werden kann. Ein solches Subjekt strebt notwendigerweise nach dem „höchsten Gut“, das heißt nach einer vollkommenen Sittlichkeit, die jedoch in der Sinnenwelt unerreichbar ist. Dies erfordert ein Fortschreiten ins Unendliche und damit eine ins Unendliche fortdauernde Existenz. Die Erreichbarkeit dessen, wonach ein moralisches Wesen notwendigerweise strebt, hielt Kant für eine im Rahmen der praktischen Vernunft plausible Annahme. Daher plädierte er für ein „Fürwahrhalten“ der Unsterblichkeit. === Die Suche nach dem Seelenorgan === Die Frage nach dem Sitz der Seele war in der Frühen Neuzeit weiterhin aktuell, und es wurde auch nach ihrem Organ gefragt. Unter dem Seelenorgan verstand man das materielle Substrat für das Zusammenwirken von Geist und Körper, das Instrument, mit dem die Seele Eindrücke aus der Außenwelt erhält und Befehle an den Körper weiterleitet.Averroistisch gesinnte Gelehrte des 15. und 16. Jahrhunderts waren der Meinung, der Intellekt sei nicht an einer bestimmten Stelle lokalisiert und habe kein eigenes Organ, sondern agiere im gesamten Körper. Als unpersönliche und unvergängliche Instanz sei er nicht an körperliche Funktionen gebunden. Gegen diese Auffassung wandten sich sowohl Thomisten als auch nichtaverroistische Aristoteliker und von der Denkweise des Kirchenvaters Augustinus beeinflusste Humanisten. Für die Befürworter eines Seelenorgans kam als Ausgangsbasis für eine Klärung der Frage die Untersuchung der Hirnventrikel in Betracht. Diesem Ansatz folgte Leonardo da Vinci, der induktiv argumentierte. Er meinte, die Natur erzeuge nichts Unzweckmäßiges und daher lasse sich aus dem Studium der von ihr hervorgebrachten Strukturen erschließen, welches organische System den seelischen Funktionen zugeordnet sei. Diesem Grundsatz folgend wies Leonardo dem ersten Ventrikel die Aufnahme der Sinnesdaten zu, dem zweiten Ventrikel das Vorstellungs- und Urteilsvermögen und dem dritten die Funktion des Gedächtnisspeichers.Nach Descartes’ dualistischem Konzept kann man die ausdehnungslose Seele nicht im Körper oder an irgendeinem Ort der materiellen Welt lokalisieren, doch gibt es eine Kommunikation zwischen Seele und Körper, die an einem auffindbaren Ort stattfinden muss. Descartes vermutete, die Zirbeldrüse, ein zentral im Gehirn gelegenes Organ, sei dieser Ort. Seine Vermutung wurde zwar bald von der Hirnforschung widerlegt, doch führte die Auseinandersetzung mit Descartes’ Theorie zu zahlreichen neuen Hypothesen über den Ort des Seelenorgans. Albrecht von Haller (1708–1777) nahm an, dass das Seelenorgan über die gesamte weiße Hirnsubstanz verteilt sei.Den letzten groß angelegten Versuch zur Lokalisierung des Seelenorgans unternahm der Anatom Samuel Thomas von Soemmerring in seiner 1796 veröffentlichten Schrift Über das Organ der Seele. Indem er den Hirnventrikeln eine zentrale Rolle bei der Kommunikation zwischen Seele und Körper zuwies, machte er die traditionelle Ventrikellehre zur Ausgangsbasis seiner Überlegungen. Neu war jedoch seine Argumentation. Er brachte vor, dass sich nur in der Ventrikelflüssigkeit die einzelnen Sinnesreizungen zu einem einheitlichen Phänomen verbinden könnten, und verwies darauf, dass die Enden der Hirnnerven bis zu den Ventrikelwänden reichen. Als Seelenorgan bestimmte er den Liquor cerebrospinalis, der die Hirnnerven umspüle und verbinde. Soemmerring beschränkte sich aber nicht auf empirische Aussagen, sondern behauptete, die Suche nach dem Seelenorgan sei das Thema der „trancendentalsten bis in die Gefilde der Metaphysik führenden Physiologie“. Unterstützung erhoffte er von Immanuel Kant, der das Nachwort zu Über das Organ der Seele verfasste. Kant äußerte sich dort jedoch kritisch zu Soemmerrings Ausführungen. Aus grundsätzlichen Erwägungen erklärte er das Vorhaben, einen Seelensitz zu finden, für verfehlt. Dies begründete er mit der Überlegung, die Seele könne sich selbst nur durch den inneren Sinn und den Körper nur durch äußere Sinne wahrnehmen; daraus folge, dass sie sich, wenn sie sich selbst einen Ort bestimmen wollte, mit demselben Sinn wahrnehmen müsste, mit dem sie die Materie wahrnehme; dies aber bedeute, dass sie sich „zum Gegenstand ihrer eigenen äußeren Anschauung machen und sich außer sich selbst versetzen müßte; welches sich widerspricht“.Im 19. Jahrhundert kam die Suche nach einem Sitz und einem Organ der Seele zum Erliegen. Der Begriff Seelenorgan blieb zunächst erhalten. Unter dem Einfluss neuer biowissenschaftlicher Entdeckungen etwa auf den Gebieten der Evolutionstheorie, der Elektrophysiologie und der organischen Chemie entstanden materialistische und monistische Modelle, die ohne den Begriff Seele auskommen. Für die Befürworter nichtmaterialistischer Modelle bleibt jedoch die Frage nach dem Ort der Interaktion von Geist und Körper weiterhin aktuell. === Hegel === Für Georg Wilhelm Friedrich Hegel ist die Seele kein „fertiges Subjekt“, sondern eine Entwicklungsstufe des Geistes. Zugleich stellt sie die „absolute Grundlage aller Besonderung und Vereinzelung des Geistes“ dar. Hegel identifiziert sie mit dem passiven, rezeptiven Intellekt des Aristoteles, „welcher der Möglichkeit nach Alles ist“.Hegel wendet sich dezidiert gegen den neuzeitlichen Dualismus von Leib und Seele, den cartesianischen Gegensatz zwischen immaterieller Seele und materieller Natur. Die Frage nach der Immaterialität der Seele, die diesen Gegensatz schon voraussetzt, stellt sich für Hegel nicht, da er es ablehnt, in der Materie etwas Wahres und im Geist ein davon getrenntes Ding zu sehen. Vielmehr ist aus seiner Sicht die Seele „die allgemeine Immaterialität der Natur, deren einfaches ideelles Leben“. Daher ist sie stets auf die Natur bezogen. Sie ist nur dort, wo Leiblichkeit ist. Sie stellt das Prinzip der Bewegung dar, mit der die Leiblichkeit in Richtung auf das Bewusstsein transzendiert wird. In ihrer Entwicklung durchläuft die Seele die drei Stadien einer „natürlichen“, einer „fühlenden“ und einer „wirklichen“ Seele. Anfangs ist sie natürliche Seele. Als solche ist sie noch völlig mit der Natur verwoben und empfindet deren Qualitäten zunächst nur unmittelbar. Das Empfinden ist das „gesunde Mitleben des individuellen Geistes in seiner Leiblichkeit“. Es ist durch seine Passivität gekennzeichnet. Der Übergang zum Fühlen, in dem sich die Subjektivität zur Geltung bringt, ist fließend. „Die Seele ist als fühlende nicht mehr bloß natürliche, sondern innerliche Individualität.“ Zunächst befindet sich die fühlende Seele in einem Zustand der Dunkelheit des Geistes, da dieser noch nicht hinreichend zu Bewusstsein und Verstand gelangt ist. Hier besteht die Gefahr, dass das Subjekt in einer Besonderheit seines Selbstgefühls verharrt, statt diese zur Idealität zu verarbeiten und zu überwinden. Da der Geist hier noch nicht frei ist, kann es zur Geisteskrankheit kommen. Nur ein als Seele in einem dinglichen Sinne betrachteter Geist kann verrückt werden. Einen Entwicklungsfortschritt macht die fühlende Seele, wenn sie „das Besondere der Gefühle (auch des Bewußtseins) zu einer nur seienden Bestimmung an ihr reduziert“. Dazu verhilft ihr die Gewohnheit, die als Übung erzeugt wird. Die Gewohnheit wird mit Recht eine „zweite Natur“ genannt, denn sie ist eine von der Seele gesetzte Unmittelbarkeit neben der ursprünglichen Unmittelbarkeit des Empfindens. Hegel wertet die Gewohnheit im Gegensatz zum gängigen herabsetzenden Sprachgebrauch positiv. Das Merkmal der dritten Entwicklungsstufe, der wirklichen Seele, ist „das höhere Erwachen der Seele zum Ich, der abstrakten Allgemeinheit“, wobei das Ich in seinem Urteil „die natürliche Totalität seiner Bestimmungen als ein Objekt, eine ihm äußere Welt, von sich ausschließt und sich darauf bezieht“ und in dieser Totalität „unmittelbar in sich reflektiert ist“. Hegel definiert die wirkliche Seele als „die für sich seiende Idealität ihrer Bestimmtheiten“. === Die Kontroverse um das Forschungsprogramm des Psychologismus === Die empirische Psychologie als eigenständige Disziplin neben der Philosophie hat Vorläufer seit der Antike, im modernen Sinn beginnt sie jedoch erst mit im 18. Jahrhundert entwickelten Studien. Methodisch grundlegend für die Ausprägung des Paradigmas einer empirischen Psychologie waren die Arbeiten von Empiristen wie John Locke (1632–1704) oder David Hume (1711–1776). Hume führte Verursachungsbeziehungen nicht auf ontologische Beziehungen zurück, etwa auf starre Naturgesetze, sondern versuchte sie als bloße Denkgewohnheiten zu erklären. Für diese Empiristen hat Wissen selbst seinen Ursprung in psychischen Funktionen. Diese Variante des Empirismus hat mit den Ansichten früher Idealisten und dem transzendentalphilosophischen Ansatz von Kant gemeinsam, dass sie den Blick weniger auf metaphysisch-objektive, extrinsische als vielmehr auf innerpsychische, subjektive oder der Vernunft selbst eigentümliche Strukturen richtet. In diesem Sinne argumentierte Hume in seiner Abhandlung Of the Immortality of the Soul gegen die Unsterblichkeit der Seele; er hielt sie allenfalls dann für möglich, wenn man auch ihre Präexistenz annimmt. Da die Seele kein Erfahrungsbegriff sei, müsse die Frage nach ihrer Fortexistenz unbeantwortet bleiben, und eine Antwort sei ohnehin für das menschliche Leben belanglos. Der Mediziner David Hartley publizierte 1749 seine Erkenntnisse über die neurophysiologischen Grundlagen der Sinneswahrnehmung, der Vorstellung und der Gedankenverknüpfung. Hinzu kam später die Entwicklung evolutionstheoretischer Erklärungsmodelle durch Charles Darwin (1809–1882) und andere. Der Moralphilosoph Thomas Brown (1778–1820) verfasste Anfang des 19. Jahrhunderts seine Lectures on the philosophy of the human mind, in denen er die Grundgesetze des sogenannten Assoziationismus formulierte. Derartige Methodologien verbanden sich mit Modellen der „Logik“, die sich an faktischen Denkoperationen statt idealen Vernunftgesetzen orientierten. Anfang des 19. Jahrhunderts verteidigten Jakob Friedrich Fries und Friedrich Eduard Beneke ein solches Forschungsprogramm, das sie Psychologismus nannten, gegen die Dominanz einer Philosophie des Geistes im Sinne Hegels. Vincenzo Gioberti (1801–1852) bezeichnete als Psychologismus alle moderne Philosophie seit Descartes, sofern diese vom Menschen statt von Gott ausgeht, also nicht, wie er es ausdrückte, dem Programm des „Ontologismus“ folgt.Dem Psychologismus zufolge hat philosophische Untersuchung als Erkenntnisprinzip einzig die Introspektion. Kant habe recht darin gehabt, das Eigenrecht der Erfahrung zu etablieren, aber gehe in die Irre, wenn er apriorische Möglichkeitsbedingungen der Erkenntnis sucht. Der psychologistische Ansatz stieß bei rein logischen und mathematischen Aussagen auf größere Schwierigkeiten als im Bereich der empirischen Erkenntnis. Gerade auf diesem Feld aber wurde Mitte des 19. Jahrhunderts eine psychologistische Logik verteidigt. Der Utilitarist John Stuart Mill publizierte 1843 sein System der deduktiven und induktiven Logik. Ihr zufolge gründen die Axiome der Mathematik wie auch logische Prinzipien einzig auf der psychischen Introspektion. Neben Mill arbeiteten auch deutsche Theoretiker wie Wilhelm Wundt, Christoph von Sigwart, Theodor Lipps und Benno Erdmann ähnlich akzentuierte Logiken aus. Ende des 19. Jahrhunderts war der Psychologismus die Auffassung vieler Psychologen und Philosophen. Unter ihnen waren auch zahlreiche Vertreter der sogenannten Lebensphilosophie. Alle geistigen oder überhaupt philosophischen Probleme sollten mit den neuen Mitteln der Psychologie erklärt werden, also alle Denkoperationen und deren Regularitäten als psychische Funktionen verstanden werden. Dagegen richteten sich früh Theoretiker, welche für die These Kants eintraten, dass mit psychologischen Erklärungen nichts über die Wahrheitsfrage ausgemacht sei. Den kantischen Ansatz verteidigten Rudolf Hermann Lotze für die Logik, Gottlob Frege für die Mathematik, Wilhelm Windelband und Heinrich Rickert für die Wertethik, Hermann Cohen und Paul Natorp für die Wissenschaftstheorie. Auch die Forschungsprogramme der Phänomenologie richteten sich gegen den Psychologismus. Eine grundlegende Kritik des Psychologismus entwickelte Edmund Husserl in seinem Werk Logische Untersuchungen. Martin Heidegger wendete den Blick nicht auf psychische Vorkommnisse, sondern auf Strukturen des Daseins. Ähnliches gilt für die meisten Existenzphilosophen wie etwa Jean-Paul Sartre. Aus teilweise anderen Gründen widersprachen auch viele logische Empiristen dem Psychologismus. Einer der ersten unter ihnen war Rudolf Carnap. Sein Argument war, dass es nicht nur genau eine Sprache gibt, diejenige, welche durch psychologische Gesetze bestimmt wäre. Neben den Arbeiten von David Hartley und Thomas Brown und der Mitte bis Ende des 19. Jahrhunderts im Kontext des Psychologismus tätigen Philosophen und Naturwissenschaftler waren für die Anfänge der modernen Psychologie auch die Arbeiten von Johann Friedrich Herbart maßgeblich. Herbart war ab 1809 Nachfolger Kants auf dessen Königsberger Lehrstuhl. === Die Frage der Existenz der Seele === In der Diskussion des 20. und 21. Jahrhunderts sind unterschiedliche Bestimmungen des Begriffs „Seele“ vorgeschlagen und unterschiedlichste Standpunkte zur Tauglichkeit des Begriffs und zu den verschiedenen Seelenkonzepten eingenommen worden. Grob schematisiert kann man folgende Positionen unterscheiden: einen Realismus, welcher unter „Seele“ eine eigene Substanz versteht, von der das Denken und Fühlen und andere geistige Akte ausgehen und die nur zeitweise an den Körper gebunden ist und ihn in diesem Zeitraum kontrolliert. Auch die Fortexistenz nach dem leiblichen Tod wird von einigen Metaphysikern und Religionsphilosophen verteidigt. Dies kommt meist einem platonischen oder cartesianischen Seelenbegriff gleich. einen Materialismus, welcher die Existenz einer Seele ablehnt und behauptet, dass alle Rede von Seelischem reduzierbar ist auf Rede über körperliche und neuronale Zustände. im Detail jeweils schwieriger einzuordnende Positionen, welche zwar einen Materialismus ablehnen und Mentales für nicht nur real, sondern auch irreduzibel und oft auch kausal wirksam halten (etwa im Sinne einer Kontrolle von Körperzuständen), aber sich nicht auf den Begriff einer Seele in einem traditionellen Sinne festlegen, insbesondere nicht auf deren Unsterblichkeit. eine dezidiert antiplatonische Auffassung mancher christlicher Theologen und Philosophen, die im Sinne einer ganzheitlichen Anthropologie Seele und Körper als Einheit betrachten. Diese Einheit wird nach dem Stoff-Form-Prinzip (Hylemorphismus) verstanden, wie es Aristoteles formuliert und Thomas von Aquin weiterentwickelt hat. Demnach geht die Seele als Form des Leibes mit diesem in die substantielle Einheit des individuellen Menschen ein. Mit „Form“ ist dabei nicht die äußere Gestalt gemeint, sondern ein den Leib zuinnerst durchformendes Lebensprinzip. ==== Ablehnende Positionen ==== Die eindeutigste Ablehnung eines Seelenbegriffs findet sich im Rahmen des eliminativen Materialismus bei Philosophen wie Patricia und Paul Churchland. Die Alltagspsychologie sei eine falsche und seit der Antike stagnierende Theorie, alltagspsychologischen Begriffen entspreche nichts in der Realität. Alles, was es in Wirklichkeit gebe, seien biologische Prozesse. Der Philosoph Richard Rorty versuchte schon in den 1970er Jahren eine solche Position mit einem Gedankenexperiment zu verdeutlichen: Man könne sich eine extraterrestrische Zivilisation vorstellen, die kein psychologisches Vokabular verwende und stattdessen nur von biologischen Zuständen spreche. Eine solche Zivilisation wäre hinsichtlich ihrer kommunikativen Fähigkeiten der Menschheit in nichts unterlegen. Traditionelle Materialismen bestreiten jedoch nicht die Existenz von mentalen Zuständen. Sie erklären vielmehr, dass es mentale Zustände gebe, diese jedoch nichts anderes als materielle Zustände seien. Solche Positionen sind zumindest mit einem sehr schwachen Seelenbegriff kompatibel: Versteht man unter „Seele“ schlicht die Summe der ontologisch nicht spezifizierten mentalen Zustände, so kann man auch im Rahmen solcher Theorien den Begriff „Seele“ verwenden. So erklärt etwa die Identitätstheorie, dass mentale Zustände real existieren, jedoch identisch mit Gehirnzuständen seien. Diese Position wird gelegentlich als „Kohlenstoffchauvinismus“ kritisiert, da sie Bewusstsein an die Existenz eines organischen Nervensystems binde. Bewusste Lebensformen auf anorganischer Basis (etwa Silicium) würden dadurch genauso konzeptionell ausgeschlossen wie bewusste künstliche Intelligenzen. Im Kontext der Entwicklung der künstlichen Intelligenz entstand eine materialistische Alternativposition, die als „Funktionalismus“ bezeichnet wird. Der klassische Funktionalismus beruht auf einer Computeranalogie: Eine Software kann durch sehr verschiedene Computer realisiert werden (etwa Turingmaschinen und PCs), daher kann man einen Softwarezustand nicht mit einer spezifischen physischen Struktur identifizieren. Vielmehr ist Software durch funktionale Zustände spezifiziert, die durch verschiedene physische Systeme realisiert werden können. Auf gleiche Weise seien mentale Zustände funktional zu begreifen; das Gehirn biete somit nur eine von vielen möglichen Realisierungen. Nach einigen Meinungsänderungen vertritt auch Daniel Dennett den Funktionalismus: Ein bewußter menschlicher Geist ist mehr oder weniger eine seriale virtuelle Maschine, die – ineffizient – an der parallelen Hardware montiert ist, die die Evolution uns geliefert hat.Einwände gegen Identitätstheorie und Funktionalismus ergeben sich im Wesentlichen aus der erkenntnistheoretischen Debatte um die Struktur reduktiver Erklärungen. Wolle man ein Phänomen X (etwa mentale Zustände) auf ein Phänomen Y (etwa Gehirnzustände oder funktionale Zustände) zurückführen, so müsse man alle Eigenschaften von X durch die Eigenschaften von Y verständlich machen können. Nun haben jedoch mentale Zustände die Eigenschaft, auf bestimmte Weise erlebt zu werden – es fühlt sich auf eine bestimmte Weise an, etwa Schmerzen zu haben (vgl. Qualia). Dieser Erlebnisaspekt könne jedoch weder in einer neurowissenschaftlichen noch in einer funktionalen Analyse erklärt werden. Reduktive Erklärungen des Mentalen müssten daher zwangsläufig scheitern. Derartige Probleme haben in der Philosophie des Geistes zu der Entwicklung zahlreicher nichtreduktiver Materialismen und Monismen geführt, deren Vertreter eine „Einheit der Welt“ annehmen, ohne sich auf reduktive Erklärungen festzulegen. Beispiele hierfür finden sich im Rahmen von Emergenztheorien, gelegentlich wird auch David Chalmers’ Eigenschaftsdualismus zu diesen Ansätzen gezählt. Es ist allerdings umstritten, inwieweit derartige Positionen noch als Materialismen gelten können, da die Grenzen zu dualistischen, pluralistischen oder generell antiontologischen Ansätzen häufig verschwimmen. ==== Nichtmaterialistische Positionen ==== In der modernen Philosophie des Geistes werden auch dualistische Positionen vertreten. Ein Typ von Argumenten bezieht sich dabei auf Gedankenexperimente, bei denen man sich entkörpert vorstellt. Eine entsprechende Überlegung von Richard Swinburne lässt sich wie folgt alltagssprachlich wiedergeben: „Wir können uns eine Situation vorstellen, in der unser Körper zerstört wird, aber unser Bewußtsein andauert. Dieser Bewußtseinsstrom benötigt einen Träger oder eine Substanz. Und damit diese Substanz identisch mit der Person vor dem körperlichen Tod ist, muß es etwas geben, was die eine Phase mit der anderen verbindet. Da der Körper zerstört wird, kann dieses Etwas nicht physikalische Materie sein: Es muß also etwas Immaterielles geben, und das nennen wir Seele.“ Auch William D. Hart beispielsweise hat einen cartesianischen Dualismus verteidigt mit dem Argument, dass wir uns vorstellen können, ohne Körper zu sein, gleichwohl aber unsere Akteurskausalität beizubehalten; da Vorstellbares möglich ist, können wir selbst also auch ohne Körper existieren, also sind wir selbst nicht notwendigerweise und damit nicht eigentlich an Materielles gebunden.Eine ähnliche dualistische Position verteidigt John A. Foster. Dazu weist er einen eliminativen Materialismus zurück. Wer mentale Zustände leugne, befinde sich selbst in einem mentalen Zustand und mache eine bedeutungsvolle Aussage, was selbst bereits mentale Phänomene impliziere. Behavioristische Reduktionen scheiterten daran, die Verhaltenszustände ebenfalls durch mentale Zustände spezifizieren zu müssen. Außerdem bringt Foster eine Variante des Wissensarguments vor: Wären diese Materialismen wahr, könnte ein von Geburt Blinder den Gehalt von Farbwahrnehmungen erfassen, was aber ausgeschlossen sei. Ähnliche Probleme seien mit Reduktionen auf funktionale Rollen verbunden, wie sie von Sydney Shoemaker, in der komplizierteren Variante funktionaler Profile auch von David M. Armstrong und David K. Lewis vertreten werden, sowie mit Theorien der Typenidentität. Insbesondere könnten mentale Zustände mit gleichen funktionalen Rollen nicht zureichend unterschieden werden. Auch eine Unterscheidung derart, dass der phänomenale Gehalt durch Introspektion, der neurophysiologische Typ durch wissenschaftliche Begriffe erfasst wird (eine von Michael Lockwood entwickelte Idee), könne nicht erklären, warum materiell gleiche Einheiten mit verschiedenen Erfahrungen zusammenhängen. Statt solcher Token- und Typenidentitätstheorien müsse ein cartesianischer Interaktionismus von Seele und Körper angenommen werden. Dazu wird das Argument (von Donald Davidson) zurückgewiesen, dass hier keine strikten Gesetze denkbar seien. Da materielle Objekte keine mentalen Zustände besitzen könnten, weil nur mentale Eigenschaften konstituieren, dass ein mentaler Zustand einem Objekt zukommt, müsse eine nichtphysikalische Seele angenommen werden. Diese könne nur direkt (ostensiv), nicht durch Attribute wie „denkend“ charakterisiert werden (weil sie z. B. zu einem Zeitpunkt auch nur unbewusste okkurente mentale Zustände besitzen kann). Eine Person sei zudem – gegen John Locke – identisch mit dem Subjekt phänomenaler Zustände.Auch die radikale Position, dass die Wirklichkeit überhaupt nur aus Psychischem bestehe, ein sogenannter Immaterialismus, wird in modernen Debatten vertreten, beispielsweise von Timothy Sprigge. ==== Gilbert Ryle ==== Gilbert Ryle meint, dass es einem Kategorienfehler gleichkomme, über Mentales wie über Materielles zu sprechen. Es sei ebenso unsinnig, neben dem Körper noch einen Geist zu suchen, wie neben den einzelnen Spielern einer Fußballmannschaft, die in ein Stadion einzieht, noch ein Etwas „die Mannschaft“ zu suchen. Die Mannschaft besteht nämlich nicht neben den Einzelspielern, sondern aus ihnen. Je nachdem, ob man „die Mannschaft“ als rein begriffliches (irreales) Konstrukt auffasst oder ihr eine eigene Realität zuspricht (Universalienproblem), gelangt man zu unterschiedlichen Antworten in Bezug auf die „Realität“ der Existenz einer Seele. Im Wesentlichen knüpft Ryle damit an die aristotelische Definition an, wonach die Seele als Formprinzip des Materiellen, speziell des Lebendigen zu begreifen ist, das vom Körper abgesondert nicht existieren kann. === Mögliche Eigenschaften der Seele === ==== Einfachheit ==== Das traditionelle Konzept einer unsterblichen Seele setzt voraus, dass sie nicht aus Teilen besteht, in die sie zerlegbar ist, da sie sonst vergänglich wäre. Andererseits wird ihr komplexe Interaktion mit der Umwelt zugeschrieben, was nicht mit der Vorstellung vereinbar ist, dass sie absolut einfach und unveränderlich sei. Swinburne nimmt daher im Rahmen seines dualistischen Konzepts an, dass die menschliche Seele eine kontinuierliche, komplexe Struktur aufweist. Dies folgert er aus der möglichen Stabilität eines Systems von miteinander verbundenen Ansichten und Begehren eines Individuums.Ludwig Wittgenstein hat die Auffassung vertreten, „daß die Seele – das Subjekt etc. – wie sie in der heutigen oberflächlichen Psychologie aufgefaßt wird, ein Unding ist. Eine zusammengesetzte Seele wäre nämlich keine Seele mehr.“Roderick M. Chisholm hat den Gedanken der „Einfachheit“ (im Sinne von Nichtzusammengesetztheit) der „Seele“ wieder aufgegriffen. Dabei versteht er „Seele“ gleichsinnig mit „Person“ und beansprucht, dass dies auch die von Augustinus, Descartes, Bernard Bolzano und vielen anderen gemeinte Wortbedeutung sei. In diesem Sinne verteidigt er, wie auch in anderen Wortmeldungen zur Theorie der Subjektivität, dass unser Wesen fundamental anders beschaffen sei als das Wesen zusammengesetzter Entitäten. ==== Fortexistenz nach dem Tode ==== Während Materialisten die Existenz einer Seele verneinen und viele Dualisten den Begriff Seele nicht mehr in einem traditionellen Sinne verstehen, ist die Frage eines postmortalen Weiterlebens in den letzten Jahrzehnten wieder debattiert und teilweise positiv beantwortet worden. Lynne Rudder Baker unterscheidet sieben metaphysische Positionen, welche die Fortexistenz einer persönlichen Identität nach dem Tode bejahen: Immaterialismus: die Fortdauer der Person beruht auf Selbigkeit der Seele vor und nach dem Tode Animalismus: die Fortdauer der Person beruht auf Selbigkeit des lebenden Organismus vor und nach dem Tode Thomismus: die Fortdauer der Person beruht auf Selbigkeit des Kompositums von Körper und Seele vor und nach dem Tode Gedächtnistheorien: eine Person ist vor und nach dem Tod genau dann dieselbe, wenn eine psychische Kontinuität vorliegt Seele als „Software“: die Selbigkeit der Person ist analog derjenigen einer von Hardware (in diesem Fall dem Gehirn) unabhängigen Software Seele als informationstragendes Muster: die Selbigkeit der Person beruht auf Selbigkeit eines Informationsmusters, das von der Körpermaterie getragen wird und nach dem Tod der Person wiederhergestellt werden kann KonstitutionstheorienBaker diskutiert, inwieweit sich diese Positionen als metaphysische Grundlage für den christlichen Auferstehungsglauben eignen. Dabei verwirft sie die ersten sechs Positionen und verteidigt dann eine Variante der siebten. === Die Seele als Ganzheit und ihr Verhältnis zum Geist === Abseits der Diskussion zwischen Dualisten und Materialisten hat sich im deutschen Sprachraum ein Seelenbegriff entwickelt, der seine Bestimmung in erster Linie daraus zieht, dass er die Seele als eine Ganzheit gegen den Geist und dessen Vielheit objektiver Inhalte abgrenzt. Für Georg Simmel ist der Geist „der objektive Inhalt dessen, was innerhalb der Seele in lebendiger Funktion bewußt wird; Seele ist gleichsam die Form, die der Geist, d. h. der logisch-begriffliche Inhalt des Denkens, für unsere Subjektivität, als unsere Subjektivität, annimmt.“ Geist ist also verobjektivierte Seele. Seine Inhalte liegen in Teilen vor, während die Seele immer die Einheit des ganzen Menschen ausmacht. Ähnlich sieht es Helmut Plessner, für den die Seele die Ganzheit des Menschen mit allem Wünschen und Wollen und allem unbewussten Drang ausmacht. Dem Geist kommt häufig die Aufgabe zu, der Seele bei der Befriedigung ihrer Wünsche zu dienen: „Geist wird von einem individuellen, unvertretbaren, sich wenigstens so wissenden Seelenzentrum erfaßt und wirkt auch so allein auf die physische Daseinssphäre.“ Damit meint Plessner jedoch nicht den auf Nietzsche zurückgehenden Zusammenhang von Körper und Intellekt, bei dem der Intellekt die Aufgabe hat, dafür zu sorgen, dass die natürlichen Bedürfnisse des Körpers befriedigt werden. Geist meint bei Plessner den vollen kulturellen Gehalt aller menschlichen Selbst- und Weltverhältnisse. Während der Mensch aufgrund seiner exzentrischen Positionalität zwar einzelne Inhalte seines Geistes in objektivierter Form für sich fassbar machen kann, ist ihm das für seine Seele verwehrt, denn er kann sich niemals als Ganzes vor sich selbst bringen und über sich reflektieren. Oswald Spengler betont ebenfalls die Einheit der Seele: „Eher ließe sich ein Thema von Beethoven mit Seziermesser oder Säure zerlegen, als die Seele durch Mittel des abstrakten Denkens.“ Alle Versuche, Seelisches darzustellen, seien nur Bilder, die ihrem Gegenstand niemals gerecht werden. An Nietzsches starken Subjektivismus anknüpfend überträgt Spengler den Seelenbegriff zudem auf Kulturen: Jede große Kultur beginnt mit einer Grundauffassung der Welt, sie hat eine Seele, mit der sie der Welt gestaltend gegenübertritt. Kulturen formen sich geistig und materiell ihre je eigene „Wirklichkeit als den Inbegriff aller Symbole in Bezug auf eine Seele“.Ernst Cassirer erörtert die Seele im Rahmen seiner Philosophie der symbolischen Formen. Er meint, dass jede symbolische Form die Grenze zwischen Ich und Wirklichkeit nicht als feststehende im Voraus habe, sondern sie selbst erst setze. Daher sei auch für den Mythos zu vermuten, „daß er sowenig mit einem fertigen Begriff vom Ich oder von der Seele wie von einem fertigen Bild des objektiven Seins und Geschehens seinen Ausgang nimmt, sondern daß er beide erst zu gewinnen, erst aus sich heraus zu bilden hat.“ Eine Vorstellung von der Seele bilde sich erst langsam im Kulturprozess heraus. Damit es dazu kommen könne, müsse der Mensch erst die Trennung von Ich und Welt vollziehen, sich als Ich und Seele begreifen und aus dem Gesamtzusammenhang der Natur herauslösen. Die Vorstellungen von einer Seele als Einheit seien sowohl in der Religion als auch in der Philosophie erst späte Konzepte.Bei Ludwig Klages wird aus dem Verhältnis von Geist und Seele eine Gegnerschaft, die sich zwangsläufig aus dem Wesen der beiden Pole ergibt. In seinem dreibändigen Hauptwerk Der Geist als Widersacher der Seele erläutert Klages, der hier stark von Friedrich Nietzsche beeinflusst ist, ausführlich seine These, dass der Geist und das Lebensprinzip, die Seele, „einander feindlich entgegengesetzt“ seien. Der Geist, der philosophische und wissenschaftliche Systeme hervorbringt, sei starr, statisch und wirklichkeitsfremd. Er baue am Kerker des Lebens. Die Seele hingegen wandle sich beständig und sei fähig, sich in tiefem Erleben der Wirklichkeit hinzugeben. Sie sei vergänglich und solle ihre Vergänglichkeit als „Gebot des Sterbens“ und Voraussetzung allen Lebens bejahen. Die Vorstellung einer unsterblichen Seele sei ein Produkt des lebensfeindlichen Geistes. === Tiefenpsychologische Betrachtungen === ==== Freudsche Psychoanalyse ==== Zur Aufgabe der Psychoanalyse stellte Sigmund Freud 1914 fest, sie habe bislang nicht beansprucht, „eine vollständige Theorie des menschlichen Seelenlebens überhaupt zu geben“; auch die Metapsychologie als ein später unternommener Versuch diesen Sinnes verblieb aufgrund der noch fehlenden wissenschaftlichen Möglichkeiten im Zustand eines Torso. Freud schrieb, dass die Begriffe „Seele“ und „Psyche“ im Kontext dieser Theorie synonym verwendet würden und dass vom Seelenleben zweierlei bekannt sei: das Gehirn mit dem Nervensystem als biologische Organe und die Bewusstseinsakte, welche auf die Körperlichkeit als Schauplatz der psychischen Vorgänge verweisen. Die Bewusstseinsakte seien jedoch unmittelbar gegeben und könnten dem Menschen daher durch keine Beschreibung näher gebracht werden. Eine empirische Beziehung zwischen diesen „beiden Endpunkten unseres Wissens“ sei nicht gegeben, und selbst wenn sie bestünde, könnte sie nur zur Lokalisation der Bewusstseinsvorgänge, nicht zu deren Verständnis beitragen. Das Seelenleben sei die Funktion des „psychischen Apparates“, der räumlich ausgedehnt und aus mehreren Stücken zusammengesetzt sei, ähnlich wie ein Fernrohr oder Mikroskop. Die Instanzen oder Bezirke des Seelenlebens seien das Es, das Ich und das Über-Ich. Freud vermutete, die Räumlichkeit sei Projektion der Ausdehnung des psychischen Apparates, dessen Bedingungen Kants a priori zu ersetzen hätten. Dazu notierte Freud 1938: „Psyche ist ausgedehnt, weiss nichts davon.“ Er meinte, die Philosophie müsse den Ergebnissen der Psychoanalyse „in ausgiebigster Weise“ Rechnung tragen, insofern sie auf Psychologie aufgebaut sei. Sie müsse ihre Hypothesen über das Verhältnis des Seelischen zum Leiblichen entsprechend modifizieren. Mit den „unbewussten Seelentätigkeiten“ hätten sich die Philosophen bislang – Freud schrieb dies 1913 – nicht auf angemessene Weise beschäftigt, denn sie hätten deren Phänomene nicht gekannt.Freud meinte, sein allgemeines Schema des psychischen Apparates gelte auch für die „höheren, dem Menschen seelisch ähnlichen Tiere“. So sei bei Tieren, die längere Zeit zum Menschen in einem Verhältnis kindlicher Abhängigkeit gestanden hätten, ein Über-Ich anzunehmen. Die Tierpsychologie solle dies erforschen. Tatsächlich erlebte die Erforschung tierischen Verhaltens unter psychologischen Gesichtspunkten in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts einen Aufschwung. Die Tierpsychologie, die später Ethologie genannt wurde, entwickelte sich zu einem eigenständigen Fachgebiet. ==== Jungsche Analytische Psychologie ==== Carl Gustav Jung gab in seiner 1921 veröffentlichten Untersuchung Psychologische Typen eine Definition des Begriffs „Seele“ im Rahmen der von ihm verwendeten Terminologie. Er unterschied zwischen Seele und Psyche. Als Psyche bezeichnete er die Gesamtheit aller – bewussten und unbewussten – psychischen Vorgänge. Die Seele beschrieb er als „einen bestimmten, abgegrenzten Funktionskomplex, den man am besten als eine Persönlichkeit charakterisieren könnte“. Zu unterscheiden sei zwischen der äußeren und der inneren Persönlichkeit des Menschen; die innere setzte Jung mit der Seele gleich. Die äußere Persönlichkeit sei eine von den Absichten des Individuums und von den Ansprüchen und Meinungen seiner Umgebung geprägte „Maske“. Diese Maske nannte Jung, die antike lateinische Bezeichnung für Masken von Schauspielern aufgreifend, Persona. Die innere Persönlichkeit, die Seele, sei „die Art und Weise, wie sich einer zu den inneren psychischen Vorgängen verhält“, seine innere Einstellung, „der Charakter, den er dem Unbewussten zukehrt“. Jung formulierte den Grundsatz, die Seele verhalte sich zur Persona komplementär. Sie enthalte diejenigen allgemein menschlichen Eigenschaften, welche der Persona fehlten. So gehöre zu einer intellektuellen Persona eine sentimentale Seele, zu einer harten, tyrannischen, unzugänglichen Persona eine unselbständige, beeinflussbare Seele, zu einer sehr männlichen Persona eine weibliche Seele. Daher könne man den Charakter der nach außen verborgenen, häufig auch dem Bewusstsein des betreffenden Menschen selbst unbekannten Seele aus dem Charakter der Persona ableiten. == Literatur == Allgemeines Jan N. Bremmer: Die Karriere der Seele. Vom antiken Griechenland ins moderne Europa. In: Bernd Janowski (Hrsg.): Der ganze Mensch. Zur Anthropologie der Antike und ihrer europäischen Nachgeschichte. Akademie Verlag, Berlin 2012, ISBN 978-3-05-005113-0, S. 173–198. Gerd Jüttemann, Michael Sonntag, Christoph Wulf (Hrsg.): Die Seele. Ihre Geschichte im Abendland. Psychologie Verlags Union, Weinheim 1991, ISBN 3-621-27114-7. Béla Révész: Geschichte des Seelenbegriffes und der Seelenlokalisation. Enke, Stuttgart 1917.Religionswissenschaft Johann Figl, Hans-Dieter Klein (Hrsg.): Der Begriff der Seele in der Religionswissenschaft. Königshausen & Neumann, Würzburg 2002, ISBN 3-8260-2377-3. Hans-Peter Hasenfratz: Die Seele. Einführung in ein religiöses Grundphänomen. Theologischer Verlag, Zürich 1986, ISBN 3-290-11567-4.Philosophische Übersichts- und Gesamtdarstellungen Katja Crone, Robert Schnepf, Jürgen Stolzenberg (Hrsg.): Über die Seele. Suhrkamp, Berlin 2010, ISBN 978-3-518-29516-8 (Aufsätze zur Philosophiegeschichte und Beiträge zur Diskussion im 21. Jahrhundert). Dieter Hüning, Stefan Klingner, Gideon Stiening (Hrsg.): Das Problem der Unsterblichkeit der Seele in der Philosophie, den Wissenschaften und den Künsten des 18. Jahrhunderts (= Martin Mulsow, Gideon Stiening, Friedrich Vollhardt [Hrsg.]: Aufklärung : interdisziplinäres Jahrbuch zur Erforschung des 18. Jahrhunderts und seiner Wirkungsgeschichte. Band 29). Felix Meiner Verlag, Hamburg 2018, ISBN 978-3-7873-3449-0 (Aufsätze über die Behandlung der Frage der Unsterblichkeit der Seele bei Abbt, Bonnet, Butler, Canz, Cooper, Crusius, Herder, Hume, Jacobi, Kant, Lessing, Mendelssohn, Priestley, Reid, Wieland, Wolff, im französischen und deutschen Materialismus, in der Neologie.). Sandro Nannini: Seele, Geist und Körper. Historische Wurzeln und philosophische Grundlagen der Kognitionswissenschaften. Peter Lang, Frankfurt am Main 2006, ISBN 3-631-54883-4 (Gesamtdarstellung aus materialistischer Sicht). Hartmut Sommer: Unsterbliche Seele – Antworten der Philosophie. Topos, Kevelaer 2016, ISBN 978-3-8367-1048-0 (Gesamtdarstellung aus der Sicht einer christlichen Philosophie).Philosophiegeschichte Jan N. Bremmer: The Early Greek Concept of the Soul. Princeton University Press, Princeton 1983, ISBN 0-691-06528-4. David B. Claus: Toward the Soul. An Inquiry into the Meaning of ψυχή before Plato. 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In: Dictionary of the History of Ideas Hendrik Lorenz: Ancient Theories of Soul. In: Edward N. Zalta (Hrsg.): Stanford Encyclopedia of Philosophy. Fernand-Lucien Mueller: Psychological Schools in European Thought. In: Dictionary of the History of Ideas Voltaire über die Seele. In: Dictionnaire philosophique portatif (deutsche Übersetzung)Psychologie Jesse M. Bering: The folk psychology of souls (PDF; 561 kB). In: Behavioral and Brain Sciences 29, 2006, S. 453–498 (Darstellung aus naturalistischer Sicht). Wolfgang Mack: Braucht die Wissenschaft der Psychologie den Begriff der Seele? (PDF; 208 kB). In: e-Journal Philosophie der Psychologie (2007) Roland Müller: Bibliographie zur Geschichte des Seelenbegriffs und der Seelenvorstellungen Christopher D. Green: Classics in the History of Psychology (Textsammlung) Benjamin Rand: The classical psychologists. Selections illustrating psychology from Anaxagoras to Wundt (1912) Robert M. Young: Mind, Brain and Adaptation in the Nineteenth Century: Cerebral Localization and Its Biological Context from Gall to Ferrier (Bibliographie)Nahtoderfahrung Spiegel-TV: Gibt es ein Leben nach dem Tod? Blick ins Jenseits, Video vom 9. März 2014. == Anmerkungen ==
https://de.wikipedia.org/wiki/Seele
Desoxyribonukleinsäure
= Desoxyribonukleinsäure = Desoxyribonukleinsäure (; abgekürzt DNS), meist kurz als DNA (Abkürzung für englisch deoxyribonucleic acid) bezeichnet, ist eine aus unterschiedlichen Desoxyribonukleotiden aufgebaute Nukleinsäure. Sie trägt die Erbinformation bei allen Lebewesen und den DNA-Viren. Das langkettige Polynukleotid enthält in Abschnitten von Genen besondere Abfolgen seiner Nukleotide. Diese DNA-Abschnitte dienen als Matrizen für den Aufbau entsprechender Ribonukleinsäuren (RNA), wenn genetische Information von DNA in RNA umgeschrieben wird (siehe Transkription). Die hierbei an der DNA-Vorlage aufgebauten RNA-Stränge erfüllen unterschiedliche Aufgaben; sie sind als rRNA (englisch ribosomal RNA), als tRNA (englisch transfer RNA) und als mRNA (englisch messenger RNA) an der Biosynthese von Proteinen beteiligt (siehe Proteinbiosynthese). Im Falle einer messenger- oder Boten-RNA (mRNA) stellt die Abfolge von Nukleinbasen die Bauanleitung für ein Protein dar. Die Grundbausteine von DNA-Strängen sind vier verschiedene Nukleotide, die jeweils aus einem Phosphatrest, dem Zucker Desoxyribose sowie einer von vier Nukleinbasen (Adenin, Thymin, Guanin und Cytosin; oft mit A, T, G und C abgekürzt) bestehen. Die Abfolge von Basen (Nukleotidsequenz) in bestimmten DNA-Strangabschnitten enthält Information. Umgeschrieben in den Einzelstrang einer mRNA gibt deren Basensequenz bei der Proteinbiosynthese die Abfolge von Aminosäuren (Aminosäuresequenz) im zu bildenden Protein vor. Hierbei wird drei aufeinanderfolgenden Basen – je einem Basentriplett als Codon – jeweils eine bestimmte Aminosäure zugeordnet und diese mit der vorigen verknüpft, sodass ein Polypeptid entsteht. So werden an einem Ribosom mithilfe von tRNA entsprechend dem genetischen Code Bereiche der Basensequenz in eine Aminosäurensequenz übersetzt (siehe Translation). Das Genom einer Zelle liegt zumeist als DNA-Doppelstrang vor, bei dem die beiden basenpaarend einander komplementären Stränge räumlich die Form einer Doppelhelix bilden (siehe Abbildung). Bei der Replikation werden sie entwunden und getrennt jeweils durch Basenpaarung wieder komplementär ergänzt, sodass anschließend zwei (nahezu) identische doppelsträngige DNA-Moleküle vorliegen. Fehler beim Replikationsvorgang sind eine Quelle von Mutationen, die nach Kernteilung und Zellteilung in entstandenen Zellen als Veränderung genetischer Information vorliegen und weitergegeben werden können. In den Zellen von Eukaryoten, zu denen Pflanzen, Tiere und Pilze gehören, ist der Großteil der DNA im Zellkern (lateinisch nucleus, daher nukleäre DNA oder nDNA) als Chromosomen organisiert. Ein kleiner Teil befindet sich in den Mitochondrien und wird dementsprechend mitochondriale DNA (mtDNA) genannt. Pflanzen und Algen haben außerdem DNA in Photosynthese betreibenden Organellen, den Chloroplasten bzw. Plastiden (cpDNA). Bei Bakterien und Archaeen – den Prokaryoten, die keinen Zellkern besitzen – liegt die DNA im Cytoplasma meist zirkulär vor (siehe Bakterienchromosom). Manche Viren speichern ihre genetische Information in RNA statt in DNA (siehe RNA-Virus). == Bezeichnung == Die Bezeichnung Desoxyribonukleinsäure ist ein Wort, das sich aus mehreren Komponenten zusammensetzt: des (von des-), oxy (von den ersten beiden Silben von Oxygenium für Sauerstoff), ribo (von den ersten beiden Silben von Ribose) – somit Desoxyribo (für Desoxyribose) – und nukleinsäure (von Nuklein und Säure). Im deutschen Sprachgebrauch wird die Desoxyribonukleinsäure inzwischen überwiegend mit der englischen Abkürzung für deoxyribonucleic acid als DNA bezeichnet, während die Abkürzung DNS nach dem Duden als „veraltend“ gilt. == Entdeckungsgeschichte == 1869 entdeckte der Schweizer Arzt Friedrich Miescher in einem Extrakt aus Eiter eine durch milde Säurebehandlung aus den Zellkernen der Leukozyten gewonnene Substanz, die er Nuklein nannte. Miescher arbeitete damals im Labor von Felix Hoppe-Seyler im Tübinger Schloss. 1892 (bzw. 1897 posthum, nachdem der zu Grunde liegende Brief veröffentlicht wurde) führte der „späte“ Miescher auf Basis seiner biochemischen Erkenntnisse hinsichtlich der Komplexität von Nukleinen und Proteinen als erster den Schrift- oder Code-Vergleich für den noch zu entdeckenden Träger der Erbinformation als Forschungshypothese in die Genetik ein. 1889 isoliert der Deutsche Richard Altmann aus dem Nuklein Proteine und die Nukleinsäure. Weitere Erkenntnisse zur Nukleinsäure gehen auf die Arbeiten von Albrecht Kossel (siehe „Die Entdeckung der Nukleinbasen“) zurück, für die er 1910 mit dem Nobelpreis für Physiologie oder Medizin ausgezeichnet wurde. Im Jahr 1885 teilte er mit, dass aus einer größeren Menge Rinder-Bauchspeicheldrüse eine stickstoffreiche Base mit der Summenformel C5H5N5 isoliert wurde, für die er, abgeleitet von dem griechischen Wort „aden“ für Drüse, den Namen Adenin vorschlug. 1891 konnte Kossel (nach Altmanns Verfahren) Hefe-Nukleinsäure herstellen und Adenin und Guanin als Spaltprodukte nachweisen. Es stellte sich heraus, dass auch ein Kohlenhydrat Bestandteil der Nukleinsäure sein musste. Kossel wählte für die basischen Substanzen Guanin und Adenin sowie seine Derivate den Namen Nucleinbasen. 1893 berichtete Kossel, dass er aus den Thymusdrüsen des Kalbes Nukleinsäure gewonnen und ein gut kristallisiertes Spaltprodukt erhalten hatte, für das er den Namen Thymin vorschlug. 1894 isolierte er aus den Thymusdrüsen eine weitere (basische) Substanz. Kossel gab ihr den Namen Cytosin. Nachdem am Ende des 19. Jahrhunderts – im Wesentlichen durch die Synthesen Emil Fischers – die Strukturformeln des Guanins und Adenins als Purinkörper und des Thymins als Pyrimidinkörper endgültig aufgeklärt worden waren, konnte Kossel mit Hermann Steudel (1871–1967) auch die Strukturformel der Nukleinbase Cytosin als Pyrimidinkörper zweifelsfrei ermitteln. Es hatte sich inzwischen erwiesen, dass Guanin, Adenin sowie Thymin und Cytosin in allen entwicklungsfähigen Zellen zu finden sind. Die Erkenntnisse über diese vier Nukleinbasen sollten für die spätere Strukturaufklärung der DNA von wesentlicher Bedeutung sein. Es war Albrecht Kossel, der sie – zusammen mit einem Kohlenhydrat und der Phosphorsäure – eindeutig als Bausteine der Nukleinsäure charakterisierte: „Es gelang mir, eine Reihe von Bruchstücken zu erhalten … welche durch eine ganz eigentümliche Ansammlung von Stickstoffatomen gekennzeichnet sind. Es sind hier nebeneinander … das Cytosin, das Thymin, das Adenin und das Guanin.“ (Nobelvortrag am 12. Dezember 1910). Der aus Litauen stammende Biochemiker Phoebus Levene schlug eine kettenartige Struktur der Nukleinsäure vor, in welcher die Nukleotide durch die Phosphatreste zusammengefügt sind und sich wiederholen. 1929 konnte er in Zusammenarbeit mit dem russischen Physiologen Efim London (1869–1932) den Zuckeranteil der „tierische Nukleinsäure“ als Desoxyribose identifizieren (J. Biol. Chem.1929, 83. Seiten 793-802). [5a] Erst nachfolgend wurde sie als Desoxyribonukleinsäure bezeichnet. Es wurde erkannt, dass sie auch in pflanzlichen Zellkernen vorkommt. Als wirksamer Bestandteil der Chromosomen bzw. des Kernchromatins wurde die DNA bereits 1932 von K. Voit und Hartwig Kuhlenbeck angesehen. 1937 publizierte William Astbury erstmals Röntgenbeugungsmuster, die auf eine repetitive Struktur der DNA hinwiesen.1943 wies Oswald Avery nach, dass die Transformation von Bakterien, das heißt die Weitergabe erblicher Information von einem Bakterien-Stamm auf einen anderen (heute horizontaler Gentransfer genannt), auf der Übertragung von DNA beruht. Dies widersprach der damals noch allgemein favorisierten Annahme, dass nicht die DNA, sondern Proteine die Träger der Erbinformation seien. Unterstützung in seiner Interpretation erhielt Avery 1952, als Alfred Day Hershey und Martha Chase nachwiesen, dass DNA die Erbinformation des T2-Phagen enthält.Den strukturellen Aufbau der DNA zu entschlüsseln und im Modell nachzubilden gelang dem US-Amerikaner James Watson und dem Briten Francis Crick am 28. Februar 1953. Ihre Entdeckung publizierten sie in der April-Ausgabe 1953 des Magazins Nature in ihrem berühmten Artikel Molecular Structure of Nucleic Acids: A Structure for Deoxyribose Nucleic Acid. Watson kam 1951 nach England, nachdem er ein Jahr zuvor an der Indiana University Bloomington in den USA promoviert hatte. Er hatte zwar ein Stipendium für Molekularbiologie bekommen, beschäftigte sich aber vermehrt mit der Frage des menschlichen Erbguts. Crick widmete sich in Cambridge gerade erfolglos seiner Promotion über die Kristallstruktur des Hämoglobinmoleküls, als er 1951 Watson traf. Zu dieser Zeit war bereits ein erbitterter Wettlauf um die Struktur der DNA entbrannt, an dem sich neben anderen auch Linus Pauling am California Institute of Technology (Caltech) beteiligte. Watson und Crick waren eigentlich anderen Projekten zugeteilt worden und besaßen kein bedeutendes Fachwissen in Chemie. Sie bauten ihre Überlegungen auf den Forschungsergebnissen der anderen Wissenschaftler auf. Watson sagte, er wolle das Erbgut entschlüsseln, ohne Chemie lernen zu müssen. In einem Gespräch mit dem renommierten Chemiker und Ersteller der Chargaff-Regeln, Erwin Chargaff, vergaß Crick wichtige Molekülstrukturen, und Watson machte im selben Gespräch unpassende Anmerkungen, die seine Unkenntnis auf dem Gebiet der Chemie verrieten. Chargaff nannte die jungen Kollegen im Anschluss „wissenschaftliche Clowns“. Watson besuchte Ende 1952 am King’s College in London Maurice Wilkins, der ihm DNA-Röntgenaufnahmen von Rosalind Franklin zeigte. Das geschah gegen den Willen von R. Franklin. Watson sah sofort, dass es sich bei dem Molekül um eine Doppel-Helix handeln musste; Franklin selbst hatte aufgrund der Daten auch das Vorhandensein einer Helix vermutet, jedoch hatte sie kein überzeugendes Modell für die Struktur vorzuweisen. Da bekannt war, dass die Purin- und Pyrimidin-Basen Paare bilden, gelang es Watson und Crick, die ganze Molekularstruktur herzuleiten. So entwickelten sie am Cavendish-Laboratorium der Universität von Cambridge das Doppelhelix-Modell der DNA mit den Basenpaaren in der Mitte, das am 25. April 1953 in der Zeitschrift Nature publiziert wurde.Diese denkwürdige Veröffentlichung enthält gegen Ende den Satz „It has not escaped our notice that the specific pairing we have postulated immediately suggests a possible copying mechanism for the genetic material“. („Es ist unserer Aufmerksamkeit nicht entgangen, dass die spezifische Paarung, die wir als gegeben voraussetzen, unmittelbar auf einen möglichen Vervielfältigungsmechanismus für das genetische Material schließen lässt.“) „Für ihre Entdeckungen über die Molekularstruktur der Nukleinsäuren und ihre Bedeutung für die Informationsübertragung in lebender Substanz“ erhielten Watson und Crick zusammen mit Maurice Wilkins 1962 den Nobelpreis für Medizin. Rosalind Franklin, deren Röntgenbeugungsdiagramme wesentlich zur Entschlüsselung der DNA-Struktur beigetragen hatten, war zu diesem Zeitpunkt bereits verstorben und konnte daher nicht mehr nominiert werden. Ihr Anteil an der Entdeckung wurde vom Nobelkomitee nicht erwähnt. Für weitere geschichtliche Informationen zur Entschlüsselung der Vererbungsvorgänge siehe „Forschungsgeschichte des Zellkerns“ sowie „Forschungsgeschichte der Chromosomen“ und „Chromosomentheorie der Vererbung“. == Aufbau und Organisation == === Bausteine === Die Desoxyribonukleinsäure ist ein langes Kettenmolekül (Polymer) aus vielen Bausteinen, die man Desoxyribonukleotide oder kurz Nukleotide nennt. Jedes Nukleotid hat drei Bestandteile: Phosphorsäure bzw. Phosphat, den Zucker Desoxyribose sowie eine heterozyklische Nukleobase oder kurz Base. Die Desoxyribose- und Phosphorsäure-Untereinheiten sind bei jedem Nukleotid gleich. Sie bilden das Rückgrat des Moleküls. Einheiten aus Base und Zucker (ohne Phosphat) werden als Nukleoside bezeichnet. Die Phosphatreste sind aufgrund ihrer negativen Ladung hydrophil, sie geben DNA in wässriger Lösung insgesamt eine negative Ladung. Da diese negativ geladene, in Wasser gelöste DNA keine weiteren Protonen abgeben kann, handelt es sich streng genommen nicht (mehr) um eine Säure. Der Begriff Desoxyribonukleinsäure bezieht sich auf einen ungeladenen Zustand, in dem Protonen an die Phosphatreste angelagert sind. Bei der Base kann es sich um ein Purin, nämlich Adenin (A) oder Guanin (G), oder um ein Pyrimidin, nämlich Thymin (T) oder Cytosin (C), handeln. Da sich die vier verschiedenen Nukleotide nur durch ihre Base unterscheiden, werden die Abkürzungen A, G, T und C auch für die entsprechenden Nukleotide verwendet. Die fünf Kohlenstoffatome einer Desoxyribose sind von 1' (sprich Eins Strich) bis 5' nummeriert. Am 1'-Ende dieses Zuckers ist die Base gebunden. Am 5'-Ende hängt der Phosphatrest. Genau genommen handelt es sich bei der Desoxyribose um die 2-Desoxyribose; der Name kommt daher, dass im Vergleich zu einem Ribose-Molekül eine alkoholische Hydroxygruppe (OH-Gruppe) an der 2'-Position fehlt (d. h. durch ein Wasserstoffatom ersetzt wurde). An der 3'-Position ist eine OH-Gruppe vorhanden, welche die Desoxyribose über eine sogenannte Phosphodiester-Bindung mit dem 5'-Kohlenstoffatom des Zuckers des nächsten Nukleotids verknüpft (siehe Abbildung). Dadurch besitzt jeder sogenannte Einzelstrang zwei verschiedene Enden: ein 5'- und ein 3'-Ende. DNA-Polymerasen, die in der belebten Welt die Synthese von DNA-Strängen durchführen, können neue Nukleotide nur an die OH-Gruppe am 3'-Ende anfügen, nicht aber am 5'-Ende. Der Einzelstrang wächst also immer von 5' nach 3' (siehe auch DNA-Replikation weiter unten). Dabei wird ein Nukleosidtriphosphat (mit drei Phosphatresten) als neuer Baustein angeliefert, von dem zwei Phosphate in Form von Pyrophosphat abgespalten werden. Der verbleibende Phosphatrest des jeweils neu hinzukommenden Nukleotids wird mit der OH-Gruppe am 3'-Ende des letzten im Strang vorhandenen Nukleotids unter Wasserabspaltung verbunden. Die Abfolge der Basen im Strang codiert die genetische Information. === Die Doppelhelix === DNA kommt normalerweise als schraubenförmige Doppelhelix in einer Konformation vor, die B-DNA genannt wird. Zwei der oben beschriebenen Einzelstränge sind dabei aneinandergelagert, und zwar in entgegengesetzter Richtung: An jedem Ende der Doppelhelix hat einer der beiden Einzelstränge sein 3'-Ende, der andere sein 5'-Ende. Durch die Aneinanderlagerung stehen sich in der Mitte der Doppelhelix immer zwei bestimmte Basen gegenüber, sie sind „gepaart“. Die Doppelhelix wird hauptsächlich durch Stapelwechselwirkungen zwischen aufeinanderfolgenden Basen desselben Stranges stabilisiert (und nicht, wie oft behauptet, durch Wasserstoffbrückenbindungen zwischen den Strängen). Es paaren sich immer Adenin und Thymin, die dabei zwei Wasserstoffbrücken ausbilden, oder Cytosin mit Guanin, die über drei Wasserstoffbrücken miteinander verbunden sind. Eine Brückenbildung erfolgt zwischen den Molekülpositionen 1═1 sowie 6═6, bei Guanin-Cytosin-Paarungen zusätzlich zwischen 2═2. Da sich immer die gleichen Basen paaren, lässt sich aus der Sequenz der Basen in einem Strang die des anderen Strangs ableiten, die Sequenzen sind komplementär (siehe auch: Basenpaar). Dabei sind die Wasserstoffbrücken fast ausschließlich für die Spezifität der Paarung verantwortlich, nicht aber für die Stabilität der Doppelhelix. Da stets ein Purin mit einem Pyrimidin kombiniert wird, ist der Abstand zwischen den Strängen überall gleich, es entsteht eine regelmäßige Struktur. Die ganze Helix hat einen Durchmesser von ungefähr 2 nm und windet sich mit jedem Zuckermolekül um 0,34 nm weiter. Die Ebenen der Zuckermoleküle stehen in einem Winkel von 36° zueinander, und eine vollständige Drehung wird folglich nach 10 Basen (360°) und 3,4 nm erreicht. DNA-Moleküle können sehr groß werden. Beispielsweise enthält das größte menschliche Chromosom 247 Millionen Basenpaare. Beim Umeinanderwinden der beiden Einzelstränge verbleiben seitliche Lücken, sodass hier die Basen direkt an der Oberfläche liegen. Von diesen Furchen gibt es zwei, die sich um die Doppelhelix herumwinden (siehe Abbildungen und Animation am Artikelanfang). Die „große Furche“ ist 2,2 nm breit, die „kleine Furche“ nur 1,2 nm.Entsprechend sind die Basen in der großen Furche besser zugänglich. Proteine, die sequenzspezifisch an die DNA binden, wie zum Beispiel Transkriptionsfaktoren, binden daher meist an der großen Furche.Auch manche DNA-Farbstoffe, wie zum Beispiel DAPI, lagern sich an einer Furche an. Die kumulierte Bindungsenergie zwischen den beiden Einzelsträngen hält diese zusammen. Kovalente Bindungen sind hier nicht vorhanden, die DNA-Doppelhelix besteht also nicht aus einem Molekül, sondern aus zweien. Dadurch können die beiden Stränge in biologischen Prozessen zeitweise getrennt werden. Neben der eben beschriebenen B-DNA existieren auch A-DNA sowie eine 1979 von Alexander Rich und seinen Kollegen am MIT erstmals auch untersuchte, linkshändige, sogenannte Z-DNA. Diese tritt besonders in G-C-reichen Abschnitten auf. Erst 2005 wurde über eine Kristallstruktur berichtet, welche Z-DNA direkt in einer Verbindung mit B-DNA zeigt und so Hinweise auf eine biologische Aktivität von Z-DNA liefert. Die folgende Tabelle und die daneben stehende Abbildung zeigen die Unterschiede der drei Formen im direkten Vergleich. Die Stapel der Basenpaare (base stackings) liegen nicht wie Bücher exakt parallel aufeinander, sondern bilden Keile, die die Helix in die eine oder andere Richtung neigen. Den größten Keil bilden Adenosine, die mit Thymidinen des anderen Stranges gepaart sind. Folglich bildet eine Serie von AT-Paaren einen Bogen in der Helix. Wenn solche Serien in kurzen Abständen aufeinander folgen, nimmt das DNA-Molekül eine gebogene bzw. eine gekrümmte Struktur an, welche stabil ist. Dies wird auch Sequenz-induzierte Beugung genannt, da die Beugung auch von Proteinen hervorgerufen werden kann (die sogenannte Protein-induzierte Beugung). Sequenzinduzierte Beugung findet man häufig an wichtigen Stellen im Genom. === Chromatin und Chromosomen === Organisiert ist die DNA in der eukaryotischen Zelle in Form von Chromatinfäden, genannt Chromosomen, die im Zellkern liegen. Ein einzelnes Chromosom enthält von der Anaphase bis zum Beginn der S-Phase einen langen, durchgehenden DNA-Doppelstrang (in einem Chromatid). Am Ende der S-Phase besteht das Chromosom aus zwei identischen DNA-Fäden (in zwei Chromatiden). Da ein solcher DNA-Faden mehrere Zentimeter lang sein kann, ein Zellkern aber nur wenige Mikrometer Durchmesser hat, muss die DNA zusätzlich komprimiert bzw. „gepackt“ werden. Dies geschieht bei Eukaryoten mit sogenannten Chromatinproteinen, von denen besonders die basischen Histone zu erwähnen sind. Sie bilden die Nukleosomen, um die die DNA auf der niedrigsten Verpackungsebene herumgewickelt wird. Während der Kernteilung (Mitose) wird jedes Chromosom zu seiner maximal kompakten Form kondensiert. Dadurch können sie mit dem Lichtmikroskop besonders gut in der Metaphase identifiziert werden. === Bakterielle und virale DNA === In prokaryotischen Zellen liegt die doppelsträngige DNA in den bisher dokumentierten Fällen mehrheitlich nicht als lineare Stränge mit jeweils einem Anfang und einem Ende vor, sondern als zirkuläre Moleküle – jedes Molekül (d. h. jeder DNA-Strang) schließt sich mit seinem 3'- und seinem 5'-Ende zum Kreis. Diese zwei ringförmigen, geschlossenen DNA-Moleküle werden je nach Länge der Sequenz als Bakterienchromosom oder Plasmid bezeichnet. Sie befinden sich bei Bakterien auch nicht in einem Zellkern, sondern liegen frei im Plasma vor. Die Prokaryoten-DNA wird mit Hilfe von Enzymen (zum Beispiel Topoisomerasen und Gyrasen) zu einfachen „Supercoils“ aufgewickelt, die einer geringelten Telefonschnur ähneln. Indem die Helices noch um sich selbst gedreht werden, sinkt der Platzbedarf für die Erbinformation. In den Bakterien sorgen Topoisomerasen dafür, dass durch ständiges Schneiden und Wiederverknüpfen der DNA der verdrillte Doppelstrang an einer gewünschten Stelle entwunden wird (Voraussetzung für Transkription und Replikation). Viren enthalten je nach Typ als Erbinformation entweder DNA oder RNA. Sowohl bei den DNA- wie den RNA-Viren wird die Nukleinsäure durch eine Protein-Hülle geschützt. === Chemische und physikalische Eigenschaften der DNA-Doppelhelix === Die DNA ist bei neutralem pH-Wert ein negativ geladenes Molekül, wobei die negativen Ladungen auf den Phosphaten im Rückgrat der Stränge sitzen. Zwar sind zwei der drei sauren OH-Gruppen der Phosphate mit den jeweils benachbarten Desoxyribosen verestert, die dritte ist jedoch noch vorhanden und gibt bei neutralem pH-Wert ein Proton ab, was die negative Ladung bewirkt. Diese Eigenschaft macht man sich bei der Agarose-Gelelektrophorese zu Nutze, um verschiedene DNA-Stränge nach ihrer Länge aufzutrennen. Einige physikalische Eigenschaften wie die freie Energie und der Schmelzpunkt der DNA hängen direkt mit dem GC-Gehalt zusammen, sind also sequenzabhängig. ==== Stapelwechselwirkungen ==== Für die Stabilität der Doppelhelix sind hauptsächlich zwei Faktoren verantwortlich: die Basenpaarung zwischen komplementären Basen sowie Stapelwechselwirkungen (stacking interactions) zwischen aufeinanderfolgenden Basen. Anders als zunächst angenommen, ist der Energiegewinn durch Wasserstoffbrückenbindungen vernachlässigbar, da die Basen mit dem umgebenden Wasser ähnlich gute Wasserstoffbrückenbindungen eingehen können. Die Wasserstoffbrücken eines GC-Basenpaares tragen nur minimal zur Stabilität der Doppelhelix bei, während diejenigen eines AT-Basenpaares sogar destabilisierend wirken. Stapelwechselwirkungen hingegen wirken nur in der Doppelhelix zwischen aufeinanderfolgenden Basenpaaren: Zwischen den aromatischen Ringsystemen der heterozyklischen Basen entsteht eine dipol-induzierte Dipol-Wechselwirkung, welche energetisch günstig ist. Somit ist die Bildung des ersten Basenpaares aufgrund des geringen Energiegewinnes und des -verlustes recht ungünstig, jedoch die Elongation (Verlängerung) der Helix ist energetisch günstig, da die Basenpaarstapelung unter Energiegewinn verläuft.Die Stapelwechselwirkungen sind jedoch sequenzabhängig und energetisch am günstigsten für gestapelte GC-GC, weniger günstig für gestapelte AT-AT. Die Unterschiede in den Stapelwechselwirkungen erklären hauptsächlich, warum GC-reiche DNA-Abschnitte thermodynamisch stabiler sind als AT-reiche, während Wasserstoffbrückenbildung eine untergeordnete Rolle spielt. ==== Schmelzpunkt ==== Der Schmelzpunkt der DNA ist die Temperatur, bei der die Bindungskräfte zwischen den beiden Einzelsträngen überwunden werden und diese sich voneinander trennen. Dies wird auch als Denaturierung bezeichnet. Solange die DNA in einem kooperativen Übergang denaturiert (der sich in einem enggefassten Temperaturbereich vollzieht), bezeichnet der Schmelzpunkt die Temperatur, bei der die Hälfte der Doppelstränge in Einzelstränge denaturiert ist. Von dieser Definition sind die korrekten Bezeichnungen „midpoint of transition temperature“ bzw. Mittelpunktstemperatur Tm abgeleitet. Der Schmelzpunkt hängt von der jeweiligen Basensequenz in der Helix ab. Er steigt, wenn in ihr mehr GC-Basenpaare liegen, da diese entropisch günstiger sind als AT-Basenpaare. Das liegt nicht so sehr an der unterschiedlichen Zahl der Wasserstoffbrücken, welche die beiden Paare ausbilden, sondern viel mehr an den unterschiedlichen Stapelwechselwirkungen (stacking interactions). Die stacking-Energie zweier Basenpaare ist viel kleiner, wenn eines der beiden Paare ein AT-Basenpaar ist. GC-Stapel dagegen sind energetisch günstiger und stabilisieren die Doppelhelix stärker. Das Verhältnis der GC-Basenpaare zur Gesamtzahl aller Basenpaare wird durch den GC-Gehalt angegeben. Da einzelsträngige DNA UV-Licht etwa 40 Prozent stärker absorbiert als doppelsträngige, lässt sich die Übergangstemperatur in einem Photometer gut bestimmen. Wenn die Temperatur der Lösung unter Tm zurückfällt, können sich die Einzelstränge wieder aneinanderlagern. Dieser Vorgang heißt Renaturierung oder Hybridisierung. Das Wechselspiel von De- und Renaturierung wird bei vielen biotechnologischen Verfahren ausgenutzt, zum Beispiel bei der Polymerase-Kettenreaktion (PCR), bei Southern Blots und der In-situ-Hybridisierung. === Kreuzförmige DNA an Palindromen === Ein Palindrom ist eine Folge von Nukleotiden, bei denen sich die beiden komplementären Stränge jeweils von rechts genauso lesen lassen wie von links. Unter natürlichen Bedingungen (bei hoher Drehspannung der DNA) oder künstlich im Reagenzglas kann sich diese lineare Helix als Kreuzform (cruciform) herausbilden, indem zwei Zweige entstehen, die aus dem linearen Doppelstrang herausragen. Die Zweige stellen jeweils für sich eine Helix dar, allerdings bleiben am Ende eines Zweiges mindestens drei Nukleotide ungepaart. Beim Übergang von der Kreuzform in die lineare Helix bleibt die Basenpaarung wegen der Biegungsfähigkeit des Phosphodiester-Zucker-Rückgrates erhalten. Die spontane Zusammenlagerung von komplementären Basen zu sog. Stamm-Schleifen-Strukturen wird häufig auch bei Einzelstrang-DNA oder -RNA beobachtet. === Nicht-Standard-Basen === Gelegentlich werden in Viren und zellulären Organismen Abweichungen von den oben genannten vier kanonischen Basen (Standard-Basen) Adenin (A), Guanin (G), Thymin (T) und Cytosin (C) beobachtet; weitere Abweichungen können künstlich erzeugt werden. ==== Natürliche Nichtstandard-Basen ==== Uracil (U) wird normalerweise nicht in der DNA gefunden, es tritt lediglich als Abbauprodukt von Cytosin auf. In mehreren Bakteriophagen (bakteriellen Viren) wird Thymin jedoch durch Uracil ersetzt:Bacillus-subtilis-Bakteriophage PBS1 (Spezies Bacillus-Virus PBS1, wissenschaftlich Takahashivirus PBS1) und „PBS2“ (vorgeschlagene Spezies „Bacillus-Phage PBS2“) – beide Spezies sind vom Morphotyp der Myoviren. Yersinia-Phage phiR1-RT (Spezies Yersinia-Virus R1RT, wiss. Tegunavirus r1rt), Morphotyp Myoviren „Staphylococcus-Phage S6“ (alias Staphylococcus aureus Bacteriophage 15, ebenfalls Morphotyp Myovirien) Uracil wird auch in der DNA von Eukaryoten wie Plasmodium falciparum (Apicomplexa) gefunden. Es ist dort in relativ geringen Mengen vorhanden (7–10 Uracileinheiten pro Million Basen). 5-Hydroxymethyldesoxyuridin (hm5dU) ersetzt Thymidin im Genom verschiedener Bacillus-Phagen der Spezies Bacillus-Virus SPO1 (wiss. Okubovirus SPO1, Familie Herelleviridae und Morphotyp Siphoviren. Es sind dies die Phagen SPO1, SP8, SP82, „Phi-E“ alias „ϕe“ und „2C“) 5-Dihydroxypentauracil (DHPU, mit Nukleotid 5-dihydroxypentyl-dUMP, DHPdUMP) wurde als Ersatz für Thymidin im Bacillus-Phagen SP15 (auch SP-15, Spezies Thornevirus SP15, Morphotyp Myoviren) beschrieben. Beta-d-glucopyranosyloxymethyluracil (Base J), ebenfalls eine modifizierte Form von Uracil, wurde in verschiedenen Organismen gefunden: Den Flagellaten Diplonema und Euglena (beide Excavata: Euglenozoa) sowie allen Gattungen der Kinetoplastiden. Die Biosynthese von J erfolgt in zwei Schritten: Im ersten Schritt wird ein spezifisches Thymidin in DNA in Hydroxymethyldesoxyuridin (HOMedU) umgewandelt, im zweiten wird HOMedU zu J glykosyliert. Es gibt einige Proteine, die spezifisch an diese Base binden. Diese Proteine scheinen entfernte Verwandte des Tet1-Onkogens zu sein, das an der Pathogenese der akuten myeloischen Leukämie beteiligt ist. J scheint als Terminationssignal für RNA-Polymerase II zu wirken. 2,6-Diaminopurin (alias 2-Aminoadenin, Base D oder X, DAP): 1976 wurde festgestellt, dass der „Cyanobacteria-Phage S-2L“ („Cyanophage S-2L“, informelle Gattung „Cyanostylovirus“, evtl. Familie „Cyanostyloviridae“ oder „Styloviridae“, Morphotyp Siphoviren), dessen Wirte Spezies der Gattung Synechocystis sind, alle Adenosinbasen in seinem Genom durch 2,6-Diaminopurin ersetzt. Drei weitere Untersuchungen folgten im Jahr 2021, eine Zusammenfassung findet sich auf sciencealert (Mai 2021). Ähnliches gilt für „Acinetobacter-Phage SH-Ab 15497“ (en. „Acinetobacter phage SH-Ab 15497“), ebenfalls Morphotyp Siphoviren, und weitere Vertreter dieses Morphotyps sowie dem der Podoviren. Wie 2016 herausgefunden wurde, ist 2'-Desoxyarchaeosin (dG+) im Genom mehrerer Bakterien und im Escherichia-Phagen 9g (alias Enterobacteria-Phage 9g, Spezies Escherichia-Virus 9g, wiss. Nonagvirus nv9g, Unterfamilie Queuovirinae, Morphotyp Siphoviren) vorhanden. 6-Methylisoxanthopterin 5-Hydroxyuracil ==== Natürliche modifizierte Basen (Methylierungen u. a.) ==== In natürlicher DNA kommen auch modifizierte Basen vor. Insbesondere werden Methylierungen der kanonischen Basen im Rahmen der Epigenetik untersucht: Zunächst wurde im Jahr 1925 5-Methylcytosin (m5C) im Genom von Mycobacterium tuberculosis gefunden. Im Genom des Xanthomonas oryzae-Bakteriophagen Xp12 („Xanthomonas phage Xp12“), Gattung Pamexvirus, Morphotyp Siphoviren) und des Halovirus ΦH (Spezies Halobacterium-Virus phiH, wiss. Myohalovirus phiH, Familie Vertoviridae, Morphotyp Myoviren) ist das gesamte Cystosin-Kontingent durch 5-Methylcytosin ersetzt. Einen kompletten Ersatz von Cytosin durch 5-Glycosylhydroxymethylcytosin (syn. Glycosyl-5-hydroxymethylcytosin) in den Phagen T2, T4 und T6 der Spezies Escherichia-Virus T4 (Gattung Tequatrovirus, Unterfamilie Tevenvirinae, Morphotyp Myoviren) wurde 1953 beobachtet. Wie 1955 entdeckt wurde, ist N6-Methyladenin (6mA, m6A) in der DNA von Colibakterien vorhanden. N6-Carbamoylmethyladenin wurde 1975 in den Bakteriophagen Mu (ICTV: Spezies Escherichia virus Mu, früher Enterobacteria phage Mu (wiss. Muvirus mu, Morphotyp Myovirien)) und Lambda-Mu beschrieben. 7-Methylguanin (m7G) wurde 1976 im Phagen DDVI (‚Enterobacteria phage DdVI‘ alias ‚DdV1‘, Gattung T4virus) von Shigella disenteriae beschrieben. N4-Methylcytosin (m4C) in DNA wurde 1983 beschrieben (in Bacillus centrosporus). 1985 wurde 5-Hydroxycytosin im Genom des Rhizobium-Phagen RL38JI gefunden. α-Putrescinylthymin (Alpha-Putrescinylthymin, putT) und α-Glutamylthymidin (Alpha-Glutamylthymidin) kommt im Genom sowohl des Delftia-Phagen ΦW-14 (Phi W-14, Spezies ‚Dellftia virus PhiW14‘, Gattung Ionavirus, Familie Myovrirdae) als auch des Bacillus-Phagen SP10 (Spezies „Bacillus phage SP-10“, Familie Herelleviridae, Morphotyp Siphoviren) vor. 5-Dihydroxypentyluracil wurde im Bacillus-Phagen SP15 (auch SP-15, Spezies Bacillus-Virus SP15, wiss. Thornevirus SP15, Morphotyp Myoviren) gefunden.Die Funktion dieser nicht-kanonischen Basen in der DNA ist nicht bekannt. Sie wirken zumindest teilweise als molekulares Immunsystem und helfen, die Bakterien vor einer Infektion durch Viren zu schützen. Nicht-Standard und modifizierte Basen bei Mikroben sind aber noch nicht alles: Es wurde auch über vier Modifikationen der Cytosinreste in humaner DNA berichtet. Diese Modifikationen bestehen aus dem Zusatz folgender Gruppen: Methyl (–CH3) Hydroxymethyl (–CH2OH) Formyl (–CHO) Carboxyl (–COOH) Es wird angenommen, dass diese Modifikationen regulatorische Funktionen haben, Stichwort Epigenetik. Uracil ist in den Centromer-Regionen von mindestens zwei menschlichen Chromosomen (6 und 11) zu finden. ==== Synthetische Basen ==== Im Labor wurde DNA (und auch RNA) mit weiteren künstlichen Basen versehen. Ziel ist es meist, damit unnatürliche Basenpaarungen (englisch unnatural base pairs, UBP) zu erzeugen: Im Jahr 2004 wurde DNA erzeugt, die statt der vier Standardnukleobasen (A, T, G und C) ein erweitertes Alphabet mit sechs Nukleobasen (A, T, G, C, dP und dZ) enthielt. Dabei steht bei diesen zwei neuen Basen dP für 2-Amino-8-(1′-β-D-2′-desoxyribofuranosyl)-imidazo[1,2-a]-1,3,5-triazin-4(8H)-on und dZ für 6-Amino-5-nitro-3-(1′-β-D-2′-desoxyribofuranosyl)-2(1H)-pyridon. Im Jahr 2006 wurden erstmals eine DNA mit um eine Benzolgruppe bzw. eine Naphthylgruppe erweiterten Basen untersucht (je nach Stellung der Erweiterungsgruppen entweder xDNA bzw. xxDNA oder yDNA bzw. yyDNA genannt). Yorke Zhang et al. berichteten zur Jahreswende 2016/2017 über halbsynthetische Organismen mit einer DNA, die um die Basen X (alias NaM) und Y' (alias TPT3) bzw. die (Desoxyribo-)Nukleotide dX (dNaM) und dY' (dTPT3) erweitert wurde, die miteinander paaren. Vorausgegangen waren Versuche mit Paarungen auf Basis der Basen X und Y (alias 5SICS), d. h. der Nukleotiden dX und dY (alias d5SICS). Weitere Basen, die mit 5SICS paaren können, sind FEMO und MMO2. Anfangs 2019 wurde über DNA und RNA mit jeweils acht Basen (vier natürliche und vier synthetische) berichtet, die sich alle paarweise einander zuordnen (Hachimoji-DNA). === Enantiomere === DNA tritt in Lebewesen als D-DNA auf; L-DNA als Enantiomer (Spiegelmer) kann allerdings synthetisiert werden (gleiches gilt analog für RNA). L-DNA wird langsamer von Enzymen abgebaut als die natürliche Form, was sie für die Pharmaforschung interessant macht. == Genetischer Informationsgehalt und Transkription == DNA-Moleküle spielen als Informationsträger und „Andockstelle“ eine wichtige Rolle für Enzyme, die für die Transkription zuständig sind. Weiterhin ist die Information bestimmter DNA-Abschnitte, wie sie etwa in operativen Einheiten wie dem Operon vorliegt, wichtig für Regulationsprozesse innerhalb der Zelle. Bestimmte Abschnitte der DNA, die sogenannten Gene, codieren genetische Informationen, die Aufbau und Organisation des Organismus beeinflussen. Gene enthalten „Baupläne“ für Proteine oder Moleküle, die bei der Proteinsynthese oder der Regulation des Stoffwechsels einer Zelle beteiligt sind. Die Reihenfolge der Basen bestimmt dabei die genetische Information. Diese Basensequenz kann mittels Sequenzierung zum Beispiel über die Sanger-Methode ermittelt werden. Die Basenabfolge (Basensequenz) eines Genabschnitts der DNA wird zunächst durch die Transkription in die komplementäre Basensequenz eines sogenannten Ribonukleinsäure-Moleküls überschrieben (abgekürzt RNA). RNA enthält im Unterschied zu DNA den Zucker Ribose anstelle von Desoxyribose und die Base Uracil anstelle von Thymin, der Informationsgehalt ist aber derselbe. Für die Proteinsynthese werden sogenannte mRNAs verwendet, einsträngige RNA-Moleküle, die aus dem Zellkern ins Cytoplasma hinaustransportiert werden, wo die Proteinsynthese stattfindet (siehe Proteinbiosynthese). Nach der sog. „Ein-Gen-Ein-Protein-Hypothese“ wird von einem codierenden Abschnitt auf der DNA die Sequenz jeweils eines Proteinmoleküls abgelesen. Es gibt aber Regionen der DNA, die durch Verwendung unterschiedlicher Leseraster bei der Transkription jeweils mehrere Proteine codieren. Außerdem können durch alternatives Spleißen (nachträgliches Schneiden der mRNA) verschiedene Isoformen eines Proteins hergestellt werden. Neben der codierenden DNA (den Genen) gibt es nichtcodierende DNA, die etwa beim Menschen über 90 Prozent der gesamten DNA einer Zelle ausmacht. Die Speicherkapazität der DNA ist extrem hoch und konnte bisher nicht technisch nachgebildet werden. Die in einem Teelöffel getrockneter DNA enthaltene Information entspricht einer Größenordnung von einer Billion Compact Discs zu je 650 Megabyte. == DNA-Replikation == Die DNA kann sich nach dem sog. semikonservativen Prinzip mit Hilfe von Enzymen selbst verdoppeln (replizieren). Die doppelsträngige Helix wird durch das Enzym Helikase aufgetrennt, nachdem sie von der Topoisomerase entspiralisiert wurde. Die entstehenden Einzelstränge dienen als Matrize (Vorlage) für den jeweils zu synthetisierenden komplementären Gegenstrang, der sich an sie anlagert. Die DNA-Synthese, d. h. die Bindung der zu verknüpfenden Nukleotide, wird durch Enzyme aus der Gruppe der DNA-Polymerasen vollzogen. Ein zu verknüpfendes Nukleotid muss in der Triphosphat-Verbindung – also als Desoxyribonukleosidtriphosphat – vorliegen. Durch Abspaltung zweier Phosphatteile wird die für den Bindungsvorgang benötigte Energie frei. Das Enzym Helikase bildet eine Replikationsgabel, zwei auseinander laufende DNA-Einzelstränge. In ihrem Bereich markiert ein RNA-Primer, der durch das Enzym Primase synthetisiert wird, den Startpunkt der DNA-Neusynthese. An dieses RNA-Molekül hängt die DNA-Polymerase nacheinander Nukleotide, die denen der DNA-Einzelstränge komplementär sind. Die Verknüpfung der neuen Nukleotide zu einem komplementären DNA-Einzelstrang kann an den beiden alten Strängen nur in 5'→3'-Richtung verlaufen und tut das demzufolge ohne Unterbrechung den alten 3'→5'-Strang entlang in Richtung der sich immer weiter öffnenden Replikationsgabel. Die Synthese des neuen Stranges am alten 5'→3'-Strang dagegen kann nicht kontinuierlich auf die Replikationsgabel zu, sondern nur von dieser weg ebenfalls in 5'→3'-Richtung erfolgen. Der alte Doppelstrang ist aber zu Beginn der Replikation nur ein Stück weit geöffnet, so dass an dem zweiten Strang – in „unpassender“ Gegenrichtung – immer nur ein kurzes Stück neuer komplementärer DNA entstehen kann. Da dabei eine DNA-Polymerase jeweils nur etwa 1000 Nukleotide verknüpft, ist es nötig, den gesamten komplementären Strang in einzelnen Stücken zu synthetisieren. Wenn sich die Replikationsgabel etwas weiter geöffnet hat, lagert sich daher ein neuer RNA-Primer wieder direkt an der Gabelungsstelle an den zweiten Einzelstrang an und initiiert die nächste DNA-Polymerase. Bei der Synthese des 3'→5'-Stranges wird deshalb pro DNA-Syntheseeinheit jeweils ein neuer RNA-Primer benötigt. Primer und zugehörige Syntheseeinheit bezeichnet man als Okazaki-Fragment. Die für den Replikations-Start benötigten RNA-Primer werden anschließend enzymatisch abgebaut. Dadurch entstehen Lücken im neuen DNA-Strang, die durch spezielle DNA-Polymerasen mit DNA-Nukleotiden aufgefüllt werden. Zum Abschluss verknüpft das Enzym Ligase die noch nicht miteinander verbundenen neuen DNA-Abschnitte zu einem einzigen Strang. == Mutationen und andere DNA-Schäden == Mutationen von DNA-Abschnitten – zum Beispiel Austausch von Basen gegen andere oder Änderungen in der Basensequenz – führen zu Veränderungen des Erbgutes, die zum Teil tödlich (letal) für den betroffenen Organismus sein können. In seltenen Fällen sind solche Mutationen aber auch von Vorteil; sie bilden dann den Ausgangspunkt für die Veränderung von Lebewesen im Rahmen der Evolution. Mittels der Rekombination bei der geschlechtlichen Fortpflanzung wird diese Veränderung der DNA sogar zu einem entscheidenden Faktor bei der Evolution: Die eukaryotische Zelle besitzt in der Regel mehrere Chromosomensätze, d. h., ein DNA-Doppelstrang liegt mindestens zweimal vor. Durch wechselseitigen Austausch von Teilen dieser DNA-Stränge, das Crossing-over bei der Meiose, können so neue Eigenschaften entstehen. DNA-Moleküle können durch verschiedene Einflüsse beschädigt werden. Ionisierende Strahlung, wie zum Beispiel UV- oder γ-Strahlung, Alkylierung sowie Oxidation können die DNA-Basen chemisch verändern oder zum Strangbruch führen. Diese chemischen Änderungen beeinträchtigen unter Umständen die Paarungseigenschaften der betroffenen Basen. Viele der Mutationen während der Replikation kommen so zustande. Einige häufige DNA-Schäden sind: die Bildung von Uracil aus Cytosin unter spontanem Verlust einer Aminogruppe durch Hydrolyse: Uracil ist wie Thymin komplementär zu Adenin. Thymin-Thymin-Dimerschäden verursacht durch photochemische Reaktion zweier aufeinander folgender Thyminbasen im DNA-Strang durch UV-Strahlung, zum Beispiel aus Sonnenlicht. Diese Schäden sind wahrscheinlich eine wesentliche Ursache für die Entstehung von Hautkrebs. die Entstehung von 8-Oxoguanin durch Oxidation von Guanin: 8-Oxoguanin ist sowohl zu Cytosin als auch zu Adenin komplementär. Während der Replikation können beide Basen gegenüber 8-Oxoguanin eingebaut werden.Aufgrund ihrer mutagenen Eigenschaften und ihres häufigen Auftretens (Schätzungen belaufen sich auf 104 bis 106 neue Schäden pro Zelle und Tag) müssen DNA-Schäden rechtzeitig aus dem Genom entfernt werden. Zellen verfügen dafür über ein effizientes DNA-Reparatursystem. Es beseitigt Schäden mit Hilfe folgender Strategien: Direkte Schadensreversion: Ein Enzym macht die chemische Änderung an der DNA-Base rückgängig. Basenexcisionsreparatur: Die fehlerhafte Base, zum Beispiel 8-Oxoguanin, wird aus dem Genom ausgeschnitten. Die entstandene freie Stelle wird anhand der Information im Gegenstrang neu synthetisiert. Nukleotidexcisionsreparatur: Ein größerer Teilstrang, der den Schaden enthält, wird aus dem Genom ausgeschnitten. Dieser wird anhand der Information im Gegenstrang neu synthetisiert. Homologe Rekombination: Sind beide DNA-Stränge beschädigt, wird die genetische Information aus dem zweiten Chromosom des homologen Chromosomenpaars für die Reparatur verwendet. Replikation mit speziellen Polymerasen: DNA-Polymerase η kann zum Beispiel fehlerfrei über einen TT-Dimerschaden replizieren. Menschen, bei denen Polymerase η nicht oder nur eingeschränkt funktioniert, leiden häufig an Xeroderma pigmentosum, einer Erbkrankheit, die zu extremer Sonnenlichtempfindlichkeit führt. == Denaturierung == Die Basenpaarung von DNA wird bei verschiedenen zellulären Vorgängen denaturiert. Die Basenpaarung wird dabei durch verschiedene DNA-bindende Proteine abschnittsweise aufgehoben, z. B. bei der Replikation oder der Transkription. Der Ort des Denaturierungsbeginns wird als Denaturierungsblase bezeichnet und im Poland-Scheraga-Modell beschrieben. Jedoch wird die DNA-Sequenz, die Steifigkeit und die Torsion nicht miteinbezogen. Die Lebensdauer einer Denaturierungsblase beträgt zwischen einer Mikrosekunde und einer Millisekunde.Im Labor kann DNA durch physikalische und chemische Methoden denaturiert werden. DNA wird durch Formamid, Dimethylformamid, Guanidiniumsalze, Natriumsalicylat, Sulfoxid, Dimethylsulfoxid (DMSO), verschiedene Alkohole, Propylenglykol und Harnstoff denaturiert, meist in Kombination mit Wärme. Auch konzentrierte Lösungen von Natriumhydroxid denaturieren DNA. Bei den chemischen Methoden erfolgt eine Absenkung der Schmelztemperatur der doppelsträngigen DNA. == DNA-Reinigung und Nachweis == DNA kann durch eine DNA-Reinigung, z. B. per DNA-Extraktion, von anderen Biomolekülen getrennt werden. Der qualitative Nachweis von DNA (welche DNA vorliegt) erfolgt meistens durch eine Polymerase-Kettenreaktion, eine isotherme DNA-Amplifikation, eine DNA-Sequenzierung, einen Southern Blot oder durch eine In-situ-Hybridisierung. Der quantitative Nachweis (wie viel DNA vorliegt) erfolgt meistens durch eine qPCR, bei gereinigten Proben mit nur einer DNA-Sequenz kann eine Konzentration auch durch Photometrie bei einer Wellenlänge von 260 nm gemessen werden. Eine Extinktion von 1 einer gereinigten DNA-Lösung entspricht bei doppelsträngiger DNA einer Konzentration von 50 µg/mL, bei einzelsträngiger DNA entspricht dies 33 µg/mL und bei einzelsträngigen Oligonukleotiden liegt die Konzentration darunter, abhängig von der Zusammensetzung an Nukleinbasen (siehe DNA-Extraktion#Quantifizierung). Durch interkalierende Farbstoffe wie Ethidiumbromid, Propidiumiodid oder SYBR Green I sowie durch furchenbindende Farbstoffe wie DAPI, Pentamidine, Lexitropsine, Netropsin, Distamycin, Hoechst 33342 oder Hoechst 33258 kann DNA angefärbt werden. Weniger spezifisch gebundene DNA-Farbstoffe und Färbemethoden sind z. B. Methylenblau, der Carbocyanin-Farbstoff Stains-all oder die Silberfärbung. Durch Molecular Combing kann die DNA gestreckt und ausgerichtet werden. == „Alte“ DNA == Als aDNA („ancient DNA“; alte DNA) werden Reste von Erbgutmolekülen in toten Organismen bezeichnet, wenn keine direkten Verwandten des beprobten Organismus mehr leben. Auch wird die DNA des Menschen dann als aDNA bezeichnet, wenn das Individuum mindestens 75 Jahre vor der Probenuntersuchung verstorben ist. == Siehe auch == Xenonukleinsäure, XNA, dazu:LNA Peptid-Nukleinsäure (PNA) Morpholino Didesoxyribonukleosid-Triphosphate (ddNTPs): Artifizielle Zwischenstufen bei der DNA-Sequenzierung nach SangerDesoxyadenosinmonoarsenat (dAMAs) siehe GFAJ-1 §Diskussion um den Einbau von Arsen in Biomoleküle (fraglicher Einbau in DNA bei Halomonas-Spezies GFAJ-1, siehe auch Halomonas titanicae) == Literatur == Chris R. Calladine und andere: DNA – Das Molekül und seine Funktionsweise. 3. Auflage. Spektrum Akademischer Verlag, Heidelberg 2005, ISBN 3-8274-1605-1. Ernst Peter Fischer: Am Anfang war die Doppelhelix. James D. Watson und die neue Wissenschaft vom Leben. Ullstein, Berlin 2004, ISBN 3-548-36673-2. Ernst Peter Fischer: Das Genom. Eine Einführung. Fischer, Frankfurt am Main 2002, ISBN 3-596-15362-X. James D. Watson: Die Doppelhelix. Rowohlt, Reinbek 1997, ISBN 3-499-60255-5. James D. Watson: Gene, Girls und Gamow. Erinnerungen eines Genies. Piper, München 2003, ISBN 3-492-04428-X. James D. Watson: Am Anfang war die Doppelhelix. Ullstein, Berlin 2003, ISBN 3-550-07566-9. James D. Watson, M. Gilman, J. Witkowski, M. Zoller: Rekombinierte DNA. 2. Auflage. Spektrum Akademischer Verlag, Heidelberg 1993, ISBN 3-86025-072-8. Tomas Lindahl: Instability and decay of the primary structure of DNA. In: Nature. Band 362, 1993, S. 709–715. doi:10.1038/362709a0. W. Wayt Gibbs: Preziosen im DNA-Schrott. In: Spektrum der Wissenschaft. Nr. 2, 2004, S. 68–75. (online) W. Wayt Gibbs: DNA ist nicht alles. In: Spektrum der Wissenschaft. Nr. 3, 2004, S. 68–75. (online) Hans-Jürgen Quadbeck-Seeger: Die Struktur der DNA – ein Modell-Projekt. In: Chemie in unserer Zeit. Band 42, 2008, S. 292–294. doi:10.1002/ciuz.200890046. == Weblinks == Literatur von und über Desoxyribonukleinsäure im Katalog der Deutschen Nationalbibliothek Video: DNA-Isolierung aus Tomaten DNA Interactive – Seite des Cold Spring Harbor Institute und des Howard Hughes Medical Institute (eine exzellente Einführung in die Thematik, engl.) DNA from the Beginning des Dolan DNA Learning Center „DNA from the Beginning“ (deutsch) „Übersetzer“ zum Finden der codierten Aminosäure zum codierenden Basentriplett oder umgekehrt „Übersetzer“ eines ganzen DNA-Abschnittes in die codierten Aminosäuren Harvard cracks DNA storage, crams 700 terabytes of data into a single gram == Anmerkungen und Einzelnachweise ==
https://de.wikipedia.org/wiki/Desoxyribonukleins%C3%A4ure
Dresden
= Dresden = Dresden (; obersorbisch Drježdźany; abgeleitet aus dem altsorbischen Drežďany für Sumpf- oder Auwaldbewohner) ist die Landeshauptstadt des Freistaates Sachsen und östlichste Großstadt Deutschlands. Mit 555.351 Einwohnern (31. Dezember 2021) ist Dresden, nach Leipzig, die zweitgrößte sächsische Kommune und der Einwohnerzahl nach zwölftgrößte Stadt Deutschlands. Als Sitz der Sächsischen Staatsregierung und des Sächsischen Landtags sowie zahlreicher Landesbehörden ist die Großstadt das politische Zentrum Sachsens. Außerdem sind bedeutende Bildungs- und Kultureinrichtungen des Freistaates hier konzentriert, darunter die renommierte Technische Universität, die Hochschule für Technik und Wirtschaft, die Hochschule für Bildende Künste Dresden und die Hochschule für Musik Carl Maria von Weber Dresden. Die an der Elbe gelegene kreisfreie Stadt ist sowohl eines der sechs Oberzentren Sachsens als auch wirtschaftliches Zentrum des Ballungsraumes Dresden, einer der ökonomisch dynamischsten Regionen in Deutschland mit über 780.000 Einwohnern. Innovationen und Spitzentechnologien spielen im Raum Dresden eine herausragende Rolle; wirtschaftlich bedeutend sind etwa die Informationstechnik und Nanoelektronik, weshalb es sich auch als Zentrum von „Silicon Saxony“ positioniert. Ebenfalls große Wertschöpfung im Raum Dresden erbringen die Branchen Pharmazie, Kosmetik, Maschinen-, Fahrzeug- und Anlagenbau, Lebensmittel, optische Industrie, Dienstleistungen, Handel, sowie der Tourismus. Mit drei Autobahnen, zwei Fernbahnhöfen, einem Binnenhafen sowie einem internationalen Flughafen bildet Dresden außerdem einen wichtigen Verkehrsknotenpunkt. Archäologische Spuren auf dem späteren Stadtgebiet deuten auf eine Besiedlung schon in der Steinzeit hin. In erhaltenen Urkunden wurde Dresden 1206 erstmals erwähnt und entwickelte sich zur kurfürstlichen, später königlichen Residenz, 1918 bis 1933 sowie ab 1990 Hauptstadt des Freistaates Sachsen, in der DDR von 1952 bis 1990 Bezirkshauptstadt. International bekannt ist Dresden als Kulturstadt mit zahlreichen bedeutenden Bauwerken, wie dem barocken Zwinger, herausragenden Museen, wie der Gemäldegalerie Alter Meister, berühmten Klangkörpern, wie der Sächsischen Staatskapelle oder dem Kreuzchor und als Wirkungsstätte weithin bekannter Kulturschaffender, zum Beispiel Richard Wagner. Die Dresdner Altstadt wurde in großen Teilen rekonstruiert und durch verschiedene architektonische Epochen geprägt, neben dem Zwinger beispielsweise mit der Frauenkirche am Neumarkt, der Semperoper und der Hofkirche sowie dem Residenzschloss. Der 1434 begründete Striezelmarkt ist einer der ältesten (ältester mit einer Urkunde bestätigter Weihnachtsmarkt) und bekanntesten Weihnachtsmärkte Deutschlands. Dresden wird auch Elbflorenz genannt, ursprünglich vor allem wegen seiner Kunstsammlungen; maßgeblich trug dazu sowohl seine barocke und mediterran geprägte Architektur als auch seine malerische und klimatisch begünstigte Lage im Elbtal bei. == Geographie == === Lage und Fläche === Die Stadt liegt beiderseits der Elbe zu großen Teilen im Elbtalkessel, eingebettet zwischen den Ausläufern des Osterzgebirges, dem Steilabfall der Lausitzer Granitplatte und dem Elbsandsteingebirge am Übergang vom Nordostdeutschen Tiefland zu den östlichen Mittelgebirgen im Süden Ostdeutschlands. Das nördliche und nordöstliche Stadtgebiet gehört naturräumlich daher zum Westlausitzer Hügel- und Bergland (Dresdner Heide und Schönfelder Hochland). Im Süden kennzeichnen die Talausgänge der Erzgebirgsabflüsse und Hochlagen den Übergang zum Östlichen Erzgebirgsvorland (eingegrenzter als Dresdner Erzgebirgsvorland und Meißner Hochland bezeichnet). Die Dresdner Elbtalweitung ist eine Untereinheit des Sächsischen Elblands. Vom Bundesamt für Naturschutz wurde Dresden vollständig der naturräumlichen Großlandschaft „D19 Sächsisches Hügelland und Erzgebirgsvorland“ zugeordnet. Als Höhenreferenz für Dresden gilt der Altmarkt als zentraler Platz der Stadt mit einer Höhe von 113 m ü. NN, der Nullpunkt des Elbpegels liegt bei 102,73 m. Die höchste Erhebung im Stadtgebiet ist der rechts der Elbe gelegene 383 m hohe Triebenberg, der tiefste Punkt liegt am Elbufer in Niederwartha mit 101 m.Die Stadt ist nach teils großflächigen Eingemeindungen hinter Berlin, Hamburg und Köln und vor Bremen und München ihrer Fläche nach die viertgrößte Großstadt Deutschlands und steht in der Liste der flächengrößten Gemeinden Deutschlands an 14. Stelle. Die Länge der Stadtgrenze beträgt 139,65 km. Die Ausdehnung des Stadtgebiets beläuft sich in Nord-Süd-Richtung auf 22,6, in Ost-West-Richtung auf 27,1 km. Durch das Stadtgebiet fließen außer der schiffbaren Elbe (Länge im Stadtgebiet: 30 km) die beiden im Osterzgebirge entspringenden linken Nebenflüsse Lockwitzbach und Weißeritz sowie die rechts zufließende Prießnitz. Daneben fließen auf dem Stadtgebiet noch kleinere Flüsse wie der Kaitzbach, der Landgraben und der Lausenbach. === Natur === Dresden gehört nach großflächigen Eingemeindungen mit 63 % Grün- und Waldflächen zu den Großstädten in Europa mit dem höchsten Anteil an Vegetationsfläche, wovon die Dresdner Heide mit 5876 ha die größte geschlossene Waldfläche bildet. Insgesamt liegen in Dresden 7341 ha Waldflächen und 676 ha Wasserflächen. Im Stadtgebiet gibt es vier Naturschutzgebiete mit 265 ha und zehn Landschaftsschutzgebiete mit 12.340 ha Fläche, teilweise deckungsgleich mit zehn FFH-Gebieten mit 1901 ha Fläche. Zahlreiche denkmalgeschützte Gärten, Alleen und Parkanlagen sowie Friedhöfe bilden 138 Naturdenkmäler mit 134 ha oder 15 geschützte Landschaftsbestandteile mit 71 ha. Im Stadtgebiet liegen zudem drei Vogelschutzgebiete mit 1612 ha. Die Natur- und Kulturlandschaft Dresdner Elbtal mit den Elbwiesen ziehen sich fast 20 km durch das Stadtgebiet, ist aber in der Innenstadt unterbrochen. An einer besonders breiten zentrumsnahen Stelle wird es durch die von 2007 bis 2013 errichtete Waldschlößchenbrücke durchschnitten, weshalb die UNESCO das Elbtal 2009 nach jahrelanger Kontroverse von seiner Welterbeliste strich.In Dresden gibt es ca. 54.000 Straßenbäume. === Geologie === Den überwiegenden Anteil der oberflächennah anstehenden Gesteine im Stadtgebiet von Dresden prägen kaltzeitliche Ablagerungen pleistozänen Alters. Im Elbtal dominieren fluviatile Ablagerungen, während im Bereich des südlichen Talhanges meist äolische Sedimente in Form von Löss und Lösslehm vorkommen. Im Süden und Südwesten werden diese Sedimente von Aufragungen des Grund- und Übergangsstockwerkes durchbrochen. Hierbei handelt es sich um eine vielfältige Abfolge von Gesteinen unterschiedlicher Ausbildungen und verschiedenen Alters, zum Beispiel kreidezeitlichen Pläner, permische (rotliegende) Sedimentite und Vulkanite sowie variszische Intrusiva. In den morphologisch höher gelegenen nördlichen Stadtteilen stehen außerdem proterozoische Granitoide oberflächennah an. Das dominierende tektonische Element ist die Lausitzer Verwerfung (auch „Lausitzer Überschiebung“). Sie verläuft etwa parallel zur Elbe und prägt das Landschaftsbild von Dresden in typischer Weise. === Klima === Dresden liegt mit seinem humiden Klima in der kühl-gemäßigten Klimazone, jedoch ist ein Übergang zum Kontinentalklima spürbar. Der größte Teil des bewohnten Stadtgebietes liegt im Elbtal. Dort herrscht ein milderes Mikroklima als in den Stadtteilen auf den Hängen und im Hügelland der näheren Umgebung. Die Wetterwarte am Flughafen Dresden-Klotzsche befindet sich am nördlichen Stadtrand oberhalb des Elbkessels. An ihrem Standort auf 227 m ü. NN ist es das ganze Jahr über etwa 1–2 Grad kälter als in der Innenstadt. In der Periode 1981 bis 2010 betrug die mittlere Temperatur in Klotzsche im Januar 0,1 °C und im Juli 19,0 °C. Die Monatstemperaturen in der Innenstadt weisen etwa ähnliche Werte auf wie die in südwestdeutschen Städten. Mit einer Jahresmitteltemperatur im Innenstadtbereich von 10,4 °C gehört Dresden zu den wärmsten Städten in Deutschland. Vor allem im Sommer ist die Lage zwischen der warmen Lausitz und dem kühleren Erzgebirge bemerkenswert. Zwischen diesen beiden Regionen können an einzelnen Tagen Temperaturunterschiede von bis zu 10 Grad herrschen. Die Stadtgrenze ist dann in gewisser Weise zugleich eine Isotherme. Das Erzgebirge kann durch Föhnwetterlagen auf Sachsen wärmend einwirken. Dresden hat durchschnittlich 1641 Sonnenscheinstunden im Jahr. Der Februar ist mit im Mittel unter 40 mm Niederschlagshöhe der niederschlagsärmste Monat im langjährigen Mittel 1981 bis 2010, der Juli der niederschlagsreichste; dabei fallen in den westlichen Stadtteilen (Station Dresden-Gohlis, 591 mm) im Mittel rund 10 % weniger Niederschläge als in den östlichen Stadtteilen (Station Dresden-Hosterwitz, 670 mm). Die höchste Regenmenge innerhalb von 24 Stunden fiel am 12. August 2002 mit 158 mm. Die sogenannte Vb-Wetterlage, die zu diesem Niederschlagsereignis führte und den gesamten sächsischen und böhmischen Raum betraf, hatte ein starkes Elbhochwasser zur Folge. Der Kälterekord in Dresden beträgt minus 30,5 Grad Celsius, gemessen am 11. Februar 1929 in der Innenstadt. === Hochwasserschutz === Aufgrund der Lage Dresdens an der Elbe und an Nebengewässern aus dem Osterzgebirge musste der Hochwasserschutz in der Entwicklung der Stadt berücksichtigt werden. Dazu wurden Freiräume belassen und Altarme weitestgehend baufrei gehalten. Zusätzlich zu dieser Retention gibt es Flutrinnen, die Wasser schneller abführen sollen. Systeme zur Hochwasserregulierung befinden sich dagegen kaum in der Stadt, sondern im südlich gelegenen Erzgebirge und am Oberlauf der Elbe. === Umgebung === Nahe gelegene Großstädte sind Chemnitz (80 km südwestlich), Leipzig (100 km nordwestlich) und die tschechische Hauptstadt Prag (150 km südlich). Berlin befindet sich 200 km nördlich; 230 km östlich liegt Breslau (Wrocław), die nächstgelegene Partnerstadt Dresdens. In der Nachbarschaft liegen der Landkreis Bautzen mit der Stadt Radeberg, der Landkreis Sächsische Schweiz-Osterzgebirge mit den Städten Pirna, Heidenau und Freital und der Landkreis Meißen mit Moritzburg und der Stadt Radebeul. Alle erwähnten Städte grenzen direkt an Dresden und bilden den Kernraum des Ballungsraumes Dresden. Etwas weiter entfernt liegen Meißen, Riesa und die Bergstadt Freiberg. Weitere angrenzende Gemeinden sind die Stadt Wilsdruff und Klipphausen im Westen, Radeburg, Ottendorf-Okrilla und Wachau im Norden sowie Arnsdorf und Dürrröhrsdorf-Dittersbach im Osten. Südlich benachbart liegen Dohna, Kreischa und Bannewitz. Dresden gehört zur Euroregion Elbe/Labe. == Bevölkerung == Am Anfang des 20. Jahrhunderts gehörte Dresden zu den fünf bevölkerungsreichsten Städten in Deutschland. 1933 wurde mit 642.143 Einwohnern der höchste Wert in der Geschichte der Stadt erreicht. Die Volkszählung am 17. Mai 1939 ergab 629.713 Einwohner, davon 281.379 Männer und 348.334 Frauen. Durch den Zweiten Weltkrieg verringerte sich die Stadtbevölkerung auf etwa 468.000 (Zählung von 1946). Bis Mitte der 1980er Jahre nahm die Bevölkerung bis auf etwa 520.000 Einwohner zu. Danach sank die Anzahl an wohnberechtigter Bevölkerung mit Erstwohnsitz durch Abwanderung und Suburbanisierung bis 1998 auf etwa 453.000 Einwohner und lag damit trotz der Eingemeindungen der 1950er Jahre unter der Zahl von 1946, die eine kleinere Fläche betraf. Danach wurde sie durch Eingemeindungen erhöht und steigt mittlerweile dauerhaft durch einen leichten Wanderungs- und Geburtenüberschuss an. Die Einwohnerzahl betrug am 30. Juni 2006 genau 500.068 (nur Hauptwohnsitze). Am 12. August 2006 wurde deshalb nach umfangreichen Ermittlungen ein Neugeborener symbolisch als der 500.000. Einwohner der Stadt nachträglich vom Oberbürgermeister begrüßt. Mit mehr als 6000 Geburten (im Jahr 2012) galt Dresden bis 2014 als „Geburtenhauptstadt“ unter deutschen Großstädten. Am 31. Dezember 2017 lebten in Dresden laut Melderegister 557.098 Einwohner bei einer Bevölkerungsdichte von 1.696 Einwohnern je Quadratkilometer. Am 31. Dezember 2018 hatten laut Melderegister 560.641 Einwohner den Hauptwohnsitz in Dresden. Am 31. Dezember 2019 hatten laut Melderegister 563.011 Einwohner den Hauptwohnsitz in Dresden bei einer Bevölkerungsdichte von 1.715 Einwohnern je Quadratkilometer. Am 31. März 2020 waren es noch 562.132 Einwohner.2021 hatten 561.942 Menschen ihren Hauptwohnsitz in Dresden. Dresden steht bei den größten Städten der Europäischen Union an 44. Stelle. === Migration === Am 31. Dezember 2018 lebten etwa 23.176 Deutsche mit Migrationshintergrund in Dresden (Wohnbevölkerung mit ausländischer Herkunft und deutscher Staatsangehörigkeit), das entspricht 4,1 Prozent aller Einwohner Dresdens.Der Ausländeranteil (Wohnbevölkerung ohne deutsche Staatsangehörigkeit) in Dresden bezifferte sich am 31. Dezember 2018 auf 8,0 Prozent. Von 2010 bis 2018 stieg der Ausländeranteil von 4,7 auf 8,0 Prozent bzw. von 24.692 auf 44.665 Personen. Zu den größten im Verlauf des Jahres 2014 zugezogenen Ausländergruppen zählten Personen aus Syrien (512 Personen), Eritrea (216), China (172), Indien (129), Tunesien (109) und Libyen (78). Im Jahr 2013 nahm Dresden 1.333 Asylbewerber auf, 2014 wurde mit 1.740 gerechnet. Im Juli 2015 lebten rund 2.600 Asylbewerber in Dresden. Aufgrund der steigenden Flüchtlingszahlen plante Dresden, bis Ende 2016 14 neue Übergangswohnheime in Betrieb zu nehmen bzw. die Zahl der Übergangswohnheime auf 19 Standorte zu erweitern. === Siedlungsraum === Im Stadtgebiet entfallen 8087 Hektar auf Gebäude- und Freiflächen, im Jahr 2011 gab es in Dresden 292.740 Wohnungen mit 286.889 Haushalten.Wie feinstrukturiert und unterschiedlich die urbanen Räume besiedelt sind, zeigt sich beim Vergleich von Äußerer und Innerer Neustadt. Die Äußere Neustadt ist mit mehr als 15.000 Bewohnern pro Quadratkilometer der am dichtesten besiedelte Stadtteil Dresdens, während die Innere (historische) Neustadt mit etwa 4.000 Einwohnern pro Quadratkilometer eine weit geringere Bevölkerungsdichte aufweist, die jedoch weit über anderen Stadtteilen liegt. Der Bereich mit der dichtesten Besiedlung ist der Stadtbezirk Blasewitz: Dies ist vor allem mit dem Stadtteil Striesen verbunden, weniger mit dem früheren Gemeindegebiet von Blasewitz. Dichte Besiedlung ist hier nicht Anzeichen für schlechteren Wohnraum, wie es zu Zeiten enger Hinterhofbebauung noch gelten konnte, im Gegenteil: Die Grundsätze für die Bebauung haben schon in den 1880er Jahren einerseits zu den Dresdner Villen als Typus eines Mehrfamilienhauses geführt, andererseits führte dies trotz dichter Bebauung zu einem durchgrünten Stadtteil. Die Elbe mit ihren Auen wirkt im Bereich von Blasewitz überdies als Grenze des urbanen Raums, weshalb die linkselbischen dicht besiedelten und die rechtselbisch quasi unbewohnten Flächen der Dresdner Heide sehr nahe beieinander liegen. Blasewitz selbst wurde erst 1921 an Dresden angegliedert, wobei zu jener Zeit schon weite Teile des heutigen Stadtbezirks (Striesen seit 1892) zur Stadt gehörten. Die Dresdner Heide wiederum liegt im Stadtbezirk Loschwitz, der mit 268 Einwohnern je Quadratkilometer der am dünnsten besiedelte Stadtbezirk ist. === Religionen === Die Reformation setzte sich in Dresden 1539 durch. Ab etwa 1571 vertrat die Stadt ein strenges Luthertum. Im Jahre 1661 gab es in Dresden erstmals wieder katholische Gottesdienste. Kurfürst Friedrich August I. veranlasste 1697 den Wechsel des Hofstaates zum katholischen Glauben, um zum polnischen König gekrönt werden zu können. Die katholischen Gemeinden wurden erst 1807 den evangelischen gleichgestellt und blieben nach Mitgliederzahl eine kleine Minderheit. Von den am 1. Dezember 1900 gezählten 396.146 Einwohnern Dresdens (ohne die später einverleibten Vorstädte, jedoch einschließlich des Gutsbezirks Albertstadt, inkl. 11.962 Mann Militär) waren 349.145 Lutheraner, 3340 Reformierte, 36.910 Römisch-Katholische und 3029 Juden.Das Ende der Monarchie führte nach dem Ersten Weltkrieg zur Trennung von Kirche und Staat und 1922 zur Wahl des ersten evangelischen Landesbischofs. Von im Jahr 1939 gezählten 629.713 Einwohnern waren 513.301 Evangelische, 40.951 Katholiken, 3052 sonstige Christen und 1459 Juden. Nach dem Zweiten Weltkrieg ging während der DDR-Zeit der Anteil der evangelischen Kirchenmitglieder von etwa 85 % (1949) auf 22 % (1989) zurück. 1980 wurde Dresden Sitz eines katholischen Bischofs, wobei die Katholische Hofkirche zur Kathedrale des Bistums Dresden-Meißen erhoben wurde. Der Volkszählung 2011 zufolge waren 15,3 % der Einwohner evangelisch und 4,3 % römisch-katholisch. 80,4 % waren konfessionslos, gehörten einer anderen Glaubensgemeinschaft an oder machten keine Angabe. Ende 2021 gehörten von den 561.002 Einwohnern 12,9 % einer der Evangelisch-lutherische Kirchen und 4,6 % der katholischen Kirche an. Fast 83 % waren konfessionslos, gehörten einer anderen Glaubensgemeinschaft an oder machten keine Angabe. 2021 erklärten 2068 Dresdner (zirka 0,4 %) ihren Kirchenaustritt.Die Stadtverwaltung schätzte die Anzahl der Mitglieder von weiteren christlichen Glaubensgemeinschaften, wie zum Beispiel der russisch-orthodoxen Kirche, rumänisch-orthodoxen Kirche, Freikirchen und nicht-christlichen Gemeinden auf etwa 5000 Menschen. In Dresden lebten 2011 etwa 760 Juden. Weitere registrierte Religionsgemeinschaften sind muslimische, buddhistische und hinduistische Glaubensgemeinschaften und die Glaubensgemeinschaft der Bahá'í. == Geschichte == === Erste Besiedlung, Stadtgründung und Mittelalter === Bereits in der Jungsteinzeit bestanden erste Siedlungen im Raum Dresden. Die Kreisgrabenanlagen in Nickern aus dem 5. Jahrtausend v. Chr. waren die ersten Monumentalbauten im heutigen Stadtgebiet. Die Furt durch die Elbe in Höhe der heutigen Altstadt bestand wahrscheinlich schon im frühen Mittelalter. Eine Besiedlung blieb aber trotz der lukrativen Lage an der Elbe und seiner fruchtbaren Böden aufgrund der starken Bewaldung problematisch. Dresdens vom altsorbischen drežďany (= „Sumpf-“ oder „Auwald-Bewohner“, Mehrzahlform) abgeleiteter Name deutet auf eine ursprünglich slawische Siedlung. Dresdene lag im damaligen Gau Nisan, der 1142 von Böhmen an den deutschen König Konrad III. kam. Das nahe Meißen war ab 968 der Sitz der Markgrafen von Meißen und entwickelte sich so zum zentralen Ort der Markgrafschaft Meißen, die im Zuge der Expansion und Eingliederung der sorbischen Siedlungsgebiete östlich von Elbe und Saale errichtet wurde. Südöstlich von Dresden befand sich ab 1156 die reichsunmittelbare Burggrafschaft Dohna. Am 31. März 1206 wird Dresden erstmals in einer erhaltenen Urkunde genannt: Acta sunt hec Dresdene. Das in Dresden ausgestellte Schriftstück befasst sich mit einer Gerichtsverhandlung wegen Schleifung der Burg Thorun auf dem Burgwartsberg, der im Gebiet der heutigen Stadt Freital südlich von Dresden zwischen Potschappel und Pesterwitz liegt. In einer Urkunde vom 21. Januar 1216 wird Dresden bereits als Stadt erwähnt: „Acta sunt hec … in civitate nostra Dreseden“.1350 wird das rechtselbisch gelegene Dresden (Altendresden), die heutige Innere Neustadt, als selbstständige Ansiedlung „Antiqua Dressdin“ erstmals erwähnt. Eine Verleihung des Stadtrechts an Altendresden ist urkundlich bisher nicht belegt, aber sie soll am 21. Dezember 1403 durch Wilhelm I. erfolgt sein. Erst ab 29. März 1549 bildeten unter Kurfürst Moritz die rechts- und linkselbischen Teile der Stadt eine Einheit. === Frühe Neuzeit === Bei der Erlangung des Stapelrechts am 17. September 1455 war Dresden noch eine recht unbedeutende Stadt, wurde jedoch nach der Leipziger Teilung der wettinischen Länder 1485 für Jahrhunderte herzogliche Residenzstadt der sächsischen Herrscher und erfuhr mit der Erhebung des wettinischen Herrschaftsbesitzes zum Kurfürstentum und Königreich eine Aufwertung als politisches und kulturelles Zentrum. Durch den Übergang der kurfürstlichen Würde innerhalb des Hauses Wettin (Wittenberger Kapitulation) wurde die Stadt zur Hauptstadt des wichtigsten protestantischen Landes innerhalb des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation. In dieser Zeit wurden wichtige kulturelle Einrichtungen begründet, die bis in die Gegenwart die besondere Geltung der Stadt ausmachen. Die von Kurfürst August 1556 zunächst in unmittelbarer Nähe des Residenzschlosses errichtete Münzstätte Dresden wurde nach Schließung sämtlicher Landesmünzstätten einzige Münzstätte im Kurfürstentum. Im Dreißigjährigen Krieg wurde Dresden nie geplündert oder zerstört, aber um 1632 durch Pest und Hungersnot sowie die allgemeine wirtschaftliche Stagnation in seiner Entwicklung gestört. Die Geschichte seit dem Dreißigjährigen Krieg ist sehr wechselvoll: Zum einen entstanden die weltbekannten Bauwerke und Parkanlagen; auf der anderen Seite war die Stadt in fast alle großen europäischen Kriege verwickelt und wurde dabei mehrfach in Mitleidenschaft gezogen. Im Jahr 1685 brannte Altendresden komplett ab. Es wurde hernach über mehrere Jahrzehnte wiederaufgebaut und 1732 als „Neue Königliche Stadt“ vollendet. Der Stadtteil wird deshalb als Neustadt bezeichnet. Unter August dem Starken errang Dresden durch den Dresdner Barock und den opulenten Hoffesten des Dresdner Hofes die kulturelle Bedeutung, die es bis in die Moderne hat. Im Dezember 1745 wurde die Stadt im Österreichischen Erbfolgekrieg zum ersten Mal durch Preußen erobert. Erneut wurde es im Siebenjährigen Krieg 1756 durch Preußen erfolglos besetzt. Als sich die österreichische Armee der Stadt näherte, rief der preußische Gouverneur zu Vergeltungsaktionen auf und ließ die Stadt teilweise abbrennen. 1760 belagerte Preußen Dresden erfolglos und beschoss dabei die Innenstadt. 1785 schrieb Friedrich Schiller für die Tafel der Freimaurerloge „Zu den drei Schwertern“ in Dresden das Gedicht An die Freude. Dieses Gedicht wurde von Ludwig van Beethoven für seine 9. Sinfonie vertont. Die Melodie des Themas dieser Vertonung ist die Europahymne. Im Frühjahr des Jahres 1791 wurde im nahe gelegenen Ort Pillnitz mit der Pillnitzer Deklaration ein Initial für die mehr als 150 Jahre währende Feindseligkeit zwischen Deutschland und Frankreich gelegt. Darin riefen die vornehmlich deutschen Monarchen die europäischen Mächte zur Zerschlagung der Französischen Revolution auf. === 19. und frühes 20. Jahrhundert === Im Großraum Dresden fanden 1813 in den Befreiungskriegen gegen Napoleon vorentscheidende Schlachten der Völkerschlacht bei Leipzig statt. Sachsen, und damit Dresden, kämpfte auf der Seite von Frankreich; die Stadt wurde durch die Franzosen weiter befestigt und durch deren Truppen geschützt. Napoleon errang am 27. August 1813 in der Schlacht um Dresden einen seiner letzten Siege auf deutschem Boden. Die südlichen Vororte von Dresden wurden teilweise schwer zerstört, und die Stadt Dresden glich durch die hohe Anzahl von Verwundeten einem großen Feldlazarett. Der auf die Märzrevolutionen folgende Dresdner Maiaufstand vom 3. bis 9. Mai 1849 zwang den sächsischen König Friedrich August II., die Stadt zu verlassen. Er konnte sie erst durch preußische Unterstützung wiedergewinnen. Bekannte Teilnehmer des Aufstandes waren Richard Wagner und Gottfried Semper; beide verließen daraufhin Sachsen. Nach Niederschlagung der Revolution fanden hier 1850/1851 die Dresdner Konferenzen statt, die einzigen in der Zeit des Deutschen Bundes, auf der alle Staaten vertreten waren. Vom 17. bis 19. Juli 1880 fand in Dresden der 11. Deutsche Feuerwehrtag statt. Im weiteren Verlauf des 19. Jahrhunderts blieb Dresden von Kriegen verschont und wurde Hauptstadt eines der wohlhabendsten Bundesstaaten im Deutschen Reich. Am 7. Juni 1905 wurde in Dresden die Künstlergruppe Brücke von den vier Architekturstudenten Ernst Ludwig Kirchner, Fritz Bleyl, Erich Heckel und Karl Schmidt-Rottluff gegründet. Weitere Mitglieder waren Max Pechstein, Otto Mueller und Cuno Amiet, kurzzeitig auch Emil Nolde und Kees van Dongen. Nicht abschließend geklärt ist, ob die Bezeichnung der Künstlergruppe sich auf die vielen Brücken Dresdens bezog oder ob es sich um eine Metapher für den Willen zum Aufbruch in der Kunst und die Überwindung alter Konventionen handeln sollte.Im Ersten Weltkrieg blieb die Stadt zwar von direkten Kampfhandlungen unberührt, aber die Einwohnerzahl ging zwischen 1910 und dem ersten Nachkriegsjahr 1919 um fast 20.000 Menschen zurück. === Weimarer Republik === Nach der Novemberrevolution 1918 wurde Dresden Hauptstadt des (ersten) Freistaates Sachsen. Es gehörte zu den zehn größten Städten in Deutschland und war ein kulturelles und wirtschaftliches Zentrum der Weimarer Republik. 1919 gründete sich die Dresdner Sezession, deren bekanntestes Mitglied Otto Dix war. Dieser Gruppe ging schon vor dem Ersten Weltkrieg die Vereinigung Brücke voraus. 1925 wurde mit der Palucca-Schule Dresden neben der bestehenden Hochschule für Bildende Künste eine bedeutende Schule der Darstellenden Kunst gegründet. Die Sächsische Staatsoper war eine bedeutende Bühne für Uraufführungen. Bis 1913 entstand das Schauspielhaus des Staatstheaters. Zwar verlegte die 1872 gegründete Dresdner Bank ihre Hauptverwaltung noch im 19. Jahrhundert nach Berlin, Dresden blieb aber bedeutender Bankenstandort vor allem kleinerer familiengeführter Privatbanken bis in die 1920er Jahre. Führende Unternehmen bestanden hier zwischen 1918 und 1933 im (Elektro-)Maschinenbau, der Pharmazie und Kosmetik sowie in der Tabakverarbeitung und Lebens- und Genussmittelindustrie. Teilweise haben sich diese Unternehmen (häufig in neu gegründeter Form) bis in die Gegenwart erhalten. Die durch die Stadt 1909 übernommenen Straßenbahnbetriebe wurden 1930 als Dresdner Straßenbahn AG wieder privatisiert. === Zeit des Nationalsozialismus === Die etwa 5000 jüdischen Dresdner, die noch 1933 Gemeindemitglieder waren, wurden vertrieben oder später in Konzentrationslager deportiert. Der Antisemitismus in Dresden ist vor allem durch die Tagebücher Victor Klemperers („Ich will Zeugnis ablegen bis zum letzten“) dokumentiert. Nach dem Zweiten Weltkrieg lebten nur noch 41 Juden in der Stadt. Bei den Bücherverbrennungen am 8. März und 10. Mai 1933 sollte unter anderem das Werk des Dresdners Erich Kästner „symbolisch für immer ausgetilgt werden“. Das vor allem expressionistische Kulturleben Dresdens aus dem ersten Viertel des 20. Jahrhunderts endete 1933. Die Werke von Ernst Ludwig Kirchner, Max Pechstein, Karl Schmidt-Rottluff oder Otto Dix dieser Zeit waren Teil der Ausstellung Entartete „Kunst“. 56 Werke der Galerie Neue Meister wurden beschlagnahmt. Auch die Staatsoper, geprägt von Werken von Richard Strauss, geriet in Bedrängnis. Schon im März 1933 wurde durch einen von der SA inszenierten Theater-Skandal bei einer „Rigoletto“-Aufführung ihr berühmter langjähriger Generalmusikdirektor Fritz Busch aus Dresden vertrieben; die einst von Busch entdeckte Erna Berger, inzwischen an der Berliner Staatsoper engagiert und an diesem Abend als Gilda gastierend, wurde Zeugin dieser Barbarei. Die Strauss-Oper „Die schweigsame Frau“ konnte dort 1935 wegen ihres jüdischen Librettisten Stefan Zweig überhaupt nur dank der Prominenz ihres Komponisten uraufgeführt werden, musste aber nach nur drei Wiederholungen vom Spielplan genommen werden und verschwand in Deutschland von der Bildfläche. Während der Novemberpogrome 1938 wurde die Alte Synagoge (Sempersynagoge) niedergebrannt. Zahlreiche Geschäfte und Wohnungen wurden vor den Augen der Polizei verwüstet und geplündert, jüdische Bürger misshandelt. Die männlichen wohlhabenden jüdischen Bürger wurden anschließend in Konzentrationslager verschleppt, um sie zur Emigration zu nötigen und ihr Vermögen zu arisieren.Zwischen 1939 und 1945 befanden sich KZ-Häftlinge, vor allem aus den Lagern in Auschwitz und Flossenbürg, in der Stadt in KZ-Außenlagern. Mehrere hundert Frauen mussten Zwangsarbeit in der Rüstungsindustrie bei Zeiss Ikon (685 Frauen im Goehle-Werk und 400 Frauen in Dresden-Reick) und in der Universelle-Maschinenfabrik (685 Frauen) leisten. Außerdem gab es ein KZ-Außenlager in der Schandauer Straße 68 in Dresden-Striesen für den Berliner Rüstungsbetrieb Bernsdorf & Co. 500 Juden mussten hier im Metallwerk Striesen Zwangsarbeit leisten und wurden nach der Bombardierung Dresdens zu großen Teilen provisorisch nach Pirna, und später nach Zwodau und Theresienstadt evakuiert. In der Ausländerkinder-Pflegestätte „Kiesgrube Dresden“ wurden 497 Kinder geboren, 225 Säuglinge und Kleinkinder verstarben dort. Die noch erhaltenen Privatbanken im jüdischen Familienbesitz wurden unter Zwang der Dresdner Bank angeschlossen. Dresden war seit Jahrhunderten ein militärisches Zentrum und diente bis 1945 zur Aufstellung militärischer Großverbände. Die Albertstadt nördlich des Stadtzentrums war als autarke Militärstadt angelegt und wurde in der Zeit des Nationalsozialismus weiter ausgebaut. Im Zweiten Weltkrieg wurden bereits im August 1944 erste Luftangriffe auf den Großraum Dresden geflogen, woraufhin sich die Stadt auf Bombardierungen vorbereitete. Bei den Luftangriffen auf Dresden wurden in vier aufeinanderfolgenden nächtlichen Angriffswellen vom 13. bis 15. Februar 1945 weite Teile des Stadtgebietes durch britische und US-amerikanische Bomber schwer beschädigt. Die genaue Zahl der Opfer ist ungewiss. Früher fand sich in einzelnen – und weiter unbeirrt in vielen geschichtsrevisionistischen und rechtsradikalen – Publikationen die falsche Angabe von rund 350.000 Toten. Der Report of the Joint Relief 1941–1946 des Internationalen Roten Kreuzes kolportiert eine ebenfalls falsche Opferzahl von 275.000. In jüngerer Zeit sind die Opferzahlen auf 22.700, höchstens 25.000 korrigiert worden. Dem Historiker Frederick Taylor zufolge gehe die falsche Opferzahl auf eine Fälschung der Nazis selber zurück: ihr sei einfach eine Null hinzugefügt worden, um in neutralen Medien und Ländern Stimmung gegen die Alliierten zu machen. Der Schaden an Gebäuden wird ebenfalls häufig zu hoch angegeben. 60 Prozent des Stadtgebietes waren von den Angriffen schwer betroffen, 15 km² ausgehend von der Innenstadt wurden gar total zerstört; Stadtteile im Norden und Nordwesten waren dagegen wenig zerstört. Vorwiegend vom nördlich der damaligen Stadtgrenze gelegenen Flughafen Dresden-Klotzsche aus wurde das ab Mitte Februar 1945 bis zum 6. Mai eingekesselte Breslau versorgt, ehe Dresden selbst am 8. Mai, dem Tag der bedingungslosen Kapitulation der Wehrmacht, von der Roten Armee besetzt wurde. Zuvor wurde in einer verdeckten Aktion ohne Wissen der jeweils anderen von fünf Personen, unter anderem von den auf einer Gedenktafel genannten Paul Zickler und Erich Stöckel, die von der SS geplante Sprengung des Blauen Wunders vereitelt. === Zeit der Deutschen Demokratischen Republik === Von 1952 bis 1990 war Dresden Hauptstadt des gleichnamigen Bezirks Dresden. Während der Zeit des Sozialismus wurden viele Reste der stark zerstörten Stadt beseitigt. Viele Ruinen Dresdens, darunter auch die Überreste der Sophienkirche, vor allem aber die historische Wohnbebauung, wurden abgetragen oder gesprengt. Das historische Stadtzentrum wurde dabei entkernt und fortlaufend wieder bebaut. Die Umgebung der einst so belebten Prager Straße glich einer Brachlandschaft, ehe sie anfangs der 1960er Jahre im sozialistischen Stil wieder bebaut wurde. Erneuert bzw. vollständig rekonstruiert wurden vor allem die historischen Monumentalbauwerke, so das Ständehaus (1946), die Augustusbrücke (1949), die Kreuzkirche (bis 1955), der Zwinger (bis 1963), die Katholische Hofkirche (bis 1965), die Semperoper (bis 1985), das Japanische Palais (bis 1987) und die beiden größten Bahnhöfe (teilweise fortlaufend). Einige dieser Arbeiten zogen sich, geprägt von der wirtschaftlichen Gesamtlage der DDR, über Jahrzehnte hin und waren mitunter für längere Zeit unterbrochen worden. Das Schloss wurde über viele Jahre gesichert und Teile rekonstruiert (so der Stallhof). Erst ab 1986 begann der Wiederaufbau, der bis in die Gegenwart dauert. Die Ruine der Frauenkirche sollte als Mahnmal gegen den Krieg auf dem Neumarkt verbleiben. Während so Theater- und Schloßplatz 1990 zumindest nach historischem Vorbild bebaut waren, blieb der Neumarkt völlig unbebaut. Der Altmarkt dagegen ist geprägt von Bauten des Sozialistischen Klassizismus und einer Raumgestaltung und -ausrichtung nach sozialistischen Idealen (zum Beispiel Kulturpalast). Von 1955 bis 1958 wurde ein großer Teil der von der Sowjetunion erbeuteten Kunstschätze zurückgegeben, so dass ab 1960 viele Museen der Staatlichen Kunstsammlungen in wiedererbauten Einrichtungen oder Interimsausstellungen eröffnet werden konnten. Die wichtigen Klangkörper wie die Staatskapelle traten in Ausweichspielstätten auf (zum Beispiel im Kulturpalast ab 1969). Teile der Kultureinrichtungen wurden aus der Innenstadt herausverlegt (so die Landesbibliothek in die Albertstadt). Die im Krieg nahezu unzerstörte Äußere Neustadt blieb aufgrund von Bürgerprotesten erhalten. Ihr drohte in den 1980er Jahren der Abriss, da ihre Bebauung stark vernachlässigt wurde und deshalb in schlechtem Zustand war. In Prohlis und Gorbitz entstanden Großwohnsiedlungen in Plattenbauweise auf zuvor unbebautem Land. Die Johannstadt und andere Gebiete im Stadtzentrum wurden ebenso in Großblockbauweise überbaut. Weitestgehend erhalten wurden die Villenviertel in Blasewitz, Striesen, Kleinzschachwitz, Loschwitz und am Weißen Hirsch. Bis zum Ende des Kalten Krieges waren in und um Dresden die 1. Gardepanzerarmee der Sowjetarmee sowie die 7. Panzerdivision der Nationalen Volksarmee stationiert. Nach der Wende in der DDR ab 1989 wurden gemäß den Bestimmungen des Zwei-plus-Vier-Vertrags von 1990 die sowjetischen/russischen Truppen Anfang der 1990er Jahre aus Deutschland abgezogen und die NVA aufgelöst. Zwischen dem 30. September und dem 5. Oktober 1989 fuhren Sonderzüge mit den Flüchtlingen aus der bundesdeutschen Prager Botschaft über Dresden und Plauen in die Bundesrepublik. Besonders in der Nacht vom 4. zum 5. Oktober versammelten sich tausende Menschen am Hauptbahnhof. Dabei kam es zu gewaltsamen Auseinandersetzungen zwischen Sicherheitskräften und Bürgern, die teils demonstrierten, teils die Züge zur Flucht erreichen wollten. Am 8. Oktober zogen rund 20.000 Menschen durch Dresden und demonstrierten unter anderem für Reise- und Meinungsfreiheit. Ein großer Teil von ihnen wurde von der Polizei auf der Prager Straße eingekesselt. Es bildete sich spontan die „Gruppe der 20“, die am nächsten Tag dem SED-Oberbürgermeister Wolfgang Berghofer die Forderungen der Demonstranten vorbrachte. Am Tag darauf fand in Leipzig die erste große Montagsdemonstration statt, wie sie in den folgenden Wochen in Dresden ebenfalls stattfanden. === Seit 1990 === Nach der politischen Wende 1989 und der deutschen Wiedervereinigung 1990 wurde Dresden wieder die Hauptstadt des wieder errichteten Landes Sachsen. In der Stadt wurden nochmals einige alte Gebäude abgerissen. Viele andere wurden jedoch mit Hilfe steuerlicher Subventionen wieder restauriert. Viele Gebiete Dresdens gelten daher als Beispiele für die gelungene Restaurierung von Baudenkmälern und stehen als Gesamtensembles unter Denkmalschutz. Im August 2002 wurde die Stadt von der „Jahrhundertflut“ getroffen. Dabei überschwemmten die Weißeritz und die Elbe nebst mehrerer ihrer Nebengewässer die Stadt. Die Elbe erreichte einen Pegelstand, der das bis dato schwerste Hochwasser von 1845 übertraf. Das Reparieren der Infrastruktur dauert nach dem Hochwasser bis in die Gegenwart an; betroffene Bauwerke waren wesentlich schneller wieder hergerichtet. Am 30. Oktober 2005 wurde die Frauenkirche nach einem zehnjährigen Wiederaufbau, der weitgehend durch Spendengelder finanziert wurde, geweiht („Wunder von Dresden“). 2006 feierte die Stadt ihr 800-jähriges Bestehen (formal am Tag ihrer ersten urkundlichen Erwähnung am 31. März). Höhepunkt war dabei im Rahmen des Festumzuges im August eine Nachstellung des kompletten Fürstenzuges durch Reiter in historischen Kostümen. Am 5. Juni 2009 besuchte mit Barack Obama erstmals ein Präsident der Vereinigten Staaten die Stadt und traf sich mit Bundeskanzlerin Angela Merkel im Residenzschloss. Er besichtigte anschließend die Frauenkirche. Die Technische Universität Dresden wurde 2012 in den Kreis der „Elite-Hochschulen“ Deutschlands aufgenommen. Mit dem Bau der Waldschlößchenbrücke erhielt Dresden 2013 eine weitere innenstadtnahe Elbquerung für den Straßenverkehr, nachdem 2011 bereits eine neue Straßenbrücke nach Radebeul eröffnet worden war. Im Oktober 2014 nahm die islam- und fremdenfeindliche Bewegung Pegida, die durch Demonstrationen in Dresden und anschließend in anderen Städten im Jahr 2015 viel Aufmerksamkeit erreichte, ihren Anfang. Die Stadt erhielt am 21. April 2015 zusammen mit der schwedischen Stadt Vara den Europapreis, der jährlich vom Ministerkomitee des Europarats an Gemeinden verliehen wird, die sich um den europäischen Gedanken verdient gemacht haben. == Stadtgebietsentwicklung und Stadtgliederung == === Geschichtliches === Zu Eingemeindungen siehe auch Liste der Gemarkungen von Dresden. Ursprünglich lag der älteste Teil der Stadt rechtselbisch, also nördlich der Elbe. Den Stadtteil Altendresden gibt es nicht mehr. Nachdem er abgebrannt war, wurde er 1732 als Neue Königliche Stadt, später vereinfacht Neustadt, neu angelegt und ist mit der heutigen Inneren Neustadt deckungsgleich. Der Stadtteil südlich der Elbe wird daher mittlerweile als die historische Altstadt bezeichnet. Die flachere südliche Tallage hat eine stärkere Entwicklung begünstigt, so dass sich damit die gesamte Stadt nach Süden verlagert hat. Die Stadt dehnt sich nicht gleichmäßig aus, sondern folgt dem Elbtal in südöstlicher beziehungsweise nordwestlicher Richtung. Überall wuchs Dresden zunächst durch Vorstädte, die anfangs der Stadtbefestigung vorgelagert waren. Eingemeindungen von umliegenden Gemeinden gab es seit 1835, als Dresden sich nach Norden und Westen ausdehnte. Seitdem wurden 65 Landgemeinden, die vier Gutsbezirke Albertstadt, Wilder Mann, das Gorbitzer und das Pillnitzer Kammergut sowie die Stadt Klotzsche nach Dresden eingemeindet. Landgemeinden, die nach 1990 eingemeindet wurden, erhielten innerhalb der kommunalen Struktur kraft Gesetzes den Sonderstatus „Ortschaft“. Die größte Eingemeindung war die von Schönfeld-Weißig im Osten des Stadtgebietes. Dresden ist nicht nur durch die Eingemeindungen in den 1990er Jahren eine weitläufige Stadt mit unterschiedlichen Strukturen in den einzelnen Stadtteilen. Viele Stadtteile besitzen einen erhaltenen Dorfkern; einige sind vollständig dörflich erhalten. Andere prägende Strukturen sind die der Vorstädte und der Einzelbebauung durch Stadtvillen sowie die Plattenbauviertel. Es gibt Stadtteile, die teilweise in enger Nachbarschaft verschiedene Strukturmerkmale aufweisen. Zur ursprünglichen Stadt gehörten Stadtteile, die in der gegenwärtigen Struktur fast alle zu den Stadtbezirken Altstadt und Neustadt gehören. Neben diesen innerhalb der Stadtfestung liegenden Teilen entstanden außerhalb der Stadtmauern, jedoch meist auf Dresdner Flur, Vorstädte, die zum Teil auf Anweisung sächsischer Herrscher angelegt worden waren und zum Teil nach diesen benannt wurden (Friedrichstadt, Albertstadt, Johannstadt). Weitere Dresdner Vorstädte wurden nach Stadttoren bzw. Ausfallstraßen (Wilsdruffer Vorstadt, Pirnaische Vorstadt) oder nach – nicht mehr vorhandenen – Naturmerkmalen (Seevorstadt) benannt. Die Antonstadt ist mittlerweile weitgehend unter dem Begriff Äußere Neustadt bekannt. Die anderen, nach Königen benannten Vorstädte blieben ihrerseits als Begriff erhalten. Später wuchs die Stadt vor allem im 19. Jahrhundert, als weitere Dörfer dichter bebaut wurden. Der Begriff Vorstadt wurde nach dem Ersten Weltkrieg für weitere Stadtteile nicht mehr verwendet. Von 1957 bis 1991 war das Stadtgebiet in die fünf Stadtbezirke Dresden-Mitte, -Ost, -West, -Süd und -Nord eingeteilt. === Stadtbezirke und Ortschaften seit 1990 === Seit 1991 gab es die Gliederung in zehn Ortsämter (für das Stadtgebiet vor 1990) und neun Ortschaften (nach 1990 eingemeindete Flächen). Mit der Einführung der Ortschaftsverfassung und die Wahl 2019 wurde die Bezeichnung „Ortsamt“ rückgängig gemacht und nunmehr Stadtbezirke eingerichtet, die ihrerseits ebenfalls den eingemeindeten „Ortschaften“ entsprechen. Sie sind Stadt- beziehungsweise Ortsteile des Stadtgebietes mit Flächenstand vom 31. Dezember 1990 und haben jeweils ein Stadtbezirksamt, das heißt ein Rathaus vor Ort, sowie einen Stadtbezirksrat im Sinne des von § 71 der Sächsischen Gemeindeordnung, der zu allen wichtigen Angelegenheiten, die den Stadtbezirk betreffen, vom Stadtrat und seinen Ausschüssen anzuhören ist. Vorsitzender des Stadtbezirksbeirats ist der Oberbürgermeister oder eine von ihm beauftragte Person. Diese beauftragte Person ist in der Regel die Leiterin oder der Leiter der Verwaltung des Stadtbezirks (Stadtbezirksamtsleiter). Die ehrenamtlich tätigen Mitglieder der Stadtbezirksbeiräte werden direkt gewählt. Die Stadtbezirksbeiräte (als Personen) müssen ihren Hauptwohnsitz im jeweiligen Stadtbezirk haben. Der Stadtbezirk mit der größten Bevölkerung ist der von Blasewitz, der flächengrößte der von Loschwitz. Die Dresdner Innenstadt liegt in den Stadtbezirken Altstadt und Neustadt. Bis zu einer Änderung der Hauptsatzung im September 2018 wurden die Stadtbezirke als Ortsamtsbereiche bezeichnet. Entsprechend hießen Stadtbezirksräte, Stadtbezirksämter und Stadtbezirksamtsleiter bis dahin Ortsbeiräte, Ortsämter und Ortsamtsleiter. Bei den neun Ortschaften, die zum Teil ihrerseits aus mehreren Ortsteilen bestehen, handelt es sich – mit Ausnahme der Ortschaften Oberwartha und Schönborn – um erst Ende der 1990er Jahre eingegliederte und bis dahin selbständige Gemeinden. Eine weitere Ausnahme ist der Ortsteil Kauscha, der, bis 1999 zu Bannewitz gehörig, dem Stadtbezirk Prohlis angegliedert wurde. Für die Ortschaften wurden insgesamt fünf Verwaltungsstellen eingerichtet, lediglich die Ortschaft Altfranken wird vom Stadtbezirksamt Cotta mitverwaltet. Je Ortschaft existiert ein Ortschaftsrat, der – im Gegensatz zu den Stadtbezirksbeiräten der Stadtbezirke – direkt von den Bürgern der Ortschaft zeitgleich mit dem Stadtrat gewählt wird. Jeder Ortschaftsrat wählt für seine Ortschaft einen Ortsvorsteher. Im Gegensatz zu den Ortsbeiräten haben die Ortschaftsräte eigene Entscheidungskompetenzen und dafür eigene Budgets innerhalb des Stadthaushaltes, über das sie selbst verfügen. Soweit sich ihre Entscheidungsbefugnisse nicht aus der Sächsischen Gemeindeordnung ergeben, regeln die jeweiligen Eingemeindungsverträge im Detail ihre Kompetenzen. Die größte und bevölkerungsreichste Ortschaft ist Schönfeld-Weißig, die sich im Schönfelder Hochland erstreckt. Sie entstand ihrerseits aus mehreren ehemaligen Gemeinden, die sich in den 1990er Jahren zunächst als Gemeinde Schönfeld-Weißig vereinigt hatten. Die jahrelang nur inoffiziell diskutierte „Einführung der Ortschaftsverfassung für das gesamte Stadtgebiet Dresdens“ war 2014 ein Wahlkampfthema und sollte zur darauffolgenden Stadtratswahl 2019 eingeführt werden. Die Änderung der Sächsischen Gemeindeordnung im Jahr 2018, durch die die Rechte der Ortsbeiräte gestärkt werden, verhinderte letztlich die Einführung der Ortschaftsverfassung. === Namensherkunft der Ortsteile === Viele Stadtteilnamen sind wie der Stadtname Dresden sorbischer Herkunft. Typische Endungen der Namen sind „-itz“ und – ursprünglich eine Suffixverbindung mit dem Vorigen – „-witz“. Beide Endungen haben adjektivische Funktion; erstere sind Ableitungen von Appellativen, letztere von Personennamen und sind damit Patronyme. -nitz ist etymologisch keine eigene Endung, sondern eine Verbindung von stammauslautendem -n mit der Endung -itz.Die im Gefolge der Ostsiedlung eingedeutschten Endungen gehen somit häufig auf ursprüngliche (mittelalterliche) Besitzverhältnisse zurück. Leutewitz zum Beispiel wurde erstmals als Ludiwice „bei den Ludischen, das heißt bei den Leuten des Lud, Dorf des Lud“ erwähnt. Pillnitz hieß ursprünglich Belenewitz „Dorf des Belan“. Andere Stadtteilnamen sind aus geografischen Merkmalen gebildet worden; so bedeutet Klotzsche „gerodeter Wald“. Sehr wenige Ortsbezeichnungen wie Langebrück haben ihren Ursprung tatsächlich in der deutschen Sprache. Die (neueren) Ortsbezeichnungen „Weißer Hirsch“ und „Wilder Mann“ gehen beide auf Gastwirtschaften zurück, die sich in diesen Randlagen der Stadt befanden. Die Stadtteilbezeichnung Gittersee ist eine Volksetymologie und entwickelte sich aus dem slawischen „Geterssin“. == Politik und Verwaltung == === Grundlagen === Die insgesamt 70 Stadträte Dresdens werden nach dem in Sachsen auf kommunaler Ebene üblichen Personen-Mehrstimmenwahlsystem mit drei Stimmen – wobei Kumulieren und Panaschieren möglich ist – für eine Amtszeit von fünf Jahren gewählt. Die Stadt selbst wird dabei vor jeder Kommunalwahl in Wahlkreise aufgeteilt, die sich an einer annähernden Gleichzahl der Stimmberechtigten orientieren, womit sich allerdings ihre Grenzen von Wahl zu Wahl verschieben. Die Sitzverteilung im Stadtrat wird nach dem D’Hondt-Verfahren berechnet (§ 22 KomWG) und auf dieser Grundlage, zunächst über die jeweilig höchste Stimmzahl der Wahlliste in den Wahlkreisen und anschließend die persönlich erreichte Stimmzahl auf der Wahlliste innerhalb des Wahlkreises, wiederum die gewählte Person oder die gewählten Personen bestimmt. Hauptorgan der Stadt ist der Stadtrat; er nimmt satzungsgebende Kompetenzen wahr und erlässt allgemein geltende Verordnungen, definiert die Grundlagen und fasst die Beschlüsse, nach denen die Stadtverwaltung (einschließlich Oberbürgermeister) zu handeln hat. Als Organ bestimmt er direkt über solche Angelegenheiten, die nicht im Kompetenzbereich des Oberbürgermeisters liegen. Die Mitglieder der einzelnen Parteien im Stadtrat bilden Fraktionen. Die Stadträte arbeiten in elf beschließenden Ausschüssen und einem beratenden Ausschuss und wirken außerdem in sieben Beiräten mit. Dem einzelnen Mitglied stehen umfangreiche Frage- und Auskunftsrechte zu sowie mit weiteren gemeinsam ein Akteneinsichtsrecht. Der Oberbürgermeister wiederum ist allein für die Weisungsaufgaben nach Bundes- und Landesrecht zuständig. Er leitet die Stadtverwaltung, verantwortet laufende Tagesgeschäfte und repräsentiert die Stadt. Entsprechend den Regelungen der Sächsischen Gemeindeordnung (SächsGemO) wird er für eine Amtszeit von sieben Jahren direkt von den Bürgern gewählt. Ihm zur Seite gestellt sind sieben Beigeordnete, die für einzelne Geschäftskreise zuständig sind und diese eigenverantwortlich leiten. Sie führen den Titel „Bürgermeister“, wobei der „Erste Bürgermeister“ den Oberbürgermeister ständig vertritt. Dies kam Ende 2014 bis Mitte 2015 voll zum Tragen, da die Oberbürgermeisterin Helma Orosz aus gesundheitlichen Gründen vorzeitig in den Ruhestand gegangen war. Ihr Stellvertreter, der seit 2008 Erste Bürgermeister Dirk Hilbert (FDP), wurde im zweiten Wahlgang am 5. Juli 2015 mit 54,2 % der Stimmen zum neuen Oberbürgermeister gewählt. Für Senioren, Ausländer und Behinderte sowie für geheimzuhaltende Angelegenheiten hat der Stadtrat Beiräte berufen, letzterer hat jedoch seit 1994 bis heute kein einziges Mal getagt. Die Stadtverwaltung Dresden zählte im Jahr 2021 ca. 7.400 Mitarbeiter, 2010 waren es noch etwa 6.200. Sie sind auf mehr als 50 Standorte in der Stadt verteilt. === Historische Entwicklung der städtischen Verwaltung === An der Spitze der Stadt gab es seit dem 13. Jahrhundert (1292) einen Rat mit einem Bürgermeister. Dieser wurde vom Rat gewählt und wechselte jährlich. Er war ehrenamtlich tätig. Besonderen Einfluss auf das Umland konnte die Stadt über das Dresdner Brückenamt der Kreuzkirchgemeinde ausbauen, das in Konkurrenz zum Kloster Altzella Güter und Dörfer insbesondere auf dem späteren Stadtgebiet erwarb. Nach Einführung der Allgemeinen Städteordnung des Königreichs Sachsen im Jahr 1832 gab es neben dem Bürgermeister noch gewählte Stadträte. Wie Köln und München überschritt Dresden 1852 als vierte deutsche Stadt nach Berlin, Hamburg und Breslau die 100.000-Einwohner-Grenze, wodurch die Stadt zur Großstadt wurde. 1853 wurde Bürgermeister Friedrich Wilhelm Pfotenhauer erstmals der damals den Großstädten vorbehaltene Titel Oberbürgermeister verliehen. 1874 schied die Stadt aus der Amtshauptmannschaft aus und wurde eine „exemte Stadt“ (kreisfreie Stadt). Sie blieb weiterhin Sitz der Amtshauptmannschaft Dresden (bzw. beider AHM Dresden-Altstadt und -Neustadt) sowie der Kreishauptmannschaft Dresden. Mit der DDR-Kreisreform wurde Dresden 1952 als Stadtkreis definiert; der Kreis Dresden-Land erhielt einen neuen Zuschnitt, mit dem er bis zu seiner Auflösung Anfang 1996 fortbestand. Während der Zeit des Nationalsozialismus wurden Oberbürgermeister und Ratsherren entsprechend der Deutschen Gemeindeordnung von der NSDAP eingesetzt. Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs setzte die sowjetische Stadtkommandantur 1945 zunächst eine Verwaltung ein. Im September 1946 wurde als Stadtvertretung eine Stadtverordnetenversammlung gewählt. Bei späteren Wahlen bis 1989 traten alle Parteien und Organisationen auf einer gemeinsamen Liste der Nationalen Front auf. Nach dem Beitritt der DDR zur Bundesrepublik Deutschland wurde das zunächst weiterhin als Stadtverordnetenversammlung, seit 1994 als Stadtrat bezeichnete Gremium wieder frei gewählt. Vorsitzender dieses Gremiums war von 1990 bis 1994 ein besonderer Präsident (beziehungsweise eine Präsidentin: Evelyn Müller, CDU). Die Wahl des Oberbürgermeisters war Sache der Stadtverordnetenversammlung. Nach Einführung der Süddeutschen Ratsverfassung in Sachsen ist seit 1994 der nunmehr direkt vom Volk gewählte Oberbürgermeister zugleich Vorsitzender des Stadtrates. Amtsinhaber ist seit 2015 Dirk Hilbert von der FDP, der sich 2015 im zweiten Wahlgang mit 54,2 % der Stimmen gegen Eva-Maria Stange (SPD) durchsetzte. Im Jahr 2022 konnte sich Dirk Hilbert im zweiten Wahlgang erneut gegen seine vier Mitbewerber durchsetzen. Die beiden Wahlgänge der Oberbürgermeisterwahl 2022 ergaben folgende Ergebnisse: === Stadtrat === Bei der letzten Kommunalwahl am 26. Mai 2019 wurde folgender Stadtrat gewählt: Im Stadtrat haben sich folgende Fraktionen gebildet: CDU (einschließlich Freie Bürger, 14 Mitglieder), Grüne (13 Mitglieder), AfD (12 Mitglieder), Linke (12 Mitglieder), SPD (6 Mitglieder), FDP (5 Mitglieder), FW (4 Mitglieder). Das Ratsmitglied der Piraten und das Ratsmitglied der Partei waren bis 18. Mai 2021 fraktionslos. Danach folgte der Zusammenschluss mit zwei Stadträten der Grünen zur Dissidenten-Fraktion. Fortan war die Fraktion aus CDU und Freien Bürger größte Fraktion. Nach zwei Fraktionsaustritten aus der CDU-Fraktion ist die offizielle Sitzverteilung erneut verändert. === Polizei und Justiz === Die Polizeidirektion Dresden sitzt im Polizeipräsidium nahe dem Pirnaischen Platz. Das Amtsgericht Dresden befindet sich im Bezirk des Landgerichts Dresden; übergeordnet ist das Oberlandesgericht Dresden. Weitere Gerichte sind das Verwaltungsgericht Dresden, das Arbeitsgericht Dresden und das Sozialgericht Dresden. Seit 1559 bestand das Sächsische Appellationsgericht in Dresden. Ab 1835 wurde es durch das Oberappellationsgericht Dresden abgelöst, dem das Appellationsgericht Dresden und das Bezirksgericht Dresden nachgeordnet waren. Zu DDR-Zeiten gab es das Bezirksgericht Dresden sowie das Landesverwaltungsgericht Sachsen mit Sitz in Dresden. Die Justizvollzugsanstalt Dresden befindet sich der Dresdner Albertstadt. === Stadtwappen und -flagge === Die Flagge der Stadt zeigt das Stadtwappen auf einem schwarz-goldenen Flaggentuch. === Kommunalpolitische Themen mit überregionaler Resonanz === ==== Jüngere Vergangenheit ==== Waldschlößchenbrücke Über den Bau einer neuen Elbquerung, der Waldschlößchenbrücke entbrannte eine heftige Diskussion, als die UNESCO den Brückenbau als so wesentlich ansah, dass sie die 2004 aufgenommene Weltkulturerbestätte nur zwei Jahre später auf die Rote Liste des gefährdeten Welterbes setzte. Im November 2007 war Baubeginn, im August 2013 erfolgte dann die Eröffnung der neuen Elbbrücke. Dresden verlor als einzige Stätte weltweit den Titel als Weltkulturerbe 2009. Schuldenfreie Stadt durch WOBA-Verkauf Im März 2006 wurde der, auf Initiative des damaligen Oberbürgermeisters Ingolf Roßberg gestarteten und nach einem umfangreichen Verfahren 2005 durch den Stadtrat beschlossenen Verkauf der Wohnungsbaugesellschaft Woba Dresden mit 47.000 Wohnungen an die US-amerikanische Investmentgesellschaft Fortress Investment Group durch die Aufsichtsbehörde genehmigt. Mit einem erzielten Netto-Erlös von ca. 988 Mio. Euro wurde Dresden zur ersten faktisch schuldenfreien Großstadt Deutschlands. Der Verkauf war umstritten und löste ein breites Medienecho aus. Abgesichert wurde er mit einer umfangreichen Sozialcharta, unter anderem einem kostenfreien Belegungsrecht für 8000 Wohnungen für insgesamt 20 Jahre, sowie, um die Mieter zu schützen, zahlreichen Einschränkungen hinsichtlich Kündigungen und Mietpreiserhöhungen. Am 21. Juni 2007 nahm der Stadtrat mit 37 zu 12 Stimmen (bei 9 Enthaltungen) ein Verschuldungsverbot in die Hauptsatzung auf.Während 2006, zum Zeitpunkt des Verkaufs, der Dresdner Immobilienmarkt durch einen hohen Leerstand gekennzeichnet war, haben in den letzten Jahren Investoren wie Capital Holding S.A., Intershop Holding (MiKa-Quartier), Adler Real Estate (Hufewiesen Alttrachau) oder die Immokles AG (Lingner Altstadtgarten Dresden) den Wohnungsmarkt in Dresden als renditeträchtige Anlageform entdeckt. Mittlerweile lag zwischenzeitlich 2018 die durchschnittliche Dresdner Wohnkostenquote mit 32 % des Gesamteinkommens für Familien höher als in Stuttgart und auf dem geteilten Rang vier gleichauf mit Nürnberg, gleichwohl wurden daraus politische Lösungen, wie der Rückkauf von ehemaligen städtischen Wohnungen oder die (Wieder-)Gründung einer städtischen Wohnungsgesellschaft zwar diskutiert und seitdem zum Teil realisiert: Eine gewisse Zögerlichkeit resultiert daraus, dass etwa 22 % des Wohnungsbestandes der Stadt sich ohnehin im Besitz von Wohnungsgenossenschaften befindet (Stand 2022, prozentual gegenüber 2006 nahezu unverändert), die ihrerseits bereits von ihrem genossenschaftlichen Auftrag her preisgünstige Wohnungen anbieten. Das seit 2007, also nunmehr fast 16 Jahren (Stand: Ende 2022) geltende Verschuldungsverbot der Stadt Dresden ist dabei nach wie vor fraktionsübergreifender Konsens bei den politischen Mandatsträgern im Stadtrat. ==== Gegenwart ==== Neumarkt Die Wiederbebauung des Neumarktes – in welcher Verdichtung und ob modern oder historisiert – steht exemplarisch für das internationale Interesse an der Dresdner Architektur. Die Gesellschaft Historischer Neumarkt Dresden ist wegen dieser Auseinandersetzung gegründet worden. Grundsatzerklärung gegen Rechtsextremismus Der Stadtrat Dresdens verabschiedete am 30. Oktober 2019 eine Grundsatzerklärung gegen Rechtsextremismus. Diese fand in der internationalen wie auch nationalen Berichterstattung unter dem Begriff Ausrufung des Nazi-Notstandes Beachtung. Oberbürgermeister Hilbert distanzierte sich nur wenige Stunden später von diesem Begriff. Die Grundsatzerklärung wurde fraktionsübergreifend mit den Stimmen der SPD, Bündnis 90/Die Grünen, Die Linke, FDP und Fraktionslosen beschlossen und sieht vor, „demokratische Alltagsstrukturen zu stärken“, „Bürgerschaft und zivilgesellschaftliche Bündnisse, die sich für aktiv für Menschenrechte einsetzen“, zu unterstützen, Opfern rechter Gewalt zu helfen, Täter konsequent zu verfolgen und die Verbreitung menschenfeindlicher und extrem rechter Einstellungen auf öffentlichen Plätzen nicht unwidersprochen zuzulassen. === Bundestagsabgeordnete === Der Wahlkreis 159 (Dresden I) umfasst die Stadtteile südlich der Elbe mit Ausnahme einiger westlicher Bereiche. In diesem Wahlkreis ist Markus Reichel von der CDU gewählter Abgeordneter. Der Wahlkreis 160 (Dresden II - Bautzen II) schließt alle Stadtteile nördlich der Elbe und einige westliche südlich der Elbe ein und umfasst zusätzlich einige Gemeinden im westlichen Landkreis Bautzen. Abgeordneter dieses Wahlkreises ist Lars Rohwer von der CDU. Weiterhin vertreten von den Landeslisten der jeweiligen Parteien Torsten Herbst (FDP), Rasha Nasr (SPD), Kassem Taher Saleh und Merle Spellerberg (beide Grüne) sowie bis zur Niederlegung ihres Mandats auch Katja Kipping (Linke) die Stadt. === Städtepartnerschaften === Städtepartnerschaften bestehen mit folgenden Städten: Eine Städtefreundschaft besteht außerdem seit 1976 mit der polnischen Stadt Gostyń in Zusammenhang mit der von dort stammenden Widerstandsgruppe Schwarze Legion. Weitere Städtefreundschaften bestehen zu Daejeon in Südkorea und zu Schiras im Iran. === Konsulate und Auslandsvertretungen === Neben einem tschechischen Generalkonsulat befinden sich in Dresden die Honorarkonsulate von Dänemark, Ecuador, Finnland, Italien, Kap Verde, Kasachstan, Kroatien, Litauen, Luxemburg, Niederlande, Österreich, Panama, den Philippinen, der Schweiz, Slowenien, Spanien, Südafrika, Südkorea und Ungarn. Außerdem befindet sich in Dresden ein Institut français. == Kultur und Sehenswürdigkeiten == Dresden war in den Jahren 2004 bis 2009 Weltkulturerbestätte der UNESCO. Die Stadt beherbergt über 50 Museen, mehr als 35 Theater und Kleinkunstbühnen, herausragende Klangkörper und bekannte Bauwerke verschiedener Kunststile. Großveranstaltungen ziehen jedes Jahr Gäste aus dem In- und Ausland an. Jährlich wird der Kunstpreis der Landeshauptstadt Dresden verliehen. === Theater und Bühnen === Die Sächsische Staatsoper Dresden im Bauwerk der Semperoper wurde 1841 am jetzigen Standort, dem Theaterplatz, gegründet. Das Gebäude wurde in seiner Geschichte zweimal zerstört. Insgesamt war die Staatsoper in mehr als 50 Jahren ihrer etwa 160-jährigen Geschichte gezwungen, an einem anderen Ort als der Semperoper zu spielen. In der Semperoper und ihren Vorgängerbauten wurden Opern unter anderem von Richard Wagner und Richard Strauss uraufgeführt. Das Orchester der Oper ist die Sächsische Staatskapelle (siehe Abschnitt Musik). Die Semperoper verfügt außerdem über eine Kammerbühne, „Semper Zwei“. Das Staatsschauspiel Dresden betreibt das „Schauspielhaus“ – allgemein als das „Große Haus“ bekannt – und damit das größte Theater der Stadt sowie das „Kleine Haus“ in der Glacisstraße. Am Theaterplatz befindet sich der Theaterkahn, eine Bühne auf einem Elbschiff. Die Staatsoperette Dresden hat seit Dezember 2016 ihr Haus im Kraftwerk Mitte. Entgegen ihrer Bezeichnung ist die Stadt Besitzer und Betreiber der Operette. Die bedeutenden Kabaretttheater der Stadt sind „Die Herkuleskeule“, „Dresdner Friedrichstatt Palast“, die „Comödie Dresden“ und das „Boulevardtheater Dresden“. Theater für moderne Formen von Aufführungen sind das Theater Junge Generation, zu dem auch ein Puppentheater gehört, das neubauLABOR im Kleinen Haus des Staatsschauspiels und insbesondere das Festspielhaus Hellerau, in dem sich das Europäische Zentrum der Künste befindet. Weitere Theater und Aufführungsstätten sind das Societaetstheater, das Studententheater Die Bühne, „Das Projekttheater“ sowie die „Theaterruine St. Pauli“ in der Neustadt und das „Boulevardtheater Dresden“. Die Kulturvereine „Mimenstudio Dresden e. V.“, „Kulturverein riesa efau“ und die „Motorenhalle – Projektzentrum für zeitgenössische Kunst“ zeigen ebenfalls Aufführungen; auch das Tanztheater Derewo ist in Dresden beheimatet. === Musik === In Dresden sind mehrere Orchester und Chöre zu Hause. Die Sächsische Staatskapelle Dresden geht auf die Königliche Hofcantorey zurück. Diese wurde von Moritz von Sachsen bereits 1548 gegründet. Anfang des 17. Jahrhunderts begann die Dresdner Hofkapelle Opernaufführungen zu begleiten, ihr Kapellmeister Heinrich Schütz komponierte und führte mit ihr 1627 in Torgau die erste deutschsprachige Oper Daphne auf. Das Textbuch schrieb Martin Opitz nach der italienischen Oper des Jacopo Peri. Johann Georg Pisendel, seit 1728 Konzertmeister, führte eine „neuzeitliche Orchesterleitung“ ein, wodurch das Orchester in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts in Europa führend wurde.Musikdirektoren im 19. Jahrhundert wurden unter anderen Carl Maria von Weber, Heinrich Marschner sowie als Assistent Richard Wagner. Seit September 2012 ist Christian Thielemann Chefdirigent. Die Dresdner Philharmonie, das Konzertorchester der Stadt, wurde 1871 gegründet. Bis 1915 trug das Orchester den Namen „Gewerbehaus-Kapelle“, bis 1923 „Dresdner Philharmonisches Orchester“. Chefdirigenten in jüngerer Zeit waren unter anderen Kurt Masur und Marek Janowski. Derzeitiger Chefdirigent ist Michael Sanderling. Die Dresdner Sinfoniker wurden 1996 von Sven Helbig und Markus Rindt gegründet. Das Orchester widmet sich der zeitgenössischen Musik sowie dem Crossoverbereich. 2004 wurde es mit dem Echo Klassik ausgezeichnet und vertonte zusammen mit den Pet Shop Boys den Film Panzerkreuzer Potemkin neu. Weitere Orchester sind das „ensemble courage“, ein Ensemble für zeitgenössische (Kammer-)Musik, 2004 mit dem Förderpreis der Stadt Dresden ausgezeichnet, Sinfonietta Dresden, ein Kammerorchester mit vielfältigen Aufgaben im städtischen Musikleben und einer eigenen Konzertreihe, das Dresdner Barockorchester, die Dresdner Kapellsolisten sowie die Virtuosi Saxoniae. Das Dresdner Festspielorchester ist ein 2012 für die Dresdner Musikfestspiele gegründetes, international besetztes Ensemble unter der Leitung von Ivor Bolton, es hat 2016 seine erste eigene CD veröffentlicht. In Dresden haben zwei berühmte Chöre mit langer Geschichte ihre Heimat: Der Dresdner Kreuzchor (Capella sanctae crucis) ist zwar Knabenchor der Kreuzkirche und wird mit dieser identifiziert, ist jedoch seit seiner Gründung bis heute ein städtischer Chor. Nach dessen eigener Darstellung sei er so alt wie die Stadt selbst und im 13. Jahrhundert gegründet worden (was allerdings so nicht zutrifft). Der Knabenchor der Kathedrale (ehemalige Hofkirche) wiederum sind die Dresdner Kapellknaben, der jedoch im Gegensatz zum Kreuzchor ein kirchlicher Chor ist.Weitere Chöre in Dresden sind: Dresdner Kammerchor – international renommierter Chor mit einem breiten Repertoire (Alte Musik über Romantik bis zu Uraufführungen), gegründet (1985) und geleitet von Hans-Christoph Rademann Das Sächsische Vocalensemble – 1996 gegründet mit dem Schwerpunkt Alte Musik und geleitet von Matthias Jung. Philharmonische Chöre Dresden – 1967 gegründet, arbeiten hauptsächlich mit der Philharmonie zusammen, derzeitiger Leiter ist Gunter Berger Knabenchor Dresden – gegründet im Jahr 1971 durch Studienrat Manfred Winter, geleitet von Matthias Jung Singakademie Dresden – einer der bedeutendsten Laienchöre Mitteldeutschlands, hervorgegangen aus dem 1884 gegründeten Dresdner Lehrergesangverein, bestehend aus Kinder-, Kammer-, Oratorien- und Seniorenchor, geleitet von Ekkehard Klemm Chorus 116Sven Helbig ist zugleich Produzent der Band Polarkreis 18, der 2008 als erster Dresdner Band mit Allein Allein ein Nummer-eins-Hit in den deutschen Singlecharts gelang. In den 1970er Jahren war Dresden mit Bands wie electra und Lift ein Zentrum der Rockmusik in der DDR. Die Mitglieder dieser Bands waren vorrangig Studenten der Hochschule für Musik Carl Maria von Weber. Hier begann unter anderem Veronika Fischer ihre musikalische Karriere. Anfang der 1990er Jahre galten die Freunde der italienischen Oper unter vielen Journalisten als beste und innovativste Band der neuen Länder. Ray & the Rockets veröffentlichten im Jahre 1998, 44 Jahre nach der „Erfindung“ des Rock ’n’ Roll den ersten Rock-’n’-Roll-Tonträger Dresdens.Bekannte Komponisten, die in Dresden wirkten, sind zum Beispiel Fritz Geißler, Jörg Herchet, Heinrich Schütz, Richard Wagner, Carl Maria von Weber und Jan Dismas Zelenka. Einige Komponisten haben in Dresden ihren Wohnsitz, darunter Thuon Burtevitz, Alexander Keuk, Wilfried Krätzschmar, Karoline Schulz, Jorge García del Valle Méndez und Udo Zimmermann. === Museen und Galerien === Dresden hat eine vielseitige Museumslandschaft – eine Komposition von historisch gewachsenen und wertvollen jüngeren Einrichtungen. Der über Jahrhunderte anhaltende kulturelle Beitrag Dresdens wird mit etwa 50 Museen repräsentiert, darunter viele halbstaatliche und private Institutionen. ==== Landesmuseen ==== Die Staatlichen Kunstsammlungen Dresden (SKD) enthalten die bekanntesten Museen der Stadt. Die zentralen Einrichtungen der Kunstsammlungen sind das Residenzschloss und der Zwinger. Die Gemäldegalerie Alte Meister befindet sich seit 1855 im Semperbau des Zwingers. Das berühmteste Exponat ist die Sixtinische Madonna von Raffael, die ursprünglich 1512/13 als Altarbild gemalt wurde. Mit weiteren Werken unter anderen von Rembrandt, Rubens und Canaletto führt die Galerie Bilder der Renaissance und des Barock. Der Begriff „Alte Meister“ soll dabei die epochale Abgrenzung zu den Malern der Galerie Neue Meister späterer Epochen schaffen. Zu den Neuen Meistern zählen Maler wie Caspar David Friedrich, Max Liebermann, Max Slevogt, Otto Dix und Künstler der Gruppe Brücke. Damit führt die Galerie Werke der Romantik, des Impressionismus und des Expressionismus. Im Gegensatz zu den Alten Meistern hatten bei den Künstlern dieser Galerie sehr viele einen persönlichen Bezug zu Dresden, indem sie an der Kunstakademie studierten, lehrten oder hier lebten. Eine weitere Einrichtung der SKD ist das Grüne Gewölbe. Es beherbergt die Sammlung der sächsischen Kurfürsten und Könige. Der Schatz in Form von Schmuck und repräsentativen Ausstellungsstücken ist eine Sammlung europäischer Goldschmiedekunst und des Feinhandwerks. Die wohl bekanntesten Werke entstanden durch den Hofgoldschmied Johann Melchior Dinglinger und seine Söhne. Der Hofstaat zu Delhi am Geburtstag des Großmoguls Aurang-Zeb zählt zu den herausragenden Stücken der Sammlung. Besonders bekannt ist der mit 185 menschlichen Köpfen beschnitzte Kirschkern. Ein besonderes Museum der SKD ist der Mathematisch-Physikalische Salon, der sich ebenfalls im Zwinger befindet. Er enthält mathematische und physikalische Instrumente aus der Zeit des Barock und der Aufklärung sowie Globen und astronomische Kartografien. Er ist eines der frühesten Zeugnisse für die Verbindung von Kultur und Wissenschaft in Dresden und wurde 1728 aus der allgemeinen Kunstsammlung ausgegründet. Die Grundlagen dieser Sammlung wurden dort schon Jahrhunderte vorher gelegt. Weitere Einrichtungen der Kunstsammlungen sind das Kunstgewerbemuseum im Schloss Pillnitz, das Kupferstichkabinett mit dem Josef-Hegenbarth-Archiv, das Museum für Sächsische Volkskunst, die Porzellansammlung – eine Sammlung von Meissener Porzellan –, die Puppentheatersammlung, die Skulpturensammlung und die Kunsthalle im Lipsius-Bau. ==== Nationale Museen ==== Das Deutsche Hygiene-Museum dient seit seiner Gründung 1912 der gesundheitlichen, humanbiologischen und medizinischen Aufklärung der breiten Bevölkerung. Bekanntestes Exponat ist die Gläserne Frau, die einen plastischen Einblick auf alle inneren Organe zulässt. Im Norden der Stadt, in der ehemaligen Kasernenvorstadt Albertstadt, liegt das Militärhistorische Museum der Bundeswehr. Es wurde von 2006 bis 2011 nach Plänen von Daniel Libeskind umgebaut (siehe Moderne Bauwerke). 10.000 Objekte bezeugen Kulturgeschichten der Gewalt. Die Sammlung umfasst Waffen und Kriegsgeräte aus mehreren Jahrhunderten. ==== Städtische Museen ==== Das Stadtmuseum Dresden und die Städtische Galerie Dresden sind im Landhaus (dem ersten Tagungsgebäude für die Landstände) am Pirnaischen Platz untergebracht. Weitere Museen in städtischer Verantwortung sind die Technischen Sammlungen, das Carl-Maria-von-Weber-Museum, das Kraszewski-Museum, das Kügelgenhaus – Museum der Dresdner Romantik, das Schillerhäuschen, das Palitzsch-Museum, Leonhardi-Museum und das Kunsthaus Dresden. === Literatur === Besonders erwähnenswert unter den Autorinnen und Autoren, die zumindest einen Teil ihres Lebens in Dresden verbracht haben, sind Volker Braun, Heinz Czechowski, Durs Grünbein, Ralf Günther, Erich Kästner, Victor Klemperer, Theodor Körner, Karl Mickel, Ludwig Renn, Friedrich Schiller, Ingo Schulze, Ludwig Tieck und Józef Ignacy Kraszewski. Bekannte Autoren, die zurzeit in Dresden ihren Wohnsitz haben, sind zum Beispiel Marcel Beyer, Undine Materni, Thomas Rosenlöcher, Volker Sielaff, Uwe Tellkamp, Jens Wonneberger und Michael Wüstefeld. Einmal im Jahr schreibt Dresden den Dresdner Stadtschreiber aus. Der ausgewählte Schriftsteller lebt jeweils für sechs Monate in der Stadt. Alle zwei Jahre wird der Dresdner Lyrikpreis ausgelobt. Darüber hinaus widmen sich in Dresden ansässige Vereine der Förderung der zeitgenössischen Literatur, so die Literarische Arena, das Literaturbüro und das Literaturforum Dresden. === Bibliotheken === Die Sächsische Landesbibliothek – Staats- und Universitätsbibliothek Dresden befindet sich im Süden der Stadt auf dem Campus der Technischen Universität. Sie entstand 1996 aus dem Zusammenschluss der Dresdner Universitätsbibliothek mit der Sächsischen Landesbibliothek, die 1556 als Hofbibliothek gegründet wurde. Sie gehört mit etwa neun Millionen Bestandseinheiten zu den größten Bibliotheken in Deutschland und hat das Pflichtexemplarrecht für in Sachsen erschienene und erscheinende Bücher. In der Bibliothek befindet sich die Deutsche Fotothek. Hochschulbibliotheken bestehen an der Hochschule für Wirtschaft und Technik, an der Hochschule für Musik Carl Maria von Weber, an der Hochschule für Bildende Künste sowie am gemeinsamen Campus der Berufsakademie Dresden und der Evangelischen Hochschule Dresden.Die Stadt verfügt mit den Städtischen Bibliotheken über eine der am intensivsten genutzten Bibliotheken in Deutschland. Jährlich verleiht sie 5,4 Millionen Medien. Neben der Zentralbibliothek bestehen 19 Stadtteilbibliotheken und eine Fahrbibliothek. Bedeutende Archive in Dresden sind das Stadtarchiv und das Hauptstaatsarchiv. === Kinos === In Dresden gibt es 18 Kinos mit rund 10.700 Sitzplätzen. Mit dem CinemaxX in Blasewitz (2000 eröffnet), dem UCI im Elbe-Park (1997 eröffnet) und dem Ufa-Kristallpalast an der Prager Straße (1998 eröffnet) existieren insgesamt drei Multiplex-Kinos. Nach deren Eröffnung war Dresden mit über 12.000 Kinositzen in den Jahren 2001 und 2002 die deutsche Stadt mit über 200.000 Einwohnern mit den meisten Plätzen pro Einwohner. Nach einem Bevölkerungswachstum lag Dresden im Jahr 2010 in dieser Statistik auf Platz drei hinter Augsburg und Magdeburg. Besonders der UFA-Palast ist architektonisch interessant; der vom Architekturbüro Coop Himmelb(l)au entworfene auffällige „Glaskristall“ (siehe Abschnitt Bauwerke) steht direkt neben dem ebenso markanten Rundkino aus DDR-Zeiten. Trotz der Häufung von Multiplex-Kinos bestehen weiterhin verschiedene Programmkinos und mit der Schauburg in der Neustadt ein großes „klassisches“ Kino. Trotz der Konkurrenz wurde beispielsweise die Schauburg wiederholt bei Umfragen eines Stadtmagazins zum beliebtesten Kino gewählt. Unter den Programmkinos sind vor allem das Programmkino Ost, das Kino im Dach, das Kino im Kasten und das Thalia zu nennen. Im Jahr 2006 wiedereröffnet wurde das Kino in der Fabrik (kurz KIF), das jedoch kein reines Programmkino ist. Erwähnenswert ist dessen ungewöhnliches Ambiente in einer ehemaligen Fabrik, das unter anderem durch eine ausgefallene Farbgebung besticht. === Bauwerke === Dresden ist bekannt als Stadt des Barock, wobei Dresden mit Ausnahme der Inneren Neustadt keine Barockstadt im eigentlichen fachlichen Sinne ist. Im Bereich der Architektur hat sich der Dresdner Barock entwickelt, wobei die erhaltenen Bauwerke meist für sächsische Monarchen errichtet worden und teilweise dem Neobarock zuzuordnen sind. Für den originalen bürgerlichen Barock gibt es einige erhaltene Beispiele. Auf der anderen Seite werden viele Gebäude irrtümlich dem Barock zugeordnet: So sind weite Bereiche der Stadt entweder im Stil der Renaissance oder des Klassizismus, vor allem aber im Neobaustil des Historismus nach der Barockzeit errichtet worden. Der eigentlichen barocken Zielsetzung einer Einordnung in klare symmetrische Formen entgegengestellt, achtete man bei der Stadtplanung auf Freiräume für die Elbe. ==== Kulturelles Erbe ==== Die Stadt wurde neben gotischen Bauten (Ursprungsbau der Kreuzkirche, abgerissene Sophienkirche) und Renaissancebauten (Residenzschloss Dresden) sowie Bauten des 19. Jahrhunderts vor allem vom Dresdner Barock und seinen großartigen Bauwerken geprägt. Ein Wahrzeichen der Stadt ist die Frauenkirche. Nach der Zerstörung Dresdens am 13./14. Februar 1945 standen nur zwei Seitenmauern um ihren Trümmerberg. Ihre Stätte wird seither als Mahnmal des Krieges wahrgenommen, insbesondere beim alljährlichen Gedenken an den 13. Februar 1945. Seit dem 2005 beendeten Wiederaufbau versteht sich die Frauenkirche zudem als „internationale[s] Symbol für Frieden und Versöhnung“. In den ersten zweieinhalb Jahren nach der Neueröffnung wurde sie von fünf Millionen Menschen besucht, nach sieben Jahren waren es 14,5 Millionen.Kulturelle Wahrzeichen der Stadt sind die Semperoper und der Zwinger. Die Semperoper wurde von 1977 bis 1985 wieder errichtet nach Originalplänen des zweiten Opernbaus (1878 bis 1945) von Gottfried Semper. Sie ist ein Bauwerk des Historismus und trägt vor allem Elemente des Klassizismus. Mit Ausnahme der von 1847 bis 1854 errichteten Sempergalerie wurde der Zwinger von 1711 bis 1728 im barocken Baustil als Ort für königliche Feste sowie Kunstausstellungen auf einer ehemaligen Bastion der Stadtfestung errichtet. Auf der Südseite blieben dabei die Reste der Stadtmauer erhalten. Hier steht das Kronentor, das der königlichen Krone nachempfunden ist. Als eines der ersten Gebäude wurde es nach dem Zweiten Weltkrieg wiederaufgebaut und restauriert. Zusammen mit dem Italienischen Dörfchen, der Altstädtischen Hauptwache und der Hofkirche bilden der Zwinger und die Semperoper die architektonische Einheit des Theaterplatzes. Die Brühlsche Terrasse erstreckt sich in der Innenstadt entlang des Elbufers. Sie ist eine Zusammenstellung aus mehreren Bauwerken und befindet sich auf der alten Stadtbefestigung etwa zehn Meter über der Elbe. Die Kasematten, die ehemaligen unzugänglichen Wehranlagen der Stadt, unter der Terrasse sind in Form eines Museums begehbar. Gebäude, die zur Brühlschen Terrasse gezählt werden, sind zum Beispiel das Albertinum, die Kunstakademie und die Sekundogenitur. Am östlichen Ende befinden sich die Jungfernbastei und der Brühlsche Garten. Das Residenzschloss Dresden war Wohnsitz der sächsischen Kurfürsten und später Könige. Es ist im Verlauf seiner Geschichte häufig erweitert und verändert worden. Es weist daher sehr viele Baustile in verschiedenen Flügeln und Teilen des Gesamtbauwerks auf. Die ältesten Strukturen lassen sich auf Stichen des 15. Jahrhunderts erkennen. Der Georgenbau ist dabei einer der wenigen erhaltenen Renaissancebauten in Dresden. Der Wiederaufbau des Schlosses begann 1986 und ist im Jahre 2015 weit fortgeschritten und es wird umfangreich durch die Staatlichen Kunstsammlungen Dresden genutzt. Als erstes eigenständiges Element der Schlossanlagen konnte der Stallhof fertiggestellt werden. Zur architektonischen Einheit des Schlossplatzes zählen noch die Hofkirche (siehe unten), der Fürstenzug und das erst Ende des 19. Jahrhunderts errichtete Ständehaus. Am Rand der Innenstadt befindet sich der Große Garten, ein Park mit Merkmalen barocker Gartenbauweise und symmetrischer Wegführung, allerdings mit freien Verläufen von Bewaldung. Dort befindet sich das Sommerpalais. Der Große Garten gehörte nicht zum Weltkulturerbe. Am Rande von Dresden, direkt an der Elbe, liegt das Schloss Pillnitz. Dieses besteht aus drei Palais im barocken und chinamodischen Baustil und wurde als Sommerresidenz genutzt. Am Palais an der Elbseite liegt die berühmte Treppe zur Elbe, über die es möglich war, aus der Innenstadt per Gondel an diesem Schloss zu landen. In die europäische Geschichte ging es über die Pillnitzer Deklaration ein. ==== Weltkulturerbe ==== Die Kulturlandschaft Dresdner Elbtal mit einer Ausdehnung von Schloss Pillnitz bis Schloss Übigau wurde im Jahr 2004 durch die UNESCO in deren Liste der Welterbestätten aufgenommenen, 2009 mit dem Bau der Waldschlößchenbrücke jedoch wieder daraus gestrichen. Die UNESCO sah in der Brücke eine Gefährdung der Landschaft als Welterbe. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts entstanden im Dresdner Raum bedeutende Bauwerke der Reformbaukunst. Für die daraus besonders hervorzuhebende 1909 gegründete erste deutsche Gartenstadt Dresden-Hellerau laufen seit ca. 2011 Bemühungen, für diesen Dresdner Stadtteil die Aufnahme in das UNESCO-Welterbe zu beantragen. Namhafte Künstler und Architekten wie Richard Riemerschmid, Hermann Muthesius, Theodor Fischer, Kurt Frick und Heinrich Tessenow waren an der Gestaltung der von Karl Schmidt-Hellerau gegründeten Reformsiedlung beteiligt. ==== Sakralbauten ==== Das berühmteste Wahrzeichen der Stadt ist die evangelische Frauenkirche. Sie ist international bekannt als Mahnmal gegen Krieg und als Zeugnis von Versöhnung. Die Frauenkirche wurde nach ihrer Zerstörung am 14. Februar 1945 infolge der Luftangriffe auf Dresden und langjährigem Wiederaufbau, der sich wesentlich über Spendengelder aus der ganzen Welt finanzierte, am 30. Oktober 2005 geweiht. Mit ihrer hohen und breiten Kuppel beherrscht sie das Stadtbild, auf das man von der begehbaren Laterne an der Spitze einen Rundblick werfen kann. Das Original von George Bähr war eines der wenigen hervorragenden Beispiele für bürgerlichen Barock. Die Kirche wurde von 1723 bis 1743 erbaut und ersetzte einen gotischen Vorläufer. Die Bauzeit von 17 Jahren war für damalige Zeiten sicher sehr schnell, wenn man bedenkt, dass der Wiederaufbau mit wesentlich besseren Kränen und Baugeräten etwa zehn Jahre dauerte. Die Kirche in ihrer alten Form wie in ihrem Neubau ist etwas mehr als 91 Meter hoch. Durch den Wiederaufbau der Frauenkirche ist die Katholische Hofkirche wieder das zweithöchste Kirchengebäude der Stadt. Sie wurde zwischen 1739 und 1751 erbaut und im selben Jahr der Heiligsten Dreifaltigkeit („Sanctissimae Trinitatis“) geweiht. Ebenfalls am 13. Februar 1945 zerstört, wurde sie dennoch ab Juni 1945 weiter zur Feier von Gottesdiensten benutzt. 1962 konnte auch das Hauptschiff wieder genutzt werden. 1964 wurde die Hofkirche zur Kon-Kathedrale (svw. Mit-Kathedrale) erhoben. Durch den Umzug des Bischofs von Bautzen nach Dresden ist sie seit 1980 Kathedrale des Bistums Dresden-Meißen. Evangelische Hauptkirche ist allerdings die am Südost-Rand des Altmarkts gelegene Kreuzkirche. Sie ist der größte Kirchenbau Sachsens und, durch Zerstörungen oder Brände mit anschließenden Wiederaufbauten in veränderter Form, seit dem 13. Jahrhundert überliefert. Die Sophienkirche, die am Postplatz in unmittelbarer Nähe des Zwingers stand, war eines der wenigen Bauwerke der Gotik in der Stadt. Die Ruine dieser Kirche wurde trotz eines guten Erhaltungszustandes im Rahmen einer sozialistisch-antikirchlichen Einstellung abgetragen und musste der HO-Gaststätte „Am Zwinger“ weichen (von den Dresdnern Fresswürfel genannt), die ihrerseits den Start in die Marktwirtschaft nicht überlebte. Heute geben einerseits der Cholerabrunnen, andererseits durch die Bemühungen bürgerschaftlichen Engagements, Elemente der Busmannkapelle der früheren Sophienkirche Auskunft über den vormaligen Standort. Mit ihr verbunden ist der Sophienschatz im Stadtmuseum Dresden. Auch die in der Südvorstadt gelegene Zionskirche fiel – als damals eine der jüngsten Kirchen in der Stadt – dem Zweiten Weltkrieg zum Opfer. Nach der Grundsteinlegung im Jahr 1901 wurde die im Jugendstil errichtete Kirche schließlich im September 1912 geweiht. In der Bombennacht vom 13. Februar 1945 brannte das Gotteshaus völlig aus. In einer Baracke in unmittelbarer Nähe der Ruine fanden ab 1949 Aktivitäten der evangelischen Studentengemeinde statt, die die Räumlichkeiten ab 1956 mit der Zionsgemeinde teilte. Im Juni 1981 wurde mit dem Bau der neuen Zionskirche in der Bayreuther Straße begonnen, der durch die Unterstützung der schwedischen Kirche möglich wurde. Deren feierliche Weihe fand am 31. Oktober 1982 statt. Die kirchenfeindliche Haltung der sozialistischen Zeit hat dazu geführt, dass mehrere Ruinen Dresdner Kirchen in den fünfziger Jahren endgültig beräumt wurden, davon wären einige wiederaufbaufähig gewesen: Neben der Sophienkirche waren dies die Johanneskirche, die Jakobikirche, die anglikanische und die amerikanische Kirche, die Kirche des Ehrlich’schen Gestifts und die Erlöser-Andreas-Kirche, die Reformierte Kirche, die schottische Kirche und in den sechziger Jahren die katholische Kirche des hl. Franziskus-Xaverius in der Inneren Neustadt. Andere Kirchenruinen konnten vor einem Abriss bewahrt und zum Teil wieder aufgebaut werden. Von der im Neorenaissancestil errichteten Trinitatiskirche in Johannstadt wurden der Turm und Mauerreste erhalten und einzelne Räume in den 1990er Jahren, nach Enttrümmerung und Sicherung der Ruine, wieder ausgebaut. Heute dient sie der evangelisch-lutherischen Johanneskirchgemeinde Dresden-Johannstadt-Striesen wieder als Kirchenraum, dem Förderverein als Veranstaltungsort, unter anderem für Konzerte, der Offenen Sozialen Jugendarbeit der Gemeinde als Anlaufpunkt für Kinder und Jugendliche aus dem Stadtteil und fungiert als Ausgabestelle der Dresdner Tafel. Die St.-Pauli-Kirche im Hechtviertel wird von einem gemeinnützigen Verein intensiv als Sommertheater genutzt. Am südlichen Rand der Innenstadt, ebenfalls in der Südvorstadt, liegen die Russisch-Orthodoxe Kirche und die Lukaskirche. In der Inneren Neustadt befindet sich die Dreikönigskirche mit ihrem Totentanzrelief. Ihre Kriegsruine wurde im Zusammenhang mit der Fertigstellung der Neustädter Hauptstraße wieder aufgebaut. Von 1990 bis 1993 war sie Sitz des sächsischen Landtags. Die im Stadtteil Strehlen auf einer Anhöhe am Kaitzbach gelegene Christuskirche entstand in den Jahren 1902–1905. Erbaut von den Dresdner Architekten Schilling & Graebner, stellt sie eine der modernsten und kühnsten Kirchenbauten ihrer Zeit in Deutschland dar und wird der Reformarchitektur zugeordnet. Die Alte Synagoge wurde während der Reichspogromnacht am 9. November 1938 zerstört. Der Architekt des von 1838 bis 1840 erbauten Sakralgebäudes war Gottfried Semper. Aus dem alten Gebäude konnte nur einer der beiden Davidsterne gerettet werden. Fast exakt am selben Ort entstand der Bau der Neuen Synagoge, die am 9. November 2001 eingeweiht wurde. ==== Moderne Bauwerke ==== In Dresden befinden sich viele Baudenkmäler des 19. und 20. Jahrhunderts. Die neudeutsche Romantik ist ebenso vertreten wie neoklassizistische Bauten und Gebäude der Gründerzeit, des Jugendstils und der Moderne wie Postmoderne. Teilweise bauen diese neuen Bauwerke auf Vorgängern auf beziehungsweise dienen der Erneuerung dieser Bauwerke. In der Gegenwart werden in Dresden wieder Projekte von international bedeutsamen Architekten durchgeführt. Das Gebäude des Sächsischen Landtags besteht aus mehreren Flügeln. Der alte südliche, 1928 bis 1931 errichtete Teil gehört dem Bauhaus-Stil an und beherbergt jetzt die Büros der Abgeordneten. Ursprünglich wurde das Gebäude als Landesfinanzamt errichtet und nach 1945 bis 1990 durch die SED-Bezirksleitung genutzt. Neu errichtet wurden der Glasflügel im Norden und die davorliegende „Neue Terrasse“ an der Elbe. Der Plenarsaal und die Räume für die Sitzung befinden sich entlang des Flusses in diesem Glasanbau. Ein weiteres Gebäude, das der Architektur der Weimarer Republik angehört, ist das 1930 eröffnete Deutsche Hygiene-Museum. Es befindet sich in Verlängerung der Hauptachse des Großen Gartens zwischen diesem und der Innenstadt. Der mehrflügelige Bau nimmt die Symmetrie des barocken Parks auf, ist also bewusst als modernes Bauwerk in die bestehende Stadtlandschaft integriert worden. Er trägt vor allem Stilelemente des späten Historismus und bedient sich als solches bei verschiedenen europäischen Baustilen. Direkt gegenüber dem Landtag befindet sich das Kongresszentrum der Stadt. Es soll die Innenstadt nach Westen hin abschließen, besteht zu großen Teilen aus Glas und nimmt in seiner Form der Fassade die Kurven des Flusses auf. Eine weitere Einrichtung für große Veranstaltungen ist der Kulturpalast, der von 1962 bis 1969 errichtet und 2013 bis 2017 umgebaut wurde. Er schließt den Altmarkt in Richtung der wiedererrichteten Frauenkirche ab und brach vor deren Rekonstruktion die Leere in der entkernten Stadt. Das sonstige Umfeld am Altmarkt wurde durch Gebäude im Stil des Neoklassizismus errichtet. In der nördlichen Albertstadt, dem ehemaligen Garnisonskomplex, befindet sich das Militärhistorische Museum der Bundeswehr. Dessen Bauwerk (das Arsenal), das 1875 das Albertinum in der Altstadt als Zeughaus ersetzte, wurde nach Plänen von Daniel Libeskind erneuert, umgebaut und 2011 wiedereröffnet. Libeskind ist zudem der Architekt des Imperial War Museum North in Trafford bei Manchester. Am 10. November 2006 wurde der nach Plänen von Norman Foster umgebaute und modernisierte Dresdner Hauptbahnhof wiedereröffnet. Wie schon beim Reichstag in Berlin oder dem British Museum wird dabei die alte Struktur und Beschaffenheit des Gebäudes mit neuen Materialien und Formen kombiniert. Das Hauptaugenmerk beim Hauptbahnhof lag auf der Erneuerung des Daches, das mit einem lichtdurchlässigen Teflon-Glasfaser-Gewebe belegt wurde. Dabei heben sich die filigrane Stahlkonstruktion der Bahnhofshalle und der schlicht fallende Stoff gegenseitig hervor. Durch die Dachform des reißfesten Stoffes ergeben sich weitere Einblicke in die Struktur der Stahlträger. Ebenfalls nach Bestrebungen von Foster wurde die lange Zeit mit einem festen Dachbelag überbaute Glaskuppel der Empfangshalle wieder lichtdurchlässig gestaltet. Das Gebäude ist dadurch insgesamt heller und transparenter geworden. Direkt am Hauptbahnhof befindet sich das neuerrichtete Glaskugelhaus. Der Gedanke eines Hauses in Kugelform wurde erstmals 1928 in Dresden verwirklicht. Das für Ausstellungszwecke errichtete Kugelhaus befand sich bis 1938 auf dem Messe- und Ausstellungsgelände, dem heutigen Gelände der Gläsernen Manufaktur. Das neue Kugelhaus, das eine reine Glasfassade hat, soll das Motiv der Kugel wieder aufnehmen. Eines der Gebäude der Moderne ist der Ufa-Kristallpalast des Architekturbüros Coop Himmelb(l)au. Dieses mittlerweile bekannte Büro baute mit diesem Gebäude sein erstes großes Projekt. Es gehört trotz nutzungsbedingter Kompromisse zum Dekonstruktivismus, was vor allem am großen Glaskubus des Baus zu erkennen ist. Weitere bekannte glasbetonende Bauwerke sind zum Beispiel das World Trade Center und die Gläserne Manufaktur von VW, beide am sogenannten „26er Ring“ (Straßenzug um die Altstadt aus Ammonstraße, Wiener Straße, Lennéstraße und Güntzstraße) gelegen. Zu den der Überbetonung des Glases entgegengestellten Bauwerken gehört die Synagoge, ein auch wegen der markanten Lage am alten Standort der 1938 in der Reichspogromnacht zerstörten Synagoge von Gottfried Semper direkt an der Elbe in seiner Gestaltung umstrittenes Gebäude. Sie besteht aus zwei Flügeln, dem Gebets- und Gemeinderaum. Der Gebetsraum ist nach außen fast völlig fensterlos. Auffällig an dem Gebäude sind die verdrehten senkrechten Kanten. Das Gebäude wurde 2001 zum Europäischen Gebäude des Jahres ernannt. In der Auffassung von Glas sehr ähnlich ist die Sächsische Landesbibliothek – Staats- und Universitätsbibliothek Dresden. Die Auslage- und Lesebereiche der Bibliothek liegen größtenteils unter der Erde. Die einzige echte Fassade des Bauwerks besitzen die beiden aufragenden Riegel, die wenig Fensterfläche aufweisen. Eine natürliche Beleuchtung der Bibliothek wird über Lichtschächte und das große Glasdach des zentralen Lesesaals erreicht. Die Innenarchitektur wirkt ruhig und gleicht der einer Klosterbibliothek mit sehr vielen Nischen, Galerien und Säulen. Am Rande der Innenstadt befindet sich das St. Benno-Gymnasium, einer der ersten Schulneubauten nach 1989. Das von Behnisch Architekten entworfene Gebäude fällt durch seine aufgelockerte und farbige Gestaltung auf. Ein repräsentativer Bau der 1990er ist das Gebäude der sächsischen Landesärztekammer auf der Schützenhöhe. In den Jahren 2016 bis 2019 wurde das Gebäude der ehemaligen Oberpostdirektion saniert. Dabei wurden die Altbauten durch zwei Neubauten ergänzt. ==== Brücken ==== Dresden, beiderseits der Elbe gelegen, weist mehrere Elbbrücken auf. Die berühmteste ist das 1893 fertiggestellte Blaue Wunder (eigentlich Loschwitzer Brücke). Die Stahlfachwerkbrücke gehört zu den technischen Sehenswürdigkeiten und liegt etwa acht Kilometer stromaufwärts der Innenstadt zwischen Loschwitz und Blasewitz. Sie überspannt die Elbe über eine Länge von 141,5 m. Nach jahrelangem politischen und juristischen Tauziehen (siehe Dresdner Brückenstreit) wurde am 24. August 2013 östlich der Innenstadt die neue Waldschlößchenbrücke eröffnet. In der Innenstadt befinden sich vier Straßenbrücken und eine Eisenbahnbrücke: Die Albertbrücke folgt in der Brückenfolge auf die Waldschlößchenbrücke und wurde als letzte der Steinbrücken angelegt. Im Rahmen der spätestens seit 2008 notwendigen Sanierung, die letztlich 2014–2016 erfolgte, wurde die Brücke verbreitert und der ihr nördlich vorgelagerte Rosa-Luxemburg-Platz umgestaltet. Die Carolabrücke folgt etwa 640 Meter weiter. Sie war ursprünglich eine auf steinernen Pfeilern ruhende Bogenbrücke mit Bögen aus Stahlfachwerk, wurde aber nach der Zerstörung im Zweiten Weltkrieg durch eine Spannbetonbrücke ersetzt. Diese trägt mit der vierspurigen B 170 eine der wichtigsten Nord-Süd-Verbindungen der Stadt und zudem einen separaten Gleiskörper der Straßenbahn. Zu DDR-Zeiten trug sie den Namen Dr.-Rudolf-Friedrichs-Brücke. Weitere 600 Meter flussabwärts folgt die Augustusbrücke. Sie ist ebenfalls seit ihrem Neubau, eingeweiht 1910 als Friedrich-August-Brücke, eine Stahlbetonbrücke, allerdings historisierend in Bogenbauweise und von außen mit Sandstein verkleidet. An dieser Stelle befand sich im Strom die mittelalterliche steinerne Dresdner Elbbrücke, die 1727–1731 unter August dem Starken aufwendig umgebaut und dann nach ihm benannt wurde. Die Reste der mittelalterlichen Brücke, wie auch der von Pöppelmann umgestalteten Brücke sind teilweise an beiden Elbufern erhalten geblieben. Die Brücke selbst liegt direkt im alten Stadtkern. Die stromabwärts letzte Brücke im Stadtzentrum ist die Marienbrücke, die zunächst eine kombinierte Eisenbahn-Straßenbrücke war. Im Zuge der Neugestaltung der Dresdner Eisenbahnanlagen des auslaufenden 19. Jahrhunderts besteht sie nunmehr aus zwei Brücken: flussaufwärts die eigentliche Marienbrücke, seit 1900 eine reine Straßenbrücke und flussabwärts eine seit ihrer Sanierung (und teilweisem Neubau) fünf- (vorher vier-)gleisige Eisenbahnbrücke. Um beide Brücken zu unterscheiden, meint der heutige Sprachgebrauch mit „Marienbrücke“ die Straßenbrücke, die zweite wird korrekt als „Marien-Eisenbahnbrücke“ bezeichnet. Weiter flussabwärts liegt die zwischen den beiden Weltkriegen errichtete Flügelwegbrücke, die die Stadtteile Kaditz und Cotta verbindet. Der Brückenüberbau wurde 2004 komplett ausgetauscht und trägt nun sechs Fahrstreifen der Westumfahrung Dresdens. Weitere Brücken auf dem Stadtgebiet sind die ebenfalls erneuerte Autobahnbrücke der A 4 sowie die Niederwarthaer Eisenbahnbrücke der Berlin-Dresdner Eisenbahn im äußersten Westen. Beide Brücken haben zusätzlich gesonderte Fuß- und Radwege. Dazu kommt die 2008 fertiggestellte Straßenbrücke zwischen dem Ortsteil Niederwartha und Radebeul, die direkt neben der dortigen Eisenbahnbrücke entstanden ist. Die Fertigstellung einer Vorlandbrücke und die Anbindung der Straßen verzögerte sich bis 12. Dezember 2011, da aus Gründen des Hochwasserschutzes umfangreiche Umplanungen (Verlängerung von ursprünglich geplanten 68 m auf 112 m) an der Vorlandbrücke vorgenommen wurden.Für weitere Elbbrücken gab es seit 1867 teilweise recht detaillierte Planungen, die zugunsten der Waldschlößchenbrücke jedoch immer wieder aufgegeben wurden. ==== Technische Bauwerke ==== An den Elbhängen im Stadtteil Loschwitz befinden sich die beiden Dresdner Bergbahnen. Die Standseilbahn verbindet Loschwitz über eine 547 Meter lange Strecke mit dem 95 Meter höher gelegenen Stadtteil Weißer Hirsch. Auf gegenüberliegender Seite des Nebentals des Loschwitzbachs verbindet die Schwebebahn die Stadtteile Loschwitz und Oberloschwitz. Sie überwindet auf 274 Metern Länge 84 Höhenmeter. Beide Einrichtungen zählen weltweit zu den ersten ihrer Art; die Standseilbahn wurde 1895, die Schwebebahn 1901, als erste Bergschwebebahn der Welt, eröffnet. Die Berghänge machen eine Fahrt mit diesen zu den Dresdner Verkehrsbetrieben gehörenden Fortbewegungsmitteln sehr reizvoll. Die Hänge von Loschwitz gehörten vor 100 Jahren zu den teuersten Wohnflächen in Europa. Nach 1905 entstanden unter dem Stadtbaurat Hans Erlwein zahlreiche Industriebauten, die bewusst so gestaltet waren, dass sie das Stadtbild in der Innenstadt so wenig wie möglich stören. Markantestes Beispiel dafür ist der unter Denkmalschutz stehende Erlweinspeicher, der wenige Meter hinter der Semperoper liegt. Er gehört zu den ersten in Stahlbetonbauweise errichteten Gebäuden. Damit das zehngeschossige Gebäude nicht zu grob wirkt, hat Erlwein das Dach und die Fassade in kleinen Strukturen gebrochen. Im Frühjahr 2006 wurde der Umbau des Speichers in ein Hotel abgeschlossen. Weitere bedeutende Gebäude von Erlwein sind der Gasometer in Reick und der (neue) Schlachthof im Ostragehege, in dem sich seit 1999 die Messe Dresden befindet. Der Alte Schlachthof liegt auf der anderen Elbseite in der Leipziger Vorstadt und wird als Veranstaltungsort für Konzerte genutzt. In Sichtweite des Erlweinspeichers wurde von 1908 bis 1909 die Tabakwarenfabrik Yenidze im Stil einer Moschee erbaut, die ebenfalls unter Denkmalschutz steht. Sie wird immer wieder für einen Sakralbau gehalten. Der Baustil war damals insbesondere wegen der Distanz zur orientalischen Kultur äußerst umstritten. Seit seiner Restaurierung 1996 dient das Gebäude als Bürokomplex. An der Yenidze vorbei führt die Bahnstrecke zwischen Hauptbahnhof und dem Bahnhof Dresden-Neustadt. Sie wurde ähnlich wie die Berliner Stadtbahn auf Viadukten durch die enge Innenstadt gebaut. Bis zur Fertigstellung des durchgängigen Bahnsystems gab es Stichbahnhöfe: den Leipziger Bahnhof und den Schlesischen Bahnhof auf Neustädter Elbseite sowie den Berliner Bahnhof, den Böhmischen Bahnhof und den Albertsbahnhof linkselbisch, die mittels ebenerdiger Bahngleise lose verbunden gewesen waren. Einmalig in seinem Aufbau ist der Hauptbahnhof: Der mittlere Teil ist als ebenerdiger Kopfbahnhof für Züge aus Richtung Leipzig, Nürnberg oder Berlin errichtet. Auf beiden Seiten gibt es aber durchgängige Hochbahnsteige Richtung Prag, mit jeweils zusätzlicher Bahnhofshalle. Das Empfangsgebäude befindet sich auf der Stirnseite des Kopfbahnhofteils zwischen den Durchgangsgleisen. Der Fernsehturm befindet sich am Rand des östlichen Hochlands und ist 252 Meter hoch. Er überragt die Stadt aufgrund der Berglage um etwa 370 Meter und wurde 1969 eröffnet. Bis 1991 befand sich eine gastronomische Einrichtung auf knapp 150 Metern Höhe, also etwa 268 Meter über der Stadt. Ebenfalls am Elbhang, wenngleich am südlichen in der nordwestlich gelegenen Ortschaft Cossebaude, liegt das Pumpspeicherwerk Niederwartha. Es wurde 1930 erbaut und hat eine Leistung von 120 Megawatt. Aus dem oberen Becken strömt das Wasser 143 Meter in das untere, das an der Elbe liegt. Weitere nennenswerte technische Bauwerke sind das Krematorium Tolkewitz, das Wasserwerk Saloppe und das Automatische Parkhaus Dresden-Neustadt, das im Rahmen der zur Fußball-WM 2006 gestarteten Initiative „Deutschland – Land der Ideen“ als einer von 365 repräsentativen Orten ausgezeichnet wurde. ==== Brunnen, Denkmäler und Skulpturen ==== Die bekannteste Skulptur in Dresden ist der Goldene Reiter, ein Abbild Augusts des Starken im römischen Schuppenpanzer hoch zu Ross. Er scheint als König von Polen in Richtung Warschau zu reiten. Das Denkmal befindet sich auf der Hauptstraße in der historischen Neustadt. Das Modell stammt vermutlich von Hofbildhauer Jean Joseph Vinache. Der Kanonenschmied Ludwig Wiedemann (1690–1754) trieb die Figuren 1733 in Kupfer. Im selben Jahr starb August der Starke und erlebte die Aufstellung seines Denkmals nicht mehr. 1735 wurde die erste Feuervergoldung aufgebracht, die Denkmalweihe fand am 26. November 1736 statt. Die Figuren sind heute mit Blattgold beschichtet. Ganz in der Nähe des Goldenen Reiters befindet sich ein Denkmal für Augusts Hofnarren Joseph Fröhlich, und zwar an der Stelle, wo bis 1945 dessen Wohnhaus stand, das sogenannte Narrenhäusel. Aus Dankbarkeit, dass die Stadt von der Cholera verschont blieb, wurde der Cholerabrunnen 1846 auf dem Postplatz errichtet. Aus Platzgründen (der Postplatz war bereits um 1920 das Drehkreuz des Dresdner Straßenbahnnetzes) wurde er später etwas abseits des Platzes in die Nähe der Hofkirche verlegt. Er ist eines der wenigen Bauwerke der Neugotik in Dresden. Am Albertplatz befindet sich ein 240 Meter tiefer artesischer Brunnen, der ursprünglich der Trinkwasserversorgung in der damals stark wachsenden Antonstadt dienen sollte, dies aber nie erreichen konnte. Auf dem Albertplatz befinden sich zwei Zierbrunnen, stadteinwärts links „Stille Wasser“ und „Stürmische Wogen“ stadteinwärts rechts, auf dem parkähnlichen und kreisrunden Albertplatz, zwischen denen sich die Straßenbahnhaltestellen befinden. Eine historische und ebenfalls sehr berühmte Brunnenanlage ist das Nymphenbad im Zwinger. Zur Erinnerung an Opfer des Nationalsozialismus wurden seit 2009 über 100 Stolpersteine verlegt. Die Leistung der Dresdner Frauen bei der Enttrümmerung nach dem Zweiten Weltkrieg wird durch das Denkmal der Trümmerfrau von Walter Reinhold von 1952 gewürdigt. Es steht, nach 1990 in Bronze neu gegossen, in einer Grünanlage vor dem Neuen Rathaus. Dieses Denkmal war das erste seiner Art in der DDR. In Dresden befinden sich etwa 300 Brunnen, Wasserspiele und Fontänen. Darunter sind auch moderne Anlagen wie die „Pusteblumen“ auf der Prager Straße (diese sind den Springbrunnen aus sozialistischen Zeiten nachempfunden, die sich am selben Ort befanden) oder die Brunnen vor dem Hauptbahnhof, in denen sich das Glasdach der darunterliegenden Tiefgarage befindet. ==== Sonstige ==== Alter Jüdischer Friedhof Japanisches Palais Gartenstadt Hellerau mit Festspielhaus Luisenhof in Loschwitz Pfunds Molkerei Königstraße Kunsthofpassage Messe Dresden Sarrasani (zerstört) Schillerhäuschen Städtischer Heidefriedhof Nachbildungen der Kursächsischen Postdistanzsäule aus dem Jahr 1722/32 vom ehemaligen Wilsdruffer Tor (Postplatz) in Zschertnitz und an der Freiberger Straße/Hertha-Lindner-Straße (Telekom) sowie des Kursächsischen Viertelmeilensteins Nr. 1 von der Obergebirgischen Poststraße als Denkmal für den Stadtteil Zschertnitz am Ausgang der Paradiesstraße === Ausflugsziele/Erholung === Dresden hat sowohl auf eigenem Stadtgebiet als auch im Umland zahlreiche Ausflugsziele. Gerade der touristische Wert der Stadt ergibt sich aus der Nähe zu einigen für sich schon bekannten Regionen oder Bauwerken, wie zum Beispiel Schloss Moritzburg, Meißen, dem Erzgebirge sowie der Sächsischen Schweiz. Dorthin bieten sich vor allem Fahrten mit den neun historischen Raddampfern der Sächsischen Dampfschiffahrtsgesellschaft an – jeder für sich ein Technikdenkmal. Der Schillergarten, eine alte Gaststätte in Blasewitz, liegt direkt neben dem Blauen Wunder. Bekannt ist Friedrich Schillers Verewigung der Tochter des damaligen Wirts als Gustel von Blasewitz in Wallensteins Lager. Der unmittelbar an das Blaue Wunder anschließende Schillerplatz ist eines der bedeutendsten Stadtzentren außerhalb der Innenstadt. Weite Teile des Stadtgebietes dienen der Naherholung; einige Stadtteile sind ehemalige Kurorte. Die Gesamtgröße der Erholungsflächen in Dresden beläuft sich auf 1561 Hektar (30,5 m² je Einwohner). Davon sind 890 Hektar öffentliche Grünflächen und Erholungsanlagen. Des Weiteren existieren in Dresden 369 Kleingartenanlagen auf einer Fläche von 792 Hektar. Ungefähr 50.000 Dresdnerinnen und Dresdner sind aktive Kleingärtner (Stand: Ende 2009). Außerdem gibt es in der Stadt 58 Friedhöfe mit einer Gesamtfläche von 196 Hektar, mehr als 50.000 Straßenbäume sowie etwa 900 öffentlich zugängliche Spielplätze.Im Nordosten der Stadt liegt die Dresdner Heide. Sie bedeckt mit 58 Quadratkilometern etwa 15 % der heutigen Stadtfläche. Sie wird von den Stadtteilen und Ortschaften Klotzsche, Weixdorf und Langebrück umfasst. Südlich schließen direkt an die Dresdner Heide die Elbwiesen an. Diese landwirtschaftlich genutzten, flussnahen Grünflächen durchziehen die gesamte Stadt und bilden damit etwa 5 % des Stadtgebiets. Direkt an die Elbwiesen schließen dabei verlandete Altarme der Elbe an, die ebenfalls weitestgehend Weideflächen, Feucht- oder Trockenwiesen geblieben sind. Etwa einen Kilometer flussaufwärts der Altstadt befinden sich die drei Dresdner Elbschlösser mit ihren Parkanlagen: Schloss Albrechtsberg, Lingnerschloss (Villa Stockhausen) und Schloss Eckberg. Sie bilden den Anfang des Dresdner Elbhangs, der ab dort bis zur Stadtgrenze im Osten verläuft. An diesen Hängen, die teilweise an die Dresdner Heide grenzen, befinden sich 24 Hektar Weinanbauflächen. Zentral auf Altstädter Elbseite liegt der Große Garten, in dem der Zoologische Garten Dresden, die Parkeisenbahn (ehemalige Pioniereisenbahn), der Botanische Garten der TU Dresden und der Carolasee liegen. Der Große Garten ist im Grundriss rechteckig, 1,9 Kilometer lang und knapp 2 Quadratkilometer groß. An den Großen Garten schließen sich weitere Parkanlagen wie die Bürgerwiese und der Blüherpark an, weitere kleine Parks wie der Rothermundt- und der Beutlerpark befinden sich unweit davon in angrenzenden Stadtteilen. Auf der Neustädter Elbseite liegen an der Albertbrücke der Stauden- und der Rosengarten, beide in den 1930er Jahren angelegt. Mit dem Alaunpark und dem Albertpark gibt es auch in der Neustadt zwei große Parkanlagen. Weitere große Parks sind der Waldpark Blasewitz und der Schlosspark Pillnitz, in dem die Pillnitzer Kamelie steht. Der etwa 200 Jahre alte Baum gilt als älteste Kamelie in Europa. Besonders die Zeit der reichen Blüte des Baums zwischen Februar und April zieht viele Besucher an. === Freizeit === ==== Musische Aktivitäten ==== Das Heinrich-Schütz-Konservatorium Dresden ist die Musikschule der Stadt. Es werden über 7.000 Schüler unterrichtet. ==== Sport ==== ===== Vereinssport in Dresden ===== Ein früher Fußballverein war der Dresden English Football Club. In den Kriegsjahren des Zweiten Weltkriegs konnte der Dresdner Sportclub (DSC) um den Nationalspieler und späteren Bundestrainer Helmut Schön jeweils zweimal den deutschen Pokal (Tschammerpokal) und die deutsche Meisterschaft erringen. Der Dresdner SC spielt mittlerweile nur noch im Amateurbereich. Wesentlich erfolgreicher als die Herrenfußball-Abteilung des DSC ist heute die Damenabteilung des DSC im Volleyball, die seit ihrem Aufstieg in die Bundesliga sechsmal Deutscher Meister und 2010 Sieger des Challenge Cup (Europapokal) wurde. Der heute höchstklassierte Fußballverein SG Dynamo Dresden spielte ab 1968 bis 1991 ununterbrochen in der Oberliga, der höchsten Spielklasse im DDR-Fußball. Insgesamt achtmal gelang der Mannschaft der Gewinn der Meisterschaft. Unter den 98 Europapokal-Spielen war der größte Erfolg das Erreichen des UEFA-Pokal-Halbfinales 1989. Als Vizemeister in der letzten Saison der Oberliga qualifizierte sich Dynamo für die Fußball-Bundesliga, in der der Verein bis 1995 spielte. Dann musste er wegen Lizenzentzugs in die Regionalliga absteigen. Später wurde bei der Reform der Regionalligen der qualifizierende Platz verpasst, wodurch der Verein gezwungen war, in der Oberliga zu spielen. Nachdem Dynamo Dresden zwischenzeitlich in der Regionalliga spielte, pendelt der Verein in den letzten Jahren zwischen der 3. Fußball-Liga und der 2. Bundesliga. Die hohe Schuldenlage aus der Erstligazeit und die geringeren Einnahmen in den unteren Spielklassen führten beinahe zum Konkurs des Vereins, seit 2016 ist er jedoch wieder schuldenfrei. Die Heimspielstätte, das Rudolf-Harbig-Stadion, wurde komplett abgerissen und durch einen 2009 eröffneten Stadionneubau ersetzt. Das neue Stadion war ein Schauplatz der Frauen-Fußball-Weltmeisterschaft 2011 in Deutschland. Erfolgreiche Sportvereine in anderen Sportarten sind die Dresden Monarchs, die in der GFL, der ersten Bundesliga des American Football spielen, der HC Elbflorenz, der in der 2. Handballbundesliga spielt und die Dresdner Eislöwen, die in der DEL2 spielen. Die Abteilung Para-Eishockey (Dresden Cardinals) spielt in der ersten Liga. Dresden ist zudem ein historisches Schachzentrum in Deutschland. Dem Dresdner Schachbund gehören mehr als zehn Schachvereine, teils mit langer Tradition, an; im Jahr 2008 wurde hier die Schacholympiade ausgetragen. Der Snooker-Verein SAX-MAX Dresden spielte von 2013 bis 2016 in der 1. Snooker-Bundesliga. Im Breitensport sehr erfolgreich ist das Dresdner Nachtskaten, das als erste Veranstaltung dieser Art nächtliches Skaten auf verschiedenen Routen durch die Stadt ermöglicht. Diese Veranstaltungen finden den ganzen Sommer über statt. Der älteste Mannschaftsduathlon Deutschlands – der 100km-Duathlon – findet seit 1996 jedes Frühjahr statt und verläuft auf einer 100 km langen Wettkampfstrecke rund um Dresden.Eine Abteilung Rollstuhltanz (Breitensport) gibt es im Tanzclub Saxonia e. V. Dresden (in Kooperation mit dem Verein Eureha e. V.). Darüber hinaus wird im Rollstuhl-Turniertanz trainiert, um an die Erfolge der vergangenen Jahre anzuknüpfen, wo ein Paar mehrfacher Deutscher Meister war und 2004 einen 3. Platz bei der WM in Tokio erreichte. Weitere Vereine sind: FV Dresden 06 Laubegast e. V., Fußball SG Dresden Striesen, Fußball SSV Turbine Dresden e. V., Fußball Dresden Titans, Basketball USV TU Dresden, Mehrspartenverein ===== Alpinsport ===== Sächsischer Bergsteigerbund mit 16.984 Mitgliedern (Stand: 31. Dezember 2021); zweitgrößter Verein in Dresden, größte DAV-Sektion in Sachsen, gegründet am 1. März 1911 Sektion Dresden des Deutschen Alpenvereins mit 6.673 Mitgliedern (Stand: 31. Dezember 2021); zweitgrößte DAV-Sektion in Sachsen, zweitälteste Sektion in Ostdeutschland nach der Sektion Leipzig, gegründet am 9. April 1873 Akademische Sektion Dresden mit 589 Mitgliedern (Stand: 31. Dezember 2021); gegründet am 10. Juni 1901 ===== Sportanlagen ===== Jahrelang wurde die Modernisierung von Sportstätten vernachlässigt. Am 19. November 2007 begann der Abriss des alten Rudolf-Harbig-Stadions. Die zuletzt max. für 23.000 Zuschauer zugelassene Arena wurde durch einen Stadionneubau an gleicher Stelle ersetzt, der am 15. September 2009 fertiggestellt wurde. Das neue Stadion, das als reine Fußballarena konzipiert wurde und in der Regel somit als Fußballstadion, aber teilweise auch für American Football, Konzerte und als Kongressstätte der Zeugen Jehovas genutzt wird, bietet Platz für maximal 32.249 Zuschauer und war Austragungsort von drei Vorrunden- sowie einem Viertelfinalspiel der Fußball-Weltmeisterschaft der Frauen 2011. Das zweite große Stadion ist das Heinz-Steyer-Stadion, das derzeit komplett umgebaut wird. Bis Ende 2023 entsteht eine Multifunktions-Sportstätte, die dann 5.000 überdachte Sitzplätze bietet und mit mobilen Tribünen für große Sportveranstaltungen auf bis auf 15.000 Zuschauerplätze erweiterbar ist. Es liegt im Sportpark Ostra in der Friedrichstadt direkt an der Marienbrücke. Die ohnehin marode Eissporthalle Pieschener Allee wurde durch das Elbhochwasser 2002 in Mitleidenschaft gezogen und durch einen Neubau ersetzt. Der Nachfolgebau, die heutige Joynext-Arena, konnte 2007 eingeweiht werden. Weitere Sportstätten sind die Margon Arena, die BallsportArena sowie weitere Anlagen im Ostragehege, in denen eine Leichtathletikhalle errichtet und einige Tennisplätze hochwassersicher verlegt wurden, außerdem die Schwimmhallen und die Wasserspringhalle am Freiberger Platz. Im Stadtteil Seidnitz gibt es eine Pferderennbahn. ===== Inklusion ===== 2021 bewarb sich die Stadt als Host Town für die Gestaltung eines viertägigen Programms für eine internationale Delegation der Special Olympics World Summer Games 2023 in Berlin. 2022 wurde sie als Gastgeberin für Special Olympics Puerto Rico ausgewählt. Damit wurde sie Teil des größten kommunalen Inklusionsprojekts in der Geschichte der Bundesrepublik mit mehr als 200 Host Towns. ==== Nachtleben ==== Die Äußere Neustadt ist eines der größten erhaltenen Stadtgebiete der Gründerzeit in Deutschland. Gleichzeitig befindet sich dort das mit etwa 175 gastronomischen Einrichtungen größte Szene- und Kneipenviertel der Stadt. Hervorgegangen aus dem schlechten Zustand der Bausubstanz entwickelte sich dort eine alternative Kulturszene in der Stadt. 1989 bildeten einige Bewohner aus Protest eine Interessengemeinschaft gegen die schlechte Wohnraumsituation und Abrisspläne, riefen 1990 die Bunte Republik Neustadt aus und begründeten damit den Charakter eines Szeneviertels. Dort ist die höchste Konzentration an Clubs, Bars und Kneipen in der Stadt. Der Zustand des Viertels hat sich in den letzten Jahren stark verbessert, weshalb es durch sein vielseitiges Kulturangebot zu den beliebtesten Wohngegenden junger Menschen in Dresden zählt. Das Spektrum der Lokale ist sehr vielseitig und reicht von Jazzbar, Indie- und Elektroclubs bis Kleinraumdisko. Auf südlicher Elbseite, in der Nähe der Hochschulen, befinden sich die dreizehn Studentenclubs der Stadt. Die meisten werden vom Studentenwerk Dresden unterstützt, sind aber in der Regel selbständige Vereine. Bereits in den 1960er Jahren ins Leben gerufen, ist der „Bärenzwinger“ im Gewölbe der ehemaligen Kasematten unter der Brühlschen Terrasse einer der ältesten und der einst bekannteste Studentenclub in Dresden. Die anderen Klubs liegen meist an, teilweise in den Wohnheimen sowie in den Mensen der Technischen Universität und der Hochschule für Technik und Wirtschaft. Seit der Verkleinerung des Bärenzwingers im Jahre 2000 zählt heute unter anderem der „Club Mensa“ (CM) zu den bekanntesten Studentenclubs in Dresden. Sehr bekannt ist der 1977 gegründete Jazzclub Tonne, der von 1979 bis 1997 im Tonnengewölbe der Ruine des Kurländer Palais residierte. Danach befand er sich in Gewölbekellern im Waldschlösschen-Areal und in der Inneren Neustadt, wurde nach einer Insolvenz neu gegründet und befindet sich seit 2015 wieder im zwischenzeitlich wiederaufgebauten Kurländer Palais. Große Bekanntheit erreichte ebenfalls der Techno-Club Triebwerk, der sich von 2002 bis 2013 im Felsenkellergelände befand. Im als „Industriegelände“ bekannten Industriegebiet nördlich der Innenstadt in Richtung Klotzsche haben nicht wenige Industriegebäude eine Umnutzung zu Diskothek- und Konzertsälen erfahren (Kulturzentrum Strasse E), so dass sich in dem Gebiet mittlerweile an Wochenend-Nächten mehr Menschen aufhalten als an Arbeitstagen. Zu den bekannten Clubs im Industriegelände gehören unter anderem Sektor Evolution, Objekt klein a und Club Paula. Weitere Clubs und Veranstaltungsorte für Konzerte befinden sich im Areal des Alten Schlachthofs, einem Industriedenkmal in der Leipziger Vorstadt, unter anderem Klub Neu, Alter Schlachthof und Club Puschkin. Weiterhin gehören zum Nachtleben Konzertsäle und -häuser, die dauerhaft oder vorübergehend für Veranstaltungen mit Bühnen genutzt werden. Dauerhafte Konzerteinrichtungen sind der Alte Schlachthof, der bis zu 1800 Besucher fasst, der „Beatpol“ (bis 2007: „Starclub“) in Briesnitz und die Freilichtbühne „Junge Garde“ im Großen Garten. Gelegentlich werden für Konzerte die Messe im Neuen Schlachthof, das Kongresszentrum sowie Teile des Campus der Technischen Universität und der Elbwiesen genutzt. Bei den Filmnächten am Elbufer finden ebenfalls Konzerte statt. === Regelmäßige Veranstaltungen === In Dresden gibt es das ganze Jahr über verschiedene Festivals und Großveranstaltungen. Insbesondere die musikalischen Veranstaltungen genießen internationale Bedeutung. Stadtteilfeste mit verschiedenem Hintergrund ergänzen dieses Angebot. ==== Frühjahr ==== Im April findet das Filmfest Dresden statt. Es ist ein bedeutendes Festival für Animations- und Kurzfilm. Viel weiter reichende Tradition haben die Dresdner Musikfestspiele, deren ursprüngliche Vorläufer die Musikfeste des barocken Hofs waren. Sie sind als Veranstaltung klassischer Musik deutschlandweit bekannt. 1971 wurde das erste Internationale Dixieland-Festival ausgetragen. Mittlerweile gehört es zu den weltweit bedeutendsten Jazz- und Bluesveranstaltungen. Mit jährlich etwa 500.000 Besuchern ist es außerdem die größte Kulturveranstaltung in Sachsen. Elemente des Festivals wie die Jazzmeile, die sich quer durch die Stadt zieht, sind ohne Eintritt erreichbar. Der Hauptteil des Festivals findet aber auf viele Clubs und Bars verteilt statt. Jedes Jahr im Frühjahr findet die Internationale Tanzwoche Dresden statt. Sie präsentiert seit 1992 Ensembles von internationalem Rang vom Ballett, Tanztheater bis zum zeitgenössischen Tanz an mehreren Spielstätten in Dresden. ==== Sommer ==== Gegenüber der Altstadtsilhouette finden seit 1990 jedes Jahr die Filmnächte am Elbufer statt. Schon beim ersten Mal dauerte die Veranstaltung zehn Tage. Mittlerweile ziehen Filme, Veranstaltungen und Konzerte in rund 60 Tagen 150.000 Zuschauer an, wodurch die Veranstaltung als die größte ihrer Art in Deutschland gilt. Eine Veranstaltung mit politischem Ursprung ist die Bunte Republik Neustadt. Von 1990 bis 1993 bestand im Stadtteil Äußere Neustadt aus Protest gegen die maroden Wohnbedingungen die gleichnamige Mikronation. Bereits 1990 gab es ein entsprechendes Stadtteilfest, das weiterhin veranstaltet wird. 2001 und 2002 kam es während des Festes zu Ausschreitungen, während die letzten Jahre friedlich verliefen. Das Fest ist eines der alternativen Szenekultur geblieben. Am rechten Elbufer entlang findet am Dresdner Elbhang alljährlich das Elbhangfest statt. Es erstreckt sich vom Stadtteil Loschwitz bis Pillnitz. Höhepunkt ist unter anderem eine Drachenboot-Regatta. Nach der Elbflut 2002, die neben dem Stadtteil Kleinzschachwitz Laubegast mit einschloss, findet dort auf der anderen Elbseite das Inselfest statt. Im Sommer finden Veranstaltungen in den Abend- und Nachtstunden statt. Ende Juni oder Anfang Juli laden die Forschungseinrichtungen und Hochschulen zur Langen Nacht der Wissenschaften ein. Für die Hochschulen, Institute und die kooperierenden Technologieunternehmen bietet die Veranstaltung die Möglichkeit, Arbeiten einem großen Publikum vorzustellen. Seit 1999 findet Anfang Juli die Museumssommernacht statt. 2015 wurde diese in Museumsnacht umbenannt und fand 2016 und 2017 aufgrund eines Besucherrückgangs in den Vorjahren (durch oftmals am selben Tag stattfindende Spiele von Fußball-Welt- und Europameisterschaften) am dritten Septembersonnabend statt, seit 2018 wird sie ohne Nennung von Gründen wieder im Juli veranstaltet. Einem ähnlichen Konzept folgt seit 2003 die Nacht der Kirchen, bei der etwa sechzig Kirchen und Gemeindehäuser christlicher Konfession ihre Türen öffnen. Sie findet seit einiger Zeit alle 2 Jahre statt, 2016 fiel sie wegen des Deutschen Evangelischen Posaunentages aus und pausiert seitdem. Im August findet das Dresdner Stadtfest statt. Es erstreckt sich über die gesamte Innenstadt. Neben Live-Musik bietet es ein auf Familien zugeschnittenes Programm, das jährlich etwa 500.000 Gäste zählt. Weitere Festivals und Veranstaltungen im Sommer sind das Dresdner Kunstfest, die Kulturnacht und das Nachtskaten, das vielfach im Sommer freitags stattfindet. Dabei rollen mehrere tausend Inlineskater einen Parcours auf gesperrten Straßen durch die Stadt. ==== Herbst ==== Im Herbst findet das Volkstanzfest und Drehorgeltreffen statt. Weitere Veranstaltungen im Herbst sind die Dresdner Tage der zeitgenössischen Musik, das Literaturfestival Bardinale und das Festival der Zauberkunst sowie alle zwei Jahre der Tag der Dorfkirchen. 1997 fand als Höhepunkt der Zauberkunstaktivitäten in Dresden die jeweils dreijährlich stattfindende Weltmeisterschaft des internationalen Dachverbands Fédération Internationale des Sociétés Magiques statt. Seit 2004 findet jährlich an einem Wochenende im Herbst die CCC-Veranstaltung „Datenspuren“ statt. ==== Winter ==== Während der Adventszeit findet der Dresdner Striezelmarkt statt. Dieser seit 1434 bestehende Weihnachtsmarkt ist einer der ältesten in Deutschland. Er wird in der Regel auf dem Altmarkt errichtet und gehört zu den größten Touristenattraktionen in der Weihnachtszeit. Der Name des Marktes leitet sich von seinem Hauptprodukt, dem Dresdner Stollen („Striezel“), ab. Ein Höhepunkt des Marktes ist das Dresdner Stollenfest. Die Frage, ob der Bautzener Wenzelsmarkt oder der Striezelmarkt der älteste Weihnachtsmarkt Deutschlands sei, klärte das Rekord-Institut Hamburg im Dezember 2015. Der Wenzelsmarkt ist Deutschlands ältester in einer Chronik erwähnte Weihnachtsmarkt, der Striezelmarkt der älteste mit einer Urkunde bestätigte Weihnachtsmarkt Deutschlands.Gleichzeitig mit dem Striezelmarkt findet jährlich ein mittelalterlicher Weihnachtsmarkt im Stallhof des Residenzschlosses statt, an einigen weiteren Orten in der Stadt wie Prager Straße, Neumarkt oder Hauptstraße gibt es parallel dazu weitere Weihnachtsmärkte. Am 13. Januar 2006 fand erstmals seit 67 Jahren wieder der Dresdner Opernball in der Semperoper statt. Mittlerweile findet der Opernball regelmäßig jedes Jahr statt und erfreut sich immer größerer Beliebtheit. Stargast des Opernballs 2009 war der russische Ministerpräsident Wladimir Putin. Im Februar findet das Fest sächsischer Puppen- und Marionettenspieler statt. === Kulinarische Spezialitäten === Dresdner Stollen Russisch Brot Dominosteine Eierschecke Pflaumentoffel Quarkkäulchen == Wirtschaft und Infrastruktur == === Kennzahlen === Dresden bildet das Zentrum des gegenwärtig wirtschaftsstärksten Raums der neuen Bundesländer und gehört zu den wirtschaftlich stärksten Räumen in Deutschland. Im Jahre 2016 erbrachte Dresden, innerhalb der Stadtgrenzen, ein Bruttoinlandsprodukt (BIP) von 20,725 Milliarden Euro und belegte damit Platz 15 innerhalb der Rangliste der deutschen Städte nach Wirtschaftsleistung. Das BIP pro Kopf lag im Jahr 2017 bei 39.134 Euro (Sachsen: 31.453 Euro, Deutschland 41.358 Euro). In der Stadt gab es 2020 ca. 341.000 erwerbstätige Personen. Der Kaufkraftindex pro Einwohner lag 2013 bei 90,1 (Deutschland: 100). Es ist zu beobachten, dass der Kaufkraftindex pro Einwohner jährlich abnimmt. Im europäischen Vergleich erhielte Dresden einen Index von etwa 121 (EU-27: 100) im Vergleich zum ehemaligen Direktionsbezirk Dresden 87,7, Sachsen 86,1 und Deutschland 115,1. Besonders hohen Anteil an der gesamten wirtschaftlichen Leistung hat das verarbeitende Gewerbe. Allein die Unternehmen der Mikroelektronik erreichten mehr als drei Milliarden Euro Umsatz. Im sogenannten Zukunftsatlas 2016 belegte die Stadt Dresden Platz 28 von 402 Landkreisen und kreisfreien Städten in Deutschland und zählt damit zu den Orten mit „sehr hohen Zukunftschancen“. Laut der Studie belegt Dresden damit den ersten Platz unter allen Städten und Landkreisen in Ostdeutschland. Im Zukunftsatlas 2019 wird Dresden auf Rang 41 gelistet, der Stadt werden dennoch „sehr hohe Zukunftschancen“ zugesprochen.Die Gewerbesteuereinnahmen der Stadt betrugen 2018 305 Millionen Euro. 41.625 Personen über 18 Jahren waren 2019 überschuldet (9,25 Prozent). === Arbeitsmarkt === Ende 2019 waren in Dresden 15.700 Menschen (5,3 Prozent) arbeitslos, der niedrigste Stand seit 1990. Im März 2020 lag der Anteil der Arbeitslosen in Dresden im Vergleich zu allen zivilen Erwerbspersonen bei 5,5 Prozent. Als absolute Zahl wurden 16.410 Personen angegeben. Rund ein Drittel der Arbeitslosen sind langzeitarbeitslos, im Oktober 2018 waren das 5.470. Die Arbeitslosenquote in Dresden lag 2019 durchschnittlich bei 5,3 Prozent. Aufgrund der COVID-19-Pandemie wuchs im April 2020 die Arbeitslosenquote auf 6,2 Prozent (18.426 Arbeitslose), im Mai 2020 auf 6,4 Prozent (19.254 Personen), im Juni 2020 auf 6,5 Prozent (19.479), im Juli 2020 auf 6,7 Prozent (19.950) und im August 2020 auf 6,8 Prozent (20.419). Im Mai 2023 gab es 18.100 Arbeitslose (Quote von 5,9 Prozent), davon durch Flucht vor dem russischen Überfal auf die Ukraine etwa 5.000 ausländische Arbeitslose.Etwa 276.000 sozialversicherungspflichtige Beschäftigte arbeiteten 2022 in der Stadt. 40.000 arbeiten im Einzelhandel. 14.000 sind vom Tourismus abhängig. Es gibt ca. 98.000 Einpendler, der höchste Wert seit Jahren, vor allem aus Freital, Radebeul, Pirna, Heidenau und Radeberg. In der Stadt haben etwa 225.000 Arbeitnehmer ihren Erstwohnsitz, von ihnen sind ca. 58.000 Auspendler. Durch den Saldo der Aus- und Einpendler von 40.000 Personen ist Dresden eine Einpendlerstadt.Im Stadtgebiet entfällt eine Fläche von 307 Hektar auf Betriebsflächen, 10.885 Hektar werden landwirtschaftlich genutzt. === Tourismus === Im Rekordjahr 2019 gab es 2,3 Millionen Übernachtungsgäste, darunter etwa 20 Prozent aus dem Ausland. 2020 sank die Zahl auf 1,2 Millionen Übernachtungsgäste. 163 Hotels und Beherberungsstätten mit jeweils mehr als 10 Betten boten im Jahr 2021 zusammen über 22.000 Betten an. Dabei gibt es 26 Hotels der Ober- und Luxusklasse. Zusammen mit der Messe Dresden und dem Kongresszentrum versucht sich die Stadt als Kongress- und Tagungsort zu profilieren. Die Sächsischen Spielbanken betreiben in Dresden die Spielbank Dresden im Café Prag, eine von drei Spielbanken in Sachsen. === Ansässige Unternehmen === In der Stadt sind vor allem Unternehmen aus dem Bereich Mikroelektronik, Informations- und Biotechnologie sowie Elektrotechnik tätig, die die Nähe der Universität und zahlreicher Forschungsinstitute nutzen. Die Kompetenzfelder der Stadt liegen in den Bereichen Mikroelektronik, Informations- und Kommunikationstechnologie Neue Werkstoffe und Nanotechnologie Maschinen- und Anlagenbau/Fahrzeug-, Luft- und Raumfahrttechnik, Solartechnik Biotechnologie, Pharmazie und Impfstoffe Tourismus, Handel und Märkte Bildung, Kunst-, Geistes- und SozialwissenschaftenViele der Kompetenzfelder entstanden nicht erst in den letzten Jahren. Einige, wie zum Beispiel die Mikroelektronik, die schon vor 1989 in Dresden ein Zentrum besaß, wurden aber erfolgreich ausgebaut. Durch die Möglichkeiten der engen Zusammenarbeit der Industrie mit den hier ansässigen Universitäten und Forschungseinrichtungen entwickelt sich die Stadt immer mehr zu einem der führenden Zentren der Halbleiterfertigung in Europa. So entstanden in den vergangenen Jahren neue Fertigungsstätten führender Unternehmen wie Globalfoundries und Infineon. Ein neues Halbleiterwerk der Robert Bosch GmbH wurde 2021 eröffnet. Viele Bereiche der Zulieferindustrie (Reinraumtechnik, Spezialmaschinenbau, Siliziumwafer) lassen sich in und um Dresden nieder, sodass in Anlehnung an das Silicon Valley in Kalifornien oft vom Silicon Saxony gesprochen wird. Durch Forschungsarbeit im Bereich der Nanotechnologie und Werkstoffe erhofft man sich, führender Wirtschaftsstandort der aufkommenden Nanoelektronik, die einen Quantensprung für die elektronische Datenverarbeitung darstellen wird, zu werden. An der wirtschaftlichen Nutzung von besonderen elektromagnetischen Eigenschaften von Supraleitern (Meißner-Ochsenfeld-Effekt) wird ebenfalls gearbeitet. Neben der Mikroelektronik- und Halbleiterindustrie ist auch die Softwareindustrie vertreten, etwa durch das T-Systems-Tochterunternehmen T-Systems MMS sowie die Niederlassungen der Softwarehersteller SAP Deutschland AG & Co. KG, Amazon, GoTo und der polnischen Comarch. Ebenfalls findet man drei der Big-Four-Wirtschaftsprüfungsgesellschaften in Dresden vor: EY, KPMG und Deloitte. Es sind auch zahlreiche kleine und mittlere Unternehmen sowie Startups im Bereich Softwareentwicklung vorhanden, wie Lovoo. Nach der Wende hat Siemens in Dresden einen Standort errichtet. Der Konzern kaufte 1991 von der Treuhandanstalt das Transformatoren- und Röntgenwerk „Hermann Matern“, das auf die Koch & Sterzel AG zurückgeht. Um dieses Werk herum im Stadtteil Übigau übernahm der Konzern eine Grundstücksfläche von rund 350.000 Quadratmetern. Volkswagen ließ in der Gläsernen Manufaktur das Luxusfahrzeug (VW Phaeton) der Muttermarke des Volkswagen-Konzerns herstellen. Im März 2016 wurde im 15. Jahr nach Inbetriebnahme die Fertigung eingestellt und nach einem Umbau der Anlagen zwischenzeitlich im April 2017 die nichtexklusive Fertigung des e-Golf aufgenommen. Seit 2021 wird der Nachfolger VW ID.3 gefertigt. Die Airbus-Gruppe (bis 2013 EADS) hat in Dresden mit den Elbe Flugzeugwerken ein Tochterunternehmen insbesondere zum Umbau von Airbus-Flugzeugen. Der Standort ist auch an der Entwicklung des Airbus A380 beteiligt. Zum einen stammen Teile der Innenausstattung aus den Werken, zum anderen wird eine der beiden Materialtestprozeduren bei IABG/IMA durchgeführt. Viele Zulieferer der Automobilindustrie für elektronische Komponenten produzieren in Dresden. Ein Tochterunternehmen der Linde plc konzipiert und plant Anlagen der Pharmazie- und Chemieindustrie. Im Bereich Pharma und Arzneimittel spielt Dresden seit mehr als hundert Jahren eine bedeutende Rolle. Viele Verfahren zur industriellen Produktion von Arzneimitteln wurden hier entwickelt und angewandt. Das ehemalige Sächsische Serumwerk Dresden (heute Teil des GlaxoSmithKline-Konzerns) ist ein international bedeutsamer Lieferant für Grippeimpfstoffe. Die im benachbarten Radebeul ansässige und auf eine lange Tradition (als Chemische Fabrik v. Heyden und Arzneimittelwerk Dresden) zurückblickende Arzneimittelproduktion, gehört jetzt zur italienischen Menarini-Gruppe. Des Weiteren ist der Zigarettenhersteller Philip Morris (Marke f6) in Dresden ansässig, der als VEB Vereinigte Zigarettenfabriken Dresden (VEZIFA) zu DDR-Zeiten Stammbetrieb des VEB Kombinat Tabak war. Die Feldschlößchen AG braut ihre Biere in Dresden-Coschütz. === Einzelhandel === Vor der Zerstörung durch den Luftangriff befand sich das repräsentative Einkaufszentrum der Stadt mit zahlreichen Fachgeschäften in der Prager Straße, während die großen Kaufhäuser den Bereich des Altmarktes prägten. Den Wiederbeginn 1952 markierte der Bau des Warenhauses an der Wilsdruffer Straße nahe dem Postplatz. Stand damals dieser Bau für das erwachende Dresden, so ist heute dessen Bedeutung für die Stadt zu Beginn der 1950er Jahre durch die neueren umliegenden Bauten kaum noch nachzuvollziehen. Die größte Konzentration von Warenhäusern und Geschäften befindet sich heute im Dresdner Stadtzentrum an der nördlichen Prager Straße und am Altmarkt. Dort haben sich Filialen der großen Warenhausketten angesiedelt und bilden mit der Altmarkt-Galerie und der Centrum-Galerie eines der großen Einkaufszentren der Stadt. Die Altmarkt-Galerie wurde bis 2011 zum Postplatz hin erweitert und hat seitdem mehr als 200 Geschäfte, darunter viele einmalige Markenstores in Ostdeutschland wie Hollister, Apple und O’Neill. Das Gebiet ist durch mehrere Straßenbahnhaltestellen erschlossen. Auch der Hauptbahnhof, am südlichen Ende der Prager Straße, ist seit seiner Fertigstellung und der Bebauung des Wiener Platzes ein bedeutendes Zentrum des Einzelhandels. Als Einkaufsstraße für hochwertige Güter und Luxusartikel – früher das Privileg der Prager Straße – hat sich dagegen die Königstraße in Dresden-Neustadt etabliert. Geschäfte dieser Preisklasse sind stark mit dem Tourismus der Stadt verwoben. Eine ähnliche Struktur hat sich am Neumarkt rund um die Frauenkirche entwickelt. Die zur Fußgängerzone umgebaute Neustädter Hauptstraße hatte „ihre beste Zeit“ in den 1980er Jahren. In deren Nähe liegt die Neustädter Markthalle, ein kleines Einkaufszentrum mit 20 Händlern in einem rekonstruierten Jugendstilgebäude. Auch in alten Stadtteilzentren wie am Schillerplatz in Blasewitz wurden wieder bedeutende Einkaufszentren geschaffen. Andere Anlagen wie der Elbepark konzentrieren sich außerhalb der Innenstadt an Autobahnausfahrten und haben so einen deutlich überregionalen Einfluss. Der Preisdruck auf die Handelsflächen im Stadtzentrum durch große Einkaufszentren der Peripherie ist auch in Dresden spürbar und wird häufig kritisiert. In der Innenstadt werden gerade einmal 22 Prozent des Umsatzes des Einzelhandels erzielt. Das ist vergleichsweise wenig, wenngleich mehrere Nebenzentren existieren. === Traditions- und ehemalige Unternehmen === Eines der bekanntesten Unternehmen war die am 12. November 1872 gegründete Dresdner Bank. Bereits 1885 wurde die operative Geschäftsführung nach Berlin verlegt, bis 1950 blieb die Bank aber im Handelsregister der Stadt Dresden eingetragen. Die Raddampferflotte, die von der Sächsischen Dampfschiffahrtsgesellschaft betrieben wird, gilt als die größte und älteste der Welt. Der 1879 gebaute Raddampfer Stadt Wehlen, benannt nach dem Ort Wehlen in der Sächsischen Schweiz, ist das älteste Schiff der Flotte. Im Jahr fahren etwa 500.000 Passagiere auf den 13 Schiffen. Nur wenig jünger ist die Genossenschaft Konsum Dresden, ein Handelsunternehmen, das im Jahr 1888 als „Konsumverein Vorwärts“ gegründet wurde. Verunreinigte und überteuerte Lebensmittel führten damals dazu, dass mehrere Dresdner Familien selbst einkaufen und miteinander handeln wollten. Mit eigenen Produktions- und Logistikstrukturen wurde ein Ladennetz aufgebaut und bereits 1931 die erste konsumeigene Fleischfabrik in Dresden eröffnet. Heute betreibt das Unternehmen noch über 40 Filialen und hat rund 25.600 Mitglieder. Das im Jahr 1892 vom Dresdner Unternehmer Karl August Lingner herausgebrachte Mundwasser Odol wurde in den 1945 zerstörten Dresdner Lingner-Werken hergestellt. Die „Sachsenwerk, Licht- und Kraft AG“ wurde 1903 gegründet und baute vor allem Transformatoren und Schaltgeräte für elektrische Beleuchtungen sowie große elektrische Maschinen. Seit den 1920er Jahren ist das Werk ein bedeutender Hersteller von Straßenbahn- und Lokomotivmotoren. Heute gehört die VEM Sachsenwerk GmbH zur VEM Gruppe. 1907 begann auf dem Dachboden der Löwenapotheke die Produktion der Zahncreme Chlorodont, die ab 1917 in den neu gegründeten Leowerken in immer größerem Stil erzeugt und vermarktet wurde. Das Nachfolgeunternehmen nutzt die Räume noch heute. Das seit Jahrzehnten international tätige Unternehmen Melitta wurde am 15. Dezember 1908 mit 73 Pfennigen Eigenkapital von Melitta Bentz ins Dresdner Handelsregister eingetragen. Mit dem Zentrum Mikroelektronik Dresden (ZMD) und dem Kombinat Robotron begann 1961 die Zeit der Mikroelektronik und Computerfertigung in Dresden. 1989 waren etwa 4000 Angestellte beim Zentrum Mikroelektronik, im Kombinat Robotron wurden bis zu 68.000 Mitarbeiter beschäftigt. Das ZMD firmierte von 1961 bis 1976 als Arbeitsstelle für Molekularelektronik Dresden (zunächst AME, ab 1969 AMD). Nach weiteren Umbenennungen und der Privatisierung in den 1990er Jahren arbeiteten 2011 in dem nun „ZMD AG“ genannten Unternehmen ca. 300 Ingenieure, Techniker und Facharbeiter. Das Kombinat Robotron wurde 1990 aufgelöst und dessen Teilbetriebe wurden privatisiert. Von diesen Nachfolgeunternehmen existiert in Dresden nur noch die Robotron Datenbank-Software GmbH mit 442 Mitarbeitern (Geschäftsjahr 2017/2018).Der Dresdner Maschinenbau hat eine Tradition als direkter Zulieferer der ansässigen Industrien der Pharmazeutik, Optik und Lebensmittelherstellung. Wettbewerbsvorteile konnte die Sächsische Industrie vor allem durch die Anwendung der Feinmechanik im Großmaschinenbau erlangen. Die Historie setzte sich zuletzt bei den Spezialmaschinenbauern für Reinraumtechnik fort. Dresden und Umland war bis in die Nachkriegszeit hinein ein Schwerpunkt der deutschen optisch-feinmechanischen Industrie, insbesondere im Bereich des Kamerabaus. Die Ernemann-Werke, Zeiss Ikon, die Ihagee (Erfindung der einäugigen Kleinbild-Spiegelreflexkamera), die Kamera-Werke Niedersedlitz sowie das Kombinat VEB Pentacon (Praktica-Kameras) hatten hier ihren Sitz. Ebenfalls in Dresden wurde 1923 von dem 18-jährigen gelernten Fotografen Martin Hanke Hama gegründet. Die Elbe Flugzeugwerft, die heute als Elbe Flugzeugwerke firmiert und zu Airbus gehört, war schon sehr früh nach dem Zweiten Weltkrieg ein bedeutendes Werk des Flugzeugbaus, das am Nordostrand des Flughafens Dresden-Klotzsche auf einem Teil des Geländes der vormaligen Luftkriegsschule 1 errichtet wurde. Mit der Baade 152 entstand dort in den 1950er Jahren das erste deutsche Verkehrsflugzeug mit Strahltriebwerken. Auf Beschluss des Politbüros der SED musste 1961 aufgrund mangelnder Absatzmöglichkeiten der Flugzeugbau in der DDR und damit auch dieses Projekt eingestellt werden. === Verkehr === Dresden ist einer der wichtigsten Knotenpunkte im Straßen- und Schienenverkehr Ostdeutschlands und hat einen Flughafen. Etwa 3335 Hektar des Stadtgebiets entfallen auf Verkehrsflächen. ==== Verkehrsmittelwahl ==== Die folgende Tabelle zeigt die Aufteilung der in Dresden zurückgelegten Wege nach Verkehrsmitteln (verkehrstechnisch als Modal Split bezeichnet) und deren Änderung seit 1991. ==== Schienenverkehr ==== Der Eisenbahnknoten Dresden verbindet fünf Haupt- und Fernstrecken. Dresden Hauptbahnhof ist einer von 20 Fernverkehrsknoten in Deutschland und neben dem Bahnhof Dresden-Neustadt der wichtigste Bahnhof der Stadt. Direkte Fernverkehrsverbindungen im Tagesverkehr besitzt Dresden unter anderem mit Leipzig, Chemnitz, Berlin, Prag, Erfurt, Magdeburg, Rostock, Warnemünde, Frankfurt am Main, Wiesbaden, Hamburg, Hannover, Brünn, Bratislava und Budapest. Im Nachtverkehr bestehen Verbindungen nach Zürich. Bis zum Fahrplanwechsel im Dezember 2017 bestanden Nachtzugverbindungen nach Budapest und Wien, seitdem ist für diese Ziele ein Umstieg in Prag notwendig. Die S-Bahn Dresden verbindet die Stadt mit dem Umland und dem Flughafen. Im Regionalverkehr ist Dresden mit der Lausitz, Chemnitz, Zwickau sowie Leipzig und Hof verbunden. Größter Güterbahnhof der Stadt ist der Bahnhof Dresden-Friedrichstadt mit einem Güterverkehrszentrum und Containerterminal für den kombinierten Verkehr. ==== Straßenverkehr ==== Im Ballungsraum Dresden gibt es vier Bundesautobahnen. Durch das nordwestliche Stadtgebiet führt die A 4 in Richtung Görlitz beziehungsweise Chemnitz und Erfurt mit fünf Anschlussstellen. Von der A 4 zweigen im äußersten Norden der Stadt die A 13 in Richtung Berlin und westlich von Dresden die A14 nach Leipzig ab. Die 2006 fertiggestellte A 17 beginnt im Dresdner Westen und tangiert die Stadt südlich mit drei Anschlussstellen. Sie ist gleichzeitig die Europastraße E 55 und führt durch das Erzgebirge nach Prag. Unter zwei Dresdner Stadtteilen verläuft die A 17 in Tunneln. Die Autobahn ist besonders bedeutend für den LKW-Fernverkehr in Nord-Süd-Richtung und entlastet die Hauptstraßen der Stadt im Berufsverkehr, da sie parallel und nah zum Verdichtungsraum um Dresden verläuft und dadurch Pendlern aus Pirna und Heidenau nutzt. Kritisiert wurden die hohen Kosten der neuen Strecke sowie die damit verbundene Förderung der Zersiedelung. Durch die neu erschlossenen Wohnungsstandorte würden langfristig neuer Pendlerverkehr erzeugt und Entlastungen wieder wettgemacht. Der Einfluss auf die Luftzufuhr der Stadt wurde ebenfalls kritisch gesehen. Ferner führen folgende Bundesstraßen durch die Stadt: Die B 6, die B 97, die B 170 und die B 173. Die Stadt Dresden galt mit vielen vierspurigen Straßen und stark gestiegenen, vergleichsweise hohen Reisegeschwindigkeiten zwar als autofreundlich, wobei allerdings das parallel sehr hohe Niveau des öffentlichen Verkehrs nicht geleugnet wurde bzw. wird.Der Elberadweg (D10), der im Jahr 2015 zum elften Mal in Folge von Mitgliedern des Allgemeinen Deutschen Fahrrad-Clubs (ADFC) zum beliebtesten Radwanderweg Deutschlands gewählt wurde, führt innerhalb der Stadt mit wenigen Ausnahmen durchgehend an der Elbe entlang. In den deutschlandweiten Umfragen zur Radfahrfreundlichkeit (Fahrradklimatest) belegt Dresden einen Platz im Mittelfeld hinter Chemnitz und Leipzig (beim Test im Jahr 2014 war es Platz 21 unter den insgesamt 38 beurteilten Großstädten über 200.000 Einwohner). In der kommunalen Bürgerumfrage 2014 gaben 71 % der Befragten an, dass die Stadtverwaltung sich mehr für den Radverkehr engagieren müsse. Dennoch begeistern sich die Dresdner für das Fahrrad: Schon bei der ersten Teilnahme am Wettbewerb Stadtradeln 2011 Sieger in der Kategorie Fahrradaktivste Stadt mit den meisten Radkilometern. Seit 2020 gibt es das Fahrradverleihsystem MietOn. Insgesamt umfasst das Straßennetz in kommunaler Verwaltung 1.400 km Straßen (3.200 Straßennamen), 1.908 km Fußwege und 370 km Radwege. ==== Öffentlicher Personennahverkehr ==== Den öffentlichen Personennahverkehr bedienen neben der S-Bahn zwölf Straßenbahn- und über 30 Buslinien der Dresdner Verkehrsbetriebe sowie einiger Busunternehmen (vgl. Busverkehr in Dresden). Bedeutende Überlandlinien mit Verbindung nach Dresden betreibt die Regionalverkehr Sächsische Schweiz-Osterzgebirge GmbH. Straßenbahnen verkehren in der ehemaligen sächsischen Residenzstadt seit 1872, zunächst als Pferdebahnen, ab 1893 zunehmend elektrisch. Dabei bestanden zeitweise zwei konkurrierende private Unternehmen, deren äußeres Erkennungszeichen die unterschiedlichen Wagenfarben waren (daher wurden sie in der Bevölkerung als „gelbe“ bzw. „rote“ Gesellschaft bezeichnet). Diese wurden 1905 in der Städtischen Straßenbahn Dresden vereinigt. Seitdem wird das Straßenbahnnetz unter einheitlicher Regie betrieben, zunächst von der Stadt selbst, im Laufe der Zeit von unterschiedlichen mehr oder weniger von der Stadt abhängigen Trägern. Bekannt ist die Dresdner Straßenbahn für den zwischen 1931 und 1972 eingesetzten großen Hechtwagen. Schon in der Weimarer Republik gab es teilweise einen Dreiminutentakt. Seit der letzten Linienumstellung verkehren zwölf Straßenbahnlinien auf einem etwa 204 km langen Liniennetz, das bis zu den benachbarten Städten Radebeul, Coswig und Weinböhla reicht; diese Überlandbahn wird touristisch als Kultourlinie vermarktet. siehe auch: Meines Vaters Straßenbahn, Filmbiografie Die Dresdner Verkehrsbetriebe modernisieren seit Jahren ihr Netz und ihren Fuhrpark. Seit Juni 2010 sind im Normalfall ausschließlich Niederflurbahnen von Bombardier Transportation aus Bautzen mit bequemen stufenlosen Einstiegen im Einsatz. Lediglich für Sonderleistungen kommen gelegentlich noch die Tatra-Wagen des Typs T4D zum Einsatz, außerdem zur regulären Taktverdichtung der Linie 3 in der Vorlesungszeit.Drei Elbfähren ermöglichen neben den Brücken (jeweils mit öffentlichem Nahverkehr per Eisenbahn, Bus oder Straßenbahn) den Übergang über die Elbe: von der Johannstadt zur Neustadt, von Niederpoyritz nach Alttolkewitz sowie von Kleinzschachwitz nach Pillnitz. Im Stadtteil Loschwitz gibt es außerdem die historischen Bergbahnen: eine Standseilbahn zum Nobelviertel Weißer Hirsch sowie eine Schwebebahn nach Oberloschwitz, an deren Bergstation sich eine hervorragende Aussicht auf die Stadt und das südwestliche Umland bietet. Auf der Elbe fahren die Raddampfer der Weißen Flotte und stellen ausschließlich touristisch genutzte Verbindungen elbaufwärts in die Sächsische Schweiz und elbabwärts nach Meißen bereit. Dresden ist auch Haltepunkt für Passagierschiffe der Flusskreuzfahrt-Veranstalter. ==== Flugverkehr ==== Im Norden von Dresden, in Klotzsche, liegt seit 1935 der Flughafen Dresden mit nationalen und internationalen Fluglinien. Er wurde nach der Wiedervereinigung saniert und hat daher ein gut ausgebautes Terminal sowie eine gute Anbindung an den öffentlichen Personennahverkehr. Der Flughafen Dresden hat eine eingeschränkte Nachtruhe zwischen 0 und 5 Uhr, die darüber hinaus in den weiteren Randzeiten davor und danach nur eingeschränkt Flugverkehr zulässt. ==== Fernbusverkehr ==== Dresden hat kein eigenes Fernbusterminal. Genutzt werden die Bushaltestellen in der Bayrischen Straße am Dresdner Hauptbahnhof oder die Haltestelle am Bahnhof Dresden-Neustadt. Insbesondere die Bushaltestelle südlich des Hauptbahnhofs ist jedoch nicht für den expandierenden Fernbusverkehr ausgelegt. Vor allem fehlt es an Unterständen und Sitzbänken. So existieren Überlegungen, einen zentralen Omnibusbahnhof nördlich des Hauptbahnhofs am westlichen Ende des Wiener Platzes zu errichten. Der Busbahnhof soll neben einem 43 Meter hohen neuen Hochhaus mit zehn Steigen bis 2025 fertig sein. Neben einer Vielzahl nationaler, bedienen auch einige internationale Linien Dresden. So können unter anderem die Städte Amsterdam, Budapest, Brüssel, London, Kopenhagen, Paris, Prag, Stockholm, Wien oder Zürich umstiegsfrei erreicht werden. ==== Güterverkehr ==== Dresden war und ist ein wichtiger Eisenbahnknoten im Güterverkehr, zu dessen Eisenbahnanlagen der Rangierbahnhof Dresden-Friedrichstadt gehört. Durch die Automobilwerke des Volkswagen-Konzerns in Chemnitz, Zwickau, bei der tschechischen Tochter Škoda in Mladá Boleslav und in Dresden selbst kommt dem Güterbahnhof als Logistikzentrum eine wichtige Funktion zu. Täglich rollen etwa 200 Güterzüge über die Elbtalbahn von und nach Tschechien. Eine Besonderheit stellte bis 2020 die Güterstraßenbahn CarGoTram dar, die die Gläserne Manufaktur von Volkswagen am Großen Garten bediente. Die Bahn wurde eingerichtet, um die Innenstadt zwischen Logistikzentrum am Güterbahnhof in der Friedrichstadt und Manufaktur keiner zusätzlichen Belastung durch LKW auszusetzen. Dresdens Hafen liegt linkselbisch in Dresden-Friedrichstadt und dient der Elbe-Containerlinie und der Binnenschiffslinie ETS-Elbe. Er erhielt 2007 zusätzlich eine RoRo-Anlage mit einer zulässigen Höchstlast von 500 Tonnen. Dresden liegt am Kreuzungspunkt der E 40 und E 55, zweier wichtiger Europastraßen. Über die A 17 ist es gelungen, den Güterfernverkehr aus der Stadt zu verlagern. Alleine die E55 nutzen täglich mehr als 2000 LKW. === Medien === ==== Tageszeitungen ==== Mit der Sächsischen Zeitung (SZ) und den Dresdner Neuesten Nachrichten (DNN) erscheinen zwei traditionelle Tageszeitungen. Die Sächsische Zeitung war ab 1946 und zu DDR-Zeiten Organ der SED. Heute gehört sie mehrheitlich zum Verlagshaus Gruner + Jahr. Die Vorläufer der DNN waren Zeitungen der NDPD (Sächsische Neueste Nachrichten), LDPD (Sächsisches Tageblatt) beziehungsweise CDU (Die Union). Die Dresdner Neuesten Nachrichten gehören heute zur Leipziger Verlags- und Druckereigesellschaft, die zudem Gesellschafterin der Leipziger Volkszeitung (LVZ) ist. An der Leipziger Verlags- und Druckereigesellschaft ist zu 100 % die Verlagsgesellschaft Madsack beteiligt, an welcher wiederum zu über 20 % die Deutsche Druck- und Verlagsgesellschaft (dd_vg) beteiligt ist, das Medienbeteiligungsunternehmen der SPD. Weitere Zeitungen sind die Dresdner Morgenpost (mit dem Online-Ableger Tag24) und die Lokalausgabe der Bild. ==== Sonstige Zeitungen und Zeitschriften ==== Das kostenlose Dresdner Amtsblatt (DDA) erscheint als Veröffentlichungsorgan der Stadtverwaltung wöchentlich. Dresdner Kulturmagazin (kostenlos) und Sax sind monatlich erscheinende Stadtmagazine mit Veranstaltungskalender. Das Gastronomiemagazin Augusto erscheint jährlich. Weitere Magazine sind Frizz, Spot, DD-INside, Skunk, SPIESSER, Urania, caz, Prinz und port01, die teilweise werbefinanziert sind. Einige dieser Blätter sind auch in anderen deutschen Städten vertreten. Weiterhin werden in Dresden noch die kostenlosen Anzeigenblätter Wochenkurier, freitagSZ und Dresden am Wochenende verteilt, die beiden letzteren als Portfolioergänzung des Verlags der Sächsischen Zeitung (DDV Mediengruppe). Des Weiteren gibt es Anzeigenblätter für die jeweiligen Stadtteile, beispielsweise die Leubener Zeitung für den Stadtbezirk Leuben. Darüber hinaus erscheinen in Dresden die Literaturzeitschriften Ostragehege und Signum. ==== Hörfunk und Fernsehen ==== Da in der Tallage nur an wenigen Orten im Stadtgebiet überregional ausgestrahlte Rundfunkprogramme zu empfangen waren, wurde 1969 der 252 Meter hohe Fernsehturm eröffnet, der heute noch in Betrieb ist. In Dresden befinden sich neben dem Landesfunkhaus des MDR zahlreiche Produktions- und Dienstleistungsunternehmen. Private Radiosender wie Hitradio RTL, Radio PSR, Energy Sachsen, Radio Dresden und R.SA sind mit ihren Programmen in Dresden vertreten. Neben Fernsehsendern in einzelnen Stadtteilen, die von Antennengemeinschaften betrieben werden, gibt es Dresden Fernsehen als privatrechtlichen Sender für das gesamte Stadtgebiet. Außerdem sendet rund um die Uhr über das Vodafone-Kabelnetz der Lokalfernsehsender tvM (Meissen Fernsehen). Über Primacom wird der regionale Sportsender 8Sport in Dresden verbreitet. In Dresden beheimatet sind zwei Sächsische Ausbildungs- und Erprobungskanäle (SAEK) – ein schulisch spezialisierter SAEK im St. Benno-Gymnasium und einer im Medienkulturzentrum Pentacon. Hier findet der interessierte Bürger offene Studios und kann das Produzieren sowie Senden erlernen und auf Sendung gehen (eigener Radiosender NEON 425 auf 104,25 MHz im Dresdner Kabel). Neben den öffentlichen und privaten Radiosendern besteht in Dresden das Freie Radio coloRadio, das wochentags von 18 bis 24 Uhr sowie am Wochenende von 12 bis 24 Uhr auf den Frequenzen 98,4 und 99,3 MHz zu hören ist. Diese Frequenzen teilt sich coloRadio mit apollo radio. ==== Sonstiges ==== Während der DDR-Zeit konnten in Dresden größtenteils keine westlichen Fernsehsender empfangen werden, weshalb Dresden den Namen Tal der Ahnungslosen bekam. Im Volksmund wurde der Name der ARD als Außer Raum Dresden gedeutet. Um dennoch westdeutsche Fernsehsender empfangen zu können, gründeten sich ab 1987 mehrere Bürgerinitiativen, die staatlich toleriert über Satelliten empfangene Signale westdeutscher Fernsehprogramme in kleinen Kabelnetzen verbreiteten. Teils wurden in diesen Kabelnetzen schon vorher terrestrisch schwach empfangbare westdeutsche Programme mit hohem Aufwand aufbereitet und in schwankender, aber nur an wenigen Tagen wirklich guter Qualität angeboten. Zusätzlich wurden tschechische Fernsehprogramme mit aufbereitet, in denen manchmal deutschsprachige Filme mit tschechischen Untertiteln liefen. === Öffentliche Einrichtungen von überregionaler Bedeutung === Aufgrund ihres Status als Landeshauptstadt haben in Dresden zahlreiche öffentliche Einrichtungen und Institutionen beziehungsweise Körperschaften des öffentlichen Rechts der Landesebene ihren Sitz, so der Sächsische Landtag, die Sächsische Staatskanzlei, alle Ministerien der Sächsischen Staatsregierung, der Sächsische Datenschutzbeauftragte, das Landeskriminalamt Sachsen und weitere Landesbehörden. Das Prinzip der räumlichen Trennung der Legislative und Exekutive von der Judikative wurde in Sachsen in der Weise eingehalten, dass sich außer dem Oberlandesgericht für die ordentliche Gerichtsbarkeit alle weiteren oberen Landesgerichte in Leipzig, Chemnitz und Bautzen befinden. Das aus der 1954 gegründeten Medizinischen Akademie Dresden entstandene Universitätsklinikum Carl Gustav Carus an der Technischen Universität Dresden ist das Krankenhaus der Maximalversorgung für Ostsachsen mit etwa 1300 Betten. Das Städtische Klinikum Dresden ist ein Krankenhaus zur Schwerpunktversorgung. Des Weiteren gibt es eine Handwerkskammer und eine Industrie- und Handelskammer. Das Wasser- und Schifffahrtsamt Dresden ist der Wasser- und Schifffahrtsdirektion Ost untergeordnet und hauptsächlich für die Elbe auf einer Länge von 290 km verantwortlich. Zur Bundeszollverwaltung gehören ein Zollfahndungsamt und ein Hauptzollamt mit Sitz in Dresden. Letzteres und das dazugehörige Zollamt sind der Bundesfinanzdirektion Mitte in Potsdam unterstellt. Bis zum 31. Dezember 2007 war es der Zoll- und Verbrauchsteuerabteilung (ZuVA) der Oberfinanzdirektion Chemnitz nachgeordnet. Mit Ablauf dieses Datums wurde die ZuVA aufgelöst. Die Bundesanstalt Technisches Hilfswerk hat in Dresden eine Regionalstelle und einen Ortsverband. Diese sind dem THW Länderverband Sachsen, Thüringen mit Sitz in Altenburg unterstellt. Die Bundesnetzagentur für Elektrizität, Gas, Telekommunikation, Post und Eisenbahnen ist in Dresden mit einer Außenstelle vertreten. Darüber hinaus haben die Sächsische Akademie der Künste, die Sächsische Landesstiftung Natur und Umwelt, die Bürgerstiftung, die Brücke/Most-Stiftung und seit 2006 das Gerhard Richter Archiv ihren Sitz in Dresden. ==== Garnison ==== Dresden kann auf eine lange Geschichte als Garnisonsstadt zurück blicken. Heute ist in der Albertstadt neben der Offizierschule des Heeres samt Verwaltung sowie des Militärhistorischen Museums auch das Landeskommando Sachsen angesiedelt. === Sonstiges === In Dresden gibt es 18 genehmigte Prostitutionsstätten. == Bildung und Forschung == Dresden wurde vom Stifterverband für die Deutsche Wissenschaft für das Jahr 2006 zur „Stadt der Wissenschaft“ ernannt. Die Verankerung von Wissenschaft und Bildung in der Bevölkerung zeigt sich besonders in der jährlich stattfindenden, gut besuchten Langen Nacht der Wissenschaften. === Hochschulbildung und universitäre Forschung === In der Stadt existieren neun Hochschulen. Traditionell liegen deren Stärken und Bedeutungen einerseits in der Technik und Wirtschaft, andererseits in Kunst und Kultur. Insgesamt studieren hier etwa 40.000 Menschen. Die Studenten der Hochschulen werden durch das Studentenwerk Dresden betreut. Die Technische Universität Dresden (TUD) liegt mit ihren über 31.000 Studenten auf Platz 19 unter den größten Universitäten Deutschlands. Ihr Campus liegt südlich der Innenstadt in der Nähe des Hauptbahnhofs, einen Großteil beherbergt die Südvorstadt. Eine Ausgründung der TU Dresden ist die Dresden International University (DIU), an der nur postgraduale Abschlüsse erworben werden können. Außerdem wird an der TUD in jedem Semester eine Kinderuniversität in der Art einer Ringvorlesung zu verschiedensten Themen veranstaltet. Die größte Fachhochschule Dresdens ist die Hochschule für Technik und Wirtschaft Dresden (HTW Dresden). Die Hauptgebäude der HTW Dresden liegen direkt am Hauptbahnhof. Sie beherbergten bis 1992 die Hochschule für Verkehrswesen „Friedrich List“, die seit 1992 die gleichnamige Fakultät für Verkehrswissenschaften in der TU Dresden bildet. Derzeit studieren etwa 5000 Menschen an der HTW Dresden. Bedeutung im Bereich der Bildenden Künste besitzt die Hochschule für Bildende Künste (HfBK), die sich direkt in der Innenstadt an der Brühlschen Terrasse befindet. Ebenfalls in ihren Bereichen bedeutend sind die Palucca Hochschule für Tanz Dresden und die Hochschule für Musik „Carl Maria von Weber“ (HfM). Seit Dezember 2012 ist zudem die Universität der Vereinten Nationen (United Nations University, UNU) mit dem Institute for Integrated Management of Material Fluxes and of Resources (UNU-FLORES) in Dresden vertreten. UNU-FLORES wird sich mit dem Fokus des Globalen Wandels sowie der Ressourcensteuerung zur Green Economy beschäftigen. Weitere Hochschulen sind die Evangelische Hochschule Dresden und die Hochschule für Kirchenmusik Dresden. Daneben existieren als weitere wichtige Bildungsanstalten die Staatliche Studienakademie Dresden, eine Zweigstelle der Berufsakademie Sachsen, sowie die Sächsische Verwaltungs- und Wirtschafts-Akademie e. V. als reine Fortbildungseinrichtung. Ebenfalls den höheren Bildungseinrichtungen kann die Offizierschule des Heeres zugeordnet werden, die traditionell die Offiziere des deutschen Heeres ausbildet. === Außeruniversitäre Wissenschaftseinrichtungen === ==== Fraunhofer-Gesellschaft ==== Derzeit baut die Fraunhofer-Gesellschaft in Dresden mit ihren elf Einrichtungen und dem Institutszentrum ihren deutschlandweit größten Standort auf. Als führende Trägerorganisation der angewandten Forschung in Deutschland betreibt sie in ihren Instituten Vertragsforschung. Die Forschung der Fraunhofer-Einrichtungen ist für viele hoch technologisierte Unternehmen ein bedeutsamer Standortfaktor geworden. So betreibt die Gesellschaft – in die Anlagen des ehemaligen Qimonda-Werks integriert – das Fraunhofer-Center Nanoelektronische Technologien (CNT) in Zusammenarbeit in Form einer Public Private Partnership mit AMD Saxony und Qimonda. Weitere Fraunhofer-Institute in Dresden sind: Fraunhofer-Institut für Organische Elektronik, Elektronenstrahl- und Plasmatechnik (FEP) Fraunhofer-Institut für Keramische Technologien und Systeme (IKTS) Fraunhofer-Institut für Photonische Mikrosysteme (IPMS) Fraunhofer-Institut für Verkehrs- und Infrastruktursysteme (IVI) Fraunhofer-Institut für Werkstoff- und Strahltechnik (IWS)Fraunhofer-Institutsteile und -Zentren in Dresden sind: Fraunhofer-Institut für Fertigungstechnik und Angewandte Materialforschung (IFAM) – Institutsteil Dresden Fraunhofer-Institut für Integrierte Schaltungen (IIS) – Institutsteil Dresden Fraunhofer-Institut für Werkzeugmaschinen und Umformtechnik (IWU) – Institutsteil Dresden Fraunhofer IVV, Außenstelle für Verarbeitungsmaschinen und Verpackungstechnik (IVV Dresden)Mit dem Standort Dresden verbunden wird zudem das Zentrum All Silicon System Integration Dresden (IZM-ASSID), das direkt an der Stadtgrenze in Boxdorf steht. ==== Max-Planck-Gesellschaft ==== Die Max-Planck-Gesellschaft betreibt in Dresden seit 2001 das Max-Planck-Institut für molekulare Zellbiologie und Genetik (MPI CBG). Seitdem hat es sich über Forschungsprogramme wie Molecular Bioengineering Dresden zu einem wichtigen Institut im Bereich der funktionellen Genomik entwickelt. Etwa 300 Mitarbeiter arbeiten in diesem Institut. Weitere Institute der Gesellschaft sind das Max-Planck-Institut für Chemische Physik fester Stoffe (MPI CPfS) und Max-Planck-Institut für Physik komplexer Systeme (MPI PKS). ==== Helmholtz-Gemeinschaft ==== Das Helmholtz-Zentrum Dresden-Rossendorf e. V. (HZDR) gehörte bis 2011 zur Leibniz-Gemeinschaft und hat Forschungsschwerpunkte in den Lebenswissenschaften (insbesondere Krebsforschung), der Energieforschung und in der Materialforschung. Seit 2009 hat das Deutsche Zentrum für Neurodegenerative Erkrankungen (DZNE) einen Standort in Dresden. ==== Wissenschaftsgemeinschaft „Gottfried Wilhelm Leibniz“ ==== Die als Leibniz-Gemeinschaft bekannte Wissenschaftsgemeinschaft betreibt hier schon seit einigen Jahren Forschungsinstitute verschiedener Disziplinen: Leibniz-Institut für Festkörper- und Werkstoffforschung (IFW) Dresden Institut für Polymerforschung Dresden e. V. (IPF) Leibniz-Institut für ökologische Raumentwicklung e. V. (IÖR) ifo Institut für Wirtschaftsforschung (Einzige Niederlassung mit Fokus der Wirtschaft in den Neuen Bundesländern) === Gymnasien === Dresden verfügt über 31 Gymnasien, darunter neun in freier und eins in Landesträgerschaft. Das Martin-Andersen-Nexö-Gymnasium vermittelt eine vertiefte mathematisch-naturwissenschaftliche, das Romain-Rolland-Gymnasium eine vertiefte sprachliche Ausbildung und das Semper-Gymnasium eine vertiefte künstlerische Ausbildung. Dresdens altsprachliches Gymnasium und zugleich die älteste Schule der Stadt ist das Evangelische Kreuzgymnasium, dessen Geschichte bis in das 13. Jahrhundert zurückreicht. Das Sächsische Landesgymnasium für Musik „Carl Maria von Weber“ bildet musikalisch besonders begabte Schüler aus. Weiterhin gibt es eine Eliteschule des Sports, das Sportgymnasium. == Persönlichkeiten == === Ehrenbürger === Zu den Ehrenbürgern der Stadt zählen neben Monarchen und Politikern insbesondere Wissenschaftler und Künstler, die in Dresden wirkten – beispielsweise der Wissenschaftler Manfred von Ardenne, die Tanzpädagogin Gret Palucca und der Musiker Richard Strauss. Adolf Hitler war während der Zeit des Nationalsozialismus, wie damals üblich, ebenfalls Ehrenbürger der Stadt. Dieser Status wurde ihm aber nach Mai 1945 wieder aberkannt. === Söhne und Töchter der Stadt === Der weltweit bekannte Autor Erich Kästner wurde in Dresden geboren und wuchs im Stadtteil Neustadt auf. Zu den bekannten Menschen, die in Dresden geboren wurden, zählt der Maler Gerhard Richter. Er studierte an der Kunstakademie und zählt zu den bedeutendsten deutschen Malern der Nachkriegszeit. Ebenfalls aus Dresden stammen der langjährige SPD-Fraktionsvorsitzende Herbert Wehner und sein FDP-Kollege Wolfgang Mischnick sowie der Fußballtrainer Helmut Schön, der die Auswahl der Bundesrepublik 1972 zur Europa- und 1974 zur Weltmeisterschaft führte. Weitere Erfolge sind zwei Pokalsiege und eine deutsche Meisterschaft. Auch Matthias Sammer (1995 Ballon d’Or, 1996 Fußball-Europameister) wurde in der sächsischen Landeshauptstadt geboren. Die ehemalige Bundesministerin für Familie, Christine Bergmann, wurde in Dresden geboren. So auch Peter Scholze, der erst zweite deutsche Träger der Fields-Medaille, des „Nobelpreises“ für Mathematik. Weitere Personen, die längere Zeit in Dresden lebten und wirkten, waren unter anderem Hans Georg von Arnim-Boitzenburg, Berthold Auerbach, Carl Gustav Carus, Johan Christian Clausen Dahl, Otto Dix, Felix Draeseke, Günter Ehrlich, Hans Erlwein, Caspar David Friedrich, Karl Gutzkow, Heinrich von Kleist, Victor Klemperer, Charlotte Meentzen, Pierre I Mercier, Matthäus Daniel Pöppelmann, Sergei Wassiljewitsch Rachmaninow, Wilhelm Rudolph, Wolf Curt von Schierbrand, Gertrude Seltmann-Meentzen, Richard Wagner, Carl Maria von Weber, Maria Reiche, Mary Wigman, Erhard Ludewig Winterstein, Nicolaus Ludwig Graf von Zinzendorf und Otto Zirnbauer. == Siehe auch == == Literatur == Chronologisch sortiert: Beschreibung der Königlich-Sächsischen Residenzstadt Dresden und der umliegenden Gegend für Fremde bearbeitet. Erster Teil und zweiter Teil in einem Band. Neudruck [der Ausg.] Dresden, Walthersche Hofbuchhandlung 1807. Kleist-Archiv Sembdner, Heilbronn 2010, ISBN 978-3-940494-43-6. Fritz Löffler: Das alte Dresden. Geschichte seiner Bauten. Seemann, Leipzig 1999, (Erstausgabe 1955, 16. Auflage 2006), ISBN 3-363-00007-3. Alexander McKee: Dresden 1945 – Das deutsche Hiroshima. Paul Zsolnay Verlag, Hamburg/Wien 1983, ISBN 3-552-03529-X. Dresden (= Werte unserer Heimat. Band 42). 1. Auflage. Akademie Verlag, Berlin 1984. Heinz Quinger: Dresden. (Kunstgeschichtliche Städtebücher). Leipzig 1991. Folke Stimmel, Reinhardt Eigenwill, Heinz Glodschei u. a.: Stadtlexikon Dresden. A–Z. Verlag der Kunst, Dresden 1994, ISBN 3-364-00300-9 (2. Aufl. 1998). Landeshauptstadt Dresden: Flächennutzungsplan. Stadtplanungsamt, Dresden 1998. Landeshauptstadt Dresden: Integriertes Stadtentwicklungskonzept Dresden. Teil I. Analyse und Handlungsfelder. Stadtplanungsamt, Dresden 2001. Ingeborg Flagge: Dresden (FSB Architekturführer. Stadtführer zeitgenössischer Architektur). Verlag Das Beispiel, Darmstadt 2004, ISBN 3-935243-48-0. Thomas Widera: Dresden 1945–1948. Politik und Gesellschaft unter sowjetischer Besatzungsherrschaft (= Schriften des Hannah-Arendt-Instituts für Totalitarismusforschung. Bd. 25). Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2005, ISBN 3-525-36901-8. Ulrich Hübner, Ulrike Grötzsch u. a.: Symbol und Wahrhaftigkeit. Reformbaukunst in Dresden. Verlag der Kunst, Dresden 2005, ISBN 3-86530-068-5. Eckhart Leisering: Acta sunt hec Dresdene – die Ersterwähnung Dresdens in der Urkunde vom 31. März 1206, Sächsisches Staatsarchiv, Mitteldeutscher Verlag (mdv), Halle/Saale und Dresden 2005, ISBN 3-89812-320-0 (eingeschränkte Vorschau in der Google-Buchsuche), S. 5/40/35-41/94. Karlheinz Blaschke, Reiner Groß, Holger Starke (Hrsg.): Geschichte der Stadt Dresden. Band 1: Von den Anfängen bis zum Ende des Dreißigjährigen Krieges. ISBN 978-3-8062-1906-7; Band 2: Vom Ende des Dreißigjährigen Krieges bis zur Reichsgründung. ISBN 978-3-8062-1927-2; Band 3: Von der Reichsgründung bis zur Gegenwart. Theiss, Stuttgart 2005–2006, ISBN 3-8062-1928-1. Georg Dehio: Handbuch der deutschen Kunstdenkmäler – Dresden. Bearbeitet von Barbara Bechter, Wiebke Fastenrath, Heinrich Magirius u. a., 1996/2005 aktualisiert von Friedrich Kobler, Heinrich Magirius, Mathis Nitzsche und Hartmut Ritschel. Deutscher Kunstverlag, Berlin, ISBN 3-422-03110-3. (mit 40 Plänen und Grundrissen). Thorsten Pietschmann: Dresden. Architektur und Kunst (= Cybela Bildhandbuch Architektur und Kunst. Band 2). Cybela Verlag, Oybin-Lückendorf 2013, ISBN 978-3-944470-00-9. Jürgen Helfricht: Kleines Dresden-ABC. Husum, Husum 2014, ISBN 978-3-89876-719-4. Claudia Quiring, Hans-Georg Lippert (Hrsg.): Dresdner Moderne 1919–1933. Neue Ideen für Stadt, Architektur und Menschen. Sandstein Verlag, Dresden 2019, ISBN 978-3-95498-464-0. Steffen Raßloff: Kleine Geschichte der Stadt Dresden. Rhino Verlag, Ilmenau 2019, ISBN 978-3-95560-072-3. Andreas Krase (Hrsg.): Dresden in Photographien des 19. Jahrhunderts. Schirmer Mosel, München 2020, ISBN 978-3-8296-0777-3 (Bildband mit 250 historischen Aufnahmen). Steffen Raßloff: Dresden. 55 Highlights aus der Geschichte. Sutton Verlag, Erfurt 2021, ISBN 978-3-96303-297-4.Zeitungsartikel: Andreas Ruby: Stadtplanung. Las Vegas an der Elbe. In: Die Zeit. 9. November 2000 und 2. Januar 2014, abgerufen am 25. Dezember 2020. === Belletristik === Mit Themen aus Dresden: Oliver Bendel: Verlorene Schwestern. Leipziger Literaturverlag, Leipzig 2009, ISBN 978-3-86660-079-9. Renatus Deckert (Hrsg.): Die wüste Stadt. Sieben Dichter über Dresden. Insel Verlag, Frankfurt am Main 2005, ISBN 3-458-34849-2. Wilhelm von Kügelgen: Jugenderinnerungen eines alten Mannes. u. a. hrsg. von Philipp von Nathusius. W. Hertz, Berlin 1870. Eberhard Panitz: Dresdner Novelle 1989. Verlag am Park, Berlin 2009, ISBN 978-3-89793-232-6. Detlev Schöttker (Hrsg.): Dresden. Eine literarische Einladung. Wagenbach Verlag, Berlin 2006, ISBN 3-8031-1239-7. Uwe Tellkamp: Der Turm. Geschichte aus einem versunkenen Land. Roman. Suhrkamp, Frankfurt am Main 2008, ISBN 978-3-518-42020-1. Mathias Ullmann: Ohne Engel. VAT, Mainz 2009, ISBN 978-3-940884-20-6. Marcus Wächtler: Grüner Dresdner. SWB Media Publishing, Stuttgart 2015, ISBN 978-3-945769-10-2. Frank Goldammer: Max Heller, Band 1 Der Angstmann. dtv Verlagsgesellschaft, München 2017, ISBN 978-3-423-21696-8. Michael Göring: Dresden. Roman einer Familie. 2. Auflage. Osburg Verlag, Hamburg 2021, ISBN 978-3-95510-243-2. === Industrie === Tilo Richter (Text), Hans-Christian Schink (Fotos): Industriearchitektur in Dresden. Kiepenheuer, Leipzig 1997, ISBN 3-378-01019-3. Reinhardt Balzk, Jürgen Leibiger (Hrsg.): Industriegeschichte der Stadt Dresden 1945–1990. Beiträge zum 800. Stadtjubiläum. Schkeuditz 2007. === Musik === Musik in Dresden. Schriften der Hochschule für Musik „Carl Maria von Weber“ Dresden. Laaber-Verlag, Laaber 1995–2005. Band I: Die Dresdner Oper im 19. Jahrhundert. Hrsg. von Michael Heinemann und Hans John, ISBN 3-89007-310-7. Band II: Die Dresdner Stadtmusik, Militärmusikkorps und Zivilkapellen im 19. Jahrhundert. Hrsg. von Anneliese Zänsler, ISBN 3-89007-319-0. Band III: Die Dresdner Kirchenmusik im 19. und 20. Jahrhundert. Hrsg. von Matthias Herrmann, ISBN 3-89007-331-X. Band IV: Dresden und die avancierte Musik im 20. Jahrhundert. Teil I: 1900–1933. Hrsg. von Matthias Herrmann und Hanns-Werner Heister, ISBN 3-89007-346-8. Band V: Dresden und die avancierte Musik im 20. Jahrhundert. Teil II: 1933–1966. Hrsg. von Matthias Herrmann und Hanns-Werner Heister, ISBN 3-89007-510-X. Band VI: Dresden und die avancierte Musik im 20. Jahrhundert. Teil III: 1966–1999. Hrsg. von Matthias Herrmann und Stefan Weiss, ISBN 3-89007-511-8. Band VII: Die Dresdner Oper im 20. Jahrhundert. Hrsg. von Michael Heinemann und Hans John, ISBN 3-89007-651-3. == Weblinks == Internetauftritt der Landeshauptstadt Dresden Dresden in Zahlen – II. Quartal 2022 (PDF; 9,3 MB) Dresden auf stadtpanoramen.de Liniennetzpläne des öffentlichen Nahverkehrs www.bausituation-dresden.de Blog mit Fotos Historische Fotografien 1900/1914 (Sammlung Bernd Nasner) == Einzelnachweise ==
https://de.wikipedia.org/wiki/Dresden
Eiffelturm
= Eiffelturm = Der Eiffelturm (französisch Tour Eiffel, [tuʁ‿ɛˈfɛl] ) ist ein 330 Meter hoher Eisenfachwerkturm in Paris. Er steht im 7. Arrondissement am nordwestlichen Ende des Champ de Mars (Marsfeld), nahe dem Ufer der Seine. Das von 1887 bis 1889 errichtete, 10100 Tonnen schwere Bauwerk wurde als monumentales Eingangsportal und Aussichtsturm für die Weltausstellung zur Erinnerung an den 100. Jahrestag der Französischen Revolution errichtet. Der nach dem Erbauer Gustave Eiffel benannte und zum Errichtungszeitpunkt noch 312 Meter hohe Turm war von seiner Erbauung bis zur Fertigstellung des Chrysler Building 1930 in New York das höchste Bauwerk der Welt. Mit der Ausstrahlung des ersten öffentlichen Radioprogramms in Europa 1921 und des ersten französischen Fernsehprogramms 1935 trug das Bauwerk als Sendeturm zur Geschichte des Hörfunks und des Fernsehens bei. Der Fernsehturm ist die wichtigste Sendeanlage des Großraums Paris und beherbergt als Turmrestaurant das mit einem Michelin-Stern ausgezeichnete Restaurant Le Jules Verne.Als höchstes Bauwerk von Paris prägt er das Stadtbild bis heute und zählt mit rund sieben Millionen zahlenden Besuchern pro Jahr zu den meistbesuchten Wahrzeichen der Welt. Der Turm ist eine der bekanntesten Ikonen der Architektur und der Ingenieurskunst. Der Eiffelturm ist das Vorbild vieler Nachahmerbauten und wird in Kunst und Kultur im Zusammenhang mit Paris und Frankreich vielfach aufgegriffen. Er gilt als nationales Symbol der Franzosen und avancierte zu einer weltweiten Ikone der Moderne. Seit 1964 ist der Eiffelturm als monument historique denkmalgeschützt, und 1986 nahm die American Society of Civil Engineers das Bauwerk in die Liste der historischen Meilensteine der Ingenieurbaukunst auf. == Geschichte == === Hintergrund === Mit den technischen Möglichkeiten der Industrialisierung kamen auch Ideen auf, hohe Bauwerke zu errichten. Insbesondere Turmbauwerke spiegelten den damaligen Zeitgeist wider. Bereits im Jahr 1833 schlug der Engländer Richard Trevithick vor, eine 1000 Fuß (304,80 Meter) hohe, von 1000 Stützen getragene gusseiserne Säule mit dem Durchmesser von 30 Metern an der Basis und 3,60 Metern an der Spitze zu bauen. Trevithick starb jedoch kurz nach Veröffentlichung seiner Pläne. Die amerikanischen Ingenieure Thomas Curtis Clarke (1827–1901) und David Reeves griffen die Idee auf und wollten für die Weltausstellung 1876 in Philadelphia einen solchen Turm (Centennial Tower) errichten. Die Konstruktion sah eine zylindrische Eisenröhre mit 9 Metern Durchmesser als Kern vor, die mit Stahlseilen abgespannt werden sollte. Verwirklicht wurde das Vorhaben nicht. Nach heutigem Wissensstand wäre dieses Bauwerk den Windschwingungen zum Opfer gefallen.1881 kehrte der französische Ingenieur Amédée Sébillot von einer Amerikareise mit der Idee zurück, das gesamte Stadtgebiet von Paris mit einem Leuchtfeuer auf einem „Sonnenturm“ zu beleuchten. Nachdem die französische Regierung im Mai 1884 das Vorhaben der Weltausstellung für das Jahr 1889 verkündet hatte, fertigte er zusammen mit dem Erbauer des Palais du Trocadéro, Jules Bourdais, entsprechende Pläne an. Der Entwurf, der an eine romantisierende Rekonstruktion des sagenumwobenen Leuchtturms von Pharos mit vielen Verzierungen erinnerte, stieß auf große Vorbehalte und wurde bis zum offiziellen Planungswettbewerb im Mai 1886 öffentlich diskutiert. Mangels technischer Umsetzbarkeit blieben sowohl der amerikanische Centennial Tower als auch der Sonnenturm unverwirklicht. === Projektphase === Im Juni 1884 stellten die beiden Ingenieure Maurice Koechlin und Émile Nouguier, beide aus dem Büro von Gustave Eiffel, einen Entwurf für einen 300 Meter hohen Metallmast vor, der auf vier Füßen ruhen sollte. Die Stahlfachwerkkonstruktion war so entwickelt, dass die Streben durch ihre Neigungswinkel Seitenwinden möglichst geringen Widerstand boten. Die Form der Turmstützen ähnelte der Momentenlinie eines vertikalen Kragarms bei Windbelastung. Damit sollten die Seitenwinde maximal nach unten abgeleitet werden, was dem hohen Bauwerk eine extrem hohe Standsicherheit verschaffen sollte. Eiffel und sein Büro hatten in den Jahren davor bereits grundlegende Erfahrungen im Brückenbau gesammelt. Die größten Eisenbahnbrücken jener Zeit stammten von Eiffel, wie beispielsweise das Garabit-Viadukt, welches das Tal der Truyère in 122 Meter Höhe überspannt. Die Pylone aus dem Brückenbau standen beim Turmprojekt Pate. Am 18. September 1884 ließ sich Eiffel den Entwurf patentieren.Der ingenieurtechnisch ausgereifte Entwurf entsprach jedoch ästhetisch nicht den Vorstellungen Eiffels. Das pylonartige Bauwerk erinnerte zu sehr an einen überdimensionierten Freileitungsmast – die Werkbezeichnung deutete dies mit pylône de 300 mètres de hauteur an. Eiffel erkannte, dass der allzu technische Entwurf im Vergleich mit den kunstvollen Bauwerken der Weltausstellung nicht überzeugen konnte, und beauftragte im Frühjahr 1886 den Architekten Stephen Sauvestre, die Form des Turms zu überarbeiten, um die Akzeptanz zu erhöhen. Zu den auffälligsten, von Sauvestre vorgenommenen Veränderungen zählt der monumentale, für die Tragfähigkeit nicht notwendige Bogen mit der ersten Etage. Er wurde dem Anspruch, als Eingangsportal für die Weltausstellung zu dienen, deutlich besser gerecht und ließ den Turm weniger nüchtern erscheinen. Sauvestre versah das Bauwerk mit gemauerten Sockeln, ließ die nach oben strebenden Pfeiler früher zusammenlaufen, änderte die Aufteilung der Geschosse und fügte eine Reihe von Verzierungen hinzu. Die ursprünglich vorgesehene Spitze in Pyramidenform veränderte der Architekt zu einer zwiebelförmigen Laterne. Erst dieser Entwurf überzeugte Eiffel so, dass er die Nutzungsrechte für den „300-Meter-Turm“ erwarb. Eiffel pries das Konzept vor dem Ausstellungskommissariat nicht nur als Ausstellungsbauwerk, sondern stellte die wissenschaftliche Bedeutung für die Meteorologie, Astronomie und die Aerodynamik heraus. Eiffel hob den Namen Koechlins nicht besonders hervor. Dies führte dazu, dass der Turm bereits in der Projektphase mit dem Ingenieur Eiffel in Verbindung gebracht wurde und schon vor seiner Errichtung die Bezeichnung Eiffelturm erhielt; Eiffel selbst hatte ihn nie so bezeichnet. Im Frühjahr 1885 wurden die Baukosten auf 3.155.000 Francs geschätzt und die Turmmasse mit 4810 Tonnen projektiert. Am Ende kam die reine Stahlkonstruktion des Eiffelturms auf eine Masse von 7300 Tonnen und die Baukosten erhöhten sich auf mehr als das Zweieinhalbfache.Am 1. Mai 1886 schrieb der Handelsminister Édouard Lockroy den Ideenwettbewerb für die Gebäude der Pariser Weltausstellung aus, der sich an französische Architekten und Ingenieure richtete. Es nahmen rund 100 Bewerber teil, viele von ihnen griffen die Idee eines Turmbauwerks auf. Nach der ersten Auswahl blieben drei Vorlagen übrig, darunter befanden sich neben Eiffels Beitrag die Entwürfe von Ferdinand Dutert und Jean Camille Formigé. Eiffel ließ die stark verzierte Fassung Sauvestres nochmals unter Verzicht auf einige Zierelemente überarbeiten und gewann mit diesem Kompromissvorschlag den Wettbewerb. Er unterschrieb am 8. Januar 1887 einen Vertrag mit der Stadt, die eine Subvention in Höhe von 1,5 Millionen Goldfranken zur Verfügung stellte, und bereits am 26. Januar wurde mit dem Bau begonnen. Da Eiffel die restlichen Baukosten von insgesamt über sieben Millionen Franken selbst zu tragen hatte, sicherte ihm der 18 Paragraphen umfassende Vertrag eine zwanzigjährige Nutzungskonzession zu. Den Vertrag unterzeichnete Eiffel persönlich, nicht im Namen seiner Baufirma. Die Finanzierung der restlichen Kosten erfolgte über eine Aktiengesellschaft mit einem Grundkapital von fünf Millionen Franken, von denen er die Hälfte übernahm; die andere Hälfte stellten zwei Pariser Großbanken als Kredite zur Verfügung. Den Inhabern von Eiffelturm-Aktien, welche die höchsten Renditen in der französischen Börsengeschichte ausschütteten, war es erlaubt, den Turm einmal im Jahr kostenfrei zu benutzen.Auch wenn Eiffel den Turm als geschlossenes Projekt aus seiner Hand anpries und sich damit eine fremde Idee zu eigen machte, gilt es historisch als gesichert, dass ohne Eiffels persönliches und unternehmerisches Engagement der Bau in dieser Form nie zustande gekommen wäre. === Bauarbeiten von Januar 1887 bis März 1889 === Unter regem Interesse der Öffentlichkeit begannen am 28. Januar 1887 die Bauarbeiten mit den Grabungsarbeiten für die Fundamente. Dafür wurden insgesamt 30.973 Kubikmeter Erdreich ausgehoben. Da die Fundamente unter dem Niveau des Seineflussbetts gründen, leitete man Druckluft in die wasserdichte Metallverschalung, damit die Arbeiten unterhalb des Wasserspiegels ausgeführt werden konnten. Dieses auf den Bergbauingenieur Jules Triger zurückgehende Verfahren hatte Gustave Eiffel bereits 1857 beim Bau der 500 Meter langen Eisenbahnbrücke von Bordeaux erprobt, und wandte es bei den zwei zur Seine ausgerichteten Pfeilerfundamenten an. Eiffel verwendete als Baumaterial im Puddelverfahren produziertes Schmiedeeisen, was zu seiner besonderen Haltbarkeit beigetragen hat. Da die Eisenverbindung mit geringem Kohlenstoffgehalt nicht geschweißt, sondern nur genietet werden konnte, ließ Eiffel in seinem Firmensitz in Levallois-Perret die notwendigen Einzelteile im Baukastenprinzip vorproduzieren und in Paris vor Ort zusammensetzen. Die Teile wurden exakt berechnet, geschnitten und mit den Löchern für das spätere Nieten versehen. Für die Vorproduktion bis zur Errichtung hatte Eiffel einen festen Ablaufplan. Fehlerhafte Teile wurden wieder zur Fabrik zurückgeschickt und nicht vor Ort angepasst. Ein Stab von etwa 40 technischen Zeichnern, Architekten und Ingenieuren erfasste in 700 Gesamtansichten und 3.600 Werkzeichnungen das gesamte, aus 18.038 Einzelteilen bestehende Bauwerk. Am 1. Juli 1887 begann die Errichtung der vier Turmfüße. Die zunächst freitragend montierten Sparren wurden von 30 Meter hohen provisorischen Baugerüsten getragen. Am 7. Dezember 1887 erfolgte die Montage der ersten Etage, auf deren Höhe ein 45 Meter hohes Gerüst zur Abstützung der Horizontalbalken diente. Oberhalb der Etage stützten sich die Strebepfeiler von selbst. Alle Werkstücke wurden von dampfgetriebenen Kränen auf den Führungsschienen positioniert, auf denen später die unteren Fahrstühle verkehren sollten. Einer der heikelsten Bauabschnitte war die Verbindung der vier horizontalen Tragbalken in der ersten Etage. Für deren exakte Ausrichtung nutzte Eiffel sogenannte Sandkisten, mit denen die Träger millimetergenau ausgependelt werden konnten. In zwei Pfeilern befanden sich manuell mit Handpumpen bedienbare hydraulisch verstellbare Hubspindeln, mit denen die Sparren auf ihre Position gebracht wurden. Damit war eine sehr präzise Justierung der Balken möglich. Nachdem die Tragpfeiler fest miteinander verbunden waren, ersetzte man die Hubspindeln durch verankerte Stahlkeile. Die sorgfältige Planung und Ausführung führte dazu, dass die Nietlöcher erst ab einer Höhe von 57 Metern angepasst werden mussten. Vermutlich wurde die hohe Präzision durch Zusammenlegen der Teile in der Werkstatt und anschließendes Aufreiben der Nietlöcher erzielt. Eiffel selbst führte dazu aus: Am 14. August 1888 wurde die zweite Etage errichtet und der sich nach oben anschließende Teil freitragend montiert. Gleichzeitig stattete man die Plattformen aus. Die im Werk vorgebohrten Einzelteile wurden vor Ort mit konischen Dornen unter Schlageinwirkung in ihre endgültige Position gebracht. Insgesamt halten im Eiffelturm 2,5 Millionen Niete die Bauteile zusammen. Das Vernieten führten jeweils vier Männer durch. Der erste Arbeiter ließ den Niet heißstauchen und brachte ihn mithilfe einer kleinen Esse zum Glühen. Als zweiten Schritt führte ein anderer Arbeiter den Niet an das Bohrloch. Ein dritter schlug den Schließkopf in Form. In einem letzten Schritt wurde der Bolzen gestaucht. An den Bauarbeiten waren bis zu 250 Personen beteiligt, rund 150 davon waren für das Vernieten der Bauteile vor Ort eingesetzt. Neben Zimmerleuten befanden sich unter den Bauarbeitern auch Schornsteinfeger, da sie das Arbeiten in großen Höhen gewohnt waren. Die Arbeitsschichten dauerten in den Wintermonaten neun und in den Sommermonaten zwölf Stunden. Im September 1888 kam es zu einem Streik der Arbeiter; drei Monate später legten sie erneut die Arbeit nieder und forderten mehr Lohn. Gustave Eiffel verhandelte mit ihnen und richtete in der ersten bereits fertiggestellten Plattform eine Kantine für sie ein. Während der gesamten Arbeiten kam es zu einem einzigen tödlichen Unfall. Ein italienischer Arbeiter verunglückte beim Einbau der Aufzüge nach der offiziellen Eröffnung.Gleichzeitig mit der freitragenden Montage der obersten Stockwerke ab Dezember 1888 wurden die Plattformen ausgestattet. Nachdem am 15. März die Laterne auf der Spitze des Turms errichtet worden war, konnten wenige Tage später, am 31. März 1889, planmäßig wenige Wochen vor Eröffnung der Weltausstellung, die Arbeiten abgeschlossen werden. === Proteste und Widerstand gegen die Errichtung === Bereits vor dem Baubeginn formierte sich unter Intellektuellen und Künstlern Widerstand gegen den Bau des Eiffelturms. Der Kunst- und Kulturhistoriker Jacob Burckhardt sah in dem Bauwerk eine Reklame für die gedankenlosen Tagediebe in ganz Europa und Amerika. Zahlreiche Persönlichkeiten, darunter Charles Gounod, Alexandre Dumas, Charles Garnier, William Adolphe Bouguereau und auch Guy de Maupassant als einer der stärksten Kritiker, veröffentlichten am 14. Februar 1887, wenige Tage nach Baubeginn, in der damals renommierten Zeitung Le Temps einen Protest der Künstler: Das Protestschreiben blieb kein Einzelfall; weitere begleiteten die Bauarbeiten. Léon Bloy beschrieb den Eiffelturm als „wirklich tragische Straßenlaterne“, Paul Verlaine als „Skelett von einem Glockenturm“ und François Coppée als „Eisenmast mit starrer Takelage, unvollkommen, konfus und unförmig“. Die starke Ablehnung richtete sich zum einen gegen die für die damalige Zeit immense Höhe, zum anderen empfand man die offen zur Schau gestellte Konstruktionsweise aus Eisen mit fehlender Fassade als geradezu skandalös.Ein weiterer Kritikpunkt der Gegner war der Umstand, dass der Turm nicht wie die andere Festarchitektur nach der Ausstellung wieder abgebaut werden, sondern dauerhaft stehen bleiben sollte. Der Protest, der sich vor allem aus akademisch-elitären Kreisen kam, ließ sich auch durch Eiffels gewieftes Entgegenkommen nicht beruhigen, den Turm für einen Bruchteil der Baukosten in Einzelteile zu zerlegen und ihn an anderer Stelle wieder aufzubauen. Jeder praktische Aspekt, der sich den Notwendigkeiten des Alltags unterwarf, konnte dem hehren Kunstbegriff der Traditionalisten nicht genügen – Industrie und Kunst hatten in ihren Augen strikt getrennt zu bleiben. In der breiten Masse war der Eiffelturm von Anfang an sehr beliebt und die Baustelle wurde rege besucht. Neben polemischen Schriften, Behauptungen und (angeblichen oder tatsächlichen) Befürchtungen gab es auch Techniker, die befürchteten, die Fundamente des Turms wären für sein Gewicht zu schwach. Ein Mathematiker prophezeite seinen Einsturz, sobald er eine Höhe von 228 Metern überschreite. Ein Anlieger am Champ de Mars strengte einen Prozess gegen den Staat und die Stadt an, aus Angst, der Eiffelturm könne einstürzen und sein Haus zerstören. Das Gericht erlaubte den Weiterbau nur mit der Auflage, dass Gustave Eiffel bei etwaigen Schäden haften müsse. === Eröffnung und Reaktionen === Am Eröffnungstag, dem 31. März 1889, bestieg Gustave Eiffel – da der Fahrstuhl noch nicht fertiggestellt war – mit einer Delegation gegen 13:30 Uhr den Turm und hisste an dessen Spitze eine französische Trikolore, die 7 Meter lang und 4,40 Meter breit war.Der in der Presse offen ausgetragene Protest gegen den Eiffelturm verstummte nach seiner Eröffnung fast vollständig und schlug teilweise sogar in Begeisterung und Stolz um. In einer Pressemeldung hieß es dazu: Heinrich Schliemann, dem ein Aufstieg auf den Eiffelturm bereits vor der offiziellen Eröffnung ermöglicht worden war, pries das Bauwerk in einem Brief an Rudolf Virchow am 24. Mai 1889 als Wunderwerk der ingenieurtechnischen Fähigkeiten, ohne das der vierte Teil der Ausstellung – Schliemann meinte die vierte Weltausstellung in Paris – keinen Reiz hätte. Trotz der Euphorie, die ihn als gelungene nationale Selbstdarstellung und Demonstration des technischen Fortschritts rühmte, blieb auch unversöhnliche Kritik. Auf jeden Fall erregte er die Gemüter jener Zeit sehr stark und übte eine enorme Anziehungskraft auf die Menschen aus, so der französische Philosoph, Schriftsteller und Literaturkritiker Roland Barthes.Für die breite Öffentlichkeit war der Turm erst seit dem Eröffnungstag der Weltausstellung, dem 15. Mai 1889, zugänglich. Das Eintrittsgeld betrug 1889 für die erste Etage zwei, für die zweite drei und für die dritte fünf Francs. Der Eintritt zur Weltausstellung kostete einen Franc. Insgesamt bestiegen während der Weltausstellung 1889 1.896.987 Menschen den Eiffelturm. Damit amortisierten sich seine Baukosten bereits zu drei Vierteln. Zahlreiche prominente Persönlichkeiten der Zeitgeschichte statteten dem höchsten Bauwerk der Welt ebenfalls einen Besuch ab. Am Eröffnungstag erschien eine Sonderausgabe der Tageszeitung Le Figaro direkt aus dem Eiffelturm. Die Redaktion hatte ihre Arbeitsräume aus diesem Anlass in der zweiten Aussichtsplattform eingerichtet. Besucher, welche die Zeitung an diesem Tag direkt bei der Redaktion kauften, erhielten eine signierte Ausgabe als „Zertifikat“ für ihre Turmbesteigung. Zum Zeitpunkt der Eröffnung und Schließung jedes Messetages wurde jeweils ein Schuss einer Salutkanone von der Spitze des Turms abgefeuert. Der erste Eintrag im Gästebuch des Eiffelturms war der des britischen Kronprinzen, des späteren Königs Eduard VII., der am 10. Juni 1889 den Turm zusammen mit fünf Familienmitgliedern bestieg und den Eiffel persönlich führte. Am 1. August 1889 besuchte der damalige Schah von Persien Nāser ad-Din Schāh das neue Bauwerk. Außerdem finden sich dort die Unterschriften des Prinzen Georg von Griechenland, des späteren Königs von Belgien Albert I., des russischen Zaren Nikolaus II., Sarah Bernhardts und des japanischen Kaisersohnes Yoshihito. Der Erfinder Thomas Edison überreichte Gustave Eiffel am 10. September 1889 eine Widmung für die „Errichtung des gigantischen und originellen Musterstücks moderner Baukunst“ und nahm bei seinem Besuch die Stimme Eiffels auf. In der dritten Plattform unterhalb der Turmspitze ist dieses Ereignis im ehemaligen Büro Eiffels mit Wachsfiguren nachgebildet. Auch Mahatma Gandhi, der damals in London studierte, bestieg während der Weltausstellung den Eiffelturm.Als der Eiffelturm eröffnet wurde, war er mit einer Gesamthöhe von damals 312 Metern das höchste Bauwerk der Welt und löste damit das 169,3 Meter hohe Washington Monument, einen Obelisken aus weißem Marmor in den Vereinigten Staaten, als Rekordhalter ab. Das höchste begehbare Gebäude jener Zeit war die 167,5 Meter hohe Synagoge Mole Antonelliana in Turin, die 1888 fertiggestellt wurde. === Die ersten 20 Jahre === Der Erfolg und das Fortbestehen des Eiffelturms über die zwanzigjährige Konzession hinaus war ungewiss. Eiffel versuchte immer wieder durch die Einbindung von Gelehrten und eigene Forschungen den Nutzen des Bauwerkes darzulegen. Am 5. November 1898 konnten Eugène Ducretet und Ernest Roger eine drahtlose Telegraphenverbindung zwischen dem Eiffelturm und dem vier Kilometer entfernten Panthéon herstellen. Die elektromagnetische Informationsübermittlung blieb zunächst rein militärischen Zwecken vorbehalten. Im selben Jahr wurde auf dem Eiffelturm eine Wetterwarte eingerichtet. Durch den enormen Höhenunterschied von 300 Metern war es möglich, vielfältige physikalische Experimente durchzuführen. So wurden zur Justage von Luftdruckmessern ein übergroßes Manometer installiert, spektroskopische Messungen durchgeführt, ein Foucaultsches Pendel eingerichtet und Windgeschwindigkeit und Atmosphärentemperatur gemessen. Sogar Experimente zur Heilwirkung von Höhenluft führte man durch. Für seine astronomischen und physiologischen Beobachtungen richtete Eiffel ein eigenes Büro in der dritten Plattform ein. Besondere Bekanntheit erlangten Eiffels Messungen zur Aerodynamik. Eine erste Versuchsreihe begann er 1903: Er spannte zwischen der zweiten Plattform und dem Erdboden ein Kabel, an dem er verschiedene Profile nach unten gleiten ließ. 1904 konnten Zeitsignale auf der Wellenlänge 2000 Meter mit unterschiedlichen Apparaten empfangen werden. 1909 erweiterte er seine Studien durch Eröffnung eines Windkanals am Fuße des Turms und einer größeren Anlage an der Rue Boileau im Jahre 1912.Für die Weltausstellung 1900, die zum fünften Mal in Paris stattfinden sollte, erwog Eiffel verschiedene Umbaupläne. Die allgemeine Empfindung der Ästhetik des Turmes hatte sich in den wenigen Jahren seines Bestehens derart gewandelt, dass seine Optik wegen ihrer Modernität und Radikalität überholt wirkte. Gefragt waren üppigere Formen, wie in der Belle Époque üblich. Die Ausstellung zeichnete sich insgesamt durch eine retrospektive Ausrichtung aus und war damit eher eine Schlussfeier des 19. als eine Eröffnungsfeier des 20. Jahrhunderts. Aus diesem Grund versuchten Veranstalter und Architekten den Eiffelturm hinter einer Stilhülle zu verbergen. Die Vorschläge dazu reichten von relativ moderaten Veränderungen wie dem Anbringen von Schnörkeln, Wimpeln, Balkonen und Girlanden bis hin zu massiven Umbauplänen, die eine völlige Neukonzeption des Turms vorsahen. Der Entwurf von Guillemonats sah beispielsweise vor, den Turm bis zur ersten Plattform abzutragen und einen riesigen Globus darauf zu errichten. Zum massivsten Umbauvorschlag mit der Projektbezeichnung „la Tour Eifel (sic!) dans le mont Samson“ zählt der eines gewissen Samson, der den Turm als Stützgerüst für einen künstlichen Berg vorsah und den Eiffelturm damit komplett hinter einer Bergkulisse mit Dörfern, Straßen und Vegetation hätte verschwinden lassen. Abgesehen von der Tatsache, dass Samson nicht wusste, wie man den Eiffelturm korrekt buchstabierte, zeugte auch die wenig professionell ausgeführte Planskizze von mangelnder Seriosität. Der Umbauvorschlag von Gautier wollte den Eiffelturm als Stützkonstruktion für ein riesenhaftes pagodenähnliches Tor verwenden. Sowohl ein Abriss als auch die angestrebten Umbauvorschläge scheiterten am Eigentumsrecht Eiffels. Am 28. Dezember 1897 einigte man sich schließlich, den Eiffelturm weitgehend unverändert in die Weltausstellung zu integrieren. Sein technisches Aussehen wurde lediglich durch eine neue Lichtinstallation, welche die Konturen des Bauwerks hervorhob, zu überspielen versucht. Eiffel beließ es dabei, das Bauwerk nach oben hin in abgetönter orangeroter Farbe neu zu streichen und den Plattformen ein neues äußeres Aussehen zu geben. Neben einer neuen Aufzuganlage stellte er auch seinen Salon in der dritten Plattform der Öffentlichkeit zur Verfügung. Doch zur Weltausstellung zog der Turm mit etwa einer Million nur noch halb so viele Besucher an; die Zahl sank in den Folgejahren weiter ab und pendelte sich bis zu Beginn des Ersten Weltkriegs auf jährlich rund 180.000 ein. Rein wirtschaftlich gesehen spielte es eine untergeordnete Rolle, denn die Baukosten des Eiffelturms waren bereits nach eineinhalb Jahren amortisiert. Eiffel war durch sein alleiniges Vermarktungsrecht und sein prosperierendes Unternehmen bereits mehrfacher Millionär geworden und konnte sich neben einem Stadtpalais in Paris weitere Häuser in Sèvres, Beaulieu-sur-Mer an der Côte d’Azur und in Vevey am Genfersee leisten.Neben der wissenschaftlichen Nutzung wuchs vor allem auch der militärische Wert des Turmes. Am 15. Dezember 1893 erlaubte Eiffel dem Kriegsminister Auguste Mercier, auf dem Turm Antennen zu befestigen, und übernahm sogar deren Kosten. Am 21. Januar 1904 unterstützte er Hauptmann Gustave-Auguste Ferrié, einen Offizier der Pioniertruppen, die drahtlose Telegrafie für die militärische Nutzung voranzutreiben. Ferrié richtete das militärische Netzwerk ein und wurde zum zweitwichtigsten Mann neben Eiffel. Nachdem bereits 1898 eine drahtlose Verbindung hergestellt worden war, wurden 1903 zwischen dem Eiffelturm und einigen Militäranlagen in Paris weitere Funkverbindungen geschaffen und ein Jahr später wurde die Verbindung in den Osten Frankreichs erweitert. 1906 wurde ein Radiosender auf dem Turm eingerichtet. Die nach 20 Jahren ausgelaufene Konzession wurde am 1. Januar 1910 um weitere 70 Jahre verlängert. Mit der gestiegenen strategischen Bedeutung war auch der Fortbestand des Eiffelturms gesichert; sie war sogar ausschlaggebend für die Fortsetzung der Konzession, denn der wissenschaftliche Nutzen blieb real betrachtet eher bescheiden. === Wissenschaftliche, fernmeldetechnische und militärische Nutzung === ==== Sender und wissenschaftliche Nutzung ==== Ab dem 23. Mai 1910 diente der Eiffelturm der französischen Marine als Zeitzeichensender. Ein Sender auf dem Eiffelturm strahlte in regelmäßigen Abständen Signale aus, mit denen man die Uhren exakt synchronisieren konnte. Das Signal konnte nachts bis zu einer Entfernung von 5200 Kilometern und tagsüber bis etwa zur Hälfte dieser Strecke empfangen werden. Gustave-Auguste Ferrié, ein Offizier des Genie-Korps der französischen Streitkräfte, forschte viele Jahre zum Funkverkehr und war an dem Projekt beteiligt. Ebenfalls 1910 gelang es, erste Funkverbindungen mit Luftschiffen und ein Jahr später mit Flugzeugen herzustellen.Messungen und wissenschaftliche Experimente am Eiffelturm gingen weit über die Sende- und Übertragungstechnik hinaus. Der Physiker Theodor Wulf (1868–1946) maß 1910 vier Tage lang an der Spitze und am Fuße des Turms die Strahlungsenergie und stellte einen signifikanten Unterschied fest. Mit diesem gelang es ihm, die kosmische Strahlung nachzuweisen. Während des Ersten Weltkrieges musste der französische Physiker und spätere Nobelpreisträger Louis de Broglie sein Studium unterbrechen und leistete seinen Militärdienst bis 1919 auf der funktelegraphischen Station des Eiffelturms ab. ==== Erster Weltkrieg ==== Mit Beginn des Ersten Weltkriegs wurde der Eiffelturm für die Öffentlichkeit gesperrt. Er hatte sich als Telekommunikationszentrum für das Militär etabliert, das dort verschlüsselte feindliche Funksprüche abfing, deren Nachrichteninhalt entziffert werden konnte. Zu den bedeutendsten Fällen gehört ein als Radioprogramm getarnter Funkspruch, der zur Verhaftung der Spionin Mata Hari führte, sowie das Radiogramme de la Victoire (deutsch „Funkspruch des Sieges“). ==== Hörfunksender und -studio ==== Bereits vor dem Ersten Weltkrieg fanden erfolgreiche Tests zur drahtlosen Übertragung von Telegrafie-Signalen statt. Am 24. Dezember 1921 begann nun auch das Senden von Tonsignalen. Lucien und Sacha Guitry strahlten erstmals vom Eiffelturm ihr Radioprogramm (Radio Tour Eiffel) aus. Damit schrieben sie Rundfunkgeschichte, denn die ausgestrahlte Sendung war in Europa die erste öffentliche Radiosendung. Ein Jahr später, am 6. Februar 1922, wurde im Nordpfeiler ein temporäres Studio eingerichtet, aus dem Guitry, Yvonne Printemps und Direktor Ferrié sendeten. Die Radiosendungen erfolgten von 1922 bis 1928 auf Wellenlängen zwischen 2600 m und 3200 m, also Frequenzen von 93,7 kHz und 115,3 kHz mit Sendeleistungen von bis zu 12 kW, von 1929 bis 1933 auf der Wellenlänge 1445,8 m (207,4 kHz) mit bis zu 15 kW Sendeleistung und von 1933 bis 1940 auf der Wellenlänge 206 m (1455,3 kHz) mit bis zu 80 kW Sendeleistung.Im Mai 1925 gab sich der Betrüger Victor Lustig als stellvertretender Generaldirektor des Postministeriums aus und fälschte eine Ausschreibung, die den Eiffelturm zum Verkauf anbot. Lustig schaffte es, ihn an André Poisson zu veräußern, der sich damit den Aufstieg in die Pariser Geschäftswelt erhoffte. Um Poissons anfängliche Zweifel zu zerstreuen, mimte Lustig ein Geständnis, er sei ein korrupter Beamter, der für seinen teuren Lebensstil etwas dazuverdienen wolle. Lustig tauchte nach Abschluss des Handels unter und setzte sich nach Wien ab. Als der Schwindel aufflog, zog Poisson es aus Scham vor, den Betrug nicht der Polizei anzuzeigen. Nach einem Monat versuchte Lustig den Betrug zu wiederholen. Der Käufer schöpfte jedoch Verdacht und ging zur Polizei, worauf Lustig floh. ==== Wetter- und Fernsehsender ==== 1925 ließ Édouard Belin das erste Fernsehsignal vom Turm ausstrahlen. Damit wurde der Eiffelturm zum ersten Fernmelde- sowie Fernsehturm und blieb bis 1953 weltweit, wie weiter unten erwähnt, auch der höchste Turm dieser Art. Im Jahr 1929 strahlte der Eiffelturm die Daten von 350 Wetterstationen aus und ermöglichte damit einen Austausch zwischen Europa, Nordafrika und den Inseln im Atlantischen Ozean einschließlich Islands und der Kapverdischen Inseln.Mit der Einweihung des 319 Meter hohen Chrysler Building in New York City 1930 verlor das Pariser Wahrzeichen den Titel des höchsten Bauwerks der Welt, den es fast 41 Jahre innegehabt hatte. Bis zur Fertigstellung des Tokyo Tower im Jahr 1953 blieb es noch der höchste Fernsehturm. Die erste offizielle Fernsehübertragung vom Eiffelturm am 26. April 1935 um 20:15 Uhr war die Geburtsstunde des Fernsehens in Frankreich. Genutzt wurde wie schon bei den Sendungen von Édouard Belin die Technik des sogenannten „mechanischen“ und teilweise des „elektronischen“ Fernsehens. Dazu strahlte ein 500-Watt-Sender auf der Wellenlänge 175 Meter, der allerdings bald danach durch einen 10 Kilowatt starken Sender ersetzt wurde. Das Programm strahlte man in einer halbelektronischen 60-Zeilen-Norm mit 25 Bildern pro Sekunde aus, die im Dezember von einer 180-Zeilen-Norm ersetzt wurde. === Entwicklung zur bedeutenden Sehenswürdigkeit === ==== 1937 bis 1979 ==== Während der Weltfachausstellung 1937, die bereits im Zeichen der konkurrierenden Weltmächte und des drohenden Konfliktes mit dem „Dritten Reich“ stand, wurde unterhalb der ersten Plattform des Eiffelturms ein riesiger, von dem Architekten André Grasset gestalteter Kronleuchter aufgehängt. Darüber hinaus tauchte man den Turm mit 30 Projektoren in ein weißes Licht mit blauen und roten Blitzen. Die Veranstaltung war die letzte der sechs Weltausstellungen in Paris. Der Eiffelturm war seit 1889 fester Bestandteil der Ausstellungsarchitektur, zog aber mit jedem Mal weniger Besucher an. Beim Staatsbesuch des britischen Königs Georg VI. im Jahr 1938 wurde ihm zu Ehren der Union Jack seitlich am Turm gehisst. Die 120 Kilogramm schwere Flagge war 30 Meter breit und 40 Meter lang. Mit der Besetzung von Paris 1940 wurden die Aufzugkabel abgetrennt. Eine Reparatur war aufgrund der mangelnden Güterversorgung während des Zweiten Weltkrieges praktisch unmöglich. Für die deutschen Truppen und Adolf Hitler bedeutete dies, dass sie den Eiffelturm nur über die Treppe besteigen konnten. Deutsche Soldaten erhielten den Auftrag, bis zur Spitze hochzusteigen, um eine Hakenkreuzflagge an der Spitze des Turms zu hissen. Da sie zu groß war, wurde sie bereits nach wenigen Stunden weggeweht und etwas später durch eine kleinere ersetzt. Auf der ersten Aussichtsplattform ließ die Wehrmacht zudem ein Transparent mit der Aufschrift „Deutschland siegt auf allen Fronten“ anbringen. Als Hitler Paris am 24. Juni 1940 selbst besuchte, zog er es vor, den Eiffelturm nicht zu besteigen. Darauf hieß es, dass Hitler zwar Frankreich, aber nicht den Eiffelturm erobert habe. Auch die Hakenkreuzflagge wurde während der Besatzungszeit von einem Franzosen in einer heimlichen Aktion durch die französische Trikolore ersetzt. Trotz der Widrigkeiten inszenierten die Deutschen den Eiffelturm zu propagandistischen Zwecken. Hitler ließ sich zusammen mit weiteren namhaften Größen seines Regimes wie beispielsweise Albert Speer und Arno Breker in verschiedenen Posen vor dem Eiffelturm fotografieren, um vor der heimischen Bevölkerung den Sieg über die Franzosen zu demonstrieren.Wie schon während des Ersten Weltkrieges blieb der Turm auch während des Zweiten Weltkrieges für die Öffentlichkeit geschlossen. US-amerikanische Truppen befreiten Paris am 25. August 1944 und installierten auf der zweiten Etage des Eiffelturms ihre Sendestationen, um mit deren Hilfe mit den Streitkräften am Ärmelkanal kommunizieren zu können. Nach der Wiedereröffnung für den Publikumsverkehr im Juni 1946 bestiegen in dem folgenden halben Jahr über 600.000 Besucher den Turm. Mit dem stärker werdenden Tourismus stieg auch die Besucherzahl anhaltend auf jährlich über eine Million und steigerte sich in den folgenden Jahrzehnten kontinuierlich. Die 1950er Jahre waren geprägt durch das sich durchsetzende Medium des Fernsehens. Im April 1952 wurde das erste Mal eine Livesendung von Paris nach London gesendet. Die technische Schwierigkeit bestand in der Überbrückung der unterschiedlichen Übertragungsstandards zwischen Frankreich und Großbritannien. Mit der Sendung schrieb der Eiffelturm ein weiteres Mal Fernsehgeschichte. Die Show moderierten Georges de Caunes und Jacqueline Joubert vom französischen Fernsehen und Miss Reeves von der BBC. Ein Jahr später folgte der nächste Meilenstein mit der Einrichtung des Eurovision-Verbundes. Damit konnte am 2. Juni die Krönung von Elisabeth II. an alle Teilnehmerstaaten der Eurovision übertragen werden; in Frankreich wurde die Zeremonie landesweit vom Eiffelturm aus ausgestrahlt. 1956 brach im Senderaum ein Feuer aus und zerstörte die Turmspitze sowie die Sendeeinrichtungen. Ein Jahr später errichtete man neue Antennenplattformen und installierte neue Antennen. Nach dem Umbau strahlte der Turm Radio- und drei Fernsehprogramme aus. Seine neue Antenne erhöhte das Wahrzeichen auf insgesamt 320,75 Meter. Zum 75-jährigen Jubiläum des Eiffelturms im Jahr 1964 lud die Betreibergesellschaft insgesamt 75 um das Jahr der Errichtung des Turms 1889 geborene Pariser Bürger zu einer festlichen Gala ein. Zu den berühmtesten Gästen zählte Maurice Chevalier. Im Laufe der Jahre wurden nicht nur zu den Jubiläen besondere Ereignisse am Eiffelturm veranstaltet. Durch die vermehrte Vergabe von Dreherlaubnissen für Kinofilme stieg der Status des Bauwerks weiter. Neben immer wieder außergewöhnlichen, meist sportlichen Aktionen wurde der Eiffelturm auch zunehmend im Alltagsleben der Pariser verankert, beispielsweise durch die Eröffnung einer Schlittschuhbahn in der ersten Etage im Winter. Aufgrund des traditionellen, an akademisch-klassizistischen Idealen orientierten Kunstverständnisses in Frankreich tat sich der Eiffelturm auch noch im fortgeschrittenen 20. Jahrhundert schwer mit seiner Anerkennung als Kulturdenkmal. Erst am 24. Juni 1964 wurde das Bauwerk in das Inventaire des monuments historiques eingetragen. ==== Seit 1980: Kulturerbe der UNESCO und Umbaumaßnahmen ==== Nachdem zum 1. Januar 1980 die an Eiffel vergebene und inzwischen auf seinen Erben übergegangene Konzession ausgelaufen war, übernahm die Société nouvelle d’exploitation de la tour Eiffel (SNTE), eine zu 100 % der Stadt Paris gehörende Tochtergesellschaft, den Betrieb des Wahrzeichens. Sie kümmert sich seither um die Erhaltung und Vermarktung des Bauwerks. Am 9. September 1983 wurde der hundertmillionste Besucher des Eiffelturms mit einem Geschenk begrüßt. Die Sängerin Mireille Mathieu überreichte der Frau die Schlüssel für einen Citroën BX. Seit 1991 gehört das Seineufer mit seinen Bauwerken zwischen dem Pont de Sully und dem Pont d’Iéna am Eiffelturm in Paris zum Kulturerbe der UNESCO.Im Jahr 2000 übernahm die Rundfunkgesellschaft TDF die Montage von UHF-Antennen und ließ seine Gesamthöhe von 318,7 Meter auf seine zwischenzeitliche Höhe von 324 Meter anwachsen. 2005 strahlte der Eiffelturm erstmals digitales Fernsehen aus. Die SNTE ging zum 1. Januar 2006 für zunächst zehn Jahre in die Société d’exploitation de la tour Eiffel (SETE) über. Von Februar 2012 bis 2013 wurden umfangreiche Renovierungen und Umgestaltungen in der ersten Plattform durchgeführt, die zu diesem Zeitpunkt von etwa der Hälfte der Besucher gemieden wurde. Unter anderem wurden in Anlehnung an die ursprünglichen Glassäle drei überdachte kastenförmige, dunkelrote Pavillons – teilweise mit Glasboden – aus Stahl und Glas konstruiert, die an den Seitenwänden zwischen den Pfeilern und parallel zu ihnen verlaufen. Während der 25 Millionen Euro teuren Umbaumaßnahmen wurde der Besucherbetrieb weiter aufrechterhalten. Darüber hinaus wurden Behindertenaufzüge und eine Konferenzhalle eingerichtet. Im Herbst 2017 wurde mit dem Bau einer Einfriedung rund um den Eiffelturm begonnen. Zwei klare Glaswände – zur Seine und gegenüber zum Marsfeld hin – sind 3 m hoch und 6,5 cm dick und dienen als Schutz vor Beschuss. An den zwei anderen Seiten wurden 3,24 m hohe Metallzäune errichtet, deren Pfeiler schräg stehen und so die konische Form des Turms widerspiegeln. Die Errichtung – sie wurde am 14. Juni 2018 von der Betreibergesellschaft Sete präsentiert – hat 35 Mio. Euro gekostet und wurde im Dezember 2018 abgeschlossen. Geplant wurde die Glaswand vom in Paris lebenden und aus Graz stammenden Architekten Dietmar Feichtinger mit der Absicht, „die Einzäunung so diskret wie möglich zu gestalten.“ Schon bisher mussten Besucher vor dem Besteigen des Turms durch Sicherheitsschleusen gehen. == Beschreibung == === Lage und Umgebung === Der Eiffelturm befindet sich im Westen des 7. Arrondissements der Pariser Innenstadt am nordwestlichen Ende des Champ de Mars. Er steht auf 33 Meter Höhe über Meer nicht weit vom Ufer der Seine entfernt, wo sich auch Anlegestellen von Ausflugsbooten befinden. Unweit davon liegt südwestlich des Eiffelturms die langgestreckte Île aux Cygnes (Schwaneninsel) in der Seine. In der unmittelbaren Sichtachse des Bauwerks steht südöstlich die École Militaire und nordwestlich auf dem gegenüberliegenden Flussufer über der 1937 auf 35 Meter verbreiterten Pont d’Iéna das Palais de Chaillot. Südöstlich der École Militaire befindet sich der Sitz der UNESCO in einem 1958 erbauten Gebäude mit Y-förmigem Grundriss. Rund drei Kilometer Luftlinie in südöstlicher Richtung entfernt steht etwas nördlich der exakten Sichtachse das 210 Meter hohe Bürohochhaus Tour Montparnasse. Nordöstlich befindet sich in der Nähe des Eiffelturms das Völkerkundemuseum Musée du quai Branly. Folgende für den Fahrzeugverkehr freigegebene Straßen tangieren das Turmareal: südwestlich die Avenue Gustave Eiffel, im Nordosten die Avenue de la Bourdonnais, im Nordwesten der stark befahrene Quai Branly, von dem der Pont d’Iéna über die Seine abzweigt, und im Südosten die Avenue de Suffren. Die vier Straßen begrenzen ein bewaldetes, parkähnliches rechteckiges Grundstück, auf dem mittig der Eiffelturm steht. Die Durchfahrt ist für den motorisierten Verkehr nicht gestattet. Die dem Eiffelturm nächsten Haltestellen der Métro Paris sind Bir-Hakeim (Tour Eiffel) der Linie 6 und École Militaire der Linie 8. Die Linie C der Pariser S-Bahn RER hält südwestlich des Turms am Bahnhof Champ de Mars - Tour Eiffel. In unmittelbarer Nähe des Eiffelturms halten verschiedene Buslinien. === Architektur === Wie Gustave Eiffel in einem Vortrag vor der Société des Ingénieurs civils am 30. März 1885 erklärte, ging es in der Architektur des Turms darum, So ausgeklügelt die Architektur zur Optimierung der Windlast ist, so vergleichsweise schlicht ist die grundsätzliche Konzeption des Eiffelturms, der die großen Eisenbahnbrücken aus Eisenfachwerk zum baulichen Vorbild hat. Sechzehn vertikal versetzte und in Vierergruppen zusammengefasste Hauptstreben ragen bogenförmig in die Höhe und werden über die drei horizontalen Besucherplattformen verbunden. Oberhalb der zweiten Plattform werden die Streben zu einem Pylon vereint. === Turmbasis und Fundament === Der Eiffelturm steht auf einer Höhe von 30,5 Meter über dem Meeresspiegel am nordwestlichen Ende des Champ de Mars (→ Lage). Das Bauwerk steht auf vier mächtigen Stützpfeilern aus Eisenfachwerk mit einer Breite von jeweils 26,08 Metern; sie leiten das gesamte Gewicht in das bis in 15 Meter Tiefe reichende Fundament weiter. Die Pfeiler ruhen auf massivem Mauerwerk und sind mit 16 Sparren im 54-Grad-Winkel im Boden verankert. Schrauben von 7,80 Metern Länge verbinden dabei den Gusseisen-Schuh mit dem Unterbau. Die Turmkonstruktion ist durch den Unterbau so gelagert, dass sie je nach Windlast einen Druck von etwa 5 kg/cm² an den Erdboden abgibt. Das entspricht etwa dem Bodendruck, den ein auf einem Stuhl sitzender Erwachsener auf den Boden ausübt – ein Vergleich, den Eiffel selbst errechnete und in seiner Publikation La Tour de 300 mètres angab.Die Pfeiler haben im unteren Bereich zueinander einen Abstand von 74,24 Meter, was einer Spreizung des Turms an der Basis von insgesamt 124,90 Metern entspricht. Der Grundriss der Standfläche ist quadratisch. Der Eiffelturm wurde so konstruiert, dass jeder seiner Pfeiler exakt auf eine Himmelsrichtung ausgerichtet ist. Die Nord- und Westpfeiler zeigen in Richtung der Seine, die Ost- und Südpfeiler in Richtung des Champ de Mars. In jedem der Pfeiler befinden sich Eingänge mit Kartenverkaufsständen, Treppenhäuser und Aufzüge, die je nach Besucherandrang und Anlass unterschiedlich geöffnet sein können. Der Abstand der Pfeiler, die über mächtige Bögen miteinander verbunden sind, verringert sich mit zunehmender Höhe. Die ebenfalls aus filigran wirkendem Eisenfachwerk gefertigten Bögen 39 Meter über dem Boden und mit einem Durchmesser von 74 Metern haben rein dekorativen Charakter und keine tragende Funktion. Zwischen den Pfeilerfüßen ist der Durchgang ausschließlich Fußgängern vorbehalten. Am Nordpfeiler steht zu Ehren des Erbauers Gustave Eiffel eine goldfarbene Büste auf einem länglichen Sockel. Südwestlich des Westpfeilers ragt ein von Sträuchern überwucherter roter Backstein-Schornstein an einer künstlichen Grotte hervor. Er stammt aus dem Jahr 1887 und wurde während der Bauphase für die Errichtung des Südpfeilers verwendet. Im Zuge der neu gestalteten Einfriedung des Eiffelturms 2018 wurde der gesamte Bereich unterhalb der Pfeiler und teilweise darüber hinaus in einen neuen Garten gestaltet. Auf dem Areal befinden sich Pflanzen und Bäume, die teilweise bereits vor Errichtung des Eiffelturms standen. Zu den ältesten Bäumen gehört eine 20 Meter hohe Platane, die im Jahr 1814 gepflanzt wurde. Die etwa 2000 Hektar große Grünfläche mit etwa 2000 Sträuchern und 20.000 mehrjährigen Pflanzen, wie Farne, Maiglöckchen oder Hortensien wurden neu gepflanzt, um dem Besucher einen Eindruck von der Wendezeit zum 20. Jahrhundert zu vermitteln, welche viele Pariser Gärten zur Zeit der Belle Epoque hatte. === Erste Etage === Die erste Etage oberhalb der Bögen auf 57,6 Meter Höhe bietet auf einer Nutzfläche von 4415 Quadratmetern Platz für gleichzeitig rund 3000 Besucher. Auf dieser Ebene befinden sich das Restaurant 58 Tour Eiffel, ein Selbstbedienungslokal und der Kinosaal Cineiffel, der auch als Ausstellungsraum genutzt werden kann. Der Rundumbalkon auf dieser Ebene ist an der Brüstung mit Panoramatafeln ausgestattet, damit die von dort sichtbaren Pariser Sehenswürdigkeiten besser lokalisiert werden können. Es gibt einen Andenkenladen und im Südpfeiler eine kleine, täglich geöffnete Postannahmestelle (Bureau de Poste Tour Eiffel), die einen eigenen Poststempel als Erinnerungsbeleg führt. Im ersten Stock bietet sich der 300 Quadratmeter große mietbare Gustave-Eiffel-Saal für Tagungen, Konferenzen, Konzerte oder Empfänge an.Zu Beginn hatte der Eiffelturm auf seiner ersten Etage aufwändig verglaste Säle, die von außen durch bogenförmige Dachkonstruktionen auffielen. Darin befanden sich unter anderem vier Restaurationsbetriebe, die thematisch verschieden ausgestaltet waren. Zwischen dem Nord- und Ostpfeiler war das russische Restaurant angesiedelt, das heute Gustave-Eiffel-Raum heißt. Zwischen dem Süd- und dem Westpfeiler war die angloamerikanische Bar, zwischen dem Ost- und Südpfeiler befand sich das französische Restaurant und zwischen dem Nord- und Westpfeiler war das flämische Restaurant angesiedelt. Letzteres wurde nach der Ausstellung 1889 in ein niederländisches Restaurant umgebaut und nach 1900 als Theatersaal genutzt. Sämtliche dieser Bauten und die historischen Ornamente wurden im Zuge der Weltausstellung 1937 abgebrochen und durch von außen weniger auffällige ersetzt, um sie dem geänderten Geschmack anzupassen. Entlang eines Frieses auf der ersten Etage sind 72 Namen bedeutender Wissenschaftler und Techniker angebracht, auf jeder Seite 18. Durch einen Neuanstrich des Turms Anfang des 20. Jahrhunderts verschwanden die Namen; in den Jahren 1986 und 1987 wurden sie wieder sichtbar gemacht. Es handelt sich vornehmlich um Ingenieure und Mathematiker, die während der Französischen Revolution und der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts gewirkt haben. Die Auswahl der Namen traf Eiffel selbst; für einige Namen wurde er kritisiert. Er überging bewusst Wissenschaftler mit langen Familiennamen und auch Frauen, die sich in der Wissenschaft verdient gemacht haben, beispielsweise auch die bedeutende französische Mathematikerin Sophie Germain. === Zweite Etage === Auf 115,7 Metern Höhe befindet sich die zweite Etage mit einer Fläche von 1430 Quadratmetern, die Platz für rund 1600 Besucher gleichzeitig bietet. Bis zur zweiten Etage gelangt man wahlweise über den Fahrstuhl oder eines der in den Pfeilern befindlichen Treppenhäuser; von der Basis bis zur zweiten Etage führen 704 Treppenstufen hinauf. Auf dieser Ebene findet der Umstieg zu den Aufzügen statt, die bis zur Spitze weiter führen. Hier befindet sich das Restaurant Jules Verne mit 95 Sitzplätzen. Es bietet eine gehobene Gastronomie, wurde vom Guide Michelin mit einem Stern ausgezeichnet und erhielt vom Gault-Millau 16 von 20 möglichen Punkten. Das Restaurant mit einer Grundfläche von 500 Quadratmetern liegt leicht erhöht auf dem Südpfeiler auf einer Höhe von 123 Metern und ist über einen separaten Aufzug erreichbar. Seit 2007 steht es unter der Leitung des Kochs Alain Ducasse.Außerdem gibt es auf dieser Ebene einen Schnellimbiss und einen Andenkenladen. In eigens für die Besucher eingerichteten Schaukästen wird die Geschichte zum Eiffelturm in Wort und Bild nacherzählt. === Dritte Etage und Turmspitze === Die dritte und oberste Plattform befindet sich auf 276,1 Metern Höhe und hat eine Fläche von 250 Quadratmetern. Diese Etage ist für die Öffentlichkeit ausschließlich über die Aufzüge erreichbar. Es besteht jedoch eine durchgehende Treppe, die beginnend im Ostpfeiler bis zur Spitze 1665 Stufen hat. Sie ersetzte 1983 die ursprüngliche Treppe mit 1710 Stufen und ist leichter und weniger gefährlich. Bis heute (2020) ist die oberste Aussichtsplattform die vierthöchste öffentlich zugängliche Europas; die höchste Aussichtsplattform hat derzeit der Oko Tower 1 in Moskau. Oberhalb der überdachten Plattform gelangt man über Treppen auf die durch Stahlgitter gesicherte, rund 100 Quadratmeter große Freiluftplattform. Der gesamte Bereich der dritten Etage kann bis zu 400 Personen gleichzeitig aufnehmen. Bei gutem Wetter kann man von hier aus bis 80 Kilometer weit sehen. Tafeln weisen in der entsprechenden Himmelsrichtung auf große Städte in der Welt hin und geben die Luftlinie vom Eiffelturm aus an. Neben einer Champagner-Bar wurde das Arbeitszimmer Eiffels originalgetreu restauriert und mit Wachsfiguren ausstaffiert, welche Eiffel, seine Tochter Claire und den amerikanischen Erfinder Thomas Edison zeigen, wie sie den Phonographen ausprobieren, den Edison für Eiffel als Präsent zur Turmeröffnung mitgebracht hatte. Oberhalb der Besucherplattform auf einer Höhe von 295 Metern befindet sich für jede Himmelsrichtung je ein Leuchtfeuer. Die Bewegung wird durch eine Software gesteuert und ist so synchronisierbar, dass mit den Leuchtfeuern ein durchgängig drehbares Kreuz simuliert wird. Auf dieser Höhe befinden sich auch mehrere Richtantennen. Darüber sind die Dipolantennen für die Radiofrequenzen angebracht; diese befinden sich auf 291 Meter und 294 Meter. Im unteren Bereich des eigentlichen Antennenmastes, der sich von der ehemaligen Laterne erhebt, sind auf mehreren Etagen in alle Himmelsrichtungen weitere Doppel-Dipolantennen angebracht, die sich auf 299 Meter und 304 Meter befinden. Darüber befinden sich die UHF-Antennen – erkennbar durch die abschirmenden, auffällig weißen Wetterschutzkästen. Die Turmspitze wird bekrönt von weiteren in die vier Himmelsrichtungen weisenden Dipolantennen, meteorologischen Messinstrumenten und einer Wartungsplattform. An der Spitze des Turms befinden sich über 120 Antennen zur Übertragung von dutzenden Radio- und Fernsehprogrammen (→ Nutzung als Sendeturm). Die Antennenhöhe variierte dabei im Laufe der Jahrzehnte. Seit seiner Eröffnung ist die eigentliche bauliche Struktur 300,51 Meter hoch und erreichte mit der Laterne und dem Fahnenmast an seiner Spitze eine Gesamthöhe von 312,27 Metern. Die Laterne ist durch die zusätzliche Montage von Antennenplattformen nur noch im oberen Drittel durch die gebogenen, zum Antennenmast zusammenlaufenden Fachwerkträger zu erkennen. Mit einer neuen Antenne veränderte sich 1991 die Gesamthöhe auf 317,96 Meter und der Umbau von 1994 an der Turmspitze machte ihn insgesamt 318,70 Meter hoch. Die letzte Veränderung in der Gesamthöhe erfuhr der Turm im Jahr 2000, als er auf die Höhe von 324 Metern anwuchs. Eine weitere Antennenanpassung im März 2022 erhöhte den Eiffelturm um weitere 6 Meter auf 330 Meter.Aufgrund von Windeinwirkungen schwankte die Turmspitze während eines Sturms 1999 bis zu ca. 13 Zentimeter aus ihrer Ruhelage. Die Ausdehnung des Turms infolge starker Sonneneinstrahlung kann in der Höhe mehrere Zentimeter ausmachen, der bisherige Spitzenwert von 18 Zentimetern wurde im Sommer 1976 erreicht. Eiffels Berechnungen entsprechend könnte sich der Turm sogar um bis zu 70 Zentimeter ausdehnen. Zudem neigt er sich geringfügig zur sonnenabgewandten Seite, da sich die der Sonne zugewandte Seite stärker als die drei anderen ausdehnt. An der Spitze kann sich dieser Effekt zu mehreren Zentimetern summieren. == Technik == === Aufzüge === Die Auffahrt im Eiffelturm wird von insgesamt neun verschiedenen Aufzügen ermöglicht – fünf in den Turmpfeilern, die zwischen dem Eingang und der zweiten Etage verkehren, und zwei Paar Aufzüge mit Doppelkabinen zwischen der zweiten und dritten Etage. Zwischen dem Erdgeschoss und der zweiten Etage verkehren teilweise doppelstöckige Schrägaufzüge, die sich dem variablen Neigungswinkel von 54° bis 76° der Turmpfeiler anpassen. Der weitere Aufstieg erfolgt nach einem Umstieg im zweiten Stockwerk über einen Vertikalaufzug. Spezielle Fahrstühle für den Eiffelturm, für den die enorme Höhe wie auch die Neigung der Turmpfeiler charakteristisch sind, stellten für die damalige Zeit eine technische Herausforderung an die Industrie dar, die zu jener Zeit selbst erst seit einigen Jahren bestand, denn der erste Hydraulikaufzug wurde bei der Weltausstellung 1867 präsentiert. Trotz vieler Erneuerungen und Modernisierungen arbeiten die Aufzüge vom Grundprinzip so, wie sie Eiffel zur Erbauung des Turms konzipiert hatte. Der Maschinenraum mit dem Hydraulikantrieb der Aufzüge ist im Rahmen von Sonderführungen im Untergeschoss des Bauwerks zu besichtigen. ==== Schrägaufzüge in den Turmpfeilern ==== Eiffel setzte beim Bau des Turms bewusst auf unterschiedliche Techniken und Hersteller, um bei einem Fehler unabhängig zu bleiben. Im Nord- und Südpfeiler arbeiteten bis 1910 Otis-Aufzüge. Die zweigeschossigen Kabinen wurden mittels Kabelzug emporgezogen. Bis 1897 befanden sich im Ost- und im Westpfeiler Aufzüge von Roux, Combaluzie und Lepape; sie konnten mit Hilfe einer endlosen Doppelkette bis zu 200 Personen befördern. Beide Systeme wurden durch eine hydraulische Förderanlage betrieben. Anlässlich der Weltausstellung 1900 ersetzte Eiffel die Fahrstühle und auch die Dampfmaschinen, welche die Hydraulik antrieben, durch Elektromotoren. Zwei historische Anlagen, 1899 von Fives-Lilles im Ost- und Westpfeiler installiert, sind heute noch bei einer Sonderführung zu besichtigen. Die Aufzüge wurden in den Jahren 1986 und 1987 modernisiert und seit den 1990er Jahren mehrfach generalüberholt. Im Jahr 2010 baute man moderne und klimatisierte zweigeschossige Fahrkabinen ein, die jeweils 56 Besucher transportieren können.Im Südpfeiler befindet sich ein Schrägaufzug von Otis, der seit 1983 ausschließlich für Besucher des Jules-Verne-Restaurants verwendet wird. 1989 wurde dieser Aufzug durch einen vier Tonnen tragenden Lastenaufzug ergänzt. Im Nordpfeiler wurde 1965 ein Schrägaufzug von Jeumont-Schneider eingebaut; er wurde in den 1990er Jahren grundlegend überholt. Die Kapazität des Aufzugs im Nordpfeiler beträgt 920 Personen pro Stunde, der im Ost- und Westpfeiler schafft 650 Personen in der Stunde. Der kleine Aufzug zum Restaurant kann maximal zehn Personen pro Fahrt befördern. Der Warenaufzug im Südpfeiler kann wahlweise 30 Personen oder vier Tonnen Güter pro Fahrt transportieren. ==== Vertikalaufzüge ab der zweiten Etage ==== Die ursprünglichen Vertikalaufzüge für die Passage von der zweiten zur dritten Etage wurden von Léon Edoux, einem Klassenkameraden von Eiffel, gebaut. Die ebenfalls hydraulisch betriebenen Fahrstühle benutzten anstelle eines Gegengewichts zwei gegenläufige Fahrkörbe, die sich gegenseitig im Gleichgewicht hielten. Das Prinzip erforderte, dass die Besucher auf halber Höhe – etwa auf 228 Meter – die Kabinen wechseln mussten. Die eigens dafür als Steg genutzte Zwischenplattform ist heute noch am Turmschaft erkennbar. Da der hydraulische Druck zum Antrieb der Fahrstühle mit Wasser aufgebaut wurde, das in Tanks in den Aussichtsplattformen untergebracht war, konnten in den Wintermonaten die Aufzüge nicht benutzt werden. Diese Aufzüge verkehrten fast 100 Jahre und wurden erst 1983 durch elektrische Fahrstühle der Firma Otis ersetzt. Die insgesamt vier Fahrkörbe verbinden die zweite und dritte Aussichtsplattform direkt miteinander. Diese Anlage kann bis zu 1140 Personen pro Stunde befördern. === Anstrich === Die Eisenfachwerkkonstruktion des Eiffelturms aus Puddeleisen wird mit mehreren Farbschichten vor Rost und Verwitterung geschützt. Bereits Gustave Eiffel betonte, dass der Anstrich für die Haltbarkeit von großer Bedeutung sei. Die erste Streichung erhielt der Turm bereits zwei Jahre nach seiner Eröffnung und er wurde bisher 19-mal neu angestrichen, zuletzt von März 2009 bis Oktober 2010 zum 120-jährigen Bestehen des Bauwerks. Damit wird der Eiffelturm im Durchschnitt alle sieben Jahre komplett neu lackiert. Die Anstricharbeiten werden von 25 Malern von Hand erledigt und kosten jeweils rund drei Millionen Euro. Für die Fläche von 250.000 Quadratmetern werden etwa 60 Tonnen Lack – inklusive 10 Tonnen Primer – benötigt, wovon sich rund 45 Tonnen durch Erosion abschmirgeln. Die speziell ausgebildeten Maler werden während der Arbeiten mit rund 60 Kilometern Sicherheitsseilen gesichert. Von der Turmbasis bis zu seiner Spitze wird der verwendete Lack leicht abgetönt, um den Turm vor dem Hintergrund einheitlich gleichfarbig aussehen zu lassen.Der Eiffelturm wurde farblich mehrfach neu gestaltet. Während zu Beginn der Errichtung des Turms noch ein venezianisches Rot vorherrschte, schwenkte man zur Eröffnung 1889 auf Rotbraun um. Dies wurde bereits 1892 durch Ockerbraun ersetzt. 1899 verwendete man ein in fünf Töne abgestuftes Gelborange und 1907 lackierte man das Wahrzeichen in Gelbbraun. Es folgten Orangengelb und Kastanienbraun, bis man seit 1968 den letzten Wechsel auf einen Bronzebraunton vollzog. Der Farbton „Eiffelturmbraun“ enthält die Farbpigmente Rot, Schwarz und Gelb. Diese werden vom deutschen Spezialchemie-Konzern Lanxess hergestellt und vom norwegischen Lackhersteller Jotun eigens für den Eiffelturm gemischt. Der urheberrechtlich geschützte Speziallack zeichnet sich durch ein hohes Maß an Haltbarkeit und Flexibilität aus und hält das Abplatzen unter Wind und Temperaturschwankungen so gering wie möglich. === Beleuchtung und Lichtkunst === ==== Generelle Beleuchtung ==== Bereits zur Zeit seiner Fertigstellung war der Eiffelturm mit Gaslaternen beleuchtet. An der Turmspitze befanden sich zudem zwei auf Schienen verschiebbare Leuchtprojektoren, die mit einem hellen Leuchtfeuer den Pariser Nachthimmel in die Farben der französischen Trikolore eintauchten. Im Jahr 1900 wich die Gasbeleuchtung einer moderneren elektrischen Lichterkette aus 5000 Glühbirnen, welche die Konturen des Turms nachzeichnete. 1907 brachte man auf der ersten Aussichtsplattform eine sechs Meter hohe Uhr mit leuchtenden Ziffern an. Davor signalisierte man um 12 Uhr mit einem abgefeuerten Kanonenschuss die Mittagszeit.Vom 4. Juli 1925 an leuchtete am Eiffelturm eine aus 250.000 Glühbirnen bestehende Reklame mit den auf drei Seiten des Eiffelturms vertikal angebrachten Lettern CITROËN. Die von André Citroën entworfene Werbung war damals die größte Leuchtreklame der Welt. 1933 ergänzte Citroën die Reklame um eine Uhr mit 15 Metern Durchmesser und farbigen Zeigern. Die Leuchtschrift des kostspieligen Lichtspektakels konnte bis zu einer Entfernung von 40 Kilometern entziffert werden und wurde 1936 wieder eingestellt. Zur Weltfachausstellung Paris 1937 hüllte der Architekt André Granet den Eiffelturm in Lichtstrahlen. 1985 installierte der Lichtingenieur Pierre Bideau eine neue Leuchteinheit am Eiffelturm, die zum Jahreswechsel 1986 eingeweiht wurde. Sie besteht aus 352 Natrium-Hochdruckscheinwerfern von je 600 Watt Stärke in Gruppen von vier bis sieben Leuchteinheiten und weist insgesamt eine Leistung von 320 kW auf. Die Anlage strahlt von unten bis zur Spitze und beleuchtet das Bauwerk vom Turminnern, wodurch sie die Struktur besser sichtbar macht. Der jährliche Stromverbrauch beträgt rund 680.000 kWh und sank mit der Neuinstallation um rund 40 %. Eine Glühbirne hat bei dieser Dauerbelastung eine mittlere Lebenserwartung von gut 6000 Stunden. 20.000 Lampen bringen seit dem 21. Juni 2003 von der Dämmerung bis 1 Uhr morgens – in den Sommermonaten bis 2 Uhr morgens – den Turm zu Beginn jeder Stunde für fünf Minuten wie einen Diamanten zum Glitzern.2015 erfolgte im Rahmen einer energetischen Sanierung des Turmes eine erneute Änderung der Beleuchtung. Die zuvor installierten Lampen wurden durch energiesparende LED-Beleuchtung ausgetauscht. Zudem wurde eine Wärmepumpenheizung, eine Photovoltaikanlage sowie zwei Kleinwindenergieanlagen mit Horizontalrotor eingebaut, um einen Teil des Energiebedarfs des Turms mittels erneuerbarer Energien zu decken.Am 5. April 1997 – genau 1000 Tage vor Beginn des Jahres 2000 – eröffnete Jean Tiberi als Pariser Bürgermeister einen Countdown auf 100 Metern Höhe am Schaft des Eiffelturms. Auf der Nordwestseite zum Trocadéro leuchteten Tag und Nacht 33 Meter hohe, 12 Meter breite, 50 Tonnen schwere und aus 1342 Projektoren zusammengesetzte Leuchtziffern, welche die verbleibenden Tage bis zum Jahr 2000 anzeigten. Die Neujahrsnacht am 1. Januar 2000 wurde mit einem Feuerwerk am Eiffelturm eingeläutet. Die Countdown-Anzeige wechselte den Schriftzug zu 2000 und leuchtete das ganze Jahr hindurch. ==== Anlassbezogene Sonderbeleuchtung ==== Der Eiffelturm erhält zu bestimmten Anlässen entsprechende Sonderbeleuchtungen. So strahlten im Jahr seines hundertjährigen Bestehens 1989 die Lettern 100 ans (100 Jahre) vom Turmschaft. Im Zuge des französisch-chinesischen Kulturaustauschprogramms wurde der Turm zwischen dem 24. und 29. Januar 2004 – der Zeit, in der die Chinesen Neujahr feiern – in rotes Licht getaucht. Der Einweihung der Lichtzeremonie wohnten der französische und der chinesische Kulturminister bei sowie die Bürgermeister von Paris und Peking. Das 20-jährige Jubiläum des Europatages am 9. Mai 2006 wurde am Eiffelturm mit blauem Licht gewürdigt. Am 1. Februar 2007 beteiligte sich der Eiffelturm an der Umweltschutzaktion Earth Hour und schaltete an diesem Tag von 19:55 Uhr bis 20:00 Uhr die Beleuchtung vollständig aus, um für das Energiesparen zu werben. Diese Aktion wurde im selben Jahr am 22. Oktober wiederholt. Zur Rugby-Union-Weltmeisterschaft 2007 vom 7. bis zum 20. Oktober wurde der untere Teil des Turms bis zur zweiten Aussichtsplattform in grünem Licht bestrahlt, was die Spielfläche symbolisierte. Zusätzlich wurde der Eiffelturm mit einem überdimensionalen Tor und einem Rugbyball bestrahlt. 2008 wurde von Juli bis Dezember anlässlich der Ratspräsidentschaft Frankreichs der Turm blau beleuchtet und zeigte die zwölf gelben Sterne der Europaflagge. Nach den Anschlägen vom 13. November 2015 in Paris wie auch dem Anschlag in Nizza am 14. Juli 2016 erstrahlte der Eiffelturm drei Tage lang in den französischen Landesfarben; aufgeteilt jeweils durch die drei Plattformen. Nach dem rechtsradikalen Anschlag in München 2016 leuchtete der Eiffelturm am Folgetag in den deutschen Nationalfarben Schwarz, Rot und Gold, nach den Terroranschlägen in Brüssel am 22. März 2016 in den Farben Belgiens, und von Freitag, dem 25. Februar 2022 bis zum darauf folgenden Sonntag als Zeichen der Solidarität mit der von Russland überfallenen Ukraine in den ukrainischen Farben Blau und Gelb. ==== Urheberrecht des bestrahlten Eiffelturms ==== Da in Frankreich keine Panoramafreiheit gilt, beansprucht die Betreibergesellschaft SETE das Urheberrecht für nächtliche Aufnahmen, in denen der bestrahlte Eiffelturm als Hauptobjekt zu sehen ist, obwohl am Bauwerk selbst keine Urheberrechte mehr bestehen. Sie sieht die Illumination als Kunstwerk für sich an, wobei diese Einstellung umstritten ist und gerichtlich nie bestätigt wurde. Das Gerichtsurteil von 1992, auf das sich gestützt wird, bezieht sich ausschließlich auf eine Lichtshow aus dem Jahr 1989 und nicht die tägliche nächtliche Beleuchtung des Turmes. Private Bilder ohne kommerzielle Nutzung stellen unabhängig davon generell keinen Verstoß dar. Lediglich bei Bildern mit einer kommerziellen Nutzung ist eine Genehmigung erforderlich, wenn das Bauwerk urheberrechtlich geschützt ist. Detailaufnahmen oder Panoramaaufnahmen, bei denen der Eiffelturm nur als Beiwerk sichtbar ist, können unabhängig vom Zweck genehmigungsfrei veröffentlicht werden. Dies gilt aufgrund des Schutzlandprinzips nicht für die Verbreitung z. B. in Deutschland. == Tourismus == === Einrichtungen für den Publikumsverkehr === Der Eiffelturm ist grundsätzlich an 365 Tagen im Jahr ohne Ruhetag für die Öffentlichkeit zugänglich. Lediglich bei starken Stürmen kann es zur Schließung oder zu Einschränkungen kommen. Insgesamt sind am oder für das Wahrzeichen mehr als 600 Menschen beschäftigt. Darunter sind 280 Verwaltungsangestellte, die für die SETE arbeiten. Etwa 240 sind in den Restaurationsbetrieben angestellt, 50 im Souvenirverkauf und 50 üben weitere, meist technische Tätigkeiten aus. Im Turm befindet sich eine Poststelle, und ein eigenes Einsatzkommando der Polizei bewacht das Monument. Durch die vergleichsweise hohen Einnahmen bedingt gehört der Eiffelturm zu den wenigen französischen Sehenswürdigkeiten, die ganz ohne staatliche Subventionen auskommen. === Besucherzahlen und -statistik === Im Jahr seiner Eröffnung bestiegen im Rahmen der Weltausstellung 1889 knapp 1,9 Millionen der insgesamt 32,3 Millionen Ausstellungsbesucher den Eiffelturm. In den folgenden zehn Jahren ebbte die Besucherzahl auf ein Mittel von rund 250.000 ab. Während der Weltausstellung 1900 verbuchte der Eiffelturm trotz deutlich mehr Ausstellungsbesuchern (50,8 Millionen) lediglich eine Besucherzahl von knapp über 1 Million. In den Folgejahren sank die Zahl weiter unter das Niveau der ersten zehn Jahre, bis der Turm während des Ersten Weltkrieges in den Jahren 1915 bis 1918 für die Öffentlichkeit gesperrt wurde. Mit der Wiedereröffnung 1919 stieg die Zahl der jährlichen Besucher auf knapp 480.000. Zwei markante Ausreißer gab es 1931 und 1937 zur Pariser Kolonial- bzw. zur Weltfachausstellung mit jeweils über 800.000 Gästen. Wegen des Zweiten Weltkrieges wurde der Eiffelturm 1940 geschlossen; er eröffnete im Juni 1946 wieder. Bereits Anfang der 1950er Jahre kamen rund 1 Million Besucher; in den folgenden Jahrzehnten kamen immer mehr, darunter auch viele ausländische Touristen. Mitte der 2000er Jahre kamen über 6,5 Millionen Menschen; 2011 und 2014 waren es jeweils gut 7 Millionen. Der Umsatz 2011 erreichte 85,7 Millionen Euro. Mit der gestiegenen Besucherzahl, die an Spitzentagen rund 35.000 erreicht, steigen die Wartezeiten zeitweise auf mehrere Stunden an; eine Überfüllung wurde befürchtet. Einschließlich 2011 waren seit Eröffnung über 260 Millionen Menschen auf dem Eiffelturm. Am 28. September 2017 wurde der 300-millionste Besucher gezählt.In den 2010er Jahren pendelte sich die jährliche Besucherzahl bei etwa sechs Millionen ein. Lediglich im Jahr 2020 fiel sie aufgrund der weltweiten COVID-19-Pandemie und der damit notwendigen Schließungen vieler öffentlicher Bauwerke auf gut eine Million. Laut einer statistischen Befragung von 7.989 Besuchern ergab sich 2009 folgendes Profil: Der überwiegende Teil der Besucher kam aus Westeuropa (43 %), dem metropolitanen Frankreich (29 %) und Nordamerika (11 %). Abgesehen von Frankreich waren die stärksten Besucherländer Deutschland mit 8,5 %, das Vereinigte Königreich mit 8,1 %, gefolgt von den Vereinigten Staaten (7,6 %), Spanien (7,3 %), Italien (4,8 %) und Australien (4,1 %). Teilt man das Alter der Besucher in die Kategorien „unter 25“, von „26 bis 35“, von „36 bis 45“ und „darüber“ auf, so nehmen sie jeweils rund ein Viertel ein. Über 56 Jahre waren nur 6,4 %. Der größte Teil der Besucher kam mit ihrer Familie (63,8 %); rund 23 % besuchen den Eiffelturm mit Freunden und 7,8 % in organisierten Reisegruppen. Knapp die Hälfte (46,1 %) kam mit der Metro, 17,3 % kamen zu Fuß, 12 % mit dem eigenen Auto und 7,5 % per Bus. Etwa 46 % der Befragten waren vorher schon einmal auf dem Eiffelturm. == Ereignisse == === Unfälle und Todesfälle === Die Allgegenwart des Eiffelturms im Pariser Stadtbild verleitete immer wieder Menschen zu wagemutigen Abenteuern oder sportiven Höchstleistungen. Am 13. Juli 1901 entging der brasilianische Flieger Alberto Santos Dumont mit seinem Luftschiff nur knapp einer Kollision, als er das Fluggerät zwischen Saint-Cloud und Champ de Mars manövrierte. Der Turm inspirierte einige Menschen, mit selbstgebastelten fallschirmähnlichen Konstruktionen einen Sprung vom Eiffelturm zu wagen. Zu den tragischen Figuren gehört der Schneider Franz Reichelt, der sich einen Gehrock mit breitem Cape schneiderte und Sprungfedern daran montierte. Sein angekündigtes Vorhaben lockte zahlreiche Schaulustige an. Nach einigem Zaudern sprang der gebürtige Österreicher Reichelt am 4. Februar 1912 mit seiner flugunfähigen Ausstattung von der ersten Plattform vor den Augen der anwesenden Journalisten und Zuschauer und verunglückte dabei tödlich. Von diesem Ereignis existiert sogar ein historisches Filmdokument.Der Franzose Marcel Gayet kam 1928 bei einem ähnlichen Versuch durch einen Sprung von der ersten Etage ums Leben. Weitere Versuche mit neuartigen Fallschirmen glückten, was die Macher der James-Bond-Filme zu einer entsprechenden Szene inspirierte. Der damals 23-jährige Flieger Léon Collot verunglückte im November 1926 – nach anderen Quellen am 24. Februar 1926 – bei dem Versuch, mit seinem Leichtflugzeug den Turmbogen an der Basis zu durchfliegen. Er wurde von der Sonne geblendet und verfing sich in einer Radioantenne, die damals noch zwischen Turmspitze und Boden gespannt war.Das Pariser Wahrzeichen war auch Schauplatz vieler Suizide. Der erste Selbstmord wurde am 15. Juni 1898 gemeldet, als sich eine Frau erhängt hatte. Insgesamt haben sich etwa 400 Menschen am Eiffelturm das Leben genommen. === Sportliche Leistungen und Rekorde === Der Eiffelturm regte die Menschen immer wieder zu artistischen oder sportlichen Herausforderungen an. Graf Lambert überflog am 18. Oktober 1909 den Turm erfolgreich mit seinem Flugzeug. Daneben war der Turm auch Schauplatz von nicht alltäglichen Leistungen, Spaßrekorden oder sonstigen medial beachteten Aktionen. Bereits 1905 lobte die Zeitung Le Sport einen Wettbewerb für die schnellste Besteigung bis zur zweiten Plattform aus. Am Treppenlauf-Wettbewerb am 26. November beteiligten sich 227 Läufer. Der Gewinner Forestier schaffte dies in 3 Minuten 12 Sekunden und erhielt für seine Leistung ein Peugeot-Fahrrad. Zum 75. Geburtstag des Eiffelturms kletterten im Mai 1964 die Bergsteiger Guido Magnone und René Desmaison offiziell genehmigt den Eiffelturm an seiner Außenseite hoch. Das Spektakel wurde über Eurovision gesendet.Am 4. Juni 1948 stieg ein 85-jähriger Elefant, der aus dem Zirkus Bouglione entlaufen war, bis zur ersten Plattform empor. 1983 fuhren Charles Coutard und Joël Descuns mit ihren Motocross-Motorrädern die Treppen im Eiffelturm hinauf und hinunter. Ein Jahr später gelang es Amanda Tucker und Mike MacCarthy, ohne offizielle Erlaubnis mit ihren Fallschirmen von der dritten Plattform abzuspringen. Der Neuseeländer A. J. Hackett wagte 1987 erstmals einen Bungee-Sprung von der zweiten Aussichtsplattform. Dem Hochseilartisten Philippe Petit glückte 1989 die Überquerung von rund 800 Metern auf einem vom Palais de Chaillot zur zweiten Etage des Eiffelturms gespannten Kabel über die Seine. Petit setzte sich etwa 15 Jahre für die Bewilligung dieses Vorhabens ein. Den etwa einstündigen Lauf verfolgten rund 250.000 Zuschauer. 1995 brach der Triathlet Yves Lossouarn den Rekord für die Turmbesteigung. Bis zur Spitze benötigte er 8 Minuten und 51 Sekunden. In dem vom Fernsehsender arte initiierten Sportereignis ging er als Sieger eines Starterfelds von 75 Athleten hervor. Auch Base-Jumper sprangen mehrfach vom Eiffelturm, darunter auch der bekannte Schweizer Ueli Gegenschatz, der am 1. April 2008 von der höchsten Plattform herunter sprang. === Großveranstaltungen und Konzerte === Neben den vier Weltausstellungen in den Jahren 1889, 1900, 1931 und 1937 wurde der Eiffelturm immer wieder für Konzerte oder andere Großveranstaltungen als Kulisse oder Veranstaltungsort verwendet. Am 25. September 1962 sang Édith Piaf auf der ersten Etage des Eiffelturms vor 25.000 Zuhörern ihr letztes Konzert. Gleichzeitig wurde die Veranstaltung als Werbeplattform für den Film Der längste Tag genutzt. Die Chansonniers Charles Aznavour und Georges Brassens gaben 1966 ebenfalls am Eiffelturm ein Konzert. Am 14. Juli 1995 hielt Jean-Michel Jarre unter der Schirmherrschaft der UNESCO ein Konzert für mehr Toleranz am Fuße des Eiffelturms ab. Das weltweit übertragene Konzert hatte 1,2 Millionen Zuhörer.Zum 12. Weltjugendtag 1997 versammelten sich am 21. August rund 300.000 Pilger auf dem Champ de Mars vor dem Eiffelturm, wo der damalige Papst Johannes Paul II. eine Ansprache hielt.Das Orchestre de Paris und das Boston Symphony Orchestra hielten im Mai 2000 unter der Leitung von Seiji Ozawa ein freies Konzert vor dem Eiffelturm, der zu diesem Anlass extra beleuchtet wurde. Den Konzerten wohnten rund 800.000 Menschen bei. Im selben Jahr gab am 10. Juni Johnny Hallyday vor 600.000 Zuschauern ein Freiluftkonzert, das von einer licht- und pyrotechnischen Show begleitet wurde. == Rezeption und Wirkung == === Rezeption in der Architektur === ==== Die vom Eiffelturm ausgelöste Turmbauwelle ==== Der Bau des Eiffelturms brachte der Stadt einen beträchtlichen Prestigezuwachs und löste eine weltweite Turmbauwelle aus. Viele andere Städte, in der Anfangszeit besonders in der bedeutenden Kolonialmacht des Vereinigten Königreichs Großbritannien, versuchten dem Projekt nachzueifern. Zu den ersten Nachbauten zählt der in den Jahren 1891 bis 1894 erbaute 158,1 Meter hohe Blackpool Tower im englischen Badeort Blackpool. Dieser Turm gilt trotz seiner starken Anleihen beim Eiffelturm architektonisch als gelungen und wurde in den Denkmalschutz mit der höchsten Klassifizierungsstufe (Grade I) in England aufgenommen. Der Turm erwächst aus einem großen, mehrstöckigen Basishaus im viktorianischen Stil und beherbergt eine Reihe von Attraktionen, unter anderem einen renommierten Zirkus. Der Blackpool Tower wurde in den letzten Jahren aufwändig restauriert und gilt nach wie vor als Anziehungspunkt für Touristen in der Region von Nordwest-England. Weniger erfolgreich war der nach einem ähnlichen Konzept errichtete New Brighton Tower (Baubeginn 1896); er musste, weil die Stahlgitterkonstruktion marode geworden war, in den 1920er Jahren abgetragen werden. Auch dieser 172,8 Meter hohe Turm hatte ein Basishaus mit einem vielfältigen Freizeitangebot, unter anderem befand sich dort der größte Ballsaal Großbritanniens. Beide Türme waren nach ihrer Erbauung jeweils die höchsten Bauwerke des Landes.Auch die britische Hauptstadt London schrieb 1890 ein ehrgeiziges Turmbauprojekt aus. Die Projektvorschläge sahen Türme aus Stahl zwischen 300 und 456 Meter Höhe vor. Ein Jahr später begann der Bau des Watkin’s Tower, der auf 358 Meter und damit rund 50 Meter höher als der Eiffelturm projektiert war. Der Initiator des Vorhabens, Sir Edward Watkin, versuchte ursprünglich Gustave Eiffel selbst als Konstrukteur anzuwerben; der Franzose lehnte jedoch aus patriotischen Gründen ab. Als dem Projekt die finanziellen Mittel ausgingen, so dass nur ein Turmstumpf von 47 Metern übrig blieb, wurde der Turm 1907 abgebrochen. Auch weitere Turmprojekte hatten mäßigen Erfolg. Der Turmbau in Douglas, dem Hauptort der Isle of Man, musste bereits kurz nach dem Einbau der Fundamente im Oktober 1890 wieder beendet werden. Der 70 Meter hohe pyramidenförmige Turm im Seebad in Morecambe, ein Bauwerk, das sich architektonisch allerdings deutlich vom Eiffelturm unterschied, wurde zu Beginn des Ersten Weltkrieges zugunsten der Munitionsproduktion abgerissen. Auch in Deutschland gab es teilweise abenteuerliche Projektvorschläge, den Eiffelturm zu übertrumpfen. So wurde 1913 ein fragwürdiger Entwurf zum Rheinturm – heutzutage trägt der Fernsehturm von Düsseldorf den Namen Rheinturm – vorgestellt, einem 500 Meter hoch messenden Stahlfachwerkturm mit stilistisch starker Anlehnung an den Eiffelturm. Das Vorhaben wurde nie umgesetzt. ==== Formgebender Vorbildcharakter ==== Im Januar 1890 war in St. Petersburg eine 60 Meter hohe vergängliche Nachbildung des Eiffelturms aus Eis zu bestaunen. 1891 errichtete man anlässlich der Industrieausstellung in Prag den 60 Meter hohen Aussichtsturm Petřín, der Formen des Eiffelturms aufgriff. Aber auch in Frankreich selbst eiferte man dem Pariser Vorbild nach. Der zwischen 1892 und 1894 errichtete, 85,9 Meter hohe Tour métallique de Fourvière in Lyon gibt die konstruktive Grundform des oberen Teils des Eiffelturms wieder. Der Turm war öffentlich zugänglich und beherbergte auch ein Restaurant. Seit 1953 dient er nur noch als Radio- und Fernsehturm. Mit der Ausbreitung von Funk- und Radiowellen wurden besonders ab den 1920er Jahren weitere Turmbauten notwendig. Auch wenn die Formgebung dieser Bauwerke teilweise wenig Ähnlichkeit mit dem Pariser Turm aufwies, genügte oft die Übereinstimmung von vier Turmfüßen und der konstruktionsbedingten Notwendigkeit einer Verjüngung zur Spitze hin, dass diese Bauwerke im Volksmund mit dem Eiffelturm in Verbindung gebracht wurden oder werden. Beispiele dafür sind der Sender Gleiwitz („Schlesischer Eiffelturm“), der ehemalige Sender Ismaning („Bayerischer Eiffelturm“) oder der Bismarckturm in Wiesbaden („Wiesbadener Eiffelturm“). Auch der Berliner Funkturm aus der Mitte der 1920er Jahre folgt diesem Konstruktionsprinzip. In den 1950er Jahren wurden in Japan mehrere vom Architekten Naitō Tachū (1886–1970) entworfene Fernseh- und Aussichtstürme erbaut, die ästhetisch zwar technischer ausfallen, sich aber dennoch am Design des Eiffelturms orientieren. Im Jahr 1954 entstand der Fernsehturm Nagoya, 1956 der Fernsehturm Tsutenkaku, 1957 der Fernsehturm Sapporo und 1958 der Tokyo Tower. Besonders der Tokyo Tower, der mit seinen 333 Metern den Eiffelturm sogar um einige Meter überragt, wird häufig im Zusammenhang mit der Nachahmung der baulichen Struktur genannt. Architektonisch wird er wegen seiner Proportionen in der Verjüngung der Stahlgitterstruktur nach oben und den Turmkörben sowie der Wahl der Diagonalverbände als weniger gelungen angesehen. ==== Eiffelturm-Repliken ==== Mit der Etablierung von Fernsehturmbauwerken aus Stahlbeton in vertikaler Kragarmbauweise, begonnen mit dem Stuttgarter Fernsehturm Mitte der 1950er Jahre, nahmen die gestalterischen Ähnlichkeiten der Türme zum Eiffelturm deutlich ab. Dennoch wurde der Eiffelturm in zahlreichen Repliken aufgrund seiner symbolhaften Ausstrahlung immer wieder aufgegriffen. Besonders in Frankreich und den Vereinigten Staaten sind teilweise nur wenige Meter hohe Nachbildungen in Kreisverkehren, als Werbeträger oder in Vorgärten anzutreffen. Vor allem die Freizeitindustrie hat die starke Werbekraft für sich entdeckt und versucht, durch Nachbauten immer wieder Aufmerksamkeit auf sich zu lenken. Zu den bekanntesten Repliken zählt eine 108 Meter hohe Nachbildung in dem Freizeitpark Window of the World im chinesischen Shenzhen. Eine weitere, 108 Meter hohe Nachbildung – im Maßstab 1:3 – steht 9275 km vom Original entfernt in Tianducheng, China. Der mit 165 Metern bisher höchste Nachbau steht in Las Vegas. Der Nachbau aus dem Jahr 1999 – über 100 Jahre nach Erbauung des Eiffelturms – am Hotelkomplex des Paris Las Vegas beherbergt auch ein Turmrestaurant und hat wie sein Vorbild besteigbare Aussichtsplattformen. Im selben Maßstab wurde 2016 am Cotei Strip in Macau ein weiterer Nachbau des Eiffelturms verwirklicht.Darüber hinaus wird der Pariser Eiffelturm in fast allen Miniaturenparks nachgebildet. ==== Architekturhistorische Bewertung ==== Der Eiffelturm wird dem Baustil des Historismus der Gründerzeit, den er selbst einleitete, zugeordnet, wodurch er sich von der klassischen Architektur des 19. Jahrhunderts unterscheidet. Er ist eine wichtige Wegmarke des Funktionalismus, der sich in Europa nur vereinzelt durch Ingenieurbauten wie beispielsweise den Kristallpalast in London manifestierte. Damit stellt der moderne Ingenieurbau die nach der Gotik verloren gegangene Einheit von Konstruktion und Baugestalt wieder her, was dem Eiffelturm eine vergleichbare Position einbringt wie einem historischen Sakralbau. Sein baulicher Ansatz des breit ausgreifenden Fundaments wegen der nach unten zunehmenden Beanspruchung durch Winddruck hat sein Naturvorbild bei den Bäumen, die im Boden mit einem weit verzweigten Wurzelwerk verhaftet sind und deren Stamm sich in der Höhe verjüngt. (→Architektur) Damit nimmt er nicht nur formal, sondern auch technologisch eine Vorreiterrolle ein, da bis zur Errichtung des Stuttgarter Fernsehturms praktisch alle freistehenden Sendetürme aus Stahl- oder Eisenfachwerk nach dem Vorbild Eiffels errichtet wurden. Die architektonisch herausragende Stellung und Bewertung des Eiffelturms beruht nicht nur auf seiner weitreichenden Wirkung, sondern auch darauf, dass er ohne jedes historische Vorbild entstanden ist. === Politische und gesellschaftliche Rezeption === Viele traditionelle Künstler, denen die Antike Vorbild war, sahen im Eiffelturm eine Vermischung von Kunst und Alltag und lehnten ihn deshalb vehement ab. Insbesondere wandte sich die Kulturwelt des damaligen Frankreich gegen jeden staatlichen Druck, künstlerische und industrielle Arbeitskraft zur Produktverbesserung zusammenzuführen. Der Schriftsteller Charles Baudelaire, der den Eiffelturm jedoch nicht erlebte, drückte es wie folgt aus: Damit einher ging eine Diskussion über die Radikalisierung des Kunstbegriffs; sie wurde durch die Errichtung des Eiffelturms weiter angeheizt. Der prinzipiell idealisierte Charakter der Kunst war sozial vornehmlich auf die Oberklasse bezogen und nahm mit dem neuen Pariser Wahrzeichen plötzlich auch in der Lebensgestaltung der einfachen Leute eine Rolle ein. Es verband sich die Abneigung gegenüber dem Volksvergnügen mit der Angst vor aufständischem Potential des gemeinen Volkes gegenüber der Oberschicht. Die Pariser Oberklasse hielt sich zum großen Teil vom Turm wie auch von der Massenveranstaltung der Weltausstellung fern. Der Widerwille der Oberschicht gegenüber dem „kleinen Mann“ spiegelt sich auch in der Legende wider, nach der Guy de Maupassant eigens auf den Turm gestiegen sein soll, weil dies der einzige Ort sei, an dem er ihn nicht sehen müsse, obgleich er einer der stärksten Gegner des von Hitze, Staub, und Gestank geprägten Massenbetriebs war. Die republikanische Presse war dem Projekt insgesamt gewogener als die religiös-konservativen Kräfte mit häufig monarchistischen Tendenzen. Bereits die in der Festrede zur Fertigstellung des Eiffelturms unterstrichene kollektive Leistung von Baumeistern auf der einen und Bauausführenden auf der anderen Seite stieß an einigen Stellen auf Ablehnung. Die Nähe zur Arbeiterklasse thematisierte Eiffel sogar selbst, als er sich in einem Plakat mit Maßwerkzeug, aber auch mit Arbeiterkluft zeigte und damit die Verbindung von geistiger und körperlicher Anstrengung verkörperte. Für die alten Eliten war diese Zuwendung zu den Massen eine Bedrohung ihres Führungsanspruchs.Auch außerhalb Frankreichs wurde die Erbauung des höchsten Turms der Welt rezipiert. Besonders Deutschland, das nach dem Deutsch-Französischen Krieg in einem gespannten Verhältnis zu Frankreich stand, kommentierte die Weltausstellung und den Eiffelturm implizit politisch gefärbt. Dabei wird die ambivalente Beurteilungen zwischen bewundernder Impression und einem gewissen Unwohlsein zum Tenor der Meinungen. Die Deutsche Rundschau charakterisiert den Eiffelturm emphatisch als Maschinenungeheuer. In der mythischen Parallele zum Babel-Turm schwingen neben der Begeisterung für die Bezwingung der Mächte immer auch die Bedenken mit, diese Mächte herausgefordert zu haben. Auch aus der Sicht des Journalisten Eugen von Jagow, der sogar den ätherischen Charakter der transparenten Architektur hervorhebt und sich einer gewissen Faszination nicht entziehen kann, geißelt ebendiese Form als unarchitektonisch, verwirrend und lässt sie letztlich an sich selbst scheitert. Die schiere Höhe, die den Kölner Dom fast um das Doppelte überrage, imponiere ihm, an künstlerischer Größe und Erhabenheit sei ihm das alte Kirchengebäude aber bei weitem überlegen. Seine Schlussfolgerung ist, dass es sich bei dem Turm mehr um einen Triumph der Wissenschaft als der Kunst handelt. In einer insgesamt kunstfeindlichen Zeit sei er das Symbol der Moderne. Gerade diese Gegenüberstellung von quantitativer und qualitativer Größe entspricht der vorherrschenden Argumentationsstrategie, den elitär verstandenen Kunstbegriff von der Massenkultur abzugrenzen. Die Interpretation als Sieg der Massen gegenüber dem Individuum wird zum Teil der Auseinandersetzung mit der Demokratie, die seit Alexis de Tocqueville als Amerikakritik topischen Charakter erhielt. === Rezeption in der Kunst === Ungeachtet der Kontroverse warf der Eiffelturm bereits vor seiner Errichtung seinen Schatten und inspirierte Jules Verne in dem im August 1886 erschienenen Science-Fiction-Roman Robur der Sieger, seine Eindrücke von einem Turm am Champ de Mars zu verarbeiten: Nach seiner Eröffnung gehörten die Dichter zu den ersten, die den Eiffelturm beschrieben. Der Schriftsteller Blaise Cendrars besang den „Turm, Turm der Welt, Turm in Bewegung“. Der chilenische Lyriker Vicente Huidobro beschrieb ihn als „Himmelsgitarre“ („Guitarra del cielo“) und brachte 1918 einen Gedichtband mit dem Titel Tour Eiffel heraus. Der auch als Regisseur tätige Schriftsteller Jean Cocteau veröffentlichte das Libretto Les mariés de la tour Eiffel (deutsch: Hochzeit auf dem Eiffelturm), das am 18. Juni 1921 als Ballett im Théâtre des Champs-Élysées in Paris aufgeführt wurde. Die absurde, surrealistische Geschichte eines Hochzeitspaares spielt auf dem Eiffelturm, der inmitten der namibischen Wüste steht. Der Lyriker Guillaume Apollinaire verarbeitete seine Erlebnisse des Ersten Weltkrieges mit einem Gedicht in dem Buch Calligrammes in Form des Eiffelturms. Die mit einem Willkommensgruß an die Welt beginnende Poesie endet mit gigantischen, französischen Beschimpfungen der Deutschen. Auch in der Musik wird der Eiffelturm immer wieder verarbeitet. Unter anderem besangen ihn Michel Emer in Paris, mais c’est la Tour Eiffel, Charles Trenet in Y’a d’la joie, la Tour Eiffel part en balade, Léo Ferré in Paris portait sa grande croix, Jacques Dutronc in La Tour Eiffel a froid aux pieds und Pascal Obispo in Je suis tombé pour elle. Der estnische Komponist Arvo Pärt schuf 2009 die ein Jahr später in Paris uraufgeführte symphonische Dichtung Silhouette – Hommage à Gustave Eiffel für Streichorchester und Schlagzeug, die die Architektur des Turms in der Struktur der Komposition nachbildet und zugleich durch die Gestaltung der Luftbewegungen, die durch das Gestänge fließen, poetisiert. Mit dem Eiffelturm setzte sich auch die Malerei intensiv auseinander. Er wurde in fast allen Stilen seit Ende des 19. Jahrhunderts von einer Vielzahl von international bedeutenden bildenden Künstlern gemalt. Das höchste Pariser Wahrzeichen trug gerade durch seinen technischen Charakter zu einer Debatte in der Kunst bei, welche ganz neue Ansätze für architektonische und räumliche Ausdrucksformen fand.Bereits 1888 – also noch vor seiner Fertigstellung – malte Georges Seurat ein Bild mit dem Werktitel La Tour Eiffel, das heute in den Fine Arts Museums of San Francisco ausgestellt ist. Zu den berühmtesten Malern, die den Eiffelturm malten, zählen unter anderem Henri Rousseau, Paul Signac, Pierre Bonnard, Maurice Utrillo, Marcel Gromaire, Édouard Vuillard. Raoul Dufy malte 1890 Seine Grenell, das Bild befindet sich im Privatbesitz. Marc Chagall malte 1913 Paris Through the Window, wo er das Pariser Stadtbild mit dem beherrschenden Eiffelturm und daneben einen Fallschirmspringer darstellte. Chagall griff 1954 das Motiv des Turmes ein weiteres Mal in Champ-de-Mars auf. Robert Delaunay erstellte von 1909 bis in die späten 1920er Jahre sogar eine ganze Bilderserie, in der er den Turm aus vielen Perspektiven kubistisch darstellte. Zu den bekanntesten der über ein Dutzend gemalten Bilder zählt The Red Tower aus dem Jahr 1911, das sich im Solomon R. Guggenheim Museum befindet, und La ville de Paris von 1910/12, das im Centre Georges-Pompidou hängt. Delaunay nutzte die Architektur und Lichtwirkung des Bauwerks, um den Zusammenklang und das Wechselspiel der Farben zu untersuchen.Auch zeitgenössische Maler greifen den Eiffelturm als Motiv immer wieder auf. === Rezeption im Film === Aufgrund seiner Bedeutung und Bekanntheit zieht der Eiffelturm immer wieder in Filme ein. In fast allen Filmen mit dem Handlungsort Paris ist er Erkennungsmerkmal der städtischen Skyline. Darüber hinaus war er auch oft selbst Schauplatz von filmischen Handlungen. Die Filmgenres, in denen er thematisiert wurde, reichen vom reinen Dokumentarfilm bis hin zu Kriminalfilmen, romantischen Liebeskomödien und zu Action-, Science-Fiction- und Katastrophenfilmen. Die vielfältige Einbeziehung des Eiffelturms erklärt sich zum einen aus seinem starken Symbolcharakter, zum anderen deswegen, weil Turm und Kino im selben zeitlichen Abschnitt (→ Filmgeschichte) entstanden. Zu den ersten Filmen überhaupt gehört das dokumentarisch ausgeführte Panorama pendant l’ascension de la tour Eiffel der Brüder Lumière aus dem Jahr 1897, in dem die Turmauffahrt gezeigt wird, sowie Images de l’exposition 1900 von Georges Méliès. Der erste Science-Fiction-Stummfilm, bei dem der Eiffelturm als Objekt einbezogen wurde, war Paris schläft von Regisseur René Clair aus dem Jahr 1925. Er wird aufgrund seiner irrealen Atmosphäre den Avantgardefilmen zugeordnet. Dabei erwacht ein Mann auf dem Eiffelturm nach dem Experiment eines verrückten Wissenschaftlers, findet Paris als Geisterstadt vor und sucht mit wenigen ebenfalls verschont gebliebenen Menschen nach einem Ausweg. 1928 thematisierte Clair in La Tour die Architektur und Strenge der Konstruktion des Eiffelturms.In der Liebeskomödie Ninotschka von 1939 verfolgt Graf Leon, gespielt von Melvyn Douglas, die ihm noch unbekannte Ninotschka, dargestellt von Greta Garbo, auf einem Spaziergang zum Eiffelturm, den sie besichtigen will. Dort treffen sich die beiden, und Leon erklärt Ninotschka detailreich die Vorzüge der Eisenkonstruktion. Im Thriller Der Mann vom Eiffelturm aus dem Jahr 1949 ist der Turm zentraler Handlungsort und erscheint im Filmtitel und im Plakat. Der Regisseur Burgess Meredith spielt in seinem Film selbst mit. Gegen Ende des Films kommt es zu einer spektakulären Kletterpartie auf den Eisenstreben des Wahrzeichens.Kurze Einblendungen des Eiffelturms – meist um auf die Stadt Paris hinzuweisen – gab es beispielsweise in den Filmen Casablanca, Die Brücke am Kwai, Das Glück kam über Nacht oder in Sie küßten und sie schlugen ihn. Im Truffaut-Krimi Auf Liebe und Tod schlägt Fanny Ardant als Barbara Becker mit einer eisernen Eiffelturm-Nachbildung einen Priester nieder. Die Szene wird auch im ursprünglichen Filmplakat thematisiert. In der Agentenfilmparodie Der große Blonde mit dem schwarzen Schuh wird die Spitze des Eiffelturms als Agentenhauptquartier benutzt. Im Agentenfilm James Bond 007 – Im Angesicht des Todes von 1985 findet eine spektakuläre Verfolgung statt, die mit einem Fallschirmsprung vom Bauwerk endet. Zu Beginn der Horrorkomödie American Werewolf in Paris von 1997 springt eine junge Frau, verkörpert von Schauspielerin Julie Delpy, mit der Absicht, sich das Leben zu nehmen, nachts vom Eiffelturm in die Tiefe, wird jedoch von einem jungen Mann, dargestellt von Schauspieler Tom Everett Scott, mithilfe eines Bungeejumpingseils aufgefangen. In Endzeitfilmen wurde der Eiffelturm häufig zur Steigerung der emotionalen Wirkung zerstört oder als Ruine dargestellt. Dies geschieht beispielsweise in der H.-G.-Wells-Literaturverfilmung Kampf der Welten von 1953, im US-amerikanischen Film Independence Day von 1996, in der Science-Fiction-Persiflage Mars Attacks! von 1996 und im Katastrophenfilm Armageddon – Das jüngste Gericht von 1998. Im Actionfilm G.I. Joe – Geheimauftrag Cobra wird der Eiffelturm zum Angriffsziel eines kriminellen Sprengkommandos. Im Science-Fiction-Film A World Beyond mit Schauspieler George Clooney von 2015 teilt sich der Eiffelturm in zwei Hälften und fährt unter sich aus dem sich öffnenden Fundament eine Rakete nach oben, um diese mit einem Wissenschaftler, einem Roboter-Mädchen und einer jungen Frau an Bord ins Weltall zu schießen. Der Eiffelturm und seine Geschichte waren auch mehrmals Gegenstand von Dokufiktion-Verfilmungen (→ Filme über den Eiffelturm). === Bedeutung und Würdigung als nationales Symbol === Hohe Türme haben nicht nur aufgrund der biblischen Vorlage des Turmbaus zu Babel einen kulturellen Hintergrund, sondern gelten auch als Sinnbild für die Überwindung der Schwerkraft, als Zeichen der Herrschaft über den Raum und damit auch oft über die Menschen im Umkreis. In diesem Kontext ist der ursprüngliche Widerstand gegen den Eiffelturm als ein besonders herausragendes Beispiel der beherrschenden Macht von technischen Türmen wie Hochöfen, Fördertürme, Gasometern, Silos oder Industrieschornsteinen, die im 19. Jahrhundert entstanden, zu sehen. Andererseits erfüllte Eiffel mit der Errichtung seines Turms anscheinend einen Menschheitstraum, nachdem rund 100 Jahre zuvor von Montgolfière bereits der Traum vom Fliegen verwirklicht worden war. Der Eiffelturm hatte über die architektonische Leistung hinaus eine starke Bedeutung für das französische Nationalbewusstsein. Das Bauwerk präsentiert sich als historische Erinnerung an die Französische Revolution und unterstreicht die aufstrebende Wirtschaftsmacht Frankreichs im ausgehenden 19. Jahrhundert. Der Stolz auf diese Vergangenheit und die Emanzipation von der Monarchie prägte den Geist der Weltausstellungen, die 1867 und 1878 in Paris stattgefunden hatten. Dieses offene Bekenntnis zu demokratischen Idealen und damit zur antimonarchischen Haltung stand der weltweiten Akzeptanz des Ausstellungsprojektes im Wege, besonders bei monarchisch geprägten Staaten. Im historischen Kontext hat der Eiffelturm damit die Funktion eines Revolutionsdenkmals. Eugène-Melchior de Vogue sah ihn gar als neue Kirche der innerweltlichen Vollendung. Damit verkörpert der Eiffelturm den Triumph der Französischen Revolution, die Dritte Französische Republik und das Industrielle Zeitalter. Für die breite Öffentlichkeit hatte der Turm große Anziehungskraft; vor allem die einfachen Leute aus den Provinzen Frankreichs wollten sich das Wunderwerk unbedingt ansehen. Der Eiffelturm war aber auch ein Treffpunkt für die unterschiedlichen gesellschaftlichen Schichten, die zu jener Zeit im öffentlichen Leben strikt getrennt waren. Aus diesem Grund trug das Bauwerk dazu bei, dass ganz in der republikanischen Gesinnung die Trennungslinie zwischen den Klassen verwischt wurde.Damit positioniert sich der Eiffelturm als eine moderne Form der Festarchitektur und als Medium, das auf gewaltlose Weise das französische Volk auf republikanische Werte einschwor. Weil er Frankreichs Stärke und Macht so nachhaltig repräsentiert, wird der Eiffelturm, der den Spitznamen la dame de fer (deutsch: die eiserne Dame) erhielt, wie nur wenige andere Bauwerke unmittelbar mit Frankreich in Verbindung gebracht. Bereits 1987 gaben 25 % der Franzosen bei einer Umfrage, welches historische Bauwerk ihr Land am besten repräsentiere, den Eiffelturm an, deutlich vor dem Schloss Versailles mit 17 %, dem Triumphbogen und dem Place de la Bastille mit jeweils 13 %. Der französische Philosoph Roland Barthes leitet die weltweite Allgegenwart des Turmes aus seiner Zeichenhaftigkeit her und schreibt: === Der Eiffelturm auf Briefmarken und Zahlungsmitteln === Auf der 200-Franc-Banknote war der Eiffelturm bis zur Euroeinführung auf der Vorder- und Rückseite als stilisierte Silhouette zu sehen. Während auf der Vorderseite das Porträt Gustave Eiffels zu sehen war, war auf der Rückseite zusätzlich zur Silhouette ein Blick durch die Turmbasis der vier Pfeiler dargestellt. Zum 100-jährigen Bestehen des Eiffelturms brachte 1989 die Banque de France in einer Auflage von 800.000 Stück eine 5-Franc-Gedenkmünze aus Silber heraus. Anlässlich des 125. Jahrestages der Einweihung des Eiffelturms erscheint in Frankreich am 3. März 2014 eine 50-Euro-Goldmünze in einer limitierten Auflage von 1000 Exemplaren. Die Münze zeigt auf ihrer Vorderseite das Logo der UNESCO und einen Stadtplanausschnitt, auf welchem sich der Eiffelturm befindet. Die Rückseite thematisiert die Stahlstrebenkonstruktion durch eine stilisierte und detaillierte Ansicht. Die französische Post hielt sich zu Beginn mit einer Würdigung des Bauwerks auf einer Briefmarke zurück. Das erste Postwertzeichen Frankreichs mit dem Eiffelturm als Hauptmotiv erschien im Jahr des 40-jährigen Bestehens am 5. Mai 1939 (Yvert et Tellier Nr. 429) mit einer Auflage von 1.140.000 Stück. Der Turm wird auf der roséfarbenen Briefmarke mit Frankatur 90c+50c im 45-Grad-Winkel dargestellt. Allerdings erschien bereits 1936 eine Serie mit einem Postflugzeug über dem Himmel von Paris, in der man zur Silhouette der Stadt dazugehörig im Hintergrund den Eiffelturm sah. Zum Hauptmotiv wurde er wieder 1989 zu seinem 100-jährigen Bestehen sowie 2009 und 2010. Zu einigen Kongressen und Veranstaltungen, die in Paris stattfanden, wurde der Eiffelturm in den vergangenen Jahrzehnten immer wieder als Symbol auf Briefmarken verwendet. Beispielsweise kam zu den Weltmeisterschaften im Gewichtheben 2011 in Paris eine große Blockausgabe heraus, in welcher der Eiffelturm grafisch als Gewichtheber dargestellt eine Hantel hebt, dessen beide Hantelscheiben je eine runde Briefmarke zum Nennwert 60 bzw. 89 Cent haben. Insgesamt trugen bis 2011 weit über 30 französische Briefmarken den Eiffelturm als Motiv. === Kommerzialisierung, Vermarktung und Werbung === Die werbetechnische Vermarktung des Eiffelturms begann bereits vor seiner Fertigstellung. Gustave Eiffel organisierte in regelmäßigen Abständen entsprechende Maßnahmen – nicht zuletzt um ein Gegengewicht zu den immer wieder laut werdenden Proteststimmen zu schaffen. Schon im Frühjahr 1886 wurden Artikel, Broschüren und verschiedene Abbildungen produziert und verbreitet. Das machte den Turm bereits vor seiner Eröffnung weltberühmt. Das Ausmaß bewog den Journalisten und Dramaturgen Henry Buguet (1845–1920) bereits am 13. September 1888 in Le Soir zu folgender entrüsteten Frage: Die massenweise Herstellung von Eiffelturm-Souvenirs setzte bereits mit Eröffnung des Wahrzeichens ein. Bereits damals kannte die Formenvielfalt kaum Grenzen. Dies wurde auch von der heutigen Betreibergesellschaft fortgesetzt. Neben Bastelbögen, Anhängern, Kerzen, Schneekugeln, Geschirr oder Lampenfüßen werden zahllose Turmmodelle aus unterschiedlichen Materialien feilgeboten. Im Eiffelturm gibt es insgesamt acht offizielle Souvenirläden auf den ersten beiden Ebenen verteilt und im Erdgeschoss am Turmfuß; sie führen über 700 verschiedene Produkte. Nach Angaben des Betreibers kaufen jährlich über eine Million Besucher in den Läden ein. Die Nachfrage an Eiffelturm-Reproduktionen wird auch von zahlreichen fliegenden Schwarzmarkthändlern rund um den Turm zu befriedigen versucht. Nachdem bereits in den 1920er und 1930er Jahren die Automarke Citroën durch eine auffällige Leuchtreklame am Eiffelturm auf sich aufmerksam gemacht hatte, nutzten viele namhafte französische Marken das berühmte Wahrzeichen für ihre Werbezwecke, darunter Air France, La Samaritaine, Yves Saint Laurent, Jean Paul Gaultier, Nina Ricci, Alain Afflelou oder Campari. Der Eiffelturm bediente schon früh die universelle Idee vom materiellen und sozialen Fortschritt und erfülle damit gleichsam einen „julesvernesken“ Traum über die Natur im Sinne des Aufklärungsjahrhunderts, so Architekturhistoriker Bertrand Lemoine. Das erkläre den Erfolg als Werbeträger, der auch für Modernität und Ehrgeiz stehe. Dabei scheint die Wirkungskraft des Eiffelturms bis heute ungebrochen, denn auch zeitgenössische Werbung nimmt nach wie vor Bezug auf das Bauwerk, wie in den 2000er Jahren in einem Werbespot von IBM. Viele Werbemotive mit dem Eiffelturm haben die Gemeinsamkeit, dass sie entweder auf einen außergewöhnlichen Erfolg hinweisen oder die Stadt Paris beziehungsweise das Land Frankreich hervorgehoben wird. Sowohl für den Erfolg im Allgemeinen wie für Frankreich steht der Eiffelturm als Sinnbild. Beispielsweise zeigte 1952 die Air France in einem Werbeplakat alle bedeutsamen Pariser Bauten vereint in den dominierenden Umrissen des Eiffelturms, dahinter ist eine stilisierte Landmasse zu sehen, die für das gesamte Land steht. Das vom französischen Grafiker Bernard Villemot (1911–1989) entworfene Plakat ist inzwischen zu einem Klassiker geworden und wird heute noch als Reproduktion angeboten. Im Jahr 2023 griff erneut die Fluggesellschaft Air France den Eiffelturm als sehr prominenten Part in einem Werbeclip auf. Eine elegant gekleidete Frau mit endlos langer roter Schleppe steigt dabei den Eiffelturm bis zur Spitze hoch, von wo aus sie ihre Schleppe in den Wind wirft und diese flaggenähnlich die Spitze des Turms ziert und sich in das Logo der Fluggesellschaft verwandelt. Der Werbefilm wird vom Lied Les moulins de mon cœur, gesungen von Juliette Armanet, untermalt. Verschiedene Spielwarenhersteller wie MB/Hasbro oder Ravensburger haben von der berühmten Pariser Sehenswürdigkeit ein 3D-Puzzle herausgebracht. Lego stellte aus 3428 Teilen einen Bausatz des Eiffelturms im Maßstab 1:300 her. Das aufgebaute Modell aus dem Jahr 2007 hat eine Höhe von 1,08 Metern und ist mittlerweile eine begehrte Rarität. Von einer koreanischen Firma wird der Turm auch als Modellbausatz im Maßstab 1:160 angeboten. Das rund zwei Meter hohe Bronzemodell wiegt etwa 25 Kilogramm. Darüber hinaus gibt es von verschiedenen anderen Herstellern auch Modelle aus Papier, Holz oder Streichhölzern aber auch Poster, Bilder und Wandtattoos. Bereits die Olympischen Sommerspiele 1900 in Paris warben im offiziellen Plakat mit dem Eiffelturm zur Veranstaltung. Der 1969 gegründete französische Fußballverein Paris FC führt als Emblem den Eiffelturm; er wurde im Laufe der Jahre immer wieder abgewandelt. Das aktuelle Logo zeigt den Turm in stilisierten Pinselstrichen. Auch der 1970 gegründete Fußballverein Paris Saint-Germain führt im Emblem den Eiffelturm. In den Niederlanden hatte sich sogar eine in der 1. Basketballliga spielende Mannschaft (2005–2013) nach dem Eiffelturm benannt. Die in ’s-Hertogenbosch ansässigen EiffelTowers Den Bosch, die seit 2019 Heroes Den Bosch heißt, trugen ebenfalls den Pariser Turm in ihrem Logo. === Eiffels Nachlass === Zu den umfassendsten technischen Darstellungen des Eiffelturms gehört die am 1. Juni 1900 erschienene Publikation von Gustave Eiffel selbst. Der aufwändig auf Velinpapier gedruckte Großfolio-Band in zwei Ausgaben mit dem Titel La tour de trois cents mètres (deutsch: Der 300-Meter-Turm) ist in acht Teile gegliedert und präsentiert das Bauwerk in rund 4300 Plänen, Zeichnungen und doppelseitig erstellten Tafeln sowie zeitgenössischen Fotografien. Die Pläne sind generell im Maßstab 1:200 abgedruckt, kleinere Details werden im Maßstab 1:50, 1:20 oder 1:10 wiedergegeben. Alle Bauteile sind mit Größenangaben versehen und der Text behandelt präzise die Ursprünge, das Bauprinzip, die Kosten, die Ausführung der Arbeiten an den Fundamenten und der Metallkonstruktion sowie die Erneuerungsarbeiten für die Weltausstellung 1900. Sogar dem Aufstellen der Gerüste widmet Eiffel ein eigenes Kapitel. Diese sehr umfassende Darstellung spiegelt den enzyklopädischen Geist in der Tradition der Aufklärung wider. Neben den technisch-ingenieurwissenschaftlichen Aspekten galt es auch als Würdigung an alle Mitarbeiter. Alle 326 Ingenieure, Vorarbeiter und Arbeiter, die an Entwurf und der Erbauung des Eiffelturms beteiligt waren, werden am Anfang des Buches namentlich erwähnt. Gleichzeitig diente das monumentale Buch nicht nur als Bestandsaufnahme, sondern auch als Bilanz, Geschenk und Werbemittel, in welchem Eiffel seine Leistung für die Nachwelt erhalten wollte.Für den Erbauer selbst symbolisierte der Turm das „Jahrhundert der Industrie und der Wissenschaft“, das seiner Ansicht nach besonders in der nachrevolutionären Zeit Frankreichs begann. Aus diesem Grund ließ er zur Erinnerung die Namen von 72 Wissenschaftlern an das Tragwerk des Turms anbringen. Gleichzeitig nutzte er alle bis dahin verfügbaren technischen Mittel wie beispielsweise die elektrische Beleuchtung und die Aufzugtechnik, um im Bauwerk die industriell-wissenschaftlichen Errungenschaften zu vereinen. == Frequenzen und Programme == Der Eiffelturm ist der höchste Fernsehturm Frankreichs und gleichzeitig wichtigster Sender für terrestrische Übertragung in der Region Paris, vor allem für UKW-Rundfunkprogramme sowie digitales Fernsehen. Der Turm ist Träger für über 120 Sendeantennen. Die Übertragungsinfrastruktur wird von TDF betrieben. Derzeit (2013) strahlt der Eiffelturm über 30 Radio- und 45 Fernsehprogramme aus. Vor dem Zweiten Weltkrieg wurden vom Eiffelturm Radioprogramme im Lang- und Mittelwellenbereich abgestrahlt. So erfolgte von 1922 bis 1926 die Ausstrahlung auf einer Frequenz von ungefähr 115 kHz – unterhalb des heutigen Rundfunk-Langwellenbereichs, von 1929 bis 1934 auf 207,4 kHz – im heutigen Langwellenbereich – und von 1934 bis 1940 auf 1455,3 kHz – im oberen Mittelwellenbereich. === Radio === === Digitales Fernsehen (DVB-T) === === Analoges Fernsehen (SECAM) === Vor der Umstellung auf DVB-T diente der Sendestandort weiterhin für analoges Fernsehen (→ SECAM): == Film == Der Eiffelturm – Revolution in Stahl. Dokumentarfilm, Frankreich, 2017, 43:25 Min., Buch und Regie: Mathieu Schwartz, Produktion: Martange Production, deutsche Erstsendung: 30. März 2020 bei ZDFinfo, online-Video und Inhaltsangabe aufrufbar bis zum 14. August 2021. Der Turm des Monsieur Eiffel, Drama (Fernsehfilm), Frankreich, Belgien, Schweiz 2005, 95 Minuten, Regie: Simon Brook. Operation Eiffelturm [Originaltitel: The Hostage Tower], Action, Krimi, USA 1984, 89 Minuten, Regie: Claudio Guzmán. Der Mann, der den Eiffelturm verkaufte, Fernsehfilm, Deutschland 1970, 90 Minuten, Regie: Michael Braun. == Literatur == === Gustave Eiffels Publikationen === Projet d’une tour colossale en fer de 300 mètres de hauteur. Paris, 1884 (Projektbeschreibung). Tour en fer de 300 mètres de hauteur destinée à l’Exposition de 1889. Paris, 1885 (Erste offizielle Publikation zum Eiffelturm). La tour de 300 mètres. Paris: Lemercier, 1900 – 2 vol. T I: Texte TII: Planches. (Digitalisat) Origines de la Tour. La tour Eiffel en 1900. Paris, Masson, 1902. Recherches expérimentales sur la résistance de l’air exécutées à la tour Eiffel. L. Maretheux, Paris 1907. L’Architecture métallique. Maisonneuve et Larose, Paris 1996, ISBN 2-7068-1189-7. === Bücher anderer Autoren === Roland Barthes: Der Eiffelturm, Aus dem Französisch von Helmut Scheffel, Suhrkamp Taschenbuch 4632, Berlin 2015, ISBN 978-3-518-46632-2. Jill Jonnes: Eiffel’s Tower: The Thrilling Story Behind Paris’s Beloved Monument and theExtraordinary World’s Fair That Introduced It, Penguin, New York, NY / London 2010, ISBN 978-0-14-311729-2 (englisch). Bertrand Lemoine: The Eiffel Tower. Gustave Eiffel: La Tour de 300 Mèters. Taschen, Köln 2008, ISBN 978-3-8365-0903-9 (verschiedene Sprachen). Joseph Harriss: The Tallest Tower: Eiffel And The Belle Epoque, Unlimited Publishing, Bloomington, IN 2008, ISBN 978-1-58832-102-2. Meg Greene: Building World Landmarks – Eiffel Tower, Blackbirch Press, San Diego, CA 2003, ISBN 978-1-56711-315-0 (englisch). Bertrand Lemoine: Die phantastische Geschichte vom Eiffelturm, Éditions Ouest-France, Rennes 1998, ISBN 978-2-7373-2238-9. Nigel Hawkes: Wunderwerke, Südwest Verlag, Augsburg 1998, ISBN 3-86047-250-X, S. 76–79. Erwin Heinle, Fritz Leonhardt: Türme aller Zeiten – aller Kulturen. DVA, Stuttgart 1997, ISBN 3-421-02931-8, S. 214–218. Jean-Kyeong Hong: Die Folgen der industriellen Revolution für die Baukunst: der Entwicklungsprozess der neuen Bautypen zwischen Coalbrookdalebrücke 1779 und Eiffelturm 1889, [Köln] 1994, DNB 943067499 (Dissertation Universität Köln 1994, 159 Seiten). Bertrand Lemoine: La Tour de Monsieur Eiffel, Gallimard, Paris 1989, ISBN 978-2-07-053083-0 (französisch). Jeannot Simmen (Hrsg.): Cent mille fois. Wettbewerb: 100 Jahre Eiffelturm, König, Köln 1987, ISBN 3-88375-062-X. Roland Barthes, André Martin: Der Eiffelturm. Rogner & Bernhard, München 1970, ISBN 3-920802-34-9. Jules Simon: Guide officiel de la Tour Eiffel, Chaix, Paris 1893. (hier online (französisch)) === Fachartikel === Hubert Chanson: Hydraulic Engineering Legends Listed on the Eiffel Tower, in: Great Rivers History, ASCE-EWRI Publication, Vortrag im Rahmen des History Symposium of the World Environmental and Water Resources Congress 2009, Kansas City, USA, 17. bis 19. Mai 2009, J.R. ROGERS Ed., ISBN 978-0-7844-1032-5, S. 1–7. (hier online) Dietrich Erben: Zur Architekturikonologie des Eiffelturms: Das Kolossale, das Gestell und der Chronotopos. In: INSITU 2020/2, S. 253–268. Hubertus Kohle: Der Eiffelturm als Revolutionsdenkmal. In: Gudrun Gersmann, Hubertus Kohle (Hrsg.) Frankreich 1871–1914: Die Dritte Republik und die Französische Revolution, Franz Steiner Verlag, Stuttgart 2002, ISBN 978-3-515-08057-6, S. 119–132, doi:10.11588/artdok.00000120. Hubertus Kohle: Die Apotheose des Eisens und der Eisenkonstruktion. Der Eiffelturm in Deutschland. in: Jenseits der Grenzen. Französische und deutsche Kunst vom Ancien Régime bis zur Gegenwart. DuMont Verlag, Köln, 2000, ISBN 978-3-8321-5341-0, S. 262–268. (hier online (PDF; 765 KB); PDF; 783 kB) P. Sandori: The Eiffel Tower is 100 years old, In: Canadian architect, 5/1989, S. 47–52. E. Schneider: Daten zum Eiffelturm, Stahlbau, 1989, ISSN 0038-9145. Patrick Weidmann, Iosif Pinelis: Model equations for the Eiffel Tower profile: Historical perspective and new results. In: Comptes Rendus Mecanique, 332, Juli 2004 (Ausgabe 7), ISSN 1631-0721, S. 571–584. (hier abrufbar) Karl Friedrich Walbrach: 110 Jahre Eiffelturm. In: Bautechnik, 76, 1999, Heft 8, S. 696–699, ISSN 0932-8351. Anna Diercks: Ein „Triumph der Nackten Tatsachen“: Der Eiffelturm auf der Weltausstellung 1900; ub.uni-muenchen.de (PDF; 251 kB) Eiffel Tower. In: Encyclopædia Britannica. 11. Auflage. Band 9: Edwardes – Evangelical Association. London 1910, S. 133 (englisch, Volltext [Wikisource]). Eiffelturm. In: Brockhaus Konversations-Lexikon 1894–1896, 5. Band, S. 779–780. == Weblinks == Offizielle „Tour-Eiffel“-Seiten: französisch, englisch, deutsch (eingeschränkte Inhalte) All you need to know about the Eiffel Tower (PDF; 432 kB; englische Broschüre), in französischer Sprache (PDF) paris.fr: Insolite: la Tour Eiffel vue d’en haut. (französisch) – Interview mit dem Fotografen Stéphane Compoint über das Zustandekommen von ungewöhnlichen Bildern direkt von der Turmspitze === Rundfunkbeiträge === Deutschlandfunk: Der schiefe Turm von Eiffel, Radiosendung von Suzanne Krause, 13. April 2011 Deutschlandfunk: Im Dienste der eisernen Dame. Hinter den Kulissen des Eiffelturms, Radiosendung von Suzanne Krause, 6. August 2011 Deutschlandfunk: Besuch bei einer alten Dame. Den Eiffelturm aus einer anderen Perspektive entdecken, Radiosendung von Suzanne Krause, 30. Oktober 2011 === Panoramen und Bilder === Historische Bilder zum Eiffelturm: Allgemeine Bildersammlung (Memento vom 2. Februar 2013 im Internet Archive), Hochauflösende Bilder zu den Bauarbeiten Hochauflösende und teilweise 360-Grad-Bilder auf eiffel-tower.com 360-Grad-Blick vom Eiffelturm Bilder des Fotoreporters Stéphane Compoint von der Antennenmontage und den Malerarbeiten == Einzelnachweise ==
https://de.wikipedia.org/wiki/Eiffelturm
John Adams
= John Adams = John Adams (* 19. Oktoberjul. / 30. Oktober 1735greg. in Braintree, Suffolk County, Province of Massachusetts Bay; † 4. Juli 1826 in Quincy, Suffolk County, Massachusetts) war einer der Gründerväter der Vereinigten Staaten und von 1789 bis 1797 der erste Vizepräsident sowie nach George Washington von 1797 bis 1801 der zweite Präsident der Vereinigten Staaten. Adams entstammte einem puritanischen Elternhaus und erlernte nach einem Studium am Harvard College den Anwaltsberuf. In Boston kam er während der frühen Amerikanischen Revolution in Kontakt mit seinem Cousin Samuel Adams und den Sons of Liberty. Anfangs noch loyal zur britischen Verfassung stehend, näherte er sich den nach einer Loslösung vom Mutterland strebenden Kolonisten zunehmend an. Als Mitglied des Kontinentalkongresses von 1774 bis 1778 trieb er die Unabhängigkeit der Dreizehn Kolonien vom Königreich Großbritannien voran. Zusammen mit Thomas Jefferson, Benjamin Franklin und anderen war er an der Konzeption der Unabhängigkeitserklärung der Vereinigten Staaten beteiligt. Zwischen zwei diplomatischen Missionen im Königreich Frankreich arbeitete Adams in der Heimat die Verfassung von Massachusetts aus. Danach führte er in Europa Verhandlungen mit dem Königreich Großbritannien, die im Jahr 1783 in den Frieden von Paris mündeten. Anschließend war Adams als Repräsentant für die junge Republik in unterschiedlichen Staaten tätig und ab 1782 der erste Botschafter der Vereinigten Staaten in den Niederlanden, und ab 1785 erster Botschafter Amerikas in London. Bei der ersten amerikanischen Präsidentschaftswahl im Jahr 1789 wurde Adams als Zweitplatzierter im Electoral College Vizepräsident unter George Washington. Bei den Wahlen 1792 konnte er dieses Amt gegen George Clinton verteidigen. Im entstehenden First Party System gehörte Adams zu den wichtigsten Vertretern der Föderalistischen Partei. Als deren Kandidat besiegte er bei den Präsidentschaftswahlen im Jahr 1796 knapp Thomas Jefferson von der Demokratisch-Republikanischen Partei. Die Amtszeit von Adams wurde vom Quasi-Krieg mit dem revolutionären Frankreich und den Intrigen von Jefferson und Alexander Hamilton gegen ihn überschattet. Die bedeutsamste Gesetzgebung seiner Präsidentschaft waren die Alien and Sedition Acts. In einem stark polarisierenden Wahlkampf unterlag Adams 1800 Jefferson. Er zog sich danach ins Privatleben zurück und erlebte noch kurz vor seinem Lebensende, wie sein ältester Sohn John Quincy Adams im Jahr 1824 zum Präsidenten gewählt wurde. == Leben == === Elternhaus und Bildung === Adams wurde am 19. Oktober 1735 als ältester von drei Söhnen in Braintree geboren, dem heutigen Quincy. Er stammte von Henry Adams ab, der um 1636 in die Massachusetts Bay Colony ausgewandert war. John Adams gehörte zur vierten Generation der Familie Adams, die in den Dreizehn Kolonien zur Welt kam. Adams’ Vater John (1691–1761) war ein Schuster und Farmer ohne formale Bildung, der knapp 20 Hektar Land bewirtschaftete und 14 Amtszeiten lang als Dekan in der kongregationalistischen Ortskirche diente. Im Jahr 1734 heiratete er Susanna Boylston (1708–1797), die einer Medizinerfamilie aus Brookline entstammte. Adams wuchs in einfachen und häuslich beengten Verhältnissen auf. Sein Vater legte auf Bildung Wert und schickte ihn nach der Grundschule auf eine Lateinschule, die Mutter brachte den Söhnen jeweils im fünften Lebensjahr das Lesen bei. Die Erziehung insgesamt war vom Puritanismus geprägt, wobei Adams sein Leben lang den Vater als Vorbild betrachtete. Die Eltern förderten Adams als Erstgeborenen besonders und hielten ihn von der Mitarbeit auf der Farm frei.Im Jahr 1751 besuchte er das Harvard College, wo er Griechisch, Latein, Logik, Rhetorik und Physik studierte. Als Senior belegte er die Fächer Moralphilosophie und Metaphysik. Nach dem Abschluss des Studiums kehrte er im Jahr 1755 nach Braintree zurück, trat dort aber kein Pfarramt an, wie es sein Vater gewünscht hatte und es der damals übliche Berufsweg für Harvard-Absolventen war. Möglicherweise wurde Adams durch die Angriffe abgeschreckt, denen sich der liberale Theologe Jonathan Mayhew zu dieser Zeit ausgesetzt sah. Nach einer kurzfristigen Tätigkeit als Lateinlehrer an einer Grammar School in Worcester entschied er sich im Sommer 1756, beim führenden Anwalt von Worcester, James Putnam, in die Lehre zu gehen. Während dieser Zeit begann Adams Tagebuch zu führen, was er bis zu seinem Lebensende fortsetzte. === Anwaltspraxis === In den nächsten zwei Jahren arbeitete Adams weiter als Lateinlehrer und bildete sich nebenberuflich im Rechtswesen fort. Nachdem er die Anwaltszulassung im August 1758 erhalten hatte, kehrte Adams nach Braintree zurück, das im Justizdistrikt von Boston lag, um dort zu praktizieren und sich einen Namen zu machen. Als Förderer konnte er unter anderem James Otis Jr. und Jeremiah Gridley gewinnen, während sich Robert Treat Paine zu seinem stärksten Konkurrenten als Anwalt entwickelte. Ab dem Jahr 1759 war Adams regelmäßig in Massachusetts unterwegs und nahm ein breites Spektrum von Rechtsfällen an. In Braintree führte Adams für die Abstinenzbewegung eine erfolgreiche Kampagne gegen Tavernen und erreichte die Beschränkung auf drei Schanklizenzen im Ort. Mit großem Interesse verfolgte er im Winter des Jahres 1761 einen Fall von Otis, der Bostoner Händler vertrat, die sich gegen die Durchsuchung ihrer Lager und Schiffe durch Zollbeamte des Königreichs Großbritannien wehrten. Adams erkannte, dass der Ausgang dieses Prozesses weitreichende Konsequenzen für die Autorität der Krone in den Dreizehn Kolonien hatte. Später sah er in der mitreißenden Rede von Otis gegen britische Willkür während dieses Verfahrens die Geburtsstunde der amerikanischen Unabhängigkeit.Nach ersten Erfolgen vor Gericht erhielt Adams die Zulassung für den Superior Court of Judicature. Der Biograph John E. Ferling nennt als Gründe für Adams’ Aufstieg neben puritanisch geprägter Leistungsorientierung eine sehr gute Beobachtungsgabe, mittels der er das Verhalten von Zeitgenossen studierte und zum Teil imitierte. So orientierte er seinen Schreibstil an Otis und dem kongregationalen Prediger Peter Thacher.Im Frühjahr und Sommer des Jahres 1763 erschienen sieben Essays von Adams unter dem Pseudonym Humphrey Ploughjogger in der Boston Gazette, die lokalpolitische Streitigkeiten um die Ernennung eines Repräsentanten für die Province of Massachusetts Bay in London spöttisch kommentierten. Weitere von ihm anonym veröffentlichte Artikel in diesem Jahr gingen der Frage nach, wie eine Regierung die schädlichen Triebe der Menschen kontrollieren könne, vor allem wenn sich diese in Machtpositionen befänden. Adams spricht sich für eine Balance aus Monarchie, Aristokratie und Parlamentarismus aus, womit er sich politisch an den Whigs orientiert. Im Januar 1765 schloss sich Adams einer Studiengruppe von Anwälten um Gridley an, die regelmäßig über Klassiker der Rechtsliteratur diskutierte. Aus seinen dortigen Redebeiträgen entstanden weitere Zeitungsartikel.Wegen einer Variolation etwas später als geplant heiratete Adams am 25. Oktober 1764 Abigail Smith. Nach seiner Hochzeit zog das Ehepaar in die direkt neben seinem Geburtshaus gelegene Saltbox, die Adams von seinem 1761 verstorbenen Vater geerbt hatte. Der Brautvater war ein Pastor und die Familie Smith insgesamt relativ wohlhabend, da sie Einkünfte aus zwei Bauernhöfen bezog und vier Sklaven besaß. So war die Mutter Abigails gegen die Heirat, da Adams in ihren Augen kein standesgerechter Gatte für ihre Tochter war. Adams und Abigail Smith, schon damals eine willensstarke und belesene Persönlichkeit, waren 1759 einander vorgestellt worden und seit dem Jahr 1761 miteinander befreundet. Aus der Ehe, die erst der Tod schied, gingen fünf Kinder hervor, darunter der spätere Präsident John Quincy Adams. Für die damalige Zeit im ländlichen Milieu Neuenglands ungewöhnlich führten sie eine gleichberechtigte Ehe, wie sie eher unter den wohlhabenden Pflanzern der Südstaaten anzutreffen war. === Beginn der Amerikanischen Revolution === Als das britische Parlament im April 1764 den Sugar Act beschloss, erhoben sich in den Dreizehn Kolonien einige Stimmen dagegen. Als eine der besten Abhandlungen gegen dieses Zollgesetz gilt die von James Otis, dessen Aktionen Adams später als besonders prägend für sein Denken zu dieser Zeit bezeichnete. Der 1765 folgende Stamp Act war der erste Versuch der Krone, die Dreizehn Kolonien direkt zu besteuern. Er führte nach seinem Bekanntwerden zu Gewaltausbrüchen in Boston und der Brandschatzung des Hauses von Gouverneur Thomas Hutchinson im August des gleichen Jahres. Adams reagierte auf diese Straßenproteste unter der Führung der Sons of Liberty irritiert und besorgt. Als bekanntester Gegner des Stempelsteuergesetzes außerhalb der Assembly, in der die konservativen Tories ihre Mehrheit an die Country party der Händler und Bauern verloren hatten, profilierte sich Samuel Adams. Dieser Cousin Adams’ vereinte verschiedenste Gruppen in einer Protestbewegung, aus der die Patrioten hervorgingen, und inspirierte Adams dazu, sich aktiv in den Widerstand einzubringen.Adams’ Rolle im Kampf gegen den Stamp Act in den Jahren 1765 und 1766 blieb gering und unauffällig, wohl auch, um den geschäftlichen Erfolg seiner Anwaltstätigkeit, der sich eingestellt hatte, nicht zu riskieren. Für die Grundbesitzer seines Wohnorts Braintree fertigte Adams eine im Oktober 1765 in der Boston Gazette veröffentlichte Instruktion ihres Delegierten in der Assembly an, die das Stempelsteuergesetz als verfassungswidrig und sicherheitsgefährdend verurteilte. In diesem Text erhob er erstmals die zentrale Forderung „No taxation without representation“. In kurzer Zeit wurde dieser Forderungskatalog von 40 weiteren Städten übernommen. Adams nahm an regelmäßigen Treffen der Sodalitas teil, bei der führende Bürger der Stadt über Gesetzes- und Ordnungsfragen und ihre Bedeutung für eine freiheitliche Gesellschaft debattierten. Daraus entstand eine Serie von vier Artikeln in der Boston Gazette, die Adams zwischen Ende August und dem 21. Oktober 1765 erneut unter dem Pseudonym Humphrey Ploughjogger und ohne Titel veröffentlichte.Später wurden sie als Eine Dissertation über das kanonische und feudale Recht in London herausgegeben. Dieser Essay gilt als eine der hervorragendsten Schriften Adams. In der Artikelserie entwickelte Adams einige Ideen, auf die er sich während der Amerikanischen Revolution immer wieder bezog. Die Kernthese ist, dass die Vorfahren der amerikanischen Siedler freiheitsliebende Verfolgte gewesen seien, die in der Neuen Welt eine Gesellschaftsordnung entwarfen, die sich von Feudalismus und Kirchenrecht befreie. Für die Absicht Londons, die Bewohner der Dreizehn Kolonien zu verknechten, führt er als Beispiel Pläne der Krone an, einen Bischof der Church of England in Amerika einzusetzen. Nur wenige Sätze widmen sich dem Stamp Act, den er als weniger gefährlich beurteilt. In der Dissertation nennt er das Widerstandsrecht der Kolonien als ein Mittel, aus der zeitgenössischen Dekadenz zur Tugendhaftigkeit des alten Neuengland zurückzukehren.Mit dem Inkrafttreten des Stamp Acts am 1. November 1765 waren die Gerichte für längere Zeit geschlossen und Adams vorerst erwerbslos. Als im Mai 1766 die Aufhebung des Stempelsteuergesetzes bekannt wurde, konnte er seine Anwaltstätigkeit fortsetzen. Adams schloss aus diesem Ereignis, dass sich der intensive Protest in den Dreizehn Kolonien gegen den Stamp Act ausbezahlt habe und sich die Zukunftsperspektiven der Kolonisten verbessert hätten. So verloren im Massachusetts General Court des Jahres 1766 in großer Zahl diejenigen ihre Sitze, die den Stamp Act unterstützt hatten, während Gegner wie zum Beispiel Thomas Cushing und Samuel Adams in die Assembly einzogen. Adams erlebte eine große Enttäuschung, als er zwar erfolgreich für den Stadtrat kandidierte, aber bei der Wahl zum Assembly-Delegierten für Braintree dem probritischen Ebenezer Thayer unterlag. Im Januar und Februar 1767 veröffentlichte Adams eine Serie von fünf Essays in der Boston Gazette, in denen er die Widerstandsbewegung der Kolonisten gegen den Stamp Act verteidigte, die zuvor von seinem Freund Jonathan Sewall kritisiert worden war.Als nach dem Bekanntwerden der Townshend Acts das Schiff des Kaufmannes John Hancock wegen Verdachts auf Schmuggel im Jahr 1768 beschlagnahmt wurde, fungierte Adams als dessen Verteidiger im folgenden Prozess, der im Dezember 1768 fallen gelassen wurde. Durch die anschließende harte Politik des Kolonialministers für Amerika, Wills Hill, 1. Marquess of Downshire, der unter anderem General Thomas Gage anwies, drei Regimenter der British Army nach Boston zu beordern, spitzte sich die Lage weiter zu. Abgesehen von kleineren Unterstützungsleistungen im Geheimen für die Sons of Liberty hielt sich Adams in dieser Zeit im Hintergrund. Ein Angebot von Sewall, ihm als Generalanwalt der Province of Massachusetts Bay nachzufolgen, lehnte er daher sofort ab. Die Anwesenheit der britischen Rotröcke in Boston mündete am 5. März 1770 im Massaker von Boston. Im Prozess gegen die Soldaten fungierte Adams gemeinsam mit Josiah Quincy II als deren Verteidiger. Seine Motive, diesen riskanten Auftrag anzunehmen, mit dem er seinen Ruf und seine persönliche Sicherheit aufs Spiel setzte, sind bis heute nicht vollkommen geklärt. Bei der Auswahl der Geschworenen nutzte er gekonnt seine Rechte als Verteidiger aus und sicherte laut dem Rechtshistoriker Hiller Zober somit seinen späteren Erfolg bereits in dieser Phase. Nach fünf Verhandlungstagen wurde der kommandierende Offizier Thomas Preston freigesprochen, nachdem die Zeugen der Anklage sich im Kreuzverhör in Widersprüche verwickelt hatten, ein Feuerbefehl nicht hatte nachgewiesen werden können und die Zeugen der Verteidigung belegt hatten, wie unübersichtlich und bedrohlich die Situation für die Rotröcke gewesen sei. Im anschließenden Prozess gegen die Soldaten im November 1770 gelang es Adams erneut, die damalige Bedrohungslage für die Soldaten sowie erste Übergriffe auf diese aus der Menge herauszustellen, wobei er beim dunkelhäutigen Opfer Crispus Attucks eine frühe Form des Racial Profiling anwandte. Am Ende wurden sechs der Angeklagten freigesprochen und lediglich zwei zur Brandmarkung eines Fingers verurteilt. Zwar verlor Adams nach dem Prozess viele seiner Klienten, langfristig jedoch gewann er dadurch an Ansehen.Noch im Jahr 1770 war Adams mit überwältigender Mehrheit in die Assembly gewählt worden, wo er sich der Fraktion der Whigs anschloss. Er war nun mit über 450 Fällen pro Jahr und Mandanten wie zum Beispiel den Gouverneuren John Wentworth oder Francis Bernard, 1. Baronet einer der gefragtesten Anwälte der Province of Massachusetts Bay. Zu seinen Mandanten gehörten um ihre Freilassung bemühte Sklaven, die seinen Rat einholten. Während der vier Sitzungen der Assembly von 1770 bis 1771 beteiligte Adams sich an der schmähkritischen Kampagne gegen Gouverneur Hutchinson, gegen den er eine tiefe Abneigung empfand. Adams war von der britischen Verfassung und einer Lösbarkeit des Konflikts innerhalb dieses Ordnungsrahmens überzeugt, weshalb er die Forderung nach einer amerikanischen Unabhängigkeit noch nicht teilte. Ein Kollaps anfangs des Jahres 1771 bewog Adams dazu, nicht wieder für die Assembly zu kandidieren.Adams zog sich für die nächsten knapp zwei Jahre aus der Politik zurück. Im Januar und Februar 1773 veröffentlichte er eine Serie von sieben Artikeln zu der Entscheidung Londons, Gouverneure selbst zu entlohnen, und gab zu bedenken, dass die fragliche Maßnahme die Unabhängigkeit der Gerichte gefährde. Zur gleichen Zeit entwarf er auf eine Anfrage der Assembly zusammen mit Samuel Adams und Joseph Hawley eine Replik auf die Forderung Gouverneur Hutchinsons, alle Dreizehn Kolonien hätten dem absoluten Machtanspruch Westminsters Folge zu leisten. Als Alternative dazu führten sie die Unabhängigkeit vom Mutterland an.Laut dem Biographen Ferling kam Adams, der bis dahin die Kolonien als eine Miniaturausgabe Englands gesehen hatte, ausweislich seiner Tagebucheinträge im Jahr 1773 endgültig zu der Überzeugung, dass das Mutterland eine zutiefst korrupte, despotische und sittenlose Nation sei. Diesem stellte er ein idealisiertes Selbstbild im Sinne des Amerikanischen Exzeptionalismus gegenüber. Damit verknüpft hatte Adams ein zyklisches Geschichtsverständnis, demzufolge junge Nationen rein und tugendhaft seien und im Alter moralisch verfielen. Das Bild vom dekadenten und korrupten Mutterland war von zentraler Bedeutung für das Eintreten Adams für die Unabhängigkeit. Andere Historiker nennen für Adams’ Transformation zum amerikanischen Revolutionär frühere, aber auch spätere Ereignisse, wobei die Mehrheit das Jahr 1765 als entscheidend ansieht. Sein Enkel Charles Francis Adams, Sr. charakterisierte diese Wandlung als sehr widerwillig, während Howard Zinn, noch drastischer, Adams als einen mit der Revolution sympathisierenden Aristokraten beschreibt, der verhindern wollte, dass diese zu sehr in Richtung Demokratie ging.Adams wurde in den Jahren 1773 und 1774 in den Governor’s Council gewählt, jedoch die Ernennung in beiden Fällen durch den Gouverneur verweigert. Als Adams am 17. Dezember 1773 von der Boston Tea Party erfuhr, erkannte er sofort die epochale Bedeutung und befürwortete die Aktion als alternativlos. Nach den Intolerable Acts Londons, die sich anfangs ausschließlich gegen Massachusetts richteten, verständigten sich die Kolonien auf eine gemeinsame Versammlung. Am 17. Juni 1774 bestimmte die Assembly eine vierköpfige Delegation für diesen Ersten Kontinentalkongress, in die neben Adams, James Bowdoin, Robert Treat Paine und Samuel Adams gewählt wurden. === Kontinentalkongress === Auf dem Weg nach Philadelphia im August 1774 verließ Adams erstmals Neuengland. In der Delegation hatte Thomas Cushing den kurzfristig ausgefallenen Bowdoin ersetzt. In den Tagen vor der ersten Kongressversammlung begegnete Adams erstmals George Washington und stellte fest, dass unter den Delegierten zwar Konsens über die den Amerikanern zustehenden Rechte herrschte, aber knapp die Hälfte von ihnen sehr ängstlich war, der Krone die Stirn zu bieten. Diese konservative, vorwiegend aus den Mittelatlantikstaaten stammende Fraktion gruppierte sich um Joseph Galloway, John Jay, James Duane und William Livingston. Die zuverlässigsten und couragiertesten Verbündeten außerhalb Neuenglands fand Adams in den Delegationen der Province of South Carolina und Kolonie Virginia. Um Konsens zwischen den zwölf teilnehmenden Kolonien erreichen zu können, hielt sich das wegen seiner Radikalität verrufene Massachusetts zu Anfang des Kontinentalkongresses zurück. Die in der Carpenters Hall tagende Versammlung richtete ein 24-köpfiges Grand Committee ein, dem Adams angehörte. Diese Kommission hatte den Auftrag, eine Stellungnahme zu den Rechten Amerikas zu verfassen.Adams tat sich nicht als Fraktionsführer hervor, konnte aber in einigen kontroversen Diskussionen Kompromisslösungen vermitteln. Am 14. Oktober 1774 verabschiedete die Versammlung als Ergebnis des Grand Committees die zehn Artikel lange Declaration of Rights and Grievances. Adams’ Beitrag zu dieser Erklärung ist in der Präambel und dem vierten Artikel erkennbar, der das Recht der Kolonien auf eigene Steuergesetzgebung betont, solange sie nicht im britischen Parlament repräsentiert sind.Im Dezember 1774 wurde er durch den Massachusetts Provincial Congress, der die durch die Krone aufgelöste Assembly ersetzt hatte, in die Delegation für den Zweiten Kontinentalkongress gewählt. Nach zehn Jahren war Adams wieder im Stadtrat von Braintree, wo er für die Aufstellung von drei Minutemen-Kompanien sorgte. Als Antwort auf die Essays des Torys Massachusettensis, hinter dem sich der die Beschlüsse des Ersten Kontinentalkongresses scharf verurteilende Anwalt Daniel Leonard verbarg, antwortete Adams als Novanglus in zwölf Briefen, die zwischen Januar und April 1775 veröffentlicht wurden. Mit diesen Essays präsentierte er sich landesweit als die kommende Führungsfigur des Kontinentalkongresses.Adams, der sich ab dem Jahr 1773 intensiv mit Staatstheorien und insbesondere der Republiktheorie von James Harrington beschäftigt hatte, entwickelte als Novanglus eine radikale neue Grundlage für die Autonomie der Kolonien. Diese sollten als Republiken mit Zweikammersystem und Mehrpersonenexekutive freiwillig eine Bindung an die britische Krone eingehen. Die Novanglus-Briefe fanden zur Zeit ihrer Veröffentlichung nur geringe Beachtung, bestimmten aber vier Jahre später wesentlich die Konzeption der Verfassung von Massachusetts. Der Biograph John P. Diggins streicht im Gegensatz zu Richard Alan Ryerson den polemischen Charakter der Briefe und die Tatsache heraus, dass von allen referenzierten Philosophen nur John Locke ein Recht auf Revolution kennt.Vor der Veröffentlichung des letzten Briefes kam es am 19. April 1775 zum Ausbruch des Amerikanischen Unabhängigkeitskriegs. Adams beobachtete eine tiefe Spaltung innerhalb der Bevölkerung, die er auf jeweils ein Drittel Patrioten, Loyalisten und Neutrale schätzte. Ihm war klar, dass die Beziehung zu England irreversibel zerbrochen war und ein langer Krieg bevorstand. Auf dem Zweiten Kontinentalkongress ab Mai 1775 beendete die Delegation aus Massachusetts wegen des Kriegsausbruches die selbst auferlegte Zurückhaltung. Noch im ersten Monat kristallisierten sich zwei Fraktionen heraus, von denen die eine unter der Führung von John Dickinson einen Ausgleich mit London anstrebte, während die andere unter der Führung von Adams für ein Fortführen des Krieges und Unabhängigkeit eintrat. Er entfaltete in den nächsten zwei Jahren extremen Arbeitseifer und saß in 90 Ausschüssen, wobei er in 25 den Vorsitz führte. Aufgrund des Einflusses und des allgemeinen Respekts, den er sich erworben hatte, wurde er vom Kontinentalkongress in die wichtigsten Kommissionen gewählt. Ab Juni 1776 leitete Adams das wichtige fünfköpfige Board of War, das die Kriegsführung der Kontinentalarmee bis ins Detail organisierte und aus Roger Sherman, Benjamin Harrison V, James Wilson sowie Edward Rutledge bestand. So war dieser Ausschuss unter anderem für Rekrutierung, Nachschub, Bewaffnung, Fortifikation und Besetzung von Offiziersdienstposten zuständig. Mit großer Sorge verfolgte er den Ausbruch einer Pockenepidemie im Juli 1776 in Boston und hoffte, die Kontinentalarmee mit strengeren Hygienevorschriften davor schützen zu können. Im Urteil mancher Historiker wurde Adams mit dem Vorsitz im Board of War de facto zum Secretary of War.Zwar behauptete Adams später, Hauptverantwortlicher für die Ernennung von Washington zum Commanding General of the United States Army am 15. Juni 1775 gewesen zu sein, der Historiker Joseph J. Ellis sieht darin aber eine Übertreibung des eigenen Einflusses. Im Herbst 1775 überzeugte Adams den Kontinentalkongress anlässlich einer Anfrage der New Hampshire Colony davon, die kolonialen Rechtsordnungen zu verlassen und jeweils eigene Verfassungen mit entsprechenden Organen zu bilden. Er setzte sich energisch für das Aufstellen der United States Navy ein, die der Kongress am 13. Oktober 1775 verabschiedete, und war am Entwurf ihrer Bordvorschriften maßgeblich beteiligt. Die Mitarbeit im Marineausschuss, bei der er Stephen Hopkins kennen und schätzen lernte, bezeichnete Adams später als die angenehmste dieser Jahre. Noch Anfang Februar 1776 hatten die Delegationen aus sechs Kolonien die Order, keiner Unabhängigkeit zuzustimmen. Die Stimmung im Kontinentalkongress kippte erst in Richtung Unabhängigkeit, als am 27. Februar die Proclamation of Rebellion von Georg III. bekannt wurde, welche die Kolonisten als Verräter brandmarkte, und, noch folgenreicher, im Januar die Streitschrift Common Sense von Thomas Paine erschienen war. Adams begrüßte zwar das Pamphlet, befürchtete aber, dass dessen radikaler Egalitarismus für einen postkolonialen Staatsaufbau schädlich sei. Daher veröffentlichte Adams die Schrift Thoughts on government, die er zuerst für William Hooper festgehalten hatte, als dieser ihn um Anregungen für die Neukonzeption der Verfassung der Province of North Carolina angefragt hatte. In dieser Schrift kritisiert er Paines Konzept von Volkssouveränität, das ein Einkammersystem sowie deutlich eingeschränkte Exekutivgewalt vorsieht, und betont, dass gesellschaftliches Glück nicht aus einem unregulierten Volkswillen entstehe, sondern durch Herrschaft von Gesetzen und Institutionen. Diese seien ein Schutzmechanismus gegen die destruktiven Triebe der menschlichen Natur, von der Adams ein eher pessimistisches Bild hatte. Er spricht sich für eine Balance zwischen Exekutive und Legislative aus, die durch ein Vetorecht des Staatsoberhaupts, jährliche Wahlen und eine auf Lebenszeit ernannte Richterschaft gewährleistet werden solle. Von allen Werken Adams wurden die Thoughts on government das einflussreichste.Am 10. Mai 1776 brachte Adams mit Richard Henry Lee einen Gesetzesentwurf ein, der die Dreizehn Kolonien dazu aufforderte, neue Regierungen zu bilden, und wider Erwarten einstimmig angenommen wurde. Dies richtete sich gegen die Assembly der Province of Pennsylvania, in der immer noch eine Mehrheit gegen die Unabhängigkeit und für eine Verständigung mit Großbritannien war. Am 15. Mai verabschiedete der Kontinentalkongress nach einer dreitägigen intensiv geführten Debatte die von Adams konzipierte Präambel zum Gesetzesentwurf vom 10. Mai, welche die Kolonien zur vollständigen Selbstverwaltung ermächtigte und sie dazu verpflichtete, jegliche Staatsgewalt der Krone zu beseitigen. Für Adams war diese Resolution gleichbedeutend mit der Unabhängigkeit der Dreizehn Kolonien. In Pennsylvania bewirkte dieses Ereignis einen unmittelbaren patriotischen Stimmungsumschwung. Nachdem am 20. Mai die Assembly von Pennsylvania in Anwesenheit von Adams durch eine Volksversammlung von 4000 Bürgern ihrer Delegation grünes Licht gegeben hatte, für die Unabhängigkeit zu stimmen, knickten die letzten der noch widerstrebenden Kolonien ein. Am 7. Juni 1776 sekundierte er Lee beim Einbringen der sogenannten Lee Resolution, die erklärte, dass die Kolonien freie und unabhängige Staaten seien, dies laut Naturrecht sein sollten, und gemeinsam eine Konföderation bilden sollten. Als der Kontinentalkongress in der Debatte dazu keine Einigung erzielen konnte, wurde vier Tage später Adams zusammen mit Thomas Jefferson, Benjamin Franklin, Robert R. Livingston und Sherman in das Komitee der Fünf berufen, um zu dieser Resolution eine Präambel zu erarbeiten, die spätere Unabhängigkeitserklärung. In der ersten Ausschusssitzung wurde Adams angeboten, die Federführung für den Entwurf zu übernehmen, was er aufgrund seiner hohen Arbeitsbelastung ablehnte, weshalb Jefferson diese Aufgabe übernahm. Er legte Adams nach zwei Wochen eine an der Virginia Declaration of Rights orientierte Skizze zur Prüfung vor, an der Adams nur geringfügige stilistische Änderungen vornahm. Am 28. Juni präsentierte das Komitee der Fünf dem Kontinentalkongress den Entwurf. Drei Tage später fand die Debatte zur Wiedervorlage der Lee Resolution statt, in der Adams in einer zweistündigen, unvorbereiteten Rede auf die Einwände von Dickinson gegen die Unabhängigkeit einging. Diese Rede war nicht nur die bis dahin bedeutsamste im Kontinentalkongress, sondern auch die beste in Adams’ politischem Leben. Am nächsten Tag blieben die Delegation der Provinz New York sowie Dickinson und Robert Morris als Gegner der Unabhängigkeit der Abstimmung fern, so dass die Lee-Resolution von den anwesenden zwölf Kolonien einstimmig angenommen wurde. Am 3. und 4. Juli debattierte der Kontinentalkongress über die Unabhängigkeitserklärung des Komitees der Fünf und verabschiedete diese nach redaktionellen Änderungen und einer Kürzung des Texts um ein Viertel, wobei die Passage zur Ächtung des Sklavenhandels komplett gestrichen wurde. Noch im Monat der Unabhängigkeitserklärung begann der Kontinentalkongress über die zukünftige Verfassung zu debattieren. Im September 1776 erschien General John Sullivan, der in der Schlacht von Long Island von den Briten gefangen genommen worden war, vor dem Kontinentalkongress und überbrachte ein Verhandlungsangebot der Befehlshaber und Brüder Admiral Richard Howe, 1. Earl Howe und General William Howe, 5. Viscount Howe. Adams sprach sich gegen Gespräche mit dem Gegner aus, da er eine erneute Polarisierung der Bevölkerung befürchtete. Er wurde überstimmt und gemeinsam mit Franklin und Rutledge als Abgesandter nach Staten Island beordert, wo sie am 11. September die Howes trafen. Da diese als Bedingung für den Frieden nur die Unterwerfung unter die Krone akzeptierten, wofür sie im Gegenzug Straferlass für einen Teil der Rebellen anboten, endeten die Unterhandlungen noch am gleichen Tag. Noch im September erhöhte Adams die Anreize für eine längere Verpflichtungszeit und brachte mit Jefferson ein Gesetz durch den Kontinentalkongress, das die Strafen bei Dienstvergehen drastisch verschärfte. Außerdem schlug er vergeblich die Gründung einer Militärakademie vor. Der unerfreuliche Kriegsverlauf führte dazu, dass er seine Ablehnung von Militärallianzen mit europäischen Mächten überdachte.Nach einigen Wochen bei der Familie in Braintree kehrte Adams im Januar 1777 zum Kontinentalkongress zurück, der aufgrund des Kriegsgeschehens für einige Zeit nach Baltimore auswich und ab Februar wieder in Philadelphia tagte. Adams arbeitete in 26 Ausschüssen mit, von denen der Board of War der zeitintensivste war und ihm keine Gelegenheit bot, sich in die Konzeption der Konföderationsartikel einzubringen. Er blickte optimistisch in die Zukunft, da er angesichts des Unvermögens der Briten, in den ersten beiden Kriegsjahren einen Sieg herbeizuführen, eine Niederlage der Kontinentalarmee im dritten Jahr für noch unwahrscheinlicher erachtete. Zudem war Adams zuversichtlich, dass bald das Königreich Frankreich oder Spanien den Amerikanischen Unabhängigkeitskrieg ausnutzte, um das Vereinigte Königreich in Europa in einen Krieg zu ziehen. Nach der amerikanischen Niederlage in der Schlacht von Brandywine floh Adams mit dem Kontinentalkongress vor der anrückenden britischen Armee aus Philadelphia über Lancaster nach York. Als General Horatio Gates kurz darauf die British Army in der Schlacht von Saratoga besiegte, erkannte Adams darin sofort den entscheidenden Wendepunkt im Unabhängigkeitskrieg. === Diplomatische Missionen === Ende November 1777 wählte der Kontinentalkongress Adams in Abwesenheit zum Diplomaten Amerikas im Königreich Frankreich. Dort sollte er mit Franklin und Arthur Lee als Delegationsmitgliedern am französischen Hof mögliche Allianzen und finanzielle Unterstützung aushandeln und den bisherigen amerikanischen Vertreter Silas Deane ersetzen. Die Wahl von Adams erfolgte deshalb, weil er einer der ersten Delegierten des Kontinentalkongresses gewesen war, der Ideen zur Außenpolitik der Dreizehn Kolonien entwickelt hatte. So hatte er das Recht auf Bildung auswärtiger Allianzen in die Lee Declaration vom Juni 1776 eingebracht. Ein von Adams als Vorsitzendem des Committee of Treaties (deutsch Ausschuss für Staatsverträge) entworfener Modellvertrag für die bilateralen Beziehungen zum Königreich Frankreich war im September 1776 vom Kontinentalkongress verabschiedet worden und wurde für die nächsten 25 Jahre das Muster für zwischenstaatliche Abkommen Amerikas. Auf seiner Reise nach Paris wurde Adams von seinem zehnjährigen Sohn John Quincy begleitet, mit dem er sich am 15. Februar 1778 auf der USS Boston einschiffte. Dies geschah aus Sorge vor britischen Spionen unter größter Geheimhaltung in der Morgendämmerung und außerhalb des Hafens von Boston. Bereits nach kurzer Fahrt verfolgte sie eine britische Fregatte, die sie erst nach drei Tagen abhängen konnten. Beim Aufbringen des englischen Handelsschiffes Martha verfehlte eine gegnerische Kugel Adams nur knapp und traf den Besanmast hinter ihm. Ende März erreichten sie Bordeaux und zogen weiter nach Paris.Noch bevor er von Bord gegangen war, erfuhr Adams, dass Lee, Franklin und Deane am 6. Februar in Versailles mit Ludwig XVI. bereits einen Allianz- und Handelsvertrag abgeschlossen hatten und sich somit seine Hauptaufgabe erledigt hatte. Enttäuscht übernahm Adams, der mit Franklin das Hôtel de Valentinois bewohnte, die Dokumente- und Finanzverwaltung der amerikanischen Kommission und lernte Französisch. Oberste Priorität hatte für ihn, mehr Unterstützung durch die französische Marine im Unabhängigkeitskrieg zu gewinnen, da er wie Washington die Seemacht als einen möglicherweise kriegsentscheidenden Faktor ansah. Vorerst blieb ihm in dieser Sache ein Erfolg versagt, da Frankreich zu dieser Zeit eine Invasion Englands plante. Trotz seiner klassischen republikanischen Ideale war er neben der Betriebsamkeit von der Opulenz des Pariser Lebens beeindruckt und lernte unter anderem den Philosophen Marie Jean Antoine Nicolas Caritat, Marquis de Condorcet und den Ökonom Anne Robert Jacques Turgot kennen. Dem König wurde Adams am 8. Mai 1778 offiziell vorgestellt.Der wichtigste Kontaktmann für die amerikanische Delegation war der in Geheimdiplomatie und Intrigen versierte Charles Gravier, comte de Vergennes. De Vergennes stieß von Beginn an auf großes Misstrauen bei Adams und bevorzugte den geselligeren und weniger bestimmten Franklin als Gesprächspartner. Adams, anfangs ein großer Bewunderer von Franklin, sah dessen sorglosen Umgang mit Geld und potenziellen Spionen in seinem persönlichen Umfeld sowie den Mangel an Dienstbeflissenheit zunehmend kritisch. Am 14. September 1778 bestimmte der Kontinentalkongress die Auflösung der Kommission und ernannte Franklin zum alleinigen Botschafter am französischen Hof. Die offizielle Meldung erreichte Adams am 12. Februar 1779. Die Abberufung ohne Zuweisung eines neuen Dienstpostens oder Bitte um Rückkehr erlebte er als schwere Demütigung und tiefe Kränkung. Am 22. April ging er mit seinem Sohn in Nantes an Bord der USS Alliance. Ihr Auslauf verzögerte sich jedoch, da sie als Teil einer amerikanisch-französischen Expeditionsflotte unter dem Kommando von Marie-Joseph Motier, Marquis de La Fayette und John Paul Jones die englische Westküste attackieren sollte. Zum Ärger von Adams, der aus Gründen der Geheimhaltung über die Hintergründe nicht informiert worden war, konnte er die Heimfahrt erst am 17. Juni an Bord der Sensible antreten, einer Fregatte der französischen Marine. Mit an Bord war Anne César de la Luzerne, der neue französische Botschafter in den Vereinigten Staaten.Zurück in Amerika berichtete er dem Kontinentalkongress über die noch zu klärenden Sachfragen mit Paris. Adams erstellte ab Mitte September 1779 innerhalb von knapp sechs Wochen einen Entwurf der Verfassung von Massachusetts, der sich an seinen Thoughts on Government und der Virginia Declaration of Rights orientierte und ein Zweikammersystem aus Checks and Balances vorsah. Die Rechtsprechung war unabhängig und dazu ermächtigt, die Handlungen der beiden anderen Staatsgewalten einer Normenkontrolle zu unterziehen. Eine historische Neuerung war die im Verfassungsentwurf formulierte Pflicht des Staates, die Erziehung und kulturelle und wissenschaftliche Bildung seiner Bürger sicherzustellen. Für die meisten der späteren bundesstaatlichen Verfassungen, auch in den Mittelatlantik- und Südstaaten, fungierte der Entwurf von Adams als Muster, wobei die auf Lebenszeit ernannten obersten Bundesrichter als größte Errungenschaft gelten. Auf einem Bankett zu Ehren des französischen Botschafters im August 1779 in Harvard regte Adams an, als Gegenstück zur American Philosophical Society in Philadelphia in Boston die American Academy of Arts and Sciences zu gründen, was ein Jahr später umgesetzt wurde. Im Oktober 1779 ernannte ihn der Kontinentalkongress einstimmig zum Gesandten mit der Vollmacht, einen Friedensvertrag mit dem Königreich Großbritannien auszuhandeln. Bei der erneuten Überfahrt nach Europa, die ab dem 15. November auf der Sensible begann, begleiteten ihn die beiden ältesten Söhne sowie Francis Dana als offizieller Sekretär.Wegen einer Schiffsleckage ab Ferrol den Landweg nutzend, erreichte Adams Paris erst am 9. Februar 1780. Dort hielt ihn der um seine diplomatische Entscheidungsautonomie fürchtende und insgesamt missgünstig gesinnte de Vergennes hin und bestand darauf, dass Adams seine Vollmacht, einen Friedensvertrag mit London auszuhandeln, nicht publik machte, obwohl seine Mission ein offenes Geheimnis war. Daher betrieb Adams vorerst Pressearbeit für die amerikanische Sache und veröffentlichte anonym Artikel im Mercure de France und in britischen Zeitungen. Das Verhältnis zu de Vergennes verschlechterte sich bis zum Sommer 1780 so sehr, dass dieser ab dem 29. Juli nur noch Franklin als Gesprächspartner akzeptierte. Ausgelöst hatte dies ein von de Vergennes wahrscheinlich als Vorwand bewusst initiierter Streit um die Abwertung des US-Dollars und Adams’ Weigerung, sich für Ausnahmeregelungen für französische Händler einzusetzen.Bereits am 27. Juli 1780 hatte sich Adams mit beiden Söhnen auf den Weg in die Republik der Sieben Vereinigten Provinzen gemacht, um dort an Stelle von Henry Laurens, der von den Briten festgesetzt worden war, einen Freundschafts- und Handelsvertrag auszuhandeln. Dazu hielt er sich weniger in der Hauptstadt Den Haag als in Amsterdam auf, wo die eigentliche Macht lag. Viele der dortigen Intellektuellen erkannten Parallelen zwischen dem amerikanischen Unabhängigkeitskrieg und dem eigenen Freiheitskampf im Achtzigjährigen Krieg, weshalb sie wie die Mehrheit der Niederländer mit der Amerikanischen Revolution sympathisierten. Nachdem er von offizieller Seite monatelang nicht empfangen wurde, nicht zuletzt da die Republik der Sieben Vereinigten Provinzen vom britischen Schutz ihrer Seehandelswege abhängig waren, wandte sich Adams im April 1781 entgegen der diplomatischen Gepflogenheiten in einem bald europaweit veröffentlichtem Schreiben direkt an die Generalstaaten. Im Sommer schickte er seinen gesundheitlich angeschlagenen Sohn Charles zurück nach Amerika, während Quincy in das Russische Kaiserreich aufbrach, wohin Dana als Botschafter berufen worden war. Die Generalstaaten warteten noch bis zum Bekanntwerden der Kapitulation von Charles Cornwallis, 1. Marquess Cornwallis in Yorktown im November 1781, bevor ein verbindlicher Handelsvertrag geschlossen und Amerika von Den Haag am 19. April 1782 diplomatisch anerkannt wurde. Adams’ offizieller Empfang als Botschafter durch den Statthalter Wilhelm V. fand drei Tage später statt. Im Juni handelte er mit drei niederländischen Banken einen Kredit über 5 Mio. Gulden aus und im Oktober einen Handelsvertrag mit der Republik der Sieben Vereinigten Provinzen. Später bezeichnete Adams den Erfolg seiner Mission in den Vereinigten Niederlande als seine größte politische Leistung. Ende Oktober 1782 kehrte Adams nach Paris zurück, um gemeinsam mit Franklin und John Jay einen Friedensvertrag mit Großbritannien auszuhandeln. Die Order des Konföderationskongresses, sich de Vergennes unterzuordnen und die Frage der Unabhängigkeit hintan zu stellen, erboste sowohl Adams als auch Jay. Entgegen dieser Instruktion und mit dem Einverständnis von Franklin begannen sie ab dem 30. Oktober Verhandlungen mit dem Königreich Großbritannien, ohne vorher de Vergennes zu konsultieren. Dabei bestanden sie auf die Anerkennung der amerikanischen Unabhängigkeit durch London im Vertragstext. Weitere offene Fragen waren die Entschädigungsforderungen von geflohenen Loyalisten, amerikanische Privatschulden bei britischen Händlern und, für Adams besonders wichtig, die Fischereirechte in der Neufundlandbank. Der Grenzdisput wurde schnell beigelegt, als Großbritannien den Vereinigten Staaten das Territorium zwischen Appalachen und Mississippi überließ und Amerika die Schifffahrtsrechte auf diesem Fluss einräumte. Auf Drängen Adams’ wurden die Schulden nicht einfach gegen die erlittenen Kriegsschäden aufgerechnet, wie von Franklin und Jay vorgeschlagen, sondern ein Passus zur Zahlung eingefügt, der sich später jedoch als nicht praktikabel erwies. Nachdem Ende November die Entschädigung der Loyalisten in die Zuständigkeit der Bundesstaaten verwiesen wurde, blieben die Fischereirechte als letzte offene Frage, die die Verhandlungen fast zum Scheitern brachte. Als die Briten Amerika zwar nicht das „Recht“ aber die „Freiheit“ zugestanden, auch in der Neufundlandbank zu fischen, kam es am 30. November 1782 zum Abschluss eines Vorvertrags. Am 3. September 1783 schließlich unterzeichneten Adams, Franklin und Jay als Vertreter der Vereinigten Staaten den endgültigen Frieden von Paris.Während dieser Phase bat Adams Abigail vergeblich, zu ihm und Quincy zu kommen, der mittlerweile aus Sankt Petersburg zurückgekehrt war. Sie hatte große Angst vor der Überfahrt und dem Verlassen ihrer Heimat und erst als ihr Vater gestorben war und sie erfuhr, dass Adams im Oktober 1783 in Paris schwer erkrankt war, reiste sie im Juni 1784 mit ihrer ältesten Tochter „Nabby“ nach Europa. Adams hatte unterdessen zur Genesung eine Residenz außerhalb von Paris in Auteuil bezogen, wohin er Abigail und „Nabby“ unmittelbar nach ihrem Wiedersehen in London am 7. August 1784 mitnahm. Jefferson, der Franklin als Botschafter in Frankreich nachfolgte, war ein regelmäßiger Gast im Hause der Adams’. Zwischen ihm und Adams aber auch Abigail entwickelte sich eine enge Freundschaft. Ihre diplomatische Mission, gemeinsam mit Franklin mit großen europäischen Nationen Handelsverträge abzuschließen, gestaltete sich zäh; dies gelang nur im Juli 1785 mit Preußen.Ende April 1785 erfuhr Adams von seiner Ernennung zum ersten Botschafter Amerikas in London. Im Monat darauf zog er mit Abigail und „Nabby“ nach London, während Quincy nach Amerika zurückkehrte, um in Harvard zu studieren. Am 1. Juni stellte sich Adams während einer Privataudienz im St James’s Palace König Georg III. vor. Das Treffen verlief erfreulich und war von gegenseitigem Respekt geprägt. Adams mietete eine Residenz am Grosvenor Square an, aus der in der Folge die amerikanische Botschaft wurde. Bis auf regelmäßige Teilnahmen am Hofzeremoniell und einige wenige Kontakte zu britischen Regierungsoffiziellen wurde Adams von der Londoner Gesellschaft ignoriert und in der englischen Presse Opfer einer Hetzkampagne. Insgesamt war die antiamerikanische Stimmung im Königreich Großbritannien ähnlich hoch wie während des Unabhängigkeitskriegs. Er konnte weder von Premier William Pitt dem Jüngeren noch Außenminister Francis Osborne, 5. Duke of Leeds Zusicherungen erreichen, die verbliebenen Truppen aus Amerika zurückzuziehen, privilegierte Handelsbeziehungen zu schaffen oder Entschädigung für Sklaven und Eigentum zu zahlen, die britische Offiziere aus Amerika verbracht hatten.Im Juli 1785 kam es zum ersten Konflikt mit dem Barbareskenstaat, als im Mittelmeer zwei amerikanische Schiffe von Barbaresken-Korsaren gekapert und die Besatzung versklavt worden war. Auf Order des Konföderationskongress hin zahlte Adams an einen Boten des Sultans ein Lösegeld. Im Januar 1787 vereinbarten Adams und Jefferson mit Marokko jährliche Schutzgeldzahlungen. Parallel traten im amerikanischen Staatenbund soziale Unruhen auf, die in der Shays’ Rebellion im Westen von Massachusetts ihren Höhepunkt fanden. Adams war ob dieser Entwicklung besorgt und befürchtete zum einen, dass die europäischen Mächte die Bundesstaaten gegeneinander ausspielten, zum anderen, dass, wie in Rhode Island und North Carolina geschehen, die Schuldner mit einer legislativen Mehrheit ihre Gläubiger mit wertlosem Papiergeld ausbezahlten und die Gerichtsbarkeit außer Kraft setzten. Wie von ihm vorhergesehen, reagierte die Zentralgewalt darauf mit einer deutlichen Stärkung ihrer Autorität, die die Philadelphia Convention im September 1787 mit Verabschieden der Verfassung der Vereinigten Staaten herstellte. Als Botschafter in London schrieb Adams die dreibändige A defence of the constitutions of government of the United States of America. Diese umfangreiche, in den Jahren 1787–1788 veröffentlichte Monographie behandelt politische Philosophie und ist zu einem großen Teil eine historisch gelehrte Wiedergabe seiner Thoughts on government von 1776. Adams untersucht unterschiedliche Arten von Republiken und identifiziert das Westminster-System als ideale Regierungsform, die in der Tradition von Cicero stehe und in Amerika erfolgreich von der Macht des Adels befreit worden sei. Die Forderung nach Gleichheit aller Menschen bewertet er als illusorisch, da Individuen sich in der Realität immer hinsichtlich ihrer Fähigkeiten, Mittel und Motive unterscheiden werden. A defence of the constitutions of government of the United States of America wurde anfangs wohlwollend rezipiert, aber in Amerika von einigen Kritikern als Beweis dafür gesehen, dass Adams ein Monarchist sei. Im März 1788 verließ Adams mit Frau und Tochter England und kehrte in die Heimat zurück, nachdem er über ein Jahr zuvor Jay um seine Abberufung als Botschafter gebeten hatte. === Vizepräsidentschaft === Am 17. Juni 1788 erreichte Adams Boston, wo er nach knapp neun Jahren Abwesenheit von mehreren tausend Bürgern triumphal als Revolutionsheld und derjenige Diplomat empfangen wurde, der den Frieden von Paris und die Anerkennung der amerikanischen Unabhängigkeit erreicht hatte. Er galt sofort als der aussichtsreichste Kandidat für die Vizepräsidentschaft unter Washington, aber strebte dieses Amt nicht offen an, da dies in jener Zeit als ungebührliches Verhalten galt. Ab Januar 1789 signalisierte Washington sein Einverständnis für diese Konstellation und rechnete fest mit Adams’ Wahl. Bei der ersten Präsidentschaftswahl 1788–1789 bestimmten die Bundesstaaten 69 Wahlmänner für das Electoral College, von denen jeder pro Wahlgang zwei Stimmen hatte, wobei der Zweitplatzierte automatisch Vizepräsident wurde. John Adams galt unbestritten als zweiter Mann nach Washington, jedoch intrigierte Alexander Hamilton hinter den Kulissen gegen ihn. Möglicherweise wollte er dadurch seine eigene Position als potenzieller Nachfolger Washingtons stärken oder verhindern, dass seinem einstimmig gewähltem Idol ein Rivale entstehen könnte, der in Neuengland als Volksheld verehrt wurde. Am 6. April 1789 wurde Adams, der von Hamiltons verdeckter Operation nichts mitbekommen hatte, mit 34 Stimmen Vizepräsident, ein Ergebnis, das ihn tief in seinem Stolz verletzte. Am 13. April 1789 verließ er, begleitet von einer militärischen Eskorte und einem Festzug, Braintree und begab sich in die damalige Hauptstadt New York City, um hier acht Tage später sein Amt anzutreten, indem er den Vorsitz im Senat einnahm.Im Senat zum Schweigen verurteilt und ohne den institutionellen Rahmen, Reden an die Öffentlichkeit zu halten, war er schnell ernüchtert von der Vizepräsidentschaft. Er konstatierte, diese Position sei „das unbedeutendste Amt“, das „in der Menschheitsgeschichte jemals ersonnen worden“ sei. Zum Kabinett Washington hatte Adams eine unkomplizierte Beziehung, auch wenn sich hier die Polarisierung zwischen Außenminister Jefferson, der als Leitbild ein ländliches Amerika der besitzenden Pflanzer hatte, und dem an städtischer Bank- und Geldwirtschaft orientiertem Finanzminister Hamilton schnell abzeichnete. Bei Adams dominierte keine derartige regionale Prägung; seine Vertrauensbasis bildeten die staatlichen Institutionen, die für ihn entscheidender waren als die Herkunft. Noch stärker als die von Hamilton durchgesetzte Gründung der First Bank of the United States spaltete die Französische Revolution die junge Republik. Während das Lager um Jefferson und Paine sie als Ausdruck des Volkswillens begrüßten, hatte Adams schon vor diesem Ereignis in den Thoughts on Government vor radikalem Egalitarismus und absoluter Volksherrschaft durch ein Einkammersystem gewarnt, was Edmund Burke 1790 in den Reflections on the Revolution in France aufnahm. Früher und klarer als jeder andere amerikanische Politiker sah Adams voraus, dass die Revolution in eine Gewaltherrschaft münden werde.Anfangs war Adams unsicher in der Amtsführung und beschäftigte sich intensiv mit Etikette und Protokollfragen, zum Beispiel wie er als Senatspräsident Washington anzureden habe, wenn er seine State of the Union Address ankündigte. Dies brachte ihn in Verbindung mit seiner kritischen Haltung der Französischen Revolution gegenüber schnell den Vorwurf durch politische Gegner ein, ein majestätisches Selbstverständnis zu haben und während seiner Zeit als Botschafter in London zum Monarchisten geworden zu sein. Insgesamt beschädigte diese Episode Adams’ Ansehen erheblich. Hinzu kam, dass sich Washington zunehmend von Adams distanzierte, wodurch die Vizepräsidentschaft weiter an Bedeutung verlor. Noch im Sommer 1789 debattierte der Senat intensiv über einen Gesetzesvorschlag, der vorsah, dass der Präsident Kabinettsmitglieder nur mit Zustimmung des Senats entlassen konnte. Bei der Abstimmung wurde dieses Gesetz knapp abgelehnt, wobei die Stimme von Adams als Senatspräsident den Ausschlag gab. Insgesamt gab Adams in seiner Funktion als Vizepräsident bei 31 Abstimmungen das entscheidende Votum ab, was bis heute in dieser Höhe von keinem seiner Nachfolger erreicht wurde. Darunter waren wegweisende Entscheidungen wie zum Beispiel der die Hauptstadtfrage klärende Residence Act.Ab April 1790 erschien von Adams eine Artikelserie in der Gazette of the United States, die über ein Jahr andauerte und bald unter dem Titel Discourses on Davila als Buch veröffentlicht wurde. Den Kern des Buchs bildete eine Übersetzung der historischen Abhandlung von Enrico Caterino Davila über die Hugenottenkriege. In seinen Kommentaren führte Adams unter anderem aus, dass Republiken so wenig vor Geltungssucht und Anbetung der Reichen und Mächtigen gefeit seien wie Monarchien. Eine Republiken abhebende Tugend habe daher historisch nie existiert. Diesen Text griffen Adams’ Kritiker schnell als vermeintlichen Beweis seiner monarchistischen Gesinnung auf. Da Washington als Präsident niemand zu attackieren wagte, konzentrierte sich die Opposition gegen die Föderalistische Partei zusehends auf Adams. Anfangs noch verdeckt, opponierte Jefferson zunehmend gegen Adams, in dem er wie im Führer der Föderalistischen Partei Hamilton einen Verräter an den Ideen der Amerikanischen Revolution sah. Dazu setzte er schädliche Gerüchte in Umlauf und heuerte Journalisten, aber auch den Dichter Philip Freneau an, der in der National Gazette ein Gegengewicht zur föderalistischen Gazette of the United States zu schuf. Zu dieser Zeit begann die Öffentlichkeit Adams und Jefferson zumeist als politische Erzrivalen wahrzunehmen. Wie Washington und viele andere betrachtete er die zunehmende Fraktionsbildung mit großer Verzweiflung, da er die Entstehung von politischen Parteien für eine große Gefahr für die junge Republik erachtete.Bei den Wahlen 1792 kooperierten die antiföderalistischen Virginier um Jefferson und James Madison mit New York und Pennsylvania. Dabei suchten sie durch Unterstützung des New Yorker Gouverneurs George Clinton die Wiederwahl Adams’ zum Vizepräsidenten zu verhindern. Er verteidigte jedoch seine Vizepräsidentschaft mit 77 zu 50 Stimmen gegen den Anti-Föderalisten Clinton, wobei er dieses Mal von Hamilton unterstützt wurde.Mit dem Ausbruch der Koalitionskriege wuchs die Befürchtung der Anti-Föderalisten um Jefferson, Adams könne Washington zu einem Krieg mit der Ersten Französischen Republik drängen. Angesichts der Beschlagnahme amerikanischer Schiffe sowohl durch Frankreich als auch das Vereinigte Königreich schlugen Washington und Adams einen Kurs strikter Neutralität ein, durch den der Allianzvertrag mit dem Königreich Frankreich von 1778 hinfällig wurde. Um gegen diese Neutralitätsproklamation vorzugehen, entsandte die Erste Französische Republik im April 1793 Edmond-Charles Genêt nach Amerika. Als dieser über die Köpfe von Washington, Adams und Jefferson hinweg eine Ansprache an den Kongress hielt und begann, Kaperschiffe gegen die Briten in amerikanischen Häfen anzuwerben, verlor er selbst die Unterstützung der Republicans, die mit der französischen Revolution sympathisierten. Die starke militärische Antwort von Washington und Hamilton auf die Whiskey-Rebellion im Jahr 1794, die sich gegen die Besteuerung eines der wichtigsten Handelsgüter der damaligen Zeit im westlichen Pennsylvania richtete, erfreute Adams äußerst, andererseits war er besorgt, solche Aufstände könnten sich in einer jungen Republik, die noch keine klare politische Identität habe, wiederholen. Als im Jahr darauf die von vielen als unbefriedigend wahrgenommenen Bedingungen des Jay-Vertrags mit London bekannt wurden, sorgten sie für landesweite Empörung. Obwohl Adams wie Washington mit dem Abkommen alles andere als zufrieden war, stand er loyal zum Präsidenten, der den Vertrag im Sommer 1795 unterzeichnete. Zum einen kannte er aus eigener Erfahrung die Hartnäckigkeit der britischen Verhandlungspartner, zum anderen war ihm ein nachteiliger Vertrag lieber als ein erneuter Krieg mit dem Königreich Großbritannien. Diese Affäre verfolgte Adams bis in seine Präsidentschaft.Nach dem Bekanntwerden von Washingtons Verzicht auf eine dritte Amtszeit verschärfte sich das politische Klima erheblich und hatte stellenweise die Form einer Hetze. Bald kristallisierten sich Adams und Jefferson als die Hauptkonkurrenten heraus, ohne dass einer von beiden selbst aktiv eine Wahlkampagne für dieses Amt betrieb. Jeffersons Anhänger, die Adams wegen seines vermeintlichen Monarchismus „His Rotundity“ („Seine Rundheit“) nannten, warfen ihm zuvorderst die Ablehnung der Französischen Revolution vor und daneben die Befürwortung des Jay-Vertrags sowie die militärische Reaktion auf die Whiskey-Rebellion vor. So trugen einige Republicans aus Sympathie mit der Ersten Französischen Republik im Wahlkampf Jakobinermützen. Die Wahlen 1796 sahen im Electoral College immer noch einen einzigen Wahlgang mit jeweils zwei Stimmen für Präsident als auch Vizepräsident vor, wobei Kandidaten aus zwei unterschiedlichen Bundesstaaten gewählt werden mussten. Hamilton als Führer der Föderalisten bat die Wahlmänner aus Neuengland, ihre zweite Stimme nicht zu verschenken, sondern diese zwischen Adams und Thomas Pinckney aufzuteilen, um so Jefferson in jedem Fall als Präsident und möglichst auch als Vizepräsident zu verhindern. Des Weiteren hoffte er somit, dem Außenseiter Pinckney überraschend zur Präsidentschaft zu verhelfen, den er leichter zu kontrollieren können meinte. Da sich ein Teil der Wahlmänner nicht an seine Bitte hielt, siegte Adams am 7. Dezember 1796 mit 71 Stimmen nur knapp über Jefferson (68 Stimmen), der dadurch neuer Vizepräsident wurde. Adams und seine Frau Abigail vergaben Hamilton, der sich immer als geeignetster Nachfolger von Washington verstand, diese Einmischung in das Electoral College niemals und waren seitdem verfeindet. Außerdem sah Adams in Hamilton einen Proponenten für eine Plutokratie und militärische Abenteuer. === Präsidentschaft === Anders als beim ersten Auftritt als Vizepräsident vor dem Senat verzichtete Adams bei der von Oliver Ellsworth durchgeführten Amtseinführung am 4. März 1797 auf ein pomphaftes Zeremoniell. In der Antrittsrede vor dem 5. Kongress der Vereinigten Staaten kam er auf den amerikanischen Unabhängigkeitskrieg und die Unterdrückung durch die britische Krone zu sprechen. Er lobte die Vernunft und Rechtschaffenheit des Volkes und betonte seine Ablehnung des europäischen Feudalismus. Adams rief, wie viele andere Präsidenten nach ihm zu diesem Anlass, zur Verständigung zwischen den Parteien auf. Zur Verärgerung der anglophilen Föderalisten führte er seine durch den dortigen Aufenthalt erworbene Bewunderung für die französische Nation an und sprach sich außenpolitisch für eine Fortsetzung des Friedenskurses aus. Das Kabinett John Adams wies gegenüber dem Kabinett Washington nur wenig Änderungen auf, da Adams daran gelegen war, die Harmonie unter den Föderalisten zu wahren. Einige Tage später bezog er das Präsidentenhaus in Philadelphia und war schockiert über dessen desaströse Verfassung, zumal er dafür Miete zahlen musste. Anfangs war Adams wie sein Amtsvorgänger vor allem damit beschäftigt, auf Briefe, zumeist von Veteranen des Unabhängigkeitskrieges, zu antworten, die um eine Stelle in der Verwaltung baten.Die Präsidentschaft begann mit einer großen Hypothek persönlicher Natur: Zum einen war Vizepräsident Jefferson als Leitfigur der Republicans sein politischer Gegner, zum anderen war Hamilton, als Anführer der Föderalisten eigentlich Adams’ natürlicher Verbündeter, seit der Wahl 1796 mit ihm verfeindet. Beide versuchten die Wiederwahl von Adams als Präsidenten zu verhindern. Zudem standen die drei wichtigsten Kabinettsmitglieder, Timothy Pickering, Oliver Wolcott junior und James McHenry, unter der Kontrolle Hamiltons. Sie gehörten zum radikalen Flügel der Föderalisten, den „High Federalists“, und waren ausgesprochen frankophob. So arbeiteten sie gegen die Vorgaben des Präsidenten, ohne von ihren Ämtern zurückzutreten. Bis heute ist nicht geklärt, inwieweit Adams die Illoyalität seiner Minister bewusst war. Möglicherweise war seine Entscheidung, sie zu behalten, dem Willen geschuldet, durch personelle Kontinuität im Mitarbeiterstab und der öffentlichen Verwaltung insgesamt für mehr Professionalität zu sorgen. Zudem forderte Adams bei wichtigen Fragen zwar eine schriftliche Stellungnahme der Minister an, entschied aber am Ende allein, da er in ihre Fähigkeiten, wichtige Probleme unparteiisch zu analysieren, wenig Vertrauen hatte. Trotzdem gehört Adams zu den sieben Präsidenten Amerikas, die während ihrer Amtszeit kein einziges Mal von ihrem Vetorecht Gebrauch machten. Er unterzeichnete sämtliche ihm zugeleiteten Gesetzesentwürfe des Kongresses.Eine weitere Schwierigkeit für die Präsidentschaft Adams und die Bundesregierung insgesamt war die politische Geographie. Die Verkehrsinfrastruktur Amerikas war rudimentär und im Vergleich zu Europa herrschte technologische Rückständigkeit. So betrug die Reisedauer von Virginia nach Neuengland immer noch wie in der frühen Kolonialzeit Wochen, es existierten landesweit nur drei für Planwagen geeignete Straßen und die meisten Flüsse, insbesondere in den Südstaaten, hatten keine Brücken. Dies alles förderte den Regionalismus und erschwerte das Entstehen eines nationalen Zusammengehörigkeitsgefühls. Auch die meisten Politiker identifizierten sich mehr mit ihrem Bundesstaat als mit den Vereinigten Staaten.Während der Präsidentschaft erlebte Adams im Familienleben einige Schicksalsschläge. Im Frühsommer 1798 reiste er mit Abigail nach Quincy, die dort schwer erkrankte. Als Adams im November nach Philadelphia zurückkehrte, musste er seine immer noch nicht genesene Frau zurücklassen. Die Hauptstadt selbst litt unter einer Gelbfieberepidemie, die 3000 Todesopfer forderte. Daher wurde Philadelphia größtenteils evakuiert und die Regierungsgeschäfte übergangsweise nach Trenton verlegt. Bis zur vollständigen Gesundung von Abigail im November 1799 und ihrer Rückkehr nach Philadelphia hielt sich Adams mehrfach für längere Zeit in Quincy auf, darunter durchgängig von März bis September 1799, und führte sein Amt von dort aus. Wegen des bevorstehenden Umzugs der Hauptstadt in das Sumpfgebiet Washington, D.C. und der dort herrschenden primitiven Lebensverhältnisse machte sich Adams große Sorgen um die Gesundheit seiner Frau. Unmittelbar nach Bekanntgabe des Ergebnisses der Präsidentschaftswahl 1800 erfuhr Adams, dass sein zweitältester Sohn Charles, der an Alkoholproblemen litt, am 30. November an einer Leberzirrhose gestorben war. ==== XYZ-Affäre und Quasi-Krieg ==== Außenpolitisch begann Adams’ Präsidentschaft unmittelbar mit einer Krise, da das französische Direktorium aus Verärgerung über den Jay-Vertrag, den sie als anglo-amerikanische Allianz interpretierten, die Legitimation von Pinckney als Botschafter in Paris im November 1796 abgelehnt und ihn des Landes verwiesen hatte. Davon wie auch vom unerklärten Seekrieg Frankreichs gegen amerikanische Handelsschiffe erfuhr Adams nur wenige Tage nach der Amtseinführung. Um diesen Konflikt zu lösen und Paris um Entschädigung für gekaperte Handelsschiffe in der Karibik zu ersuchen, entsandte der Präsident eine Delegation aus Pinckney, John Marshall und Elbridge Gerry nach Frankreich, die Anfang Oktober 1797 in Paris eintraf. Später berichteten sie in verschlüsselten Nachrichten über ihre Unterredungen mit Außenminister Charles-Maurice de Talleyrand-Périgord und drei seiner Agenten, die der amerikanischen Öffentlichkeit gegenüber nur als X, Y und Z benannt wurden, weshalb dieser Vorfall als XYZ-Affäre bekannt wurde. Diese forderten zur Beilegung der Streitigkeiten nicht nur einen amerikanischen Kredit über 22 Mio. niederländische Gulden sowie freundlichere Töne Adams in Richtung Frankreich, sondern auch eine persönliche Bestechungssumme für Talleyrand. Der Außenminister drohte der Delegation, dass jede Nation als feindlich betrachtet werde, die der Ersten Französischen Republik die Unterstützung versagte, und Amerika in diesem Fall das Schicksal der vernichteten Republik Venedig teilen werde. Als XYZ schließlich die amerikanischen Gesandten darüber informierten, dass Talleyrand ihr unkooperatives Verhalten an Adams melden werde, wurden die Verhandlungen abgebrochen; Pinckney und Marshall verließen Frankreich.Noch bevor der Präsident über diesen Eklat im März 1798 informiert wurde, hatte sich die Konfrontation mit der Ersten Französischen Republik zur See weiter zugespitzt. So war unter anderem ein französischer Freibeuter in den Hafen von Charleston eingedrungen und hatte dort ein britisches Schiff versenkt, während in der Karibik mehr als 60 weitere Kaperfahrer den amerikanischen Außenhandel blockierten. Als die XYZ-Affäre der Regierung bekannt wurde, forderten zwei Minister den Präsidenten auf, den Kongress um eine Kriegserklärung zu ersuchen. Adams hielt einen Krieg mit Frankreich für unausweichlich, sah jedoch Amerika für ein derartiges Unternehmen zu schlecht gerüstet. Zudem war er sich der innenpolitischen Widerstände dagegen durch die Republicans bewusst. Als Adams den Kongress am 3. April 1798 in einer relativ zurückhaltenden, die prinzipiellen Unterschiede zwischen amerikanischer und französischer Revolution betonenden Rede über die XYZ-Affäre informierte, führte dies landesweit zu einem Aufschrei der Empörung. Die Bevölkerung solidarisierte sich mit dem Präsidenten, der augenblicklich zu einem Nationalhelden wurde und auf dem Höhepunkt seiner Beliebtheit stand, stellte Milizen auf und sammelte Geld für den Bau einer Marine. Allgemein rechnete man im Sommer 1798 fest mit einer Kriegserklärung des Präsidenten an Frankreich und selbst Abigail sah dies als unausweichlich an. Das erste und einzige Mal während seiner Amtszeit war Adams in dieser Phase in der Föderalistischen Partei populär und unumstritten. In dieser kurzen Blütezeit seiner Präsidentschaft brachte Adams zwei Bundesgesetze erfolgreich durch den Kongress: Am 30. April 1798 wurde die Gründung des United States Department of the Navy beschlossen, bei dessen Leitung sich Benjamin Stoddert als sehr erfolgreich und einziges loyales Kabinettsmitglied erwies, und am 9. Juli folgte der Act Further to Protect the Commerce of the United States, der Schiffen der United States Navy den Angriff auf alle französischen Seeeinheiten erlaubte, die den amerikanischen Handel bedrohten. Die Republicans sahen in Frankreich weiterhin eine Schwesterrepublik und warfen der Regierung vor, die Angelegenheit verzerrt darzustellen, um das Direktorium zu einer Kriegserklärung zu provozieren. Ihrer Meinung nach beabsichtigte Adams mit diesem Krieg, Amerika in die Arme der britischen Monarchie zu treiben. Den konträren Positionen von Föderalisten und Republicans in dieser Frage lagen auch ökonomische Interessen zugrunde: Während die neuenglischen Föderalisten enge Geschäfts- und Handelsbeziehungen zum Königreich Großbritannien hatte, waren die Pflanzer in den Südstaaten traditionell bei den Handelsbanken Londons hoch verschuldet.Eine Gesetzesinitiative von Adams, Handelsschiffen Bewaffnung zu gestatten, scheiterte an der Opposition von Jefferson. Erfolgreich hingegen war der Präsident, als er im Kongress 1797 erst die Fertigstellung und im Jahr darauf die volle Ausrüstung und Besatzung der USS United States sowie zwei weiterer Fregatten erreichte und die Erweiterung des Naval Act of 1794 auf insgesamt zwölf Kriegsschiffe durchsetzen konnte. Vor allem die USS Constitution und USS Constellation erzielten überraschende Erfolge, wie zum Beispiel im Februar 1799 das siegreiche Gefecht gegen die L’Insurgente. Adams’ Vorhaben, eine reguläre Armee von 25.000 Mann aufzustellen, wurde vom Kongress auf 10.000 abgeschwächt. Die amerikanische Aufrüstung und die fortgesetzte französische Aggression führten dazu, dass der Konflikt bald allgemein als Quasi-Krieg bezeichnet wurde. Neben der Opposition durch die Republicans entstand nun innerhalb der Föderalisten eine Fraktion von Hardlinern gegen Adams, die sogenannten Erzföderalisten, die eine Kriegserklärung an die Erste Französische Republik und ein Ende der Diplomatie forderten. Prominente Wortführer dieser Gruppe waren Außenminister Pickering, Senator George Cabot und der ehemalige Repräsentant Fisher Ames. Sie störten sich unter anderem daran, dass Gerry trotz der XYZ-Affäre in Paris ausharrte, um die abgebrochenen Verhandlungen gegebenenfalls fortführen zu können. Als dieser am 1. Oktober 1798 nach Amerika zurückkehrte, um Adams Bericht zu erstatten, sah er sich durch die Föderalisten großen Anfeindungen ausgesetzt. Da der Präsident zögerte, sich von Gerry zu trennen und bis in den Winter 1798–1799 seine Handlungsoptionen abwog, wurde ihm das von der eigenen Partei zunehmend als Entscheidungsschwäche ausgelegt.Am 18. Februar 1799 informierte Adams den Senat darüber, dass er William Vans Murray zum Gesandten in Paris ernannte habe, um mit Frankreich wieder Verhandlungen aufzunehmen. Diese selbst für Außenminister Pickering überraschende Nachricht nahmen insbesondere die Föderalisten mit Empörung auf; dennoch bemühten sie sich im Senat nicht um eine Gegenresolution. Letztendlich einigten sie sich mit Adams darauf, Murray nicht alleine mit der Verhandlung zu betrauen, sondern ihm Patrick Henry und den Obersten Bundesrichter Oliver Ellsworth zur Seite zu stellen. Viele Zeitgenossen und spätere Historiker sahen in der langen Entscheidungsphase und deren unerwartetem Ergebnis ein Zeichen dafür, dass Adams die Kontrolle entglitten war. Andere Geschichtswissenschaftler wie zum Beispiel Stephen G. Kurtz machen geltend, dass sich der Präsident bewusst für ein längeres Abwarten entschied. Zum einen wollte Adams die durch die John Fries Rebellion und die Alien and Sedition Acts ausgelösten inneren Spannungen sich beruhigen lassen und die Entwicklung der militärischen Schlagkraft der United States Navy beobachten. Zum anderen wurde im November 1799 das Direktorium gestürzt und durch das Französische Konsulat ersetzt. Dieses signalisierte Adams bald, dass eine amerikanische Gesandtschaft willkommen sei. Im Herbst 1800 erreichten die Abgesandten Murray, Ellsworth und William Richardson Davie, der den verstorbenen Henry ersetzt hatte, Frankreich und handelten noch im gleichen Jahr den Vertrag von Mortefontaine aus, der den Quasi-Krieg beendete. Da die Nachricht von diesem Abkommen Amerika erst nach der Präsidentschaftswahl 1800 erreichte, konnte Adams davon politisch nicht mehr profitieren. Trotzdem zählte er, sich mehr als Staatsmann denn als Politiker definierend, den Vertrag von Mortefontaine neben dem Friedensschluss mit dem Königreich Großbritannien und dem Darlehen durch die Vereinigten Niederlande zu den drei großen Erfolgen seiner Karriere.Als ein moralischer Sieg für Amerika auf einem Nebenschauplatz im Quasi-Krieg stellte sich die französische Kolonie Saint-Domingue heraus. Dort hatte die Haitianische Revolution unter Führung von Toussaint Louverture zur Befreiung der Sklaven geführt, die Adams, in dieser Frage ähnlich wie später Abraham Lincoln denkend, begrüßte, und bis 1796 spanische und britische Truppen von der ganzen Insel Hispaniola vertreiben können. Pickering und Adams sahen in Toussaint Louverture einen Verbündeten für Amerika und konnten im Kongress im Juni 1799 auf seine Zusage hin, alle Kaperfahrten gegen amerikanische Schiffe von Haiti aus zu unterbinden, eine Aufhebung der gegen Frankreich geltenden Handelsbeschränkungen im Falle Saint-Domingues erreichen. Zusätzlich wurde der Marineoffizier John Barry mit einer Flotte nach Haiti beordert, um dort mit einer Flaggenparade Toussaint Louverture den Respekt des amerikanischen Volkes zu zollen. Jefferson war wie die meisten Pflanzer in den Südstaaten von dieser Solidarisierung mit „rebellischen Negern“ entsetzt und unterstützte später als Präsident Napoleon Bonaparte bei der Wiedereinführung der Sklaverei in Santo Domingo. ==== Alien and Sedition Acts ==== Im Sommer 1798, als Adams auf dem Höhepunkt seiner Macht stand und sich der Quasi-Krieg intensivierte, kam es zur Verabschiedung der Alien and Sedition Acts, an deren Entwurf er keinen Anteil hatte. Insbesondere der Sedition Act wurde zu der umstrittensten und seinen Ruf als Präsidenten, auch im Urteil vieler späterer Historiker, am meisten schädigenden Entscheidung. Die Alien and Sedition Acts richteten sich vor allem gegen politische Flüchtlinge aus Europa wie zum Beispiel Royalisten, Jakobiner oder irische Republikaner und bestanden aus vier Gesetzen: Der Naturalization Act verlängerte die Mindestaufenthaltsdauer für die amerikanische Staatsbürgerschaft von fünf auf 14 Jahre. Der Alien Act erlaubte dem Präsidenten Ausländer, die seinem Urteil nach die Sicherheit gefährdeten, des Landes zu verweisen. Der Alien Enemies Act gab dem Präsidenten im Kriegsfall die Vollmacht, in Amerika lebende Staatsbürger der feindlichen Nation abzuschieben oder zu internieren. Der Sedition Act, das kontroverseste der vier Gesetze, erklärte es zur Straftat, falsche oder skandalträchtige Texte zu veröffentlichen, die den Präsidenten oder andere Staatsorgane angriffen. Weniger Adams selbst als seine Frau Abigail, die bereits zuvor Kampagnen gegen Presseangriffe auf ihren Mann initiiert hatte, war von den Alien and Sedition Acts begeistert. Adams befahl in seiner Amtszeit lediglich zwei Abschiebungen, die jedoch nie zur Ausführung kamen. Allerdings kam es nach einem ersten aufsehenerregenden Gerichtsprozess gegen den Republican Matthew Lyon, der in eine mehrmonatige Haftstrafe mündete, zu zwölf weiteren Verurteilungen nach dem Sedition Act. Das Verfahren gegen den Journalisten James T. Callender im Jahr 1800 wurde von Jefferson, der diesen Pamphletisten finanziell unterstützte, bewusst provoziert, um damit dem Präsidenten im Wahlkampf zu schaden. Nach der föderalistischen Wahlniederlage im Jahr 1800 liefen die auf zwei Jahre terminierten Alien and Sedition Acts wieder aus. Anders als der Präsident sahen die Republicans in den Alien and Sedition Acts keine gerechtfertigten, auswärtige Beziehungen des Bundes betreffende Kriegsgesetze, sondern eine verfassungswidrige Einschränkung der Redefreiheit, die in der Zuständigkeit der Bundesstaaten liege. Ihrer Ansicht nach sollten damit Kriegsängste ausgenutzt und in einem ersten Schritt Freiheitsrechte ausgehöhlt werden, um die Republik in eine Monarchie umzuwandeln. Ihre Urheberschaft verbergend entwarfen Jefferson und Madison für Virginia und Kentucky Resolutionen, die im Jahr 1799 verabschiedet wurden und das Recht von Bundesstaaten erklärten, verfassungswidrige Bundesgesetze in ihrem Hoheitsgebiet aufzuheben. ==== John-Fries-Rebellion ==== Angesichts des Quasi-Kriegs und der für notwendig erachteten Aufrüstung verständigten sich Adams und der Kongress im Sommer 1798 auf die Einführung von direkten Steuern. Schon bald erreichten den Präsidenten erste Meldungen von regierungsfeindlichen Stimmen unter den Pennsylvania Dutch im Südosten Pennsylvanias mit Schwerpunkt im Bucks County. Auf besonderen Widerstand stieß die Haussteuer, die sich nach Anzahl und Größe der Fenster richtete. Ab Januar 1799 kam es zu gewaltsamen Übergriffen auf Steuerschätzer des Bundes, woraufhin dieser U.S. Marshals in die Region entsandte. Als diese am 7. März mehrere gefangene Steuergegner zum Abtransport nach Philadelphia vorbereiteten, wurden sie in Bethlehem von einer 150 Mann starken Miliz umzingelt, die unter dem Kommando von John Fries stand. Diese verlangte unter Berufung auf den 6. Zusatzartikel die Herausgabe der Gefangenen, dem die Marshals angesichts der Übermacht nachkamen. Danach löste sich die Menge sofort auf und als Fries einige Tage später verhaftet wurde, ging er gerade seiner Arbeit als Auktionator nach. Aus diesem eher unbedeutenden Vorfall fabrizierten Adams’ Gegner, aber laut Diggins auch spätere Historiker ein unverhältnismäßig bedeutsames Ereignis, das zur Abwahl des Präsidenten im Jahr 1800 beitrug. Während die Republicans in der John-Fries-Rebellion einen Freiheitskampf gegen Unterdrückung und Enteignung der Landbevölkerung im Stile des feudalistischen Europas erblickten, interpretierten sie die Erzföderalisten als einen Bauernaufstand und den Auftakt zu Klassenkampf und Bürgerkrieg. Eine unmittelbare Folge des Ereignisses war zum einen, dass sich die Bevölkerung Pennsylvanias, das traditionell eine Hochburg der Föderalisten gewesen war, in großen Teilen mit John Fries und seinen Gefährten solidarisierte. Neben den Irischamerikanern, die traditionell den anglophoben Republicans zuneigten, wendeten sich nun immer mehr Deutschamerikaner von den Föderalisten ab. Zum anderen brachte noch im März 1799 Adams den Eventual Army Act erfolgreich durch den Kongress, der es dem Bund gestattete gegen jegliche „französisch inspirierte“ Erhebung mit Truppen vorzugehen, wozu in aller Schnelle eine provisorische Armee ausgehoben wurde. Das Kabinett konnte Adams zudem davon überzeugen, Fries und weitere Personen des Hochverrats anzuklagen. Ab April begannen in Philadelphia die Prozesse gegen 60 an der Rebellion Beteiligte. Nachdem das erste Verfahren gegen Fries geplatzt war, führte im zweiten der stramme Föderalist Samuel Chase den Vorsitz, so dass das Ergebnis vorherbestimmt war und das Todesurteil gefällt sowie für den 23. Mai 1800 festgesetzt wurde. Adams richtete vor dessen Vollstreckung einen Katalog von 14 Fragen an sein Kabinett, um zu klären, ob es sich bei der John-Fries-Rebellion lediglich um eine Auflehnung oder tatsächlich um einen Aufstand gehandelt habe. Obwohl ihm die Minister einstimmig antworteten, dass hier ihrer Ansicht nach Hochverrat vorliege, entschied der Präsident im April 1800 anders. Er begnadigte Fries und zwei weitere zum Tode Verurteilten sowie alle anderen, gegen die geringeren Strafen ausgesprochen worden waren. ==== Präsidentschaftswahl von 1800 ==== Als Washington im Dezember 1799 starb, befürchteten viele Republicans, sein Nachfolger als Commanding General of the United States Army, Hamilton, könne die reguläre Armee gegen sie politisch instrumentalisieren. Erschwerend kam hinzu, dass Kriegsminister McHenry weniger Adams als Hamilton gegenüber loyal war. Bei den Präsidentschaftswahlen 1800 war Adams chancenlos. Die Begnadigung von John Fries und die Gesandtschaft von Murray nach Paris hatte ihn der eigenen Partei entfremdet, während die Alien and Sedition Acts und die Rekrutierung einer regulären Armee mit Hamilton als oberstem Kommandeur die Republicans empört hatte. Einige Minister wie zum Beispiel Finanzminister Wolcott wollten Adams als Präsidenten verhindern und durch Pinckney ersetzen. Kriegsminister McHenry ermutigte Hamilton dazu, eine Analyse von Adams’ vermeintlicher präsidialer Unfähigkeit der Presse zuzuspielen, die auf Anspielungen und Gerüchten beruhte, die Hamilton seit 1796 zur Rufschädigung Adams’ im Führungszirkel der Föderalisten gestreut hatte. Dieser Text schmähte Adams nicht nur als Politiker, sondern auch als kapriziösen und emotional instabilen Charakter, der unwürdig sei, den Status eines Gründervaters zu haben. Der Wahlkampf, bei dem zum ersten und bisher einzigen Mal in der amerikanischen Geschichte der amtierende Präsident und sein Vizepräsident gegeneinander antraten, wurde erbittert geführt. Während Jefferson von seinen Gegnern als ein gottloser, nach Terrorherrschaft strebender Jakobiner dargestellt wurde, wurde Adams als verschwörerischer Monarchist verunglimpft, der einen seiner Söhne mit einer Tochter Georgs III. zu verheiraten beabsichtigt habe, um das Vereinigte Königreich und Amerika erneut zu vereinigen.Wie bei den letzten Wahlen wurden die Wahlmänner durch die Assemblies der Bundesstaaten bestimmt. Da diese ihre Wahltage selbst terminierten, dauerte der Popular Vote von April bis Oktober des Jahres 1800, wodurch die Auszählung der Stimmen erst im Dezember abgeschlossen war. In der ersten Dezemberwoche führten die Föderalisten und hatten ihre Hochburgen in Neuengland halten können, während die Südstaaten traditionell für die Republicans gestimmt hatten. Ausschlaggebend für die spätere Niederlage Adams’ war der Verlust von New York und Pennsylvania an Jefferson, dem als zweiter Kandidat Aaron Burr zur Seite stand. Am Ende lag Adams bei 65 Stimmen im Electoral College und Jefferson bei 73. Während die Niederlage in Pennsylvania mit der John-Fries-Rebellion zusammenhing, war diejenige in New York Hamilton zuzuschreiben, der dort seine Klientelverbindungen eingesetzt hatte, um Adams’ Wiederwahl zu verhindern.Bis zur Amtseinführung von Jefferson, dessen Wahl nach einem Patt mit Burr im Electoral College erst nach 35 Wahlgängen im föderalistisch dominierten Repräsentantenhaus erfolgt war, überprüfte Adams die Vertragsbedingungen von Mortefontaine und forderte die illoyalen Kabinettsmitglieder zum Rücktritt auf. Er brachte ein Justizgesetz durch den Kongress, den sogenannten Midnight Judges Act, mit dem neue Gerichte geschaffen wurden. Adams wurde deswegen vorgeworfen, in letzter Minute die Judikative mit Föderalisten zu besetzen, um den Machtwechsel zu behindern. Dagegen spricht, dass er mit Marshall einen ausgesprochenen Gegner der Alien and Sedition Acts zum Chief Justice of the United States ernannte. Am 4. März 1801 verließ er am frühen Morgen das Weiße Haus, ohne seinem Nachfolger zu begegnen. Dies war nicht als Affront gegen Jefferson gemeint, da Adams Jefferson gegenüber keine feindseligen Gefühle hatte und ihn noch einige Tage zuvor zu einem gemeinsamen Abendessen mit Abigail empfangen hatte. === Nach der Präsidentschaft === Adams zog sich nach seiner Wahlniederlage ins Privatleben zurück. Er lebte in Peacefield, einem größeren Anwesen nahe seinem Geburtshaus, das er im Jahr 1787 gekauft hatte. Da er nach einer Fehlinvestition bei der Bank of London über wenig finanzielle Mittel verfügte, lebte er wie viele seiner Landsleute zu dieser Zeit von seinem Grundbesitz. Aufgrund des fortgeschrittenen Alters führte Adams seine Anwaltstätigkeit nicht mehr fort und widmete sich dem Familienleben sowie den vielen Besuchern, die nach Peacefield kamen. Da er seine Papiere und Aufzeichnungen zeit seines Lebens kaum geordnet hatte, sah er vom Verfassen einer Autobiographie aufgrund des damit verbundenen Arbeitsaufwandes ab. Zwar nicht mehr aktiv am politischen Leben teilnehmend, beschäftigte er sich geistig weiterhin stark mit der Politikgeschichte. Ähnlich später Arthur M. Schlesinger sah er ihren Verlauf als zyklisch an und prognostizierte für Amerika ungefähr alle zwölf Jahre ein „Bockspringen“ der einen Partei über die andere. Am 10. November 1818 starb nach 54 Jahren Ehe Abigail an einem Schlaganfall und ließ einen am Boden zerstörten Adams zurück. Jefferson, mit dem Adams zu diesem Zeitpunkt auf Anregung des beidseitigen Freundes Benjamin Rush seit sechs Jahren in Briefkontakt stand, schickte ihm eine Kondolenz, die ihn tief bewegte. Dieser Briefwechsel, der sich wie ein endloses Streitgespräch auf der Suche nach einem einigenden Prinzip liest, dauerte bis zu ihrem Tod an und umfasste neben Politik ein sehr weites Spektrum an Themen, das Religion, Wissenschaft, Geschichte, Philosophie, Archäologie und vieles mehr umfasste. Laut Diggins handelt es sich bei dieser Korrespondenz um eines der reichhaltigsten Dokumente der amerikanischen Geistesgeschichte. Ende 1820 war Adams Delegierter auf einem Konvent zur Überarbeitung der Verfassung von Massachusetts. Er setzte sich dort vergeblich für einen Verfassungszusatz ein, der die vollständige Religionsfreiheit garantieren sollte, wobei es ihm insbesondere um die Gleichberechtigung der amerikanischen Juden ging. Gesundheitlich in Annäherung des 90. Geburtstages immer weiter eingeschränkt, blühte Adams Ende des Jahres 1824 noch einmal auf, als er die erfolgreiche Präsidentschaftswahl seines Sohnes John Quincy gegen Andrew Jackson erlebte. Nichtsdestotrotz schätzte er Jackson sehr, nicht zuletzt wegen ihrer gemeinsamen Abneigung gegen Bankunternehmer. Erfreut nahm er Jeffersons Glückwünsche zur Wahl seines Sohnes zum Präsidenten entgegen und bat ihn, John Quincy als ihren gemeinsamen Sohn und Erben zu betrachten. Am 1. Juli 1826 fiel er in ein Koma und starb drei Tage später wie auch Jefferson am amerikanischen Unabhängigkeitstag. Am 7. Juli wurde Adams in Quincy im Beisein einer Menge von 4000 Menschen beigesetzt.Im Jahr 1826 stiftete John Quincy Adams den Bau der United First Parish Church in Quincy, deren Gestaltung durch den bekannten Architekten Alexander Parris erfolgte. Noch bevor die Kirche im November 1828 eingeweiht wurde, wurden die sterblichen Überreste von John und Abigail Adams am 1. April 1828 in der Krypta beigesetzt. Im Dezember 1852 fanden hier John Quincy und seine Frau Louisa Catherine Adams ihre letzte Ruhestätte. == Überzeugungen und Ansichten == Adams’ Staatsphilosophie war in vielen Punkten konträr zu den Ansichten Jeffersons. Dieser Konflikt bestimmte das nach der Präsidentschaft Washingtons entstehende First Party System und war richtungsweisend für die amerikanische Politikgeschichte. Der freie Wille des Volkes, den Jefferson und Paine als ein Ideal verehrten, das durch jede Regierung nur getrübt, wenn nicht gar gefährdet werde, war für Adams kein Garant für die Wahrung der natürlichen Menschenrechte. Er sah im Staat nicht nur ein Mittel, um die individuelle Freiheit zu sichern, sondern auch um die Wahrung der Menschenrechte zu gewährleisten. Adams war von der Bedeutung der Institutionen überzeugt, in die er mehr Vertrauen hatte als in die menschliche Natur, weshalb er konstatierte: “Laws are intended not to trust what men will do, but to guard against what they might do.” („Gesetze dienen nicht dazu, dem zu vertrauen, was die Menschen tun werden, sondern davor zu schützen, was sie tun könnten.“). Aus diesen unterschiedlichen Prioritäten heraus erklärt sich, dass Jefferson die Französische Revolution selbst nach ihrem Radikalisierungsprozess im Jahr 1793 feierte, während Adams betonte, dass sie nichts mit dem Geist von 1776 gemein habe. Diese wesentlichen Differenzen im philosophischen Staatsverständnis führten in der weiteren amerikanischen Geschichte zu gegensätzlichen Positionen in der immer bedeutsamer werdenden Sklavereifrage. Der Dualismus kulminierte in den Lincoln-Douglas-Debatten von 1858 und führte in letzter Konsequenz als radikale Gegenbewegung zum Föderalismus Adamsscher Prägung in den Amerikanischen Bürgerkrieg.Durch historische Studien über die Polis der griechischen Antike bis hin zu den italienischen Städterepubliken der Renaissance gelangte Adams zu der Erkenntnis, dass jede Regierung in der Menschheitsgeschichte unabhängig von ihrer Form drei universelle Bestandteile habe: der Herrscher („der Eine“), die Aristokratie („die Wenigen“) und das Volk („die Vielen“). Demnach werde die Freiheit einer Gesellschaft dadurch bestimmt, inwieweit Gesetze jedes der drei Elemente auf seine zweckmäßige Funktion beschränkten, es also nicht zur Entstehung von monarchischer Tyrannei, aristokratischer Oligarchie oder anarchistischer Volksherrschaft komme. Mit Blick auf die junge Republik sah Adams im obersten Vertreter der Exekutive den Herrscher verwirklicht und definierte die Aristokratie, für die damalige Zeit in Amerika ungewöhnlich, nicht als eine herausgehobene feudale Oberschicht, sondern als eine Klasse mit besonderem politischen und wirtschaftlichen Ehrgeiz, die die Oberhäuser, also den Senat, kontrollierte. Zu den Vielen zählte Adams alle Wahlberechtigten, die nicht zu den Wenigen gehörten oder so arm waren, dass sie keine unabhängigen Entscheidungen treffen konnten. Das Volk sei in den Unterhäusern, also im Repräsentantenhaus, und in der Judikative dominierend. Nach diesem Muster können laut Adams’ Biographen Diggins die Konfliktlinien, welche das First Party System prägten, zugeordnet werden: Demnach legte Hamilton seinen Schwerpunkt auf die Stärkung der Wenigen, was auf eine Plutokratie hinauslief, während Jefferson die Volksherrschaft, idealerweise in einem Einkammersystem verwirklicht, akzentuierte. Adams hingegen betonte die Bedeutung des Einen, der unabdingbar sei, um die Interessen der Aristokratie und des Volkes auszugleichen. Im Vorgriff auf die Erkenntnisse der modernen Soziologie war ihm bewusst, dass ohne einen Herrscher die Staatsorgane feudal dominiert seien, da das Volk dazu tendierte, den Lebensstil und die Auffassungen der Elite zu imitieren und sich daran normativ zu orientieren. Diggins sieht in Adams insgesamt denjenigen Präsidenten der amerikanischen Geschichte, dessen politische Philosophie am meisten um die Frage kreiste, wie Regierungshandeln krisenhafte Konflikte zwischen den sozialen Klassen verhindern könne. Ähnlich später Otto von Bismarck in seiner Außenpolitik des Mächtegleichgewichts sah Adams die Notwendigkeit einer dritten Macht, um bipolare Spannungen vermitteln und lösen zu können.Sowohl John Adams als auch seine Ehefrau Abigail lehnten die Sklaverei entschieden ab und beschäftigten später zur Bewirtschaftung ihres Landguts stets freie Arbeiter. Adams sah jedoch – wie auch Benjamin Franklin, ein anderer Gegner der Sklaverei – das enorme innenpolitische Konfliktpotenzial dieser Frage: Hätte die Unabhängigkeitserklärung eine klare Verurteilung der Sklaverei enthalten, dann hätten die sklavenhaltenden Südstaaten dieser nie zugestimmt. Nach Heinrich August Winkler war Adams „nicht gewillt, die Unabhängigkeitserklärung am unüberbrückbaren Gegensatz in dieser Frage scheitern zu lassen.“ Politische Initiative zur Unterstützung des Abolitionismus entfaltete Adams daher nie.Obschon Adams in einem puritanisch-kongregationalistischen Umfeld aufwuchs, bezeichnete er sich später (wie seine Frau) als Unitarier und lehnte die Göttlichkeit Jesu ab. == Nachleben == === Historische Bewertungen === Im herkömmlichen Geschichtsverständnis war Adams bis in die 1990er Jahre einer der am wenigsten verstandenen Gründerväter und stand im Schatten von Washington, Franklin und Jefferson. Teilweise wurde er als ein aufgeblasener und selbstgefälliger Wichtigtuer und Verlierer karikaturhaft überzeichnet, der als erster Präsident abgewählt wurde und die Föderalistische Partei in den Untergang geführt habe. Für das 20. Jahrhundert nennt Ferling drei wesentliche Biographen, die über Adams geschrieben haben: Gilbert Chinard, Page Smith und Peter Shaw. Chinard, der sein Werk kurz nach dem Ersten Weltkrieg verfasste, sah Adams zwar in gewisser Weise als engstirnig an, betrachtete ihn aber als den realistischsten amerikanischen Politiker seiner Generation. Die Leistungen Adams’, den er mit Georges Clemenceau verglich, veranschlagte er höher als die von Jefferson. Knapp 30 Jahre später, während der Hochphase des Kalten Kriegs, verfocht Smith den zweiten Präsidenten als einen Lehrmeister für das zeitgenössische Amerika, der die junge Republik vor radikalen Jakobinern wie Paine beschützt habe. Shaw schließlich konzentrierte sich in seiner Biographie auf die psychologischen Handlungsmotive von Adams. Dabei reduzierte er ihn auf eine Person, die, von enormen Ehrgeiz getrieben, daran scheitert, ihre Ruhmsucht in den Griff zu bekommen und am Ende den Respekt der sozialen Umwelt verliert.Das lange Zeit vorherrschende negative Bild Adams’ liegt teilweise in seiner umfangreichen Korrespondenz samt Tagebuch begründet, was beides zwar bei Washington, Franklin und Jefferson ebenfalls voluminös erhalten ist, allerdings nicht von derart persönlicher und offener Natur in der Kommunikation zeugt. Ein weiterer Aspekt in diesem Zusammenhang ist Adams’ Verbitterung nach dem Verlust der Präsidentschaft, der er in sehr vielen Briefen freien Lauf ließ. Ferling sieht in seiner 1992 erschienenen Adams-Biographie eine weitere Ursache für dessen schwache Reputation in seinen letzten bedeutenden Werken zur Staatstheorie, da diese außerhalb der Richtung lagen, die das politische Denken der nächsten Generationen bestimmen sollte. Ähnlich urteilt Jürgen Heideking in dem 1995 erstmals erschienenem Sammelwerk Die amerikanischen Präsidenten: 44 historische Portraits von George Washington bis Barack Obama: Adams sei zwar einer der begabtesten und moralisch integersten Männer der Gründergeneration gewesen, doch habe er als intellektueller Gegenpol zum allgemeinen Drang nach mehr Gleichheit und Demokratie fungiert. Zudem habe er durch seine Persönlichkeit polarisierend gewirkt, was ihn deutlich vom „präsidiablen“ Washington unterschieden habe. Laut Heideking sei Adams als ein großer Staatsmann anzusehen, was aber weniger in seiner Präsidentschaft als seiner Lebensleistung insgesamt begründet liege.In seiner im Jahr 1993 erschienenen Adams-Biographie wies Joseph J. Ellis darauf hin, dass in der Geschichtswissenschaft die Beschäftigung mit Adams aufgrund der Erforschung seiner umfangreichen Korrespondenzen einen Neuanfang erlebe. Er sieht in Adams den am meisten missverstandenen und verkannten großen Mann in der amerikanischen Geschichte. Im Zeitraum zwischen 1998 und 2007 gab es kaum einen Präsidenten, zu dem so viel Fachliteratur veröffentlicht wurde wie zu Adams, wobei insbesondere die Biographie von David McCullough aus dem Jahr 2001 zu nennen ist, die mit dem Pulitzer-Preis ausgezeichnet und Grundlage für die Miniserie John Adams – Freiheit für Amerika wurde. Diese und die Werke von Richard Alan Ryerson, Bradley C. Thompson, Michael Burgan, Stuart A. Kallen und Bonnie L. Lukes führten zu einer Neubewertung seiner Präsidentschaft, die allmählich aus dem Schatten von Washington und Jefferson herauszutreten beginnt. Der Ansehensgewinn für Adams beschränke sich nicht nur auf die Fachwelt, sondern habe bereits die Öffentlichkeit erreicht, urteilt Ellis bereits im Jahr 2000. Er führt dafür drei Gründe an: Die endlosen politischen Skandale und der weitverbreitete Zynismus gegenüber den Akteuren in Washington in der Gegenwart ließen Adams als einen moralisch unzweifelhaften Staatsmann hervorstechen, dem es weniger um persönliche Macht als um Recht gegangen sei. In die Kontroversen um die Rolle des Staates, wie sie die jüngere Geschichte Amerikas dominieren, sei die Überzeugung des Gründervaters Adams von der Bedeutung einer starken Regierung vernünftiger und problemloser zu integrieren als der Anti-Establishment-Ethos von Jefferson. Als letzten Aspekt führt Ellis die unprätentiöse Aufrichtigkeit der Briefe und Tagebucheinträge von Adams an. Einerseits habe dies verhindert, dass er für die Nachwelt von einer mythischen Aura umgeben sei wie Franklin, Jefferson und Washington, andererseits stellten diese Aufzeichnungen wegen ihrer Ehrlichkeit das beste Zeitfenster dar, um die persönlichen Handlungsmotive der Gründerväter unverstellt zu beobachten. Zudem ist seine Biographie wegen der Fülle persönlicher Schriften die am besten dokumentierte für die Jahre um die Amerikanische Unabhängigkeitserklärung.In der amerikanischen Geschichte wurde bisher keine Amtszeit eines Präsidenten derart von einem einzigen außenpolitischen Konflikt dominiert wie diejenige von Adams durch den Quasi-Krieg mit Frankreich. Adams fehlten die Möglichkeiten, dieses Problem, das bereits unter Washington entstanden war, in seiner Amtszeit zu lösen. Zum einen mangelte es Paris an Bereitschaft und Autorität, eine Einigung herbeizuführen, zum anderen dem Präsidenten an politischer Unterstützung und Rückhalt in der öffentlichen Meinung. Adams hatte ein überragendes strategisches Verständnis und erkannte bereits im Frühjahr 1797, dass sowohl die probritische Fraktion um Hamilton als auch die profranzösischen Republikaner Amerika in einen auswärtigen Krieg zögen, sollten sie sich durchsetzen. Er ordnete sein politisches Überleben dem nationalen Interesse unter, die Vereinigten Staaten aus einem europäischen Konflikt herauszuhalten, was bis zum Ersten Weltkrieg der isolationistische Kurs der amerikanischen Außenpolitik gegenüber Europa blieb. Um in diesem Zusammenhang die heimischen Küsten schützen zu können, priorisierte Adams das Aufstellen der United States Navy gegenüber der Rekrutierung eines stehenden Heers, zumal er hier Hamilton als obersten Kommandanten fürchtete. Adams hatte kein Verständnis von Parteien im modernen Sinn und bemühte sich nach seiner Wahl um Kooperation mit Vizepräsident Jefferson. Die angestrebte Zusammenarbeit wurde jedoch einerseits von Madison und andererseits von der Führung der Föderalisten von Anfang an verhindert, so dass sich der konsensorientierte Präsident bereits in der frühen Amtszeit isoliert hatte. Während er den Respekt gegenüber Jefferson nie verlor, entstand zu Hamilton bald eine tief empfundene Feindschaft.Obwohl Adams keine kirchliche Laufbahn einschlug, bestimmte die puritanische Erziehung sein Denken und Handeln. Bewusst suchte er Situationen, die ihn einem Konflikt zwischen öffentlichem und persönlichem Interesse aussetzten, um seine moralische Integrität unter Beweis zu stellen. Ein häufig wiederkehrendes Motiv in den Tagebuchaufzeichnungen sind Selbstzweifel und -vorwürfe Adams’, inwieweit seine Ambitionen eine Sünde seien und er sie unter Kontrolle habe. === Ehrungen === Das Geburtshaus von John Adams, in dem er bis zu seiner Heirat wohnte und ab dem Jahr 1720 mehrere Generationen der Adams-Familie bis 1885 lebten, befindet sich heute im Adams National Historical Park. In diesem National Historical Park liegt des Weiteren Peacefield, in dem Adams und seine Gattin ab dem Jahr 1788 residierten, und das Geburtshaus von John Quincy Adams. Die United First Parish Church, in der John und John Quincy Adams mit ihren Ehefrauen bestattet sind, hat seit 1970 den Status einer National Historic Landmark.Insgesamt sind sieben Countys nach Adams benannt. Jackson in New Hampshire war bei seiner Gründung im Jahr 1800 zunächst nach Adams benannt worden; 1829 wurde der Ortsname jedoch zu Ehren seines Nachfolgers Jackson geändert. Eines der drei Gebäude der Library of Congress ist das im Jahr 1939 erbaute John Adams Building. Des Weiteren ist er Namensgeber des Vulkans Mount Adams. Im Jahr 2007 startete die Serie der Präsidentendollars mit den Porträts von Washington, Adams, Jefferson und Madison. === Filme === Life Portrait of John Adams. auf C-SPAN, 22. März 1999, 150 Min (Dokumentation und Diskussion mit David McCullough und Abigail Brown). John Adams – Freiheit für Amerika. USA 2008, 7-teilige Miniserie (HBO) von Tom Hooper. == Werke == === Zu Lebzeiten veröffentlicht === Dissertation on the canon and feudal law. In: The true sentiments of America. (1768) LCCN 08-014866. Thoughts on Government. (1776) LCCN 97-186135. History of the dispute with America, from its origin in 1754. (1784) LCCN unk82-041491. A defence of the constitutions of government of the United States of America. (1787) LCCN 69-011328. Discourses on Davila. (1805) LCCN 09-022156. Novanglus, and Massachusettensis. (1819 als Buch; Ersterscheinung als Essaysammlung 1774–1775 in der Boston Gazette). LCCN 05-009998; archive.org. === Werkausgaben === George A. Peek, Jr. (Hrsg.): The Political Writings of John Adams: Representative Selections. Neuauflage. Indianapolis 2003, ISBN 0-87220-699-8. Lester J. Cappon (Hrsg.): The Adams-Jefferson Letters: The complete correspondence between Thomas Jefferson and Abigail and John Adams. Erneuerte Auflage. University of North Carolina, Chapel Hill 1987, ISBN 978-0-8078-1807-7. Gregg L. Lint, Robert J. Taylor et al. (Hrsg.): Papers of John Adams. Bisher 17 Ausgaben. Harvard University Press, Cambridge 1980–. Charles Francis Adams, Sr. (Hrsg.): The works of John Adams, second President of the United States: with a life of the author, notes and illustrations. 10 Bände. Little, Brown and Company, Boston 1850–1856, LCCN 08-019755. == Literatur == Richard B. Bernstein: The Education of John Adams. Oxford University Press, New York 2020, ISBN 978-0-19-974023-9. Nancy Isenberg, Andrew Burstein: The Problem of Democracy: The Presidents Adams Confront the Cult of Personality. Penguin, New York 2020, ISBN 978-0-525-55752-4. Richard Alan Ryerson: John Adams’s Republic: The One, the Few, and the Many. Johns Hopkins University Press, Baltimore 2016, ISBN 978-1-4214-1923-7. Jürgen Heideking: John Adams (1797–1801): Der Präsident als Garant des gesellschaftlichen Gleichgewichts. In: Christof Mauch (Hrsg.): Die amerikanischen Präsidenten: 44 historische Portraits von George Washington bis Barack Obama. 6., fortgeführte und aktualisierte Auflage. Beck, München 2013, ISBN 978-3-406-58742-9, S. 65–72. Joseph J. Ellis: First Family: Abigail and John Adams. Vintage, New York 2011, ISBN 978-0-307-38999-2. John E. Ferling: John Adams: A Life. Taschenbuchausgabe. Oxford University Press, New York 2010, ISBN 978-0-19-539866-3. Richard Alan Ryerson (Hrsg.): John Adams and the Founding of the Republic. Northeastern University Press, Boston 2005, ISBN 978-0-934909-78-5. David McCullough: John Adams. Taschenbuchausgabe. Simon & Schuster, New York 2004, ISBN 0-7432-2313-6. John P. Diggins: John Adams. (= The American Presidents Series. Hrsg. von Arthur M. Schlesinger, Sean Wilentz. The 2nd President). Times Books, New York 2003, ISBN 0-8050-6937-2. Joseph J. Ellis: Passionate Sage: The Character and Legacy of John Adams. 2. Auflage. W.W. Norton, New York 2001, ISBN 0-393-31133-3. Peter Shaw: The Character of John Adams. University of North Carolina, Williamsburg 1976, ISBN 0-8078-1254-4. Ralph Adams Brown: The Presidency of John Adams. University Press of Kansas, Lawrence 1975, ISBN 0-7006-0134-1. Page Smith: John Adams. 2 Bände. Doubleday, Garden City 1962, LCCN 63-007188 Gilbert Chinard: Honest John Adams. Little, Brown, and Company, Boston 1933, LCCN 33-032200 == Weblinks == Literatur von und über John Adams im Katalog der Deutschen Nationalbibliothek John Adams in der Notable Names Database (englisch) John Adams: A Resource Guide. Library of Congress John Adams im Biographical Directory of the United States Congress (englisch) American President: John Adams (1735–1826). In: Miller Center of Public Affairs der University of Virginia (englisch, Redakteur: C. James Taylor) The American Presidency Project: John Adams. Datenbank der University of California, Santa Barbara mit Reden und anderen Dokumenten aller amerikanischen Präsidenten (englisch) John Adams in der Datenbank von Find a Grave (englisch)Vorlage:Findagrave/Wartung/Verschiedene Kenner im Quelltext und in Wikidata == Anmerkungen ==
https://de.wikipedia.org/wiki/John_Adams
Bordeaux
= Bordeaux = Vorlage:Infobox Gemeinde in Frankreich/Wartung/abweichendes Wappen in Wikidata Bordeaux ([bɔʀˈdo]; französisch ; okzitanisch Bordèu) ist Universitätsstadt und politisches, wirtschaftliches und wissenschaftliches Zentrum des französischen Südwestens. Ihre Einwohner nennen sich Bordelais. Berühmtheit hat die Stadt insbesondere durch den Bordeauxwein und ihre Küche erlangt, aber auch durch ihr bauliches und kulturelles Erbe. Bordeaux ist Sitz der Präfektur des Départements Gironde und Hauptstadt der Region Nouvelle-Aquitaine, ferner Sitz eines Erzbischofs und eines deutschen Generalkonsulats. Die Stadt hat aufgrund der vielen Museen, die sich dort befinden, und aufgrund der Tatsache, dass während der Invasionen Deutschlands nach Frankreich 1870/71, 1914, 1940 regelmäßig zeitweise der Regierungssitz von Paris nach Bordeaux verlegt wurde, den Ruf einer „zweiten Hauptstadt“ Frankreichs. Bordeaux selbst hat 259.809 Einwohner (Stand: 1. Januar 2020). Der engere Ballungsraum Bordeaux kommt auf etwa 773.542 Einwohner und umfasst auch 26 umliegende Kommunen, die im Kommunalverband Bordeaux Métropole organisiert sind. Die Fläche beträgt 578,3 Quadratkilometer und die Bevölkerungsdichte weist 1338 Einwohner pro Quadratkilometer auf. Dieser Verband ist wiederum Teil einer Agglomeration (Aire urbaine de Bordeaux), die den weiteren Einzugsbereich mit insgesamt 51 Kommunen umfasst und so auf 1.215.769 Einwohner kommt, die auf 5.613,4 Quadratkilometer wohnen, was einer Bevölkerungsdichte von 216 Einwohnern pro Quadratkilometer entspricht. Bordeaux ist damit die größte Stadt im Département Gironde und der Region Aquitanien und die neuntgrößte Stadt Frankreichs. Die Agglomeration rangiert in Frankreich an sechster Stelle. Von Bordeaux aus wird auch das gleichnamige Arrondissement verwaltet, das aus 21 Kantonen besteht. == Geographie == Bordeaux ist eine Stadt, die im Südwesten Frankreichs, etwa 45 Kilometer vom Atlantik entfernt an der Garonne liegt, die sich in einem weiten Bogen durch die Stadt zieht. Diese Form einer Mondsichel verhalf der Stadt zum Namen Port de la lune (Hafen des Mondes). Einige Kilometer flussabwärts vereinigt sich die Garonne mit der Dordogne zum über 70 Kilometer langen Mündungstrichter Gironde. Bis in das Stadtgebiet hinein sind daher die Gezeitenkräfte zu beobachten. Bei Flut drückt das einströmende Meerwasser den Fluss zurück und hebt den Pegel um etwa vier bis fünf Meter. Die entstehenden Strömungen sorgen für Strudel und ein unruhiges Oberflächenwasser. Bisweilen kann sich auch eine regelrechte Welle dutzende Kilometer flussaufwärts bewegen. Dieses Phänomen wird in Bordeaux mascaret (Springflut) genannt. === Geologie === Das linke Ufer der Garonne, auf dem sich der weitaus größte Teil des Stadtgebietes befindet, besteht aus weiten, sumpfigen Ebenen, aus denen niedrige Anhöhen ragen. Diese bestehen aus Geschiebesedimenten und weisen zum größten Teil Kies und Schotter als Untergrund auf. Die Böden sind mager, jedoch aufgrund der Wasserdurchlässigkeit und der Fähigkeit, Wärme zu speichern, für den Weinbau hervorragend geeignet. Die Stadt Bordeaux liegt zwischen dem flussabwärts gelegenen Médoc und dem sich flussaufwärts ziehenden Gebiet der Graves, die geomorphologisch sehr ähnlich sind. Berühmte Weingüter sind bis in das stark verstädterte Ballungsgebiet hinein keine Seltenheit. Das rechte Ufer geht fast unmittelbar in ein bis zu 90 Meter hohes Kalkplateau über, sodass dort eine markante Steilstufe besteht. Das Plateau beheimatet in etwa 20 Kilometern Entfernung weltberühmte Weinbaugebiete wie Saint-Émilion, Pomerol und Fronsac, in denen einige der teuersten Weine der Welt kultiviert werden. === Klima === Bordeaux liegt am Südrand der gemäßigten Klimazone. Die sehr milden Winter und die langen, warmen Sommer lassen bereits subtropisch-mediterranen Einfluss spüren. Niederschlag ist zu allen Jahreszeiten häufig; mit einer Niederschlagsmenge von über 900 Millimeter pro Jahr werden für französische Verhältnisse relativ hohe Mengen erreicht. Diese fallen hauptsächlich im Winterhalbjahr, im Sommer eher in Form von Wärmegewittern. Die höchste jemals in Frankreich gemessene Niederschlagsmenge innerhalb einer halben Stunde wurde im Juli 1883 aus Bordeaux gemeldet. Enorme Schäden verursachte auch ein „Doppelgewitter“ im Jahre 1982, als am 31. Mai innerhalb einer Stunde das gesamte Monatssoll abregnete und drei Tage später in 50 Minuten nochmals ein halbes. Die Jahresmitteltemperatur liegt bei etwa 12,8 °C mit einem durchschnittlichen Minimum von 5,9 °C im Januar und einem Maximum von 20,2 °C im Juli. Die zeitlich nach hinten verschobenen Temperaturmaxima liegen im ozeanischen Klima begründet. Trotz des ausgeglichenen Temperaturgangs können bei entsprechenden Wetterlagen extreme Temperaturen auftreten: Während der Hitzewelle 2003 erreichten die Höchstwerte an zwölf aufeinander folgenden Tagen mindestens 35 °C, davon an einem Tag 41 °C. Die Stadt hat eine hohe Sonneneinstrahlung vorzuweisen. Mit etwa 2000 Sonnenstunden pro Jahr übertrifft Bordeaux die meisten französischen Regionen mit Ausnahme des Mittelmeerraumes und einzelner Küstengebiete am Atlantik. Die Mikroklimate von Bordeaux und Umgebung sind mit entscheidend für die hervorragenden Weinbaubedingungen: Die Stadt und die umliegenden Anbaugebiete sind durch einen breiten Streifen Pinienwaldes (Forêt des Landes) vor den Seewinden geschützt. Zudem sorgt die Gironde für einen temperaturausgleichenden Effekt, da dieses Gewässer tagsüber gespeicherte Wärme nachts abgibt und außerdem breitflächig die Sonneneinstrahlung in das Umland reflektiert. === Stadtviertel === Bordeaux ist verwaltungstechnisch in acht städtische Arrondissements aufgeteilt. Die Arrondissements 1 bis 6 liegen am linken Garonne-Ufer und sind von Norden nach Süden durchnummeriert, das siebte bezeichnet das rechte Garonne-Ufer und das achte den eingemeindeten Stadtteil Caudéran. Da hierbei historisch Gewachsenes zumeist nicht berücksichtigt wurde, hat dies dazu geführt, dass sich die Bewohner nicht – wie zum Beispiel in Paris – mit ihren Arrondissements identifizieren. Stattdessen ist es üblich, den Wohnsitz nach Vierteln beziehungsweise Stadtteilen anzugeben. Üblicherweise geben diese auch einen gewissen Aufschluss über den Lebensstandard. ==== Vieux Bordeaux (Altstadt) ==== Seit 2007 ist die Altstadt von Bordeaux unter der Bezeichnung Historisches Zentrum von Bordeaux („Hafen des Mondes“) UNESCO-Welterbe. Das Gebiet innerhalb der ehemaligen Stadtmauer ist der historische Kern von Bordeaux. Es wird durch die ringförmige Struktur der Hauptstraßen und das Garonne-Ufer begrenzt und von zwei Hauptachsen geteilt: Von Norden nach Süden verläuft die über einen Kilometer lange, heute vollständig zur Fußgängerzone umgestaltete Rue Sainte-Catherine vom Place du Grand Théâtre bis zum Place de la Victoire, wo die alten Gebäude der Universität stehen. Hier und westlich davon liegt das Geschäftsviertel von Bordeaux mit Handels- und Dienstleistungsschwerpunkt, östlich bis zur Garonne überwiegt – teils sehr alte – Wohnbebauung. Die Ost-West-Achse wird durch die Pont de pierre gebildet, die einzige Brückenquerung innerhalb des historischen Zentrums. Ihre Fortführung bildet der Cours Victor Hugo. Nördlich überwiegen Wohn- und Geschäftslagen gehobenen bis sehr hohen Standards, südlich einfache Lagen. Im Nordwestteil in den Vierteln Quinconces und Hôtel de Ville finden sich feine Restaurants und Cafés, repräsentative Niederlassungen von Banken und Finanzdienstleistern, Kinos und Einzelhandel für den gehobenen bzw. Luxusbedarf. Hier liegt das schon zu Zeiten der Intendanten sogenannte Triangle d’or (Goldenes Dreieck), ein fast gleichseitiges Dreieck, das aus drei Alleen gebildet wird und als Schaufenster des feinen Bordeaux gilt. Im Nordostteil in den Vierteln Saint-Pierre und Saint-Eloi befinden sich Restaurants, Hotels und Kneipen. Der ursprünglich alternative Charme weicht langsam einem gewissen Chic. Der Südwestteil im Viertel Victoire ist stark studentisch geprägt, aber auch bevorzugter Wohnort der Mittelschicht. Im Südosten in den Vierteln Capucins, Saint-Michel und Sainte-Croix überwiegen mit Alten, Arbeitern, Arbeitslosen und Immigranten einkommensschwache Bevölkerungsschichten. ==== Die ehemaligen Faubourgs (Vorstädte) ==== Der Wohngürtel zwischen Cours und Boulevard ist aus ehemaligen Vorstädten außerhalb der Stadtmauer entstanden und ist mit Ausnahmen ähnlich aufgebaut: Im Norden überwiegen bevorzugte, im Süden einfache Lagen. Entlang der Garonne liegen im Norden die Viertel Chartrons und Grand Parc, ersteres ist der Sitz vieler Weinhändler und bürgerlich geprägt, letzteres ist eine Großsiedlung für einkommensschwache Schichten. Der Nordwesten rund um das Palais Gallien beherbergt das Viertel Saint-Seurin, eine gehobene Wohnlage und Sitz vieler Konsulate. Im Westen ragt das Einkaufs- und Verwaltungszentrum Mériadeck empor, das einzige innerstädtische Hochhausensemble. Für dessen Errichtung wurden großflächig einfache Viertel abgerissen, deren Zustand als marode und unhygienisch angesehen wurde. Obwohl zwischen den Handels- und Verwaltungsflächen hochwertige Wohnbebauung geplant war, ist es nicht zu einer verstärkten Ansiedlung der Oberschicht gekommen; die Bauten haben im Gegenteil bereits eine leichte Patina angesetzt. Die großzügige verkehrstechnische Erschließung führte aber zur Ansiedlung einiger Hotels höheren Standards. Rund um Mériadeck ist die ursprüngliche Bebauung für die untere bis mittlere Mittelschicht erhalten geblieben, die zumeist aus ein- bis zweigeschossigen Häuserzeilen mit kleinen Gärten besteht. Diese sogenannten échoppes sind bei der Bevölkerung heute sehr beliebt. Saint Genès im Südwesten ist großbürgerlich geprägt, während das Bahnhofsviertel im Süden bis heute Wohngegend der Armen ist. Industrie und Gewerbe, Bahnlinien und wenig ansprechende Infrastruktur wie die zentralen Schlachthöfe prägen das Bild. Das rechte Ufer der Garonne ist nach Jahrzehnten der Vernachlässigung ins Blickfeld der Stadtplaner gerückt. Anstelle der industriell und durch die Eisenbahn geprägten Viertel Bastide und Benauge wird direkt gegenüber der Altstadt ein vollständig neuer Wohnbezirk für die Oberschicht gebaut. Dies geschieht vor allem in La Bastide auf dem südlichen Areal des ehemaligen Eisen- und Güterbahngeländes und der daran angrenzenden Gewerbegebiete. Den Anfang machten hierzu der Umbau des alten Bahnhofs Gare d’Orléans zu einem Multiplex-Kino und die Eröffnung des Botanischen Gartens Jardin botanique de Bordeaux im Jahr 2003. Jenseits des Boulevards liegen im Norden das Viertel Lac ohne nennenswerte Wohnbebauung sowie Bacalan, traditionelles Revier der Hafenarbeiter und heute stark von Arbeitslosigkeit geprägt. Im Westen befindet sich Caudéran, ein 1964 eingemeindeter Vorort mit lockerer Bebauung und einigen repräsentativen Villen. Hier ist der Parc Bordelais gelegen, die größte öffentliche Grünfläche der Stadt. Im Südwesten schließt sich Saint-Augustin an, ein Viertel der mittleren bis oberen Mittelschicht; hier liegen das Stadion Stade Chaban-Delmas und das Zentralkrankenhaus. ==== Agglomeration ==== Wie in fast allen französischen Ballungsräumen ist die Kernstadt Bordeaux von einem Gürtel eigenständiger Kommunen umgeben, die mit ihr untrennbar zusammengewachsen, aber nicht eingemeindet worden sind. Während Bordeaux im 20. Jahrhundert insgesamt an Einwohnern eingebüßt hat, sind diese Vororte teilweise auf das Zehnfache ihrer ursprünglichen Bevölkerung gewachsen. Die flächenmäßige Ausdehnung der Agglomeration ist insbesondere auf dem linken Garonne-Ufer bemerkenswert: Seit Jahrzehnten frisst sich die Stadt förmlich in den umgebenden Pinienwald hinein, immer wieder einen Gürtel aktuell bevorzugter Randwohnlagen vor sich herschiebend. Zum Flächenverbrauch trägt auch die fast durchweg niedrige Bebauung bei. Der hochverdichtete Teil des Ballungsraumes liegt etwa innerhalb des Autobahnrings. Die Schnittpunkte zwischen dem ringförmigen Boulevard und den Ausfallstraßen sind die sogenannten Barrières. Diese bilden keineswegs deutliche Grenzen zwischen Bordeaux und der Vorstadt, sondern sind im Gegenteil aufgrund ihrer Verkehrslage zu kleinen Nebenzentren der Innenstadt geworden, deren eine Hälfte in Bordeaux liegt, die andere teils schon in den Nachbarkommunen, die außerdem über jeweils eigene Stadtzentren verfügen. Diese Orte weisen Bevölkerungsstärken zwischen 10.000 und 70.000 Einwohnern auf. Außerhalb dieser Städte bzw. jenseits des Autobahnrings wird die Bebauung lockerer, die Einwohnerdichte geringer und das Durchschnittseinkommen der Bewohner liegt höher. Einige große Einrichtungen wie Flughafen und Industrieansiedlungen unterbrechen das gleichförmige Bild. Die in diesem äußeren Gürtel gelegenen Kommunen verzeichnen zwischen 5000 und 25.000 Einwohner. Auf der gegenüber liegenden Seite der Garonne ist aufgrund des geringeren Platzangebotes der Übergang unvermittelt. Während nahe der Stadtgrenze in Lormont und Cenon Hochhausbebauung im größeren Stil herrscht, beginnt unmittelbar östlich davon bereits der ländliche Raum. === Flora und Fauna === Das Stadtgebiet ist auf fast 90 % der Fläche derart verdichtet, dass kein Platz für natürliche Lebensräume bleibt. Hier beschränkt sich die Vegetation auf Parks, Grünstreifen und leeren Baugrund. Auch die Tierwelt existiert nur insoweit, wie sie sich an fast geschlossen überbaute Flächen anpassen kann. Bordeaux hat insbesondere ein massives Problem mit seiner Rattenpopulation, das die Stadtverwaltung seit Jahren durch eine verbesserte Müllentsorgung und stärkere Kontrolle der gastronomischen Einrichtungen bekämpft. Naturnaher Raum findet sich im äußersten Norden des Stadtgebiets und vereinzelt an den Ufergestaden der Garonne gegenüber der Altstadt. Insbesondere im Norden, der als Naherholungsgebiet ausgewiesen wurde, sind einige Flächen bewusst nicht bewirtschaftet worden, sodass hier noch eine Flora und Fauna existiert, wie sie entlang der Gironde typisch ist: Eine Reihe von Zugvögeln hat hier ihre Rastplätze, in den Gehölzen finden sich einige Arten von Niederwild und an sumpfigen Stellen sind auch Bewohner von Feuchtgebieten (Amphibien usw.) zu finden. Ein eigenes Biotop bilden die Rebflächen, die im Stadtgebiet von Bordeaux allerdings verschwunden sind. In einigen angrenzenden Städten wie Pessac oder Villenave-d’Ornon dagegen wird Wein kultiviert. Hier haben Rebhühner und Kaninchen sowie deren Fressfeinde (Greifvögel usw.) ihre Lebensräume. Relativ ungestört ist der aquatische Lebensraum. In der Garonne existiert eine Vielzahl von Organismen, die sich an die Verhältnisse in Brackwasserreservoiren angepasst haben, siehe hierzu Gironde. In den künstlich geschaffenen Seen leben vornehmlich Zier- bzw. Angelfische. == Geschichte == Die Geschichte von Bordeaux erstreckt sich über einen Zeitraum von annähernd 2300 Jahren. Sie ist von Kelten, Römern, Franken und dem englisch-französischen Gegensatz geprägt. Seit Mitte des 15. Jahrhunderts gehört Bordeaux ununterbrochen zu Frankreich. Im Laufe der Jahrhunderte erreichte die Stadt drei ökonomische Blütezeiten, die vor allem auf die strategische Lage der Handels- und Verkehrsverbindungen zurückzuführen sind. === Antike === Die Stadt geht auf eine keltische Siedlung aus dem 3. Jahrhundert v. Chr. zurück, die unter den Römern Burdigala genannt und zur Hauptstadt der Provinz Aquitania erhoben wurde. In dieser Zeit erlebte Bordeaux seine erste Blütezeit, die mehrere hundert Jahre andauerte; sowohl der schon damals praktizierte Weinbau als auch die günstige Lage als Seehafen waren Ursache dafür. Da das unmittelbare Umland sumpfig – das aquitanische Wort burd bedeutet Sumpf – und von Malaria verseucht war und daher für eine Besiedlung ungeeignet erschien, ist Bordeaux ein Beispiel für eine Stadtgründung aus rein strategischen Erwägungen. Die Via Aquitania verband Bordeaux über Toulouse mit Narbonne, die ältere Via Agrippa verband die Stadt mit Lyon und von dort mit den Zentren Augusta Treverorum, Colonia Claudia Ara Agrippinensium und Massilia. Das Stadtbild des antiken Burdigala muss beeindruckend gewesen sein; Reiseberichte römischer Schriftsteller beschrieben es als eine reiche, prächtige Stadt. Noch während des Niedergangs Westroms konnte die Stadt einen gewissen Lebensstandard innerhalb ihrer Befestigungen wahren, bevor eine Reihe von Plünderungen und Verwüstungen infolge der Völkerwanderung dem Wohlstand ein Ende setzten. === Mittelalter === Im 5. Jahrhundert wurde Bordeaux durch die Westgoten, kurz darauf durch die Franken eingenommen. Spätestens nach der Aufteilung des Teilreiches von Charibert I. von Paris, also 567, gehörte Bordeaux zu Neustrien. Nach der Heirat des neustrischen Königs Chilperich I., gab dieser die Stadt, zusammen mit Cahors, Limoges, Bearn und Bigorre jedoch als Morgengabe an seine Braut Gailswintha. Diese fünf Städte lagen strategisch zum Gebiet des Schwiegervaters Athanagild, dem König der Westgoten. Nachdem Chilperich die Ermordung seiner Gattin veranlasst hatte, ging dieses Erbe, nach einer Regelung eines von Guntram, dem König der Burgunder einberufenen Malbergs, auf das Königreich Austrasien über. Letzten Endes damit nicht einverstanden, versuchte Chilperich im Jahr 573, mit seinem Sohn Chlodwig als Heerführer, die Städte zurückzuerobern. Zwar gelang kurzfristig die Eroberung von Bordeaux, jedoch wurden die Truppen Chlodwigs schon einen Monat später vom austrischen Markgrafen Sigulf wieder vertrieben.732 verwüstete Abd ar-Rahman während seines Feldzugs die Stadt. Nach der Niederlage der Araber bei Poitiers wurden diese hinter die Pyrenäen zurückgedrängt, jedoch fielen im 9. Jahrhundert die Normannen ein und plünderten die Stadt erneut. Erst danach begann sich Bordeaux zu erholen. Ein Wendepunkt trat ein, als Eleonore von Aquitanien durch die Heirat mit Heinrich II. den französischen Südwesten zu englischem Lehen machte. Vom 12. bis zum 15. Jahrhundert blieb Bordeaux unter der Herrschaft der Könige von England und erlebte eine zweite wirtschaftliche Blüte. Die Stadt wurde mit einer neuen Stadtmauer versehen und die romanische Kirche durch einen gotischen Bau, die Kathedrale Saint-André, ersetzt. Bordeaux war Sitz eines Erzbischofs und Hauptstadt des Fürstentums Guyenne, der englischen Adaptation des französischen Begriffs Aquitaine. Von 1462 bis 1790 war Bordeaux der Sitz des parlement de Bordeaux, welches für Aquitanien zuständig war und dort im Auftrag der Krone Legislative, Jurisdiktion und Exekutive ausübte. Insbesondere entschied es als Appellationsgericht in letzter Instanz alle Zivilprozesse (im schriftlichen Verfahren) und sämtliche Strafprozesse (im mündlichen Verfahren). Über Jahrhunderte stand das parlement de Bordeaux in Konkurrenz zum parlement de Toulouse, wobei es meist um Kompetenz- und Prioritätsstreitigkeiten ging. Im Vergleich zu anderen französischen Provinzen war der Lebensstandard in Bordeaux und Umgebung hoch. Die Lebensmittelversorgung war ausreichend und die Stadt profitierte von einem Handelsnetz, über das der heimische Wein exportiert und englische Fertigwaren importiert werden konnten. Während des Hundertjährigen Krieges konnten sich die Engländer in Bordeaux halten, erst nach der Schlacht bei Castillon mussten sie die Guyenne endgültig räumen. Am 19. Oktober 1453 zogen die Truppen Karls VII. in die Stadt ein. Die Rückkehr nach Frankreich wurde von den Bürgern, viele von ihnen mächtige und reiche Kaufleute, keineswegs begrüßt, da hierdurch die bisherigen Absatzmärkte in England wegfielen. Auch der König sicherte sich ab, indem er zwei große Festungen bauen ließ, im Norden das Château de la Trompette und im Westen das Château du Hâ. Diese waren vor allem Verteidigungsbauten, aber die Geschütze konnten im Falle von Aufständen auch gegen die Bevölkerung gerichtet werden. Im Jahr 1441 wurde die Universität Bordeaux gegründet. === Neuzeit === ==== Vom Absolutismus bis zum 20. Jahrhundert ==== Nach einem zwischenzeitlichen Niedergang erlebte Bordeaux seine dritte Blütezeit im 18. Jahrhundert durch den florierenden atlantischen Seehandel, insbesondere mit den Antillen. Zu dieser Zeit wurden einige fähige Intendanten in die Stadt entsandt, die ihr ein völlig neues Gesicht verliehen. Vor allem der Marquis de Tourny leistete hier Bedeutendes. Die alten Stadtmauern wurden abgerissen und durch breite Prachtstraßen ersetzt, die sogenannten Cours. Entlang dieser Cours entstanden einige der beeindruckendsten Privathäuser, die noch heute teilweise wie Paläste erscheinen. Die prächtigen Gebäude am Rande der Hafenquais stammen ebenfalls aus dieser Zeit. Das im klassizistischen Stil errichtete Grand Théâtre empfing die begehrtesten Ensembles von ganz Frankreich. Ein Meisterwerk merkantiler Baukunst ist das Palais de la Bourse, der Sitz der Börse. Diese Umgestaltung von Bordeaux im Sinne des aufgeklärten Absolutismus beeindruckte den jungen Georges-Eugène Haussmann und dürfte zum Teil vorbildhaft für die Umgestaltung von Paris unter Napoleon III. geworden sein. Zur Zeit der Französischen Revolution wurde Bordeaux Hauptstadt des Départements Gironde. In der Nationalversammlung stellten die Abgeordneten, die Girondins genannt wurden, eine bedeutende Gruppe, die zunächst erheblichen Einfluss hatte und maßgeblich an der Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte und der neuen Verfassung mitwirkte. Diese Girondisten waren politisch den Liberalen zuzuordnen. Sie verloren mit der Terrorherrschaft der Jakobiner um Maximilien de Robespierre 1793/94 allerdings ihren Einfluss und wurden verfolgt. Ein Jahrhundert später wurde ihnen auf dem Place des Quinconces das Monument aux Girondins gewidmet. Auch die wirtschaftliche Situation in Bordeaux verschlechterte sich wieder. Während der napoleonischen Kriege wurden gewaltige Kontingente in Richtung Spanien verlegt, die unter anderem Bordeaux passierten. Diesem Umstand ist es zu verdanken, dass 1822 mit der Pont de pierre die erste feste Brücke über die Garonne gebaut wurde. Die Bedenken der lokalen Amtsträger, die technischen Herausforderungen angesichts der starken Strömung und der unberechenbaren Fluten nicht meistern zu können, soll Napoleon zu dem Satz „Impossible n’est pas français!“ (Unmöglich ist nicht französisch!) veranlasst haben. In dieser Zeit wuchs die Bevölkerung trotz wirtschaftlicher Schwierigkeiten erheblich. Es entstanden zwischen den Cours und der neuen Stadtgrenze, dem heutigen Boulevard, der teils bis heute Stadtgrenze geblieben ist, neue Vorstädte, die sich auf dem linken Garonne-Ufer ringförmig um den mittelalterlichen Kern ausbreiteten. Im Nordwesten und Südwesten lagen die Viertel des gehobenen Bürgertums, dazwischen die einfachen Wohngegenden für Arbeiter und Kleinbürgertum. Das rechte Ufer der Garonne entwickelte sich im Vergleich nur langsam. Während der aufkommenden Industrialisierung siedelten sich hier und in der Hafengegend die meisten Großbetriebe an. Bordeaux begann mit seinen Nachbarstädten zusammenzuwachsen. ==== Seit dem 20. Jahrhundert ==== ===== Bordeaux im Zweiten Weltkrieg ===== 1870/71 sowie im Ersten und Zweiten Weltkrieg zog sich die französische Regierung vor den heranrückenden deutschen Truppen aus Paris nach Bordeaux zurück. Mitte Juni 1940 waren zudem mehr als eine halbe Million vor der Wehrmacht flüchtende Zivilisten und Soldaten in der Stadt angekommen.Vom 1. Juli 1940 bis zum 27. August 1944 war Bordeaux von Truppen der deutschen Wehrmacht besetzt, die hier einen wichtigen U-Boothafen errichteten und ab 1942 ein Marinelazarett unterhielten. Trotz dieser Tatsache und der exponierten Lage nahe der Atlantikküste, die von den Deutschen zum „Atlantikwall“ ausgebaut und in ihrer ganzen Länge mit Bunkern befestigt wurde, blieb Bordeaux nahezu unbeschädigt. Die Ölraffinerieanlagen im Norden von Bordeaux wurden im August 1940 aus der Luft bombardiert. Während dieser Zeit war die Stadt wie der ganze französische Südwesten eine Hochburg der Résistance. Am 21. Oktober 1941 wurde der Kriegsverwaltungsrat Hans Gottfried Reimers durch den Widerstandskämpfer Pierre Rebière getötet. Am Tag zuvor war in Nantes auf den Feldkommandanten Karl Hotz ein Attentat verübt worden. Deshalb wurden in Nantes am 22. Oktober 1941 48 Geiseln und in Bordeaux am 24. Oktober 1941 50 Gefangene von der deutschen Besatzungsmacht erschossen. Maurice Papon, der mit den Nationalsozialisten kollaborierende Sekretär des Präfekten der Gironde, Sabatier, versuchte, die Résistance mit grausamen Mitteln zu unterdrücken. Für seine Willkürherrschaft und seine Mitverantwortung am Holocaust – er war für die Deportation der Bordelaiser Juden verantwortlich – wurde ihm erst 1997 als einem der letzten Vertreter der Kollaboration der Prozess in Bordeaux gemacht. Jacques Chaban-Delmas, eine der wichtigsten Persönlichkeiten des Widerstands gegen die deutsche Besatzung, wurde nach dem Krieg zum Bürgermeister gewählt und hatte dieses Amt fast fünfzig Jahre lang inne. Nach der Invasion in der Normandie im Juni 1944 befahl Hitler, bei einem Rückzug der deutschen Truppen aus Bordeaux die Hafenanlagen und die unter Napoleon Bonaparte gebaute Brücke Pont de pierre in Bordeaux zu zerstören. Der Divisionskommandeur Generalleutnant Albin Nake schloss entgegen dem Befehl aber nach Verhandlungen mit den Vertretern der örtlichen Résistance eine geheime Übereinkunft, dass die Stadt Bordeaux nicht zerstört würde, wenn die kampflos abziehenden deutschen Truppen von den Gruppen des Widerstandes nicht angegriffen würden, sondern freies Geleit erhielten. Der deutsche Feldwebel Heinz Stahlschmidt hatte am 22. August 1944 das deutsche Munitionsdepot mit den bereitliegenden 4000 Zündern für die beabsichtigte Sprengung gesprengt und dabei mehrere deutsche Soldaten getötet. Ob dieser Sabotageakt die Zerstörung der Stadt verhindert hat, ist nicht geklärt, da die deutschen Truppen auch danach noch über genügend Artillerie verfügten, um die Stadt zu zerstören. An die getroffene Vereinbarung hielten sich beide Seiten, sodass die Zerstörung von Bordeaux unterblieb, Kampfmaßnahmen vermieden wurden und die deutschen Truppen und Zivilkräfte in drei Marschgruppen abziehen konnten. ====== Internierungslager in Bordeaux ====== Anfang 1939 wurden in Frankreich mehrere Internierungslager für Menschen eingerichtet, die während oder nach dem Ende des Spanischen Bürgerkriegs nach Frankreich geflüchtet waren. Diese Lager wurden nach dem Ausbruch des Zweiten Weltkriegs vielfach auch zur Internierung sogenannter unerwünschter Ausländer benutzt, wozu vor allem in Frankreich lebende Deutsche und Österreicher zählten – egal, ob sie nazi-freundlich oder Antifaschisten waren. Für Menschen in diesen Lagern, denen sich die Chance einer Ausreise in ein Drittland, zum Beispiel in die USA, bot, war Bordeaux neben Marseille und Le Havre einer der großen Einschiffungshäfen. Zu diesem Zweck wurde von Ende 1939 bis Juni 1940 in einer ehemaligen Seilfabrik in Bordeaux ein Lager für Internierte aus Les Milles eingerichtet, in dem die Menschen auf ihre Auswanderung warten mussten. Dieses Foyer des Emigrants am Quai de Bacalan 24 (Lage) verlor seine Funktion mit dem Beginn der deutschen Besatzung von Bordeaux. Am 17. Juli 1942 telegrafierte der Polizeichef von Bordeaux an die Präfekten der südlichen Zone und teilte ihnen mit, dass die in Frankreich ausgestellten Ausreisevisa für ausländische Juden fortan keine Gültigkeit mehr besäßen. Das Foyer des Emigrants wurde nach dem Kriegsausbruch vom Vichy-Regime dazu benutzt, politische Gegner, vor allem aber Kommunisten, zu internieren. Da das Lager bald überfüllt war, wurde es durch ein Lager in Mérignac ersetzt.Fort du Hâ (auch Château du Hâ; Lage), ein weiteres Internmierungsort in Bordeaux, war ein ehemaliger Herzogs-Palast aus dem 15. Jahrhundert, der 1790 in ein Gefängnis umgewandelt wurde und als solches in Betrieb blieb. Die deutschen Besatzungstruppen beschlagnahmten 1940 drei Viertel der Gefängnisflächen und sperrten hier Widerstandskämpfer ein. Sie wurden von hier aus zum Teil in deutsche Konzentrationslager deportiert oder kamen zur Erschießung ins Camp du Souge. Der von den Deutschen besetzte Teil des Fort du Hâ, das sogenannte Deutsche Viertel, wurde durch eine Backsteinmauer vom Rest des Gefängnisses abgetrennt. Das verbliebene Französische Viertel nahm nach allgemeinem Recht verurteilte Häftlinge auf und politische Gefangene, die von der Vichy-Polizei festgenommen worden waren.Vom Fort du Hâ ist heute nur noch ein Turm erhalten; auf dem Gelände des ehemaligen Gefängnisses befindet sich jetzt die École Nationale de la Magistrature, eine Verwaltungshochschule. Außerdem wurde hier ein Denkmal zur Erinnerung an die Deportationen errichtet.Dem Deutschen Viertel von Fort du Hâ benachbart befand sich die Boudet-Kaserne (Lage) in der Rue de Pessac, ein ehemaliges französisches Militärgefängnis. Die Besatzungsbehörden brachten hier Widerstandskämpfer unter. „Die ehemalige Kaserne zeugte bei der Befreiung von den Misshandlungen und Folterungen, denen die dort inhaftierten Widerstandskämpfer in diesen Räumlichkeiten ausgesetzt waren.“Ein weiterer Internierungsort war die Synagoge von Bordeaux. (Lage) Sie diente nach der Razzia vom 10. Januar 1942 als Unterbringungsort für die verhafteten Juden. Nach deren Abtransport wurde die Synagoge geschändet und verwüstet. Vom 12. Juli bis zum 8. August 1944 stand der mit mehreren Hundert Menschen gefüllte Train Fantôme in Bordeaux. Bevor dieser seine Fahrt nach Dachau fortsetzte, wurden die Männer aus dem Zug in der Synagoge untergebracht, die Frauen in der Boudet-Kaserne. ===== Bordeaux in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts ===== In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts machte Bordeaux einen tief greifenden Strukturwandel durch. Der Seehafen, bis dahin direkt in der Stadt gelegen, wurde aufgegeben und durch ein Terminal nahe Le Verdon-sur-Mer an der Girondemündung ersetzt, das die nötige Wassertiefe und Kapazität besitzt, Containerschiffe abzufertigen. Die Öltanker bedienen eine neu errichtete Großraffinerie in Pauillac, etwa 50 km entfernt. Nach den Mai-Unruhen 1968 wurde die Universität Bordeaux in einen neuen Campus im Vorort Talence ausgelagert, um die Studenten auf räumlicher Distanz zu halten. Im Norden entstanden auf bisher brach liegendem Gelände ein Messegelände, Hotels und Einkaufszentren. Eine Verwaltungsstadt wurde in der Nähe des Stadtzentrums errichtet, für die ein ganzes Viertel abgerissen wurde. Zudem wurde ein Autobahnring („Rocade“) gebaut, um der zunehmenden Verkehrsprobleme Herr zu werden. In den 1970er Jahren siedelten sich unter anderem Ford, IBM, Siemens und Aérospatiale in neu ausgewiesenen Gebieten am Stadtrand und in den Nachbargemeinden an. Nicht jede dieser brachialen Maßnahmen wurde dem Aufwand gerecht, aber der Niedergang der Wirtschaft konnte gestoppt werden. Möglich wurde dies auch durch den Zusammenschluss von Bordeaux und seiner Nachbargemeinden zur Bordeaux Métropole, einem kommunalen Verbund, der interkommunale Aufgaben wie Strukturpolitik, Nahverkehr und Ver- und Entsorgung regelt. Während der 1990er Jahre wurde sich Bordeaux seines historischen Erbes vollends bewusst. Die Altstadt, die fast vollständig das historische Erscheinungsbild behalten hat, wurde zunehmend verkehrsberuhigt und die Wohnlagen aufgewertet. Historische Gebäude wurden saniert, die Front zur Garonne restauriert und Neubauten wie die Cité Mondiale du Vin behutsam ins Stadtbild eingefügt. 1994 wurde ein groß angelegtes Projekt zur Stadtsanierung vorgestellt, das zum Hauptziel hat, die Stadt wieder mit der Garonne zu vereinigen. Alte Lagerhallen wurden abgerissen, Radwege und Promenaden gebaut und die Industriebrachen der rechten Garonneseite mit neuer, hochwertiger Bebauung versehen. Im Jahr 2004 wurde die Straßenbahn, die seit den 1960er Jahren durch Busse ersetzt worden war, wieder mit drei neuen Linien eingeweiht. Die Bemühungen um die Bewahrung und schonende Modernisierung des alten Kerns wurden 2007 mit der Aufnahme der Altstadt in das UNESCO-Welterbe belohnt. == Bevölkerung == === Sprache === Unmittelbar in der Nähe von Bordeaux verläuft die Sprachgrenze zwischen der Langue d’oïl und der Langue d’oc, die hier eine weite Ausbuchtung nach Süden erfährt. Die Langue d’oïl ist im Laufe des Mittelalters bis nach Blaye vorgedrungen, das nur 30 Kilometer von Bordeaux entfernt liegt. Zugleich teilt sich das okzitanische Gebiet ab der Gironde fächerartig in verschiedene Dialekte auf. Ursprünglich wurde in Bordeaux im Alltag ein okzitanischer Dialekt gascognischer Prägung gesprochen, während die rechte Seite der Garonne bereits unter Einfluss der auvergnatischen, ab Libourne dann der limousinischen Variante stand. Mit der Durchsetzung des Standardfranzösischen als Alltagssprache ab dem 19. Jahrhundert, spätestens seit dem Ersten Weltkrieg, wurden diese Dialekte, die sogenannten Patois, zurückgedrängt. In Bordeaux verschwand das Patois besonders früh: Dies liegt in der urbanen Struktur begründet, wurde aber sicherlich durch den Umstand verstärkt, dass selbst innerhalb des Stadtgebiets verschiedene, untereinander schwer verständliche Patois gesprochen wurden. Bereits vor 1970 war das Okzitanische endgültig aus dem Alltag verschwunden. Zurück bleibt in heutiger Zeit ein typischer, „südwestlicher“ Akzent. Dieser verzichtet auf die Nasalaussprache oder deutet sie nur an. Zudem werden die Vokale oft heller und kürzer als im Standardfranzösischen ausgesprochen, wodurch sich das Sprechtempo beträchtlich erhöhen kann. === Bevölkerungsentwicklung und -dichte === 2005 schätzte das französische Institut für Statistik INSEE die Einwohnerzahl von Bordeaux auf ca. 230.000. Das bedeutet, dass sich seit der letzten Zählung ein Bevölkerungsgewinn von über 14.000 Einwohnern ergeben hat – ein Wachstum, das den französischen Durchschnitt um mehr als das Doppelte übertrifft. Dies ist eine deutliche Trendumkehr, denn seit 1900 war die Bevölkerung im Stadtgebiet fast hundert Jahre lang stetig gesunken. Waren es Anfang des 20. Jahrhunderts noch über 260.000 Einwohner, drohte selbst nach der Eingemeindung von Caudéran in den sechziger Jahren zwischenzeitlich – um 1980 – der Fall unter die 200.000-Einwohner-Grenze. Ungebrochen ist das Wachstum innerhalb der Agglomeration, deren Bevölkerung bereits bei der letzten Volkszählung 1999 754.000 Einwohner betrug. Die CUB hatte 2010 720.000 Einwohner. Da Eingemeindungen in Frankreich eher zurückhaltend betrieben werden, hat das Stadtgebiet von Bordeaux eine gewisse Bevölkerungsobergrenze erreicht. Die Bevölkerungsdichte ist verhältnismäßig hoch und liegt mit mehr als 4000 Einwohnern je Quadratkilometer oberhalb derjenigen vergleichbarer Städte im deutschsprachigen Raum – im innenstadtnahen Wohngürtel teils noch beträchtlich darüber. Dagegen weist die CUB 1200, die Agglomeration nur 713 Einwohner je Quadratkilometer aus und hält noch beträchtliche Reserven zur Verdichtung des Wohnraumes vor. === Bevölkerungsstruktur === Bordeaux hat eine insgesamt günstige Bevölkerungsstruktur. Der Großraum ist seit jeher für Zuwanderer attraktiv gewesen, da Klima, Lebensumstände und Entfaltungsmöglichkeiten gegeben waren. Insbesondere die Bildungseinrichtungen, in geringerem Maße auch die neu angesiedelten Wirtschaftszweige, haben bewirkt, dass die Einwohner im nationalen Vergleich unterdurchschnittlich alt und überdurchschnittlich gebildet sind. Die ethnische Zusammensetzung hat mit der Zeit einige Besonderheiten erfahren. Bordeaux galt über Jahrhunderte als Anlaufstelle portugiesischer und spanischer Exilanten, insbesondere politischer Flüchtlinge und in ihrer Heimat unter Repressalien leidender sephardischer Juden. Darin liegt auch begründet, dass sich später überdurchschnittlich viele portugiesische Gastarbeiter in Bordeaux niederließen, die hier eine florierende Gemeinde aufgebaut haben. Einwanderer aus dem Maghreb, heute überwiegend im Besitz der französischen Staatsbürgerschaft, spielen ebenfalls eine Rolle, jedoch bei weitem keine so große wie in den Ballungszentren von Paris, Lyon oder Marseille. == Religionen == Bordeaux war traditionell ein Ort religiöser Toleranz. Während der Religionskriege, die in unmittelbarer Nähe katastrophale Folgen hatten, nahm die Stadt bereitwillig Flüchtlinge auf. Dies geschah nicht völlig uneigennützig, denn die Hugenotten trugen viel zur Wirtschaftsleistung bei. Auch gibt es seit langem eine große jüdische Gemeinde und die sehenswürdige Synagoge. Im Unterschied zu den meisten nord- und ostfranzösischen Städten tragen Einwanderer dazu bei, den katholischen Bevölkerungsanteil zu stabilisieren, denn diese stammen in Bordeaux vor allem aus Südeuropa. Da in Frankreich keine offiziellen Statistiken über die Religionszugehörigkeit geführt werden, ist es auch für Bordeaux nicht möglich, exakte Zahlen anzugeben. Legt man den französischen Bevölkerungsschnitt zugrunde (60 % Katholiken, 8 % Muslime, 2 % Protestanten, 1 % Juden, 1 % andere Gemeinschaften, 28 % ohne Religion), weicht Bordeaux von diesen Zahlen leicht ab. Spezielle Faktoren wie beispielsweise die in Städten allgemein überdurchschnittliche Anzahl an Muslimen, die in Südfrankreich überdurchschnittliche Anzahl an Protestanten und die in Bordeaux überdurchschnittlich vertretenen Vertreter jüdischen Glaubens legen nahe, dass der katholische Bevölkerungsteil unter 60 % liegt. == Politik == Bordeaux ist traditionell eine Hochburg des Liberalismus französischer Prägung. Die Erfahrungen durch den bereits im Mittelalter hier weit entwickelten Freihandel haben bewirkt, dass die schon früh sehr selbstbewussten Bürger ihre Interessen formulierten und sogar unter feudalen oder absolutistischen Systemen auch durchsetzten. Galt diese Einstellung vor der Französischen Revolution noch als fortschrittlich, wurde sie bald darauf in Misskredit gebracht, denn mit der freiheitlichen Einstellung bourgeoiser Art war auch das bedingungslose Eintreten für Privateigentum und das Streben nach individuellem Wohlstand verbunden. Trotz mancher Wandlungen in der politischen Landschaft ist Bordeaux in seiner Mehrheit dieser Tradition treu geblieben: Während Aquitanien und hier besonders das Département Gironde eine Hochburg der Sozialisten geblieben ist, hat sich Bordeaux selbst seit Mitte des 20. Jahrhunderts für bürgerliche Ratsmehrheiten entschieden und seine Bürgermeister immer aus den Parteien der Konservativen oder Wirtschaftsliberalen gewählt. === Bürgermeister === Folgende Bürgermeister standen der Stadt seit dem 20. Jahrhundert vor: 1900–1904: Paul-Louis Lande 1904–1908: Alfred Daney 1908–1912: Jean Bouche 1912–1919: Charles Gruet 1919–1925: Fernand Philippart 1925–1944: Adrien Marquet 1944–1947: Fernand Audeguil 1947–1995: Jacques Chaban-Delmas (RPR) 1995–2004: Alain Juppé (RPR, später UMP) 2004–2006: Hugues Martin (UMP) 2006–2020: Alain Juppé (UMP) seit 2020: Pierre Hurmic (Union de la gauche)Der berühmteste Bürgermeister von Bordeaux war Michel de Montaigne, Schriftsteller und wegweisender Philosoph des Humanismus im 16. Jahrhundert. === Wappen === Blasonierung: „In Rot unter blauem Schildhaupt, darin balkenweise drei goldene heraldische Lilien, über blauem Wellenschildfuß, darin drei schwarze Wellenfäden und eine liegende silberne Mondsichel, eine wachsende schwarzgefugte silberne Burg mit Zinnenmauer, zentralem, geschlossenem Rundportal, vier gezinnten, konisch gefußten Rundtürmen, je zwei links und rechts eng zusammenstehend, mittig ein wachsender gezinnter Rundturm mit Rundbogenfenster, darin eine silberne Glocke hängend, alle kegelbedacht und überhöht mit einem hersehenden goldenen Leoparden.“ Wappenerklärung: Das Wappen ist auf die Zeit unmittelbar nach dem Ende des Hundertjährigen Krieges zurückzuführen. Die Lilien auf blauem Grund im Schildhaupt stehen für das königliche Frankreich, der goldene Leopard auf rotem Grund symbolisiert das Herzogtum Guyenne und die Burg das Rathaus von Bordeaux, das damals in dem heute nicht mehr existierenden Stadtschloss untergebracht war. Heute existiert nur noch der Turm mit der Dicken Glocke (Grosse Cloche). Die Mondsichel in den Flusswellen weist auf den Namen Port de la Lune hin und unterstreicht so die Rolle der Stadt für den Seehandel. Diese Anordnung der Symbole unterstreicht den französischen Anspruch auf Stadt und Landschaft und findet sich im Wahlspruch der Stadt wieder. Im Vollwappen ist der Spruch in einem Spruchband unterhalb des Schildes zu finden; über dem Schild befindet sich eine Mauerkrone mit sieben Zinnen – zuweilen durch eine gräfliche Krone ersetzt – und zur Linken und zur Rechten wird er von zwei Antilopen gehalten. Als Symbol für Bordeaux hat die Mondsichel über die Zeit eine besondere Bedeutung erhalten. Seit einigen hundert Jahren hat sich eine grafische Form entwickelt, die drei ineinander verkreuzte Sicheln darstellt und als verkürzte Form des Wappens verwendet wird. Die Stadtverwaltung nutzt dieses Zeichen als Plakette zur Kennzeichnung städtischen Eigentums oder städtischer Aktivität, auch als imageförderndes Markensymbol, ähnlich wie ein Logo. Auch unter der Bevölkerung ist es sehr beliebt: Die trois croissants schmücken Häuserfassaden, Kleidungsstücke oder sind als Aufkleber usw. erhältlich. === Städtepartnerschaften === Bordeaux listet 20 Partnerstädte auf: == Wirtschaft == Seit jeher ist die Wirtschaft von Bordeaux untrennbar mit dem Wein und mit dem Hafen verbunden. Auch heute spielen Handel, Verkehr und Dienstleistungen die entscheidende Rolle in der lokalen Wirtschaft. Dagegen ist Bordeaux erst spät zu einem industriellen Standort geworden und schon kurze Zeit später in eine Strukturkrise geraten. Nach deren Bewältigung sind dort überwiegend Zukunftstechnologien angesiedelt worden. Die Arbeitslosenquote betrug 2006 9,9 % und 2011 10,3 %. === Dienstleistungssektor === Wein und Seehandel sind noch heute wichtige Wirtschaftsfaktoren. Der Hafen galt 2019 als der siebtgrößte Seehafen in Frankreich (gemessen an der umgeschlagenen Tonnage: fast 5,4 Millionen Tonnen wurden angelandet und fast 1,5 Millionen Tonnen verließen den Hafen) Der Bordeaux-Wein wird in viele Länder exportiert. 2019 wurde Bordeaux-Wein im Wert von 2,1 Milliarden Euro exportiert.Groß- und Einzelhandel sind stark vertreten und teilweise auf den Vertrieb regionaler oder spezialisierter Produkte ausgerichtet. Land- und Seespeditionen betreiben von hier aus vielfältige Aktivitäten, wobei der Güterumschlag über die Straße mit 90 Millionen Tonnen pro Jahr das Zehnfache der über See abgewickelten Menge erreicht. Als Verwaltungszentrum der Region und des Départements verfügt die Stadt über eine starke administrative Stellung. Hinzu kommen die Universität Bordeaux und Institute wie das Institut für Önologie. Messen, Kongresse und der Tourismus waren bis zum Beginn der COVID-19-Pandemie in Frankreich ein bedeutender Wirtschaftssektor. In Bordeaux finden seit Jahrhunderten bekannte Messen statt. Größte Publikumsmesse ist die jährlich im März stattfindende Buchmesse Salon du Livre; Fachmessen wie die Vinexpo oder die Vinitech-Sifel richten sich vornehmlich an gewerbliche Besucher. === Industrie === Die Agglomeration zählt 88 Gewerbegebiete, die durch sechs sogenannte „Technologiepole“ ergänzt werden. Bordeaux hat fünf industrielle Schwerpunkte zu strategischen Standortfaktoren erklärt: Luft- und Raumfahrt, Elektronik, Chemie und Pharmaindustrie, Automobilbau und Baumaterial. Ford hatte im Vorort Blanquefort ein Getriebe-Werk; dort arbeiteten bis zu seiner Schließung 2019 850 Mitarbeiter. == Bildung == In Bordeaux besteht ein großes und differenziertes Bildungsangebot. Allein 70.000 Studenten verteilen sich auf die vier Universitäten, die gemeinsam als Universität Bordeaux auftreten, aber formal unabhängig voneinander sind. Neben der Universität zählt die Stadt acht Ingenieurshochschulen, vier Wirtschaftshochschulen, das Institut d’études politiques de Bordeaux und fünf sonstige Hochschulen, darunter die Santé Navale, die für das Gesundheitswesen der Marine ausbildet. In Bordeaux befindet sich die École nationale de la magistrature (ENM), die französische Ausbildungsstätte für Richter und Staatsanwälte. Saint-Joseph de Tivoli gilt als eine der ältesten Schulen der Stadt. == Medien == Bordeaux ist Standort der Sud-Ouest-Mediengruppe, die neben der regionalen Tageszeitung Sud Ouest und ihrer Sonntagsausgabe auch eine Reihe von Ratgebern, Magazinen und Bildbänden herausgibt. Das Verbreitungsgebiet der Tageszeitung reicht bis in die Charente, das Limousin und die Pyrenäen; die Auflage gehört zu den höchsten in ganz Frankreich. Traditionsreich sind in Bordeaux Buchverlage, weswegen die Stadt auch Standort einer Buchmesse ist. Zudem unterhalten die Fernseh- und Radioanstalten, z. B. France 3, Regionalbüros in Bordeaux, der lokale Fernsehsender TV 7 Bordeaux hat hier ebenfalls seinen Sitz. Auch einige private Radiosender sind in Bordeaux angesiedelt. == Sehenswürdigkeiten == === Überblick === Bordeaux ist eine Stadt, die nicht durch herausragende Einzelbauten, sondern durch die grandiose, fast vollständig erhaltene Anlage der Stadt besticht, die ihr historisches Bild bis heute bewahrt hat. Darin ist sie Städten wie Amsterdam oder Lissabon ähnlich. Die Stadtanlage veranlasste Victor Hugo zu der Bemerkung, Bordeaux sei eine Mischung aus Versailles und Antwerpen, also aus palastartiger Architektur und Handelsstadt am Fluss. Insbesondere im historischen Zentrum, aber auch darüber hinaus bietet sie immer wieder überraschende Eindrücke, sei es durch die spätbarocke Anordnung der Straßen und Plätze oder durch die beeindruckende Harmonie ihrer Häuserzeilen, durch Parks und Gärten. Die „Fassade“ zur Garonne ist weltberühmt: Auf mehreren Kilometern ziehen sich hohe, schmale Bürgerhäuser am Ufer entlang, unterbrochen durch einzelne Repräsentationsbauten. Dahinter ragen die Dächer von Kirchen und alten Stadttoren empor. Das historische Ensemble gilt als das größte, geschlossenste und schönste von ganz Frankreich und wird als Kulisse für viele Film- und Fernsehproduktionen genutzt. === Sakralbauten === Kathedrale Saint-André: Sie ist ein einschiffiger angevinisch romanischer Bau mit gotischen Erweiterungsbauten und mit 127 Metern Länge eine der größten Kathedralen Frankreichs. Der freistehende Turm Pey-Berland wurde im flamboyanten Stil zwischen 1440 und 1450 hinzugefügt. Er ist mit 50 Metern Höhe der höchste öffentliche Aussichtspunkt der Stadt (→Lage). Basilika Saint-Michel: Diese gotisch-flamboyante Basilika verfügt über einen freistehenden Turm, der mit 114 Metern Höhe die zwei 81 Meter hohen Türme der Kathedrale Saint-André noch überragt und seit seiner Errichtung im 16. Jahrhundert lange Zeit das höchste Bauwerk von Bordeaux war. Bedeutsam ist die Buntverglasung aus der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts (→Lage). Kirche Saint-Pierre: Die spätgotische Pfarrkirche inmitten der Altstadt besticht durch ein Portal mit kleinen Archivoltenfiguren (→Lage). Kirche Sainte-Croix: Die Westfront der im 12. Jahrhundert auf frühchristlichen Vorgängerbauten errichteten romanischen Abteikirche wurde im 19. Jahrhundert von Paul Abadie vollständig renoviert, so dass man fast von einem Neubau sprechen kann. Die Fassade der Kirche stammt überwiegend aus dem 12. Jahrhundert und stellt mit ihrem Figurenschmuck einen der Höhepunkte der angevinischen Romanik dar. Im Inneren befindet sich die größte Orgel von Dom Bedos. (→Lage). Kirche Saint Louis-de-Chartrons: Diese gotische Kirche ist mit ihren zwei Türmen eine der höchsten Kirchen in Bordeaux. Berühmt ist auch die Orgel aus dem Jahr 1881. Nachts sind die Türme innen blau beleuchtet (→Lage). Kirche Notre-Dame: Die barocke Dominikanerkirche wurde Ende des 17. Jahrhunderts errichtet (→Lage). Kirche Sainte Marie de la Bastide: Diese Kirche liegt auf der östlichen Flussseite. Sie gehört zu den höchsten Bauwerken des Viertels La Bastide. Die Kuppel des Turmes ähnelt der der Basilique du Sacré-Cœur in Paris (→Lage). Basilika Saint-Seurin: Die gotische mit einem Skulpturenportal des 13. Jahrhunderts versehene Kirche weist in ihrer Krypta sowie in der Turmhalle Elemente galloromanischer Architektur auf (→Lage). Synagoge von Bordeaux: Die Synagoge wurde von der damals außergewöhnlich großen jüdischen Gemeinde am Ende des 19. Jahrhunderts erbaut und gehört zu den größten und schönsten ihrer Art (→Lage). Kirche Sacré Cœur de Bordeaux: Die Kirche gehört mit ihren zwei Türmen ebenfalls zu den höchsten Kirchen in Bordeaux. Sie liegt am südlichen Rand der Altstadt in der Nähe des Hauptbahnhofes (→Lage). Kirche Saint-Bruno: Die romanische Kirche hat einen aufwendig gestalteten Chor aus Granit und Marmor, geschmückt mit mehreren Figuren (→Lage). Auf der anderen Straßenseite befindet sich der Große Friedhof von Bordeaux, der Cimetière de la Chartreuse, mit vielen Mausoleen, Grabkapellen und anderen künstlerisch gestalteten Grabmalen. Besonders berühmt ist das Grabmal von Jean Catherineau (1802–1874), eine große, gruselig wirkende Figur eines Sensenmanns. Die berühmteste hier bestattete Persönlichkeit war der Maler Francisco de Goya (→Lage). === Profanbauten === Das Grand Théâtre de Bordeaux wurde von 1773 bis 1780 von Victor Louis im Stil des Klassizismus italienischer Prägung errichtet. Am 7. April 1780 wurde das Theater eröffnet. Aufgeführt wurde das Drama Athalie von Jean Racine. Das Theater ist eines der Wahrzeichen von Bordeaux und galt nach seiner Fertigstellung als größtes und schönstes von ganz Frankreich, in dem die bekanntesten Ensembles ihre Vorstellungen gaben. Seit 1991 ist im Inneren die originale Einrichtung in blau, gold und Marmor wiederhergestellt (→Lage). Das Palais Rohan ist der ehemalige Sitz des Erzbischofs. Zwischen 1771 und 1784 für den Erzbischof Mériadec de Rohan erbaut, wurde es 1835 zum Rathaus umgewidmet. Die Inneneinrichtung ist zum größten Teil erhalten. Auf der Rückseite beherbergen zwei Flügel das Musée des Beaux-Arts de Bordeaux (→Lage). Die Grosse Cloche oder die Porte Saint-Eloi ist der ehemalige Rathausturm, der nach Niederlegung des Hauptgebäudes als Stadttor fungierte. Namensgeber ist die riesige, fast acht Tonnen schwere Glocke, die in ihrem zentralen Teil aufgehängt ist. Flankiert wird sie von zwei 41 Meter hohen Türmen. Die Uhr wurde 1759, die Glocke 1775 angebracht. Die Glocke ist ein weiteres Wahrzeichen von Bordeaux, das sich auch im Stadtwappen wiederfindet (→Lage). Die Porte Cailhau, ebenfalls ein früheres Stadttor, ist mit der Grosse Cloche eines der wenigen Zeugnisse aus mittelalterlicher Zeit. Sie wurde ab 1495 zu Ehren von Karl VIII. errichtet (→Lage). Die Porte de Bourgogne oder Porte des Salinières ist ein weiteres ehemaliges Stadttor gegenüber der Brücke Pont de pierre, das Mitte des 18. Jahrhunderts errichtet wurde (→Lage). Es gibt noch drei weitere ehemalige Stadttore ähnlicher Bauart:Porte Dijeaux (→Lage), Porte d’Aquitaine (→Lage) und Porte de la Monnaie (→Lage). Das Palais Gallien bezeichnet keinen Palast, sondern die Überreste eines römischen Amphitheaters aus dem 3. Jahrhundert, das ein Fassungsvermögen von 15.000 Zuschauern hatte (→Lage). Hôtel de Ragueneau, historisches Stadthaus === Moderne Architektur === Der Neubau des Justizpalastes nach einem Entwurf von Richard Rogers beeindruckt durch die wie riesige Eier geformten Sitzungssäle, die als freistehende ovale Baukörper in eine Glasarchitektur mit gewelltem Dach eingebunden sind. Die Cité des civilisations du vin ist mit 2.500 reflektierenden Aluminiumplatten an der Fassade des 55 Meter hohen Turm des Gebäudes ausgestattet. Er soll glanzfeinen Wein in einem Glas nachempfinden lassen. Im Juni 2019 wurde das MÉCA als Maison de l’Économie Créative et de la Culture en Aquitaine („Haus der kreativen Wirtschaft und der Kultur in der Nouvelle-Aquitaine“) eröffnet. In der Nähe des Hauptbahnhofs ist das MÉCA ein architektonisches Highlight des neuen Viertels Euroatlantique. === Straßen, Plätze, Brücken === Der Place des Quinconces ist mit einer Fläche von 126.000 m² einer der größten unbebauten Plätze Europas. Der Platz wurde 1820 nach der Schleifung der Festungsanlagen an der Stelle des ehemaligen Château de la Trompette eingerichtet. Zur Garonne hin wurde er 1829 mit zwei 21 Meter hohen Säulen und einer Freitreppe geschmückt. Zur Stadtseite hin wird der Platz durch das Monument aux Girondins, das Denkmal der Girondisten, abgeschlossen, eine von 1894 bis 1902 errichtete Säule mit zwei Springbrunnen und vielen weiteren Figuren, die zum Gedenken an die dem republikanischen Terror zum Opfer gefallenen Abgeordneten der Gironde errichtet wurde. Der Place du Parlement ist ein rechteckiger Platz mit geschlossener klassizistischer Bebauung aus der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts und wurde als Marktplatz genutzt. Heute ist er Teil der Fußgängerzone und beherbergt zahlreiche Restaurants und Cafés. Der Place de la Bourse ist der herausragendste Teil der kilometerlangen Schaufront zur Garonne. Das großartige architektonische Ensemble wurde Mitte des 18. Jahrhunderts errichtet. Im Palais de la Bourse, der alten Hafenbörse, ist heute ein Zollmuseum untergebracht. Der Platz entstand als Place Royale von 1733 bis 1743. Dort, wo jetzt der Drei-Grazien-Brunnen von 1864 steht, erhob sich ein Denkmal für König Ludwig XV., das in der Französischen Revolution zerstört wurde. Architekt des Ensembles war Jacques Gabriel V. (1667–1742) gemeinsam mit seinem Sohn Jacques-Ange Gabriel (1698–1782). Der Place de la Victoire ist ein kreisrunder Platz, in dessen Mitte die Porte d’Aquitaine, ein beeindruckender Triumphbogen aus der Mitte des 18. Jahrhunderts, errichtet wurde. Die Pont de pierre, die erste Brücke der Stadt, wurde von Napoleon angeordnet, aber später gebaut. Die Legende besagt, dass die 17 Brückenbögen für die 17 Buchstaben des Namens „Napoléon Bonaparte“ stehen. Die Pont d’Aquitaine, die Autobahnbrücke aus dem Jahr 1967, ist so konzipiert, dass Hochseeschiffe passieren können. Die zwischen Pont de pierre und Pont d’Aquitaine gelegene Pont Jacques Chaban-Delmas ist eine als Hubbrücke errichtete Straßenbrücke, die Hochseeschiffen, insbesondere Kreuzfahrtschiffen, die Fahrt bis zur Altstadt ermöglicht. Die Allée de Tourny, zwischen 1743 und 1757 errichtet, ist das Prunkstück des von den Intendanten entworfenen Straßensystems. Ursprünglich war die Nordseite nur eingeschossig, um das Schussfeld der Festung nicht zu behindern. Am Ende der Allee steht das Hôtel Meyer, erbaut 1796 für den Hamburger Konsul Meyer. Hier wirkte Friedrich Hölderlin als Hauslehrer. Das Stadtviertel Mériadeck, ein großflächiges Verwaltungs- und Dienstleistungszentrum, ist Ergebnis der neueren Stadtplanung. Viele Straßen und Plätze sind nach Sklavenhändlern des 18. Jahrhunderts benannt, so z. B. Rue Pierre-Baour, Place Johnson-Guillaume, Rue David-Gradis, Place John-Lewis-Brown, Rue Pierre-Desse, Rue François-Bonafé. Der aus den 1850er Jahren stammende, inzwischen im Englischen Stil gestaltete, öffentliche Jardin Public mit zahlreichen Solitärpflanzen und historischen Statuen. === Museen === Die kulturelle Infrastruktur von Bordeaux wird durch eine Reihe sehr bekannter Museen bereichert. Das größte von ihnen ist das Musée d’Aquitaine, eines der größten Regionalmuseen von Frankreich. Die reiche Sammlung zur regionalen Geschichte wird durch das Centre Jean Moulin ergänzt, das eine umfangreiche Ausstellung über die Geschichte der Résistance bietet. Auch die Wirtschaftsgeschichte findet ihren Platz. So ist der Südflügel des Palais de la Bourse für das Zollmuseum reserviert. Hier wird vor allem die wechselvolle Geschichte des Seehandels in Bordeaux ausgestellt. Die Kunst nimmt in den Museen von Bordeaux einen herausragenden Platz ein. Eine große Kunstsammlung vor allem klassischer Gemälde befindet sich in der Galerie des Beaux-Arts und im Musée des Beaux-Arts, das in den rückwärtigen Seitenflügeln des Rathauses (Palais Rohan) eingerichtet wurde. In unmittelbarer Nähe befindet sich das Musée des Arts Décoratifs. Hier ist in einem Stadtpalast des 18. Jahrhunderts eine große und berühmte Sammlung zur Kunst der Einrichtung und Innenarchitektur untergebracht. Moderne Kunst findet sich im Musée d’art contemporain (CAPC) in den alten Zollgebäuden des Stadthafens. Im Entrepôt Lainé, einer alten Warenlagerhalle, werden vor allem Wanderausstellungen gezeigt. Im Musée des Arts décoratifs et du Design befindet sich unter anderem eine umfangreiche Sammlung zur französischen Restauration und zu Prinz Heinrich, Herzog von Bordeaux, dem präsumptiven Thronfolger König Karl X. von Frankreich. Mittelpunkt der Sammlung ist eine lebensgroße Statue des Prinzen im Alter von sieben Jahren aus Biskuitporzellan der Porzellanmanufaktur von Sèvres, ein Unikat, ursprünglich im Besitz des Königshauses. == Kulinarisches == Bordeaux ist berühmt für seine abwechslungsreiche, exquisite Küche. Die Nähe zum Meer, die umgebenden Weinberge und das von Polykulturen geprägte Hinterland bieten eine Vielzahl unterschiedlicher lokaler Spezialitäten. Es fallen viele Gerichte à la Bordelaise auf: Diese werden mit – in der Regel rotem – Bordeauxwein, oft auch mit Schalotten angerichtet, deren Verwendung in der Küche des französischen Südwestens Zwiebeln oder Knoblauch weitgehend verdrängt hat. Fisch, Austern und Meeresfrüchte beziehen die Märkte insbesondere vom nahe gelegenen Arcachon, einem Zentrum der Austernzucht, und aus der Gironde. Üblicherweise wird zu Austern Weißbrot und Butter gereicht, aber auch gegrilltes Schweinehack, das einen geschmacklichen Kontrapunkt setzt. Das Frühjahr ist die Hauptsaison für Alsen, grätenreiche, aber wohlschmeckende Fische mit weißem Fleisch, die hauptsächlich in der Gironde gefangen werden. Besonders begehrt und entsprechend teuer ist Lamproie à la Bordelaise, Neunauge, ein schlangenförmiger Fisch, dessen rotes Blut zusammen mit Rotwein zu einer aufwendigen Sauce verarbeitet wird. Die Verbundenheit mit Portugal hat dazu geführt, dass auch Stockfisch in Bordeaux sehr beliebt ist. Die Brandade de Morue ist ein kalt oder lauwarm servierter Salat aus gekochten Kartoffeln und Stockfischwürfeln, mit einer Vinaigrette angemacht und manchmal mit Gurke oder Schalotte verfeinert. In Bordeaux wird dem „roten Fleisch“, insbesondere dem Rindfleisch, der Vorzug vor allen anderen Fleischsorten gegeben. Auch hier existieren viele Varianten mit Rotweinsaucen, besonders bekannt ist Entrecôte à la Bordelaise, das Zwischenrippenstück, mit reichlich Schalotten bedeckt. Wie im Périgord ist auch Confit, eingelegte Stücke von Gans oder Ente, ein Grundbestandteil der Küche. Stopfleber oder Pastete wird außer aus dem Périgord auch aus dem Département Landes bezogen. Bemerkenswert ist, dass das Bordelais als nahezu einzige Region Frankreichs keinen eigenen Käse hervorgebracht hat. Neben den Erzeugnissen benachbarter Regionen bevorzugen die Bordelais traditionell niederländischen Käse, der bereits vor Hunderten Jahren in die Stadt eingeführt wurde. Eine echte Bordelaiser Spezialität sind die Canelés. Dies sind kleine Kuchen, die in einer charakteristischen, gugelhupfartigen Form gebacken werden und nicht höher als 10 cm sind. Ein gelungener Canelé trägt eine karamellisierte Kruste, die je nach Backzeit von goldgelb bis dunkelbraun reichen kann. Das Innere ist dagegen weich, luftig und cremig-klebrig. Rum und Vanille sorgen für den unverwechselbaren Geschmack. Canelés müssen tagesfrisch gegessen werden, weswegen sie nicht nur teuer sind, sondern auch nicht exportiert werden können. Es existieren nur sehr wenige renommierte Anbieter. Canelés sollen ohne Eiweiß ausschließlich aus Eigelb gebacken werden, da das Eiweiß im Weinkeller für den Rotwein benötigt wird. Es wird zum Klären des Rotweines schaumig geschlagen, auf die Oberfläche des Weines gegeben und sinkt als Vorhang im Wein herab, wobei das Eiweiß auf seinem Weg nach unten alle Trübstoffe des Weines bindet. Das Eigelb hingegen bleibt beim Aufschlagen der Eier übrig und wird zum Backen von Canelés verwendet. Somit sind Canelés eigentlich eine Verlegenheitslösung, um nicht zu viel Eigelb in den Abfall zu geben bzw. eine Art der Resteverwertung. == Sport == Sportliches Aushängeschild sind seit dem Zweiten Weltkrieg die Girondins Bordeaux, die bereits sechsmal französischer Fußballmeister waren, aber auch über eine Handballmannschaft verfügen. In den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts waren es hingegen vor allem die VGA du Médoc und der SC de la Bastidienne, die die Stadt in dieser Sportart landesweit repräsentierten. Im französischen Südwesten ist neben Fußball Rugby Union weit verbreitet und äußerst populär. Die lokalen Vereine sind Stade Bordelais und CA Bordeaux-Bègles Gironde; sie stellen eine gemeinsame Profimannschaft namens Union Bordeaux Bègles. Bordeaux war einer der Austragungsorte bei den Rugby-Union-Weltmeisterschaften 1999 und 2007. Für die Rugby-Union-Weltmeisterschaft 2023 sind wieder Partien in Bordeaux geplant. Ein besonders inniges Verhältnis pflegt die Stadt zum Radsport. Bordeaux ist regelmäßig Etappenstadt der Tour de France und gilt neben der Ankunft auf den Pariser Champs-Elysées als prestigeträchtigste Ankunft für Sprinter. Lange Zeit existierte außerdem das Eintagesrennen Bordeaux–Paris, in dem die ca. 600 Straßenkilometer zwischen den beiden Städten innerhalb eines Tages bezwungen werden mussten. Es galt daher als das härteste Radrennen der Welt. Dies war auch ein Grund dafür, dass es Ende des 20. Jahrhunderts eingestellt wurde. Im Stadium Vélodrome de Bordeaux Lac fanden 1998 und 2006 UCI-Bahn-Weltmeisterschaften statt sowie 2007 paralympische Bahnrad-Weltmeisterschaften. Bordeaux ist ebenfalls geprägt durch die an der Atlantikküste regelmäßig ausgerichteten Surfturniere. Die Wellen an der Côte d’Argent gelten als weltweit eines der idealen Ziele für Wellenreiter; im nahen Lacanau finden jährlich Wettbewerbe unter großer Beachtung der Öffentlichkeit statt. Auch nutzen Surfer den Mascaret, eine Gezeitenwelle in der Gironde, die sich unter günstigen Bedingungen bis in die Stadt fortsetzt. Insbesondere um die Tag-und-Nacht-Gleiche schieben sich bis zu drei Meter hohe Wellen in den Mündungstrichter, die ausgiebig von Wellenreitern genutzt werden. Bordeaux war einer der Austragungsorte der Fußball-Europameisterschaft 2016. Bislang gab es in Bordeaux das Stade Chaban-Delmas. Da sich das Stadion aber nicht weiter ausbauen ließ, ohne den Art-déco-Stil zu zerstören, wurde im Bordelaiser Stadtviertel Lac ein neues Stadion gebaut. Im Mai 2015, nach zweieinhalbjähriger Bauzeit, wurde das Matmut Atlantique eröffnet und steht für die Austragung von vier Vorrunden- und eines Viertelfinalspiels der Europameisterschaft 2016 zur Verfügung. 2015 wurde erstmals eine Dreiband-Weltmeisterschaft im Palais des Congrès ausgetragen. Die Stadt unterschrieb beim Weltverband Union Mondiale de Billard (UMB) einen Zweijahresvertrag. Im folgenden Jahr war die Stadt erneut Austragungsort. == Verkehr == Bordeaux ist seit jeher eine sehr verkehrsgünstig gelegene Stadt. Bereits zur Römerzeit kreuzten sich hier die Reichsstraßen und der Hafen gehörte zu den größeren seiner Epoche. Seit dem Mittelalter verläuft eine der Hauptrouten des Jakobswegs durch Bordeaux, die Via Turonensis. Auch das napoleonische Straßensystem hatte in der Stadt einen seiner Knotenpunkte. === Straße === Der Straßenverkehr spielt in Bordeaux eine bedeutende Rolle, denn der internationale Warenverkehr von Portugal und fast ganz Spanien wird über die Stadt geleitet. Im Sommer kommen mehrere Reisewellen von Individualurlaubern hinzu. Privater und gewerblicher Verkehr haben dazu geführt, dass Bordeaux bereits sehr früh ins französische Autobahnnetz eingebunden wurde. Hier kreuzen sich heute die A 10 (Paris-Bordeaux), die südlich als N 10 nach Spanien weiterführt, die A 62 (Bordeaux–Toulouse–Narbonne), die A 63 (Bordeaux–Arcachon) zum Meer und die 2007 fertiggestellte A 89 (Bordeaux–Lyon). Schon in der frühen Nachkriegszeit wurden die Verkehrsprobleme derart offensichtlich, dass ein durchgehender Autobahnring erforderlich wurde. Die A 10 überquert seit 1967 die Garonne über die Pont d’Aquitaine, eine Hängebrückenkonstruktion. Im Verlauf der siebziger und achtziger Jahre wurde der Ring geschlossen. Im Süden überquert diese sogenannte Rocade die Garonne über die Pont François Mitterrand ein zweites Mal. Bis dahin wurde der Straßenverkehr ausschließlich über die beiden innerstädtischen Brücken Pont de pierre und Pont Saint-Jean geführt. Seit 2013 gibt es mit der zwischen Pont de pierre und Pont d'Aquitaine gelegenen Pont Jacques Chaban-Delmas eine weitere Straßenbrücke. Sie ist als Hubbrücke errichtet, um Hochseeschiffen, insbesondere Kreuzfahrtschiffen, die Fahrt bis zur Altstadt zu ermöglichen. === Bahn === Bordeaux ist ein wichtiger Eisenbahnknotenpunkt. Der 1898 erbaute Hauptbahnhof Bahnhof Bordeaux-Saint-Jean zeugt von der Bedeutung, die die Stadt bereits im 19. Jahrhundert hatte. Dieser war zunächst ein Kopfbahnhof und nordwestlicher Knoten der Compagnie des Chemins de Fer du Midi, deren Streckennetz fast ganz Südfrankreich abdeckte. Auf der anderen Seite der Garonne befand sich sein kleineres Gegenstück, der Gare d’Orléans, der südwestlicher Endpunkt der Compagnie des Chemins de Fer Paris-Orléans war. Schon früh wurde die Pont Saint-Jean als erste Eisenbahnbrücke über die Garonne geschlagen. Nach der Fusion der beiden Eisenbahngesellschaften 1934 wurde der Hauptbahnhof zum Durchgangsbahnhof ausgebaut und der Gare d’Orléans verlor seine Bedeutung. Nach dessen Aufgabe war er zwischenzeitlich vom Abriss bedroht. Heute ist in dem kernsanierten Gebäude ein Multiplexkino untergebracht. Über Bordeaux verläuft heute die wichtige Achse Paris–Irun (Spanien), die in ihrer ganzen Länge vom TGV bedient wird. Zwischen Paris und Bordeaux ist sie durchgängig als Schnellstrecke ausgebaut. Viele Verbindungen verkehren täglich zwischen beiden Städten, die Fahrzeit beträgt rund zwei Stunden. Außerdem verbindet eine TGV-Strecke über Toulouse Bordeaux mit dem Mittelmeerraum. === Flug === Flugverbindungen gewinnen in Bordeaux zunehmend an Bedeutung. Der Flughafen Bordeaux befindet sich in Mérignac im Westen des Ballungsraums und kann mit einem Zubringerbus erreicht werden. In den neunziger Jahren hat der Flughafen seine Kapazitäten bedeutend erweitert, indem ein neues Terminal errichtet wurde. An dem Flughafen werden auch Güter abgefertigt. === Schiff === Die Schifffahrt spielte in Bordeaux immer eine herausragende Rolle. Zeitweise der größte Hafen Frankreichs, ist die Stadtmitte heute nur noch Anlaufziel von Kreuzfahrtschiffen und Ausflugsbooten. Mit 16 Kreuzfahrtschiffen und 13.000 Passagieren allein im Jahr 2004 belegt Bordeaux in dieser Hinsicht Platz zwei der französischen Häfen. Die industriellen Hafenanlagen befinden sich heute außerhalb des Stadtgebiets in einem Streifen von Bassens an der Bordelaiser Stadtgrenze bis Le Verdon, über 100 km entfernt. Im Rahmen der Neugestaltung des Ufergeländes der Garonne wurde auch der Kreuzer Colbert abgezogen. Die Garonne aufwärts liegt der Flusshafen, der für die Binnenschifffahrt und den Tourismus Bedeutung hat. Für Diskussionen hat der Bau des Airbus A 380 gesorgt, der teilweise in Toulouse gefertigt wird. Für den Transport der Bauteile auf der Garonne wurde erwogen, die historische Pont de pierre baulich anzupassen, d. h. die Brückenbögen teilweise zu verbreitern, was Denkmalschützer kritisierten. Um große Airbus-Teile wie Rumpf und Cockpit unter der Pont de pierre hindurch transportieren zu können, werden diese Teile in Pauillac auf kleinere Barken verladen, um sie bis Langon zu transportieren. Dennoch ist die Durchfahrt nur bei niedrigem Wasserstand der Garonne, also bei Ebbe, möglich. === Personennahverkehr === Durch die TBC werden zahlreiche Bus- und seit 2004 wieder Straßenbahnlinien betrieben. Die Straßenbahnen verfügen dabei über ein neu entwickeltes System, durch welches in der Innenstadt die Oberleitungen aus ästhetischen Gründen durch in den Boden verlegte Stromschienen ersetzt werden konnten. Die Entscheidung fiel, als die Busse im Dauerstau nicht mehr vorwärtskamen und der Bau einer U-Bahn wegen der Nähe zum Meer und der tiefen Lage der Stadt nicht möglich war. Nach anfänglichen technischen Schwierigkeiten, welche die Einwohner oft gegen das neue Straßenbahnsystem aufgebracht hatten, funktioniert die Straßenbahn nun zufriedenstellend. Die TBC betreibt außerdem seit 2010 über VCUB einen Fahrradverleih mit 174 Stationen und 1700 Fahrrädern. == Feste und Brauchtum == == Persönlichkeiten == Im 4. Jahrhundert lebten der Dichter Decimius Magnus Ausonius, Verfasser der in Latein geschriebenen Mosella, und der spätere Bischof Paulinus von Nola in Bordeaux und Umgebung. Papst Klemens V. war, bevor er 1305 zum Papst gewählt wurde, Erzbischof der Stadt. Von 1557 bis 1570 war der Philosoph Michel de Montaigne Bürgermeister von Bordeaux. Charles de Secondat, Baron de Montesquieu, in der Nähe geboren, hatte hier seinen Lebensmittelpunkt. Johanna von Lestonnac, Ordensgründerin und Heilige der römisch-katholischen Kirche, war seine Nichte. Der Maler Francisco de Goya verbrachte in Bordeaux seine letzten Lebensjahre und verstarb dort im Jahr 1828. === Persönlichkeiten === König Richard II. von England (1367–1400) Jean-Baptiste Gay (1778–1832), französischer Innenminister Rosa Bonheur (1822–1899), französische Genremalerin Odilon Redon (1840–1916), französischer Maler Philippe Sollers (1936–2023), französischer Schriftsteller Jean-Luc Nancy (1940–2021), Philosoph == Literatur == Graneri-Clavé, Mario (Hrsg.): Le Dictionnaire de Bordeaux. Nouvelles Editions Loubatières, Portet-sur-Garonne 2006, ISBN 2-86266-478-2 Robert Coustet, Marc Saboya: Bordeaux – La conquête de la modernité. Editions Mollat, Bordeaux 2005, ISBN 2-909351-85-8 Don Kladstrup, Petie Kladstrup: Wein & Krieg. Deutscher Taschenbuchverlag, München 2004, ISBN 3-423-34152-1 Michel Figeac, Pierre Guillaume (Hrsg.): Histoire des Bordelais. Editions Mollat, Bordeaux 2003, ISBN 2-909351-75-0 Robert Joseph: Bordeaux und seine Weine. Hallwag, München 2003, ISBN 3-7742-0978-2 Gérard Nahon, Juifs et judaïsme à Bordeaux, Paris 2003, ISBN 2-909351-77-7. Manfred Görgens: Bordeaux & Atlantikküste. DuMont Reiseverlag, Köln 2002, ISBN 3-7701-5851-2 Robert Étienne (Hrsg.): Histoire de Bordeaux. Editions Privat, Toulouse 2001, ISBN 2-7089-8329-6 Paul Butel: Vivre à Bordeaux sous l’Ancien Régime. Editions Perrin, Paris 1999, ISBN 2-262-01127-3 René Terrisse: Bordeaux 1940–1944. Editions Perrin, Paris 1993, ISBN 2-262-00991-0 Paul Butel: Les négociants bordelais, l’Europe et les îles au XVIIème siècle. Aubier Montaigne, Paris 1992, ISBN 2-7007-1975-1 == Weblinks == Website der Stadt Bordeaux (französisch) Weinregion Bordeaux (deutsch) Fremdenverkehrsamt (deutsch) Eintrag auf der Website des Welterbezentrums der UNESCO (englisch und französisch). Kommunalverband CUB Literatur von und über Bordeaux im Katalog der Deutschen Nationalbibliothek == Einzelnachweise ==
https://de.wikipedia.org/wiki/Bordeaux
Karl der Große
= Karl der Große = Karl der Große (lateinisch Carolus Magnus oder Karolus Magnus, französisch und englisch Charlemagne; * wahrscheinlich 2. April 747 oder 748; † 28. Januar 814 in Aachen) war von 768 bis 814 König des Fränkischen Reichs (bis 771 gemeinsam mit seinem Bruder Karlmann). Er erlangte am 25. Dezember 800 als erster westeuropäischer Herrscher seit der Antike die Kaiserwürde, die mit ihm erneuert wurde. Der Enkel des Hausmeiers Karl Martell war der bedeutendste Herrscher aus dem Geschlecht der Karolinger. Das Frankenreich gelangte unter ihm zu seiner größten Ausdehnung und Machtentfaltung. Karl gelang es, seine Macht im Frankenreich zu sichern und es in einer Reihe von Feldzügen nach außen erheblich zu erweitern. Besonders verlustreich und erbittert geführt waren die mit Unterbrechungen von 772 bis 804 andauernden Sachsenkriege. Deren Ziel war die Unterwerfung und erzwungene Christianisierung der Sachsen. Karl griff auch in Italien ein und eroberte 774 das Langobardenreich. Ein gegen die Mauren in Nordspanien gerichteter Feldzug im Jahr 778 scheiterte dagegen. Im Osten seines Reiches beendete er 788 die Selbstständigkeit des Stammesherzogtums Baiern und eroberte in den 790er Jahren das Restreich der Awaren. Die Grenzen im Osten gegen die Dänen und Slawenstämme sowie im Südwesten gegen die Mauren wurden durch die Einrichtung von Marken gesichert. Das Frankenreich stieg zur neuen Großmacht neben Byzanz und dem Abbasidenkalifat auf. Es umfasste den Kernteil der frühmittelalterlichen lateinischen Christenheit und war das bis dahin bedeutendste staatliche Gebilde im Westen seit dem Fall Westroms. Karl sorgte für eine effektive Verwaltung und bemühte sich um eine umfassende Bildungsreform, die eine kulturelle Neubelebung des Frankenreichs zur Folge hatte. Politischer Höhepunkt seines Lebens war die Kaiserkrönung durch Papst Leo III. zu Weihnachten des Jahres 800. Sie schuf die Grundlage für das westliche mittelalterliche Kaisertum. Sowohl in der Reihe der römisch-deutschen Kaiser als auch der französischen Könige wird er als Karl I. gezählt. Seine Hauptresidenz Aachen blieb bis ins 16. Jahrhundert Krönungsort der römisch-deutschen Könige. 1165 wurde er von Gegenpapst Paschalis III. heiliggesprochen; der Gedenktag in der katholischen und evangelischen Kirche ist der 28. Januar. Karl gilt als einer der bedeutendsten mittelalterlichen Herrscher und als einer der wichtigsten Herrscher im europäischen Geschichtsbewusstsein; bereits zu Lebzeiten wurde er Pater Europae („Vater Europas“) genannt. In Belletristik und Kunst wurde sein Leben wiederholt thematisiert, wobei das jeweils zeitgenössische Geschichtsbild den Ausgangspunkt bildete. == Leben == === Kindheit und Jugend === Karl stammte aus der heute als Karolinger bezeichneten Familie, die zwar erst seit 751 die fränkische Königswürde innehatte, aber bereits in den Jahrzehnten zuvor die bestimmende Macht am Königshof war. Ihr Aufstieg begann im 7. Jahrhundert und resultierte aus der zunehmenden Schwäche des Königtums der Merowinger, wobei die wahre Macht zunehmend in die Hände der Hausmeier überging. Diese waren ursprünglich nur Verwalter des Königshofes gewesen, gewannen aber im Laufe der Zeit immer mehr Einfluss. Eine wichtige Rolle spielten bereits im 7. Jahrhundert die Arnulfinger und Pippiniden, die Vorfahren der späteren Karolinger. Ihre Machtbasis lag im östlichen Reichsteil Austrasien. Seit der Zeit Pippins des Mittleren und von dessen Sohn Karl Martell bestimmten sie endgültig die fränkische Reichspolitik. Auf Karl Martell geht auch die spätere Bezeichnung der Familie als „Karolinger“ zurück. Karl der Große war der älteste Sohn Pippins des Jüngeren, des fränkischen Hausmeiers und (seit 751) Königs, und dessen Frau Bertrada. Als Tag seiner Geburt steht der 2. April fest, der in einem aus dem 9. Jahrhundert stammenden Kalender des Klosters Lorsch festgehalten wurde. Das Geburtsjahr hingegen ist in der Forschung lange umstritten gewesen. Inzwischen wird aufgrund einer genaueren Quellenauswertung für das Jahr 747 bzw. 748 plädiert. Der Geburtsort ist hingegen völlig unbekannt, alle Bestimmungsversuche sind spekulativ.751 kam Karls Bruder Karlmann zur Welt, 757 folgte seine Schwester Gisela († 810), die 788 Äbtissin von Chelles wurde. Auffallend sind die Namen, die Pippin seinen Söhnen gab. Wenngleich sie auf die Namen von Pippins Vater (Karl) und Bruder (Karlmann) zurückzuführen sind, standen sie ansonsten isoliert in der Namensgebung der Arnulfinger-Pippiniden. Sie waren auch nicht an der merowingischen Namensgebung orientiert wie die Namen späterer karolingischer Könige (Chlotar wurde zu Lothar, Chlodwig zu Ludwig). Vermutlich wollte Pippin so das neue Selbstbewusstsein seines Hauses illustrieren.Die von Karls Vertrautem Einhard verfasste Biographie – heute oft als Vita Karoli Magni bezeichnet – stellt neben den sogenannten Annales regni Francorum (Reichsannalen) die Hauptquelle für Karls Leben dar, doch übergeht sie die Kindheit, über die fast nichts bekannt ist. Die moderne Forschung kann ebenfalls nur wenige konkrete Aussagen über die faktisch „unbekannte Kindheit“ Karls machen.Zu Beginn des Jahres 754 überquerte Papst Stephan II. die Alpen und begab sich ins Frankenreich. Grund für diese Reise waren die zunehmenden Übergriffe des Langobardenkönigs Aistulf, der 751 das Exarchat von Ravenna erobert hatte. Formal unterstand dieser Raum der Herrschaftsgewalt des byzantinischen Kaisers, doch Konstantin V., der militärisch erfolgreich an der byzantinischen Ostgrenze gegen die Araber kämpfte und dort gebunden war, verzichtete zu dieser Zeit auf ein Eingreifen im Westen. Daraufhin wandte sich Stephan an den mächtigsten westlichen Herrscher und versuchte Pippin zu einem Eingreifen zu überreden.Die Anwesenheit des Papstes nördlich der Alpen erregte Aufsehen, denn es war das erste Mal, dass sich ein Bischof von Rom ins Frankenreich begab. Beim Treffen in der Pfalz von Ponthion trat der Papst als Hilfesuchender auf. Pippin ging mit ihm ein Freundschaftsbündnis (amicitia) ein und sagte ihm Unterstützung gegen die Langobarden zu. Von dem Bündnis profitierte auch Pippin, der erst seit 751 die fränkische Königswürde bekleidete, nachdem er den machtlosen letzten Merowingerkönig Childerich III. entthront hatte. Das Bündnis mit dem Papst half Pippin bei der Legitimierung seines Königtums, gleichzeitig wurden die Frankenkönige zu den neuen Schutzherren des Papstes in Rom, was für die weitere Entwicklung weitreichende Folgen hatte. Bei einem weiteren Treffen mit dem Papst zu Ostern 754 in Quierzy konnte Pippin das fränkische Eingreifen in Italien verkünden und garantierte dem Papst mehrere (auch ehemalige byzantinische) Territorien in Mittelitalien, die sogenannte Pippinische Schenkung, welche die Grundlage für den späteren Kirchenstaat bildete. Eine konkrete päpstliche Gegenleistung folgte bereits kurz darauf, denn noch im Jahr 754 wurden Pippin sowie seine beiden Söhne von Stephan II. in Saint-Denis zu Königen der Franken gesalbt, womit das neue karolingische Königtum zusätzlich einen sakralen Charakter erhielt. Alle drei erhielten zudem vom Papst den hohen römischen Ehrentitel Patricius. Kurz darauf intervenierte Pippin erfolgreich in Italien zugunsten des Papstes, was allerdings auf den Widerstand der Byzantiner traf, da sie dies als Eingreifen in ihren Herrschaftsraum betrachteten.In den Quellen finden sich noch weitere vereinzelte Hinweise auf Karls Jugend. Neben Erwähnungen in Fürbitten für die Familie im Namen Pippins wird Karl in den Urkunden seines Vaters zweimal namentlich genannt, wobei es um seine amtliche Handlungsfähigkeit geht. 763 scheint Pippin seinen Söhnen zudem mehrere Grafschaften übertragen zu haben.Des Weiteren sind zumindest einige allgemeine Rückschlüsse auf Karls Jugend und Erziehung möglich. Es ist davon auszugehen, dass bei seiner Erziehung nicht nur auf die übliche fränkische Kriegerausbildung, die für einen König als Heerführer essentiell war, sondern auch auf eine gewisse Bildung Wert gelegt wurde. Ob ihm damals das volle Programm der septem artes liberales, der sieben freien Künste, vermittelt wurde, um dessen Wiederherstellung er sich später im Rahmen seiner Bildungsreform bemühte, ist unklar und wird in der Forschung unterschiedlich eingeschätzt. Karl sprach von Hause aus sehr wahrscheinlich Fränkisch, wobei Einhard nur unbestimmt von Karls Muttersprache (patrius sermo, wörtlich „Vatersprache“) schreibt, er erhielt jedoch sicher Lateinunterricht. Bereits in der Merowingerzeit war eine gewisse Bildung für hochstehende Adelige keineswegs ungewöhnlich gewesen. Obwohl das Bildungsniveau im 8. Jahrhundert gesunken war, war Latein am Hof, in der Verwaltung und im Gottesdienst allgegenwärtig. Anders als manch einer der späteren ostfränkischen bzw. römisch-deutschen Könige hat Karl das Lateinische offenbar auch verstanden. Einhard zufolge sprach er es wie seine Muttersprache, was eine Übertreibung sein mag. Er dürfte zudem über Lesekenntnisse des Lateinischen verfügt haben. Karl war jedenfalls ein für damalige Verhältnisse recht gebildeter Herrscher und sein Leben lang an Bildung interessiert. === Herrschaftsantritt === König Pippin verbrachte die letzten Jahre seiner Regierungszeit damit, die Randgebiete des Frankenreichs zu sichern. Er führte Feldzüge in das ehemals westgotische Septimanien und eroberte 759 Narbonne, den letzten arabischen Vorposten nördlich der Pyrenäen. Pippins Neffe Tassilo III. bewahrte sich in Bayern eine gewisse Eigenständigkeit. Aquitanien hingegen wurde 768 nach mehreren Feldzügen in das Frankenreich eingegliedert. Auf dem Rückweg aus Aquitanien erkrankte Pippin im Juni 768 ernsthaft, woraufhin er sein Erbe zu regeln begann. Am 24. September 768 starb er in Saint-Denis. Kurz vor seinem Tod hatte er verfügt, dass das Reich unter seinen Söhnen Karl und Karlmann aufgeteilt werden sollte. Einhard zufolge orientierte sich die Teilung an der vorherigen Teilung von 741 zwischen Karl Martells Söhnen, doch deckte sie sich nicht mit ihr. Karl erhielt Austrasien, den Großteil Neustriens und den Westen Aquitaniens, Karlmann das restliche Aquitanien, Burgund, die Provence, Septimanien, das Elsass und Alamannien. Bayern war von der Erbteilung ausgeschlossen und blieb faktisch selbstständig. Damit umschloss Karls Reich das seines Bruders halbkreisartig im Westen und Norden. Am 9. Oktober 768, dem Gedenktag des Dionysius von Paris, wurde jeder der Brüder in seinem Reichsteil zum König gesalbt, Karl in Noyon und Karlmann in der alten merowingischen Residenz Soissons.Karl und Karlmann übten keine gemeinsame Herrschaft über das Frankenreich aus, sondern regierten in ihren jeweiligen Reichen unabhängig voneinander, was sich an ihren Urkunden ablesen lässt. Ihr Verhältnis scheint von Beginn an angespannt gewesen zu sein. Es gibt zwar Hinweise auf eine punktuell beschränkte Kooperation, so hinsichtlich einer römischen Synode im März 769, doch war dies die Ausnahme. Beide handelten machtbewusst und traten in eine Konkurrenz zueinander. Beide wurden wohl im gleichen Jahr (770) Väter und benannten ihren Sohn jeweils nach ihrem Vater Pippin. Offensichtlich wurde der Bruch, als Karlmann seinem Bruder 769 die Unterstützung gegen das aufständische Aquitanien verweigerte, wo sich Huno(a)ld gegen die karolingische Herrschaft erhoben hatte. Karl warf den Aufstand schließlich allein nieder, wobei Hunold in Gefangenschaft geriet, und zog anschließend auch den Teil Aquitaniens ein, der formal Karlmann unterstand.In der Folgezeit nahmen die Spannungen zu. Die Mutter Bertrada versuchte zwar zwischen den verfeindeten Brüdern zu vermitteln, doch verlor sie bald ihren Einfluss auf Karl. Dieser hatte zunächst in eine von seiner Mutter arrangierte Ehe mit einer namentlich unbekannten Langobardenprinzessin eingewilligt, wofür er sich von seiner ersten Frau Himiltrud trennte. Bertrada scheint ein umfassendes Bündnissystem angestrebt zu haben: Neben dem durch die Eheschließung bekräftigten Bündnis mit dem ehrgeizigen Langobardenkönig Desiderius umfasste ihr Plan auch Tassilo, der bereits mit einer anderen Tochter des Desiderius verheiratet war. Die Bedenken Papst Stephans III., der von der plötzlichen fränkisch-langobardischen Annäherung zutiefst beunruhigt war, versuchte sie zu entkräften. Möglicherweise war auch Karlmann in das von Bertrada und wohl auch einigen fränkischen Großen forcierte neue Bündnissystem eingebunden; seine Ehefrau Gerberga ist vielleicht eine Verwandte des Desiderius gewesen.Karl änderte jedoch im Frühjahr 771 seine politischen Pläne und brach mit der Konzeption seiner Mutter. Seine langobardische Gemahlin sandte er zu Desiderius zurück, was für diesen ein Affront war. Stattdessen nahm Karl nun eine Alamannin namens Hildegard zur Frau. Dies musste Karlmann beunruhigen, denn Alamannien gehörte zu seinem Herrschaftsbereich, wo Karl nun offenbar Einfluss gewinnen wollte. Indem Karl alle Pläne seiner Mutter verwarf, handelte er erstmals erkennbar eigenständig.Eine offene Konfrontation zwischen Karl und Karlmann, die immer wahrscheinlicher geworden war, wurde durch den überraschenden Tod Karlmanns am 4. Dezember 771 verhindert. Karl übernahm unverzüglich die Macht im Reich des Verstorbenen, dessen Große ihm noch im Dezember 771 in Corbeny huldigten. Die Vermutung, Karl sei am Tod seines Bruders beteiligt gewesen, da er erheblich davon profitierte, wird nicht durch die Quellen gedeckt. Die Behauptung, Karlmanns Andenken sei einer damnatio memoriae („Vernichtung des Andenkens“) zum Opfer gefallen, trifft nicht zu; dass Karlmann nicht in Saint-Denis, sondern in Reims begraben wurde, geht sehr wahrscheinlich auf seinen eigenen Wunsch zurück. Sicher ist, dass Karl nun uneingeschränkt im Frankenreich herrschte. Karlmanns Witwe Gerberga floh mit ihren Kindern zu Desiderius nach Italien. === Militärische Expansion und Integration === ==== Langobardenfeldzug und Eingliederung Italiens ==== Nach Karlmanns Tod hatte Karl seine Position im Reich gefestigt, doch die beiden Söhne seines Bruders, die mit ihrer Mutter und einigen fränkischen Großen ins Langobardenreich geflohen waren, bildeten eine potentielle Bedrohung. In Ober- und Mittelitalien spitzte sich die politische Lage zu. Desiderius hatte sich Gebiete angeeignet, auf die die römische Kirche Anspruch erhob. Gesandte Papst Hadrians baten daher im Frühjahr 773 am Hof Karls um die Unterstützung der päpstlichen Schutzmacht gegen die Langobarden. Karl zögerte nicht und entschloss sich zu einem großangelegten Langobardenfeldzug, ähnlich wie ihn sein Vater rund zwei Jahrzehnte zuvor unternommen hatte. Anders als Pippin plante Karl jedoch, das gesamte Langobardenreich zu erobern und in das Frankenreich zu integrieren, wie Einhard vermerkte. Der auf frühmittelalterliche Militärgeschichte spezialisierte Historiker Bernard Bachrach meint allerdings, Karl habe den Krieg gegen Desiderius nicht von Anfang an gewollt; erst die Entwicklung der Verhältnisse in Italien habe ihn zum Eingreifen veranlasst. Karl zog im Spätsommer 773 mit zwei großen fränkischen Heeresaufgeboten von Genf aus nach Italien. Eines führte er selbst über den Col du Mont Cenis, das andere führte sein Onkel Bernhard über den Großen St. Bernhard. Desiderius sah sich in einer unhaltbaren Position und zog sich nach Pavia zurück. Karl ließ die stark befestigte Stadt belagern. Erst nach neun Monaten kapitulierte Pavia Anfang Juni 774 und wurde von den Franken geplündert. Karl besetzte das gesamte Langobardenreich und gliederte es in das Frankenreich ein. Er nannte sich fortan ohne neue Krönung König der Franken und der Langobarden; diese Titulatur ist in einer Urkunde vom 16. Juli 774 erstmals bezeugt. Desiderius, seine Frau und seine Tochter wurden wohl in die Abtei Corbie in Klosterhaft gesteckt. Der langobardische Königssohn Adelchis konnte nach Konstantinopel entkommen. Als es 787/88 zu einem Konflikt zwischen den Franken und den Langobardenfürsten in Spoleto und Benevent kam, brachten die Byzantiner Adelchis ins Spiel. Dies blieb aber nur eine kurze Episode; die langobardischen Fürsten akzeptierten doch wieder die fränkische Oberherrschaft und gingen gegen die Byzantiner vor, worauf Adelchis alle Pläne aufgeben musste. Die langobardischen Fürstentümer in Unteritalien blieben Karls Zugriff faktisch entzogen, Oberitalien und Teile Mittelitaliens hingegen gehörten fortan zum Frankenreich und sollten später als Reichsitalien auch Bestandteil des römisch-deutschen Reiches sein. Wohl noch im Jahr 773 waren bei einem Vorstoß auf Verona Gerberga und ihre beiden Söhne in Karls Hände gefallen. Ihr weiteres Schicksal ist unbekannt. Wahrscheinlich ließ Karl seine Neffen wegen ihres Anspruchs auf das väterliche Erbe beseitigen oder inhaftieren.Zu Ostern 774 erschien Karl plötzlich mit Gefolge vor Rom, während sein Heer noch Pavia belagerte. Papst Hadrian war davon völlig überrascht. Den Langobardenkönigen hatten die Päpste den direkten Zugang zur Stadt stets verweigert, doch den fränkischen Herrscher und neuen Schutzherren des Papsttums wollte Hadrian offenbar nicht verärgern. 30 Meilen vor der Stadt empfing man den Frankenkönig in ritueller Weise, wobei sich das Protokoll am Empfang des byzantinischen Exarchen orientierte, des obersten militärischen und zivilen Verwalters des byzantinischen Kaisers in Italien. Karl wurde zur Kirche St. Peter begleitet, wo Hadrian ihn mit einem großen Anhang feierlich empfing. Der Papst und der König begegneten einander ehrenvoll und versicherten sich ihrer gegenseitigen Freundschaft. Karl soll um die formale Erlaubnis gebeten haben, die Stadt zu betreten, was ihm gestattet wurde. Anschließend zog der Frankenkönig und römische Patricius in die ehemalige Kaiserstadt am Tiber ein, die im Mittelalter zwar nur einen Bruchteil der antiken Bevölkerungszahl aufwies, deren Monumentalbauten aber auf Besucher immer noch eindrucksvoll wirkten. Offenbar war Karl bestrebt, die Position und die Autorität des Papstes auch symbolisch zu achten. Realpolitisch bedeutsam war die bei diesem Anlass vorgenommene Erneuerung des Pactum, der von Pippin geschlossenen Übereinkunft mit dem Papsttum hinsichtlich der päpstlichen Gebietsansprüche. Geistliche und weltliche Gewalt, die beiden Universalgewalten des Mittelalters, schienen harmonisch zusammenzuwirken. Karl nahm in den folgenden Tagen an allen religiösen Kulthandlungen in Rom teil, bevor er die Stadt verließ. ==== Die Sachsenkriege ==== Im Sommer 772 begannen die mit Unterbrechungen bis 804 andauernden Sachsenkriege. Die immer noch paganen („heidnischen“) Sachsen kannten keine zentralen Herrschaftsinstitutionen und lebten nicht wie die Franken und Langobarden in einem geschlossenen Reichsverband, sondern in nur locker organisierten Stammesverbänden (Westfalen, Ostfalen, Engern und Nordalbingier). Die Sachsen waren bereits zuvor wiederholt in Konflikt mit den Franken geraten, da ihr Stammesgebiet direkt an das nordöstliche fränkische Herrschaftsgebiet angrenzte. Einhard bezeichnet Karls Feldzüge gegen die Sachsen als die bislang längsten, grausamsten und anstrengendsten Kampfhandlungen für die Franken. Er verdammt die Sachsen als Götzendiener und Feinde des Christentums, nennt als Ziel für Karls Feldzüge aber nicht etwa die Christianisierung der Sachsen, sondern die Beseitigung dieser militärischen Bedrohung an der fränkischen Grenze. Schon Karl Martell und Pippin hatten begrenzte Feldzüge gegen die Sachsen unternommen, ohne deren Bekehrung anzustreben. In der modernen Forschung werden Karls Sachsenkriege jedoch durchaus als Missionierungskriege betrachtet. Einhard und die Reichsannalen vermitteln ein eher tendenziöses Bild der Sachsenkriege, während von sächsischer Seite nur späte Berichte aus der Zeit nach der Christianisierung vorliegen. Dagegen vermitteln zeitnahe Briefe, Gedichte und Herrschererlasse Momentaufnahmen der Sachsenkriege und lassen erkennen, dass der Ausgang über mehrere Jahre offen war. Sicher ist, dass dieser „dreißigjährige Krieg“ fast jährliche Kriegszüge erforderte. Auch für eine militärisch geprägte Gesellschaft wie die fränkische, in der sich der König stets als Heerführer beweisen musste und in der Beute sowie erzwungene Tribute wirtschaftlich von Bedeutung waren, stellte dies eine enorme Belastung dar. Der Krieg begann 772 mit einem fränkischen Vorstoß tief ins sächsische Stammesgebiet. Karl stieß von Worms aus auf die Eresburg vor und eroberte sie. Anschließend gelangten die Franken zum (wohl zentralen) sächsischen Kultheiligtum, der sogenannten Irminsul, die Karl zerstören ließ. Die Zerstörung der Irminsul passt durchaus in das Bild eines schon 772 zumindest zukünftig beabsichtigten Missionswerks, ebenso ist aber auch reine Beutelust als Motiv denkbar. Der fränkische Vorstoß, der wohl auch Spannungen zwischen einigen fränkischen Großen und dem König abbauen sollte, war jedenfalls vorerst erfolgreich verlaufen. Doch war dies nur ein scheinbarer Sieg, zumal die dezentrale Stammesorganisation der Sachsen den Franken die Kontrolle erheblich erschwerte. Die Sachsen nutzten die Abwesenheit des Königs, der sich 773/74 in Italien aufhielt, und verheerten 774 fränkisches Gebiet im heutigen Hessen, wobei mehrere christliche Kirchen und Klöster überfallen wurden. Karl drang 775 mit einem großen Heer in Sachsen ein und erzwang die Unterwerfung der Engern (unter Bruno) und der Ostfalen (unter Hassio/Hessi); auch die Westfalen wurden geschlagen. Der König ging während dieses Feldzugs offenbar mit großer Brutalität vor: Die hofnahen Reichsannalen berichten zum Jahr 775 von drei Blutbädern, die Karl anrichten ließ, und den Nordhumbrischen Annalen zufolge wütete er unter seinen Feinden. Karls Reaktion auf den Vertragsbruch durch die Sachsen war die Losung, dass es nur noch Taufe oder Tod für die Sachsen geben könne. Spätestens zu diesem Zeitpunkt betrachtete Karl die Sachsenfeldzüge auch als Missionierungswerk, denn in der überarbeiteten Fassung der Reichsannalen, den sogenannten Einhardsannalen, ist vermerkt, dass der Krieg gegen die Sachsen so lange andauern werde, bis sie sich dem christlichen Glauben unterworfen hätten oder ausgerottet seien.776 kam es zu einem erneuten Sachsenaufstand, der ebenfalls niedergeschlagen wurde. Die Eresburg wurde wiedererrichtet und die Sachsen mussten Geiseln stellen. Karl ließ in Sachsen weitere Stützpunkte anlegen, darunter die sogenannte Karlsburg (civitas Karoli), die aber später zerstört und dann als Pfalz Paderborn neu aufgebaut wurde. In der Folgezeit wurden Kirchen und Klöster gegründet, um die Missionierung Sachsens zu forcieren und die fränkische Herrschaft zu festigen. 777 schien die Lage in Sachsen so weit unter Kontrolle zu sein, dass der König in Paderborn eine Reichsversammlung abhalten konnte. Dies war eine spektakuläre Demonstration der fränkischen Herrschaft, die erste Reichsversammlung außerhalb des fränkischen Kernlands. Zu diesem Zeitpunkt wähnten sich die Franken offenbar als vollständige Sieger. Noch im selben Jahr kam es wiederholt zu Massentaufen, die entgegen dem Kirchenrecht teils unter Zwang stattfanden; hinzu kamen fränkische Abgabenforderungen, die für die Sachsen eine zusätzliche Belastung durch die fränkische Fremdherrschaft darstellten.778 erscheint das erste Mal der Sachse Widukind als ein neuer Anführer der Aufständischen, die sich weiterhin gegen die fränkische Herrschaft stellten; beteiligt waren in erster Linie nicht Adelige, sondern Freie und Halbfreie, während Teile des sächsischen Adels sich mit den Eroberern arrangierten. Der Zeitpunkt für eine abermalige Erhebung schien günstig, denn Karl hatte im selben Jahr in Spanien eine herbe Niederlage erlitten. Den sächsischen Widerstand betrachtete Karl jetzt auch als Abkehr vom christlichen Glauben, die daran beteiligten Sachsen waren für ihn Hochverräter. Umso härter reagierte er. Bereits 778 zog er Truppen zusammen, im Sommer 779 besiegte er die Sachsen bei Bocholt in einer der seltenen offenen Schlachten dieses Konflikts. Karl drang in Sachsen weiter vor und empfing wieder die Unterwerfung mehrerer Aufständischer, die wieder Geiseln stellen mussten. 780 und 782 hielt Karl erneut Reichsversammlungen in Sachsen ab. Der sächsische Widerstand schien gebrochen zu sein. Sächsische Adelige wurden in die fränkische Herrschaft eingebunden und belohnt und es sollte sogar ein fränkisch-sächsisches Truppenaufgebot gegen die Slawen zum Einsatz kommen. Da erhoben sich 782 erneut große Teile der Sachsen unter Führung Widukinds. Am Süntel im Weserbergland schlugen sie ein fränkisches Truppenaufgebot vernichtend, was in der Originalfassung der Reichsannalen verschwiegen, aber in den Einhardsannalen eingeräumt wird. Karl marschierte eiligst an die Weser, um den Aufstand zu ersticken.Ein Teil der Rebellen unterwarf sich erneut, aber bei Verden an der Aller kam es noch 782 zum sogenannten Blutgericht von Verden: Den Reichsannalen zufolge wurden 4500 Sachsen auf Befehl Karls getötet. In der Forschung findet dieser Vorgang bis heute viel Beachtung. Die Zahl 4500 mag deutlich übertrieben sein, unbestreitbar ist jedoch, dass Karl in Verden eine äußerst brutale Maßnahme ergriff, die viel zur Verdunkelung seines Bildes bei der Nachwelt beigetragen hat, auch wenn die Anzahl der getöteten Sachsen deutlich niedriger sein mag. Da eine ähnliche Aktion später nicht mehr stattfand, wird das „Blutgericht“ vor allem der Abschreckung gedient haben. Im selben Jahr wurde die fränkische Grafschaftsverfassung (siehe unten) in Sachsen eingeführt, es wurden wieder Geiseln gestellt und Sachsen deportiert. Ebenso wurde die sogenannte Capitulatio de partibus Saxoniae erlassen, die für Abweichungen vom christlichen Glauben, Übergriffe auf christliche Würdenträger oder Einrichtungen sowie für pagane Kulthandlungen harte Strafen (oftmals die Todesstrafe) vorschrieb. 783 besiegten die Franken in zwei Gefechten die Sachsen. Ende 784 zog Karl im Winter wieder nach Sachsen, um seine Herrschaft abzusichern. Im folgenden Jahr wurden weitere Feldzüge durchgeführt, der sächsische Widerstand war nun brutal gebrochen worden und Karl bot Widukind Gespräche an. Widukind stimmte zu und unterwarf sich dem Frankenkönig; er ließ sich sogar zu Weihnachten des Jahres 785 in der Pfalz Attigny taufen, wobei Karl als sein Taufpate fungierte. Der sächsische Widerstand flackerte die folgenden Jahre zwar noch teilweise auf, erreichte aber nicht mehr das Ausmaß der ersten Phase der Sachsenkriege. 792 kam es erneut zu Unruhen und zwischen 793 und 797 mussten regelmäßig fränkische Heeresaufgebote ausrücken, doch fanden diese Kämpfe vor allem im nordöstlichen Sachsen im Elberaum statt.Die Franken konsolidierten ihre Herrschaft in Sachsen, Christianisierung und Kirchenorganisation wurden vorangetrieben und es wurden mehrere Deportationen durchgeführt. Die fränkische Herrschaft war nun weitgehend abgesichert. Der von Alkuin kritisierte „herrschaftliche Terror“, der offenbar zielgerichtet betrieben worden war, konnte daher abgemildert werden. 797 wurde die Capitulatio de partibus Saxoniae durch eine mildere Verordnung ersetzt. 802 wurde mit der Lex Saxonum geschriebenes Recht für die Sachsen erlassen, das auch Elemente ihres Stammesrechts aufnahm. 802 und 804 kam es zu weiteren fränkischen Feldzügen im nördlichen Elberaum. Sächsische Einwohner wurden von dort ins östliche Frankenreich deportiert, statt ihrer wurden im Elberaum Franken angesiedelt. Die Sachsenkriege waren nun endgültig beendet. Sachsen blieb christlich und wurde nicht zuletzt durch die Einbeziehung der lokalen Eliten in das Karolingerreich integriert. ==== Spanien ==== Während Karls frühe Expansionspolitik zwar (wie in Sachsen) hart erkämpft, aber insgesamt betrachtet überaus erfolgreich war, war 778 ein Krisenjahr seiner Herrschaftszeit. Bei der Reichsversammlung von Paderborn im Jahr 777 erschienen unerwartet hochrangige Gesandte aus der arabisch beherrschten Iberischen Halbinsel (al-Andalus). Der Umayyade Abd ar-Rahman I., der dem Umsturz durch die Abbasiden entkommen und nach Spanien geflüchtet war, hatte dort eine vom neuen Kalifen in Bagdad unabhängige Herrschaft etabliert, das Emirat von Córdoba. In diesem Reich gab es starke Spannungen zwischen Arabern und Berbern. Zur Opposition gehörte unter anderem der arabische Wālī Suleiman al-Arabi. Er bat zusammen mit zwei weiteren Gesandten in Paderborn Karl um Beistand gegen Abd ar-Rahman. Als Gegenleistung unterwarfen sich die drei arabischen Großen dem Frankenkönig. Karl bot dies Anlass für eine weitere Expansion, zumal die Franken früher bereits mehrfach in Kämpfe mit arabischen Truppen verwickelt gewesen waren. Bereits 759 scheint ein arabischer Statthalter König Pippin seine Unterwerfung angeboten zu haben. Bereits im folgenden Jahr (778) unternahm Karl einen Feldzug nach Nordspanien. Als Begründung dienten ihm arabische Überfälle, so zumindest formulierte er es in einem Brief an den Papst; außerdem konnte er als Schützer der spanischen Christen auftreten. Das Heer teilte er in zwei Abteilungen: Eine stieß zunächst auf Pamplona vor, die andere auf Saragossa. Der christliche König von Asturien betrachtete Karls Feldzug eher argwöhnisch, vielleicht verständigte er sich sogar mit dem Emir von Córdoba. Pamplona, die Hauptstadt der christlichen Basken, wurde erobert, doch der Vorstoß auf Saragossa, wo sich das fränkische Heer wieder vereinigte, blieb erfolglos. Die Quellenlage für den Spanienfeldzug ist äußerst schlecht, doch erwies sich Abd ar-Rahmans Machtstellung offenbar als gefestigt und die gegen ihn gerichtete Opposition als nicht ausreichend stark. Al-Arabi stellte zwar Geiseln und Barcelona sowie andere Städte wurden Karls Herrschaft unterstellt, doch scheint es sich hierbei um rein formale Unterwerfungen gehandelt zu haben, die folgenlos blieben und den Franken keinen Gewinn einbrachten. Offensichtlich hatte Karl nur unzureichende Vorstellungen von den Verhältnissen in Spanien, er hat sich hinsichtlich der Erfolgsaussichten verkalkuliert. Als er die Nachricht von dem erneuten Aufstand in Sachsen erhielt, brach er den ohnehin gescheiterten Feldzug ab und trat den Rückzug an.Auf dem Rückzug ließ Karl noch die Mauern von Pamplona zerstören, doch die Basken rächten sich für sein hartes Vorgehen. Im August 778 lauerten sie dem fränkischen Heer auf und fügten der Nachhut in der Schlacht von Roncesvalles wohl recht erhebliche Verluste zu. Die Reichsannalen verschweigen die Niederlage Karls, doch in der überarbeiteten Fassung, den Einhardsannalen, wird sie erwähnt. Neben anderen fränkischen Adligen fiel auch Hruotland, Graf der bretonischen Mark. Sein Tod diente als Stoff für das im 12. Jahrhundert aufgezeichnete sehr populäre Rolandslied. Die in pro-karolingischen Quellen beschönigten Ereignisse des Spanienfeldzugs werden in der Forschung als vollständiger Misserfolg bewertet. Dennoch sollte Karl später erneut in Nordspanien aktiv werden, diesmal mit mehr Erfolg. 792/93 kam es zu arabischen Einfällen ins Frankenreich, woraufhin die Franken Feldzüge nach Nordspanien unternahmen. Mehrere befestigte Städte konnten eingenommen werden, darunter Barcelona (803) und Pamplona (811). Im eroberten Gebiet wurden Christen angesiedelt. Die Franken hatten damit eine strategisch wichtige Pufferzone errichtet, die aber erst nach Karls Tod als reguläre Grenzgrafschaft, die Spanische Mark, eingerichtet wurde. ==== Awarenkrieg ==== Im Südosten grenzte das Frankenreich an das Awarenreich. Die Awaren waren Reiternomaden aus dem asiatischen Steppenraum, die im späten 6. Jahrhundert im Blickfeld der Byzantiner aufgetaucht waren und bis ins frühe 7. Jahrhundert ein mächtiges Reich im Balkanraum etabliert hatten. Für das Jahr 782 ist eine awarische Gesandtschaft an Karl belegt. Obwohl das Awarenreich im späten 8. Jahrhundert seinen Zenit längst überschritten hatte, unternahmen die Awaren im Jahr 788 Einfälle in das Frankenreich, so nach Oberitalien und Bayern. Diese Vorstöße waren vielleicht durch Hilfegesuche oppositioneller Kreise im Frankenreich ausgelöst worden oder entsprangen der Befürchtung der Awaren, dass sie das nächste Opfer von Karls Expansionspolitik sein würden. Der awarische Vorstoß scheiterte jedenfalls, und bei den folgenden Verhandlungen in Worms 790 konnte keine Einigung erzielt werden. Ob nun Karl die Grenze im Südosten stabilisieren wollte oder schlicht auf Eroberung aus war, 791 begann jedenfalls eine großangelegte fränkische Invasion des Awarenreichs. Einhard beschreibt den folgenden Krieg als den größten Karls neben den Sachsenkriegen. Der Awarenkrieg war auch deshalb von großer symbolischer Bedeutung, weil er gegen „Heiden“ geführt wurde und sich Karl so ganz als christlicher Herrscher stilisieren konnte. Beim Feldzug von 791 wichen die Awaren den Franken aus, die zur Versorgung des Heeres eine große Flussflotte auf der Donau einsetzten. In den folgenden Jahren plante Karl einen weiteren Feldzug. In diesem Zusammenhang wurde auch ein Kanalbau (Fossa Carolina) vorangetrieben. Zunächst verhinderten jedoch erneute Sachsenaufstände das Vorhaben. 794/95 kam es im Awarenreich zu internen Machtkämpfen, die den Tod des regierenden Khagans zur Folge hatten. Völlig unerwartet erschien 795 eine Delegation einer awarischen Gruppe an der Elbe und bot Karl die Unterwerfung ihres Anführers, des Tudun, an. Dieser akzeptierte Karl als Oberherrn und ließ sich im folgenden Jahr sogar taufen. 796 marschierte ein fränkisches Heer erneut ins Awarenreich ein und machte reiche Beute (sogenannter Awarenschatz); der neue Khagan unterwarf sich den Franken. Die Macht der Awaren war damit gebrochen und ihr Reich zerfiel zusehends. 799/803 kam es zu einem Aufstand gegen die fränkische Oberherrschaft, der aber wirkungslos blieb, zumal die Franken in die inneren Strukturen des Awarenreichs nicht eingriffen. Christianisierung und Neubesiedlung wurden im Grenzraum jedoch vorangetrieben. Zum Jahr 822 werden noch einmal awarische Gesandte in den Quellen erwähnt, das Awarenreich selbst befand sich jedoch in einem endgültigen Auflösungsprozess. Die Franken zogen den Grenzraum nun direkt in das Reich ein und organisierten eine Grenzmark, diesmal zur Abwehr der Bulgaren, die im Balkanraum ein neues Reich errichtet hatten. === Das Ende der Selbständigkeit Bayerns === Nachdem Karl Ende 771 den Reichsteil seines Bruders Karlmann übernommen hatte und 773/74 erfolgreich in Italien interveniert hatte, blieb nur eine Leerstelle im karolingischen Reichsverband: Bayern, wo Tassilo III., ein Neffe König Pippins, als Herzog regierte. Tassilo hatte Pippin Gefolgschaft geleistet und sich 756 an einem Feldzug gegen die Langobarden beteiligt. Anschließend übernahm er jedoch seit 757 die eigenständige Herrschaftsgewalt im Herzogtum Bayern. Über die folgenden Jahre lässt sich kaum etwas Genaueres sagen. Die Aufzeichnungen der karolingischen Reichsannalen über Tassilo wurden rückblickend erstellt und sollten vor allem sein Verhalten in einem ungünstigen Licht erscheinen lassen. Dort wird berichtet, der Herzog habe 757 König Pippin einen Vasalleneid geleistet und diesen 763 gebrochen, indem er während eines Feldzugs in Aquitanien „Fahnenflucht“ (althochdeutsch harisliz) begangen habe. In der modernen Forschung wird dieser Darstellung, besonders aufgrund des nachfolgenden Prozesses und der politischen Hintergründe, in der Regel kein Glauben geschenkt. Wenn sie zuträfe, wäre der Bayernherzog zeitnah zur Verantwortung gezogen worden, denn auf ein solches Verhalten stand die Todesstrafe. Tassilo stammte aus der alten und vornehmen Familie der Agilolfinger. Bayern genoss schon seit der Merowingerzeit eine Sonderrolle im Reich. Als Herzog trat Tassilo selbstbewusst auf. Er heiratete die Langobardenprinzessin Liutberga und unterhielt sehr gute Beziehungen zum Papst. Seine Herrschergewalt in Bayern übte er umfassend aus, nicht zuletzt im kirchlichen Bereich. Damals entfaltete sich in Bayern auch eine rege kulturelle Aktivität. Tassilo genoss in seinem Herzogtum faktisch eine königsähnliche Stellung und urkundete 769 sogar in Anlehnung an die karolingische Königstitulatur. Karl duldete jedoch keine politischen Konkurrenten. Daher lag sein Vorgehen gegen den Agilolfinger, zu dem er sich relativ spät entschloss, in der Konsequenz seiner Politik.Im Jahr 787 wurde Tassilo nach Worms vorgeladen, wo er sich dem Frankenkönig unterwerfen sollte. Der Bayernherzog erschien jedoch nicht und bemühte sich um päpstliche Vermittlung. Bald schon musste er jedoch erkennen, dass nicht nur der Papst ganz auf die Linie Karls einschwenkte und ihn zur vollständigen Unterwerfung aufforderte, sondern dass er nun auch im eigenen Herzogtum über wenig Rückhalt verfügte. Als Karl noch 787 militärisch gegen Tassilo vorging, traten mehrere bayerische Große auf die fränkische Seite über. Tassilo war isoliert und unterwarf sich im Oktober 787 Karl, dem er nun auch einen Gefolgschaftseid leistete. Gerd Althoff hat diesen Vorgang als frühestes Vorkommen der rituellen deditio (Unterwerfung) gedeutet. Dennoch blieben Spannungen bestehen und Karl sah nun offenbar eine günstige Gelegenheit, die Lage in seinem Sinn zu bereinigen. Im Juni 788 wurde Tassilo nach Ingelheim vorgeladen und dort zusammen mit seiner Familie festgesetzt. Ihm wurde vorgeworfen, mit den Awaren paktiert zu haben; hinzu kam der Vorwurf der „Fahnenflucht“. Profränkische bayerische Adelige sagten gegen den Herzog aus, der zum Tode verurteilt wurde. Karl wandelte das Urteil in lebenslange Klosterhaft um. 794 wurde Tassilo kurzzeitig aus der Klosterhaft entlassen, um auf der Synode von Frankfurt noch einmal öffentlich Reue zu bekunden und auf seine Ansprüche urkundlich zu verzichten.In der modernen Forschung besteht kein Zweifel daran, dass die gegen Tassilo erhobenen Vorwürfe fingiert waren und in Ingelheim ein politischer Scheinprozess stattfand. Karl hatte sich aus politischen Gründen entschlossen, die unliebsame Sonderstellung des mächtigen Bayernherzogs zu beenden. Eine königsähnliche Nebenherrschaft innerhalb seines Machtbereichs wollte er nicht tolerieren. Tassilos Herrschaft brach schnell zusammen, da er in seinem Herzogtum Gegner hatte, die sich von einer Zusammenarbeit mit Karl mehr versprachen. Die offizielle Sichtweise des karolingischen Königshofs wird vor allem in der Schilderung der Reichsannalen sichtbar, in denen eine leicht nachvollziehbare „Beweiskette“ der angeblichen Vergehen Tassilos aufgeführt und der Herzog als untreuer Gefolgsmann dargestellt wurde. Bayern behielt in der Folgezeit dennoch eine gewisse Sonderstellung: Kirchlich blieb es eine Einheit und auch in der Verwaltung wurde nicht die Grafschaftsverfassung eingeführt, sondern die Regierung einem königlichen Präfekten übergeben. Politisch wurde es nun aber endgültig Teil des Reiches. === Die Kaiserkrönung === Seit 795 war Leo III. Papst in Rom. Das Papsttum war in dieser Zeit unter den Einfluss des in diverse Fraktionen aufgesplitterten römischen Stadtadels geraten, der bei der Papstwahl ausschlaggebend war. Leo wurde unter anderem ein unwürdiger Lebenswandel vorgeworfen, vor allem aber verfügte er beim stadtrömischen Adel über keinerlei politischen Rückhalt, seine Lage wurde immer prekärer. Ende April 799 spitzte sich die Konfrontation zwischen dem Papst und dem Adel so zu, dass auf Leo ein Attentatsversuch unternommen wurde, hinter dem Vertraute des vorherigen Papstes Hadrian I. standen. Leo überlebte und flüchtete zu Karl nach Paderborn. Diese Vorgänge schildert das Paderborner Epos.Karl leistete Leo militärische Unterstützung und ließ ihn Ende 799 nach Rom zurückführen. Im Spätsommer des Jahres 800 begab sich Karl selbst nach Italien, Ende November erschien er in Rom. Dort kam es am 1. Weihnachtstag, dem 25. Dezember 800, in Alt-St. Peter zur Kaiserkrönung Karls des Großen durch den Papst. Damit wurde eine äußerst wirkungsmächtige Entwicklung für das gesamte weitere Mittelalter in Gang gesetzt: die Übertragung der römischen Herrschaft auf die Franken (translatio imperii). Das römische Kaisertum im Westen, wo 476 der letzte Kaiser in Italien abgesetzt worden war, wurde durch die Krönung Karls erneuert. In diesem Zusammenhang spielten heilsgeschichtliche Aspekte eine wichtige Rolle; das römische Imperium galt als das letzte Weltreich der Geschichte (Vier-Reiche-Lehre). Nun existierte ein neues „römisches Kaisertum“, das an den Herrschaftsanspruch der antiken römischen Kaiser anknüpfte und in der Folgezeit erst von den Karolingern, dann seit den Liudolfingern (Ottonen) von den römisch-deutschen Königen beansprucht wurde. Ohne die Tragweite abschätzen zu können, legte Karl somit auch den Grundstein für das römisch-deutsche Kaisertum. Dies sind die sicheren Fakten, doch sind wesentliche Details der Kaiserkrönung unklar. Über den Vorgang der Kaiserkrönung liegen insgesamt vier Berichte vor: in den Lorscher Annalen, im Liber pontificalis, den Reichsannalen und bei Einhard. Im Kern wird dort die Schutzfunktion Karls gegenüber der Kirche und dem Papst gelobt. Das Volk sei begeistert gewesen und die Kaiserkrönung eher als spontane Handlung erfolgt. Einhard behauptet sogar, dass Karl die Kirche nicht betreten hätte, wenn er von Leos Vorhaben gewusst hätte.Diese Schilderungen werden in der modernen Forschung jedoch als unzutreffend betrachtet. Es gilt als ausgeschlossen, dass die Vorbereitungen unbemerkt ablaufen konnten, dass Karl am Weihnachtstag der Kirche hätte fernbleiben können und dass eine von ihm nicht gewollte Krönung durchführbar war. Vielmehr war es Karl selbst, der seit einiger Zeit gezielt auf die Kaiserkrönung und die Erneuerung des römischen Kaisertums im Westen hingearbeitet hatte. Der Papst wirkte zwar als Koronator, befand sich aber in einer äußerst schwachen Position und war ganz von Karls Unterstützung abhängig. Als Kaiser übernahm Karl denn auch die Rolle des Richters über Leos römische Gegner. Die Schaffung des westlichen Kaisertums wurde von mehreren Faktoren begünstigt. Im Osten existierte weiterhin das Reich der Byzantiner, die sich „Rhomäer“ (Römer) nannten und auf eine ununterbrochene staatliche Kontinuität zum spätantiken Römerreich zurückblicken konnten. Im Jahr 800 herrschte dort jedoch mit Kaiserin Irene eine Frau (was man im Westen abwertend betrachtete), die mit zahlreichen innenpolitischen Problemen zu kämpfen hatte. Aus karolingischer Perspektive wurde das sogenannte „Kaisertum der Griechen“ – eine für die Byzantiner provozierende Bezeichnung – berücksichtigt, aber abwertend beurteilt; es wurde sogar eine angebliche Übertragung des Kaisertums von Byzanz auf Karl konstruiert. In Byzanz hingegen betrachtete man Karl schlicht als Usurpator und hielt den exklusiven Anspruch auf das „römische“ Kaisertum aufrecht. Erst 812 kam es zu einer Verständigung hinsichtlich des Zweikaiserproblems. Die Kaiserkrönung des Jahres 800 war auch heilsgeschichtlich bedeutsam, da Endzeiterwartungen verbreitet waren, die mit dem römischen Reichsgedanken verbunden waren. In einer Zeit, in der das Religiöse ganz entscheidend das Denken bestimmte, erhielt die Kaiserkrönung so eine eschatologische Komponente. === Auswärtige Beziehungen === Karl unterhielt auswärtige Beziehungen, die von England bis in den östlichen Mittelmeerraum reichten. Einhard geht auf diesen Aspekt in seiner Biographie des Herrschers ein und beschreibt knapp die weitgespannte karolingische Diplomatie. Die damaligen Möglichkeiten auswärtiger Politik, deren Hauptinstrument Gesandtschaften waren, dürfen zwar nicht überschätzt werden, doch vermittelten die Kontakte dem Hof Einblicke in eine wesentlich weitere Welt.Im Zusammenhang neuerer Untersuchungen wird allerdings deutlich, wie verhältnismäßig eingeschränkt die Gestaltungskraft des Karlsreiches, immerhin das mächtigste Herrschaftsgebilde im lateinischen Europa seit dem Fall Westroms, verglichen mit anderen Großreichen dieser Zeit war. Das wird schon an einem einfachen Beispiel deutlich: 792 ordnete Karl den Bau eines 3 km langen Kanals in Mittelfranken an, der die Flusssysteme Rhein und Donau verbunden hätte. Die Bauarbeiten blieben jedoch bald stecken, so dass 793 der Bau abgebrochen wurde. 767 waren demgegenüber weitaus umfangreichere Bauvorhaben in Byzanz (wo Wasserleitungen über eine Distanz von mehr als 100 km instand gesetzt wurden) und im Kalifat (Runde Stadt Bagdad, an deren Bau über 100.000 Arbeiter beteiligt waren) ohne größere Probleme gelungen. Im China der Tang-Dynastie wiederum war 742/43 ein Kanal von rund 150 km Länge planmäßig gebaut worden. All diese Reiche hatten universale Herrschaftsansprüche, ähnlich wie das Karolingerreich nach der Kaiserkrönung Karls; die Ressourcen und die darauf basierenden Gestaltungsspielräume waren jedoch im Fall Karls wesentlich eingeschränkter.Das angelsächsische England war in mehrere konkurrierende Reiche geteilt, zu denen die Franken traditionell gute Beziehungen unterhielten. Karl stand unter anderem im (nicht immer spannungsfreien) Kontakt mit dem mächtigen König Offa von Mercien, der zeitweise die Vorherrschaft in England errang. Der spätere König Egbert von Wessex hielt sich einige Zeit an Karls Hof auf. Einhard zufolge haben die schottischen Herrscher sogar Karls Oberherrschaft anerkannt. Im Osten und nach der Eroberung Sachsens auch im Nordosten grenzte das Frankenreich an das Gebiet der Slawen. Diese bildeten keine geschlossene Einheit, sondern waren in Einzelstämme zersplittert. Das um 850 entstandene Werk des „Bayerischen Geographen“ listet unter anderem die Abodriten, Wilzen, Sorben und Böhmen auf. Zu Beginn der 780er Jahre sind slawische Angriffe auf fränkisches Gebiet belegt, so etwa ein sorbischer Einfall im Jahr 782. In der Folgezeit kam es immer wieder zu einzelnen fränkischen Feldzügen in slawisches Stammesgebiet. Hervorzuheben ist die größere fränkische Offensive unter Karls Befehl im Jahr 789, die sich gegen die Wilzen unter Dragowit jenseits der Elbe richtete, wobei Dragowits Hauptburg belagert wurde und er sich schließlich unterwerfen musste. Unter Führung des Kaisersohns Karls des Jüngeren drangen 805 und nochmals 806 fränkische, bayerische und sächsische Heere in Böhmen ein. Andererseits fungierten einzelne slawische Stämme auch als fränkische Verbündete; die wichtigsten waren die Abodriten. 808 griffen die Wilzen im Bündnis mit den Dänen die Abodriten und den Osten Sachsens an, wurden aber 812 geschlagen. Auf planvolle christliche Missionierung in den Slawengebieten verzichtete Karl. In diesem Bereich erstrebte er keine territoriale Expansion, sondern wollte nur die Reichsgrenze sichern und die angrenzenden Herrschaftsräume befrieden. In der Forschung wird Karls Slawenpolitik denn auch als wesentlich defensiver bewertet als sein Vorgehen in den anderen Grenzräumen des Frankenreichs. Zum Zweck der Grenzsicherung wollte er eine formale Unterwerfung der Slawen und lockere Abhängigkeiten der betreffenden Stammesgebiete erreichen, ähnlich wie es Römer und Byzantiner an den Grenzen ihrer Reiche anstrebten.Bei den fränkischen Kriegszügen spielten allgemein materielle Motive eine wichtige Rolle. Timothy Reuter konnte nachweisen, dass Beute (praedae) aus gezielten Plünderungen bei Kriegszügen und regelmäßige Tributzahlungen (tributa) Strukturmerkmale des Karolingerreichs waren. Zu diesen Einkünften zählten neben materiellen Besitztümern auch Sklaven. Die Tribute flossen direkt dem König zu. Solche Einnahmen waren ein wichtiges Motiv für militärische Aktionen, so gegen Sachsen, Awaren und später gegen die Slawen. Die Karolinger verfügten über kein stehendes Heer. Ihre Truppen wurden vielmehr nach Bedarf mobilisiert, wobei die gepanzerte Reiterei von großer Bedeutung war. Zur Heeresfolge verpflichtet war jeder Freie im Frankenreich, wobei die Schätzungen hinsichtlich der Gesamtstärke weit auseinander liegen. Die Aussicht auf Beute war ein wichtiger Anreiz für die jeweils eingesetzten Truppen. Gleichzeitig sicherten militärische Erfolge den Franken eine hegemoniale Stellung gegenüber schwächeren Nachbarn wie den Slawenstämmen und verschafften dem siegreichen König in der fränkischen Kriegergesellschaft zusätzliche Legitimität. Allerdings hat kürzlich Bernard Bachrach die wirtschaftliche Bedeutung der Einnahmen aus Plünderungen und Tributzahlungen in Frage gestellt.804 wurde die von der sächsischen Bevölkerung zwangsweise geräumte Region nördlich der Elbe den Abodriten zugewiesen. Sie war bald darauf von Angriffen der Dänen betroffen, die den Reichsannalen zufolge in den Jahren 782 und 798 Gesandtschaften zu den Franken entsandt hatten. Unter Gudfred unternahmen die Dänen 804 und 808 per Schiff Vorstöße im nördlichen Grenzraum, 810 überfiel eine große Flotte die friesische Küste. Die Franken sahen sich gezwungen, den Grenzschutz in diesem Gebiet wieder selbst zu übernehmen. Diesem Zweck diente die von Karl angeordnete Errichtung der Burg Esesfeld. 811 und 813 wurden Friedensverträge mit den Dänen geschlossen. Nach Karls Tod kam es jedoch wiederholt zu weiteren, diesmal wesentlich ernsthafteren Raubzügen der Nordmänner gegen das Frankenreich. Bereits 799 hatten Nordmänner (Dänen oder Norweger) an der gallischen Atlantikküste Überfälle durchgeführt, die die maritime Unterlegenheit der Franken verdeutlichten. Andererseits bestanden auch Handelsbeziehungen zu den nördlichen Nachbarn; in der Zeit nach Karl wurden auch die Missionierungsbemühungen vorangetrieben. Zum Kalifat unterhielt das Frankenreich seit der Zeit König Pippins lose Kontakte. Ein Aspekt war dabei der Wunsch der fränkischen Herrscher, den Zugang christlicher Pilger zu den heiligen Stätten zu sichern. 797 nahm Karl Kontakt mit Hārūn ar-Raschīd auf, dem Kalifen von Bagdad aus dem Geschlecht der Abbasiden. Einhard gibt den Namen des Kalifen korrekt als Aaron wieder und betont, er beherrsche den gesamten Osten außer Indien; der später entstandene Bericht Notkers zu den Gesandtschaften ist hingegen bereits stark legendarisch ausgeschmückt. Hārūn ar-Raschīd beherrschte tatsächlich ein gewaltiges Gebiet, das sich von Nordafrika über den Nahen Osten bis nach Zentralasien erstreckte. Der Kalif schenkte Karl einen asiatischen Elefanten namens Abul Abbas, den der jüdische Fernhändler Isaak 801/2 ins Frankenreich brachte. Die genauen Hintergründe der diplomatischen Mission sind unbekannt, doch dürften die Pilgerfahrten und der Schutz der Christen im Kalifat Gegenstand der Verhandlungen gewesen sein. 802 wurde eine zweite fränkische Gesandtschaft nach Bagdad entsandt. Diesmal war eindeutig Karls neues Selbstverständnis als Kaiser und Schutzherr der christlichen Heiligtümer (wie in Jerusalem) entscheidend. Es folgte 807 eine Gegengesandtschaft aus dem Kalifat, die Karl reiche Geschenke brachte. Das Verhältnis des Kaisers zum Kalifen war gut, auch die Handelsbeziehungen profitierten davon. Eventuell spielten Bündnisüberlegungen gegen Byzanz eine Rolle. Nach dem Tod des Kalifen verschlechterte sich jedoch die Lage der Christen im Kalifat und die Beziehungen zwischen beiden Reichen ebbten ab. Im Zuge der Kontakte Karls zu den weiterhin unabhängigen langobardischen Fürstentümern Süditaliens wurde ein lockerer Kontakt zu den muslimischen Aghlabiden im heutigen Tunesien aufgenommen. Intensivere Beziehungen unterhielt Karl nach Spanien, so zu muslimischen Teilherrschern (was zum fatalen Fehlschlag des Spanienfeldzugs 778 führte) und zum asturischen König Alfons II.Die Beziehungen des Frankenreichs zu Byzanz waren intensiv, wenngleich das Verhältnis seit der Kaiserkrönung Karls im Jahr 800 mehrere Jahre schwer belastet war, denn nun ergab sich das sogenannte Zweikaiserproblem: Beide Seiten beanspruchten, in der Nachfolge der römischen Kaiser zu stehen, und erhoben einen damit verbundenen universalen Geltungsanspruch. Nikephoros I., seit 802 byzantinischer Kaiser („Basileus“), empfand die Kaiserwürde Karls als Anmaßung und verweigerte deren Anerkennung. Der Konflikt verschärfte sich noch, als Karl die von Byzanz beanspruchten Regionen Dalmatien und Venetien seinem Machtbereich einverleibte. Es kam zu begrenzten Kampfhandlungen, beide Seiten waren aber im Grundsatz an einem Ausgleich interessiert: Karl war noch immer an den Grenzen gebunden, während die Byzantiner im Westen von Bulgaren und im Osten vom Kalifat bedroht wurden. Bereits im Jahr 811 hatte Karl einen Brief nach Konstantinopel gesandt, doch wurde Nikephoros kurz darauf getötet. Im Frieden von Aachen (812) wurde ein tragfähiger Ausgleich mit dessen Nachfolger Michael I. erzielt. An ihn schickte Karl 813 einen neuen Brief, in dem er ihn als seinen ehrwürdigen Bruder anredete. Die große Bedeutung der Kontakte zwischen dem Frankenreich und Byzanz lässt sich auch an der recht hohen Zahl von Gesandtschaften ablesen: Insgesamt vier fränkische und acht byzantinische Gesandtschaften sind in Karls Regierungszeit belegt. === Hof und Herrschaftspraxis === Der Hof war das Zentrum des herrschaftlichen Handelns. Die frühmittelalterlichen Könige waren Reisekönige, die mitsamt dem Hof von Pfalz zu Pfalz reisten und unterwegs die Regierungsgeschäfte regelten. Die Geldwirtschaft spielte im Frühmittelalter durchaus eine Rolle und Münzen wurden fast kontinuierlich geprägt, auch in der Zeit Karls des Großen. Dennoch dominierte im Frankenreich die Naturalwirtschaft; materielle Grundlage des Königtums war das Krongut. Karl unterhielt eine Vielzahl von Pfalzen, die über das Reich verstreut waren, zeitweise als königliche Residenzen fungierten und der Versorgung des Königshofes dienten. Zu den besuchten Orten zählten solche, die bereits in früherer Zeit von fränkischen Königen favorisiert wurden, doch kamen unter Karl auch neue Orte hinzu, so in den eroberten Gebieten. Der Schwerpunkt seiner Reiserouten, des herrscherlichen Itinerars, lag im Nordosten, vor allem in der Region zwischen der Maas und dem Rhein-Main-Gebiet. Die Anzahl der jeweiligen Aufenthalte variiert stark und reicht von einem einzigen (wenngleich wichtigen) Aufenthalt in Frankfurt am Main bis zu 26 Aufenthalten in Aachen. Aachen wurde wohl aufgrund der nahen Waldgebiete, in denen der König seiner Jagdleidenschaft nachgehen konnte, und wegen der heißen Quellen Karls Lieblingsresidenz; nach 795 hielt er sich nur noch dreimal während des Winters an anderen Orten auf. Im Paderborner Epos – unter Außerachtlassung von Byzanz – gar als Roma secunda, als Zweites Rom, und in einer Ekloge des fränkischen Gelehrten Moduin als künftige „goldene Wiedergeburt Roms“ angepriesen, fungierte Aachen nun als königliche Hauptresidenz. Vor Ort wurden umfangreiche Baumaßnahmen durchgeführt, zu denen vor allem die Errichtung der prächtigen Aachener Königspfalz gehörte. Das 882 entstandene Werk De ordine palatii des Erzbischofs Hinkmar von Reims gibt Einblick in den Hofaufbau. Im Verwaltungsbereich am Hof spielte die Hofkapelle, welcher der capellanus vorstand, eine wichtige Rolle. Hinzu kamen der Kanzler und die Notare. Diese waren alle Geistliche, während der Pfalzgraf weltliche Angelegenheiten regelte und ebenfalls zum engsten Beraterkreis des Königs gehörte. Des Weiteren waren eine große Anzahl von Bediensteten am Hof tätig, darunter der Kämmerer, der Mundschenk, der Quartiermeister, der Seneschall und weiteres Hauspersonal („Hausgesinde“). Nicht zu unterschätzen ist die Bedeutung der Königin, die dem königlichen Haushalt vorstand. Der Hof war nicht nur politischer Mittelpunkt, sondern auch ein wichtiges kulturelles Zentrum. Karl der Große selbst war offenbar kulturell interessiert und versammelte an seinem Hof gezielt mehrere Gelehrte aus dem lateinischsprachigen West- und Mitteleuropa. Der angesehenste von ihnen war der Angelsachse Alkuin (gestorben 804). Alkuin war zuvor Leiter der berühmten Kathedralschule in York gewesen; er besaß eine umfangreiche Bibliothek und genoss einen herausragenden Ruf. Er begegnete Karl erstmals in den Wintermonaten 768/69 und folgte 782 dem Ruf an dessen Hof, wo er nicht nur als ein einflussreicher Berater wirkte, sondern auch zum Leiter der Hofschule aufstieg. Hinzu kam eine Reihe anderer Gebildeter wie Einhard. Dieser war zunächst Schüler Alkuins, später Leiter der Hofschule, Vertrauter Karls und als dessen Baumeister tätig. Nach dem Tod Karls verfasste er seine berühmte Biographie des Kaisers, die an antiken Vorbildern orientiert war. Petrus von Pisa war ein lateinischer Grammatiker, der ebenfalls an den Karlshof berufen wurde und Karl Lateinunterricht erteilte. Der langobardische Gelehrte Paulus Diaconus hatte in Italien im Königsdienst gestanden und war 782 an den Hof Karls gekommen, wo er vier Jahre blieb und wirkte. Der Patriarch Paulinus II. von Aquileia verfügte über ein breit gefächertes Wissen. Theodulf von Orléans war ein überaus belesener und gebildeter westgotischer Theologe und Dichter. Er verfasste für Karl die Libri Carolini. Aus Irland stammten die Gelehrten Dungal und Dicuil, die sich mit naturwissenschaftlichen Studien beschäftigten. Karl konnte sich bei seinen kulturellen Bestrebungen noch auf weitere Personen in seinem Umfeld stützen, darunter Arn von Salzburg, Angilbert, die mit dem Herrscher verwandten Brüder Adalhard und Wala sowie seine Schwester Gisela (gestorben 810, seit 788 Äbtissin von Chelles). Der Hof und die Hofschule gaben Impulse für eine kulturelle Erneuerung, wobei auch die karolingische Kirche als zentraler Kulturträger reformiert wurde. In der Regel zweimal im Jahr wurden Hoftage als Versammlungen des Königs und der Großen des Reiches einberufen, um anstehende politische Fragen zu klären oder Streitigkeiten zu schlichten. Herrschaft war im Frühmittelalter ganz wesentlich an einzelne Personen gebunden, es existierten faktisch keine „staatlichen Institutionen“ (und damit kein abstrakter Begriff wie Staatlichkeit) losgelöst von diesen personalen Herrschaftsstrukturen. Dennoch etablierten die Karolinger eine für die zeitgenössischen Verhältnisse relativ effektive Verwaltungsstruktur. Karl beseitigte die letzten Reste der älteren Stammesherzogtümer, mit Tassilo III. war 788 der letzte Herzog abgesetzt worden. Die Verwaltung im Reich lag nun (wie bereits teils in merowingischer Zeit) vor allem in den Händen der Grafen. Diese fungierten nicht nur als Heerführer, sondern im Rahmen der sogenannten Grafschaftsverfassung auch als königliche Amtsträger bei der Ausübung der Regalien. In bestimmten Bereichen waren sie Stellvertreter des Königs (Mark-, Burg- und Pfalzgrafen). Besondere Bedeutung erlangten die Markgrafen: In ihrem Amt bündelten sich verschiedene Kompetenzen in den neuen Grenzmarken, wo sie über weitreichende Sonderrechte verfügten. Die Übertragung von Ämtern und Gütern an ausgesuchte Adelsfamilien sicherte deren Loyalität und begründete eine neue Reichsaristokratie, die an der Königsherrschaft partizipierte; es handelte sich damit in der Zeit Karls noch nicht um vererbbare, sondern verliehene Ämter. Das Karolingerreich war ein Vielvölkerreich, über das die Franken nicht alleine herrschten, sondern in das auch andere ethnische Gruppen eingebunden waren. Einer effektiveren Herrschaftsdurchdringung sollten die sogenannten Königsboten (missi dominici) dienen. Diese wurden paarweise entsandt, je ein weltlicher und ein geistlicher Bote (in der Regel ein Graf und ein Bischof), um Anweisungen und Erlasse durchzusetzen und Abgaben einzutreiben, aber auch zur Demonstration der königlichen Herrschaftspräsenz und zur Kontrolle vor Ort. Sie konnten in einem zugeteilten Bezirk wenn nötig die unmittelbare Herrschaftsgewalt ausüben und Urteile fällen. Es waren die missi, welche den Treueeid abnahmen, den im Jahr 789 alle männlichen Bewohner des Reiches ab dem Alter von zwölf Jahren dem König leisten mussten. Damit war Karl bestrebt, die Loyalität seiner Untertanen weiter zu sichern. Der Eid wurde 802 erneut eingefordert.Grundlage einer effektiven Verwaltung war neben der herrschaftlichen Infrastruktur die Schriftlichkeit. Die Anzahl ausgestellter Urkunden kann als Indikator für die herrschaftliche Durchdringung des Reichsgebiets dienen. 164 als echt angesehene Urkunden Karls sind überliefert, doch handelt es sich dabei nur um den im Original oder abschriftlich erhaltenen Teil der insgesamt weit zahlreicheren Urkunden, die Karl ausstellte. Einige Inhalte verlorener Urkunden lassen sich aus anderen erhaltenen Quellen gewinnen (Deperdita). Die frühen Merowingerkönige hatten in ihrer Kanzlei zunächst hauptsächlich schriftkundige Laien beschäftigt, in der Folgezeit wurden aber Schreib- und Lesekenntnisse nur noch Geistlichen vermittelt. Die Schriftkenntnisse im Frankenreich waren seit dem 7. Jahrhundert rückläufig, das Latein verwilderte zunehmend. Die sogenannte Bildungsreform Karls diente denn auch nicht nur einer kulturellen Neubelebung, sondern war auch ein wichtiger Baustein zur Sicherstellung einer effizienten Herrschaftspraxis. Karls Reformen zielten auf eine umfassende Neuordnung im kirchlichen, kulturellen und herrschaftlichen Bereich ab. Ein wichtiges Instrument der Königsherrschaft war die Gesetzgebung, von der Karl ausgiebig Gebrauch machte. Mit den sogenannten Kapitularien wurde eine weitgehend einheitliche Gesetzgebung geschaffen, das Gerichtswesen und die Rechtsprechung wurden ebenfalls reformiert. Eine berühmte Quelle für die Wirtschaftsgeschichte, speziell für die Agrarwirtschaft und den Gartenbau, ist die Landgüterverordnung Capitulare de villis vel curtis imperii, die Karl der Große als detaillierte Vorschrift über die Verwaltung der Krongüter erließ. Damit wollte er offenbar eine reibungslose Versorgung des Königshofs sicherstellen. Im März 789 erließ Karl das Kapitular Admonitio generalis. Es war ein „programmatisches Kapitular“, das eine allgemeine Ermahnung beinhaltet und sich gegen Missstände in der Kirche und im Reich richtete. In 82 Kapiteln wurde auf die kirchliche Neuordnung, Belebung des Wissens und Bekämpfung von Häresie und Aberglauben eingegangen und allgemein auf eine bessere Lebensführung der Untertanen hingewirkt. Es wurde für Frieden und Eintracht geworben, unerwünschte Faktoren wie Hass, Neid und Zwietracht wurden verurteilt, wobei sich mehrere direkte Anweisungen an den Klerus und nur relativ wenige an alle Untertanen richteten. Diese Ermahnungen und Anordnungen waren Bestandteil eines umfassenden Reformprogramms, das die Bildungsreform einschloss und das Karl zwar nicht selbst erarbeitet, aber maßgeblich gefördert und vorangetrieben hatte. Das gesamte Leben im Reich sollte sich an dem Programm der Admonitio generalis orientieren, die Durchführung wurde den missi übertragen.Karl erzielte damit allerdings keinen vollen Erfolg. Das ist nicht nur auf die Unzulänglichkeit seiner Herrschaftsmittel, sondern auch auf Begehrlichkeiten und Übergriffe der Großen zurückzuführen. Karl erkannte durchaus, dass die bestehenden Verhältnisse seinen Vorstellungen von Ordnung und Recht oft faktisch Grenzen setzten, und reagierte darauf, etwa indem er sich 802 um eine Neuordnung der missi bemühte. In seinen Kapitularien betonte Karl unter anderem den Schutz der Freien und prangerte teilweise kirchliche Begehrlichkeiten an. Der Schutz der Armen (pauperes) war Bestandteil des königlichen Aufgabenkatalogs, und Karl bemühte sich um eine zumindest teilweise Verbesserung der Lebensbedingungen für die ärmeren Schichten und auch für Unfreie, denen sich sogar gewisse Aufstiegsmöglichkeiten eröffneten. Die Juden, von denen manche traditionell als Fernhändler aktiv waren, genossen königlichen Schutz. === Kirchenpolitik === Eine herausragende Rolle bei der Neuordnung und Festigung im Innern spielte die Kirche, die über eine zusätzliche, sich über das gesamte Reich erstreckende Infrastruktur verfügte. Das Zusammenspiel zwischen Königtum und Kirche war keine grundsätzliche Neuerung, da dies im Frühmittelalter allgemein von besonderer Bedeutung war. Bereits die Merowinger hatten die Kirche in ihre Herrschaftskonzeption eingebunden und daran hatten die frühen Karolinger angeknüpft. Karl forcierte diesen Prozess aber zusätzlich durch den massiven Ausbau der klerikalen Infrastruktur. So wurden zahlreiche neue Klöster gegründet und Bistümer eingerichtet, wobei sich Karl das Recht vorbehielt, die Bischöfe selbst zu ernennen. Des Weiteren ließ Karl der Kirche umfangreiche Schenkungen und Begünstigungen zukommen, ebenso wurden kirchliche Reformen durchgeführt. Die Einführung der Metropolitanverfassung, die regelmäßige Abhaltung von Synoden im Beisein des Königs und die Durchführung von Visitationen stärkten das Band zwischen König und Kirche. Die umfassende Bildungsreform Karls betraf vor allem die Kirche, die von der Hebung des Bildungsstandes und von den Maßnahmen zur Beseitigung kirchlicher Missstände profitierte. Karl verstand sich nicht nur als Förderer der Kirche, sondern durchaus auch als Herr des Reichsepiskopats. In kirchlichen Fragen hatte er großen Einfluss. Allgemein konnte er sich auf die Bischöfe stützen, die überwiegend aus den lokalen Adelsfamilien stammten und sowohl im geistlichen wie im weltlichen Bereich eine wichtige Rolle spielten. Glaube und Politik waren im Mittelalter oft eng verzahnt. Karl, der auch den Titel defensor ecclesiae („Verteidiger der Kirche“) trug, war nicht nur gläubig, er war auch bestrebt, seine Rolle als christlicher Herrscher in reale Politik umzusetzen. Dies spiegelt sich in zahlreichen Erlassen des Kaisers wider, nicht zuletzt im Rahmen der Verlautbarungen zur Bildungsreform, wo die Anwendung des geschriebenen Wortes bei der Gottesverehrung von zentraler Bedeutung war. In einem wohl im Auftrag Karls geschriebenen Brief Alkuins an Papst Leo III. aus dem Jahr 796 wird deutlich, dass der Kaiser der Bekämpfung der „Ungläubigen“ im Ausland und der Festigung des Glaubens im Inneren hohe Priorität einräumte. Karl setzte auf eine aktive Missionierungspolitik, so vor allem in Sachsen. Diese wurde teils mit erheblicher Gewalt durchgeführt, was etwa Alkuin, der auf der Freiwilligkeit des Glaubens beharrte, explizit kritisierte. Hinzu kam, dass der kirchlichen Lehrmeinung zufolge eine Person erst im Glauben unterwiesen werden musste, bevor sie sich freiwillig dazu bekannte. Die bekehrten Sachsen waren aber nur sehr oberflächlich mit dem Christentum bekannt gemacht worden, während strenge Gesetze die anschließende Einhaltung sicherstellen sollten; eine verstärkte Mission bei den Sachsen setzte nach 785 ein. Im Inneren drang Karl auf eine christliche Lebensführung seiner Untertanen, eine stärkere „Verchristlichung der Gesellschaft“, so beispielsweise hinsichtlich der Einhaltung der zehn Gebote und des Sonntagsgebots. Zentrum der karolingischen Kirchenpolitik war seit Ende des 8. Jahrhunderts Aachen, wenngleich sich dort kein Bischofssitz befand. Nach 794 fanden Synoden im Beisein des Königs nur noch in Aachen statt. In den folgenden Jahren kümmerte sich Karl immer wieder auf Synoden um kirchliche Probleme. Während in Byzanz im 8. und 9. Jahrhundert der Bilderstreit entbrannte, beschäftigte man sich im Frankenreich auf der Synode von Frankfurt 794 mit der religiösen Bilderverehrung, die man schließlich ablehnte. Die von Pippin in die Wege geleitete Reform der Liturgie nach römischem Vorbild wurde weitergeführt. Auf dem Konzil von Aachen (809) wurde die sogenannte Filioque-Formel für verbindlich erklärt. Karls Sohn und Nachfolger Ludwig der Fromme knüpfte an diese Tradition an und hielt weitere Synoden in Aachen ab, bevor die karolingische Zentralgewalt in den Nachfolgekämpfen zerbrach. Die seit der Königszeit Pippins praktizierte Kooperation mit dem Papsttum wurde fortgesetzt, von der beide Seiten stark profitierten. Papst Stephan II. hatte das neue fränkische Königsgeschlecht legitimiert, während die Franken als neue weltliche Schutzmacht des Papstes fungierten. Über die Umstände des ersten Zusammentreffens zwischen Pippin und Papst Stephan II. im Jahr 754 variieren jedoch die Quellenberichte. In der Fortsetzung der Fredegarchronik (Continuatio Fredegarii) wird geschildert, dass der damals wohl fünfjährige Karl dem Papst mit einer Delegation entgegengeeilt war, um Stephan II. im Frankenreich zu begrüßen und in die Pfalz nach Ponthion zu begleiten. Dort wurden Pippin und mehrere fränkische Große vom Papst reich beschenkt. Der Bericht in der Lebensbeschreibung Stephans im Liber Pontificalis weicht davon an einem entscheidenden Punkt ab. Demnach ist hier Karl ebenfalls dem Papst entgegengekommen, doch auch Pippin hat den Papst eine Wegstunde von der Pfalz in Ponthion entfernt feierlich empfangen und sich vor ihm sogar zu Boden geworfen. Diese Abweichung ist auf den jeweiligen Charakter der Quellen zurückzuführen, in denen die entsprechenden Rituale den Lesern gegenüber anders gedeutet wurden und jeweils der König bzw. der Papst hervorgehoben wurde.Karl nutzte günstige Gelegenheiten, um seinen eigenen Einfluss zu vergrößern. So unternahm er zwar 773/74 auch zum Schutz des Papstes vor den Langobarden den Italienfeldzug, gliederte die eroberten Gebiete aber weitgehend seinem Reich ein. Die grundsätzliche Frage, wie das Verhältnis zwischen dem fränkischen König und dem Papst ausgestaltet war, gewann nach der Kaiserkrönung zu Weihnachten 800, auf die Karl selbst hingearbeitet hatte, neue Aktualität. Kaisertum und Papsttum waren beide Universalgewalten und keine Seite konnte eine formale Unterordnung unter die jeweils andere unwidersprochen akzeptieren. Doch zur Zeit der Kaiserkrönung war Karl in einer politisch weitaus günstigeren Position, während Papst Leo III. aufgrund seiner schwachen Stellung in Rom faktisch vom Kaiser abhängig war. Allerdings gewann das Papsttum schon kurz nach Karls Tod neuen Handlungsspielraum. Das Papsttum erreichte unter Nikolaus I. im 9. Jahrhundert einen neuen Höhepunkt, eine gewisse „Weltstellung“, bevor der päpstliche Einfluss im späten 9. Jahrhundert verfiel und das Papsttum in der Folgezeit von stadtrömischen Kreisen und dann bis ins frühe 11. Jahrhundert oft von starken Kaisern dominiert wurde. === Karolingische Bildungsreform === Im Frankenreich war die lateinische Sprache im 7./8. Jahrhundert zunehmend „verwildert“, das proto-romanische Vulgärlatein hatte sich sowohl in der Morphologie als auch in der Syntax weit vom „klassischen“ antiken Latein entfernt. Auch die kirchlichen Bildungseinrichtungen verfielen. Griechischkenntnisse waren im Westen kaum noch vorhanden, aber auch korrektes Latein musste von Romanen neu erlernt werden. Der sprachliche Verfall wurde im Karolingerreich seit Ende des 8. Jahrhunderts durch gezielte Maßnahmen der Kulturförderung aufgehalten und umgekehrt. Diese neue Aufschwungphase wird oft als karolingische Renaissance bezeichnet. Der Begriff „Renaissance“ ist aus methodischen Gründen allerdings sehr problematisch. Im Frankenreich handelte es sich nicht um eine „Wiedergeburt“ des klassischen antiken Wissens, sondern nur um eine Reinigung und Vereinheitlichung des bestehenden Kulturguts. Für die Karolingerzeit spricht man aus diesem Grund heute eher von der karolingischen Bildungsreform. Es ging darum, die „Weisheit der Alten“ zu erneuern, wobei die Grundlage der frühmittelalterlichen Bildung im Westen die aus der Spätantike bekannten septem artes liberales bildeten. Den Anstoß für die Bildungsreform gab wohl die Reform der fränkischen Kirche durch Bonifatius Mitte des 8. Jahrhunderts. Diese kulturelle Erneuerung wurde auch durch externe Impulse gefördert, da das geistige Leben in England und Irland schon zuvor eine Wiederbelebung erfahren hatte und die Schriftkultur zunehmend erstarkte, wie etwa das Wirken des Beda Venerabilis im frühen 8. Jahrhundert zeigt. Angelsachsen wie der gebildete Alkuin spielten denn auch im Gelehrtenzirkel der sogenannten Hofschule eine Rolle. Karl selbst war keineswegs ungebildet und interessierte sich sehr für Kultur. Er förderte die Bildungsreform nach Kräften, die Umsetzung aber war maßgeblich Alkuins Verdienst. Der Schlüsselbegriff dafür lautete correctio. Damit war gemeint, dass die lateinische Schrift und Sprache, also die Grundlage für den kulturellen und geistlichen Diskurs im lateinischen Westen, sowie der Gottesdienst zu „berichtigen“ waren. Das vorhandene Bildungsgut sollte systematisch gesammelt, gepflegt und verbreitet werden. Dazu diente auch die Einrichtung einer stetig erweiterten Hofbibliothek. In der berühmten Admonitio generalis aus dem Jahr 789 wird auch das Bildungsprogramm explizit angesprochen. Die Klöster wurden unter anderem ermahnt, Schulen einzurichten, auf die Bildung der Priester und auf die korrekte Wiedergabe der Texte beim Kopieren zu achten; Korrekturbedürftiges sei zu korrigieren. Die Reform der Kloster- und Domschulen war auch aus religiösen Gründen von Bedeutung, da der Klerus auf möglichst genaue Sprach- und Schriftkenntnisse angewiesen war, um die Vulgata, die lateinische Bibelfassung, auslegen und theologische Schriften erstellen zu können. Dies ist ein zentraler Gedanke der Reform: Eindeutigkeit des geschriebenen und gesprochenen Wortes seien für eine wirksame Gottesverehrung unerlässlich. Damit wurde „Wissenschaft“ in den Dienst des Glaubens gestellt. Die lateinische Schriftsprache wurde bereinigt und verbessert. Als neue Schriftart setzte sich die karolingische Minuskel durch, die als Schreibschrift gut geeignet war. Es wurde sehr auf eine nach antikem Maßstab korrekte Grammatik und Schreibweise Wert gelegt, wodurch das stilistische Niveau angehoben wurde. Im kirchlichen Bereich wurde unter anderem die Liturgie überarbeitet, Homiliensammlungen wurden erstellt, und die Beachtung der kirchlichen Regeln wurde eingefordert. Auch im administrativen Bereich kam es zu Änderungen. Die kirchlichen Bildungseinrichtungen wurden verstärkt gefördert. Außerdem wurde eine revidierte Fassung der Vulgata im großen Format in vielen Exemplaren angefertigt, die sogenannten Alkuinbibeln. Ältere Schriften wurden durchgesehen und korrigiert, Kopien erstellt und verbreitet. Die Hofschule wurde zum Lehrzentrum, was auf das gesamte Frankenreich ausstrahlte. Mehrere Klöster wurden neu gegründet oder erlebten einen erheblichen Aufschwung, so unter anderem St. Gallen, Reichenau, St. Emmeram, Mondsee und Fulda. Sie waren Hauptträger der Bildungsreform und wurden deshalb vielfach erweitert. Im Kloster Fulda beispielsweise entwickelte sich unter Alkuins Schüler Rabanus Maurus eine ausgeprägte literarische Kultur. So kam neben dem Königshof mehreren Klöstern und Bischofssitzen eine zentrale Rolle bei der Bildungsreform zu. Die Forschung hat für die Zeit um 820 neben dem Aachener Hof 16 „Schriftprovinzen“ identifiziert, jede mit mehreren Skriptorien.Die Bildungsreform sorgte für eine deutliche Stärkung des geistigen Lebens im Frankenreich. Die literarische Produktion stieg nach dem starken Rückgang seit dem 7. Jahrhundert spürbar an, auch Kunst und Architektur profitierten davon. Noch erhaltene antike lateinische Texte sowohl von paganen als auch von christlichen Verfassern wurden nun wieder zunehmend herangezogen, gelesen, verstanden und vor allem kopiert, wobei der Aufwand für die Buchproduktion nicht unerheblich war. Wichtige kirchliche Texte wurden von sprachlichen Verwilderungen gereinigt und in Musterexemplaren zur Vervielfältigung bereitgestellt. Von der Hofbibliothek aus wurden seltene Texte den Kathedral- und Klosterbibliotheken zur Abschrift zur Verfügung gestellt. Buchbestände wurden gesichtet und schriftlich in Katalogen erfasst, neue Bibliotheken eingerichtet. Besonders nachgefragt waren Ovid und Vergil, daneben wurden unter anderem Sallust, Quintus Curtius Rufus, Sueton und Horaz wieder zunehmend gelesen. Die karolingische Bildungsreform hatte somit für die Überlieferung antiker Texte eine große Bedeutung. Diese sind zu einem großen Teil nur deshalb erhalten geblieben, weil sie im Rahmen der Bildungsreform neu kopiert und damit gerettet wurden. Die Kopiertätigkeit schärfte gleichzeitig die Lateinkenntnisse, so dass es auch zu einem qualitativen Anstieg der Latinität kam. Des Weiteren ließ Karl „barbarische“ (d. h. germanische, volkssprachliche) „alte Heldenlieder“ aufschreiben, doch ist die Sammlung nicht erhalten. Die Bildungsreform stärkte auch die Entwicklung der volkssprachigen Literatur, so des Althochdeutschen. Zentren altdeutscher Überlieferung waren später unter anderem die Klöster Fulda, Reichenau, St. Gallen und Murbach. Fragmentarisch erhalten ist etwa das Hildebrandslied, ein althochdeutsches Heldenlied (um 830/40). Die Zeit der karolingischen Bildungsreform war auch eine Blütezeit der Kunst, vor allem der Goldschmiedearbeiten, zu denen der sogenannte Talisman Karls des Großen zählt, und der Buchkunst. Der hohe Stellenwert von Kultur und Kunst am Hof Karls des Großen, wo diese Entwicklung stark gefördert wurde, drückte sich in zahlreichen Werken aus. In mehreren Werkstätten des Reiches entstanden (oft in arbeitsteiligen Prozessen) wertvolle und meisterhaft „illuminierte“ (illustrierte) Bilderhandschriften, so an der berühmten Hofschule Karls des Großen in Aachen, auch als Ada-Schule bekannt, die insbesondere durch das Ada-Evangeliar Berühmtheit erlangte. Zu dieser Produktion zählt etwa das Godescalc-Evangelistar, das zu Beginn der 780er Jahre angefertigt wurde. An der Hofschule entstanden unter anderem der Dagulf-Psalter und sehr wahrscheinlich auch das Lorscher Evangeliar. Einen starken Impuls gab die einige Zeit in Aachen arbeitende Gruppe von Künstlern, die das eine eigene Gruppe begründende Wiener Krönungsevangeliar schuf. Der Stil der karolingischen Buchkunst variiert nach der jeweils tätigen Gruppe; immer wieder treten Reminiszenzen an Werke der spätantiken und byzantinischen Buchmalerei auf. Daneben wurden kunstvolle, edelsteinbesetzte und häufig mit elfenbeinernen Reliefschnitzereien geschmückte Prachteinbände für die Handschriften angefertigt. === Tod und Nachfolge === Am 28. Januar 814 starb Karl der Große in Aachen. Einhard berichtet, dass sich der ansonsten gute Gesundheitszustand des Kaisers in seinen letzten Jahren verschlechtert habe. Ende Januar 814 litt Karl plötzlich unter einem hohen Fieber, hinzu kamen Schmerzen in der Seite; möglicherweise handelte es sich dabei um eine Rippenfellentzündung. Karl fastete und glaubte, so die Krankheit auskurieren zu können, doch verstarb er kurz darauf und wurde in der Aachener Pfalzkapelle beigesetzt. Ob er schon damals in dem sogenannten Proserpina-Sarkophag beigesetzt wurde, ist umstritten. Der genaue Ort der ursprünglichen Grablege in oder an der Pfalzkapelle ist unbekannt. Dem Bericht Einhards zufolge stellte man über dem Grab einen vergoldeten Arkadenbogen mit einem Bildnis Karls und einer Inschrift auf. Seit 810 hatte Karl unter Fieberanfällen gelitten, im folgenden Jahr hatte er sein persönliches Testament gemacht. Angesichts seines sich verschlechternden Gesundheitszustands war er in seinen letzten Jahren um das Wohl des Reiches besorgt. Er hatte bereits frühzeitig Vorkehrungen für den Fall seines Todes getroffen. 806 hatte er in einem politischen Testament einen Reichsteilungsplan verfasst, die sogenannte Divisio Regnorum. Nachdem aber seine beiden älteren Söhne verstorben waren, hatte Karl im September 813 auf einem Hoftag seinen Sohn Ludwig, seit 781 Unterkönig in Aquitanien, zum Mitkaiser erhoben und dabei (wohl nach dem byzantinischen Vorbild) auf eine Beteiligung des Papstes verzichtet. Vater und Sohn standen sich nicht besonders nahe, doch Ludwig war der letzte verbliebene Sohn aus Karls Ehe mit Hildegard und somit der nächste legitime Anwärter. All dies lässt erkennen, dass Karl sehr darum bemüht war, einen möglichst reibungslosen Übergang zu sichern. Allerdings sollte die Reichseinheit in der Regierungszeit Ludwigs aufgrund innerer Konflikte doch zerbrechen. Dies führte zur Entstehung des West- und des Ostfrankenreichs, den „Keimzellen“ der späteren Länder Frankreich und Deutschland. Die Gebeine Karls liegen versiegelt in einem Schrein im Dom von Aachen. Der linke Schienbeinknochen wurde 2010 Forschern zur Verfügung gestellt, der von Wissenschaftlern um Frank Rühli, Leiter des Swiss Mummy Projects an der Universität Zürich, untersucht wurde. Sie schätzen die Körpergröße Karls des Großen auf 1,84 Meter. 2019 haben Frank Rühli und der Anthropologe Joachim Schleifring eine Analyse der Knochen Karls veröffentlicht. == Ehen und Nachkommen == Karl war sicher viermal verheiratet, eventuell handelte es sich auch um fünf Ehen. Hochzeiten des Hochadels waren in erster Linie politische Verbindungen. Über die Herkunft von Karls erster Ehefrau Himiltrud ist allerdings nichts bekannt. Sie schenkte Karl einen Sohn, der den Leitnamen Pippin erhielt. Pippin, der sich offenbar innerhalb der Rangfolge im Reich zurückgesetzt sah, erhob sich 792 erfolglos gegen Karl. Er wurde anschließend in der Abtei Prüm inhaftiert und starb 811. Karls zweite Ehefrau war die Tochter des Langobardenkönigs Desiderius; ihr richtiger Name ist unbekannt, in der Forschung wird oft Desiderata angegeben. Diese Heirat erfolgte im Rahmen der Pläne von Karls Mutter Bertrada, doch Karl verstieß seine langobardische Ehefrau 771. Stattdessen heiratete er kurz danach die sehr junge Hildegard, die mütterlicherseits aus dem alemannischen Hochadel stammte. Sie gebar ihm insgesamt neun Kinder, vier Jungen (Karls späteren Nachfolger Ludwig sowie Karl, den als Kleinkind verstorbenen Lothar und einen weiteren Sohn namens Pippin) und fünf Mädchen (Rotrud, Bertha, Gisela und die zwei als Kleinkinder verstorbenen Adalhaid und Hildegard). Karls Ehe mit Hildegard und die Königin selbst werden in den Quellen besonders positiv hervorgehoben. Karl war Hildegard besonders zugetan; sie begleitete ihren Mann auf mehreren Reisen und wird in einer Urkunde völlig untypisch sogar als dulcissima coniux („allersüßeste Gattin“) bezeichnet. Sie starb 783. Nach nur kurzer Trauerzeit heiratete Karl im Herbst 783 Fastrada, eine Tochter des ostfränkischen Grafen Radulf. Aus dieser Ehe stammten Theodrada und die jung verstorbene Hiltrud. Entgegen den eher negativen Aussagen Einhards wird Fastrada in der Forschung durchaus positiv betrachtet; Karl selbst war ihr offenbar auch eng verbunden. Fastrada erkrankte 794 und verstarb im selben Jahr. Kurz darauf ging Karl womöglich eine fünfte und letzte Ehe mit Liutgard ein, die 800 starb. Es geht allerdings aus den Quellenzeugnissen nicht eindeutig hervor, dass es sich um eine reguläre Ehe handelte. An ihrer Machtstellung am Hof Karls besteht jedoch kein Zweifel.Neben seinen kirchlich legitimen Verbindungen hatte Karl zahlreiche Nebenfrauen. Namentlich bekannt sind etwa Madelgard, Gerswind, Regina und Adelind. Dies war mit kirchlichen Normen nicht vereinbar und passte nicht zu den Erwartungen an einen christlichen Kaiser, doch war ein solches Verhalten nicht ohne Beispiel. Das Konkubinat spielte bereits in merowingischer Zeit eine nicht unwichtige Rolle. Das zeitgenössische weltliche Recht und teils sogar das Kirchenrecht um 800 bot zudem Freiräume hinsichtlich des Ehelebens. Dennoch stand Karls Verhalten grundsätzlich im Gegensatz zu kirchlichen Erwartungen. Mit den Nebenfrauen zeugte Karl mehrere weitere Kinder (so unter anderem Drogo von Metz und Hugo), die aber keine legitimen Erben waren. Seinen Töchtern brachte Karl besondere Zuneigung entgegen. In einem 791 verfassten Brief bezeichnete er sie als dulcissimae filiae, seine „allersüßesten Töchter“. Während die Söhne vor allem militärisch-politisch ausgebildet wurden und sich schon in jungen Jahren fern vom Hof aufhielten (in den Quellen gibt es auch Hinweise auf teils homoerotische Beziehungen von Karls gleichnamigem Sohn, Karl dem Jüngeren), erhielten seine Töchter eine recht umfassende Bildung. Karl achtete darauf, dass sich niemand durch Einheirat in die Familie einen politischen Vorteil verschaffen konnte, weshalb er seine Töchter hauptsächlich am Hof behielt. Er ließ ihnen aber in ihrer Lebensführung erheblichen Freiraum; in den Quellen werden teils die Liebschaften der Töchter kritisiert. Bertha beispielsweise unterhielt eine Affäre mit Angilbert und bekam zwei Söhne, darunter den späteren Geschichtsschreiber Nithard. Nach Karls Tod setzte sein stärker an kirchlichen Normen orientierter Nachfolger Ludwig dieser Nachsicht ein Ende. == Wirkung == === Mittelalter === Unter den Herrschern des Mittelalters nimmt Karl auch aufgrund der Bedeutung seines Nachlebens eine herausragende Stellung ein, selbst im Vergleich mit Otto dem Großen, Friedrich Barbarossa oder Friedrich II. Die Wirkungsgeschichte Karls über den Verlauf der Jahrhunderte war enorm und ist wohl mit der Rezeption keines anderen mittelalterlichen Herrschers vergleichbar, was auch am entsprechenden Umfang der Forschungsliteratur zur Rezeptionsgeschichte deutlich wird. Karl galt über das gesamte Mittelalter topisch als idealer Kaiser, als kraftvoller Herrscher und Förderer des christlichen Glaubens. Zahlreiche mittelalterliche Adelige erhoben daher den Anspruch, von ihm in irgendeiner Weise abzustammen. Die Krönung der römisch-deutschen Könige und Kaiser war für die nächsten Jahrhunderte auf die Aachener Pfalzkapelle fixiert, weil man glaubte, nur eine dortige Krönung könne volle Legitimität verleihen. Durch Karls Kaiserkrönung auf der Grundlage der translatio imperii war das „römische Kaisertum“ im Westen erneuert worden. An diese Erneuerung knüpfte Otto der Große durch seine Kaiserkrönung im Jahr 962 an. Der Anspruch des römisch-deutschen Königtums auf die Kaiserkrone blieb während des gesamten Mittelalters bestehen, wobei es später wegen der päpstlichen Approbation zu Konflikten mit dem Papsttum kam. Das Karlsbild wurde bald verklärt und verformt, es entstand ein „Karlsmythos“, der vom Mittelalter bis in die Neuzeit wirkte. Diese Entwicklung setzte schon kurz nach dem Tod des Kaisers ein. Hierbei spielte die bewusst gepflegte herrscherliche Erinnerungskultur (memoria) eine wichtige Rolle. Die Karolinger waren sehr darum bemüht, den nachfolgenden Generationen ein bestimmtes Erinnerungsbild ihrer Herrschaft zu vermitteln. Diesem Zweck diente nicht zuletzt die karolingische Geschichtsschreibung, was vor allem in der Schilderung der hofnahen Reichsannalen zum Ausdruck kommt. Es ging geradezu um eine „Kontrolle der Erinnerung“. Im weiteren Verlauf des 9. Jahrhunderts wurde aber in der karolingischen Geschichtsschreibung um das „richtige Karlsbild“ gestritten und es entstanden konkurrierende Deutungen, so bei Einhard, der im Sinne der Hoftradition ein offiziöses Karlsbild tradierte, Thegan, Nithard, dem sogenannten Astronomus und in kleineren Schriften. Dies hing mit den Spannungen am Hof Ludwigs des Frommen und den folgenden innerdynastischen Kämpfen zusammen. In spätkarolingischer Zeit entstand um 886/87 im Ostfrankenreich eine neue Deutung Karls, die Notker in seinen Gesta Karoli („Die Taten Karls“) vortrug, einer Darstellung in zwei von drei ursprünglich geplanten Büchern. Karl wird wie üblich als vorbildlicher Herrscher geschildert. Allerdings weist Notkers anekdotenreiches Werk oft eher Erinnerungssplitter auf; es ging ihm nicht um eine rein historische Darstellung, sondern er wollte den Vorbildcharakter des Herrschers für die eigene Zeit unterstreichen. Der kurz darauf (um 890) schreibende Poeta Saxo unternahm erstmals eine poetische Verarbeitung, wobei er Karl sogar als den „Apostel der Sachsen“ rühmte. Der Beiname „der Große“ (magnus) für Karl ist allerdings nicht zeitgenössisch (Einhard etwa hat nie von Karolus magnus geschrieben), sondern kam erst relativ spät gegen Ende des 10. Jahrhunderts auf. Dabei handelte es sich ursprünglich um eine Herrschertitulatur in der Tradition antiker Herrscher – Karl wurde in diesem Sinne als magnus rex (großer König) bzw. imperator magnus (großer Kaiser) bezeichnet –, die schließlich in einen persönlichen Beinamen umgewandelt wurde. Dieser Beiname wurde in der Folgezeit gebräuchlich und dann auf die Herrschaftsleistung Karls bezogen, der als Idealherrscher angesehen wurde. Eine geringe Abweichung von der sonstigen Traditionspflege zeigte sich im Karlsbild der Zeit der Liudolfinger (Ottonen). Zwar war Karl auch dort ein bewundertes Vorbild, aber es ist doch eine gewisse Distanz feststellbar. Dies ist wohl darauf zurückzuführen, dass die sächsischen Herrscher zwar die Integration ihrer Heimat in das Frankenreich zu schätzen wussten, aber ihren sächsischen Ursprung nicht vergaßen. Im Umkreis Mathildes, der Mutter Ottos des Großen, wurde nicht zufällig die mündlich überlieferte Erzählung verbreitet, dass Widukind, von dem Mathilde abstammte, als eifriger Missionar tätig gewesen sei. Otto III. hingegen zeigte wieder größeres Interesse an Karl und besuchte im Mai des Jahres 1000 dessen Grab. Die dabei erfolgte Graböffnung wurde von Knut Görich als Vorbereitung der Kanonisation Karls des Großen gedeutet.In der Salierzeit stellte Kaiser Heinrich III. über seine Mutter eine Verbindung zum Karolinger her. Die nachfolgenden Staufer beanspruchten keine Abstammung von Karl, doch Friedrich Barbarossas Wirken wurde durchaus mit dem Karls verglichen. 1165 erfolgte die Heiligsprechung Karls des Großen und die Erhebung seiner Gebeine in Aachen. Dabei ging die Initiative aber wohl nicht (wie in der älteren Forschung oft angenommen) vom Kaiserhof, sondern von den Aachener Stiftsklerikern aus. Papst Alexander III. akzeptierte die aus seiner Sicht politisch unerwünschte Heiligsprechung nicht, doch hat die Kurie danach nie Einspruch dagegen erhoben. Dass Karl nun ein heiliger Vorgänger Friedrich Barbarossas war, brachte dem Kaisertum einen Ansehensgewinn, zumal seit der Zeit Friedrichs der Begriff des sacrum Imperium („geheiligtes Reich“) in der kaiserlichen Kanzlei Verwendung fand (erstmals 1157). Dennoch verehrte man Karl damals nicht als kaiserlichen Schutzheiligen des Heiligen Römischen Reiches, wie das Reich seit 1254 auch bezeichnet wurde. Der Karlskult blieb zunächst nur von lokaler Bedeutung, erst im 14. Jahrhundert änderte sich dies. Im Zuge der Kanonisation wurden die Gebeine des Herrschers am 27. Juli 1215 in der Aachener Marienkirche, der einstigen Pfalzkapelle, unter Mitwirkung Friedrichs II. feierlich in den eigens hierfür angefertigten Karlsschrein überführt, in dem sie großenteils bis heute ruhen; ob es sich bei dem Schrein jedoch auch um eine Stiftung Barbarossas handelt, wie für den im Kontext der Karlsverehrung stehenden Barbarossaleuchter nachgewiesen, ist nach wie vor ungewiss. Im Spätmittelalter wurde Karl weiterhin als Idealherrscher betrachtet, doch eine kaiserliche Förderung des Karlskults setzte erst mit Kaiser Karl IV. ein. Dieser legte eine besondere Verehrung seines berühmten Namensvetters an den Tag. Dies hing wohl nicht zuletzt damit zusammen, dass der Karlskult auch im Königreich Frankreich erblühte, wo die Könige den Karolinger auch nach dem Aussterben seiner dortigen männlichen Nachkommenschaft als ihren Vorfahren vereinnahmten. So wurde der Karlskult in Frankreich und Spanien während des Mittelalters durchaus rezipiert. In Italien war dies später etwa in der Zeit des Renaissance-Humanismus der Fall. Alexander von Roes in der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts betrachtete Karl als Deutschen, der auch über die Franzosen geherrscht habe, doch war dieser Deutung keine Nachhaltigkeit beschieden.Karl IV. trieb die Karlsverehrung im gesamten deutschen Reichsteil voran und ließ dies auch bewusst visuell inszenieren. Auf seine Anordnung entstanden neue Bildnisse des Karolingers, der unter anderem als „neuer David“ sowie als „König und Prophet“ bezeichnet wurde. Im weiteren Verlauf des Spätmittelalters wurde Karl der Große wiederholt ikonographisch dargestellt; in verschiedenen Reichsstädten geschah dies in unterschiedlichen Bildtypen und Ausdrücken. Der jeweils zeitgenössische Darstellungsstil produzierte entsprechende Imaginationen über Karl und sein Aussehen. Diese waren zwar nur Phantasieprodukte, doch sind sie wichtige Zeugnisse der Rezeptionsgeschichte. Sie drückten die jeweils aktuellen politischen Sehnsüchte, Legitimationsbedürfnisse und Machtansprüche aus. Um das Leben und Wirken Karls des Großen entstanden zahlreiche, oft nur lokale Sagen, unter anderem der Karlszyklus mit dem Rolandslied. Als lateinisches Pendant zum altfranzösischen Rolandslied wurde zwischen 1130 und 1140 die Historia Karoli Magni et Rotholandi geschrieben, deren unbekannter Autor heute als Pseudo-Turpin bezeichnet wird, da der Text den Erzbischof Turpin von Reims aus dem 8. Jahrhundert als seinen Verfasser nennt. Neben dem Rolandstoff enthält das Werk des Pseudo-Turpin die Legende, dass Karl nach Santiago de Compostela zum Grab des Apostels Jakobus gezogen sei und es von den Sarazenen befreit habe. Weiter entstand im Hochmittelalter die Legende, dass Karl der Große ins Heilige Land gezogen sei, die Heiden aus Jerusalem vertrieben habe und dafür wertvolle Reliquien erhalten habe, darunter die Dornenkrone Christi. Auch hier wirkte das legendarisch ausgeschmückte Karlsbild nach, in dem Karls Zeit zu einem goldenen Zeitalter idealisiert und er selbst zu einem nachahmenswerten Vorbild stilisiert wurde, so etwa hinsichtlich der Kreuzzüge im Hochmittelalter. Der historische Karl war zwar niemals im Orient, hat aber tatsächlich für seine diplomatischen Bemühungen um das Wohlergehen der Christen im Heiligen Land einige Reliquien aus dem heiligen Grab erhalten.Ähnlich wie die Eigennamen Caesar und Augustus zu Herrschertiteln wurden, fand der Name Karls des Großen Eingang in viele slawischen Sprachen als Bezeichnung für König (korol im Russischen, król im Polnischen, král im Tschechischen, im Serbischen, Kroatischen und Slowenischen kralj). Dies ist ebenfalls Ausdruck der Wirkungsgeschichte und des Bildes von Karl als Idealherrscher. === Neuzeit === Am Beginn der Frühen Neuzeit griff Kaiser Karl V. die Erinnerung an Karl den Großen wieder auf. Karl der Große als Begründer des neuen westlichen Kaisertums, das noch weit über das Mittelalter hinaus bis 1806 bestehen blieb, war für den Habsburger Karl V. Vorbild für sein eigenes Handeln als Universalherrscher in einem gewaltigen europäischen und überseeischen Reich. Allerdings griff Karl V. nur bestimmte Aspekte des Wirkens seines berühmten Vorgängers auf. Die Karlsverehrung spielte aber in der Zeit der Reformation und Gegenreformation keine größere Rolle, wenngleich Karl allgemein weiterhin überwiegend positiv betrachtet wurde. Kaiserliche Münzen nahmen über viele Jahrhunderte auf Karl Bezug, um die eigene Legitimität zu betonen. Eine weitere politische Rezeption Karls des Großen fand 1804 durch Napoleon Bonaparte statt, als er den Titel „Kaiser der Franzosen“ annahm, um sein Prestige weiter zu erhöhen und seine Herrschaft dynastisch zu legitimieren. Zur Verherrlichung dieses Kaisertums griffen Napoleon und sein kulturpolitischer Berater Dominique-Vivant Denon auch auf die Figur Karls des Großen zurück und propagierten Karl als „Ahnherr Napoleons“.In der nichtpolitischen Rezeption wurden verschiedene Facetten Karls aufgriffen und gewürdigt. Dies gilt etwa für den Bereich der Gesetzgebung. Typisch für die Darstellung Karls des Großen in der frühneuzeitlichen Historienmalerei ist Albrecht Dürers Bildtafel, die sich heute im Germanischen Nationalmuseum befindet. Im frühen 19. Jahrhundert entstanden die Fresken Alfred Rethels im Rathaussaal zu Aachen, die nach Rethels Erkrankung von seinem Schüler Joseph Kehren in abweichender Stilisierung vollendet wurden. Auch im Frankfurter Römer (Philipp Veit) und in der Münchner Residenz (Julius Schnorr von Carolsfeld) entstanden Kaisersäle mit Bildnissen Karls. Die idealisierende Vorbildfunktion Karls wurde im 19. Jahrhundert wiederbelebt. Im Zeitalter des Historismus im 19. und frühen 20. Jahrhundert wurde auch der Karlsmythos in der Literatur wieder verstärkt gepflegt. Dabei betrachtete man die Person Karls des Großen vor allem aus nationaler Perspektive: Die nationalen Gegensätze führten dazu, dass Karl in Deutschland als deutscher Herrscher, in Frankreich als Franzose wahrgenommen wurde. Das Karlsbild wurde in dieser Zeit im Rahmen der europäischen Konflikte auch politisch instrumentalisiert. Die 1792 von den einmarschierenden Franzosen nach Paris verschleppte Aachener Karlsstatue konnte erst 1804 zurückgeholt werden. Andererseits verschonten die deutschen Besatzer sein Reiterstandbild, anders als zahlreiche Pariser Metallskulpturen, im Zweiten Weltkrieg von der Zerstörung. Im öffentlichen Bewusstsein der Gegenwart spielt Karl nur zeitweise eine größere Rolle, so etwa anlässlich der Jubiläumsjahre 1999/2000 und 2014 mit umfassenden Ausstellungen, neuen Publikationen und Rundfunk- sowie TV-Beiträgen. In verschiedenen Konzepten einer europäischen Identität, insbesondere in Vorstellungen von einem „christlichen Abendland“, wird bis heute eine identitätspolitisch geprägte Erinnerungskultur um seine Person gepflegt. Der Internationale Karlspreis zu Aachen stellt das Gedenken an ihn in den Kontext der heutigen Europapolitik. Die Betrachtung Karls als „Vater Europas“ in Teilen der Öffentlichkeit ist allerdings aus Historikersicht durchaus problematisch, denn der enorme Kontrast zwischen der frühmittelalterlichen und der modernen Welt wird bei derartigen fachfremden Betrachtungen leicht übersehen. Das Karolingerreich stellt keine frühe Europäische Union dar und ist mit dieser multikulturellen und stark erweiterten Union nicht vergleichbar. Karls Herrschaftssystem eignet sich daher kaum als Modell für die stark gewandelte und sich immer schneller globalisierende Welt von heute, wenngleich einzelne wegweisende Leistungen des Kaisers unbestritten sind. Nur einzelne Facetten seiner Regierungszeit kommen als Anknüpfungspunkte in Betracht. Dazu gehört unter anderem der interkulturelle Dialog mit der politischen Umwelt bis hin nach Byzanz und in das Kalifat, Bildung und der geschaffene Rechts- und Ordnungsrahmen. == Forschungsgeschichte == Als Ausgangspunkt der Forschung dient die umfassende Darstellung der politischen Geschichte im Rahmen der Jahrbücher der Deutschen Geschichte, in der alle damals verfügbaren Quellen systematisch gesichtet und verarbeitet wurden. Der österreichische Historiker Engelbert Mühlbacher, ein Kenner der karolingischen Quellen, legte 1896 noch eine allgemeine Gesamtdarstellung vor. Mühlbacher hat auch die entsprechenden karolingischen Regesten bearbeitet. Im Verlauf des 20. Jahrhunderts folgten eine Vielzahl wissenschaftlicher (oft nur Spezialthemen betreffender) und populärwissenschaftlicher Darstellungen.Die politische Vereinnahmung, die Deformation und der Missbrauch des Geschichtsbilds im 19. und frühen 20. Jahrhundert war nicht zuletzt ein Resultat der politischen Auseinandersetzungen zwischen Deutschland, das erst seit 1871 zu einem Nationalstaat geworden war, und Frankreich. Besonders stark ausgeprägt war der politische Missbrauch der Person Karls in der Zeit des Nationalsozialismus in Deutschland, als im Rahmen der Rassenlehre der NS-Diktatur Karl einerseits als Germane geschätzt, andererseits aber wegen des sogenannten „Blutgerichts von Verden“, der Tötung von angeblich 4500 Sachsen, als „Sachsenschlächter“ bezeichnet wurde, wogegen seine sächsischen Gegenspieler zu Freiheitskämpfern gegen römische und christliche Kultur überhöht wurden. Derartige Widersprüchlichkeiten ergaben sich aus dem offiziellen und diffusen Geschichtsbild der NS-Propaganda, an dessen Gestaltung sich manche Historiker beteiligten, während andere um ein differenziertes und historisch treffenderes Bild bemüht waren.In den 1930er Jahren betrachteten mehrere namhafte deutsche Forscher Karl aus nationaler deutscher Perspektive und als germanisch-deutschen Herrscher, obwohl sie sich zugleich in der NS-Zeit gegen eine ideologiebasierte Forschung stemmten. Zu ihnen zählten unter anderem Hermann Aubin, Friedrich Baethgen, Carl Erdmann, Karl Hampe, Martin Lintzel und Wolfgang Windelband. Karl Hampe beispielsweise protestierte im Rahmen des 1935 publizierten Sammelbands Karl der Große oder Charlemagne? gegen die Charakterisierung Karls als „Sachsenschlächter“, wobei er aber gleichzeitig eine deutschnationale Perspektive vertrat; bereits in der Zwischenkriegszeit war eine nationalkonservative Haltung unter den deutschen Historikern die Regel.Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs fand in der Forschung jedoch ein Umdenken statt. Es setzte sich eine nüchternere Betrachtung des Karolingers durch, er wurde schlicht als Franke und nicht wie im 19. und frühen 20. Jahrhundert üblich ahistorisch als Deutscher oder Franzose betrachtet. In diesem Zusammenhang erfuhr das Geschichtsbild in der Forschung einen starken Wandel. Das langsam beginnende Zusammenwirken mehrerer europäischer Staaten im Rahmen der europäischen Integration und das nun grundlegend andere, kooperative deutsch-französische Verhältnis förderte in der Nachkriegszeit die Suche nach gemeinsamen „europäischen Wurzeln“.Die „Europäisierung“ Karls, die Betrachtung seiner Herrschaft aus europäischer Perspektive, setzte in der Geschichtswissenschaft in den 1960er Jahren ein. Dies führte zu einer deutlichen Entschärfung der früher nationalistisch geprägten harten Debatte. Aus dem „Germanen Karl“ wurde ein früher Europäer. Karl Ferdinand Werner erklärte 1995 in einem Beitrag, der den programmatischen Titel Karl der Große oder Charlemagne – Von der Aktualität einer überholten Fragestellung trug, dass es nicht mehr um die Frage nach Karl dem Großen oder Charlemagne gehe – Bezeichnungen, die bereits mit einem Mythos aufgeladen seien. Für Karl sei Europa bereits Realität gewesen; das moderne Europa habe ebenfalls eine Aufgabe und solle sich auf seine vielgestaltige Kultur besinnen.In neuerer Zeit äußern Historiker allerdings Skepsis gegenüber der Vereinnahmung Karls für das zusammenwachsende Europa. Dabei wird zwar manchmal betont, dass Aspekte seines Wirkens auch für die Gegenwart von Bedeutung seien, doch zum Teil wird Karl in der jüngeren Forschung noch nüchterner gesehen: Während seine Leistungen und das kulturelle Erbe des Karolingerreichs gewürdigt werden, wird seine Eignung als europäische Identifikationsfigur kritisch beurteilt. Wenngleich Alessandro Barbero an dem Bild eines „Vaters Europas“ festhielt und dies auch im Titel seiner Biographie Karls zum Ausdruck brachte, äußerten sich mehrere andere Forscher skeptischer. Jean Favier verzichtete in seiner Darstellung aus dem Jahr 1999 sogar ganz auf den Begriff Europa, Jacques Le Goff und Michael Borgolte drückten sich diesbezüglich sehr zurückhaltend aus. Borgolte relativierte in seiner 2006 erschienenen interkulturellen Darstellung den mit Karl verbundenen Europagedanken: Eine Europaidee habe es im Mittelalter nicht gegeben und Pater Europae sei nichts weiter als eine Bezeichnung, die Karls Herrschaft über mehrere Völker zum Ausdruck bringen sollte.Im Bereich der Handbücher und Überblicksdarstellungen hat in neuerer Zeit vor allem Rudolf Schieffer in mehreren Beiträgen die Regierungsleistung Karls nüchtern gewürdigt. Auch der französische Historiker Pierre Riché würdigte die Herrschaft Karls, der den Kernteil des lateinischen Europas vereinte und für spätere Zeiten oft bewundertes Vorbild war. Karl Ferdinand Werner zog in seinem Werk über die „Ursprünge Frankreichs“ eine sehr positive Bilanz der Regierungszeit Karls, den Werner als genialen Strategen und herausragenden Organisator sowie als eine starke Persönlichkeit betrachtete. Andere Überblicksdarstellungen der Karolingerzeit behandeln Karls Tätigkeit meist relativ knapp. In der Synthese von Jörg Busch wird die Forschung sehr gestrafft referiert. Wesentlich ausführlicher ist die weitgespannte Überblicksdarstellung Der Weg in die Geschichte von Johannes Fried (1994), die auch die Karolingerzeit behandelt. Karls Leistung im politischen und kulturellen Bereich wird unterstrichen, aber auch auf die Überforderung der Kräfte des Großreichs hingewiesen. Die daneben umfassendste Darstellung ist der zweite Band der New Cambridge Medieval History, der nicht nur die politische Geschichte, sondern auch Kultur, Religion, Herrschaft und Wirtschaft in europäischer Perspektive behandelt. Das in den 1960er Jahren von Wolfgang Braunfels herausgegebene mehrbändige „Karlswerk“ ist weiterhin eine wichtige Sammlung von Beiträgen. Er wird nun ergänzt durch einen 2014 erschienenen Katalog und Essayband, in dem sich aktuelle Beiträge zur neueren Forschung finden.Wichtige Einzelaspekte zu Karl hat Rosamond McKitterick in mehreren Publikationen untersucht, wenngleich ihre Schlussfolgerungen nicht immer unumstritten sind. Ihre 2008 gleichzeitig im englischen Original und in deutscher Übersetzung erschienene Darstellung ist allerdings eher eine Sammlung von Beiträgen und weniger eine biographische Darstellung. Seit der Jahrtausendwende sind eine Vielzahl von Biographien erschienen. Umfassende Darstellungen – allerdings ohne Anmerkungen – liegen von Jean Favier und Dieter Hägermann vor. Hägermanns quellennahe Darstellung konzentriert sich vor allem auf die politische Geschichte. Der 1200. Todestag Karls am 28. Januar 2014 gab Anlass zu einer Vielzahl an Ausstellungen, Tagungen und Veröffentlichungen. Mit den Werken von Wilfried Hartmann, Stefan Weinfurter und Johannes Fried liegen in deutscher Sprache drei aktuelle, gut belegte und von Kennern der Materie verfasste biographische Darstellungen mit unterschiedlichen Akzentuierungen vor. Hartmanns Darstellung ist etwas systematischer und knapper ausgefallen und bietet eine Zusammenfassung der bisherigen Forschung. Er hebt die Leistungen Karls im Bereich der Verwaltung, Bildung und Kirchenpolitik hervor, die ebenso wie die Erneuerung des Kaisertums sehr lange nachwirkten. Weinfurter stellt Karl positiv dar und würdigt seine Suche nach der (im Denken der Zeitgenossen von Gott ausgehenden) Wahrheit und Eindeutigkeit, wozu die Bildungsreform einen wichtigen Beitrag leisten sollte. Johannes Frieds umfassende und auch stilistisch gelungene Biographie holt weit aus und beleuchtet das politische und kulturelle Umfeld. In dieses wird das Leben Karls eingebettet, wobei Fried das Spannungsfeld von Karl als gläubigem Christen und teils mit großer Gewalt vorgehendem Herrscher betont. In der französischen und italienischen Forschung in der Zeit des Jubiläumsjahrs 2014 spielte Karl als Person keine entscheidende Rolle, wohingegen deutsche und US-amerikanische sowie einzelne englische Forscher zentrale Beiträge zu ihm veröffentlicht haben. 2019 erschien eine von Janet L. Nelson auf wissenschaftlicher Grundlage verfasste englische Biographie des Kaisers. == Quellenlage == Die Quellenlage für die Zeit Karls des Großen ist, verglichen mit den Regierungszeiten anderer frühmittelalterlicher Herrscher, relativ günstig. Die wichtigste erzählende Quelle für das Leben und die Zeit Karls ist die von seinem Vertrauten Einhard verfasste Vita Karoli Magni, deren Originaltitel wohl Vita Karoli imperatoris gelautet hat. Die Entstehungszeit dieser Biographie ist in der Forschung bis heute umstritten, die Ansätze reichen von einer extremen Frühdatierung 817 bis hin in das Jahr 836. Einhard hat sich bei der Abfassung von den berühmten Kaiserbiographien des römischen Schriftstellers Sueton inspirieren lassen, ohne diesem Vorbild sklavisch zu folgen; stilistisch ist der Einfluss Ciceros nachweisbar. Die Biographie stellt Karl in einem sehr positiven Licht dar. Sie erfreute sich offenbar großer Beliebtheit, denn sie ist in über 100 Handschriften überliefert. Die Vita Karoli Magni ist aber nicht nur „das bedeutendste Beispiel für die nachantike Suetonrezeption“, sondern auch bis heute „eine Schlüsselquelle der Karolingerzeit“.Eine weitere zentrale Quelle stellen die sogenannten Annales regni Francorum („Reichsannalen“) dar. Dabei handelt es sich um im Umkreis der königlichen Hofkapelle in verschiedenen Stufen verfasste Annalen, die jahrweise die wichtigsten politischen Ereignisse von 741 bis 829 vermerken. Die frühen Einträge wurden zwischen 787 und 793 rückblickend fertiggestellt, während die folgenden Ereignisse jeweils aktuell festgehalten wurden. Nach Karls Tod wurden die Reichsannalen teils inhaltlich und stilistisch überarbeitet; diese überarbeitete Fassung wurde in der älteren Forschung irrtümlich Einhard zugeschrieben und wird daher oft als Einhardsannalen bezeichnet. Die Reichsannalen sind eine wichtige, aber nur begrenzt glaubwürdige Quelle, da sie einseitig die offizielle Sichtweise des Hofes wiedergeben. Allerdings schildert die überarbeitete Fassung auch Fehlschläge Karls. Weitere pro-karolingische Quellen stellen die Continuatio Fredegarii, eine bis 768 reichende karolingische Hauschronik und Fortsetzung der Fredegarchronik, und die Annales Mettenses priores („ältere Metzer Annalen“) dar. Hinzu kommen kleinere Annalen, so die Annales Petaviani (bis 799) und die Annales Laureshamenses (bis 803). Notkers Gesta Karoli sind eine im späten 9. Jahrhundert entstandene Schilderung der Taten Karls in zwei (von geplanten drei) Büchern. Sie zeigen bereits den Übergang von der Mitteilung historischer Fakten zu einer erbaulichen Zwecken dienenden Mythenbildung. Hinzu kommen mehrere Gedichte und Epen zu Karl, von denen besonders das noch zu seinen Lebzeiten entstandene Paderborner Epos sowie das Werk des Ende des 9. Jahrhunderts dichtenden Poeta Saxo zu nennen sind. Aus karolingischer Zeit erhalten sind auch mehrere Briefe Alkuins und Einhards. Des Weiteren stehen Quellen aus dem kirchlichen Bereich zur Verfügung: Beschlüsse von Synoden und Konzilien, kirchliche Korrespondenz sowie kirchenrechtliche und kirchenpolitische Schriften wie die Libri Carolini. Von den erhaltenen 262 Urkunden, die Karl als Aussteller angeben, sind 98 gefälscht; nicht vollständig berücksichtigt sind hier Deperdita. Von Bedeutung sind die gesetzesartigen Erlasse, die sogenannten Kapitularien, sowie von Karl erlassene Gesetze (Leges). Hinzu kommen Münzen und kunsthistorische Quellen wie Kunstwerke und karolingische Bauten.Die Münzporträts mit kurz geschnittenen Haaren und Schnurrbart könnten Hinweise auf sein Aussehen geben, da keine anderen zeitgenössischen Porträtdarstellungen Karls überliefert sind. == Quellen == Reinhold Rau (Hrsg.): Quellen zur Karolingischen Reichsgeschichte. Lat.-dt. Bd. 1. Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 1955 [enthält Einhards Biographie und die Reichsannalen]; Bd. 3, Darmstadt 1960 [enthält Notkers Biographie]. Engelbert Mühlbacher unter Mitwirkung von Alfons Dopsch, Johann Lechner und Michael Tangl (Hrsg.): Diplomata 4: Die Urkunden Pippins, Karlmanns und Karls des Großen (Pippini, Carlomanni, Caroli Magni Diplomata). Hannover 1906 (Monumenta Germaniae Historica, Digitalisat) Hubert Mordek, Klaus Zechiel-Eckes und Michael Glatthaar (Hrsg.): Die Admonitio generalis Karls des Großen. Hahn, Hannover 2012, ISBN 978-3-7752-2201-3. == Literatur == === Überblicksdarstellungen === Sigurd Abel, Bernhard Simson: Jahrbücher des Fränkischen Reiches unter Karl dem Großen. Bd. 1. Leipzig 1888 (2. Auflage, bearbeitet von Simson), Bd. 2. Leipzig 1883; ND Berlin 1969 (hinsichtlich der politischen Geschichte immer noch grundlegend, als Gesamtüberblick jedoch veraltet). Matthias Becher u. a.: Das Reich Karls des Großen. Theiss, Stuttgart 2011, ISBN 978-3-8062-2507-5. Jörg W. Busch: Die Herrschaften der Karolinger 714–911. Oldenbourg, München 2011, ISBN 978-3-486-55779-4. Johannes Fried: Der Weg in die Geschichte. Die Ursprünge Deutschlands bis 1024 (= Propyläen Geschichte Deutschlands. Bd. 1). Propyläen, Berlin 1994, ISBN 3-549-05811-X (originelle, teilweise von der Forschungsmeinung abweichende Darstellung). Rosamond McKitterick (Hrsg.): The New Cambridge Medieval History. Volume 2, c. 700–c. 900. Cambridge University Press, Cambridge 1995, ISBN 0-521-36292-X. Pierre Riché: Die Karolinger. Eine Familie formt Europa. Reclam, Stuttgart 1999, ISBN 3-15-010463-7 (Standardwerk zur Geschichte der Karolinger). Rudolf Schieffer: Die Karolinger. 5., aktualisierte Auflage. Kohlhammer, Stuttgart 2014, ISBN 978-3-17-023383-6 (Standardwerk zur Geschichte der Karolinger). Rudolf Schieffer: Die Zeit des karolingischen Großreichs (714–887) (= Handbuch der deutschen Geschichte. Bd. 2). 10., völlig neu bearbeitete Auflage. Klett-Cotta, Stuttgart 2005, ISBN 3-608-60002-7. Rudolf Schieffer: Christianisierung und Reichsbildung. Europa 700–1200. C.H. Beck, München 2013, ISBN 978-3-406-65375-9 (knappes, aktuelles Überblickswerk mit gesamteuropäischer Perspektive). === Biographien === Alessandro Barbero: Karl der Große. Vater Europas. Klett-Cotta, Stuttgart 2007, ISBN 978-3-608-94030-5 (italienische Originalausgabe 2000). Matthias Becher: Karl der Große. 7. durchgesehene und aktualisierte Auflage. Beck, München 2021, ISBN 978-3-406-77156-9 (sehr knappe Einführung mit kommentierter Kurzbibliographie). Roger Collins: Charlemagne. University of Toronto Press, Toronto 1998; Macmillan, Basingstoke 1998, ISBN 0-333-65054-9. Jean Favier: Charlemagne. Fayard, Paris 1999, ISBN 2-213-60404-5 (umfassende, systematisch angelegte Darstellung) Johannes Fried: Karl der Große. Gewalt und Glaube. Eine Biographie. 4. Auflage, Beck, München 2014, ISBN 978-3-406-65289-9 (aktuelle, umfassende und stilistisch ansprechende Biographie, die das Leben Karls in den geschichtlichen Kontext seiner Zeit einbettet). Dieter Hägermann: Karl der Große. Herrscher des Abendlandes. Econ, Berlin 2000, ISBN 3-549-05826-8 (Rezensionen). Wilfried Hartmann: Karl der Große. Kohlhammer, Stuttgart 2010, ISBN 978-3-17-018068-0 (Rezension). Michael Imhof, Christoph Winterer: Karl der Große. Leben und Wirkung, Kunst und Architektur. Imhof, Petersberg 2013, ISBN 978-3-932526-61-9 (mit einem kunsthistorischen Schwerpunkt). Rosamond McKitterick: Karl der Große (= Gestalten des Mittelalters und der Renaissance). Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 2008 (englische Originalausgabe: Charlemagne. The Formation of a European Identity. Cambridge University Press, Cambridge/New York 2008) (Darstellung, die auf umfassender Quellen-, Handschriften- und Literaturkenntnis beruht; Rezension bei H-Soz-u-Kult sowie kritische Rezension in Concilium medii aevi 11 (2008)) Janet L. Nelson: King and Emperor. A New Life of Charlemagne. Allen Lane, London 2019, ISBN 978-0-713-99243-4. Stefan Weinfurter: Karl der Große. Der heilige Barbar. 2. Auflage. Piper, München/Zürich 2014, ISBN 978-3-492-05582-6 (aktuelle und gut lesbare Biographie). === Spezialstudien === Deutsches Historisches Museum (Hrsg.): Kaiser und Kalifen. Karl der Große und die Welt des Mittelmeers. Zabern, Darmstadt 2014, ISBN 978-3-8053-4774-7 (Sammlung von aktuellen Beiträgen zu den Beziehungen zwischen Frankenreich, Byzanz und Kalifat um 800) Matthias Becher: Das Kaisertum Karls des Großen zwischen Rückbesinnung und Neuerung. In: Hartmut Leppin, Bernd Schneidmüller, Stefan Weinfurter (Hrsg.): Kaisertum im ersten Jahrtausend. Schnell & Steiner, Regensburg 2012, S. 251–270. Peter Classen: Karl der Große, das Papsttum und Byzanz. Die Begründung des karolingischen Kaisertums. Herausgegeben von Horst Fuhrmann und Claudia Märtl (= Beiträge zur Geschichte und Quellenkunde des Mittelalters. Bd. 9). 2. Auflage. Thorbecke, Sigmaringen 1988, ISBN 3-7995-5709-1 (grundlegend zum Kaisertum und zur Kaiserkrönung). Rudolf Schieffer: Neues von der Kaiserkrönung Karls des Großen (Sitzungsbericht der bayerischen Akademie der Wissenschaften. Philologisch-historische Klasse 2004, 2). Verlag der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, München 2004, ISBN 3-7696-1626-X. === Kataloge und Sammelbände === Frank Pohle u. a. (Hrsg.): Karl der Große – Charlemagne. Drei Bände im Schuber. Sandstein Verlag, Dresden 2014, ISBN 978-3-95498-094-9 (Zwei Kataloge – zur Kunst im Umkreis Karls des Großen und den Wirkstätten des Herrschers – sowie ein Essayband mit aktuellen Beiträgen zu zahlreichen Einzelaspekten). Peter van den Brink, Sarvenaz Ayooghi (Hrsg.): Karl der Große – Charlemagne. Karls Kunst. Katalog der Sonderausstellung Karls Kunst vom 20. Juni bis 21. September 2014 im Centre Charlemagne, Aachen. Sandstein, Dresden 2014, ISBN 978-3-95498-093-2. Frank Pohle (Hrsg.): Karl der Große – Charlemagne. Orte der Macht. Katalog. Katalog der Sonderausstellung Orte der Macht vom 20. Juni bis 21. September 2014 im Krönungssaal des Aachener Rathauses. Sandstein, Dresden 2014, ISBN 978-3-95498-091-8. Frank Pohle (Hrsg.): Karl der Große – Charlemagne. Orte der Macht. Essays. Essayband zur Sonderausstellung Orte der Macht vom 20. Juni bis 21. September 2014 im Krönungssaal des Aachener Rathauses. Sandstein, Dresden 2014, ISBN 978-3-95498-092-5. Wolfgang Braunfels u. a. (Hrsg.): Karl der Große. Lebenswerk und Nachleben. 4 Bände und Registerband. Düsseldorf 1965–1968 (wichtiges Referenzwerk). Paul L. Butzer u. a. (Hrsg.): Karl der Große und sein Nachwirken. 1200 Jahre Kultur und Wissenschaft in Europa. 2 Bände. Brepols, Turnhout 1997, ISBN 2-503-50673-9. Franz-Reiner Erkens (Hrsg.): Karl der Große und das Erbe der Kulturen. Akten des 8. Symposiums des Mediävistenverbandes Leipzig 15.–18. März 1999. Akademie Verlag, Berlin 2001, ISBN 3-05-003581-1. Johannes Fried u. a. (Hrsg.): 794 – Karl der Große in Frankfurt. Ein König bei der Arbeit. Ausstellung zum 1200-Jahre-Jubiläum der Stadt Frankfurt am Main. Thorbecke, Sigmaringen 1994, ISBN 3-7995-1204-7. Peter Godman, Jörg Jarnut, Peter Johanek (Hrsg.): Am Vorabend der Kaiserkrönung. Das Epos „Karolus Magnus et Leo Papa“ und der Papstbesuch von 799. Akademie Verlag, Berlin 2002, ISBN 3-05-003497-1. Rolf Große, Michel Sot (Hrsg.): Charlemagne. Les temps, les espaces, les hommes. Construction et déconstruction d'un règne. Brepols, Turnhout 2018, ISBN 2-503-57797-0. August Heuser, Matthias Theodor Kloft (Hrsg.): Karlsverehrung in Frankfurt am Main. Eine Ausstellung des Dommuseums Frankfurt und des Historischen Museums Frankfurt. Frankfurt 2000, ISBN 3-921606-41-1. Christoph Stiegemann, Matthias Wemhoff (Hrsg.): 799. Kunst und Kultur der Karolingerzeit. Karl der Große und Papst Leo III. in Paderborn. Katalog der Ausstellung in Paderborn 1999. 3 Bände. Philipp von Zabern, Mainz 1999, ISBN 3-8053-2456-1. Joanna Story (Hrsg.): Charlemagne. Empire and Society. Manchester University Press, Manchester 2005, ISBN 0-7190-7088-0. === Rezeption === Bernd Bastert (Hrsg.): Karl der Große in den europäischen Literaturen des Mittelalters. Konstruktion eines Mythos. 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Thomas Kraus, Klaus Pabst (Hrsg.): Karl der Große und sein Nachleben in Geschichte, Kunst und Literatur (= Rezeptionskulturen in Literatur und Mediengeschichte. Band 1). Königshausen & Neumann, Würzburg 2014 (mit aktuellen und thematisch breit gefächerten Beiträgen zur Rezeptionsgeschichte). Lieselotte-E. Saurma-Jeltsch: Karl der Große als vielberufener Vorfahr. Sein Bild in der Kunst der Fürsten, Kirchen und Städte (= Schriften des Historischen Museums. Bd. 19). Thorbecke, Sigmaringen 1994, ISBN 3-7995-1205-5. Bernd Schneidmüller: Sehnsucht nach Karl dem Großen. Vom Nutzen eines toten Kaisers für die Nachgeborenen. Die politische Instrumentalisierung Karls des Großen im 19. und 20. Jahrhundert. In: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 51, 2000, S. 284–301. == Weblinks == Werke über Karl den Großen in der Deutschen Digitalen Bibliothek Literatur über Karl den Großen im Katalog der Deutschen Nationalbibliothek Carolus Magnus imperator im Repertorium „Geschichtsquellen des deutschen Mittelalters“ Reinhold Kaiser: Karl der Grosse. In: Historisches Lexikon der Schweiz. Einhard: The Life of Charlemagne, translated by Samuel Epes Turner (Medieval Sourcebook; ursprüngl. erschienen in New York: Harper & Brothers, 1880 – lateinischer Text) == Anmerkungen ==
https://de.wikipedia.org/wiki/Karl_der_Gro%C3%9Fe
Globale Erwärmung
= Globale Erwärmung = Die gegenwärtige globale Erwärmung oder Erderwärmung (umgangssprachlich auch „der Klimawandel”) ist der Anstieg der Durchschnittstemperatur der erdnahen Atmosphäre und der Meere. Es handelt sich um einen anthropogenen (= menschengemachten) Klimawandel, der eine Folge ist von Netto-Treibhausgasemissionen, die seit Beginn der Industrialisierung durch Nutzung von fossilen Energieressourcen sowie nicht-nachhaltiger Forst- und Landwirtschaft entstanden sind. Die Treibhausgasemissionen erhöhen das Rückhaltevermögen für infrarote Wärmestrahlung in der Troposphäre, was den Treibhauseffekt verstärkt. Wichtigstes Treibhausgas bei der derzeitigen globalen Erwärmung ist Kohlenstoffdioxid (CO2), dazu kommen weitere Treibhausgase wie z. B. Methan und Distickstoffmonoxid. Die von der Messstation Mauna Loa gemessene mittlere CO2-Konzentration in der Erdatmosphäre stieg von ursprünglich etwa 280 ppm vor Beginn der Industrialisierung auf inzwischen über 410 ppm. Der Temperaturanstieg betrug im Vergleich zu 1850–1900 bis zu den 2010er Jahren nach Angaben des Weltklimarats IPCC etwa 1,1 °C. 2020 und 2016 waren mit minimalen Temperaturunterschieden die beiden wärmsten Jahre seit Beginn der systematischen Messungen im Jahr 1880, wobei die acht wärmsten Jahre die acht letzten Jahre waren. Ein vergleichbares Temperaturniveau gab es zuletzt am Ende der Eem-Warmzeit vor 115.000 Jahren. Der IPCC schreibt in seinem 2021 erschienenen sechsten Sachstandsbericht, dass es unzweifelhaft ist, dass menschlicher Einfluss die Atmosphäre, die Ozeane und Landmassen erwärmt hat. Nach Abschätzung des IPCC sind 1,07 °C der 1,09 °C Erwärmung der Erdoberfläche zwischen 1850 und 1900 sowie zwischen 2011 und 2020 auf menschliche Aktivitäten zurückzuführen. Diese Aussage wird von anderen Sachstandsberichten gestützt; in der Wissenschaft besteht seit Mitte der 1990er Jahre ein wissenschaftlicher Konsens darüber, dass die gemessene globale Erwärmung nahezu vollständig vom Menschen verursacht wird. Die gegenwärtige Erwärmung verläuft erheblich schneller als alle bekannten Erwärmungsphasen der Erdneuzeit, also seit 66 Millionen Jahren. Ohne den gegenwärtigen menschlichen Einfluss auf das Klimasystem würde sich der seit einigen Jahrtausenden herrschende leichte Abkühlungstrend mit hoher Wahrscheinlichkeit weiter fortsetzen. Der IPCC erwartet in seinem Sechsten Sachstandsbericht, dass die globale Erwärmung bis zum Ende des 21. Jahrhunderts unter dem Szenario mit sehr niedrigen Treibhausgasemissionen sehr wahrscheinlich 1,0 °C bis 1,8 °C erreichen wird, bei einem Szenario mit mittelstarken Emissionen 2,1 °C bis 3,5 °C, und beim Szenario mit sehr hohen Treibhausgasemissionen 3,3 °C bis 5,7 °C. Mit der bis 2020 umgesetzten Klimaschutzpolitik steuert die Welt auf eine Erwärmung von ca. 3,2 °C bis zum Jahr 2100 zu, bei einer Abkehr von den derzeitigen Technologie- und Klimaschutztrends oder einer höheren Klimasensitivität ist jedoch auch eine Erwärmung von mehr als 4 °C möglich. Die Internationale Energieagentur beziffert im World Energy Outlook 2021 unter den Annahmen des Stated Policies Scenario (STEPS) den Temperaturanstieg auf 2,6 °C; der Climate Action Tracker (Stand: Nov 2021) gibt unter Policies & Action einen Erwartungswert für das Jahr 2100 von 2,7 °C an.Der menschengemachte Klimawandel verursacht bereits heute großflächig negative Folgen für die Natur und den Menschen. Verschiedene Ökosysteme wurden bereits über die Grenzen ihrer Anpassungsfähigkeit hinaus belastet, sodass schon einige irreversible Folgeschäden entstanden sind. Wie schnell und folgenschwer der Klimawandel verläuft, hängt stark von den umgesetzten Klimaschutz- und Klimaanpassungsmaßnahmen ab. Die negativen Klimawandelfolgen nehmen mit jedem weiteren Anstieg der globalen Erwärmung weiter zu. Zu den laut Klimaforschung ermittelten und oft bereits beobachteten Folgen der globalen Erwärmung zählen je nach Erdregion: Meereis- und Gletscherschmelze, ein Meeresspiegelanstieg, das Auftauen von Permafrostböden mit Freisetzung von Methanhydrat, wachsende Dürrezonen und zunehmende Wetter-Extreme mit entsprechenden Rückwirkungen auf die Lebens- und Überlebenssituation von Menschen und Tieren (Beitrag zum Artensterben). Das Ausmaß der Folgen ist abhängig von der Höhe und Dauer der Erwärmung. Einige Folgen können irreversibel sein und zudem als Kippelemente im Erdsystem wirken, die die globale Erwärmung durch positive Rückkopplung ihrerseits wiederum beschleunigen, etwa die Freisetzung des Treibhausgases Methan aus den auftauenden Permafrostböden. Ohne wirksame Klimaschutzmaßnahmen bedroht der Klimawandel in immer größerem Ausmaß Gesundheit und Lebensgrundlagen von Menschen, Tieren und Pflanzen sowie die Funktionsfähigkeit und biologische Vielfalt von Ökosystemen. Um die Folgen der globalen Erwärmung für Mensch und Umwelt abzumildern, zielt nationale und internationale Klimapolitik sowohl auf eine Begrenzung des Klimawandels durch Klimaschutz als auch auf eine Anpassung an die bereits erfolgte Erwärmung. Um die menschengemachte globale Erwärmung aufhalten zu können, müssen weitere energiebedingte Treibhausgasemissionen vollständig vermieden werden sowie fortan nicht vermeidbare Emissionen durch negative Treibhausgasemissionen mittels geeigneter Technologien, wie z. B. BECCS, DACCS oder Kohlenstoffbindung im Boden, kompensiert werden. Mit Stand 2016 waren bereits ca. 2⁄3 des CO2-Budgets der maximal möglichen Emissionen für das im Übereinkommen von Paris vereinbarte Zwei-Grad-Ziel aufgebraucht, sodass die weltweiten Emissionen schnell gesenkt werden müssen, wenn das Ziel noch erreicht werden soll. Möglicherweise ist das Zwei-Grad-Ziel nicht ambitioniert genug, um langfristig einen als Treibhaus Erde bezeichneten Zustand des Klimasystems zu verhindern, der zu insbesondere für den Menschen lebensfeindlichen Bedingungen auf der Erde führen würde. == Physikalische Grundlagen == Seit der Industriellen Revolution verstärkt der Mensch den natürlichen Treibhauseffekt durch den Ausstoß von Treibhausgasen, wie messtechnisch belegt werden konnte. Seit 1990 ist der Strahlungsantrieb – d. h. die Erwärmungswirkung auf das Klima – durch langlebige Treibhausgase um 43 % gestiegen. In der Klimatologie ist es heute Konsens, dass die gestiegene Konzentration der vom Menschen in die Erdatmosphäre freigesetzten Treibhausgase mit hoher Wahrscheinlichkeit die wichtigste Ursache der globalen Erwärmung ist, da ohne sie die gemessenen Temperaturen nicht zu erklären sind.Treibhausgase lassen die von der Sonne kommende kurzwellige Strahlung weitgehend ungehindert auf die Erde durch, absorbieren aber einen Großteil der von der Erde ausgestrahlten Infrarotstrahlung. Dadurch erwärmen sie sich und emittieren selbst Strahlung im langwelligen Bereich (vgl. Kirchhoffsches Strahlungsgesetz). Der in Richtung der Erdoberfläche gerichtete Strahlungsanteil wird als atmosphärische Gegenstrahlung bezeichnet. Im isotropen Fall wird die absorbierte Energie je zur Hälfte in Richtung Erde und Weltall abgestrahlt. Hierdurch erwärmt sich die Erdoberfläche stärker, als wenn allein die kurzwellige Strahlung der Sonne sie erwärmen würde. Der Weltklimarat IPCC schätzt den Grad des wissenschaftlichen Verständnisses über die Wirkung von Treibhausgasen als „hoch“ ein.Das Treibhausgas Wasserdampf (H2O) trägt mit 36 bis 66 %, Kohlenstoffdioxid (CO2) mit 9 bis 26 % und Methan mit 4 bis 9 % zum natürlichen Treibhauseffekt bei. Die große Bandbreite erklärt sich folgendermaßen: Einerseits gibt es sowohl örtlich wie auch zeitlich große Schwankungen in der Konzentration dieser Gase. Zum anderen überlappen sich deren Absorptionsspektren. Strahlung, die zum Beispiel von Wasserdampf bereits absorbiert wurde, kann von CO2 nicht mehr absorbiert werden. In Trockenwüsten oder eisbedeckten Kältewüsten, in der Wasserdampf nur wenig zum Treibhauseffekt beiträgt, ist somit der Anteil der übrigen Treibhausgase am Gesamttreibhauseffekt größer als in den feuchten Tropen. Da die genannten Treibhausgase natürliche Bestandteile der Atmosphäre sind, wird die von ihnen verursachte Temperaturerhöhung als natürlicher Treibhauseffekt bezeichnet. Der natürliche Treibhauseffekt führt dazu, dass die Durchschnittstemperatur der Erde bei etwa +14 °C liegt. Ohne den natürlichen Treibhauseffekt läge sie bei etwa −18 °C. Hierbei handelt es sich um rechnerisch bestimmte Werte (siehe auch Idealisiertes Treibhausmodell). In der Literatur können diese Werte gegebenenfalls leicht abweichen, je nach Rechenansatz und der zu Grunde gelegten Annahmen, zum Beispiel dem Reflexionsverhalten (Albedo) der Erde. Diese Werte dienen als Nachweis, dass es einen natürlichen Treibhauseffekt gibt, da ohne ihn die Temperatur entsprechend deutlich geringer sein müsste und sich die höhere Temperatur mit dem Treibhauseffekt erklären lässt. == Ursachen der menschengemachten globalen Erwärmung == Hauptursache ist die durch menschliche Aktivitäten steigende Treibhausgaskonzentration in der Erdatmosphäre. Im Sechsten Sachstandsbericht des IPCC wird der daraus resultierende zusätzliche Strahlungsantrieb im Jahr 2019 im Vergleich zum Referenzjahr 1750 netto (das heißt nach Abzug ebenfalls kühlender Effekte zum Beispiel durch Aerosole) mit 2,72 W/m² beziffert. Brutto verursachten alle langlebigen Treibhausgase einen Strahlungsantrieb von 3,32 W/m². Bedeutendstes Treibhausgas war Kohlenstoffdioxid mit 2,16 W/m², gefolgt von Methan mit 0,54 W/m². Halogenkohlenwasserstoffe verursachten einen Strahlungsantrieb von 0,41 W/m², Lachgas 0,21 W/m². Von den kurzlebigen Treibhausgasen hat Ozon, dessen Entstehung durch Stickoxide, Kohlenmonoxid oder Kohlenwasserstoffe angeregt wird, mit 0,47 W/m² den höchsten Strahlungsantrieb. Einen negativen (das heißt kühlenden) Strahlungsantrieb in Höhe von −1,1 W/m² verursachen Aerosole.Die derzeit beobachtete globale Erwärmung ist nahezu vollständig auf menschliche Aktivitäten zurückzuführen. Gemäß IPCC sind 1,07 °C der 1,09 °C Erwärmung der Erdoberfläche zwischen 1850–1900 und 2011–2020 auf menschliche Aktivitäten zurückzuführen. Im vierten Nationalen Klimabericht der Vereinigten Staaten wird der wahrscheinliche menschliche Anteil an der Erwärmung des Zeitraums 1951 bis 2010 mit zwischen 93 % und 123 % angegeben. Werte über 100 % bedeuten hierbei eine Überkompensation diverser Abkühlungsfaktoren. Hingegen sind Veränderungen der natürlichen Sonnenaktivität ein unbedeutender Faktor bei der gegenwärtig beobachteten Erderwärmung. Die Sonnenaktivität machte im gleichen Zeitraum einen Strahlungsantrieb von nur 0,1 W/m² aus; seit Mitte des 20. Jahrhunderts ging die Sonnenaktivität sogar zurück. === Konzentrationsanstieg der wichtigsten Treibhausgase === Der Anteil aller vier Bestandteile des natürlichen Treibhauseffekts in der Atmosphäre ist seit dem Beginn der industriellen Revolution gestiegen. Die Geschwindigkeit des Konzentrationsanstiegs ist die schnellste der letzten 22.000 Jahre. Der Konzentrationsanstieg der gut-durchmischten Treibhausgase ist eindeutig menschengemacht. Wichtigstes Treibhausgas ist Kohlenstoffdioxid (CO2). Es existiert ein nahezu linearer Zusammenhang zwischen den kumulierten menschengemachten Kohlenstoffdioxidemissionen und der von ihnen verursachten Erwärmung. Pro Billion Tonnen kumulierter CO2-Emissionen erwärmt sich die Erdoberfläche um ca. 0,45 °C (Unsicherheitsspanne 0,27 bis 0,63 °C). Daraus ergibt sich, dass für jegliches Begrenzen der menschengemachten Erderwärmung auf einem vorgegebenen Temperatur-Niveau Netto-Nullemissionen erreicht werden müssen. Zwischen 1850 und 2019 wurden ca. 2390 ± 240 Mrd. Tonnen CO2 durch menschliche Aktivitäten freigesetzt. Im Jahr 2019 produzierte die Menschheit Treibhausgasemissionen in Höhe von 59 Milliarden Tonnen (± 6.6) CO2-Äquivalent. Das jährliche Wachstum der Emissionen in den 2010er Jahren lag bei 1,3 % pro Jahr, etwas niedriger als in den Jahren 2000 bis 2009, als es bei 2,1 % gelegen hatte. Die wichtigste Emissionsquelle war die Kohlendioxidfreisetzung aus fossilen Energieträgern und Industrieprozessen mit 38 ± 3 Mrd. Tonnen, gefolgt von Methanfreisetzung (11 ± 3,2 Mrd. Tonnen), Kohlendioxidemissionen aus Landnutzungsänderungen wie Entwaldung (6,6 ± 4,6 Mrd. Tonnen), Lachgasproduktion (2,7 ± 1,6 Mrd. Tonnen) und weiteren Treibhausgasen wie FCKWs (1,4 ± 0,41 Mrd. Tonnen). Von 1990 bis 2019 stieg der CO2-Ausstoß aus fossilen Energien und Industrie um 15 Mrd. Tonnen bzw. 67 % an und damit deutlich stärker als die Emissionen aus anderen Quellen. Damit werden durch menschliche Aktivitäten pro Tag ca. 100 Mio. Tonnen Kohlendioxid in die Atmosphäre emittiert.Die Konzentration von CO2 in der Erdatmosphäre stieg von ca. 278,3 ppm im Jahr 1750 auf auf 409,9 ppm im Jahr 2019. Dies ist ein Anstieg um 131,6 ppm bzw. um 47,3 %. Damit liegt die CO2 in der Erdatmosphäre höher als zu jedem Zeitpunkt seit mindestens 2 Millionen Jahren. Während der letzten 14 Millionen Jahre (seit dem Mittleren Miozän) existierten keine signifikant höheren CO2-Werte als gegenwärtig. Nach Messungen aus Eisbohrkernen betrug die CO2-Konzentration in den letzten 800.000 Jahren nie mehr als 300 ppmV.Der Volumenanteil von Methan stieg von ca. 730 ppbV im Jahr 1750 auf 1866.3 ppbV (parts per billion, Teile pro Milliarde Volumenanteil) im Jahr 2019 an. Dies ist ein Anstieg um 157,8 % und wie bei CO2 der höchste Stand seit mindestens 800.000 Jahren. Nachdem die Methanemissionen in den 1990er Jahren stagnierten, steigen sie seit ca. 2007 wieder an. Verursacht wurde dieser jüngste Anstieg durch die Nutzung fossiler Energien, die Tierzucht, Abfälle, Emissionen aus Feuchtgebieten und Biomasseverbrennung. Das Treibhauspotenzial von 1 kg Methan ist, auf einen Zeitraum von 100 Jahren betrachtet, 25-mal höher als das von 1 kg CO2. Nach einer neueren Untersuchung beträgt dieser Faktor sogar 33, wenn Wechselwirkungen mit atmosphärischen Aerosolen berücksichtigt werden. In einer sauerstoffhaltigen Atmosphäre wird Methan jedoch oxidiert, meist durch Hydroxyl-Radikale. Ein in die Atmosphäre gelangtes Methan-Molekül hat dort eine durchschnittliche Verweilzeit von zwölf Jahren.Im Unterschied dazu liegt die Verweildauer von CO2 teilweise im Bereich von Jahrhunderten. Die Ozeane nehmen atmosphärisches CO2 zwar sehr rasch auf: Ein CO2-Molekül wird nach durchschnittlich fünf Jahren in den Ozeanen gelöst. Diese geben es aber auch wieder an die Atmosphäre ab, so dass ein Teil des vom Menschen emittierten CO2 letztlich für mehrere Jahrhunderte (ca. 30 %) und ein weiterer Teil (ca. 20 %) sogar für Jahrtausende im Kohlenstoffkreislauf von Hydrosphäre und Atmosphäre verbleibt.Der Volumenanteil von Lachgas stieg von ca. 270 ppbV im Jahr 1750 auf 332,1 ppbV im Jahr 2019. Der Anstieg seit 1980 ist vor allem auf mehr und intensivere Landwirtschaft zurückzuführen. Durch sein Absorptionsspektrum trägt es dazu bei, ein sonst zum Weltall hin offenes Strahlungsfenster zu schließen. Trotz seiner sehr geringen Menge in der Atmosphäre trägt es zum anthropogenen Treibhauseffekt etwa 6 % bei, da seine Wirkung als Treibhausgas 298-mal stärker ist als die von CO2; daneben hat es auch eine recht hohe atmosphärische Verweilzeit von 114 Jahren.Der Wasserdampfgehalt der Atmosphäre wird durch anthropogene Wasserdampfemissionen nicht signifikant verändert, da zusätzlich in die Atmosphäre eingebrachtes Wasser innerhalb weniger Tage auskondensiert. Steigende globale Durchschnittstemperaturen führen jedoch zu einem höheren Dampfdruck, das heißt einer stärkeren Verdunstung. Der damit global ansteigende Wasserdampfgehalt der Atmosphäre treibt die globale Erwärmung zusätzlich an. Wasserdampf wirkt somit im Wesentlichen als Rückkopplungsglied. Diese Wasserdampf-Rückkopplung ist neben der Eis-Albedo-Rückkopplung die stärkste positiv wirkende Rückkopplung im globalen Klimageschehen. === Aerosole === Neben Treibhausgasen beeinflussen auch Aerosole das Erdklima, allerdings mit einem insgesamt kühlenden Effekt. Aerosole liefern von allen festgestellten Beiträgen zum Strahlungsantrieb die größte Unsicherheit. Die Wirkung eines Aerosols auf die Lufttemperatur ist abhängig von seiner Flughöhe in der Atmosphäre. In der untersten Atmosphärenschicht, der Troposphäre, sorgen Rußpartikel für einen Temperaturanstieg, da sie das Sonnenlicht absorbieren und anschließend Wärmestrahlung abgeben. Die verringerte Reflektivität (Albedo) von Schnee- und Eisflächen und anschließend darauf niedergegangenen Rußpartikeln wirkt ebenfalls erwärmend. In höheren Luftschichten hingegen sorgen Mineralpartikel durch ihre abschirmende Wirkung dafür, dass es an der Erdoberfläche kühler wird. Einen großen Unsicherheitsfaktor bei der Bemessung der Klimawirkung von Aerosolen stellt ihr Einfluss auf die ebenfalls nicht vollständig verstandene Wolkenbildung dar. Insgesamt wird Aerosolen eine deutlich abkühlende Wirkung zugemessen. Abnehmende Luftverschmutzung könnte daher zur globalen Erwärmung beitragen.Ein zeitweise auftretender Rückgang bzw. die Stagnation der globalen Durchschnittstemperatur werden zum großen Teil der kühlenden Wirkung von Sulfataerosolen zugeschrieben, die zwischen den 1940er und Mitte der 1970er Jahre in Europa und den USA sowie nach dem Jahr 2000 in der Volksrepublik China und Indien zu verorten waren. == Nachrangige und fälschlich vermutete Ursachen == Eine Reihe von Faktoren beeinflussen das globale Klimasystem. In der öffentlichen Diskussion um die Ursachen der globalen Erwärmung werden oft Faktoren genannt, die nachrangig sind oder sogar kühlend auf das Klimasystem wirken. Die Erde befindet sich im Zeitalter der industriellen Revolution in einer Phase der Wiedererwärmung aus der kleinen Eiszeit. Unabhängig davon würde sich ohne die Eingriffe des Menschen in den natürlichen Klimaverlauf der seit 6000 Jahren bestehende Abkühlungstrend von 0,10 bis 0,15 °C pro Jahrtausend fortsetzen und – je nach Literaturquelle – in 20.000 bis 50.000 Jahren in eine neue Kaltzeit führen. === Ozonloch === Die Annahme, das Ozonloch sei eine wesentliche Ursache der globalen Erwärmung, ist falsch. Der Abbau des Ozons in der Stratosphäre hat einen leicht kühlenden Effekt. Der Ozonabbau wirkt hierbei auf zweierlei Arten: Die verringerte Ozonkonzentration kühlt die Stratosphäre, da die UV-Strahlung dort nicht mehr absorbiert wird, wärmt hingegen die Troposphäre, da die UV-Strahlung an der Erdoberfläche absorbiert wird und diese erwärmt. Die kältere Stratosphäre schickt weniger wärmende Infrarotstrahlung nach unten und kühlt damit die Troposphäre. Insgesamt dominiert der Kühlungseffekt, so dass das IPCC folgert, dass der beobachtete Ozonschwund im Verlauf der letzten beiden Dekaden zu einem negativen Strahlungsantrieb auf das Klimasystem geführt hat, der sich auf etwa −0,15 ± 0,10 Watt pro Quadratmeter (W/m²) beziffern lässt. === Sonnenaktivität === Veränderungen in der Sonne wird ein geringer Einfluss auf die gemessene globale Erwärmung zugesprochen. Die seit 1978 direkt vom Orbit aus gemessene Änderung ihrer Strahlungsintensität ist bei weitem zu klein, um als Hauptursache für die seither beobachtete Temperaturentwicklung in Frage zu kommen. Seit den 1960er Jahren ist der Verlauf der globalen Durchschnittstemperatur von der Strahlungsintensität der Sonne entkoppelt, seit 1978 hat die verminderte Strahlungsintensität sehr wahrscheinlich der globalen Erwärmung etwas entgegengewirkt.Das IPCC schätzte 2013 den zusätzlichen Strahlungsantrieb durch die Sonne seit Beginn der Industrialisierung auf etwa 0,05 (± 0,05) Watt pro Quadratmeter. Im Vergleich dazu tragen die anthropogenen Treibhausgase mit 2,83 (± 0,29) W/m² zur Erwärmung bei. Das IPCC schreibt, dass der Grad des wissenschaftlichen Verständnisses bezüglich des Einflusses solarer Variabilität vom Dritten zum Vierten Sachstandsbericht von „sehr gering“ auf „gering“ zugenommen hat. Im fünften Sachstandsbericht misst der IPCC seiner Schätzung zum solaren Strahlungsantrieb seit 1750 „mittlere Aussagekraft“ bei, für die letzten drei Dekaden ist die Aussagekraft höher. === Kosmische Strahlung === Das Argument, dass kosmische Strahlung die Wirkung der Sonnenaktivität verstärke, beruht auf einer Studie von Henrik Svensmark und Egil Friis-Christensen. Sie gehen davon aus, dass kosmische Strahlung die Bildung von Wolken beeinflusse und so indirekten Einfluss auf die Erdoberflächentemperatur habe. Damit soll erklärt werden, wie Schwankungen der Sonnenaktivität – trotz der nur geringen Veränderung der Sonnenstrahlung – die beobachtete globale Temperaturerhöhung auslösen kann. Neuere wissenschaftliche Studien, vor allem aus dem CLOUD-Experiment, zeigen jedoch, dass der Einfluss der kosmischen Strahlung auf die Wolkenbildung gering ist. Der IPCC hielt in seinem 2013 erschienenen 5. Sachstandsbericht fest, dass es zwar Hinweise auf einen derartigen Wirkmechanismus gebe, dieser aber zu schwach sei, um das Klima nennenswert zu beeinflussen. Ebenfalls ist die kosmische Strahlung als verstärkender Faktor abhängig von der Sonnenaktivität und könnte bei deren negativem Trend seit den 1960er Jahren höchstens eine kühlende Wirkung verstärkt haben. === Vulkanaktivität === Große Vulkanausbrüche der Kategorie VEI-5 oder VEI-6 auf dem Vulkanexplosivitätsindex können aufgrund der Emission von Vulkanasche und Aerosolen bis in die Stratosphäre eine hemisphärische oder weltweite Abkühlung (etwa −0,3 bis −0,5 °C) über mehrere Jahre hervorrufen. Es wird davon ausgegangen, dass eine hohe Vulkanaktivität beispielsweise einen erheblichen Einfluss auf die Temperaturentwicklung während der kleinen Eiszeit ausübte. Seit 1900 hat es jedoch keine ungewöhnliche Konzentration und Variabilität vulkanischer Aerosole in der Atmosphäre gegeben.Vulkane setzen aktuell jährlich etwa 210 bis 360 Megatonnen CO2 frei. Das entspricht etwa einem Prozent der jährlichen CO2-Emission aus fossilen Brennstoffen.Insgesamt hatten langfristige Änderungen vulkanischer Aktivität seit 1750 einen vernachlässigbaren Einfluss. Sie können die globale Erwärmung nicht erklären. === Wasserdampf === Wasserdampf ist mit einem atmosphärischen Anteil von etwa 0,4 % das in seiner Gesamtwirkung stärkste Treibhausgas und für rund zwei Drittel des natürlichen Treibhauseffekts verantwortlich. CO2 ist der zweitwichtigste Faktor und macht den größten Teil des restlichen Treibhauseffekts aus. Die Konzentration von Wasserdampf in der Atmosphäre ist jedoch hauptsächlich abhängig von der Lufttemperatur (nach der Clausius-Clapeyron-Gleichung kann Luft pro Grad Celsius Erwärmung rund 7 % mehr Wasserdampf aufnehmen). Erhöht sich die Temperatur durch einen anderen Einflussfaktor, steigt die Wasserdampfkonzentration und damit deren Treibhausgaswirkung – was zu einem weiteren Anstieg der Temperatur führt. Wasserdampf verstärkt somit die durch andere Faktoren ausgelöste Temperaturveränderungen. Dieser Effekt wird Wasserdampf-Rückkopplung genannt. Wasserdampf bewirkt deshalb eine Verdoppelung bis Verdreifachung der allein durch die Erhöhung der CO2-Konzentration ausgelösten Erwärmung. === Abwärme === Bei fast allen Prozessen entsteht Wärme, so bei der Produktion von elektrischem Strom in Wärmekraftwerken, bei der Nutzung von Verbrennungsmotoren (siehe Wirkungsgrad) oder beim Betrieb von Computern. In den USA und Westeuropa trugen Gebäudeheizung, industrielle Prozesse und Verbrennungsmotoren im Jahr 2008 mit 0,39 W/m² bzw. 0,68 W/m² zur Erwärmung bei und haben damit einen gewissen Einfluss auf das regionale Klimageschehen. Weltweit gesehen betrug dieser Wert 0,028 W/m² (also nur etwa 1 % der globalen Erwärmung). Merkliche Beiträge zur Erwärmung wären für den Fall des weiteren ungebremsten Anstiegs der Energieerzeugung (wie in den vergangenen Jahrzehnten) ab dem Ende unseres Jahrhunderts zu erwarten. Betrachtet man die gesamte Verweildauer von Kohlendioxid in der Atmosphäre, dann übersteigt der treibhauseffektbedingte Strahlungsantrieb infolge der Verbrennung von Kohlenstoff die bei dem Verbrennungsprozess freiwerdende Wärme mehr als 100.000-fach. === Städtische Wärmeinseln === Die Temperatur in Städten liegt oft höher als im Umland, da durch Heizungen und industrielle Prozesse Wärme produziert wird. Diese wird in Häusern und versiegelten Flächen stärker aufgenommen. Der Temperaturunterschied kann in großen Städten bis zu 10 °C betragen. Da viele Temperaturmessungen in Städten erfolgen, könnte dies zu einer fehlerhaften Berechnung der globalen Temperatur führen. Jedoch werden in Messungen betreffend der globalen Temperatur die Temperaturveränderungen und nicht die absoluten Werte berücksichtigt. Zudem werden die Temperaturmessungen in Städten oft auf Grünflächen durchgeführt, die aufgrund der Begrünung in der Regel kühler sind. Kontrollrechnungen der globalen Temperatur mit ausschließlich ländlichen Stationen ergeben praktisch die gleichen Temperaturtrends wie die Berechnung aus allen Stationen. == Gemessene und hochgerechnete Erwärmung == === Bisherige Temperaturerhöhung === Gemäß IPCC betrug der Temperaturanstieg der Erdoberfläche im Zeitraum 2011-2020 relativ zu 1850-1900 etwa 1,09 °C (wahrscheinliche Spanne: 0,95 bis 1,20 °C). Dabei stiegen die Temperaturen an Land mit ca. 1,59 °C deutlich stärker als die Temperaturen über den Ozeanen (0,88 °C). Die Temperaturen des Jahrzehnts 2011-2020 übersteigen ebenfalls die höchsten Jahrhundertdurchschnittswerte der letzten Zwischeneiszeit, vor etwa 6500 Jahren erreicht wurden. Jedes der vier vergangenen Jahrzehnte war nacheinander wärmer als jedes andere Jahrzehnt seit 1850. Seit ca. 1970 steigt die Erdoberflächentemperatur mit einer Geschwindigkeit an, die in mindestens den vergangenen zwei Jahrtausenden ohne Beispiel ist.2016 war das wärmste Jahr seit Beginn der Messungen im Jahr 1880. Es war ca. 1,1 °C wärmer als in vorindustrieller Zeit. 2017 war das bisher wärmste Nicht-El-Niño-Jahr. Die sieben wärmsten Jahre waren in absteigender Reihenfolge die letzten sieben: 2016, 2020, 2019, 2015, 2017, 2018 und 2014. Nach Zahlen des Copernicus-Programms lag die Erwärmung sogar um 1,3 °C oberhalb des Niveaus der vorindustriellen Zeit, womit die politisch anvisierte Grenze von 1,5 °C zeitweise nahezu erreicht war. Gegenüber dem Jahr 2015 hat die zusätzliche Erwärmung 0,2 °C betragen. Verglichen mit den Schwankungen der Jahreszeiten sowie beim Wechsel von Tag und Nacht erscheinen die im Folgenden genannten Zahlen klein; als globale Änderung des Klimas bedeuten sie jedoch sehr viel, so lag beispielsweise die Durchschnittstemperatur auf der Erde während der letzten Eiszeit nur um etwa 6 K niedriger.In dem Zusammenhang kommt eine 2020 veröffentlichte Studie auf der Basis einer detaillierten Auswertung von Paläo-Klimadaten zu dem Schluss, dass die im bisherigen 21. Jahrhundert aufgetretene Erwärmung die Temperaturwerte des Holozänen Klimaoptimums (vor etwa 8000 bis 6000 Jahren) mit hoher Wahrscheinlichkeit übertrifft.Laut einer im Jahr 2016 erschienenen Publikation begann die globale Durchschnittstemperatur bereits seit dem Jahr 1830 aufgrund menschlicher Aktivitäten zu steigen. Dies wurde im Rahmen einer breit angelegten Studie gefunden, bei der eine große Zahl weltweit verteilter, paläoklimatologischer Anzeiger vergangener Zeiten (sogenannte Klimaproxys) ausgewertet wurden. Zu dieser Zeit gab es noch kein dichtes Netz von Temperaturmessstationen. Eine deutliche Erwärmungsphase war zwischen 1910 und 1945 zu beobachten, in der aufgrund der noch vergleichsweise geringen Konzentration von Treibhausgasen auch natürliche Schwankungen einen deutlichen Einfluss hatten. Am ausgeprägtesten ist jedoch die Erwärmung von 1975 bis heute. ==== Erwärmung der Ozeane ==== Neben der Luft haben sich auch die Ozeane erwärmt; sie haben über 90 % der zusätzlichen Wärmeenergie aufgenommen. Während sich die Ozeane von 1955 bis Mitte der 2000er Jahre aufgrund ihres enormen Volumens und ihrer großen Temperaturträgheit insgesamt nur um 0,04 K aufgeheizt haben, erhöhte sich ihre Oberflächentemperatur im selben Zeitraum um 0,6 K. Im Bereich von der Meeresoberfläche bis zu einer Tiefe von 75 Metern stieg die Temperatur von 1971 bis 2010 um durchschnittlich 0,11 K pro Jahrzehnt an.Der Energieinhalt der Ozeane nahm zwischen Mitte der 1950er Jahre und 1998 um ca. 14,5 × 1022 Joule zu, was einer Heizleistung von 0,2 Watt pro m² der gesamten Erdoberfläche entspricht. Diese Energiemenge würde die unteren 10 Kilometer der Atmosphäre um 22 K erwärmen. Über den Zeitraum 1971 und 2016 lag die gemittelte Wärmeaufnahme der Ozeane bei einer Leistung von etwa 200 Terawatt und damit mehr als 10 Mal so hoch wie der komplette Weltenergieverbrauch der Menschheit.Seit dem Jahr 2000 wird der Wärmeinhalt der Ozeane mit Hilfe des Argo-Programms vermessen, wodurch seit dieser Zeit erheblich genauere Daten über den Zustand wie auch die Veränderung von klimatologisch relevanten Messwerten (z. B. Wärmeinhalt, Salinität, Tiefenprofil) verfügbar sind. Die letzten zehn Jahre waren die wärmsten Jahre für die Ozeane seit Beginn der Messungen; 2019 das bisher wärmste. Anfang April 2023 erreichte die gemessene Meeresoberflächentemperatur einen Durchschnittswert von 21,1 Grad, was einem neuen Rekord entspricht.Kommt es zu einem weitgehenden Stopp der anthropogen ausgestoßenen Klimagase („Klimaneutralität“), werden die Ozeane das Absinken der Erdtemperatur stark verlangsamen, da ihre hohen Wärmespeicherfähigkeit eine große Temperaturträgheit zur Folge hat. ==== Örtliche und zeitliche Verteilung der beobachteten Erwärmung ==== Luft über Landflächen erwärmt sich allgemein stärker als über Wasserflächen, was in der Animation am Anfang dieses Artikels (dritte Stelle ganz oben rechts) erkennbar ist. Die Erwärmung der Landflächen zwischen 1970 und 2014 lag im Mittel bei 0,26 K pro Jahrzehnt und damit doppelt so hoch wie über dem Meer, das sich im selben Zeitraum um 0,13 K pro Dekade erwärmte. Aufgrund dieser unterschiedlichen schnellen Erwärmung von Land und See haben sich viele Regionen an Land bereits um mehr als 1,5 Grad Celsius erwärmt. Die Temperaturen auf der Nordhalbkugel, auf der sich der Großteil der Landflächen befindet, stiegen in den vergangenen 100 Jahren stärker an als auf der Südhalbkugel, wie auch die nebenstehende Grafik zeigt.Die Nacht- und Wintertemperaturen stiegen etwas stärker an als die Tages- und Sommertemperaturen. Aufgeteilt nach Jahreszeiten wurde die größte Erwärmung während der Wintermonate gemessen, und dabei besonders stark über dem westlichen Nordamerika, Skandinavien und Sibirien. Im Frühling stiegen die Temperaturen am stärksten in Europa sowie in Nord- und Ostasien an. Im Sommer waren Europa und Nordafrika am stärksten betroffen, und im Herbst entfiel die größte Steigerung auf den Norden Nordamerikas, Grönland und Ostasien. Besonders markant fiel die Erwärmung in der Arktis aus, wo sie seit Mitte der 1980er Jahre mindestens doppelt so schnell verlief wie im globalen Durchschnitt.Die Erwärmung ist weltweit (mit Ausnahme weniger Regionen) seit 1979 nachweisbar.Für die verschiedenen Luftschichten der Erdatmosphäre wird theoretisch eine unterschiedliche Erwärmung erwartet und faktisch auch gemessen. Während sich die Erdoberfläche und die niedrige bis mittlere Troposphäre erwärmen sollten, lassen Modelle für die höher gelegene Stratosphäre eine Abkühlung vermuten. Tatsächlich wurde genau dieses Muster in Messungen gefunden. Satellitendaten zeigen eine Abnahme der Temperatur der unteren Stratosphäre von 0,314 K pro Jahrzehnt in einem Zeitraum von 30 Jahren. Diese Abkühlung wird zum einen durch den verstärkten Treibhauseffekt und zum anderen durch Ozonschwund durch FCKWs in der Stratosphäre verursacht, siehe auch Montrealer Protokoll zum Schutz der Ozonschicht. Wäre die Sonne maßgebliche Ursache, hätten sich die oberflächennahen Schichten, die niedere bis mittlere Troposphäre und die Stratosphäre erwärmen müssen. Dies heißt nach gegenwärtigem Verständnis, dass der überwiegende Teil der beobachteten Erwärmung durch menschliche Aktivitäten verursacht sein muss. ==== Die zehn wärmsten Jahre seit 1880 ==== Die folgende Tabelle zeigt die zehn wärmsten Jahre im Zeitraum von 1880 bis 2020 – Abweichung von der langjährigen Durchschnitts-Temperatur (1901–2000) in °C ==== Zeitweise Abkühlung oder Pause in der globalen Erwärmung ==== Auch bei Annahme einer Erwärmung um 4 K bis zum Ende des 21. Jahrhunderts wird es im Verlauf immer wieder Phasen der Stagnation oder sogar der Abkühlung geben. Diese Phasen können bis zu ca. 15 Jahre andauern. Ursachen sind der elfjährige Sonnenfleckenzyklus, kühlende starke Vulkanausbrüche sowie die natürliche Eigenschaft des Weltklimas, einen schwingenden Temperaturverlauf zu zeigen (AMO, PDO, ENSO). So kann beispielsweise das Auftreten von El-Niño- bzw. La-Niña-Ereignissen die globale Durchschnittstemperatur von einem Jahr auf das andere um 0,2 K erhöhen bzw. absenken und für wenige Jahre den jährlichen Erwärmungstrend von ca. 0,02 K überdecken, aber auch verstärken. === Rückkopplungen === Das globale Klimasystem ist von Rückkopplungen geprägt, die Temperaturveränderungen verstärken oder abschwächen. Eine die Ursache verstärkende Rückkopplung wird als positive Rückkopplung bezeichnet. Bei bestimmten Zuständen des globalen Klimageschehens sind nach heutigem Kenntnisstand die positiven Rückkopplungen deutlich stärker als die negativen Rückkopplungen, so dass das Klimasystem in einen anderen Zustand kippen kann. Die beiden stärksten, positiv wirkenden Rückkopplungsprozesse sind die Eis-Albedo-Rückkopplung und die Wasserdampf-Rückkopplung. Ein Abschmelzen der Polkappen bewirkt durch verminderte Reflexion einen zusätzlichen Energieeintrag über die Eis-Albedo-Rückkopplung. Die Wasserdampfrückkopplung entsteht dadurch, dass die Atmosphäre bei höheren Temperaturen mehr Wasserdampf enthält. Da Wasserdampf das mit Abstand mächtigste Treibhausgas ist, wird dadurch ein eingeleiteter Erwärmungsprozess weiter verstärkt – unabhängig davon, was diese Erwärmung letztlich ausgelöst hat. Gleiches gilt auch bei einer Abkühlung, die durch dieselben Prozesse weiter verstärkt wird. Zur quantitativen Beschreibung der Reaktion des Klimas auf Veränderungen der Strahlungsbilanz wurde der Begriff der Klimasensitivität etabliert. Mit ihr lassen sich unterschiedliche Einflussgrößen gut miteinander vergleichen. Eine weitere positive Rückkopplung erfolgt durch das CO2 selbst. Mit zunehmender Erderwärmung wird auch das Wasser in den Ozeanen wärmer und kann dadurch weniger CO2 aufnehmen. Als Folge davon kann vermehrt CO2 in die Atmosphäre gelangen, was den Treibhauseffekt zusätzlich verstärken kann. Zurzeit nehmen die Ozeane aber jährlich noch rund 2 Gt Kohlenstoff (das entspricht rund 7,3 Gt CO2) mehr auf als sie im gleichen Zeitraum an die Atmosphäre abgeben, siehe Versauerung der Meere. Neben diesen drei physikalisch gut verstandenen Rückkopplungen existieren jedoch noch weitere Rückkopplungsfaktoren, deren Wirken weit schwieriger abschätzbar ist, insbesondere bezüglich der Wolken, der Vegetation und des Bodens. ==== Bedeutung von Wolken für das Klima ==== Wolken beeinflussen das Klima der Erde maßgeblich, indem sie einen Teil der einfallenden Strahlung reflektieren. Strahlung, die von der Sonne kommt, wird zurück ins All, Strahlung darunter liegender Atmosphärenschichten in Richtung Boden reflektiert. Die Helligkeit der Wolken stammt von kurzwelliger Strahlung im sichtbaren Wellenlängenbereich.Eine größere optische Dicke niedriger Wolken bewirkt, dass mehr Energie ins All zurückgestrahlt wird; die Temperatur der Erde sinkt. Umgekehrt lassen weniger dichte Wolken mehr Sonnenstrahlung passieren, was darunter liegende Atmosphärenschichten wärmt. Niedrige Wolken sind oft dicht und reflektieren viel Sonnenlicht zurück in den Weltraum. Da die Temperaturen in tiefen Schichten der Atmosphäre höher sind, strahlen die Wolken deshalb mehr Wärme ab. Die Tendenz niedriger Wolken ist daher, die Erde zu kühlen.Hohe Wolken sind meist dünn und nicht sehr reflektierend. Sie lassen zwar einen Großteil des Sonnenlichts durch, vermindern die Sonneneinstrahlung daher nur etwas, reflektieren nachts aber einen Teil der Wärmeabstrahlung der Erdoberfläche, wodurch die nächtliche Abkühlung etwas vermindert wird. Da sie sehr hoch liegen, wo die Lufttemperatur sehr niedrig ist, strahlen diese Wolken nicht viel Wärme ab. Die Tendenz hoher Wolken ist, die Erde nachts ein wenig zu erwärmen.Die Vegetation und die Beschaffenheit des Bodens und insbesondere seine Versiegelung, Entwaldung oder landwirtschaftliche Nutzung haben maßgeblichen Einfluss auf die Verdunstung und somit auf die Wolkenbildung und das Klima. Nachgewiesen wurde ebenfalls eine Verminderung der Wolkenbildung durch Pflanzen: diese emittieren bei einem CO2-Anstieg bis zu 15 Prozent weniger Wasserdampf; das wiederum reduziert die Wolkenbildung.Insgesamt wird die globale Erwärmung durch Wolken-Rückkopplungen wahrscheinlich noch verstärkt. Eine 2019 veröffentlichte Simulation deutet darauf hin, dass bei einer CO2-Konzentration über 1.200 ppm Stratocumuluswolken in verstreute Wolken zerfallen könnten, was die globale Erwärmung weiter vorantreiben würde. ==== Einfluss der Vegetation und des Bodens ==== Vegetation und Boden reflektieren je nach Beschaffenheit das einfallende Sonnenlicht unterschiedlich. Reflektiertes Sonnenlicht wird als kurzwellige Sonnenstrahlung in den Weltraum zurückgeworfen (anderenfalls wäre die Erdoberfläche aus Sicht des Weltalls ohne Infrarotkamera schwarz). Die Albedo ist ein Maß für das Rückstrahlvermögen von diffus reflektierenden (reemittierenden), also nicht spiegelnden und nicht selbst leuchtenden Oberflächen. Nicht nur der Verbrauch von fossilen Energieträgern führt zu einer Freisetzung von Treibhausgasen. Die intensive Bestellung von Ackerland und die Entwaldung sind ebenfalls bedeutende Treibhausgasquellen. Die Vegetation benötigt für den Prozess der Photosynthese CO2 zum Wachsen. Der Boden ist eine wichtige Kohlenstoffsenke, da er organisches, kohlenstoffhaltiges Material enthält. Durch ackerbauliche Tätigkeiten wie Pflügen wird dieser gespeicherte Kohlenstoff leichter in Form von CO2 freigesetzt, weil mehr Sauerstoff in den Boden eintreten kann und das organische Material schneller zersetzt wird. Wahrscheinlich nimmt bei steigender Temperatur die Freisetzung von Methan aus Feuchtgebieten zu; über die Höhe der Freisetzung herrscht (Stand 2013) noch Ungewissheit.Im Permafrost Westsibiriens lagern 70 Milliarden Tonnen Methan, in Ozeanen haben sich an den Kontinentalhängen noch viel größere Mengen in Form von Methanhydrat abgelagert. Durch tauenden Permafrostboden wird Kohlenstoff in Form von Kohlenstoffdioxid und Methan in die Atmosphäre freigesetzt und auch Lachgas emittiert, was wiederum die Erderwärmung verstärkt. Allerdings gehen die Forschungsergebnisse hinsichtlich Zeitpunkt, Menge und Form dieses Treibhausgas-Ausstoßes noch auseinander. Gemäß IPCC werden pro Grad Erderwärmung zwischen 3 und 41 Petagramm Kohlenstoff bis 2100 freigesetzt, eine Menge, die kleiner ist als durch fossile Energienutzung, aber groß genug, um ein relevanter Faktor bei der Berechnung des verbleibenden CO2-Budgets zu sein. === Prognostizierte Erwärmung === Bei einer Verdoppelung der CO2-Konzentration in der Atmosphäre gehen Klimaforscher davon aus, dass sich die Erdmitteltemperatur um 3 K erhöht; das zugehörige Konfidenzintervall (likely range) wird mit 2,5 K bis 4 K angegeben. Dieser Wert ist auch als Klimasensitivität bekannt und ist auf das vorindustrielle Niveau (von 1750) bezogen, ebenso wie der dafür maßgebende Strahlungsantrieb. Mit dieser Größe werden alle bekannten, die Strahlungsbilanz der Erde beeinflussenden Faktoren vom IPCC quantitativ beschrieben und vergleichbar gemacht. Das IPCC rechnet gemäß 5. Sachstandsbericht bis zum Jahr 2100 mit einer Zunahme der globalen Durchschnittstemperatur um 1,0 bis 3,7 K (bezogen auf 1986–2005 und abhängig vom THG-Emissionspfad und angewandtem Klimamodell). Zum Vergleich: Die schnellste Erwärmung im Verlauf von der letzten Eiszeit zur heutigen Warmzeit war eine Erwärmung um etwa ein Grad pro 1000 Jahre.Nach einer Studie an der Carnegie Institution for Science, in der die Ergebnisse eines Kohlenstoff-Zyklus-Modells mit Daten aus Vergleichsuntersuchungen zwischen Klimamodellen des fünften IPCC-Sachstandsberichts ausgewertet wurden, reagiert das globale Klimasystem auf einen CO2-Eintrag mit einer zeitlichen Verzögerung von etwa 10 Jahren mit einer Sprungfunktion; das bedeutet, dass die Erwärmung nach etwa 10 Jahren ihr Maximum erreicht und dann für sehr lange Zeiträume dort verharrt.Der Climate Action Tracker gibt die wahrscheinlichste, bis zum Ende dieses Jahrhunderts zu erwartende Erderwärmung an. Demnach ist die Welt aktuell (November 2021) auf dem Weg zu einer Erwärmung um 2,1 °C bzw. 2,7 °C im Vergleich zur vorindustriellen globalen Durchschnittstemperatur. Zur Berechnung dieses Wertes werden die Selbstverpflichtungen der wichtigsten Emittenten, die Treibhausgasemissionen zu verringern, in ein Klimamodell eingespeist. ==== Langfristige Betrachtung und daraus resultierende Konsequenzen ==== Nach einer im Jahr 2009 erschienenen Studie wird die gegenwärtig bereits angestoßene Erwärmung noch für mindestens 1000 Jahre irreversibel sein, selbst wenn heute alle Treibhausgasemissionen vollständig gestoppt würden. In weiteren Szenarien wurden die Emissionen schrittweise bis zum Ende unseres Jahrhunderts fortgesetzt und dann ebenfalls abrupt beendet. Dabei wurden wesentliche Annahmen und Aussagen, die im 4. IPCC-Bericht über die folgenden 1000 Jahre gemacht wurden, bestätigt und verfeinert. Langfristige Klimasimulationen deuten darauf hin, dass sich die von einer erhöhten Kohlenstoffdioxidkonzentration aufgeheizte Erde nur um ca. ein Grad pro 12.000 Jahre abkühlen wird.Ein komplettes Verbrennen der fossilen Energieressourcen, die konservativ auf 5 Billionen Tonnen Kohlenstoff geschätzt werden, würde hingegen zu einem weltweiten Temperaturanstieg von ca. 6,4 bis 9,5 °C führen, was sehr starke negative Auswirkungen auf Ökosysteme, menschliche Gesundheit, Landwirtschaft, die Wirtschaft usw. hätte. Würden neben konventionellen auch unkonventionelle Ressourcen verbrannt, könnte die Kohlendioxidkonzentration in der Erdatmosphäre bis auf ca. 5000 ppm bis zum Jahr 2400 ansteigen. Neben einer enormen Temperaturerhöhung würde hierbei der Antarktische Eisschild fast vollständig abschmelzen, womit der Meeresspiegel auch ohne Einberechnung des grönländischen Eisschildes um ca. 58 m steigen würde. == Forschungsstand == === Wissenschaftsgeschichte === Im Jahr 1824 entdeckte Jean Baptiste Joseph Fourier den Treibhauseffekt. Eunice Newton Foote untersuchte als erste experimentell die Wirkung von Sonnenbestrahlung auf luftdicht verschlossene Glasröhren, die mit verschiedenen Gasen gefüllt waren. Sie wies die Absorption von Wärmestrahlung durch Kohlenstoffdioxid und Wasserdampf nach, erkannte darin eine mögliche Ursache für Klimawandel-Ereignisse und veröffentlichte ihre Ergebnisse 1856. Dies wurde erst 2010 bekannt. John Tyndall gelang es 1859, konkret die Absorption der von der Erdoberfläche ausgehenden langwelligen Infrarotstrahlung durch Treibhausgase nachzuweisen; er bestimmte die relative Bedeutung von Wasserdampf gegenüber Kohlenstoffdioxid und Methan für den natürlichen Treibhauseffekt. An Tyndall anknüpfend veröffentlichte Svante Arrhenius 1896 die Hypothese, dass die anthropogene CO2-Anreicherung in der Atmosphäre die Erdtemperatur erhöhen könne. Damals begann die „Wissenschaft von der globalen Erwärmung“ im engeren Sinne. Im Jahr 1908 publizierte der britische Meteorologe und spätere Präsident der Royal Meteorological Society Ernest Gold (1881–1976) einen Aufsatz zur Stratosphäre. Er schrieb darin, dass die Temperatur der Tropopause mit steigender CO2-Konzentration steigt. Dies ist ein Kennzeichen der globalen Erwärmung, das fast ein Jahrhundert später auch gemessen werden konnte.In den späten 1950er Jahren wurde erstmals nachgewiesen, dass der Kohlenstoffdioxidgehalt der Atmosphäre ansteigt. Auf Initiative von Roger Revelle startete Charles David Keeling 1958 auf dem Berg Mauna Loa (Hawaii, Big Island) regelmäßige Messungen des CO2-Gehalts der Atmosphäre (Keeling-Kurve). Gilbert Plass nutzte 1956 erstmals Computer und erheblich genauere Absorptionsspektren des CO2 zur Berechnung der zu erwartenden Erwärmung. Er erhielt 3,6 K (3,6 °C) als Wert für die Klimasensitivität.Die ersten Computerprogramme zur Modellierung des Weltklimas wurden Ende der 1960er Jahre geschrieben. 1979 schrieb die National Academy of Sciences der USA im „Charney-Report“, dass ein Anstieg der Kohlenstoffdioxidkonzentration ohne Zweifel mit einer signifikanten Erwärmung verknüpft sei; deutliche Effekte seien aufgrund der Trägheit des Klimasystems jedoch erst in einigen Jahrzehnten zu erwarten.Der US-Klimaforscher James E. Hansen sagte am 23. Juni 1988 vor dem Energy and Natural Resources Committee des US-Senats, er sei zu 99 Prozent davon überzeugt, dass die jeweilige Jahresrekordtemperatur nicht das Resultat natürlicher Schwankungen sei. Dies gilt als die erste derartige Äußerung eines Wissenschaftlers vor einem politischen Gremium. Bereits in dieser Sitzung wurden Forderungen nach politischen Maßnahmen gestellt, um die globale Erwärmung zu verlangsamen. Im November 1988 wurde der Weltklimarat (IPCC) gegründet, der den politischen Entscheidungsträgern und Regierungen zuarbeiten soll. Im IPCC wird der wissenschaftliche Erkenntnisstand zur globalen Erwärmung und zum anthropogenen Anteil daran diskutiert, abgestimmt und in Berichten zusammengefasst. === Anthropogene globale Erwärmung im Kontext der Erdgeschichte === Die Erforschung von Ursachen und Folgen der globalen Erwärmung ist seit ihrem Beginn eng mit der Analyse der klimatischen Bedingungen vergangener Zeiten verknüpft. Svante Arrhenius, der als Erster darauf hinwies, dass der Mensch durch die Emission von CO2 die Erde erwärmt, erkannte bei der Suche nach den Ursachen der Eiszeiten den klimatischen Einfluss wechselnder Konzentrationen von Kohlenstoffdioxid in der Erdatmosphäre.So wie Erdbeben und Vulkanausbrüche sind auch Klimawandel etwas Natürliches. Seit der Entstehung der Erde hat sich das Erdklima ständig verändert, und es wird sich auch künftig ändern. In erster Linie verantwortlich dafür waren eine wechselnde Konzentration und Zusammensetzung der Treibhausgase in der Atmosphäre durch die unterschiedliche Intensität von Vulkanismus und Erosion. Weitere klimawirksame Faktoren sind die variable Sonneneinstrahlung, unter anderem durch die Milanković-Zyklen, sowie eine durch die Plattentektonik verursachte permanente Umgestaltung und Verschiebung der Kontinente. Landmassen an den Polen förderten die Bildung von Eiskappen, und veränderte Meeresströmungen lenkten Wärme entweder von den Polen weg oder zu diesen hin und beeinflussten auf diese Weise die Stärke der sehr mächtigen Eis-Albedo-Rückkopplung.Obwohl Leuchtkraft und Strahlungsleistung der Sonne am Beginn der Erdgeschichte etwa 30 Prozent geringer als heute waren, herrschten in der gesamten Zeit Bedingungen, unter denen flüssiges Wasser existieren konnte. Dieses Phänomen (Paradoxon der schwachen jungen Sonne) führte in den 1980er Jahren zur Hypothese eines „CO2-Thermostats“: Es hielt die Temperaturen der Erde über Jahrmilliarden konstant in Bereichen, in denen Leben auf der Erde möglich war. Wenn Vulkane vermehrt CO2 ausstießen, so dass die Temperaturen anstiegen, erhöhte sich der Grad der Verwitterung, wodurch mehr CO2 gebunden wurde. War die Erde kalt und die Konzentration des Treibhausgases gering, wurde die Verwitterung durch die Vereisung weiter Landflächen stark verringert. Das durch den Vulkanismus weiter in die Atmosphäre strömende Treibhausgas reicherte sich dort bis zu einem gewissen Kipppunkt an und verursachte dann ein globales Tauwetter. Der Nachteil dieses Mechanismus besteht darin, dass er mehrere Jahrtausende für die Korrektur von Treibhausgaskonzentrationen und Temperaturen benötigt, und es sind mehrere Fälle bekannt, bei denen er versagte. Man nimmt an, dass die große Sauerstoffkatastrophe vor 2,3 Milliarden Jahren einen Zusammenbruch der Methankonzentration in der Atmosphäre bewirkte. Dies verminderte den Treibhauseffekt so stark, dass daraus eine großflächige und lang andauernde Vereisung der Erde während der Huronischen Eiszeit resultierte. Im Verlauf – vermutlich mehrerer – Schneeball-Erde-Ereignisse während des Neoproterozoikums vor rund 750 bis 635 Millionen Jahren fror die Erdoberfläche erneut fast vollkommen zu. Das letzte derartige Ereignis fand unmittelbar vor der kambrischen Explosion vor 640 Millionen Jahren statt und wird Marinoische Eiszeit genannt. Die helle Oberfläche der fast vollständig gefrorenen Erde reflektierte nahezu die gesamte einfallende Sonnenenergie zurück ins All und hielt die Erde so im Eiszeitzustand gefangen; dies änderte sich erst, als die Konzentration von Kohlenstoffdioxid in der Erdatmosphäre, bedingt durch den unter dem Eis fortdauernden Vulkanismus, auf extrem hohe Werte gestiegen war. Da das CO2-Thermostat auf Veränderungen nur träge reagiert, taute die Erde nicht nur auf, sondern stürzte in der Folge für einige Jahrzehntausende in das andere Extrem eines Supertreibhauses. Das Ausmaß der Vereisung ist jedoch in der Wissenschaft umstritten, weil Klimadaten aus dieser Zeit ungenau und lückenhaft sind. Nach neueren Untersuchungen trat eine ähnliche Konstellation am Karbon-Perm-Übergang vor etwa 300 Millionen Jahren ein, als sich die atmosphärische Kohlenstoffdioxid-Konzentration auf ein Minimum von wahrscheinlich 100 ppm verringerte. Dadurch rückte das Erdklimasystem in die unmittelbare Nähe jenes Kipppunkts, der den Planeten in den Klimazustand einer globalen Vereisung überführt hätte.Hingegen war die Erde zur Zeit des wahrscheinlich größten Massenaussterbens vor 252 Millionen Jahren ein Supertreibhaus mit sehr viel höheren Temperaturen als heute. Diese drastische Temperaturerhöhung, die an der Perm-Trias-Grenze fast alles Leben auf der Erde auslöschte, wurde sehr wahrscheinlich von einer lang andauernden intensiven Vulkantätigkeit verursacht, die zur Entstehung des sibirischen Trapps führte. Aktuelle Isotopenuntersuchungen deuten darauf hin, dass sich die damaligen Meere innerhalb eines relativ kurzen Zeitraums um bis zu 8 K erwärmten und parallel dazu stark versauerten. Während dieser und anderer Phasen extrem hoher Temperaturen enthielten die Ozeane zu großen Teilen keinen Sauerstoff. Derartige ozeanische anoxische Ereignisse wiederholten sich in der Erdgeschichte mehrfach. Man weiß heute, dass sowohl Phasen starker Abkühlung, wie beispielsweise während der Grande Coupure, als auch rapide Erwärmungen von Massenaussterben begleitet wurden. Der Paläontologe Peter Ward behauptet sogar, dass alle bekannten Massenaussterben der Erdgeschichte mit Ausnahme des KT-Impakts durch Klimakrisen ausgelöst wurden. Das Klima der letzten 10.000 Jahre war im Vergleich zu den häufigen und starken Schwankungen der vorangegangenen Jahrtausende ungewöhnlich stabil. Diese Stabilität gilt als Grundvoraussetzung für die Entwicklung und den Fortbestand der menschlichen Zivilisation. Zuletzt kam es während des Paläozän/Eozän-Temperaturmaximums und beim Eocene Thermal Maximum 2 zu einer schnellen und starken globalen Erwärmung, die von einem massiven Eintrag von Kohlenstoff (CO2 und/oder Methan) in die Atmosphäre verursacht wurde. Diese Epochen sind daher Gegenstand intensiver Forschungen, um daraus Erkenntnisse über mögliche Auswirkungen der laufenden menschengemachten Erwärmung zu gewinnen.Der laufende und für die kommenden Jahre erwartete Klimawandel hat möglicherweise das Ausmaß großer Klimaveränderungen der Erdgeschichte, die vorhergesagte kommende Temperaturänderung läuft aber mindestens um einen Faktor 20 schneller ab als in allen globalen Klimawandeln der letzten 65 Millionen Jahre. Betrachtet man die Geschwindigkeit der Erwärmungsphasen von Eiszeiten zu Zwischeneiszeiten, wie sie in den letzten ca. 500.000 Jahren fünfmal vorkamen, so kam es dort jeweils zu Phasen der schnellen Erwärmung. Diese Phasen dauerten jeweils ca. 10.000 Jahre an und waren durch einen Anstieg von insgesamt ca. 4 bis 5 °C gekennzeichnet. Bei der derzeitigen menschengemachten Erwärmung wurde der Anstieg, ohne erhebliche Maßnahmen zum Klimaschutz, ebenfalls mit ca. 4 bis 5 °C berechnet – nur dass dieser Prozess in 100 statt 10.000 Jahren abläuft.Anhand der bald zweihundert Jahre umfassenden Datenlage und Forschung ist davon auszugehen, dass die Epoche des Pliozäns ein analoges Beispiel für die nähere Zukunft unseres Planeten sein kann. Der Kohlenstoffdioxid-Gehalt der Atmosphäre im mittleren Pliozän wurde mit Hilfe der Isotopenuntersuchung von Δ13C ermittelt und lag damals im Bereich von 400 ppm, das entspricht der Konzentration des Jahres 2015. Mit Hilfe von Klimaproxies sind Temperatur und Meeresspiegel der Zeit vor 5 Millionen Jahren rekonstruierbar. Zum Beginn des Pliozäns lag die globale Durchschnittstemperatur um 2 K höher als im Holozän; die globale Jahresdurchschnittstemperatur reagiert aufgrund der enormen Wärmekapazität der Weltmeere sehr träge auf Änderungen des Strahlungsantriebs und so ist sie seit Beginn der industriellen Revolution erst um ca. 1 K angestiegen. Die Erwärmung führt unter anderem zu einem Meeresspiegelanstieg. Der Meeresspiegel lag in der Mitte des Pliozäns um rund 20 Meter höher als heute. === Intergovernmental Panel on Climate Change (IPCC) === Der Intergovernmental Panel on Climate Change (IPCC) wurde 1988 vom Umweltprogramm der Vereinten Nationen (UNEP) gemeinsam mit der Weltorganisation für Meteorologie (WMO) eingerichtet und ist der 1992 abgeschlossenen Klimarahmenkonvention beigeordnet. Der IPCC fasst für seine im Abstand von etwa sechs Jahren erscheinenden Berichte die weltweiten Forschungsergebnisse auf dem Gebiet der Klimaveränderung zusammen und bildet damit den aktuellen Stand des Wissens in der Klimatologie ab. Die Organisation wurde 2007, gemeinsam mit dem ehemaligen US-Vizepräsidenten Al Gore, mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet. Der Fünfte Sachstandsbericht ist im September 2013 erschienen. == Wie sicher sind die Erkenntnisse zur globalen Erwärmung? == Seit der Entdeckung des Treibhauseffektes in der Atmosphäre 1824 durch Jean Baptiste Joseph Fourier und der Beschreibung der Treibhauswirkung von Wasserdampf und Kohlenstoffdioxid 1862 durch John Tyndall ist die wissenschaftliche Erforschung des Erd-Klimasystems immer präziser geworden. Inzwischen existiert eine „erdrückend[e] Beweislage“, dass die globale Erwärmung real ist, menschengemacht ist und eine große Bedrohung darstellt.Seit 150 Jahren ist die wärmende Wirkung von Treibhausgasen bekannt, deren Konzentrationsanstieg in der Erdatmosphäre dann Mitte der 50er Jahre des vorigen Jahrhunderts sicher nachgewiesen werden konnte. Die seit Mitte der 1970er Jahre festgestellte, ausgeprägte und bis heute ununterbrochene Erwärmung der Atmosphäre kann mit Hilfe der seitdem deutlich verbesserten Messtechnik nicht primär auf solare Einflüsse oder andere natürliche Faktoren zurückgeführt werden, da sich diese seit dieser Zeit nur minimal veränderten. Grundlegende Forschungen zur Auswirkung der Treibhausgase stammen vom Ozeanographen Veerabhadran Ramanathan aus der Mitte der 1970er Jahre.Mehrere Hunderttausend klimatologischer Studien wurden seitdem veröffentlicht, von denen die große Mehrheit (etwa 97 %) den wissenschaftlichen Konsens zum Klimawandel stützt. Prognosen und Berechnungen, die vor Jahrzehnten getätigt wurden, streuten noch recht groß, haben insgesamt den Trend aber überraschend gut getroffen. Werden die Modelle mit neueren Messwerten gerechnet, vor allem der Strahlungsbilanz zwischen oberer Atmosphäre und dem Weltraum, dann sinkt die Streuung zwischen den Modellen und der Mittelwert für die Erwärmung zum Ende des Jahrhunderts steigt etwas. === Trends und exakte Zeitpunkte === Man unterscheidet in der Klimaforschung zwischen Trend und Zeitpunkt und berechnet dafür die Eintrittswahrscheinlichkeiten. Im Themenumfeld der globalen Erwärmung ist beispielsweise Folgendes nicht genau bekannt: Mehrere Ereignis-Zeitpunkte, darunter der Zeitpunkt, an dem die Arktis im 21. Jahrhundert im Sommer eisfrei sein wird; der exakte Meeresspiegelanstieg bis zum Ende des 21. Jahrhunderts ist ebenfalls nicht bekannt. Unsicherheiten bestehen in der genauen Art, Form, dem Ort und der Verteilung von globalen Kipppunkten im Klimasystem und damit auch verbunden in der Kenntnis der genauen regionalen Auswirkungen der globalen Erwärmung. Die Mehrzahl der relevanten wissenschaftlichen Grundlagen gilt hingegen als sehr gut verstanden. === Der wissenschaftliche Konsens zum Klimawandel === Der Themenkomplex der globalen Erwärmung war zunächst Gegenstand kontroverser Diskussionen mit wechselnden Schwerpunkten. Anfang des 20. Jahrhunderts überwog die Unsicherheit, ob die theoretisch vorhergesagte Erwärmung messtechnisch überhaupt nachweisbar sein würde. Als in den USA während der 1930er Jahre erstmals ein signifikanter Temperaturanstieg in einigen Regionen registriert wurde (→Dust Bowl), galt dies als ein starkes Indiz für eine Erderwärmung; es wurde allerdings bezweifelt, ob die Erwärmung tatsächlich anthropogen (von menschlichen Aktivitäten verursacht) war. Diese Zweifel werden von manchen vorgeblich klimaskeptischen Gruppierungen bis heute geäußert, gelegentlich wurde sogar eine globale Abkühlung für die kommenden Jahrzehnte prognostiziert worden, was Klimaforscher – auch angesichts der Rückkopplungen – für ausgeschlossen halten.Unter Fachwissenschaftlern herrscht seit vielen Jahren ein Konsens bezüglich der menschengemachten globalen Erwärmung, der seit spätestens Anfang der 1990er Jahre besteht. Andere Quellen datieren die Schaffung des wissenschaftlichen Konsens bereits in die 1980er Jahre. So hielt z. B. der 1988 publizierte Zwischenbericht der Enquete-Kommission Vorsorge zum Schutz der Erdatmosphäre fest, dass schon auf der Klimakonferenz von Villach 1985 ein Konsens über Existenz und menschliche Ursache des Klimawandels erzielt worden sei: Der in den IPCC-Berichten zum Ausdruck gebrachte wissenschaftliche Konsens wird von den nationalen und internationalen Wissenschaftsakademien und allen G8-Ländern ausdrücklich geteilt. Auch die Wissenschaftler von diversen Industrieunternehmen der Energiebranche kamen intern zu den gleichen Schlussfolgerungen, auch wenn die Unternehmen den menschengemachten Klimawandel öffentlich teils über Jahrzehnte bestritten. Beispielsweise war die Lobbyorganisation der US-Erdöl- und Erdgasindustrie, das American Petroleum Institute, seit spätestens den 1950er Jahren über die (nach damaligem Forschungsstand) potentiell menschengemachte globale Erwärmung informiert, die US-Kohleindustrie seit spätestens den 1960er Jahren, US-Elektrizitätsversorgungsunternehmen, Exxon, Total, Ford, General Motors seit spätestens den 1970er Jahren und Shell seit spätestens den 1980er Jahren.Der wissenschaftliche Konsens zum Klimawandel besteht in der Feststellung, dass sich das Erd-Klimasystem erwärmt und weiter erwärmen wird. Dies wird anhand von Beobachtungen der steigenden Durchschnittstemperatur der Luft und Ozeane, großflächigem Abschmelzen von Schnee- und Eisflächen und dem Meeresspiegelanstieg ermittelt. Mit mindestens 95-prozentiger Sicherheit wird dies hauptsächlich durch Treibhausgase (Verbrennung von fossilen Energieträgern, Methanausstoß bei der Viehhaltung, Freisetzung von CO2 bei der Zementherstellung,) sowie durch die Rodungen von Waldgebieten verursacht. Die American Association for the Advancement of Science – die weltweit größte wissenschaftliche Gesellschaft – erklärte bereits 2001, dass sich 97 % aller Klimatologen einig sind, dass ein vom Menschen verursachter Klimawandel stattfindet, und betonte den zu vielen Aspekten der Klimatologie herrschenden Konsens. Spätestens seit der Jahrtausendwende wird der Wissensstand um die mit dem Klimawandel verbundenen Folgen als ausreichend sicher angesehen, um umfangreiche Klimaschutzmaßnahmen zu rechtfertigen.Laut einer 2014 veröffentlichten Studie bestand unter der Annahme keines anthropogenen Treibhauseffekts nur eine Wahrscheinlichkeit von 0,001 % für das tatsächlich eingetretene Ereignis von mindestens 304 Monaten in Folge (von März 1985 bis zum Stand der Analyse Juni 2010) mit einem Monatsmittel der globalen Temperatur über dem Mittelwert für das 20. Jahrhundert. === Leugnung der menschengemachten globalen Erwärmung === Obwohl innerhalb der Wissenschaft seit Jahrzehnten ein starker Konsens hinsichtlich der menschengemachten globalen Erwärmung herrscht, lehnen Teile der Öffentlichkeit sowie eine Vielzahl politischer und wirtschaftlicher Akteure bis heute weiterhin die Existenz des Klimawandels, seine menschliche Ursache, die damit einhergehenden negativen Folgen oder den wissenschaftlichen Konsens darüber ab. Bei der Leugnung des menschengemachten Klimawandels handelt es sich um eine Form von Pseudowissenschaft, die Ähnlichkeiten aufweist mit weiteren Formen der Wissenschaftsleugnung wie beispielsweise dem Bestreiten der Evolutionstheorie oder der gesundheitsschädlichen Auswirkungen des Rauchens bis hin zum Glauben an Verschwörungstheorien. Zum Teil bestehen zwischen diesen genannten Formen der Leugnung wissenschaftlicher Erkenntnisse personelle, organisatorische und ökonomische Verbindungen. Ein zentrales Verbindungsmuster ist unter anderem die beständige Fabrizierung künstlicher Kontroversen wie der vermeintlichen Kontroverse um die globale Erwärmung, bei der es sich, entgegen der Annahme in der Öffentlichkeit, nicht um eine wissenschaftliche Diskussion handelt, sondern vielmehr um die bewusste Verbreitung von Falschbehauptungen durch Klimaleugner. Die Verleugnung der Klimaforschung gilt als die „mit Abstand am stärksten koordinierte und finanzierte Form der Wissenschaftsleugnung“ und stellt zugleich das Rückgrat der Anti-Umweltbewegung und ihrer Gegnerschaft gegen die Umweltforschung dar.Deutlich ausgeprägt ist die Ablehnung des wissenschaftlichen Konsenses insbesondere in Staaten, in denen mit großem finanziellen Einsatz durch Unternehmen, v. a. aus der Branche der fossilen Energien, eine einflussreiche Kontrabewegung geschaffen wurde, deren Ziel es ist, die Existenz des wissenschaftlichen Konsenses durch bewusstes Säen von Zweifeln zu untergraben. Besonders erfolgreich waren diese Aktionen unter konservativen Bevölkerungsteilen in den USA. Eine wichtige Rolle bei der Verschleierung des Standes der Wissenschaft spielen konservative Denkfabriken.Zu den wichtigsten Kräften der organisierten Klimaleugnerbewegung, die die Existenz der menschengemachten globalen Erwärmung durch gezielte Attacken auf die Klimaforschung abstreiten, zählen das Cato Institute, das Competitive Enterprise Institute, das George C. Marshall Institute sowie das Heartland Institute, allesamt konservativ ausgerichtete Think Tanks. Ihr Ziel war und ist es, mittels der Strategie Fear, Uncertainty and Doubt in der Bevölkerung Unsicherheit und Zweifel an der Existenz der globalen Erwärmung zu schaffen, um anschließend zu argumentieren, dass es nicht genügend Belege dafür gebe, konkrete Klimaschutzmaßnahmen zu ergreifen. Insgesamt stehen der US-Klima-Contrarian-Bewegung rund 900 Millionen Dollar pro Jahr für Kampagnenzwecke zur Verfügung. Die überwältigende Mehrheit der Mittel stammt von politisch konservativen Organisationen, wobei die Finanzierung zunehmend über Donors-Trust-Organisationen verschleiert wird. Die Mehrheit der Literatur, die dem menschengemachten Klimawandel widerspricht, wurde ohne Peer-Review publiziert, ist üblicherweise pseudowissenschaftlicher Natur (d. h. wirkt äußerlich wissenschaftlich, ohne aber wissenschaftliche Qualitätsstandards zu erfüllen), wurde zum großen Teil von Organisationen und Unternehmen finanziert, die von der Nutzung fossiler Energieträger profitieren, und steht in Verbindung mit konservativen Think Tanks. == Folgen der globalen Erwärmung == Wegen der Auswirkungen auf menschliche Sicherheit, Gesundheit, Wirtschaft und Umwelt ist die globale Erwärmung mit Risiken behaftet. Diese Risiken werden mit zunehmender Erwärmung stärker und sind bei 2 Grad Erwärmung höher als bei einer Begrenzung der Erderwärmung auf 1,5 Grad. Negative Auswirkungen der globalen Erwärmung treten bereits heute auf und haben u. a. bereits viele Ökosysteme an Land und im Wasser beeinträchtigt. Einige schon heute wahrnehmbare Veränderungen wie die verringerte Schneebedeckung, der steigende Meeresspiegel oder die Gletscherschmelze gelten neben den Temperaturmessungen auch als Belege für den Klimawandel. Konsequenzen der globalen Erwärmung wirken sowohl direkt auf den Menschen als auch auf Ökosysteme. Dazu verstärkt der Klimawandel viele andere gravierende Probleme wie z. B. den Artenschwund oder die Bodendegradation, sodass die Bekämpfung des Klimawandels zugleich eine Schlüsselmaßnahme für das Lösen anderer dringender Probleme auf dem Weg hin zu einer nachhaltigen Lebensweise ist.Wissenschaftler berechnen verschiedene direkte und indirekte Auswirkungen auf Hydrosphäre, Atmosphäre und Biosphäre. Im Bericht des Weltklimarats (IPCC) werden diesen Hochrechnungen jeweils Wahrscheinlichkeiten zugeordnet. Zu den Folgen zählen Hitzewellen, die zu einer Häufung von Todesfällen durch Hitzschlag führen werden, besonders in den Tropen. Hunderte Millionen Menschen werden vom Anstieg des Meeresspiegels und Missernten, welche die globale Ernährungssicherheit gefährden, betroffen sein. Eine sich stark erwärmende Welt ist, so ein Weltbank-Bericht, mit erheblichen Beeinträchtigungen für den Menschen verbunden. === Unerwartete Veränderungen und „Tipping Points“ === Man unterscheidet mindestens zwei Arten unerwarteter Effekte: Kombinierte Effekte, bei denen mehrere Extremereignisse zusammen wirken und ihre Wirkung gegenseitig verstärken (beispielsweise Dürren und Großbrände), und Kippelemente. Bedingt durch die vielfachen Rückkopplungen im Erdsystem reagiert dieses auf Einflüsse oftmals nichtlinear, das heißt, Veränderungen vollziehen sich in diesen Fällen nicht kontinuierlich, sondern sprunghaft. Es gibt eine Reihe von Kippelementen, die bei fortschreitender Erwärmung wahrscheinlich abrupt einen neuen Zustand einnehmen werden, der ab einem gewissen Punkt (Tipping-Point) schwer oder gar nicht umkehrbar sein wird. Beispiele für Kippelemente sind das Abschmelzen der arktischen Eisdecke oder eine Verlangsamung der thermohalinen Zirkulation.Andere Beispiele für abrupte Ereignisse sind das plötzliche Aussterben einer Art, die – womöglich durch andere Umweltfaktoren vorbelastet – durch ein klimatisches Extremereignis eliminiert wird, oder die Wirkung steigender Meeresspiegel. Diese führen nicht unmittelbar zu Überschwemmungen, sondern erst wenn im Rahmen von z. B. Sturmfluten ein vormals ausreichender Damm überschwemmt wird. Auch der Meeresspiegelanstieg selbst kann sich durch nichtlineare Effekte in sehr kurzer Zeit rasch beschleunigen, wie dies in der Klimageschichte beispielsweise beim Schmelzwasserpuls 1A der Fall war.Untersuchungen von klimatischen Veränderungen in der Erdgeschichte zeigen, dass Klimawandel in der Vergangenheit nicht nur graduell und langsam abliefen, sondern bisweilen sehr rasch. So war am Ende der jüngeren Dryas und während der Dansgaard-Oeschger-Ereignisse in der letzten Kaltzeit regional eine Erwärmung um 8 °C in etwa 10 Jahren zu beobachten. Nach heutigem Kenntnisstand erscheint es wahrscheinlich, dass diese schnellen Sprünge im Klimasystem auch künftig stattfinden werden, wenn bestimmte Kipppunkte überschritten werden. Da die Möglichkeit, das Klima in Klimamodellen abzubilden, nie vollständig der Realität entsprechen wird, das Klimasystem aufgrund seiner chaotischen Natur grundsätzlich nicht im Detail vorhersagbar ist und sich die Welt überdies zunehmend außerhalb des Bereichs bewegt, für den verlässliche Klimadaten der Vergangenheit vorliegen, können weder Art, Ausmaß noch Zeitpunkt solcher Ereignisse vorhergesagt werden.Jedoch berechneten Will Steffen und andere im Jahr 2018 wahrscheinliche Temperaturbereiche der Erderwärmung, in denen kritische Schwellen für Kippelemente erreicht werden können, so dass „diese in fundamental andersartige Zustände versetzt werden.“ Durch Rückkopplungen könnten weitere Kippelemente ausgelöst werden, deren Veränderung erst für höhere Temperaturbereiche zu erwarten sei. So werde die thermohaline Zirkulation durch ein schon bei einer Erderwärmung zwischen 1 und 3 Grad mögliches starkes Abschmelzen des Grönlandeises beeinflusst. Ihr Zusammenbruch ist wiederum rückgekoppelt mit der El Niño-Southern Oscillation, dem teilweisen Absterben des Amazonas-Regenwaldes und dem Abschmelzen von antarktischem Meer-, später Festlandeis. Schon bei Einhalten des Klimaziels von 2 Grad globaler Erwärmung drohe daher das Risiko eines Dominoeffekts, einer Kaskade, die das Klima unkontrollierbar und irreversibel in ein Warmklima führen würde, mit langfristig etwa 4 bis 5 Grad höheren Temperaturen und einem Meeresspiegelanstieg um 10 bis 60 Meter. === Auswirkungen auf die Biosphäre === Die Risiken für Ökosysteme auf einer sich erwärmenden Erde wachsen mit jedem Grad des Temperaturanstiegs. Die Risiken unterhalb einer Erwärmung von 1 K gegenüber dem vorindustriellen Wert sind vergleichsweise gering. Zwischen 1 und 2 K Erwärmung liegen auf regionaler Ebene mitunter substanzielle Risiken vor. Eine Erwärmung oberhalb von 2 K birgt erhöhte Risiken für das Aussterben zahlreicher Tier- und Pflanzenarten, deren Lebensräume nicht länger ihren Anforderungen entsprechen. Beispielsweise geht der IPCC davon aus, dass die weltweiten Korallenriffe bei einer Erwärmung von 1,5 Grad um 70-90 % zurückgehen werden. Bei 2 Grad Erwärmung rechnet der IPCC mit einem Rückgang um mehr als 99 % und damit einem nahezu vollständigen Verschwinden der Korallenriffe. Bei über 2 K Temperaturanstieg drohen der Kollaps von Ökosystemen und signifikante Auswirkungen auf Wasser sowie Nahrungsmittelvorräte durch Ernteausfall. Durch gestiegene Niederschlagsmengen, Temperatur und CO2-Gehalt der Atmosphäre hat das Pflanzenwachstum in den letzten Jahrzehnten zugenommen. Es stieg zwischen 1982 und 1999 um sechs Prozent im weltweiten Durchschnitt, besonders in den Tropen und der gemäßigten Zone der Nordhalbkugel. Risiken für die menschliche Gesundheit sind teils unmittelbare Folge steigender Lufttemperaturen. Hitzewellen werden häufiger, während extreme Kälteereignisse wahrscheinlich seltener werden. Während die Zahl der Hitzetoten wahrscheinlich steigen wird, wird die Zahl der Kältetoten abnehmen. Trotz globaler Erwärmung kann es lokal und vorübergehend zu Kälteereignissen kommen. Klimasimulationen sagen beispielsweise voraus, dass es durch das Schmelzen des Arktiseises zu starken Störungen der Luftströmungen kommen kann. Hierdurch könnte sich die Wahrscheinlichkeit des Auftretens extrem kalter Winter in Europa und Nordasien verdreifachen. Die landwirtschaftliche Produktivität wird sowohl von einer Temperaturerhöhung als auch von einer Veränderung der Niederschläge betroffen sein. Global ist, grob gesehen, mit einer Verschlechterung des Produktionspotenzials zu rechnen. Das Ausmaß dieses Negativtrends ist jedoch mit Unsicherheit behaftet, da unklar ist, ob durch gestiegene Kohlenstoffkonzentrationen ein Düngungseffekt eintritt (−3 %) oder nicht (−16 %). Tropische Regionen werden Modellrechnungen zufolge jedoch stärker betroffen sein als gemäßigte Regionen, in denen mit Kohlenstoffdüngung sogar teilweise deutliche Produktivitätszuwächse erwartet werden. Zum Beispiel wird für Indien mit einem Einbruch von ca. 30–40 % bis 2080 gerechnet, während die Schätzungen für die Vereinigten Staaten und China je nach Kohlenstoffdüngungs-Szenario zwischen −7 % und +6 % liegen. Hinzu kommen wahrscheinliche Veränderungen der Verbreitungsgebiete und Populationen von Schädlingen. Ebenfalls nach Modellrechnungen werden bei ungebremstem Klimawandel weltweit jährlich ca. 529.000 Todesfälle infolge von schlechterer Ernährung, insbesondere dem Rückgang von Obst- und Gemüsekonsum, erwartet. Bei einem strengen Klimaschutzprogramm (Umsetzung des RCP 2.6-Szenarios) könnte die Zahl der zusätzlichen Toten hingegen auf ca. 154.000 begrenzt werden. Es wird zu Änderungen von Gesundheitsrisiken für Menschen und Tiere infolge von Veränderungen des Verbreitungsgebiets, der Population und des Infektionspotentials von Krankheitsüberträgern kommen. === Auswirkungen auf Hydrosphäre und Atmosphäre === Durch die steigenden Lufttemperaturen verändern sich weltweit Verteilung und Ausmaß der Niederschläge. Gemäß der Clausius-Clapeyron-Gleichung kann die Atmosphäre mit jedem Grad Temperaturanstieg ca. 7 % mehr Wasserdampf aufnehmen, der wiederum als Treibhausgas wirkt. Dadurch steigt zwar global die durchschnittliche Niederschlagsmenge, in einzelnen Regionen wird jedoch auch die Trockenheit zunehmen, einerseits durch Rückgang der dortigen Niederschlagsmengen, aber auch durch die bei höheren Temperaturen beschleunigte Verdunstung. Die zunehmende Verdunstung führt zu einem höheren Risiko für Starkregen, Überschwemmungen und Hochwasser. Es kommt weltweit zu einer verstärkten Gletscherschmelze. Im Zuge der globalen Erwärmung kommt es zu einem Anstieg des Meeresspiegels. Dieser erhöhte sich im 20. Jahrhundert um 1–2 cm pro Jahrzehnt und beschleunigt sich. Zu Beginn des 21. Jahrhunderts lag die Rate bei 3–4 cm. Bis zum Jahr 2100 erwartet das IPCC einen weiteren Meeresspiegelanstieg um wahrscheinlich 0,29–0,59 m bei strengem Klimaschutz und 0,61–1,10 m bei weiter zunehmenden Treibhausgasemissionen; ein Meeresspiegelanstieg von bis zu 2 m kann nicht ausgeschlossen werden. In den kommenden 2000 Jahren wird von einem Meeresspiegelanstieg in Höhe von ca. 2,3 m pro zusätzlichem Grad Celsius Erwärmung ausgegangen. Es gibt Anzeichen, dass Kipppunkte bereits überschritten sind, die ein Abschmelzen eines Teils der Westantarktis beschleunigen. Dies könnte den Meeresspiegel langfristig um drei Meter erhöhen. Ein weitgehendes Abschmelzen der Eismassen von Grönland gilt innerhalb von 1000 Jahren als möglich und würde den Meeresspiegel um sieben Meter erhöhen. Ein Abschmelzen der gesamten Eisschicht der Antarktis erhöht den Pegel um zusätzliche 57 Meter. Solch ein Szenario ist aber nicht abzusehen. Laut der World Meteorological Organization gibt es bislang Anhaltspunkte für und wider ein Vorhandensein eines anthropogenen Signals in den bisherigen Aufzeichnungen über tropische Wirbelstürme, doch bislang können keine gesicherten Schlussfolgerungen gezogen werden. Die Häufigkeit tropischer Stürme wird wahrscheinlich abnehmen, ihre Intensität aber zunehmen. Es gibt Hinweise, dass die globale Erwärmung über eine Veränderung der Rossby-Wellen (großräumige Oszillationen von Luftströmen) zum vermehrten Auftreten von Wetterextremen (z. B. Hitzeperioden, Überschwemmungen) führt. === Friedens- und Weltordnung, Politik === Das Weltwirtschaftsforum Davos stuft in seinem Bericht Global Risks 2013 den Klimawandel als eines der wichtigsten globalen Risiken ein: Das Wechselspiel zwischen der Belastung der wirtschaftlichen und ökologischen Systeme werde unvorhersehbare Herausforderungen für globale und nationale Widerstandsfähigkeiten darstellen.Verschiedene Militärstrategen und Sicherheitsexperten befürchten geopolitische Verwerfungen infolge von Klimaveränderungen, die sicherheitspolitische Risiken für die Stabilität der Weltordnung und den „Weltfrieden“ bergen, auch der UN-Sicherheitsrat gab 2011 auf Initiative Deutschlands eine entsprechende Erklärung ab. Der ehemalige deutsche Außenminister Frank-Walter Steinmeier bewertete im April 2015 nach Erscheinen einer zum „G7“-Außenminister-Treffen in Lübeck verfassten europäischen Studie den Klimawandel ebenfalls als „eine wachsende Herausforderung für Frieden und Stabilität“. Die Studie empfiehlt u. a. die Einrichtung einer G7-Taskforce. === Sozialwissenschaftliche Aspekte === === Wirtschaft === Die wirtschaftlichen Folgen des globalen Klimawandels sind nach gegenwärtigen Schätzungen beträchtlich: Das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung schätzte 2004/5, dass ohne zügig umgesetzten Klimaschutz der Klimawandel bis zum Jahr 2050 bis zu 200.000 Milliarden US-Dollar volkswirtschaftliche Kosten verursachen könnte (wobei diese Schätzung mit großen Unsicherheiten behaftet ist). Der Stern-Report (er wurde Mitte 2005 von der damaligen britischen Regierung in Auftrag gegeben) schätzte die durch den Klimawandel bis zum Jahr 2100 zu erwartenden Schäden auf 5 bis 20 Prozent der globalen Wirtschaftsleistung. Nach einem im Vorfeld der im November 2017 in Bonn stattfindenden 23. UN-Klimakonferenz („COP 23“) veröffentlichten Lancet-Report hat sich die Zahl der wetterbedingten Naturkatastrophen seit 2000 um 46 % erhöht; allein 2016 sei dadurch ein ökonomischer Schaden von 126 Mrd. Dollar entstanden.Siehe auch „Klimafinanzierung“, Klimaversicherung, Loss and Damage, Unternehmerische Klimarisiken == Begrenzung der globalen Erwärmung == Um die Erdtemperatur zu stabilisieren und die Folgen der globalen Erwärmung zu begrenzen, muss der Treibhausgasausstoß weltweit auf Netto-Null begrenzt werden, da für jedes Temperaturziel nur ein gewisses globales CO2-Budget zur Verfügung steht. Im Umkehrschluss bedeutet dies, dass die Erderwärmung so lange weiter fortschreitet, wie netto Treibhausgase emittiert werden und damit die Gesamtmenge an Treibhausgasen in der Atmosphäre weiter ansteigt. Emissionen nur zu reduzieren führt also nicht zum Stopp, sondern nur zur Verlangsamung der globalen Erwärmung. === Klimapolitik === Treibhausgase reichern sich gleichmäßig in der Atmosphäre an, ihre Wirkung hängt nicht davon ab, wo sie ausgestoßen werden. Eine Minderung von Treibhausgasemissionen kommt somit allen zugute; sie ist aber oft für denjenigen, der seine Treibhausgasemissionen mindert, mit Anstrengungen und Kosten verbunden. Die Reduktion der weltweiten Emissionen auf Netto-Null steht damit vor dem sogenannten Trittbrettfahrerproblem: Vorwiegend am Eigennutz orientierte Akteure wollen zwar eine Stabilisierung des Klimas und dementsprechende Klimaschutzanstrengungen anderer, sehen aber keine ausreichenden Anreize für eigene Klimaschutzanstrengungen. Die internationale Klimapolitik steht vor der Aufgabe, einen globalen Ordnungsrahmen zu schaffen, der Kollektives Handeln hin zu Klimaneutralität bewirkt. ==== Geschichte ==== Als Herzstück internationaler Klimapolitik gilt die Klimarahmenkonvention (UNFCCC) der Vereinten Nationen als der völkerrechtlich verbindlichen Regelung zum Klimaschutz. Sie wurde 1992 in New York City verabschiedet und im gleichen Jahr auf der UN-Konferenz für Umwelt und Entwicklung (UNCED) in Rio de Janeiro von den meisten Staaten unterschrieben. Ihr Kernziel ist es, eine gefährliche Störung des Klimasystems infolge menschlicher Aktivität zu vermeiden. Mit der Rahmenkonvention geht als neu entstandenes Prinzip der Staatengemeinschaft einher, dass auf eine solche massive Bedrohung der globalen Umwelt auch ohne genaue Kenntnis des letztlichen tatsächlichen Ausmaßes reagiert werden soll. Auf der Rio-Konferenz wurde auch die Agenda 21 verabschiedet, die seitdem Grundlage für viele lokale Schutzmaßnahmen ist. Die 197 Vertragspartner der Rahmenkonvention (Stand März 2020) treffen sich jährlich zu UN-Klimakonferenzen. Die bekanntesten dieser Konferenzen waren 1997 im japanischen Kyōto, die als Ergebnis das Kyoto-Protokoll hervorbrachte, 2009 in Kopenhagen und 2015 in Paris. Dort wurde von allen Vertragsstaaten vereinbart, die globale Erwärmung auf deutlich unter 2 °C gegenüber vorindustrieller Zeit zu begrenzen. Angestrebt werden soll eine Begrenzung auf 1,5 °C. ==== Das Zwei-Grad-Ziel ==== Als Grenze von einer tolerablen zu einer „gefährlichen“ Störung des Klimasystems wird in der Klimapolitik gemeinhin eine durchschnittliche Erwärmung um 2 °C gegenüber dem vorindustriellen Niveau angenommen. Dabei spielt die Befürchtung eine große Rolle, dass jenseits der 2 °C das Risiko irreversibler, abrupter Klimaänderungen stark steigt. In Deutschland empfahl der Wissenschaftliche Beirat der Bundesregierung Globale Umweltveränderungen (WBGU) 1994, die mittlere Erwärmung auf höchstens 2 °C zu begrenzen. Der Rat der Europäischen Union übernahm das Ziel 1996. Die G8 erkannten es beim G8-Gipfel im Juli 2009 an. Im gleichen Jahr fand es als Teil des Copenhagen Accord Eingang in den UN-Rahmen und wurde in völkerrechtlich bindender Form 2015 verabschiedet, das Übereinkommen von Paris trat im November 2016 in Kraft. Die Vorgabe rückt jedoch zusehends in die Ferne: Da 2019 bereits eine Erwärmung um 1,1 °C eingetreten war, verblieben nur noch 0,9 °C. In Szenarien, die noch als realisierbar galten, hätten zur Erreichung des Ziels die Treibhausgasemissionen bereits 2020 ihr Maximum erreichen und danach rasch sinken müssen. Laut einem im November 2019 veröffentlichten Bericht des Umweltprogramms der Vereinten Nationen (UNEP) gab es keine Anzeichen, dass die Emissionen stagnieren oder in den nächsten Jahren sinken würden. Sollten die Vertragsstaaten des Paris-Abkommens ihre Emissionen wie bis 2016 zugesagt mindern (→ Nationaler Klimaschutzbeitrag), prognostizierte man eine globale Erwärmung von 2,6 bis 3,1 °C bis 2100 und einen weiteren Temperaturanstieg nach 2100. Für die Einhaltung der Zwei-Grad-Grenze sind demnach eine nachträgliche Verschärfung der Zusagen oder eine Übererfüllung der Ziele zwingend notwendig. Der Anstieg des Meeresspiegels wäre mit der Zwei-Grad-Begrenzung nicht gestoppt. Die teilweise deutlich stärkere Erwärmung über den Landflächen brachte und bringt weitere Probleme. Die Lufttemperaturen über der Arktis sind seit Jahrzehnten deutlich stärker gestiegen als der globale Mittelwert. 2011 erklärten Indigene Völker das Zwei-Grad-Ziel für zu schwach, weil es ihre Kultur und ihre Lebensweise immer noch zerstören würde, sei es in arktischen Regionen, in kleinen Inselstaaten sowie in Wald- oder Trockengebieten. ==== Wirtschaftswissenschaftliche Debatte ==== In der sozialwissenschaftlichen Literatur werden unterschiedliche politische Instrumente zur Senkung von Treibhausgasemissionen empfohlen und z. T. kontrovers diskutiert. In ökonomischen Analysen besteht weitgehend Einigkeit, dass eine Bepreisung von CO2-Emissionen, die die Schäden des Klimawandels möglichst internalisiert, zentrales Instrument für einen effektiven und kosteneffizienten Klimaschutz ist. Ein solcher CO2-Preis kann durch Steuern (staatlich festgelegt), Emissionsrechtehandel (Preisbildung auf dem Markt bei jährlich sinkender Obergrenze) oder Kombinationen beider Instrumente verwirklicht werden. Manche Wissenschaftler wie z. B. Joachim Weimann empfehlen einen globalen Emissionsrechtehandel als allein ausreichendes, da effizientestes Instrument. Andere Ökonomen wie z. B. der britische Energiewissenschaftler Dieter Helm erachten dagegen eine CO2-Steuer für geeigneter, da stabiler als die schwankenden CO2-Preise eines Emissionshandels, welche für Unternehmen zu schwierig kalkulierbar seien. Andere wiederum (z. B. der US-amerikanische Politökonom Scott Barrett) argumentieren, dass staatlich vorgeschriebene technische Standards (bestimmte CO2-arme oder CO2-freie Produktionstechnologien bzw. Konsumgüter wie z. B. Pkw) wie beim Montreal-Protokoll zum Schutz der Ozonschicht sich in der internationalen Politik weit besser politisch durchsetzen ließen als ein globaler Emissionsrechtehandel oder eine CO2-Steuer. Der Sozialwissenschaftler Anthony Patt sieht einen Emissionshandel in der realen Politik ebenfalls als zu wenig wirkmächtig an, da der politische Widerstand gegen genügend (d. h. ausreichend für die Dekarbonisierung) stark steigende bzw. hohe CO2-Preise v. a. seitens der energieintensiven Industrien zu groß sei. Die CO2-Preise würden daher – wie beim EU-Emissionshandel – nur auf niedrigem Niveau schwanken, sodass sich (bei einem alleinigen Emissionshandel) für potentielle Öko-Investoren kapitalintensive, langfristig ausgerichtete Zukunftsinvestitionen in CO2-freie Technologien nicht lohnen würden. Dafür bräuchten sie vielmehr die sichere Erwartung, dass die CO2-Preise in Zukunft steigen und hoch bleiben, damit sie sich gegen Konkurrenten, die mit CO2-intensiven Technologien wirtschaften, auf dem Wettbewerbsmarkt absehbar durchsetzen können. Das politische System kann sich jedoch nicht verlässlich auf einen künftig verlässlich steigenden, hohen CO2-Preis verpflichten, da derartige politische Entscheidungen in einer Demokratie immer reversibel sind bzw. wären (so wurde z. B. in Australien eine CO2-Steuer erst eingeführt und nach zwei Jahren von einer neuen, konservativen Regierung wieder abgeschafft). Dies wird auch als „Commitment Problem“ der Klimapolitik bezeichnet.Deshalb befürwortet Anthony Patt Gesetze zur Subventionierung CO2-freier Technologien wie z. B. das Erneuerbare-Energien-Gesetz (EEG) in Deutschland, die genau diese benötigte Erwartungssicherheit für potentielle Investoren in CO2-freie Technologien herstellen: Das EEG garantiert(e) (zumindest bis zur EEG-Novelle 2016) einem Produzenten von Strom aus erneuerbaren Energien für einen langen Zeitraum (20 Jahre) einen bestimmten Verkaufspreis, der über dem Marktniveau liegt. Diese Garantie unterliegt dem verfassungsrechtlichen Vertrauensschutz. Auf diese Weise abgesichert, gelang es den Investoren in erneuerbare Energien in den letzten beiden Jahrzehnten, durch den Ausbau die Kosten für die Erzeugung von Strom aus erneuerbaren Energien durch Learning by doing (Erfahrungskurve) sehr stark zu senken und allmählich gegenüber Strom aus fossilen Energiequellen und Atomstrom wettbewerbsfähig zu werden. Ähnliche Argumentationen, die die Notwendigkeit einer Flankierung des Emissionshandels durch Gesetze wie das EEG betonen, finden sich im Sondergutachten 2011 des Sachverständigenrates für Umweltfragen oder bei dem Energieökonomen Erik Gawel. Befürworter des Emissionshandels halten dem entgegen, dass der Staat dadurch zu stark in den Markt eingreife und im Gegensatz zu diesem übermäßig teure Technologien für die Subventionierung auswählen würde, da er im Gegensatz zu den Marktakteuren nicht über das Wissen verfüge, welches die effizientesten Technologien seien. Dadurch würden volkswirtschaftliche Ressourcen verschwendet, sodass sich die Gesellschaft weniger Klimaschutz leisten könne als eigentlich (d. h. mit einem idealen Emissionshandel) möglich. === Klimaschutz === Politische Vorgaben zum Klimaschutz müssen durch entsprechende Maßnahmen umgesetzt werden. Auf der technischen Seite existiert eine Vielzahl von Optionen zur Verminderung von Treibhausgasemissionen, mit der die Energiewende umgesetzt werden kann. Bereits eine 2004 erschienene Studie kam zu dem Ergebnis, dass sich mit den damals vorhandenen Mitteln bereits ein effektiver Klimaschutz realisieren ließe. Die Deutsche Akademie der Naturforscher Leopoldina hielt in einer 2019 publizierten Stellungnahme fest, dass aus technischer Sicht alle Voraussetzungen für den Bau eines klimaneutralen Energiesystems vorhanden sind. Neben den Technologien sind auch die erforderlichen Konzepte für die Energiewende bekannt. Hingegen wirken sich gesellschaftliche Faktoren hemmend aus: So fand eine 2021 publizierte Studie heraus, dass nur Menschen, die keine Zweifel an der Existenz der globalen Erwärmung hatten und auch glaubten, dass sie größtenteils vom Menschen verursacht wird, eine deutlich erhöhte Bereitschaft zeigen, Geld für Klimaschutz zu spenden.Während in der Vergangenheit die Kosten für Klimaschutztechnik wie z. B. erneuerbare Energien deutlich höher lagen als für konventionelle Technik, sind die Klimaschutzkosten durch den rapiden Preisverfall inzwischen erheblich gesunken. Der IPCC bezifferte die zum Erreichen des Zwei-Grad-Ziels anfallenden Kosten 2014 mit 0,06 % der jährlichen Konsumwachstumsrate. Je früher die Treibhausgasemissionen verringert werden, desto geringer sind dabei die Kosten des Klimaschutzes.Neuere Studien gehen mehrheitlich davon aus, dass ein erneuerbares Energiesystem Energie zu vergleichbaren Kosten liefern kann wie ein konventionelles Energiesystem. Gleichzeitig hätte Klimaschutz starke positive volkswirtschaftliche Nebeneffekte durch Vermeidung von Klimafolgeschäden und vermiedene Luftverschmutzung durch fossile Energieträger. Als wichtige Einzelmaßnahme für das Erreichen des Zwei-Grad-Ziels gilt der Kohleausstieg, da damit das knappe Restbudget an Kohlenstoffdioxidemissionen möglichst effizient genutzt werden kann. Mit mehr als 10 Mrd. Tonnen CO2-Ausstoß im Jahr 2018 verursachen Kohlekraftwerke ca. 30 % der gesamten energiebedingten Kohlendioxidemissionen in Höhe von ca. 33 Mrd. Tonnen.In seinem Sonderbericht 1,5 °C globale Erwärmung nennt der IPCC folgende Kriterien, um das 1,5-Grad-Ziel noch erreichen zu können: Netto-Nullemissionen von Kohlenstoffdioxid bis spätestens 2050 starke Senkung von anderen Treibhausgasen, insbesondere Methan Realisierung von Energieeinsparungen Dekarbonisierung des Stromsektors und anderer Treibstoffe Elektrifizierung des Endverbrauchs von Energie (eine Form der Sektorenkopplung) starke Reduktion der Treibhausgasemissionen der Landwirtschaft Einsatz einer Form von Carbon Dioxide Removal ==== Energiesystemtransformation ==== Der IPCC hält in seinem Sechsten Sachstandsbericht fest, dass es nur dann gelingt, die Erderwärmung auf deutlich unter 2 °C zu begrenzen, wenn schnelle und tiefgehende Emissionsreduzierungen von Kohlenstoffdioxid und weiteren Treibhausgasen erreicht werden. Gemäß Szenarien, die es schaffen, die Erderwärmung mit mehr als 66 % Eintrittswahrscheinlichkeit und ohne großes Überschießen auf 1,5 °C zu begrenzen, müssen die energiebedingten Netto-Kohlenstoffdioxidemissionen bis 2030 um 35 bis 51 % und bis 2050 um 87 bis 97 % fallen. Die Begrenzung auf deutlich unter 2 °C macht dabei große Änderungen der Energieversorgung binnen 30 Jahren erforderlich, darunter die Reduzierung des Einsatz fossiler Energieträger, die Erhöhung der Energieproduktion aus emissionsarmen und emissionsfreien Energiequellen und den stärkerer Einsatz von Elektrizität und alternativen Energieträgern. Dazu hält der IPCC fest, dass sich die für Klimaschutz nötigen Netto-Null-Energiesysteme abhängig von den jeweiligen nationalen Bedingungen voneinander unterscheiden werden, jedoch eine Vielzahl gemeinsamer Charakteristiken aufweisen werden. Zu diesen zählt der IPCC unter anderem: Elektrizitätssysteme, die netto kein Kohlenstoffdioxid erzeugen oder über negativen Emissionen Kohlenstoffdioxid aus der Atmosphäre entnehmen weitflächige Elektrifizierung des Endenergieverbrauchs, darunter auch des Auto- und leichten Transportverkehrs, der Wärmeversorgung und des Kochens erhebliche geringere Nutzung von fossilen Energieträgern Einsatz alternativer Energieträger wie Wasserstoff, Bioenergie und Ammoniak überall dort, wo eine Elektrifizierung schlecht möglich ist größere Energieeffizienz bei der Energienutzung stärkere Kopplung der Energieversorgung im räumlichen Sinn wie auch über die Sektorgrenzen hin weg (sog. Sektorenkopplung) Einsatz von Negativemissionstechnologien wie BECCS und DACCS, um verbleibende Emissionen zu kompensieren ===== Erneuerbare Energien ===== Der Umbau des Energiesystems von fossilen auf erneuerbare Energiequellen, die sog. Energiewende, wird als ein weiterer unverzichtbarer Bestandteil effektiver Klimaschutzpolitik angesehen. Die globalen Potenziale sind im IPCC-Bericht dargestellt. Im Gegensatz zu fossilen Energieträgern wird bei der Nutzung der erneuerbaren Energien mit Ausnahme der Bioenergie kein Kohlenstoffdioxid ausgestoßen, und auch diese ist weitgehend CO2-neutral. Der Einsatz erneuerbarer Energien bietet sowohl ökologisch als auch ökonomisch großes Potenzial, vor allem durch das weitgehende Vermeiden der mit anderen Energieformen verbundenen Folgeschäden, die als sog. externe Kosten hohe volkswirtschaftliche Wohlfahrtsverluste verursachen. Grundsätzlich lässt sich festhalten, dass erneuerbare Energien verglichen mit konventionellen Energienutzungsformen eine bessere Umweltbilanz aufweisen. Zwar liegt der Materialbedarf für diese Technologien höher als beim Bau von Wärmekraftwerken, die Umweltbelastung durch den höheren Materialbedarf ist jedoch gering verglichen mit den brennstoffbedingten direkten Emissionen von fossil befeuerten Kraftwerken. Durch Umstellung der Energieversorgung auf ein regeneratives Energiesystem lässt sich somit die durch den Energiesektor verursachte Umweltbelastung reduzieren. Die große Mehrheit der zu dem Thema durchgeführten Studien kommt zu dem Ergebnis, dass die vollständige Umstellung der Energieversorgung auf erneuerbare Energien sowohl technisch möglich als auch ökonomisch machbar ist. ===== Verbesserung der Energieeffizienz ===== Die Verbesserung der Energieeffizienz ist ein zentrales Element, um ambitionierte Klimaschutzziele zu erreichen und gleichzeitig die Energiekosten niedrig zu halten. Nimmt die Energieeffizienz zu, kann eine Dienstleistung oder ein Produkt mit weniger Energieverbrauch als zuvor angeboten oder hergestellt werden. Das heißt beispielsweise, dass in einer Wohnung weniger geheizt werden muss, ein Kühlschrank weniger Strom benötigt oder ein Auto einen geringeren Benzinverbrauch hat. In all diesen Fällen führt die zunehmende Effizienz zu einem abnehmenden Energieverbrauch und damit zu einem verringerten Treibhausgas-Ausstoß. McKinsey berechnete zudem, dass zahlreiche Energieeffizienz-Maßnahmen gleichzeitig einen volkswirtschaftlichen Gewinn abwerfen.In einer globalen Bilanz betrachtet muss jedoch ebenfalls der Rebound-Effekt berücksichtigt werden, der dazu führt, dass eine gesteigerte Energie- bzw. Ressourceneffizienz durch eine Mehrproduktion an Produkten oder Dienstleistungen teilweise wieder ausgeglichen wird. Es wird davon ausgegangen, dass die Energieeinsparung durch Energieeffizienzmaßnahmen durch Rebound-Effekt im Schnitt um 10 % gemildert wird, wobei Werte einzelner Studien zwischen 0 und 30 % schwanken.Durch Steigerung der Ressourcenproduktivität (siehe dazu auch Faktor 4), Verlängerung der Produktlebenszeiten und Verminderung der Obsoleszenz, beispielsweise bei Konsumgütern oder Verpackungen, kann ebenfalls Energie eingespart werden. ===== Carbon Dioxide Removal ===== Unter Carbon Dioxide Removal wird die Entfernung von Kohlendioxid aus der Atmosphäre verstanden, um den erhöhten Strahlungsantrieb künstlich wieder zu reduzieren. Erreicht werden kann dies durch den Einsatz von Techniken zum CO2-Entzug („negative Emission“). Hierzu zählen unter anderem: Bioenergie mit CO2-Abscheidung und -Speicherung, BECCS (Abscheidung von Kohlendioxid aus Biomasse und anschließende Speicherung im Boden) Direct Air Carbon Capture and Storage, DACCS (Abscheidung von Kohlendioxid aus der Luft und anschließende Speicherung im Boden) künstliche Verwitterung zum Binden von Kohlendioxid in Gestein Aufforstung und Wiederaufforstung von Wäldern zum Binden von Kohlendioxid in Biomasse Holzbau künstliche Erhöhung des Kohlendioxid-Gehaltes der Ozeane in pflanzlicher Biomasse oder durch Erhöhung der Alkalinität Steigerung des Kohlenstoffgehaltes im Boden durch veränderte Landbewirtschaftung Erzeugung von Biokohle zur Kohlenstoff-Speicherung im BodenDer Großteil der Modelle kommt zu dem Ergebnis, dass negative Emissionen notwendig sind, um die Erderwärmung auf 1,5 oder 2 Grad zu begrenzen. Gleichzeitig gilt es nach einem 2016 publizierten Review als sehr risikoreich, von vorneherein den Einsatz negativer Emissionstechnologien anzustreben, da es bisher keine derartigen Technologien gibt, mit denen das Zwei-Grad-Ziel ohne erhebliche negative Auswirkungen auf den Verbrauch von Flächen, Energie, Wasser oder Nährstoffen oder auf die Albedo erreicht werden kann. Aufgrund dieser Limitationen seien sie kein Ersatz für die sofortige und schnelle Reduzierung der heutigen Treibhausgasemissionen durch die Dekarbonisierung der Wirtschaft. ===== Geoengineering ===== Geoengineering umfasst bisher nicht eingesetzte technische Eingriffe in die Umwelt, um die Erwärmung abzumildern, darunter die Eisendüngung im Meer, um das Algenwachstum anzuregen und auf diese Weise CO2 zu binden, und das Einbringen von Aerosolen in die Stratosphäre zur Reflexion von Sonnenstrahlen (Solar Radiation Management). Während Eisendüngung als unbrauchbar gilt, werden dem Solar Radiation Management (SRM) in Studienmodellen Erfolgsaussichten zur Herunterkühlung des Klimas auf ein Niveau vor dem Industriezeitalter zugesprochen – gleichzeitig aber vor hohen Risiken dieser Methode gewarnt. ==== Klimaschutz durch Verhaltensänderungen ==== ===== Persönliche Beiträge ===== Individuelle Möglichkeiten für Beiträge zum Klimaschutz bestehen in Verhaltensumstellungen und verändertem Konsum mit Energieeinsparungen. Zu den zahlreichen Maßnahmen zur CO2-Reduktion zählen unter anderem: die Nutzung umweltfreundlicher Verkehrsmittel, insbesondere der öffentlichen Verkehrsmittel (siehe auch Verkehrsmittelvergleich), der Einsatz energieeffizienterer Geräte (siehe auch Energielabel), die optimale Einstellung und ggf. auch Nachrüstung von Heizungen sowie Wärmekraftmaschinen (Motoren); die Reduktion der Heizenergie respektive des Wärmeverlustes in Wohngebäuden (z. B. durch Einbau neuer Fenster, Wärmedämmung von Außenwänden, Dächern sowie des Kellers, Stoßlüften statt Dauerlüften), die Nutzung von Wärmepumpenheizungen, Solarthermie, Geothermie und Holz statt fossiler Energieträger zur Gebäudeheizung und Warmwasserversorgung, Umstieg auf Fernwärme, sofern verfügbar die Installation einer Photovoltaikanlage, der Kauf bzw. Einsatz der Mini-Kraft-Wärme-Kopplung in Form eines Blockheizkraftwerkes (ein Motor erzeugt Strom, die Abwärme wird zum Heizen genutzt). ===== Nachhaltige Ernährung ===== Schätzungen des IPCC (2007) zufolge gehen 10 bis 12 Prozent der globalen Emissionen von Treibhausgasen auf die Landwirtschaft zurück. Nicht berücksichtigt wurden hier jedoch unter anderem die Folgen der Abholzung größerer Flächen (u. a. Regenwald) für landwirtschaftliche Zwecke. Eine Studie im Auftrag von Greenpeace geht daher von einem agrarischen Anteil von 17 bis 32 Prozent an den von Menschen verursachten Treibhausgasen aus. In Großbritannien stehen etwa 19 Prozent der Treibhausgasemissionen im Zusammenhang mit Nahrungsmitteln (Landwirtschaft, Verarbeitung, Transport, Einzelhandel, Konsum, Abfall). Etwa 50 Prozent davon gehen diesen Schätzungen zufolge auf Fleisch und Milchprodukte zurück. Das Food Climate Research Network empfiehlt daher unter anderem marktorientierte und regulative Maßnahmen zu nachhaltigerer Produktion bzw. nachhaltigerem Konsum von Lebensmitteln (z. B. CO2-emissionsabhängige Preise/Steuern). Umstellung auf Pflanzen-basierte Ernährung kann laut einer Studie, in vier Ländertypen, zwischen 9 und 16 Jahren vergangener früherer CO2-Emissionen durch fossile Brennstoffe ausgleichen.Würde der globale Fleischkonsum ab 2015 innerhalb von 40 Jahren auf weniger als ein Drittel reduziert, sänken einer Modellsimulation zufolge die Lachgas- und Methanemissionen der Landwirtschaft unter das Niveau von 1995.Zur Reduzierung der nahrungsmittelbezogenen Emissionen wird oft der Konsum regionaler Lebensmittel empfohlen. 2019 hat das Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung in einer Studie gezeigt, dass eine optimierte lokale Produktion die Emissionen weltweit aus dem Lebensmitteltransport um den Faktor zehn reduzieren könnte. Einer US-amerikanischen Ökobilanz von Weber und Matthews (2008) zufolge liegt der Beitrag des Transports zu den Emissionen der Lebensmittelversorgung in den USA aber nur bei 11 Prozent. Der Hauptanteil (83 Prozent) entstehe bei der Produktion, weswegen die Art der konsumierten Lebensmittel den größten Einfluss habe. Besonders kritisch bezüglich der Produktion von Treibhausgasen wird der Konsum von rotem Fleisch gesehen; stattdessen sollte eher auf Geflügel, Fisch, Eier oder Gemüse zurückgegriffen werden. ==== Wirtschaftliche Strategien ==== Neben politischen Weichenstellungen für eine Energiewende und den Kohleausstieg gehören auch wirtschaftliche Maßnahmen zum Repertoire klimaschützenden Vorgehens, z. B. der Rückzug von Investoren wie Versicherungen, Kreditinstituten und Banken aus Geldanlagen in fossil geprägte Industriebereiche und Unternehmen („Desinvestition“). Die Investitionen können stattdessen umgeleitet werden in nachhaltige Wirtschaftssektoren wie etwa erneuerbare Energien. So hat z. B. die Weltbank auf dem One Planet Summit Anfang Dezember 2017 in Paris angekündigt, ab 2019 keine Projekte zur Erschließung von Erdöl und Erdgas mehr zu finanzieren. Der Versicherungskonzern Axa teilte dort mit, in Zukunft keine Neubauten von Kohlekraftwerken mehr zu versichern und bis 2020 zwölf Mrd. Euro in „grüne“ Projekte investieren zu wollen. Umweltschutzorganisationen wie Urgewald legen hier den Schwerpunkt ihrer Aktivitäten. == Anpassungsstrategien == Parallel zu vorbeugendem Klimaschutz in Form von Vermeidungsstrategien sind Anpassungen an bereits eingetretene bzw. künftig zu erwartende Auswirkungen des menschengemachten Klimawandels notwendig: Die mit der Erderwärmung verbundenen negativen Folgen sollen so weit möglich gemindert und möglichst verträglich gestaltet werden; gleichzeitig wird die Nutzung regional möglicherweise positiver Folgen geprüft. Die Anpassungsfähigkeit variiert in Abhängigkeit von verschiedensten Parametern, darunter bestehende Kenntnisse zu örtlichen Klimaveränderungen oder z. B. der Entwicklungsstand und die ökonomische Leistungsfähigkeit eines Landes oder einer Gesellschaft. Insgesamt wird speziell in sozio-ökonomischer Hinsicht die Fähigkeit zur Anpassung stark durch die Vulnerabilität geprägt. Der Intergovernmental Panel on Climate Change (IPCC) zählt die am wenigsten fortgeschrittenen „Entwicklungsländer“ zu den Ländern und Regionen mit besonders hoher Vulnerabilität. Die Anpassung an die Folgen der Erderwärmung hat vor allem kurz- bis mittelfristige Wirkung. Da die Anpassungsfähigkeit von Gesellschaften jedoch begrenzt ist und eine starke Erderwärmung bereits getätigte Anpassungsmaßnahmen wieder zunichtemachen kann, kann Anpassung keine Alternative zum vorbeugenden Klimaschutz sein, sondern nur eine Ergänzung dazu.Die Palette potenzieller Anpassungsmaßnahmen reicht von rein technologischen Maßnahmen (z. B. Küstenschutz) über Verhaltensänderungen (z. B. Ernährungsverhalten, Wahl der Urlaubsziele) und betriebswirtschaftlichen Entscheidungen (z. B. veränderte Landbewirtschaftung) bis zu politischen Entscheidungen (z. B. Planungsvorschriften, Emissionsminderungsziele). Angesichts der Tatsache, dass der Klimawandel sich auf viele Sektoren einer Volkswirtschaft auswirkt, ist die Integration von Anpassung z. B. in nationale Entwicklungspläne, Armutsbekämpfungsstrategien oder sektorale Planungsprozesse eine zentrale Herausforderung; viele Staaten haben daher Anpassungsstrategien entwickelt. In der im Jahr 1992 verabschiedeten Klimarahmenkonvention (UNFCCC), die mittlerweile von 192 Staaten ratifiziert worden ist, spielte das Thema Anpassung noch kaum eine Rolle gegenüber der Vermeidung eines gefährlichen Klimawandels (Artikel 2 der UNFCCC). Für das Kyoto-Protokoll, das 1997 vereinbart wurde und 2005 in Kraft trat, gilt das zwar ähnlich, doch wurde dort grundsätzlich der Beschluss zur Einrichtung eines speziellen UN-Anpassungsfonds („Adaptation Fund“) gefasst, um die besonders betroffenen Entwicklungsländer bei der Finanzierung von Anpassungsmaßnahmen zu unterstützen. Dazu soll auch der Green Climate Fund der Vereinten Nationen beitragen, der während der Klimakonferenz 2010 in Cancún eingerichtet wurde. Für den Fonds stellen Industrienationen Gelder bereit, damit sich Entwicklungsländer besser an den Klimawandel anpassen können. == Globale Erwärmung als Thema in Bildung, Film, Literatur und Kunst == Die globale Erwärmung ist zunehmend auch ein Thema in Kunst, Literatur und Film; dargestellt wird das Thema zum Beispiel in den Katastrophenfilmen Waterworld oder The Day After Tomorrow. Zudem existieren eine ganze Reihe von Dokumentarfilmen: Eine unbequeme Wahrheit gilt mit als Kernbotschaft von Nobelpreisträger Al Gore zum anthropogenen Klimawandel. Auch der schwedische Dokumentarfilm Unser Planet befasst sich unter anderem mit dem Klimawandel und beinhaltet Interviews mit verschiedenen Klimaforschern. Der US-amerikanische Dokumentarfilm Chasing Ice hat den Gletscherschwund als Folge der globalen Erwärmung zum Inhalt und porträtiert das Extreme-Ice-Survey-Projekt des Naturfotografen James Balog. Literarisch wird das Thema u. a. in den 2010 erschienenen Romanen des britischen Schriftstellers Ian McEwan (Solar) oder des Autorengespanns Ann-Monika Pleitgen und Ilja Bohnet (Kein Durchkommen) verarbeitet. Hier wird mittlerweile in Analogie zur „Science-Fiction“ von der Entstehung einer neuen literarischen Gattung gesprochen, der Climate-Fiction (CliFi).2013 erschien unter Ägide des Wissenschaftlichen Beirats der deutschen Bundesregierung Globale Umweltveränderungen der Comic Die Große Transformation. Klima – Kriegen wir die Kurve? (→ Welt im Wandel – Gesellschaftsvertrag für eine Große Transformation).Cape Farewell ist ein internationales gemeinnütziges Projekt des britischen Künstlers David Buckland. Ziel ist die Zusammenarbeit von Künstlern, Wissenschaftlern und „Kommunikatoren“ (u. a. Medienvertretern) zum Thema Klimawandel. Im Rahmen des Projekts wurden verschiedene Expeditionen zur Arktis und in die Anden durchgeführt, die u. a. filmisch, fotografisch, literarisch und musikalisch verarbeitet wurden (u. a. in den Filmen Art from the Arctic und Burning Ice). Italiens Bildungsminister Lorenzo Fioramonti kündigte im November 2019 an, das Thema globale Erwärmung bzw. Klimawandel ab September 2020 als verpflichtenden Lehrstoff in verschiedene Fächer in öffentlichen Schulen in Italien zu integrieren. Während die 6- bis 11-Jährigen über Geschichten aus anderen Kulturen mit dem Thema Umwelt vertraut gemacht werden sollen, werde dies in der Mittelstufe über technische Informationen geschehen. In der Oberstufe sollen die Schüler an das UN-Programm „Transformation unserer Welt: die Agenda 2030 für nachhaltige Entwicklung“ herangeführt werden. Angestrebter Umfang war eine Schulstunde (à 45 Minuten) pro Woche. == Literatur == Tim Flannery: Wir Wettermacher. Wie die Menschen das Klima verändern und was das für unser Leben auf der Erde bedeutet. S. Fischer, Frankfurt am Main 2006, ISBN 3-10-021109-X. Kirstin Dow, Thomas E. Downing: Weltatlas des Klimawandels – Karten und Fakten zur globalen Erwärmung. Europäische Verlagsanstalt, ISBN 978-3-434-50610-2. 2008, Mark Maslin: Global Warming: A Very Short Introduction. Oxford University Press, ISBN 978-0-19-954824-8. 2009, John Houghton: Global Warming: The Complete Briefing. 4. Auflage. Cambridge University Press, ISBN 978-0-521-70916-3. Mojib Latif: Klimawandel und Klimadynamik. Ulmer, Stuttgart, ISBN 978-3-8252-3178-1. Andreas Lienkamp: Klimawandel und Gerechtigkeit. Eine Ethik der Nachhaltigkeit in christlicher Perspektive. Schöningh, Paderborn, ISBN 978-3-506-76675-5. Marco Müller, Giovanni Danielli: Kompaktwissen Klimawandel. Schweizerische Massnahmen und Instrumente. Verlag Rüegger, Zürich 2010, ISBN 978-3-7253-0925-2. Oktober, Landeshauptstadt Stuttgart, Referat Städtebau und Umwelt, Amt für Umweltschutz, Abteilung Stadtklimatologie, in Verbindung mit der Abteilung Kommunikation (Hrsg.): Schriftenreihe des Amtes für Umweltschutz – Heft 3/2010: Der Klimawandel – Herausforderung für die Stadtklimatologie, ISSN 1438-3918. Mojib Latif: Globale Erwärmung. UTB, Stuttgart 2012, ISBN 978-3-8252-3586-4. November Vier-Grad-Dossier für die Weltbank: Risiken einer Zukunft ohne Klimaschutz. In: Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung. 19. November 2012, abgerufen am 20. Januar 2013 (Komplettfassung des Berichtes „Turn down the heat“, online verfügbar, PDF, 14,38 MB). 2013, Friedrich-Wilhelm Gerstengarbe und Harald Welzer (Hrsg.): Zwei Grad mehr für Deutschland. 1. Auflage, S. Fischer, ISBN 978-3-596-18910-6. 2014, Intergovernmental Panel on Climate Change (IPCC): Climate Change 2013/14. (AR 5) Synthesebericht, WG I, Physikalische Basis, WG II, Folgen, Anpassung und Vulnerabilität, WG III, Bewältigung des Klimawandels. Jochem Marotzke, Martin Stratmann (Hrsg.): Die Zukunft des Klimas. Neue Erkenntnisse, neue Herausforderungen. Ein Report der Max-Planck-Gesellschaft. Beck, München 2015, ISBN 978-3-406-66968-2. 2018, Intergovernmental Panel on Climate Change (IPCC): Sonderbericht 1,5 °C globale Erwärmung, Website des Reports (englisch). Stefan Rahmstorf, Hans Joachim Schellnhuber: Der Klimawandel. 8. Auflage. Beck, München, ISBN 978-3-406-72672-9. United In Science - High-level synthesis report of latest climate science information convened by the Science Advisory Group of the UN Climate Action Summit 2019, Weltorganisation für Meteorologie. Jörg Phil Friedrich: Was kommt nach dem Klimawandel? Eine Spekulation Heise Medien, Hannover 2019, ISBN 978-3-95788-179-3. 2020, Sven Plöger: Zieht euch warm an, es wird heiß! Westend Verlag, ISBN 978-3-86489-286-8. Mark Lynas: 6 Grad mehr. Die verheerenden Folgen der Erderwärmung. Rowohlt Verlag, Hamburg 2021, ISBN 978-3-499-00442-1. == Weblinks == Literatur von und über Globale Erwärmung im Katalog der Deutschen Nationalbibliothek Website (englisch) des IPCC, sowie deren Deutsche Koordinationsstelle mit Übersetzungen der Berichte Climate Service Center – Informationsportal des Helmholtz-Zentrums Geesthacht zur Klimaforschung Klimawiki des Hamburger Bildungsservers Klimawandel-Dossier der Bundeszentrale für politische Bildung Informationsportal Klimawandel der Zentralanstalt für Meteorologie und Geodynamik in Österreich Climate Change: Evidence & Causes (englisch) der Royal Society und National Academy of Sciences Klima und Energie des Deutschen Umweltbundesamtes Was wir heute übers Klima wissen. Basisfakten zum Klimawandel, die in der Wissenschaft unumstritten sind. Faktenpapier des Deutschen Klima-Konsortiums, der Deutschen Meteorologischen Gesellschaft, dem Deutschen Wetterdienst, dem Extremwetterkongress Hamburg, der Helmholtz-Klima-Initiative und klimafakten.de, Stand September 2022. == Anmerkungen == == Einzelnachweise ==
https://de.wikipedia.org/wiki/Globale_Erw%C3%A4rmung
Ludwig XIV.
= Ludwig XIV. = Ludwig XIV., französisch Louis XIV (* 5. September 1638 in Schloss Saint-Germain-en-Laye; † 1. September 1715 in Schloss Versailles), war ein französischer Prinz aus dem Haus Bourbon und von 1643 bis zu seinem Tod König von Frankreich und Navarra sowie Kofürst von Andorra. Bereits im Alter von vier Jahren wurde Ludwig XIV. offiziell König; er stand jedoch zunächst unter der Vormundschaft seiner Mutter Anna von Österreich und übte nach dem Tod des „Leitenden Ministers“ Jules Mazarin ab 1661 persönlich die Regierungsgewalt aus. Ludwig sicherte dem französischen Königtum die absolute Macht durch den Ausbau der Verwaltung und der Armee, die Bekämpfung der adeligen Opposition (Fronde) sowie die Förderung eines merkantilistischen Wirtschaftssystems. Innenpolitisch rückte er den katholischen Glauben wieder in den Mittelpunkt (la France toute catholique) und widerrief im Edikt von Fontainebleau (18. Oktober 1685) die religiösen und bürgerlichen Rechte der Hugenotten. Gleichzeitig versuchte Ludwig die katholische Kirche in Frankreich dem weltlichen Einfluss des Papsttums zu entziehen (Gallikanismus). Durch eine expansive Außenpolitik und mehrere Kriege (Holländischer Krieg, Pfälzischer Erbfolgekrieg, Spanischer Erbfolgekrieg) löste Ludwig sein Land aus der habsburgischen Umklammerung und festigte Frankreichs Stellung als dominierende Großmacht in Europa. Ludwig XIV. gilt als wichtigster Vertreter des höfischen Absolutismus und Gottesgnadentums. Die von ihm etablierte Hofkultur, deren zentrales Symbol die herausragende Stellung und das prunkvolle Auftreten des Königs war, wurde zum Vorbild für Höfe in ganz Europa. Ludwig förderte Kunst und Wissenschaft, was eine Blütezeit der französischen Kultur zur Folge hatte, die sich im Stil Louis-quatorze ausdrückte. Sein Wirken war auch prägend für die kunst- und architekturgeschichtliche Epoche des klassizistischen Barocks. Bestes Beispiel hierfür ist das von Ludwig erbaute Schloss Versailles, das als Höhepunkt der europäischen Palastarchitektur gilt.Seine Herrschaft markierte eine Blütezeit der Kunst in Frankreich, insbesondere der Literatur, Architektur und Musik. Bekannte Vertreter dieser Zeit sind Lully, Charpentier, Couperin, Molière, Corneille, La Fontaine, Racine, Boileau, Le Vau, Mansart und Le Nôtre, weshalb das 17. Jahrhundert oft als Grand Siècle (Großes Jahrhundert) beschrieben wird. Ludwig XIV. erhielt die Beinamen „Sonnenkönig“ (Roi-Soleil) oder „der Große“ (Louis le grand). Als er am 1. September 1715 nach 72-jähriger Regentschaft starb, war er einer der am längsten herrschenden Monarchen der neuzeitlichen Geschichte. == Überblick == Die Geburt Ludwigs XIV. im Schloss Saint-Germain-en-Laye erschien vielen als glückliches Ereignis, denn 23 Jahre lang war die Ehe seiner Eltern Ludwig XIII. und Anna von Österreich ohne Nachkommen geblieben. Durch seine Geburt wurde die befürchtete Thronfolge von Gaston d’Orléans zurückgestellt. Aus Dankbarkeit erhielt der Neugeborene den Beinamen der „Gottgegebene“ (Dieudonné). Sein Bruder, Herzog Philipp I. d’Orléans, wurde 1640 geboren und starb 1701. Schon als Vierjähriger wurde Ludwig am 14. Mai 1643 als König inthronisiert. Er lebte aber bis zu seinem dreizehnten Lebensjahr (1651) unter der Regentschaft seiner Mutter Anna von Österreich. Die tatsächliche Macht übte in dieser Zeit der „regierende Minister“ Kardinal Jules Mazarin aus. Mazarin bereitete Ludwig zielgerichtet auf seine Rolle als absolutistischer Herrscher vor. Schritt für Schritt wurde der junge König an der Macht beteiligt und teilte sich schließlich die Verantwortung mit Mazarin. Durch die außenpolitischen Erfolge der Minister-Kardinäle Richelieu und Mazarin politisch gestärkt, entfaltete Ludwig das absolutistische Königtum hochbarocker Prägung in Frankreich, mit einem Hofleben, das ganz auf die Person des Herrschers zugeschnitten war. Nach dem Westfälischen Frieden am Ende des Dreißigjährigen Krieges 1648 und dem Pyrenäenfrieden mit Spanien 1659 war Frankreich die politische und militärische Vormacht in Europa. Unterstützt von Ministern wie Colbert, Louvois, Lionne und dem Kanzler Séguier konzentrierte er den staatlichen Machtapparat und erweiterte die militärischen, institutionellen und materiellen Machtgrundlagen der französischen Monarchie. Zumindest finanziell negativ wirkten sich die Hugenotten-Verfolgung und der Spanische Erbfolgekrieg aus. Letzterer führte durch die Härte der Kämpfe im Jahr 1713 fast zu einem Staatsbankrott, der nur durch eine Finanzreform und massive Einsparungen abgewendet wurde. Im Jahr 1660 heiratete Ludwig Maria Teresa von Spanien. Nach deren Tod (1683) heiratete er in morganatischer Ehe insgeheim die Marquise de Maintenon. Ludwig überlebte seinen Sohn Louis, le Grand Dauphin, und seinen ältesten Enkel Louis de Bourgogne und starb am 1. September 1715. Erst sein Urenkel folgte ihm als Ludwig XV. auf den Thron nach. Der Leichnam Ludwigs XIV. wurde durch den Chirurgen Pierre Dionis (1643–1718) mittels Gerbsäure in Pulverform konserviert und in der von ihm geschaffenen „Krypta der Bourbonen“ in der Abtei von Saint-Denis beigesetzt. Bei der Plünderung der Königsgräber von Saint-Denis im Jahr 1793 wurde sein sehr gut erhaltener Körper mit denen anderer Könige durch die Revolutionäre „profaniert“ und sogar kurzzeitig in eine Grube geworfen. Sein einbalsamiertes Herz wurde 1715 in der Jesuitenkirche Saint-Paul-Saint-Louis in der Rue St. Antoine in Paris bestattet. In der Restaurationszeit wurde es, wie alle Herzbestattungen der Angehörigen des Königshauses, in die Abtei von Saint-Denis überführt, wo es sich bis heute in der wiederhergestellten Grablege der französischen Könige in der Krypta befindet. == Herrschaft == === Geburt === Louis de Bourbon wurde am 5. September 1638 gegen 11 Uhr vormittags auf Schloss Saint-Germain-en-Laye geboren. Die Geburt wurde von den Zeitgenossen als freudiges Ereignis wahrgenommen, denn 23 Jahre lang war die Ehe seiner Eltern Ludwig XIII. und Anna von Österreich ohne Nachkommen geblieben. Nach mehreren Fehlgeburten hatte sich das Paar entfremdet und die streng gläubige Anna führte die Geburt des lang ersehnten Kronprinzen (Dauphin) auf das Wirken des Hl. Fiacrius zurück, weshalb der Neugeborene den Beinamen Dieudonné (der Gottgegebene) erhielt. Im Jahr 1640 folgte mit der Geburt Philipps ein zweiter Sohn. Die späte Geburt zweier Söhne sicherte den dynastischen Fortbestand der Bourbonen und eine Thronfolge Gastons d’Orléans wurde hinfällig. Doch die Ehe zwischen Ludwig und Anna blieb unglücklich, da der König Zweifel an der Abstammung seiner Kinder hegte und seiner Frau vorwarf, den Thronfolger gegen ihn einzunehmen. Ludwig XIII. starb am 14. Mai 1643 und der erst vierjährige Dauphin wurde als Ludwig XIV. offiziell zum neuen König proklamiert. Für den minderjährigen Nachfolger übernahm ein Regentschaftsrat unter Anna von Österreich die Regierung, die eigentliche Entscheidungsgewalt lag bei Kardinal Jules Mazarin. Dieser hatte bereits unter dem Vater als Leitender Minister die Staatsgeschäfte geführt und war Taufpate des jungen Königs. === Erziehung === Die Erziehung Ludwigs und seines jüngeren Bruders Philipp unterstand bis zum fünften Lebensjahr den beiden Gouvernanten Françoise de Lansac und Marie-Catherine de Senecey. Dem Zeitgeist entsprechend kleidete man die beiden Prinzen als Kleinkinder wie Mädchen und begann erst ab dem sechsten Lebensjahr mit einer geschlechtsspezifischen Erziehung.Kardinal Mazarin achtete auf eine umfassende Ausbildung des jungen Monarchen und bestimmte im Jahr 1646 den Offizier Nicolas de Neufville, duc de Villeroy zum Erzieher. Da Mazarin die Gefahren eines starken Bruders des Königs erkannte – ihm waren die Machtansprüche der Brüder Ludwigs XIII. noch allgegenwärtig –, soll er dafür gesorgt haben, dass Philipp keine Erziehung als potentieller Thronanwärter erhielt. Mitschüler und Spielgefährte Ludwigs war der Sohn seines Erziehers François de Neufville, duc de Villeroy. Unterrichtet wurden die beiden von dem Geistlichen Hardouin de Péréfixe de Beaumont und ab 1652 von dem Philosophen François de La Mothe le Vayer. Lerninhalt waren Fremdsprachen (Latein und Italienisch), Religion, Geschichte, Mathematik und Militärwissenschaften. Reiten und Fechten erweiterten das Ausbildungsprogramm, das in künstlerischen Inhalten (Malerei, Zeichnen, Architektur, Tanz und Musik) seine Vollendung fand. Mazarin persönlich führte Ludwig in die Kunst des Regierens und die Lenkung der Staatsgeschäfte ein und gab ihm eine Vorstellung von der Macht der Symbolik. Seine Mutter vermittelte ihm das Bewusstsein von Gott zum Herrscher auserwählt worden zu sein (Gottesgnadentum), woraus sich der unumschränkte Machtanspruch des französischen Monarchen ableite. === Regentschaft der Mutter und Mazarins === Im Jahr 1635 war Frankreich an der Seite Schwedens in den Dreißigjährigen Krieg eingetreten, mit dem Hauptziel, das Haus Habsburg zu schwächen. Frankreichs Armeen kämpften nun sowohl gegen den römisch-deutschen Kaiser und dessen Verbündete im Reich als auch gegen den spanischen König. Die französischen Armeen waren militärisch erfolgreich; gleichwohl belastete der Konflikt die Staatsfinanzen erheblich. Innenpolitisch sah sich Anna einer heftigen Opposition gegenüber, denn die städtischen Gerichtshöfe und Prinzen misstrauten ihrer Regierung. Dem stellte sich Kardinal Mazarin entgegen. Anna entpuppte sich jedoch als völlig anders als erwartet. Die Königin, als spanische Habsburgerin am französischen Hof zunächst verschmäht, wurde selbst zu einer überzeugten Französin. Sie duldete weder Favoriten noch die Schmälerung der königlichen Autorität im Staate. Ihre Generäle wies sie an, die Kämpfe mit unverminderter Härte voranzutreiben. Mazarin leitete die Staatsgeschäfte und führte die absolutistische Politik Kardinal Richelieus fort, indem er die Zentralisierung der Staatsgewalt in der Person des Königs mit aller Macht betrieb. Mit der Unterzeichnung der Friedensverträge zu Münster und Osnabrück (1648) ging Frankreich als größter Profiteur des Dreißigjährigen Krieges hervor. Erhebliche Truppenteile konnten gegen Spanien eingesetzt werden. Doch brach im gleichen Jahr in Frankreich die Fronde (1648–1653) aus, ein offener Bürgerkrieg des Pariser Parlaments und der Prinzen gegen die Politik des königlichen Absolutismus. Als Möglichkeit zur Revolte diente die Minderjährigkeit Ludwigs. Die Frondeure gaben vor, gegen die negativen Einflüsse des Leitenden Ministers Mazarin zu kämpfen. Dieser wurde als Italiener allgemein wenig geschätzt; insbesondere die königlichen Prinzen nahmen ihm übel, dass er sie konsequent von jeder politischen Macht ausschloss. Die Parlamente (Oberste Gerichtshöfe) hingegen wurden vom Englischen Bürgerkrieg beeinflusst und sahen eine Chance, ihre Privilegien gegenüber der Krone auszubauen. Die Fronde scheiterte im Jahr 1652, doch sollten die Unruhen noch bis zum Jahr 1654 anhalten. Ludwig XIV. wurde im Jahr 1651 für volljährig erklärt, womit die Regentschaft seiner Mutter offiziell endete. Der König – noch zu jung zur Regierung – übertrug erwartungsgemäß die Macht an Mazarin und nicht an einen Prinzen aus dem Königshaus. Am 7. Juni 1654 erfolgte die Krönung und Salbung des Königs in der Kathedrale von Reims, womit die Ordnung im Königreich, für jeden ersichtlich, wiederhergestellt war. Die Krönung des Königs sollte für die Menschen bewusst als Symbol für Kontinuität und den Schutz Gottes über den König stehen. Während des Bürgerkriegs kam der Kampf mit Spanien zum Erliegen, die Frondeure bekamen überdies Unterstützung von den Spaniern. Nachdem wieder innerer Friede herrschte, konnte Frankreich seine Kräfte gegen Spanien bündeln und erzielte Erfolge durch Angriffe auf die Spanischen Niederlande. Im Jahr 1657 gelang es Mazarin, das republikanische England unter Oliver Cromwell in einem Geheimvertrag zum Bundesgenossen gegen die Spanier zu gewinnen. Spanien sah sich gezwungen, den Frieden zu suchen. König Philipp IV. bot Ludwig die Hand seiner ältesten Tochter, der Infantin Maria Teresa von Spanien, an. Zwei Jahre später trafen beide Monarchen auf der Fasaneninsel, zwischen Frankreich und Spanien, zusammen und unterzeichneten den Pyrenäenfrieden. Frankreich erwarb das Roussillon nördlich der Pyrenäen und bekam von den Spanischen Niederlanden ein Großteil des Artois sowie weitere Grenzfestungen. Die Infantin verzichtete auf ihr Erbrecht an der spanischen Krone gegen eine Mitgift von 500.000 Écu, eine für die Spanier unerschwingliche Summe, die nicht ausgezahlt werden konnte. Dadurch blieb Maria Teresa älteste erbberechtigte Tochter des spanischen Königshauses. Die Heirat zwischen Ludwig XIV. und Maria Teresa (einer Kusine ersten Grades) fand am 9. Juni 1660 in Saint-Jean-de-Luz statt. Am 1. November 1661 wurde Dauphin Louis geboren. === Die Alleinherrschaft === Seit Ludwigs Kindheit führte Kardinal Mazarin die Geschäfte für den König. Der Leitende Minister galt als ein außerordentliches Talent in der Politik und unterrichtete daher selbst den König in der Kunst der Staatsführung. Ludwig XIV. bekam so eine solide und sehr umfassende Ausbildung in Staatsangelegenheiten, Recht, Geschichte und Militärstrategie, aber auch in diversen Sprachen und Wissenschaften. Als Mazarin am 9. März 1661 starb, verkündete der 22-jährige König dem Staatsrat, dass er keinen Leitenden Minister mehr einsetzen, sondern die Regierungsgeschäfte in eigener Regie führen werde. Diese Regierungsgrundsätze, heute auch als das absolutistische Kabinettsystem bezeichnet, hielt er im Jahr 1670 in seinen „Memoiren“ für seinen Nachfolger fest. Der Hof und die Minister waren zunächst irritiert, doch man meinte, es würde sich nur um eine kurze Phase handeln. Ludwig hingegen begann, die Regierung umzubilden und entließ einen Großteil des Staatsrats, selbst seine Mutter schloss er aus, so dass nur noch die wichtigsten drei Minister an den Ratssitzungen teilnahmen. Einer von diesen war Nicolas Fouquet, der Finanzminister. Nach einer Denunziation durch den ehrgeizigen Jean-Baptiste Colbert ließ Ludwig Fouquet wegen Korruption und Hochverrat verhaften und durch jenen ersetzen. Fouquet hatte Staatsgelder veruntreut und Befestigungen ohne Genehmigung des Königs bauen lassen. Letzteres interpretierte Ludwig als Vorbereitung einer Rebellion gegen seine Person. Mit der neuen Regierung wurde ein Reformprogramm beschlossen, dessen Ziele die Förderung von Wirtschaft und Wissenschaft, der massive Ausbau von Flotte und Armee und eine tiefgreifende Reformierung der Bürokratie war. Den Flottenbau betrieben maßgeblich Colbert und sein Sohn, der Marquis de Seignelay. Reform und Vergrößerung der Armee hingegen waren Hauptaufgabe des Ministers Le Tellier sowie dessen Sohns, des Marquis de Louvois. Ludwig schrieb selbst an seine Mutter: „Ich bin nicht der Gimpel, für den mich die Höflinge gehalten haben …“ Der junge Ludwig XIV. versuchte, Europa zu beeindrucken. Diese Gelegenheit bot sich ihm bereits im Jahr 1661 beim Londoner Kutschenstreit, in dessen Folge Spanien den Vorrang des Königs von Frankreich in ganz Europa anerkennen musste. Den europäischen Höfen wurde klar, dass Ludwig nicht die Absicht hatte, ein schwacher König zu sein. Im Jahr 1662 kam es zur Defensivallianz zwischen Frankreich und Holland; kurz darauf kaufte Ludwig XIV. vom englischen König Karl II. die Stadt Dünkirchen. Doch der König wollte alle Welt nicht nur politisch überraschen, sondern auch seine Macht und seinen Reichtum zur Schau stellen. Dies ging am besten durch prächtige, für den Barock typische Hoffeste. Daher fand im Jahr 1664 das Fest Die Freuden der verzauberten Insel (Plaisirs de l’Île enchantée) statt. Europas Fürsten waren verblüfft und erstaunt über den Luxus dieser Vergnügungen und begannen zunehmend, den Lebensstil des französischen Monarchen nachzuahmen. Die Legende des „Sonnenkönigs“ nahm hier ihren Anfang. Im Jahr 1665 starb sein Onkel und Schwiegervater Philipp IV. von Spanien und Ludwig machte zum ersten Mal das Erbrecht seiner Gemahlin geltend. Er forderte auf Grundlage des brabantischen Devolutionsrechts einen Erbteil für Frankreich, nach welchem Töchter aus erster Ehe ein vorrangiges Erbrecht haben. In Spanien saß mit Karl II. ein Kind auf dem Thron, die Regentschaft führte dessen Mutter, Maria Anna von Österreich. Die Regentin wies die französischen Forderungen zurück, und Ludwig bereitete einen Krieg vor, der im Jahr 1667 ausbrach und bis ins Jahr darauf andauerte (Devolutionskrieg). Die Armeereformen des Königs waren bereits weit vorangeschritten. Er hatte mit einem stehenden Heer, wie zuvor der französische König Karl VII., ein Novum im neuzeitlichen Frankreich eingeführt: Berufssoldaten, die ständig bereitstanden, streng ausgebildet und diszipliniert, sowie regelmäßig bezahlt und versorgt wurden. Es marschierte eine Armee von 70.000 Mann in die Spanischen Niederlande ein und annektierte danach die Franche-Comté. Spanien sah sich vor vollendete Tatsachen gestellt und hatte keine Mittel zur Gegenwehr. Der Sieg schien uneingeschränkt zu sein, doch fühlte sich nun Frankreichs Alliierter Holland von der Präsenz französischer Truppen bedroht. Die holländischen Generalstaaten verbündeten sich im Jahr 1668 mit England und Schweden zur Tripelallianz gegen Ludwig XIV., um so die Friedensverhandlungen zu beschleunigen. Dieser sah sich nun gezwungen, bei den Verhandlungen in Aachen Abstriche von seinen Forderungen zu machen. Durch den Frieden von Aachen behielt Frankreich große Teile im Westen der Spanischen Niederlande, musste jedoch die Franche-Comté wieder herausgeben. Ludwig XIV. konnte nicht verzeihen, dass ihm sein ehemaliger Alliierter in den Rücken gefallen war, denn er war bisher immer größter Förderer der Niederlande gewesen und hatte noch 1666 zu deren Gunsten im Zweiten Englisch-Niederländischen Seekrieg militärisch interveniert. Er warf den Generalstaaten offen Undankbarkeit und sogar Verrat vor. Dies hielt ihn aber nicht davon ab, noch im selben Jahr das Grand Divertissement Royal in Versailles zu feiern, als Zeichen seines Triumphes. === Der Kampf gegen die Niederlande === Ludwig XIV. hatte nun zwei politische Ziele: Erstens Holland zu bestrafen und zweitens die Grenzen zu begradigen, was nichts anderes hieß, als weitere Teile Spaniens zu erobern. Zuerst zerstörte er die Tripelallianz, indem er 1670 mit seinem Cousin Karl II. von England im Vertrag von Dover ein Offensivbündnis einging und dann Schweden hohe Subsidien für eine Allianz zahlte. Danach annektierte Frankreich das Herzogtum Lothringen und schloss zahlreiche Bündnis- und Neutralitätsabkommen mit benachbarten Fürsten. Schließlich war Holland außenpolitisch und militärisch vollständig isoliert. 1672 erklärten Frankreich und England den Krieg gegen Holland, der Holländische Krieg (1672–1678) begann. Ludwig ließ 120.000 Mann die Grenzen zu den Vereinigten Provinzen der Niederlande überschreiten. Sein Ziel war nicht, Holland zu annektieren, sondern er wollte nur ein Exempel statuieren und Handelsvorteile erzwingen. Eigentliches Ziel war die Bedrohung Spaniens. Französische Truppen nahmen immer mehr Gebiete ein, die Holländer verloren den Kampf und nur die Öffnung der Deiche und die völlige Überflutung breiter Landschaften rettete sie vor der totalen militärischen Niederlage. In dieser Situation wurde Johan de Witt durch Wilhelm III. Prinz von Oranien als Generalstatthalter der Provinzen abgelöst. Dieser ging unverzüglich ein Bündnis mit Spanien und dem römisch-deutschen Kaiser Leopold I. ein. Damit hatte Ludwig XIV. auch sein zweites politisches Ziel erreicht: Spanien und der römisch-deutsche Kaiser erklärten freiwillig den Krieg. Im Jahr 1673 führte er persönlich die französischen Truppen bei der Belagerung von Maastricht. Nach dem Abzug seiner Truppen aus Holland konnte Ludwig seine Armeen nun gegen Spanier und Kaiserliche verwenden. 1674 annektierte er erneut die Franche-Comté, England schied jedoch aus dem Krieg aus. Zur Feier der Siege veranstaltete der König sein drittes berühmtes Fest, das Fest von Versailles. Die Kämpfe zogen sich noch bis 1678 hin, verliefen jedoch höchst erfolgreich für Frankreich. Ludwig hielt während des Krieges 280.000 Mann unter Waffen. Dieser Übermacht und der Kampfstärke der französischen Truppen waren die alliierten Streitkräfte nicht gewachsen, weswegen Frankreich den Holländischen Krieg schließlich gewann. 1678/79 wurde der Friede von Nimwegen geschlossen. Frankreich behielt dabei fast vollständig seine Eroberungen gegen Spanien und im Heiligen Römischen Reich. Der Einfluss und die Dominanz Ludwigs XIV. in Europa verstärkten sich weiter. Trotzdem war der König unzufrieden, da die beabsichtigten Grenzbegradigungen nicht vollständig erreicht wurden. So entließ er 1679 seinen Außenminister, den Marquis de Pomponne, und ersetzte ihn durch Colberts talentierten Bruder Charles Colbert de Croissy. Zur Sicherung der Grenzen begann Ludwig mit dem Ausbau des französischen Festungsgürtels. Der Festungsbaumeister Sébastien le Prestre de Vauban umgab das Königreich mit über 160 neugeschaffenen oder umgebauten Befestigungsanlagen, welche Frankreichs Territorien abriegeln sollten. Dazu gehörten Stadtgründungen wie Saarlouis und Neuf-Brisach, letzteres stellt noch heute ein besonders anschauliches Beispiel für diese Festungsstädte dar. Nach dem erfolgreichen Krieg löste Frankreich seine Armeen nicht auf, sondern behielt diese in voller Kampfstärke weiter unter Waffen. Ludwig benutzte sie zur Durchsetzung der Reunionen, wodurch er seine Eroberungen weiter ausbauen konnte. Zunächst annektierte er die restlichen Teile des Elsass, hier war insbesondere Straßburg sein Hauptziel, welches als Einfallstor für kaiserliche Truppen gedient hatte; es wurde im Jahr 1681 eingenommen. In diesen Jahren wurde auch die Grafschaft Saarbrücken und das Herzogtum Pfalz-Zweibrücken besetzt und in die französische Province de la Sarre umgewandelt. 1683 griffen Truppen Ludwigs XIV. die östlichen Teile der Spanischen Niederlande an und eroberten bis ins Jahr darauf die wichtige spanische Grenzfestung Luxemburg. Daneben erfolgte noch die Besetzung der unteren Schelde, wodurch große Teile Flanderns in französischen Besitz gerieten. Gegen diese offenen Aggressionen mitten im Frieden protestierte Spanien heftig und erklärte noch 1683 den Krieg. Doch kein anderer Staat war bereit, die Waffen gegen Frankreich zu richten, insbesondere war Kaiser Leopold I. durch die Zweite Wiener Türkenbelagerung gebunden. So musste Spanien umgehend um Frieden bitten. Ludwig handelte 1684 zu Regensburg mit Spanien, Kaiser und Reich einen zwanzigjährigen Waffenstillstand aus und erreichte so die vorläufige Anerkennung sämtlicher Reunionen. Dadurch hatte Ludwig XIV. mit keinerlei Gegenwehr mehr zu rechnen. === Der Machtzenit === Ludwigs politische und militärische Übermacht war nach dem Frieden von Nimwegen erdrückend. Frankreichs Diplomaten beherrschten das politische Parkett. Es war die dominierende Seemacht geworden, während es noch 1660 über kaum mehr als zwei Kriegsschiffe verfügt hatte. An Stärke und Kriegstechnik war die französische Armee jeder anderen überlegen, die Wirtschaft florierte und ganz Europa imitierte Frankreichs Kultur. Aufgrund der großen Erfolge verlieh Paris Ludwig im Jahr 1680 den Titel „der Große“ (Ludovicus Magnus). In den Jahren zuvor war Ludwig XIV. neben der Expansion in Europa auch noch mit der Erweiterung des französischen Kolonialreiches beschäftigt. Neben den im frühen 17. Jahrhundert gegründeten Neufrankreich-Kolonien in Kanada gründete er die ersten Kolonien von Französisch-Indien: Chandannagar (1673) und Pondichéry (1674). In Westindien wurde die Insel Martinique französisch. Im Jahr 1682 gründete La Salle am unteren Mississippi eine neue Kolonie und nannte sie zu Ehren des Königs Louisiana. Daneben erwarb der König noch Haiti (1660) und Französisch-Guayana (1664), sowie mit dem Senegal Teile der westafrikanischen Küste und Madagaskar. Innenpolitisch begann Ludwig XIV. seine Kontrolle über die französische Staatskirche auszubauen. Im November 1681 ließ er eine Klerikerversammlung abhalten, welche die Gallikanischen Artikel verabschiedete, wodurch die Macht des Papstes praktisch aufgelöst wurde. Der Einfluss der französischen Könige auf die eigene Kirche war ohnehin sehr stark, nun jedoch durfte der Papst auch keine Legaten mehr ohne des Königs Zustimmung nach Frankreich senden. Bischöfe durften ohne königliche Erlaubnis das Land nicht verlassen, kein Staatsbeamter exkommuniziert werden für Taten, die seinen Dienst betrafen. Alle kirchlichen Privilegien wurden dem Monarchen übertragen, sämtliche Einflussmöglichkeiten des Papstes durch die Billigung des Königs reguliert. Der Papst verweigerte schließlich seine Zustimmung zu diesen Artikeln und erst Jahre später sollte Ludwig einen Kompromiss mit dem Heiligen Stuhl finden. Außerdem ging Ludwig davon aus, dass er, um die Einheit der Nation zu stärken, die durch die Reformation verursachte Spaltung des Christentums überwinden müsse. In dieser Sichtweise folgte er konsequent der Religionspolitik seiner Vorgänger, darin besonders der Vorgabe Kardinal Richelieus, die stets eine Wiederholung der Hugenottenkriege fürchteten. Des Weiteren wurde er in dem tiefen Glauben erzogen, dass die Seele eines Protestanten den Qualen der Hölle ausgeliefert sei, weshalb er es als seine Pflicht ansah, die Seelen seiner hugenottischen Untertanen zu retten. Er setzte deshalb die protestantische Bevölkerung unter Druck, vor allem durch das Edikt von Fontainebleau (1685). Dadurch wurde das im Jahr 1598 von Heinrich IV. ausgerufene tolerante Edikt von Nantes widerrufen. Hugenottische Kirchen wurden daraufhin zerstört, protestantische Schulen geschlossen. Durch Ludwigs Maßnahmen flohen von 1685 bis 1730 etwa 200.000 (von 730.000) Hugenotten ins Ausland, vor allem in die Niederlande, nach Preußen, England und Nordamerika, wo sie, als zumeist gut ausgebildete Fachkräfte, zur Steigerung der Produktivität beitrugen. Diese französischen Flüchtlinge beeinflussten etwa die protestantische Arbeitsethik der Niederlande, wodurch später der bereits erhebliche Reichtum in dieser Region noch gesteigert wurde. Die neuere Forschung hat allerdings gezeigt, dass die Zahl der Geflohenen bei weitem zu gering war, um einen spürbaren Schaden an der französischen Wirtschaft herbeizuführen. Jedoch erschütterte das Edikt von Fontainebleau Frankreichs Ansehen bei den protestantischen Staaten Europas und ein harter Kern von 20.000 Hugenotten entfachte Aufstände in Zentralfrankreich. Die große Mehrheit gab dem Druck jedoch nach und konvertierte, auch aufgrund der Steuerbegünstigungen und der Sonderrechte für Konvertierte sowie der lebenslangen Befreiung vom Dienst in der Miliz. Aufgrund der einsetzenden Flüchtlingswellen des Jahres 1669 verhängte Ludwig ein Emigrationsverbot. Nach den Bekehrungs- und Missionierungsaktionen gipfelten die Verfolgungen 1681 in den Dragonaden und der Zerstörung hunderter protestantischer Dörfer. Letztlich war für Ludwig XIV., seine Minister und Kardinäle nur ein katholisches Frankreich ein einheitliches und stabiles Frankreich. Ab dem Jahr 1686 formierte sich die Liga von Augsburg, ein Zusammenschluss protestantischer und katholischer Staaten gegen Frankreichs Eroberungspolitik. Mitglieder waren der römisch-deutsche Kaiser Leopold I., Bayern (Kurfürst Maximilian II. Emanuel), Brandenburg (Friedrich Wilhelm), die Vereinigten Provinzen, Spanien (Karl II. von Spanien) und Schweden (Karl XI. von Schweden). 1688 spitzte sich die diplomatische Lage weiter zu, zum einen durch die Glorious Revolution, in der der mit Ludwig sympathisierende König Jakob II. von England gestürzt wurde, und zum anderen durch den Streit um die Nachfolge des Kölner Kurfürsten Maximilian Heinrich, da der von Frankreich unterstützte Kandidat durch den Widerstand des Kaisers und des Papstes nicht anerkannt wurde. Ludwig entsandte 1688 Truppen in die Pfalz, um angebliche Ansprüche durch seine Schwägerin Liselotte von der Pfalz auf Allodialbesitz ihres verstorbenen Bruders, Kurfürst Karl II., zu demonstrieren und eine dauerhafte Anerkennung seiner Reunionen zu erreichen. Durch diese Maßnahme, die zur späteren Verwüstung der Pfalz und Badens durch die Franzosen bei ihrem Rückzug aus den linksrheinischen Gebieten führte, eskalierte der Konflikt zwischen König und Liga. Letztere erklärte Frankreich den Krieg, dem sich auch England unter dem neuen König Wilhelm von Oranien anschloss. Die Konfrontation mündete in den Pfälzer Erbfolgekrieg (1688–1697). Das auf einen längeren Krieg nicht vorbereitete Frankreich war nach anfänglichen Rückschlägen wie dem Verlust von Mainz und Bonn 1689 insgesamt militärisch sehr erfolgreich. Französische Armeen besetzten weite Teile der Spanischen Niederlande, behaupteten ihre Reunionen gegen das Reich und marschierten mehrmals ins rechtsrheinische Gebiet ein. Ludwig selbst beteiligte sich an einigen Belagerungen wie in Mons und in Namur. Die Truppen der Alliierten waren weniger gut ausgebildet und zahlenmäßig unterlegen. Zudem waren umfangreiche Truppenverbände des Kaisers im 5. Türkenkrieg gebunden. Die Allianz konnte kaum Siege verbuchen, doch auch Ludwigs Flotte erlitt eine Niederlage vor La Hougue (1692). Es gelang keiner der beiden Seiten, den Gegner endgültig niederzuringen. Frankreich konnte nicht aus dem Reich verdrängt werden. Als Ludwig XIV. einsah, dass er trotz mehrerer strategisch vorteilhafter Siege, wie der Schlacht bei Neerwinden am 29. Juli 1693, militärisch keinen Frieden erzwingen konnte, begann er, seine Diplomaten als politische Waffe einzusetzen. Die erschöpften Kontrahenten begannen den Frieden von Rijswijk zu vereinbaren, der im Jahr 1697 unterzeichnet wurde. Ludwig suchte hier einen maßvollen und stabilen Frieden auszuhandeln, der auch seine Gegner befriedigen konnte. Daher gab er Luxemburg, das Herzogtum Lothringen und die Pfalz wieder heraus und bekam dafür die elsässischen Reunionen und den Besitz von Straßburg endgültig bestätigt. Darüber hinaus erkannte Ludwig XIV. den Prinzen von Oranien als König von England an. Frankreich sollte so die Möglichkeit bekommen, sich langfristig von den Kriegsanstrengungen zu erholen. === Die letzten Jahre === Nach dem Jahr 1697 begann die spanische Thronfolge zunehmend zum Hauptthema an den Höfen Europas zu werden. Der spanische König Karl II. hatte keine Kinder, daher war seine Nachfolge unklar. Sowohl die Bourbonen als auch die Habsburger der österreichischen Linie machten Erbansprüche geltend, denn König Ludwig XIV. und auch der Kaiser des heiligen römischen Reiches, Leopold I., hatten Töchter Philipps IV. von Spanien geheiratet. Ludwig hatte allerdings mit Maria Teresa von Spanien die ältere von beiden geehelicht und diese hatte nie mit Gültigkeit auf ihr Erbrecht verzichtet. Leopold hingegen hatte die jüngere Tochter Margarita von Spanien geheiratet und war zudem der Meinung, dass Spanien im Besitz der Habsburger bleiben müsste. Nun fürchteten andere Staaten wiederum, dass die Mächtekonstellation in Europa erheblich erschüttert werden würde, sollten sich Frankreich oder Kaiser Leopold Spanien gänzlich einverleiben. Unter diesen Bedenken handelte Ludwig XIV. mit Wilhelm III. von England den 1. Teilungsvertrag aus. Der bayerische Prinz Joseph-Ferdinand sollte Spanien bekommen und die europäischen Besitzungen Spaniens sollten zwischen Ludwig und Leopold aufgeteilt werden. Kaiser Leopold akzeptierte diesen Vertrag. Spanien hingegen lehnte jede Teilung seines Reiches ab. Karl II. entschloss sich stattdessen, den bayerischen Prinzen Joseph-Ferdinand als Universalerben für alle Ländereien einzusetzen, in der Hoffnung, dass sowohl Ludwig als auch Leopold auf ihre vertraglichen Rechte verzichten würden. Mit dem Tod des erst sechsjährigen bayerischen Prinzen Joseph-Ferdinand im Jahre 1699 wurde dieser Plan hinfällig. Karl II. wollte aber die Einheit seines Reiches wahren und entschied sich vorerst für den Erzherzog Karl – den jüngeren Sohn des Kaisers – als seinen Erben. Dessen Ansprüche wurden jedoch durch den 2. Teilungsvertrag zwischen Frankreich und England geschmälert. Nach diesem sollte Erzherzog Karl zwar Spanien erben, aber die italienischen Besitzungen sollten an Frankreich fallen. Daraufhin verweigerte Kaiser Leopold I. seine Zustimmung zum 2. Teilungsvertrag und beanspruchte das gesamte spanische Erbe ungeteilt für seinen Sohn Karl, womit er Frankreich, Holland und England brüskierte. Kurz vor seinem Tod im Jahr 1700 entschied sich Karl II. jedoch anders. Er setzte den zweiten Sohn des französischen Kronprinzen Louis, den Herzog von Anjou, als Universalerben ein. Sollte dieser unerwartet den französischen Thron erben, so würde dessen jüngerer Bruder, der Herzog von Berry, Spaniens neuer König. Sollte auch dieser nicht mehr zu Verfügung stehen, so würde dann erst Erzherzog Karl sein Erbe werden. Damit erkannte Karl II. von Spanien die legitimen Thronrechte der Bourbonen an, welche sich von Maria Teresa von Spanien herleiteten. Als Ludwig XIV. die Nachricht vom Tod des spanischen Königs und dessen neuem Testament erfuhr, sah er sich in einer schwierigen Lage: Sollte er das Testament für seinen Enkel annehmen oder auf dem 2. Teilungsvertrag mit England bestehen, den Kaiser Leopold jedoch nie anerkannt hatte? Nach intensivem Abwägen mit seinen Ministern entschloss er sich, das spanische Erbe zu akzeptieren, weil ein Krieg mit dem Kaiser nun ohnehin unvermeidlich war und Frankreich so die bessere Position gegen den Kaiser einnehmen konnte. Es gilt als gesichert, dass eine Ablehnung des Testaments den Krieg nicht hätte verhindern können, da Kaiser Leopold den Waffengang plante, wenn Frankreich auf dem 2. Teilungsvertrag bestanden hätte. So proklamierte Ludwig XIV. seinen Enkel Philippe d’Anjou zu Philipp V. und damit zum neuen König von Spanien. Ludwig befahl die sofortige Besetzung der spanischen Nebenländer, noch bevor Leopold sich ihrer bemächtigen konnte. Durch die Sorge, dass Frankreichs Übermacht dadurch noch zunehmen könnte, vereinigten sich England, Holland und das Reich mit dem Kaiser zum Kampf gegen Ludwig, wodurch die Große Allianz geschaffen wurde. Die französisch-spanische Allianz wurde durch Savoyen, Kurköln und Bayern unterstützt, wodurch der Spanische Erbfolgekrieg (1702–1713) ausgelöst wurde. Frankreich verfolgte nun zwei Ziele: Das wichtigste war die Durchsetzung Philipps V. als spanischer König, außerdem beabsichtigte Ludwig XIV. weitere Eroberungen gegen das Reich zu machen.Der Krieg verlief wenig geradlinig. Frankreichs Armeen dominierten zu Beginn das Feld. Die kaiserlichen Alliierten hatten jedoch alle verfügbaren Kräfte gegen Frankreich mobilisiert und ihre Armeen modernisiert und ausgebaut. Frankreich war gezwungen, während des Krieges 680.000 Soldaten zu unterhalten, um ein schlagkräftiges Gegengewicht zu bilden und die feindlichen Armeen im Heiligen Römischen Reich zu beschäftigen. Frankreichs Staatsfinanzen wurden überbeansprucht; leere Kassen waren die Folge. 1708 sah die militärische Lage für Frankreich zunächst so schlecht aus, dass Ludwig XIV. um Frieden ersuchte. Da die Alliierten jedoch unannehmbare Forderungen stellten, wurden Gespräche unverzüglich abgebrochen. In der Folge wendete sich das Blatt wieder leicht zu Gunsten Frankreichs, eine Entscheidung brachte dies jedoch nicht. Alle Parteien waren zermürbt und auch die kaiserlichen Alliierten standen vor einem finanziellen und wirtschaftlichen Kollaps. Frankreich war klar, dass es die feindliche Koalition nicht mehr endgültig besiegen konnte und die Koalition musste erkennen, dass es ihnen unmöglich war, Frankreich zu überwältigen oder Philipp V. aus Spanien zu vertreiben. Als im Jahr 1711 Kaiser Joseph I. starb und Erzherzog Karl damit neuer Kaiser wurde, erkannte England zunehmend die Gefahr, dass Karl sowohl Spanien als auch das Reich unter seiner Herrschaft vereinen könnte, und begann Friedensgespräche mit Frankreich. Zwei Jahre später unterzeichnete England den Separatfrieden von Utrecht mit Ludwig und Philipp und schwächte so die Kaiserlichen weiter. Durch die Besetzung Freiburgs im November 1713 durch Frankreichs Truppen sah sich Kaiser Karl VI. gezwungen, ebenfalls den Frieden zu suchen und 1714 den Frieden von Rastatt zu akzeptieren. Danach schlossen Frankreich und das Reich den Friede von Baden. Philipp V. blieb König von Spanien und behielt ebenso dessen Kolonien. Die Reste der Spanischen Niederlande und die italienischen Besitzungen fielen an den Kaiser. Damit hatte Frankreich sein politisches Hauptziel erreicht und die Bourbonen auf Spaniens Thron etabliert, musste jedoch auf fast jede militärische Eroberung verzichten. Dennoch war die habsburgische Umklammerung Frankreichs endgültig zerschlagen worden. In seinen letzten Jahren kümmerte sich Ludwig XIV. hauptsächlich um die Erholung der Staatsfinanzen durch Einsparungen und Finanzreformen sowie die Förderung der Wirtschaft. Da sein Urenkel Ludwig XV. noch ein Kleinkind war, übertrug Ludwig XIV. die Regierungsgewalt testamentarisch auf seinen Neffen, Philipp II. d’Orléans, der dann als Regent fungieren sollte. === Tod und Grabschändung === Laut dem Tagebuch von Philippe de Courcillon entdeckten die Ärzte des Königs am 2. August 1715 erstmals einen schwarzen Fleck am linken Bein, der bald als Wundbrand identifiziert wurde. Bis zum 29. August soll der Wundbrand sich bis zum Knie ausgebreitet haben.Ludwig XIV. starb am 1. September 1715 gegen 8:15 Uhr an den Folgen des Wundbrandes im Alter von 76 Jahren. Sein Leichnam wurde durch den Chirurgen und Dozenten Pierre Dionis (1643–1718) mittels Gerbsäure in Pulverform konserviert und später in der Abtei von Saint-Denis beigesetzt, der traditionellen Grablege der französischen Könige. Im Rahmen einer getrennten Bestattung wurde das Herz Ludwigs XIV. in der Kirche Saint-Paul-Saint-Louis des Jesuitenklosters Maison professe de Paris (auch Couvent des Grands-Jésuites genannt) in der Rue St. Antoine bestattet, dessen Geistliche – wie Pater François d’Aix de Lachaise – ihn lange Jahre als Beichtväter begleitet hatten. Die Eingeweide Ludwigs XIV. kamen nach Notre-Dame. Der Sonnenkönig hatte das französische Territorium wie keiner seiner Vorgänger vergrößert. Frankreich war zum mächtigsten Staat und kulturellen Zentrum Europas avanciert. Französisch diente im Folgenden im 17. und 18. Jahrhundert als Sprache des guten Geschmacks, ähnlich wie später Englisch zur globalen Wirtschaftssprache werden sollte. Im 18. Jahrhundert übernahm zum Beispiel der russische Adel französische Sitten und sprach eher Französisch als Russisch. Das französische Volk war nach den Holländern das wohlhabendste Europas geworden, die Wirtschaft erholte sich nach der Stagnation im Spanischen Erbfolgekrieg schnell, sie wuchs in erheblichem Maße weiter, auch wenn die Steuern vergleichsweise hoch waren. Andererseits jedoch war die Bevölkerung nach 72 Jahren Herrschaft ihres alten Königs überdrüssig. Die enormen finanziellen Belastungen des letzten Krieges lasteten die Menschen ebenfalls Ludwig XIV. an. Der alte König gestand selbst, dass „nichts mein Herz und meine Seele tiefer gerührt hat als die Erkenntnis des völligen Ausblutens der Völker meines Reichs durch die unermeßliche Steuerlast“, welche der Spanische Erbfolgekrieg nötig gemacht hatte. Als sein Körper in die Gruft überführt wurde, berichtete der Polizeikommissar Pierre Narbonne: „Viele Menschen freuten sich über den Tod des Fürsten, und überall hörte man Geigen spielen.“ Und Voltaire sah neben dem Trauerzug „…kleine Zelte, wo das Volk trank, sang und lachte.“ Man freute sich auf die Herrschaft des neuen Königs und wollte die letzten harten Jahre des Kampfes um den spanischen Thron vergessen. Der Leichnam Ludwigs XIV. ruhte 78 Jahre lang in seinem königlichen Grab, bis die Stürme der Französischen Revolution auch den toten Sonnenkönig erfassten. Die provisorische Regierung hatte nämlich am 31. Juli 1793 die Öffnung und Zerstörung aller Königsgräber in Saint-Denis angeordnet. Das Grab Ludwigs XIV. wurde am 15. Oktober 1793 geöffnet und der darin liegende Leichnam exhumiert. Da der einbalsamierte Tote noch sehr gut erhalten war, wurde Ludwig XIV. zusammen mit einigen anderen verstorbenen Königen, z. B. König Heinrich IV. von Navarra († 1610), für einige Zeit den Passanten vor der Kathedrale zur Schau gestellt und anschließend in eine von zwei außerhalb der Kirche ausgehobenen Gruben geworfen, mit Löschkalk bestreut und wieder vergraben. Während der bourbonischen Restauration wurden die beiden Gruben wieder geöffnet und die darin befindlichen Gebeine aller hier verscharrten Könige, auch die Ludwigs XIV., in einer feierlichen Zeremonie am 21. Januar 1815 nach Saint-Denis rücküberführt und dort in einem gemeinsamen Ossarium in der Krypta der Kathedrale beigesetzt, da die Überreste nicht mehr einzelnen Individuen zugeordnet werden konnten. Ebenso wurde während der Restauration der Herzbecher Ludwigs XIV. von der Kirche Saint-Paul-Saint-Louis, die 1802 Pfarrkirche geworden war, nach Saint-Denis überführt. == Wirtschaft == Als Ludwig XIV. 1661 die Herrschaft antrat, war Frankreichs Staatshaushalt durch den letzten Krieg mit Spanien stark angespannt. Ludwig förderte enorm den Geldkreislauf, indem er große Summen für seine Kriege, für das Hofleben, Kunst und Kultur ausgab. Große Geldmengen verschwanden durch Korruption in der französischen Bürokratie. Ludwig selbst schreibt: „Als Mazarin starb, da herrschte viel Unordnung in der Verwaltung meines Königreiches.“ Ludwig XIV. setzte sich zum Ziel, dieses Chaos zu beseitigen und klare Ordnung in den staatlichen Strukturen Frankreichs herzustellen. Als erstes ließ er 1661 seinen Finanzminister, den „Oberintendanten der Finanzen“ Nicolas Fouquet verhaften, weil sich dieser an den Einnahmen des Staates bereichert hatte, um das luxuriöse Schloss Vaux-le-Vicomte erbauen zu können – ein deutliches Zeichen an dessen Nachahmer. Ludwig XIV. ernannte daraufhin Jean-Baptiste Colbert, den bekanntesten Förderer des Merkantilismus, zu seinem „Generalkontrolleur der Finanzen“. Das Amt des Finanzministers wurde abgeschafft und durch einen Finanzrat ersetzt, dem der König und Colbert persönlich vorstanden. Etwas Unerhörtes zu dieser Zeit, denn ein König hatte sich damals eigentlich nicht um etwas so Unschickliches wie Geld zu kümmern. Indem Colbert die Korruption bekämpfte und die Bürokratie neu organisierte, konnte er die Steuereinnahmen mehr als verdoppeln, ohne neue Steuern erheben zu müssen. So war es Ludwig möglich, bereits am Anfang seiner persönlichen Regierung eine Steuersenkung zu erlassen und so ein schnelleres Wachstum der französischen Wirtschaft zu erreichen. Die Wirtschaft wurde durch die Einrichtung von Handelskompanien und Manufakturen gefördert. Besonders die französische Luxusindustrie wurde bald führend in Europa und darüber hinaus. Mit Waren wie Gobelinteppichen, Spiegeln, Spitzen, Goldschmiedearbeiten und Möbeln, die in ganz Europa begehrt waren, erzielte die Krone Spitzenprofite. Nach innen wurde Nordfrankreich einer Zollunion unterworfen, um so innerfranzösische Handelshemmnisse abzubauen. Colberts Versuche, eine einheitliche Zollbarriere für das ganze Königreich zu erwirken, scheiterten jedoch an lokalen Handelsprivilegien. Das französische Steuersystem enthielt Handelssteuern (aides, douanes), Salzsteuer (gabelle) und Landsteuer (taille). Durch veraltete Regelungen aus dem Feudalismus waren der Adel und der Klerus von diesen direkten Steuern befreit, die von der Landbevölkerung und der aufstrebenden Mittelklasse (der Bourgeoisie) aufgebracht werden mussten. Vermutlich wurde die Französische Revolution auch vom Ärger über dieses alte Steuersystem genährt. Allerdings ist unter Ludwig XIV. die Tendenz festzustellen, den Adel und Klerus der direkten Steuer zu unterwerfen. Zur Zahlung der indirekten Steuern waren diese ohnehin verpflichtet. Der König führte eine Kopfsteuer (capitation) ein, von der die unteren Schichten kaum erfasst wurden, aber von der die beiden oberen Stände in vollem Umfang betroffen waren. Selbst die Prinzen von Geblüt und der Dauphin mussten den höchsten Steuersatz zahlen. Auf diese Weise wurde der Hochadel zum ersten Mal unvermittelt an der Finanzierung des Staates beteiligt. Beim Tode Ludwig XIV. war Frankreich das reichste Königreich Europas mit überdurchschnittlichen Staatseinnahmen, welche die Finanzen anderer Staaten bei weitem übertrafen. Allerdings betrugen die Staatsschulden durch die harten Anforderungen des Spanischen Erbfolgekrieges 3,5 Milliarden Livres; als Ludwig im Jahr 1715 starb, betrugen die Steuereinnahmen 69 Millionen und die Staatsausgaben 132 Millionen Livres. Dies änderte aber nichts an der enormen Leistungsfähigkeit der Wirtschaft. Frankreich verfügte über das zweitgrößte Handelsvolumen und eine deutlich positive Handelsbilanz; nur die Holländer vermochten höhere Gewinne mit ihren internationalen Handelskompanien zu erzielen. Frankreich war ein strukturell stabiles und ressourcenstarkes Land, das mit über 20 Millionen Einwohnern das mit Abstand bevölkerungsreichste Land Europas war. == Kunst macht Politik == Die Herrschaft Ludwigs XIV. nennt man zu Recht das Grand Siècle. Der König hatte die Absicht, die besten Künstler, Architekten, Maler, Poeten, Musiker und Schriftsteller für Frankreich arbeiten zu lassen. Er entfaltete ein noch nie zuvor gesehenes Mäzenatentum mit der Absicht, die gesamte Kunstlandschaft Frankreichs zu beeinflussen, zu prägen und zu lenken, um sie im Interesse königlicher Politik zu instrumentalisieren. Die Kunst stand im Dienste der Verherrlichung des Königs und seiner Ziele, ganz nach barocker Manier. Das Ansehen des Königs und des Staates sollte gesteigert werden; dazu wurde Ludwigs Minister Colbert damit beauftragt Literatur, Kunst und Wissenschaft zu fördern, der den König damit in die Rolle eines Mäzens drängte, der Schriftsteller und Gelehrte verschwenderisch belohnte. Dem Minister wurde die Organisation der Gloire des Königs überlassen. Zahlreiche Königliche Akademien wurden auf allen Gebieten der Kunst und Wissenschaft gegründet: 1648 die Akademie für Malerei und Bildhauerei 1663 die Akademie der Inschriften 1666 die Akademie der Wissenschaften 1671 die Akademie der Architektur 1672 die Akademie der Musik (Académie royale de Musique heute Opéra National de Paris)Im Sinne der Selbstdarstellung des Monarchen sind auch die Feste in Versailles zu verstehen. Die Repräsentation des Königs diente dem Ansehen des Staates in aller Welt. Einige Künstler erklommen im Dienste des Königs ungeahnte Höhen; hier wären besonders Jean-Baptiste Lully auf dem Gebiet der Musik und des Tanzes zu nennen, aber auch Jean-Baptiste Molière, der für Ludwig XIV. Dutzende von Bühnenstücken verfasste. Beide Künstler zusammen zeigten sich für die Organisation der königlichen Spektakel verantwortlich. Daneben förderte Ludwig XIV. noch zahlreiche berühmte Künstler: Darunter auf dem Gebiet der Literatur Nicolas Boileau, Jean de La Fontaine, Pierre Corneille und Jean Racine, in der Malerei Charles Lebrun, Hyacinthe Rigaud und Pierre Mignard, im Bereich der Musik – die Ludwig besonders wichtig war – unter anderem die Komponisten Charpentier, François Couperin, Michel-Richard Delalande, Marin Marais oder die Komponistin Élisabeth Jacquet de La Guerre. In der Architektur förderte Ludwig Louis Le Vau, Claude Perrault, Robert de Cotte, als auch Jules Hardouin-Mansart, die im Auftrag des Königs den französischen klassizistischen Barock prägten, und im Kunsthandwerk Antoine Coysevox sowie insbesondere André-Charles Boulle. Auf dem Gebiet der Wissenschaft konnte Ludwig XIV. einige bekannte Forscher für Paris gewinnen, darunter Giovanni Domenico Cassini, Christiaan Huygens und Vincenzo Maria Coronelli, deren Arbeiten er mit hohen Pensionen unterstützte. === Versailles === Der Bau des Schlosses von Versailles war Teil von Ludwigs Strategie zur Zentralisierung der Macht. Er vollendete die Bestrebungen der Kardinäle Richelieu und Mazarin und schuf einen zentralisierten, absolutistischen Territorialstaat. Nie vergaß der König die traumatisierenden Erlebnisse seiner Kindheit während der Fronde. Daher entschloss er sich, den potentiell rebellischen französischen Adel nicht mehr aus den Augen zu lassen. Er schwächte ihn, indem er sich ein System der Anreize ausdachte, die reichen und mächtigen Adeligen dazu zu bringen, sich lieber an seinem Hof aufzuhalten als ihre eigenen Ländereien in den Provinzen zu verwalten und sich womöglich gegen ihn zu verschwören. Für Verwaltungsaufgaben schuf er einen von ihm finanziell abhängigen Dienstadel, die noblesse de robe. Dadurch konnte Ludwig auch Bürgerliche in Positionen einsetzen, die früher von der Aristokratie beansprucht wurden. So ruhte die politische Macht fest in der Hand des Königs. Bereits im Schloss Saint-Germain-en-Laye, wo er zunächst Hof hielt, versammelte er deshalb einen immer größeren Hofstaat um sich. 1661 lud sein Finanzminister Nicolas Fouquet den ganzen Hof zur mehrtägigen prunkvollen Einweihungsfeier seines Schlosses Vaux-le-Vicomte ein, das im neuesten klassizistischen Barockstil nach den Plänen des Architekten Louis Le Vau und des Gartenarchitekten André Le Nôtre entstanden war. Der junge König, der ein altertümliches Renaissanceschloss bewohnte, betrachtete die Anlage mit Bewunderung und Neid. Doch verzieh er seinem Minister diese Angeberei nicht, Fouquet fiel in Ungnade und wurde bis an sein Lebensende eingekerkert. Nunmehr entschloss sich Ludwig, einen noch weitaus gewaltigeren Palast zu erbauen, eine Herrscherresidenz, die in Europa unübertroffen wäre. Zu diesem Zweck beauftragte er dieselben Baumeister, das kleine Jagdschloss seines Vaters vor den Toren von Paris, in Versailles, zu einer prachtvollen Anlage zu erweitern. Am 6. Mai 1682 bezog der Hof das Schloss. Lediglich bei Hofe konnten Posten, Titel und Ämter errungen werden, und wer sich distanzierte, lief Gefahr, Vorrechte und Prestige zu verlieren. Aus diesem Grund hielt sich die Aristokratie so gut wie ständig um den König auf und versuchte, ihm gefällig zu sein. Dies sorgte dafür, dass zeitweise mehrere Tausend Menschen zugleich das Schloss bewohnten. Um diese Masse zu beschäftigen, erfand der König das ausufernde Zeremoniell am Hof von Versailles. Es unterschied sich vom hergebrachten Spanischen Hofzeremoniell durch größere Nahbarkeit des Monarchen und eine weitreichendere Einbindung von Hofadel und Besuchern. Es wurde vorbildhaft für das Hofzeremoniell zahlreicher europäischer Fürstenhöfe. Auch die Anordnung der Räume, die Enfilade, war vom Zeremoniell bestimmt. Die prunkvollen Stuckdekorationen, Deckengemälde, Supraporten, Tapisserien, die Skulpturen in den Gärten und Alleen enthielten ein mythologisch verklärtes politisches Programm. Die Sinnaussage war: Der König ist der Garant für Ruhe, öffentliche Ordnung und Wohlstand des Staates, für den Frieden oder für den Sieg im Kriege, und niemand hat ein Recht, die Macht des Herrschers von Gottes Gnaden in Frage zu stellen. Prunkvolle Feste, üppige Geschenke, ehrenvolle aber machtlose Ämter sollten Herzöge, Marquis und Grafen in Schach halten. Die ständigen Festlichkeiten und Zeremonien waren anstrengend für alle Beteiligten und verlangten dem König höchste Selbstdisziplin ab. Ihm zu dienen bedeutete, Frankreich zu dienen. Ihm beim Aufstehen, beim allmorgendlichen feierlichen Lever behilflich zu sein, ihm beim Anziehen das Hemd oder bei Tisch das Wasser zu reichen, galt als allergrößte Ehre, die über Aufstieg und Fall bei Hofe entscheiden konnte. Ob man in Gegenwart des Königs stehen, sitzen oder sprechen durfte, wann man den Hut auf- oder absetzen konnte, durch welche Türe man welchen Raum betrat, wem der König ein Lächeln oder ein freundliches Wort zuwarf und wem nicht, war ein für alle Anwesenden sichtbares Zeichen des eigenen Ranges. Ludwig XIV. beherrschte dieses Spiel meisterhaft, so wie ein Dirigent mit kleinsten Gesten und Fingerbewegungen sein Orchester leitet. Er selbst schrieb in seinen Memoiren: „Im übrigen ist es eine der hervorragendsten Wirkungen unserer Macht, einer Sache, die an sich keinen Wert hat, einen unbezahlbaren Preis zuzuordnen.“Die höfische Etikette nötigte die Adeligen dazu, immense Geldsummen für ihre Kleidung auszugeben und ihre Zeit vor allem auf Bällen, Diners und anderen Festlichkeiten zu verbringen, welche die alltägliche Routine des Hoflebens darstellten. Ludwig XIV. soll ein fotografisches Gedächtnis gehabt haben, so dass er beim Betreten eines Saales auf einen Blick feststellen konnte, wer anwesend war. Deshalb konnte kein Aristokrat, der auf die Gunst des Königs angewiesen war, seine Abwesenheit riskieren. === Paris === Paris erlebte unter der Aufsicht Colberts einen Bauboom, wie kaum wieder in der Geschichte. Ludwig fügte dem Tuilerien-Palast das Théâtre des Tuileries hinzu, ließ den Louvre umbauen, die Stadtmauern von Paris schleifen und durch breite Boulevards ersetzen, zahlreiche neue Plätze (darunter die Place des Victoires und Place Vendôme) erbauen, des Weiteren Kirchen (wie Saint-Roch und Val-de-Grâce), Brücken (den Pont Royal), Parkanlagen (wie der Tuileriengarten und die Champs-Élysées), Triumphbögen (z. B. die Porte Saint-Denis) und neue Stadtviertel (darunter die Vorstädte St. Antoine und St. Honoré) errichten. Aber auch so praktische Maßnahmen, wie eine durchgehende Straßenpflasterung, die ersten Straßenlaternen und frühe Formen der Kanalisation durchführen. Unter diesen Baumaßnahmen ist auch das Hôtel des Invalides mit dem Invalidendom zu nennen, wo die Kriegsversehrten kostenlos versorgt wurden, sowie das Hôpital Salpêtrière. Auch das Pariser Observatorium für wissenschaftliche Studien und das Collège des Quatre Nations, das bis heute als Sitz der Académie française dient, zählen dazu, als auch die Gründung der Comédie-Française. Paris wuchs sprunghaft und war mit 700.000 Einwohnern eine der größten Städte der Welt, in der durch Ludwigs Förderung schließlich ein Fünftel der intellektuellen Elite Europas lebte. Die französische Hauptstadt wurde zum städtebaulichen und kulturellen Vorbild für den ganzen Kontinent. === Andere Residenzen === Der französische Hof wechselte des Öfteren den Aufenthaltsort, verließ aber nur höchst selten die Nähe von Paris. Es gab einige Hauptresidenzen in der Umgebung der Hauptstadt, welche seit langem als Sitz der Könige dienten. Diese suchte Ludwig XIV. auszubauen und zu verschönern. In Fontainebleau ließ er in den Gärten ein neues Barockparterre, einen großen Kanal und einen neuen Park anlegen. In Saint-Germain-en-Laye wurde die Große Achse geschaffen und ebenfalls die Gärten neu gestaltet. Durch die Gartenarchitektur wurde André Le Nôtre – der Schöpfer des französischen Barockgartens – in ganz Europa berühmt. Im Schlosspark von Versailles ließ er sich mit dem Grand Trianon zudem ein Lustschloss errichten, welches wie Marly-le-Roi als Privatresidenz des Monarchen gedacht war. In Marly entstand ab 1678 eine imposante Anlage, die als einzige nicht der Öffentlichkeit zugänglich war. Hierher zog sich Ludwig XIV. vom geschäftigen und stets öffentlichen Leben in Versailles zurück. Erscheinen durfte man nur auf ausdrückliche Einladung und eine solche galt als eine der höchsten Ehren im Leben eines Höflings. In der Umgebung, der nunmehr zur Stadt erhobenen Anlagen von Versailles, entstanden zahllose Schlösser und Gärten, die von Angehörigen des Königshauses und vom Hofadel errichtet wurden. Hier suchte man Ruhe vom Hof und ging der Jagd nach, oder lud den König für ein Fest zu seinen Ehren ein. All dies verschlang ungeheure Mengen Geld und der Adel war bald gezwungen Pensionen vom König zu erbitten, um den Lebensstandard zu halten. So vergrößerte sich die Abhängigkeit der Adeligen weiter. == Persönlichkeit == Ludwig XIV. besaß einen komplexen Charakter: Er war für seinen Charme bekannt und brachte jedem die Höflichkeit entgegen, die ihm gebührte. Selbst vor Mägden soll er den Hut gezogen haben. Seine wichtigsten Eigenschaften waren wohl eine unerschütterliche Menschenkenntnis und der ihm nachgesagte scharfe Verstand. Als Monarch legte er einen großen Arbeitseifer an den Tag. Das Regieren fiel ihm leicht, denn er hatte eine geradezu professionelle Einstellung zu seiner Arbeit. Es wird berichtet, dass er in Sitzungen niemals ermüdete und jedem aufmerksam zuhörte, der das Wort an ihn richtete. Ludwig schätzte hohe Bildung, und seine Kenntnisse in Politik und Geschichte waren gefürchtet. Auch zeichnete ihn enorme Willenskraft aus; so begegnete er Schmerzen und Situationen der Todesgefahr mit völliger Gelassenheit und Selbstbeherrschung. Beispielhaft dafür steht, dass er schon wenige Wochen nach einer ohne Narkose durchgeführten Operation wieder ausritt. Dennoch war er auch in hohem Maße von Egozentrik beherrscht, verbunden mit einem hohen Selbstwertgefühl. Er wurde von einem starken Drang nach Ruhm und Reputation geleitet, aber auch vom Gefühl der Pflichterfüllung gegenüber dem Staat und seinen Untertanen. Als Kavalier war Ludwig vorbildlich. Frauen spielten in seinem Leben eine große Rolle, besonders als Mätressen. Seine Familie war ihm wichtig, besonders seinen Kindern schenkte er daher große Aufmerksamkeit. Als Vater und Großvater war er fürsorglich und liebevoll, er konnte aber auch hart und unnachgiebig sein. Er zeugte 11 uneheliche Kinder (die sogenannten königlichen Bastarde, bâtards royaux), die er – mit Ausnahme der im Kleinkindalter Verstorbenen – legitimierte und in den Prinzenrang erhob; die sechs das Erwachsenenalter Erreichenden verheiratete er ausnahmslos in der eigenen Familie, mit Prinzen und Prinzessinnen von Geblüt, was nicht immer ohne Widerspruch blieb. Grund hierfür war vor allem, dass sie trotz hoher Titel weder auf internationaler Ebene noch in den stolzen französischen Adel vermittelbar waren.Ludwig war von durchschnittlicher Körpergröße und trug hohe Absätze, um größer zu wirken. Zeitgenossen berichteten sogar, dass er auf viele Menschen durch seine äußere Erscheinung recht einschüchternd wirkte. Als Liebhaber und Förderer des Hofballetts tanzte er bis zu seinem 30. Lebensjahr ausgesprochen gerne in öffentlichen Aufführungen. Der Liebe zum Ballett verdankt Ludwig auch seinen heute noch geläufigsten Beinamen „Roi Soleil“ (deutsch: „Sonnenkönig“), denn als noch nicht Vierzehnjähriger hatte er im „Ballet Royal de la Nuit“ im Februar und März 1653 u. a. die Rolle der aufgehenden Sonne getanzt. Ludwig war auch ein guter Reiter, liebte die Jagd, das Schauspiel und besonders die Musik. Mit zahlreichen Künstlern unterhielt er freundschaftliche Beziehungen, unter denen sich Molière, Lully und Le Nôtre einer besonders tiefen Zuneigung sicher sein durften. Einige Historiker sagen Ludwig XIV. nach, er hätte von den Bourbonen die Lebensfreude, von den Medici die Kunstliebe und von den spanischen Habsburgern die majestätische Würde geerbt. In der später sogenannten Kleidermode zur Zeit Ludwigs XIV. war er durch seinen persönlichen Geschmack immer wieder stilbildendes Vorbild, so bei der Einführung der Allongeperücke und des Justaucorps. == Bedeutung == Ludwig XIV. steht für den monarchischen Absolutismus schlechthin, er hat diesen zwar nicht begründet, aber in Frankreich ausgebaut und verfestigt. Auf dem Feld der Innenpolitik zeichneten ihn insbesondere die effektive Stärkung der königlichen Zentralverwaltung aus, um so traditionelle Machtrivalen, wie Schwertadel und Provinzialstände, zu schwächen. Dazu baute Ludwig konsequent ein straffes Netz aus dreißig Intendanten auf, die als Funktionsträger des Königs fungierten und so erfolgreich den Willen der Krone in den Provinzen durchsetzen konnten. Dies war sicherlich einer der wichtigsten Fortschritte seiner Herrschaft. Aber es wären ebenso die Gesetzgebungswerke des Königs auf dem Gebiet der Rechtspflege (Code Louis), des Handels, der Schifffahrt und des Sklavenhandels (Code Noir) zu nennen, die zu den großen innen- und wirtschaftspolitischen Leistungen seiner Regierung gezählt werden. Der Code Noir ist eines der vielen Gesetze, die auf Jean-Baptiste Colbert zurückgehen, und ist laut Louis Sala-Molins, Professor für politische Philosophie an der Sorbonne, der monströseste juristische Text der Moderne.Zu den Schattenseiten seiner Herrschaft gehören zweifellos auch die Repressionen gegenüber den Hugenotten, die beispielhaft für die religiöse Intoleranz der Epoche stehen und in fast ganz Europa auf ähnliche Weise stattgefunden haben. Damals war die 1685 erfolgte Aufhebung des Ediktes von Nantes in Frankreich aber eine der populärsten Entscheidungen seiner Amtszeit.Der Vorwurf hingegen, Ludwig XIV. hätte sein Land in den Ruin geführt, ist angesichts der historischen Realität unplausibel. Eine wirtschaftliche Stagnation ließ sich in Frankreich nur während des Spanischen Erbfolgekriegs beobachten, als auch die Steuern für Gewerbe, Grundherrn und Kirche ungewöhnlich hoch waren sowie durch diverse Missernten Hungersnöte hinzukamen. Nach dem kräftezehrenden Erbfolgekrieg zeigte sich das Reich der Bourbonen zwar als hoch verschuldet, aber noch immer prosperierend. Die Staatsverschuldung von 1715 resultierte auch nicht aus einem übertriebenen Hang zu höfischen Luxus und Großbauten, sondern war überwiegend die Folge des Spanischen Erbfolgekriegs, der ungeheure finanzielle Anstrengungen nötig gemacht hatte. Zweimal ließ er alles Silber im Land konfiszieren, einschmelzen und prägte daraus Münzen, um seine Armeen bezahlen zu können. Erst mit dem Lawschen Finanzsystem – zwei Jahre nach Ludwigs Tod und ab 1716 – konnte durch die Mississippi-Blase mit dem anschließenden Zusammenbruch der Bank ein Großteil der Staatsschulden abgeschrieben werden.Die größten Erfolge kann Ludwig im Bereich der Außenpolitik vorweisen. Er hinterließ ein mächtigeres, größeres und auch strategisch abgesichertes Frankreich, das nun endgültig als eine der führenden Seemächte anerkannt war. Abgesichert nicht zuletzt deshalb, weil es ihm in den letzten Jahren seiner Herrschaft gelungen war, die habsburgische Einkreisung für immer zu beenden. Allerdings musste Ludwig dafür lange Kriege führen, deren Kosten die große Masse der Bevölkerung zu tragen hatte. Dennoch waren die Steuern seiner Zeit sicher nicht – wie gern behauptet – ruinös für die Untertanen. Eine beachtliche Leistung nach innen und außen war ebenso die Kunst- und Repräsentationspolitik. Mit deren Hilfe hatte Ludwig quasi eine Hegemonie der französischen Kultur über Europa etablieren können, die sich sogar bis in das 19. Jahrhundert erhalten sollte.Der „Sonnenkönig“ wurde immer wieder, je nach Epoche und politischer Ausrichtung, höchst unterschiedlich bewertet. So galt er den Republikanern als ein Scheusal der Autokratie und die nationalistischen Deutschen stilisierten ihn zum Raubkönig, der Deutschland im Würgegriff gehalten habe. Tatsächlich lieferte Ludwig durch seine aggressive Expansionspolitik den Deutschnationalen ein Argument für die deutsch-französische Erbfeindschaft. Andere hingegen sehen in ihm einen pflichtbewussten und umsichtigen Monarchen, der bereits Prinzipien der Aufklärung vorwegnahm. In Frankreich wird er bis heute für seine tatkräftige Steigerung der nationalen Größe auch verehrt und zu den mit Abstand bedeutendsten Persönlichkeiten der französischen Geschichte gezählt. Der erste Autor, der ihm eine umfangreiche historische Analyse widmete, war der Philosoph Voltaire. == Schriften == Mémoires pour l’instruction du Dauphin (Gedanken zur politischen Erziehung des Thronfolgers): Die politische Autobiografie Ludwigs XIV. entstand ab 1670 und war eigentlich dazu gedacht, den Kronprinzen in die Geheimnisse der Politik einzuführen. Hierin legt der König Rechenschaft über seine ersten Regierungsjahre ab. Das Werk umfasst die Memoiren der Jahre 1661, 1662, 1666, 1667 und 1668, sowie die Betrachtungen über den Herrscherberuf von 1679 und die politischen Ratschläge an seinen Enkel Philipp V. von Spanien aus dem Jahr 1700. Sie stellen nicht nur einen Tatenbericht dar, sondern geben auch einen lebendigen Eindruck von der Weltanschauung und dem Realismus des Monarchen. Am Ende seiner Herrschaft wollte Ludwig XIV. die geheimen Manuskripte im Kamin vernichten, nur das beherzte Eingreifen des Herzogs de Noailles und sein Talent, ihm diese „abzuschwatzen“, retteten sie. Im Jahr 1749 übergab der Herzog die Manuskripte der königlichen Bibliothek. Manière de montrer les jardins de Versailles („Art und Weise, die Gärten von Versailles zu besichtigen“): Dieser Führer stellt einen sehr intimen Einblick in das Wesen des Königs dar. Die königlichen Gärten, geschaffen von André Le Nôtre, hatten eine politische Funktion zu erfüllen, ihre Aussage als Instrument des Staates war eindeutig. Ludwig XIV. liebte seine Gärten sehr, weshalb er eigenhändig diese Anweisungen verfasste, mit deren Hilfe es möglich war, die Gärten in ihrer logischen Abfolge zu begehen und so den Kunstgenuss auf das höchste zu steigern. Es sind sechs Versionen bekannt. == Kinder == === Legitime Kinder mit Königin Marie Therese === Louis von Frankreich „Grand Dauphin“ (* 1. November 1661; † 14. April 1711) Anne Élisabeth von Frankreich (* 18. November 1662; † 30. Dezember 1662) Marie Anne von Frankreich (* 16. November 1664; † 26. Dezember 1664) Marie Thérèse von Frankreich (* 2. Januar 1667; † 1. März 1672) Philippe Charles von Frankreich (* 11. August 1668; † 10. Juli 1671), Herzog von Anjou (1668–1671) Louis François von Frankreich (* 14. Juni 1672; † 4. November 1672), Herzog von Anjou (1672) === Illegitime Kinder === Vier Kinder mit Mademoiselle de La Vallière: Charles de Bourbon (* 19. November 1663; † 1665) Philippe de Bourbon (* 7. Januar 1665; † 1666) Marie Anne de Bourbon, mademoiselle de Blois (1666–1739); ⚭ Louis Armand, prince de Conti Louis de Bourbon, comte de Vermandois (* 2. Oktober 1667; † 18. November 1683)Sechs Kinder mit Madame de Montespan: Louis Auguste de Bourbon, duc du Maine (1670–1736) Louis César de Bourbon, comte de Vexin (1672 – 10. Januar 1683) Louise Françoise de Bourbon, mademoiselle de Nantes (1673–1743); ⚭ Louis de Bourbon, prince de Condé Louise Marie (12. November 1674 – 15. September 1681) Françoise Marie de Bourbon, mademoiselle de Blois (1677–1749); ⚭ Philippe d’Orléans, duc d’Orléans Louis Alexandre de Bourbon, comte de Toulouse (1678–1737)Ein Kind mit Mademoiselle de Fontanges: 1 Sohn (* und † 1679) == Vorfahren == == Darstellung im Film == Versailles – Könige und Frauen, (Frankreich, Italien) 1954, Hauptdarsteller und Regie: Sacha Guitry Liselotte von der Pfalz, (Deutschland) 1966, Darsteller: Hans Caninenberg, Regie: Kurt Hoffmann Die Machtergreifung Ludwigs XIV. (Frankreich) 1966, Hauptdarsteller: Jean-Marie Patte, Regie: Roberto Rossellini Die Allee des Königs, (L’allée du roi), (Frankreich) 1996, Hauptdarsteller Didier Sandre, Regie: Nina Companeez Der Mann in der eisernen Maske, (Vereinigte Staaten, Vereinigtes Königreich, Frankreich) 1998, Hauptdarsteller: Leonardo DiCaprio, Regie: Randall Wallace Der König tanzt (Le Roi danse), (Frankreich, Belgien, Deutschland) 2000, Hauptdarsteller: Benoît Magimel, Regie: Gérard Corbiau Die Gärtnerin von Versailles, (Vereinigtes Königreich) 2014, Hauptdarsteller & Regie: Alan Rickman Der Tod von Ludwig XIV. (Frankreich, Spanien) 2017, Hauptdarsteller Jean-Pierre Léaud, Regie: Albert Serra Versailles, Fernsehserie, (Frankreich, Kanada, Vereinigtes Königreich, Vereinigte Staaten) 2015–2017, Hauptdarsteller: George Blagden == Quellen == Schriften Ludwigs XIV. Briefe. Hrsg. von P. Gaxotte, Übersetzung M. Spiro. Kompass, Basel/Leipzig 1931. Manière de montrer les jardins de Versailles. Simone Hoog, Réunion des Musées Nationaux 2001, ISBN 2-7118-4224-X. Memoiren. Hrsg. von J. Longnon, Übersetzung L. Steinfeld. Kompass, Basel/Leipzig 1931. Mémoires de Louis XIV. Jean Longnon, Tallandier, Paris 2001, ISBN 2-235-02294-4.Weitere Quellen Elisabeth Charlotte von der Pfalz: Die Briefe der Liselotte von der Pfalz. Insel, Frankfurt am Main 2004, ISBN 3-458-32128-4. Giovanni B. Primi Visconti: Mémoires sur la cour de Louis XIV. Perrin, Paris 1988, ISBN 2-262-00537-0. Kardinal von Retz: Memoiren. Auszüge. Reclam, Leipzig 1977. Louis de Rouvroy, duc de Saint-Simon: Die Memoiren des Herzogs von Saint-Simon. Herausgegeben und übersetzt von Sigrid von Massenbach. 4 Bände, Ullstein, Frankfurt am Main/Berlin/Wien 1979, ISBN 3-548-03591-4. Ezechiel Spanheim: Relation de la Cour de France en 1690. Mercure de France, Paris 1988. == Literatur == Biografien Olivier Bernier: Ludwig XIV. Eine Biographie. Benziger, Zürich/Köln 1986, ISBN 3-545-36409-7. Philippe Erlanger: Ludwig XIV. Das Leben eines Sonnenkönigs. Bechtermünz, Augsburg 1996, ISBN 3-86047-154-6. Mark Hengerer: Ludwig XIV. Das Leben des Sonnenkönigs. C. H. Beck, München 2015, ISBN 978-3-406-67551-5. Warren H. Lewis: Ludwig XIV. Der Sonnenkönig. Heyne, München 1989, ISBN 3-453-55034-X. Klaus Malettke: Ludwig XIV. von Frankreich. Leben, Politik und Leistung. Muster-Schmidt, Göttingen 1994, ISBN 3-7881-0143-1; 2. überarbeitete und ergänzte Aufl., Göttingen 2009. Thierry Sarmant: Louis XIV. Homme et roi. Tallandier, Paris 2012. Uwe Schultz: Der Herrscher von Versailles. Ludwig XIV und seine Zeit. Beck, München 2006, ISBN 3-406-54989-6. Anuschka Tischer: Ludwig XIV. Kohlhammer, Stuttgart 2016, ISBN 978-3-17-021892-5. Johannes Willms: Louis XIV. Der Sonnenkönig und seine Zeit. C. H. Beck, München 2023, ISBN 978-3406800672. Martin Wrede: Ludwig XIV. Der Kriegsherr aus Versailles. Theiss, Darmstadt 2015, ISBN 978-3-8062-3160-1.Darstellung von Ludwigs Politik und Zeit François Bluche: Im Schatten des Sonnenkönigs. Alltagsleben im Zeitalter Ludwigs XIV. Ploetz, Freiburg 1986, ISBN 3-87640-253-0. Peter Burke: Ludwig XIV. Die Inszenierung des Sonnenkönigs. Wagenbach, Berlin 2001, ISBN 3-8031-2412-3. Michael Erbe u. a.: Das Zeitalter des Sonnenkönigs. Herausgegeben in Zusammenarbeit mit Damals – Das Magazin für Geschichte. Theiss, Darmstadt 2015, ISBN 978-3-8062-2953-0. Pierre Goubert: Ludwig XIV. und zwanzig Millionen Franzosen. Propyläen, Berlin 1973, ISBN 3-549-07280-5. Manfred Kossok: Am Hofe Ludwigs XIV. DVA, Stuttgart 1990, ISBN 3-421-06523-3. Klaus Malettke: Die Bourbonen. Band 1: Von Heinrich IV. bis Ludwig XIV. (1589–1715). Kohlhammer, Stuttgart 2008, ISBN 978-3-17-020581-9. Lothar Schilling: Das Jahrhundert Ludwigs XIV. Frankreich im Grand Siècle. 1598–1715. Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 2010, ISBN 978-3-534-17428-7. 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https://de.wikipedia.org/wiki/Ludwig_XIV.
Tuberkulose
= Tuberkulose = Die Tuberkulose (kurz Tb oder Tbc; so benannt von dem Würzburger Kliniker Johann Lukas Schönlein wegen des charakteristischen histopathologischen Bildes, von lateinisch Tuberculosis, von lateinisch tuberculum‚ kleine Geschwulst) ist eine weltweit durch Bakterien verbreitete Infektionskrankheit. Die früher auch als Schwindsucht bezeichnete Erkrankung wird durch verschiedene Mykobakterien verursacht. Beim Menschen ist die Lungentuberkulose die häufigste Form. Bei Immundefekten zeigt sich vermehrt auch ein Befall außerhalb der Lunge. == Bedeutung == Die Tuberkulose, an der weltweit etwa 10 Millionen Menschen pro Jahr erkranken, führt die weltweite Statistik der tödlichen Infektionskrankheiten an. Nach dem Global tuberculosis report der Weltgesundheitsorganisation (WHO) starben 2015 etwa 1,4 Millionen Menschen an Tuberkulose. Dazu kamen noch 400.000 Todesfälle von zusätzlich HIV-Infizierten. Tuberkulose wird (zumindest heutzutage in Deutschland) am häufigsten durch Mycobacterium tuberculosis verursacht, seltener – in absteigender Folge – durch Mycobacterium bovis, Mycobacterium africanum oder Mycobacterium microti. Die Beschreibung des Erregers Mycobacterium tuberculosis durch Robert Koch war 1882 ein Meilenstein der Medizingeschichte. Die Tuberkulose wird deshalb auch Morbus Koch genannt. Die Bezeichnungen Schwindsucht (auch Phthisis oder Phthise) oder umgangssprachlich „die Motten“, Weiße Pest und Weißer Tod sind veraltet, ebenso wie die Termini Lungendärre, Darre und Dörre.Nur etwa 5–10 % der mit Mycobacterium tuberculosis Infizierten erkranken tatsächlich im Laufe ihres Lebens. Betroffen sind besonders Menschen mit geschwächtem Immunsystem oder genetisch bedingter Anfälligkeit. Die Übertragung erfolgt in der Regel durch Tröpfcheninfektion von erkrankten Menschen in der Umgebung. Sind Keime im Auswurf (Sputum) nachweisbar, spricht man von offener Tuberkulose, bei Keimnachweis in anderen äußeren Körpersekreten von potentiell offener Tuberkulose. Durch tiefes Ausatmen oder Husten entsteht ein infektiöses Aerosol, das seine Ansteckungsfähigkeit durch Sedimentation, Durchlüftung und natürliche UV-Lichtquellen verliert. Da Rinder ebenfalls an der Tuberkulose erkranken können, war in Westeuropa früher (nicht-pasteurisierte) Rohmilch eine verbreitete Infektionsquelle und ist es in Teilen der Welt bis heute. Aufgrund der Übertragbarkeit von Tieren auf Menschen zählt die Tuberkulose zu den Zoonosen. Umgekehrt ist die Übertragung von Menschen auf Tiere ein wichtiger Aspekt beim Artenschutz seltener Primaten. Erst mit dem direkten Nachweis der Erreger oder deren Erbgut ist die Erkrankung labordiagnostisch bestätigt. Indirekte, d. h. immunologische Befunde oder Hauttests tragen nur zur Diagnose bei, da man durch sie nicht zwischen einer Erkrankung und einer stattgehabten Infektion unterscheiden kann. Auch können sie bei einer zusammengebrochenen Immunabwehr falsch-negativ ausfallen. Zur Behandlung stehen verschiedene Antibiotika zur Verfügung, die speziell gegen Mykobakterien wirksam sind und deshalb auch Antituberkulotika genannt werden. Diese müssen zur Vermeidung von Resistenzentwicklungen und Rückfällen unbedingt in Kombination und nach Vorgabe der WHO über mindestens ein halbes Jahr, also weit über das Bestehen der Beschwerden hinaus, eingenommen werden. Es existiert eine Impfung, die aber wegen unzureichender Wirksamkeit in Deutschland seit 1998 nicht mehr empfohlen und auch nicht mehr verfügbar ist. Eine Primärprophylaxe mit einem antituberkulös wirksamen Medikament wird in Deutschland in erster Linie bei Kindern oder schwerst immunologisch beeinträchtigten Kontaktpersonen empfohlen. Bei Erwachsenen, die über ein intaktes Immunsystem verfügen (und daher als immunkompetent bezeichnet werden), erfolgt hingegen eine Sekundärprophylaxe oder Prävention erst nach Feststellung einer Infektion mittels vorbeugender Gabe von antituberkulös wirksamen Medikamenten unter Beachtung der Resistenzlage. Die Tuberkulose ist in der Europäischen Union und im größten Teil der Welt eine meldepflichtige Krankheit. == Epidemiologie und gesundheitspolitische Bedeutung == === Weltweit === Etwa ein Drittel der Weltbevölkerung ist mit Tuberkuloseerregern infiziert. Nur ein geringer Teil der Infektionen führt jedoch zu einer Erkrankung. Nach dem Tuberkulosebericht der WHO (Global tuberculosis report 2016) gab es im Jahr 2015 weltweit 10,4 Millionen Neuinfektionen und 1,8 Millionen Todesfälle. Beide Zahlen sanken seit 1990 stetig.Die Möglichkeiten zur Behandlung sind oft unzureichend, da sie teure Antibiotika erfordert, lang dauert und angesichts der sozialen Lebensumstände der Betroffenen oft undurchführbar ist. Auch fehlen in betroffenen Regionen oft Laboratorien zur Diagnose und Behandlung. Besonders in Osteuropa ist durch Armut und Mängel im Gesundheitswesen eine besorgniserregende Zunahme der Tuberkulose zu verzeichnen, vor allem auch mit multiresistenten Erregerstämmen. Auch weltweit wird die Krankheit immer häufiger durch solche medikamentenresistenten Tuberkulosestämme verursacht. Besonders problematisch ist eine Tuberkuloseinfektion bei HIV-Infizierten mit manifestem AIDS. Durch die Immunschwäche erhöht HIV die Wahrscheinlichkeit des Ausbruchs einer Tuberkuloseerkrankung um ein Vielfaches. Tuberkulose ist in Afrika neben AIDS die häufigste Todesursache. Beide Krankheiten treten besonders bei Bewohnern von Metropolenslums in enger Wechselbeziehung zueinander auf. Dabei führt die Immunschwäche durch HIV oft zu negativen Ergebnissen bei Tuberkulose-Routineuntersuchungen, obwohl die Krankheit vorliegt (siehe auch Fehler 1. und 2. Art). Das liegt daran, dass die Hauttests (Tuberkulin-Test, Tine-Test) die immunologische Reaktion auf Erregerbestandteile prüfen, die aber durch AIDS gehemmt ist. Der Verlauf der Tuberkulose ist dann erheblich beschleunigt. In armen Ländern gilt TBC als Zeichen des Ausbruchs von AIDS und führt bei der Mehrheit aller HIV-Erkrankten zum Tod. Die WHO fordert und fördert daher eine weltweite Koordination der Tuberkulose- und AIDS-Forschung. Überraschend fand eine italienische Studie eine Prävalenz (Krankheitshäufigkeit) latenter Tuberkuloseinfektionen von neun Prozent unter gesunden Angestellten im Gesundheitsbereich und von 18 Prozent unter gut 400 an Psoriasis Erkrankten. Auch 30 Prozent der Kranken mit Lungenentzündung und Lungenkrebs waren latent infiziert. === Deutschland, Österreich und Schweiz === Dem Robert Koch-Institut (RKI) wurden 2016 in Deutschland 5915 Tuberkulosekranke gemeldet, darunter 233 Kinder unter 15 Jahren (2005: 230). 2016 kamen in Deutschland 7,2 Erkrankungen auf 100.000 Einwohner. Die offizielle Statistik gab für 2015 100 Todesopfer an. Die Daten dürften nicht ganz den realen Zahlen entsprechen, da die Dunkelziffer bei dieser Krankheit wegen ihrer unspezifischen Symptome relativ hoch ist. Nach einer Pathologiestudie aus Deutschland war die Diagnose bei lediglich einem Drittel der postmortal diagnostizierten Tuberkulosen zu Lebenszeiten gestellt worden. In Deutschland ist die Krankheit besonders in Hamburg, Bremen und Berlin verbreitet. Bei im Lande geborenen Erkrankten überwiegen die älteren Jahrgänge aufgrund Aktivierungs- und Reaktivierungsneigung infolge der abnehmenden Immunabwehr. Unter den Migranten überwiegen die mittleren Jahrgänge, da hier eher frische Infektionen erkrankungsauslösend sind. Die vorläufige Tuberkulosestatistik für 2017 zeigt in Deutschland ein Plateau auf der Höhe von 2016 an, nachdem ein Anstieg der Erkrankungen an Tuberkulose, bedingt durch erhöhte Zuwanderung im Herbst 2015 zu verzeichnen war. In der Schweiz und in Österreich haben die Fallzahlen bis 2017 ebenfalls leicht abgenommen. Ein befürchteter stärkerer Anstieg der Fallzahlen durch die Migrationswelle von 2017 ist bislang demnach ausgeblieben. In Österreich wurden im Jahr 2015 583 Erkrankungen an Tuberkulose erfasst, die Schweiz verzeichnete im gleichen Jahr 546 Erkrankungen. In der folgenden Tabelle sind die Neuerkrankungen pro 100.000 Einwohner (Inzidenz) und die Neuerkrankungszahlen pro Jahr in Deutschland (D), der Schweiz (CH) und Österreich (A) aufgeführt. * nur ansteckungsfähige ** Vorläufige Zahlen == Erreger der Tuberkulose == Der wichtigste Erreger der Tuberkulose, Mycobacterium tuberculosis, ist ein aerobes grampositives Stäbchen-Bakterium, das sich alle 16 bis 20 Stunden teilt. Verglichen mit anderen Bakterien, die Teilungsraten im Bereich von Minuten haben, ist dies extrem langsam. Der mikroskopische Nachweis gelingt durch die typischen Färbeeigenschaften: Das Bakterium behält seine Färbung nach Behandlung mit einer sauren Lösung und wird deshalb als säurefestes Stäbchen bezeichnet. In der gebräuchlichsten Färbung dieser Art, der Ziehl-Neelsen-Färbung, heben sich die rot eingefärbten Keime vor einem blauen Hintergrund ab. Der Nachweis gelingt weiterhin durch Fluoreszenzmikroskopie und durch die Auramin-Rhodamin-Färbung. In der Gram-Färbung stellen sich Mykobakterien kaum dar, der Aufbau des Peptidoglycans ähnelt jedoch stark dem grampositiver Bakterien, so dass M. tuberculosis formal als grampositiv klassifiziert wird. Dies wurde durch Sequenzanalysen der RNA bestätigt. Zur gleichen Bakteriengruppe gehören weitere Mykobakterien, die ebenfalls zu den Erregern der Tuberkulose gezählt werden: M. bovis, M. africanum und M. microti. Diese Erreger werden in Deutschland nur sporadisch bei tuberkulösen Erkrankungen gefunden. M. kansasii und auch M. avium können in seltenen Fällen, wie eine Reihe weiterer Mykobakterien, tuberkuloseähnliche Krankheitsbilder verursachen. Eine Ansteckungsgefahr geht jedoch von atypischen Mykobakterien (mycobacteria other than tuberculosis, MOTT) in der Regel nicht aus. M. tuberculosis, M. bovis, M. africanum, M. microti, M. canetti, M. pinnipedi, M. caprae und der Impfstamm Bacillus Calmette-Guérin (BCG) werden zusammengefasst als Mycobacterium tuberculosis complex. == Übertragungswege == Einatmung infektiöser Tröpfchen (Aerosole) stellt den häufigsten und somit wichtigsten Übertragungsweg dar: Für eine Infektion genügt hierbei die Inhalation einiger Mikrotröpfchen (2–5 µm Durchmesser), die jeweils 1–3 Erreger enthalten. Weitaus seltener ist die Übertragung über den Blutweg, durch Organtransplantationen oder über andere Körpersekrete. Prinzipiell ist jeder der folgenden Übertragungswege möglich und in der Literatur als gesichert beschrieben: aerogen, das heißt über Mikrotröpfchen in der Luft, die den Erreger Mycobacterium tuberculosis enthalten, mit den Eintrittspforten Lungenbläschen, offene Wunden, frische Tätowierungen und Schleimhäute gastral durch die Ingestion mykobakterienhaltiger Nahrungsmittel (Milch, rohes Fleisch etc.) parenteral über blut- und sekretkontaminierte diagnostische und therapeutische Instrumente (Transfusionen, Spritzen, Nadeln, Skalpelle, Lanzetten, Biopsienadeln, Endoskope etc.) transplantationsbedingt durch heterogene Verpflanzungen von infiziertem Gewebe (Nieren etc.) sexuell (nur wenn Geschlechtsorgane betroffen sind) durch Schmierinfektionen auf die nichtintakte Haut (Rhagaden, Ekzeme oder Verletzungen) intrauterin bei Infektionen der Gebärmutter sub partu (während der Geburt) infolge einer Urogenitaltuberkulose der MutterWiederholt nachgewiesen wurde der Befall von Kakerlaken und deren Kot mit Mycobacterium tuberculosis. Dieser Umstand wird regelmäßig von Schädlingsbekämpfern angeführt. Eine Sichtung der Literatur brachte keinen einzigen gesicherten Übertragungsfall. Ausscheidungstuberkulose ist ein nicht mehr gebräuchlicher medizinischer Begriff für jene Formen der Tuberkulose, bei denen die Krankheitserreger über die Ausscheidungsorgane im Körper verbreitet werden und zu einem sekundären Befall anderer Organe führen. Die aerogenen Infektionen gehen meist von Erwachsenen aus, da bei Kindern selbst bei offener Lungentuberkulose die ausgeschiedene Bakterienmenge zu gering ist (paucibacilläre = erregerarme Tuberkulose). Organbeteiligungen außerhalb der Lungen stellen mit Ausnahme der hochkontagiösen Kehlkopftuberkulose (Larynxtuberkulose) nur dann ein Infektionsrisiko dar, wenn die Infektionsherde durch natürliche Wege (Magen-Darm-Trakt) oder Fistelbildung mit dem Körperäußeren verbunden sind oder es bei diagnostischen Punktionen/Eingriffen zu Nadelstichverletzungen oder Kontakt zu Wunden kommt. Eine historisch bedeutsame, heute fast vergessene Sonderform stellten die Leichentuberkel (engl. prosectors wart) dar, wobei sich Anatomen, Pathologen, Schlachter etc. über Handwunden erneut infizieren. Auch eine Infektion durch infizierte Milch ist möglich. Solche Infektionen sind in Industrieländern, wo die Rinderbestände weitgehend tuberkulosefrei sind und die Milch pasteurisiert wird, jedoch inzwischen sehr selten geworden. Neugeborene von Müttern mit Lungentuberkulose stecken sich nur selten über die Blutbahn an. Hat die Tuberkulose-Infektion allerdings den Mutterkuchen (Plazenta) ergriffen, kann sich das Kind durch das Verschlucken bakterienhaltigen Fruchtwassers infizieren. Wenn bei der Mutter die ableitenden Harnwege und damit verbunden die Geschlechtsorgane befallen sind, kann sich das Neugeborene bei der Geburt anstecken. == Immunologie und Pathologie == Nach der Infektion werden die Erreger in den meisten Fällen schon in den Atemwegen abgewehrt. Von allen Infizierten erkrankt nur etwa ein Zehntel tatsächlich an Tuberkulose. Ob ein Organismus sich ausreichend gegen die Mykobakterien wehren kann, hängt von vielen Faktoren ab. Wichtig sind der Ernährungszustand, eine genetische Disposition (es gibt etwa 20 bekannte Genpolymorphismen, die das Erkrankungsrisiko bis auf den Faktor 5 steigern) sowie eine medikamentöse, infektbedingte oder toxische Unterdrückung der Immunabwehr, aber auch die Menge der aufgenommenen Bakterien und die Häufigkeit des Kontaktes. Auch die Größe und Durchlüftung eines Raumes und das Fehlen von UV-Lichtquellen können als Faktoren eine Rolle spielen. Ein erstes Abwehrbollwerk stellen spezialisierte Fresszellen (Alveolarmakrophagen) in den Lungenbläschen dar. Diese können die Erreger zwar in ihr Zellinneres aufnehmen (phagozytieren), dann aber nicht abtöten. Auch weitere herbeigerufene Fresszellen sind dazu nicht in der Lage. Der Vorgang der Phagozytose wird durch verschiedene Stoffe an der Oberfläche von Krankheitserregern aktiviert. Das können zum einen Bestandteile der Zellwand, aber auch Moleküle des Wirts sein, die sich an die Zellwand des Eindringlings gebunden haben. Mykobakterien verhindern, dass die Zellbestandteile der Fresszellen, in denen sie sich befinden, die so genannten Phagosomen, weiter reifen. Dies sichert das Überleben von Mycobacterium tuberculosis. Das Immunsystem bildet deshalb um den anfänglichen Infektionsherd einen Wall aus mehreren Ringen verschiedener Abwehrzellen. Dieser Abwehrwall aus Fresszellen (Makrophagen), so genannten Epitheloidzellen, Langhans-Riesenzellen und Lymphozyten formiert sich um einen zentralen Entzündungsherd mit Gewebsuntergang (Nekrose). Diese besondere Form der Nekrose, die auch pathognomonisch für die TBC ist, wird Verkäsende Nekrose genannt. Das gesamte Gebilde wird als tuberkulöses Granulom (oder Tuberkulom) bezeichnet. Es isoliert Mycobacterium tuberculosis am Ort des Eindringens und verhindert eine Weiterverbreitung. Dazu ist ein funktionierendes Zusammenspiel der verschiedenen Abwehrzellen erforderlich, die sich gegenseitig über verschiedene Botenstoffe (Zytokine) herbeirufen und aktivieren. Insbesondere die Ausschüttung von Tumornekrosefaktor sorgt für nitrosativen Stress im Phagosom, der zusammen mit der Einkapselung das Bakterium zwingt, in einen Ruhezustand überzugehen.Die Mykobakterien wiederum reagieren auf die Abkapselung mit einer Veränderung ihres Aktivitätszustandes. Seit der Entschlüsselung des Genoms der wichtigsten Mykobakterienstämme 1998 sind verschiedene Mechanismen hierzu entdeckt worden. Sie sind dabei in der Lage, ihren Stoffwechsel im Granulom vorübergehend einzustellen oder so umzustellen, dass sie die hier vorkommenden Fette verstoffwechseln und dadurch besonders wenig Sauerstoff benötigen. Sie befinden sich nun im Stadium der Dormanz, d. h., sie teilen sich noch seltener. Aus dieser schlummernden Primärinfektion kann durch erneuten Übergang in einen aktiven Zustand eine (postprimäre) aktive Tuberkulose entstehen. Da eine solche aber auch nachgewiesenermaßen durch eine (exogene) Reinfektion (exogene Neuherdsetzung) entstehen kann, muss man davon ausgehen, dass eine vorangegangene Infektion keinen ausreichenden Schutz vor dem Ausbruch der Erkrankung bei erneutem Kontakt darstellt. Dies macht deutlich, warum es so schwierig ist, einen wirksamen Impfstoff gegen Tuberkulose zu entwickeln. == Symptome == Grundsätzlich wird der Erkrankungsverlauf bei der Tuberkulose in verschiedene Stadien eingeteilt. Krankheitszeichen, die sich direkt nach der Infektion manifestieren, werden als Primärtuberkulose bezeichnet. Da die Bakterien aber auch bei intakter Immunabwehr ohne Krankheitszeichen oder nach durchgemachter Primärtuberkulose lebenslang im Körper schlummern und jederzeit wieder reaktiviert werden können, spricht man bei einer nicht zur Erkrankung führenden Erstinfektion von einer latenten Tuberkuloseinfektion (LTBI) bzw. nach einer Ersterkrankung von einer postprimären Tuberkulose oder auch Sekundärtuberkulose. Da sich die Infektion zwar zumeist an der Lunge, aber eben prinzipiell auch an jedem anderen Organ abspielen kann, wird außerdem die Lungentuberkulose von der Organtuberkulose unterschieden. === Primärtuberkulose, geschlossene Tuberkulose, Frühform === Nach der Ansteckung über infizierte Tröpfchen bilden sich als Reaktion auf die Bakterien in den folgenden drei bis sechs Wochen in der Lunge der betroffenen Person kleine Entzündungen mit Beteiligung des zugehörigen Lymphknotens (Primärkomplex). Die Entzündungsherde (Frühinfiltrate) werden von Blutabwehrzellen eingeschlossen. Es bilden sich kleine Knötchen (Tuberkel). So abgekapselt verursachen die Tuberkuloseherde keine Beschwerden und haben in der Regel auch keinen Anschluss an die Atemwege (das Bronchialsystem). Man spricht bei dieser Primärtuberkulose (früher auch Primärherdphthise oder Erstherdtuberkulose) von einer geschlossenen Tuberkulose, die definitionsgemäß nicht ansteckend ist, da keine Krankheitserreger ausgeschieden werden. Die Mykobakterien können aber jahrelang im Körper überleben. Ist das infizierte Individuum nicht in der Lage, die Erreger auf diese Weise abzukapseln, kann aber auch eine aktive Infektion mit meist uncharakteristischen Symptomen (B-Symptomatik) auftreten, weil sich die Erreger immer weiter ausbreiten. Dazu können Müdigkeit und Schwäche, Appetitlosigkeit und Gewichtsabnahme, geschwollene Lymphknoten, leichtes Fieber, besonders in den Nachmittagsstunden, Nachtschweiß und ständiges Hüsteln ohne viel Auswurf gehören. Heiserkeit kann ein Hinweis auf eine Kehlkopfbeteiligung mit erhöhter Ansteckungsgefährdung sein. Bei kräftigen Erkrankten können diese Symptome trotz Ansteckungsgefahr schwach ausgeprägt sein und mitunter fehlen. Durch Bildung von Exsudat im Rahmen einer Infektion der Pleura kann es bei der Tuberkulose auch zur Entstehung eines Pleuraergusses kommen (Der pH-Wert der Pleuraflüssigkeit zeigt dann eine Azidose). Schwere Verläufe mit blutigem Auswurf (Hämoptoe), starker Blutarmut und Untergewicht sind auch in Mitteleuropa nicht rar. Die Zahl der Todesfälle an Tuberkulose ist in den letzten Jahrzehnten weit weniger abgeflacht als die Zahl der gesamten Erkrankungsfälle. Seit den 1980er Jahren zeigte sich vor allem ein Rückgang der leichteren geschlossenen Formen.Kommt es bei geschwächten Personen zu einer Aussaat der Mykobakterien über die Blutbahn mit Beteiligung beider Lungenhälften und vieler Organe gleichzeitig, spricht man von einer Miliartuberkulose. Sie ist nach der im Röntgenbild sich darstellenden miliaren (hirsekornartigen, von lateinisch milium „Hirse, Hirsekorn“) Aussaat (Metastasierung) benannt und stellt sich als schweres Krankheitsbild mit erheblicher Beeinträchtigung des Allgemeinzustandes, Fieber, Appetitlosigkeit, Gewichtsverlust, Husten und Luftnot dar. Auch eine Hirnhautentzündung (tuberkulöse Meningitis) kann auf diesem Weg entstehen. Diese zeigt sich zunächst in uncharakteristischen Symptomen wie Irritabilität und Wesensveränderung. Später kann es zu meningitischen Zeichen mit Kopfschmerzen, Nackensteifheit, Halluzinationen, Bewusstseinsstörungen, Krampfanfällen sowie Fieber, also einer schweren Beeinträchtigung des Allgemeinzustandes kommen. Unbehandelt führt sie zu Koma und Tod. Es können, wie Cohnheim schon 1866 festgestellt hat, als Symptom der akuten Miliartuberkulose zudem Tuberkel der Aderhaut (Chorioidaltuberkel) auftreten. Bei extremer Abwehrschwäche kann es zu einer fulminanten Sepsis mit in der Regel tödlichem Ausgang kommen, die vielfach als Landouzy-Sepsis bezeichnet wird. === Postprimäre Tuberkulose, sekundäre Tuberkulose === Bei mindestens zehn Prozent der Menschen, die sich mit Tuberkulose angesteckt haben, bricht die Krankheit zu einem späteren Zeitpunkt als sekundäre Tuberkulose aus. Die Patienten klagen dann oft über verschiedene Symptome: über Wochen anhaltender Husten mit Abhusten von gelblich-grünem Schleim, Abgeschlagenheit, Müdigkeit, subfebrile Temperaturen zum Abend hin und Nachtschweiß. Beim Husten können Schmerzen in der Brust auftreten und es kann zu Atemnot kommen. Blutiger Auswurf kann Ausdruck einer Arrosion der Bronchien oder der Luftröhrenschleimhaut sein (Bronchialtuberkulose, Trachealschleimhauttuberkulose), oft liegt dann bereits eine offene ansteckungsfähige Erkrankung vor. Blutiger Auswurf sollte daher umgehend ärztlich abgeklärt werden. Die Tuberkulose-Bakterien vermehren sich in der Lunge und zerstören das Gewebe. Das zerstörte Gewebe bekommt bei Arrosion kleinerer oder mittlerer Äste des Bronchialbaumes Anschluss an die Atemwege und wird dann ausgehustet. Der Auswurf enthält jetzt Bakterien – der Patient leidet an offener Tuberkulose. Im fortgeschrittenen Stadium können durch Aussaat der Bakterien über die Blutbahn (hämatogene Streuung) weitere Organe befallen werden. Dann treten beispielsweise schmerzhafte Schwellungen an Knie- und anderen Gelenken (Poncet-Krankheit oder Morbus Poncet, benannt nach dem Chirurgen Antonin Poncet, der das tuberkulöse Rheumatoid bzw. den Rheumatismus tuberculosus 1897 beschrieben hatte) oder der Wirbelsäule auf (Gelenktuberkulose, Knochentuberkulose). Eine Sonderform der Tuberkulose ist die in Mitteleuropa früher unter anderem als durch Trinken von roher Milch und der damit verbundenen Infektion mit Mycobacterium bovis angesehene, inzwischen sehr selten gewordene Hauttuberkulose (Lupus vulgaris). Nicht abheilende kleine Wunden, Risse, warzenartige Eiterherde und umschriebene Geschwüre sind u. a. typische Symptome der Hauttuberkulose. === Organtuberkulose, extrapulmonale Tuberkulose === Neben der Beteiligung der Lunge, die mit etwa 80 % das mit Abstand am häufigsten betroffene Organ ist, kann sich die Tuberkulose auch in zahlreichen anderen Organen manifestieren. Diese Organtuberkulose (früher auch Organphthise genannt) kann entweder durch primäre Infektion an anderen Eintrittspforten als den Atemwegen oder aber durch Streuung über die Blutbahn im Rahmen der Primärtuberkulose der Lungen entstehen. Hiervon sind wiederum die Lymphknoten am häufigsten betroffen (Lymphknotentuberkulose). Eine Hauttuberkulose (Skrophuloderm, vgl. Skrophulose) kann entstehen, wenn bei den käsigen Gewebsuntergängen (Nekrosen), wie sie für die Tuberkulose typisch sind, eine Tendenz zur Einschmelzung besteht. Vorkommen kann auch eine Tuberkulose von Muskeln und Sehnenscheiden. Häufig ist die untere Brust- und Lendenwirbelsäule befallen und es kommt durch die Entzündung zu einer Aufweichung und Deformation mit Gibbus-Bildung (sogenannter Morbus Pott). Der tuberkulöse Gibbus, genannt auch Pottscher Buckel, wurde 1779 von Percivall Pott (ohne Kenntnis seiner Ätiologie) beschrieben. Früher war die Differenzialdiagnose zur Rachitis häufig schwierig zu stellen. Diese Manifestationsform kann zur Bildung eines Abszesses im Bereich des Musculus psoas major führen. Die Lokalisation in der Nähe des Rückenmarks und der dort austretenden Nervenbahnen macht sich klinisch häufig in Form von neurologischen Ausfällen oder neuropathischen, oft in die Beine und ins Gesäß ausstrahlenden Schmerzen bemerkbar. Die Tuberkulose des Gehirns oder der Hirnhäute (tuberkulöse Meningitis, Meningitis tuberculosa) kann mit den heutigen bildgebenden Verfahren dargestellt werden. Sie kann mikrobiologisch durch eine Lumbalpunktion gesichert werden. Sie betrifft meistens die basalen (unteren) Abschnitte des Gehirns und führt klinisch oft zu Schädigungen der dort austretenden Hirnnerven. Eine Beteiligung der Nieren, Nebennieren, der Harnwege und des Genitaltraktes wird Nierentuberkulose, Genitaltuberkulose bzw. Urogenitaltuberkulose genannt und entsteht meist auf dem Blutweg. Die Knochentuberkulose (mit Knochenfraß, genannt auch tuberkulöse Karies und Knochenkaries) ist eine insgesamt seltene Manifestationsform, die auf dem Blutweg entsteht. Die Darmtuberkulose ist sehr selten geworden, entsteht sie doch zumeist durch eine primäre Infektion mit Mycobacterium bovis in infizierter Milch. Bei der Kehlkopftuberkulose (Larynxtuberkulose) handelt es sich um eine hochansteckende Komplikation der (offenen) Lungentuberkulose. Eine seltene Manifestation ist die Tuberkulose der Zähne, der Mundschleimhaut und der Zunge, die zumeist durch bronchogene Streuung bei vorbestehenden Läsionen entstehen kann. Orale Befunde können Zahngranulome, Geschwüre des Zahnfleisches und der Mundschleimhaut sowie eine Vergrößerung der Zunge sein. Bei etwa 1,4 % der an Tuberkulose Erkrankten findet sich nach Studien eine orale Beteiligung. Eine orale Tuberkulose kann auch isoliert vorkommen. == Diagnostik == Zur Diagnosestellung tragen die Erhebung der Infektionsanamnese, eine Tuberkulin-Hauttestung, ein Interferon-γ-Bluttest, Gewebsuntersuchungen, eine bildgebende Diagnostik und wenn irgend möglich der kulturelle Erregernachweis bei. Die Diagnose gilt nur dann als gesichert, wenn die Falldefinitionen, in Deutschland die des Robert Koch-Institutes, erfüllt sind, zum Beispiel wenn neben dem klinischen Bild ein kultureller Erregernachweis von Mycobacterium tuberculosis vorliegt. Diese Methoden können bei speziellen Fragestellungen durch moderne molekularbiologische oder immunologische Testverfahren ergänzt werden. Eine sichere Diagnose wird jedoch durch die höchst unterschiedliche Präsentation erschwert. === Tuberkulin-Hauttestung === Beim Tuberkulin-Hauttest (auch Mendel-Mantoux-Test genannt) wird eine definierte Menge gereinigter und filtrierter Antigene aus Mykobakterien (Tuberkulin) in die Oberhaut (Epidermis) gespritzt. Ebenfalls gebräuchliche Stempeltests sind sehr unzuverlässig und daher nicht empfehlenswert. Hat das Immunsystem des getesteten Menschen schon einmal Kontakt mit Mykobakterien gehabt, tritt an der entsprechenden Stelle innerhalb von drei Tagen eine Abwehrreaktion mit Einwanderung von Abwehrzellen in die Haut ein, die zu einer Verdickung führt. Es handelt sich hier um eine Typ IV Reaktion (nach COOMBS). Bereits sechs Wochen nach einer Infektion mit TBC wird der Test positiv. Eine tastbare Verhärtung an der Teststelle bezeichnet man als positive Reaktion. Dies kann bedeuten, dass eine Tuberkulose-Infektion stattgefunden hat. Über eine Erkrankung sagt der Test allerdings nichts aus. Auch nach einer Tuberkulose-Schutzimpfung ist eine positive Testreaktion möglich. Bleibt die Haut an der Teststelle unverändert oder zeigt sich nur eine Rötung, wird dies als negativ bewertet. Eine Tuberkulose-Infektion ist dann mit hoher Wahrscheinlichkeit ausgeschlossen. Der Tuberkulin-Test ist ungefährlich und gut verträglich. Er kann auch bei Schwangeren, stillenden Müttern oder Kleinkindern ohne Bedenken durchgeführt werden. Tuberkulin-Tests sind nur eingeschränkt verlässlich. Einerseits können sie gerade bei schweren Verläufen, wie einer Miliartuberkulose, negativ bleiben. Andererseits führen eine frühere Impfung oder ein Kontakt zu atypischen Mykobakterien (mycobacteria other than tuberculosis, MOTT) zu einer falsch positiven Reaktion. === Bildgebung === Besteht aufgrund von Symptomen und Vorgeschichte der Verdacht auf eine Tuberkulose, so sind auch bei negativem Tuberkulin-Test die Röntgenuntersuchung oder bei besonderen Fragestellungen die CT der Lunge gut brauchbare bildgebende Untersuchungsverfahren. Sie lassen oft das charakteristische, mottenfraßartige Bild des Lungenbefalls der Tuberkulose erkennen, welches der Erkrankung auch den Beinamen die Motten eingebracht hat. Auch bei geschlossener Tuberkulose zeigen diese Untersuchungen einen Befund. Nachteilig ist aber, dass auf einem Röntgenbild oft nicht ausreichend sicher zwischen einer Tuberkulose und anderen Lungenerkrankungen differenziert werden kann. Bei Kindern unter 15 Jahren und bei Schwangeren sollte bei vermuteter Tuberkulose statt einer Röntgenuntersuchung ein immunologisches Testverfahren wie γ-Interferon-Test oder ein Tuberkulin-Hauttest bevorzugt werden. === Erregernachweis === Die Diagnose der Tuberkulose ist gesichert, wenn ein kultureller Nachweis der Erreger vorliegt. Dies gelingt aber ohne weiteres nur aus dem Auswurf (Sputum) bei offener Tuberkulose, wenn also die tuberkulösen Gewebeveränderungen Anschluss an das Bronchialsystem, die ableitenden Harnwege oder den Darm haben und ausgeschieden werden können. Andernfalls kann versucht werden, Material durch Punktionen mit Nadeln oder direkt durch Entnahme von Gewebe zu gewinnen. Der Vorteil des kulturellen Nachweises liegt in der Möglichkeit, eine Resistenztestung durchführen zu können und sollte daher immer angestrebt werden, da die Behandlung dann gezielt erfolgen kann. Da Kinder erstens kaum Auswurf haben und zweitens dabei nur wenige Bakterien hochhusten, ist eine herkömmliche Sputumuntersuchung bei ihnen kaum zuverlässig. Im Kindesalter wird deshalb der Magennüchternsaft untersucht, denn hier sammelt sich das gesamte Sekret, das die Kinder während der Nacht nach oben gehustet und anschließend verschluckt haben. Die Mykobakterien wiederum sind säurefest und im Magensaft überlebensfähig. Südafrikanische Forscher konnten nachweisen, dass der Erregernachweis auch bei Säuglingen und Kindern aus dem Sputum möglich ist. Wenn man sie zuvor mit einer hochprozentigen Salzlösung inhalieren lässt (induziertes Sputum), gelingt der Nachweis von Mykobakterien aus dem anschließend ausgehusteten Sekret mit gleicher Zuverlässigkeit wie aus dem Magensaft.Auf herkömmlichen, festen Nährböden muss man des langsamen Keimwachstums wegen auf ein Ergebnis vier bis sechs Wochen warten. In Flüssigkulturen mit modernen Nachweismethoden für ein Mykobakterien-Wachstum gelingt der Nachweis möglicherweise schon nach etwa zwei Wochen. Der früher häufig verwendete Tierversuch, bei dem Meerschweinchen das zu untersuchende Material in die Bauchhöhle gespritzt bekamen, wird nicht mehr eingesetzt. Moderne Nachweismethoden schließen molekulargenetische Methoden wie die Polymerase-Kettenreaktion ein. === Immunologische Testverfahren === Als weitere Diagnosemöglichkeit steht neben dem Tuberkulin-Hauttest seit 2005 ein weiteres immunologisches Testverfahren zur Verfügung, der sogenannte γ-Interferon-Test. Dabei werden Abwehrzellen aus dem Blut der Testperson mit einer Mischung aus Antigenen von Mycobacterium tuberculosis stimuliert. Hatte der Betreffende aufgrund einer Tuberkulose-Infektion schon mit dem Erreger Kontakt, so bilden sie vermehrt den Botenstoff Interferon-γ. Die Konzentration dieses Interferon-γ kann im Zellüberstand bestimmt werden und liegt bei Blutproben infizierter Menschen deutlich über derjenigen in einer mitzuführenden Negativkontrolle. Da die gewählten Antigene nur in Mycobacterium tuberculosis vorkommen sollten, nicht aber in den meisten atypischen Mykobakterien und auch nicht in den Impfstämmen der für die BCG-Impfung verwendeten Mykobakterien, lässt sich in der Theorie bei positivem Tuberkulin-Hauttest durch dieses Verfahren zwischen einer Infektion durch Tuberkulose-Bakterien und durch atypische Mykobakterien unterscheiden. Die Sensitivität dieser Tests wird in verschiedenen Arbeiten mit 82 % bis 100 %, die Spezifität mit 98 % angegeben.Die Durchführung der Tests ist jedoch in Praxis mit Schwierigkeiten und Unsicherheiten verbunden. Das Zeitfenster für die Inkubation und auch die dabei notwendige Temperaturkonstanz von 37 °C bieten Fehlerquellen, ebenso die notwendige Erfahrung mit der Methode im Labor selbst. Die angegebenen Werte für die Sensitivität und Spezifität werden daher in der Praxis bei weitem nicht erreicht. Bei den beiden eingeführten Testen scheint der ELISPOT (speziell der T-SPOT-Test) insbesondere bei Kindern und bei extrem niedriger Anzahl von Helferzellen im Vorteil zu sein. Aber auch hier bestehen Fehlerquellen in der präanalytischen Phase. Wie bei allen Untersuchungsmethoden, deren Sensitivität und Spezifität ja nicht 100 % beträgt, ist die Aussagekraft auch abhängig von der Häufigkeit der echten Infektion. Deshalb eignen sich auch diese In-vitro-Tests nicht zum Screening von Bevölkerungs- oder Berufsgruppen mit niedriger Durchseuchung. Bei zweifelhafter Exposition und positivem Ausfall oder gesicherter enger Exposition und negativem Ausfall empfiehlt sich daher eine genaue klinische Überprüfung mit der Methode nach Mendel-Mantoux und gegebenenfalls eine Wiederholung mit dem alternierenden Y-Interferontest. Auch der Zeitpunkt der Infektion ist mit den neueren In-vitro-Testverfahren nicht bestimmbar. Der Test wird häufig nach ausgeheilter Infektion in den folgenden Jahrzehnten wieder negativ. Es gibt Berichte über Störungen durch frühere BCG-Impfungen oder Boostereffekte nach vorausgegangener Testung nach Mendel-Mantoux. 2010 stellte eine britische Forschergruppe einen Test vor, der auf Änderung der Transkriptionssignatur in neutrophilen Granulozyten beruht. Durch diesen Test soll es möglich sein, eine abgelaufene von einer aktiven Infektion zu unterscheiden. Die Marktreife bleibt noch abzuwarten. == Therapie == Da sich die Erreger nur sehr langsam teilen und außerdem in den tuberkulösen Granulomen lange Zeit ruhen können, ist die Gefahr der Resistenzentwicklung bei Mykobakterien besonders hoch. Bei gesicherter Tuberkulose oder auch nur hochgradigem Tuberkuloseverdacht müssen daher alle Patienten mit einer Kombinationstherapie aus mehreren, speziell gegen Mycobacterium tuberculosis wirksamen Antibiotika (auch Antituberkulotika genannten Medikamenten) behandelt werden. Außerdem muss die Behandlungsdauer, ebenfalls wegen der niedrigen Teilungsgeschwindigkeit, unbedingt ausreichend lang sein, um Rückfälle zu vermeiden. === Standardtherapie === Gemäß der Leitlinien von 2011 soll die Therapie einer unkomplizierten Tuberkulose aus einer vierfachen Kombination von Isoniazid, Rifampicin, Ethambutol und Pyrazinamid bestehen und zunächst für zwei Monate erfolgen. Anschließend muss die Behandlung für weitere vier Monate mit Isoniazid und Rifampicin fortgesetzt werden. Sie dauert also insgesamt mindestens ein halbes Jahr. Bei Kindern wird anfangs nur eine Dreifachkombination (ohne Ethambutol) eingesetzt. Dies ist in besonders leichten Fällen ausnahmsweise auch bei Erwachsenen möglich. Als Reservemedikament bei Unverträglichkeiten steht noch Streptomycin zur Verfügung. Thiacetazon, eine sechste Substanz, wird aufgrund eines ungünstigen Nebenwirkungsprofils in den Industrienationen nicht angewandt. Es wird für die Behandlung von gleichzeitig an HIV erkrankten Patienten nicht empfohlen. Allerdings ist die Mehrzahl der Tuberkulosekranken in einigen armen Ländern, wo die Substanz wegen des günstigen Preises weiterhin zum Einsatz kommt, gleichzeitig HIV-positiv.Die häufigste Nebenwirkung von Isoniazid ist eine periphere Polyneuropathie. Des Weiteren kann es wie bei Rifampicin und Pyrazinamid auch zu Leberschäden kommen. Ethambutol kann eine Entzündung des Sehnervs (Nervus opticus) hervorrufen, Streptomycin schädigt Nieren und Innenohr. Diese Organe sollten vor Beginn untersucht und im Verlauf der Therapie überwacht werden. Da sich die Patienten oft relativ gesund fühlen, nehmen viele die Tabletten von sich aus nach gewisser Zeit nicht mehr regelmäßig ein (man spricht hier von einer niedrigen Compliance). Nachdem die Zulassung mehrerer neuer Tuberkulosemedikamente bevorsteht, wird in Mausstudien bereits erprobt, mit welcher Medikamentenkombination eine Verkürzung der Behandlungszeit möglich wäre. Mit der Kombination TMC207, Pyrazinamid und Rifapentin/Moxifloxazin konnten bei der Maus trotz Verkürzung auf zwei Monate 100 Prozent der Keime getötet werden.Sollte sich in der mikrobiologischen Bakterienkultur eine Resistenz finden, muss im Sinne einer spezifischen Therapie ein Wechsel auf andere Antibiotika ins Auge gefasst werden, gegen die der konkrete Bakterienstamm tatsächlich empfindlich ist. In Flüssigkulturen (Bactec MGIT) kann ein Wachstum von Mykobakterien bei hoher Ausgangskonzentration und ohne Vorbehandlung bereits nach einer Woche nachgewiesen werden. Ein positives Wachstum im Flüssigkultursystem allein erlaubt noch keine Artdiagnose der Mykobakterien, sie stellt jedoch die Basis für eine genaue Speziesdifferenzierung mittels weiterführender diagnostischer Methoden dar. Die parallele Bebrütung fester Nährböden (Löwenstein-Jensen- und Stonebrink-Medium) dauert meist länger, erlaubt aber eine Beurteilung der Koloniemorphologie. Das Endergebnis der Kultur liegt in der Festkultur nach max. 8–10 Wochen vor. Die konventionelle Resistenzüberprüfung der Standardmedikamente dauert mindestens zehn Tage. Es gibt mittlerweile kommerzielle Schnellteste, die mit molekularbiologischen Methoden Resistenzen früher nachweisen können. Diese neueren Methoden haben sich in der Praxis allerdings noch nicht bewährt. === Therapie der multiresistenten Tuberkulose === Bei Vorliegen von Resistenzen gegen die Standardmedikamente soll nach Austestung aller zur Verfügung stehenden Antituberkulotika die Behandlung um mindestens zwei wirksame Substanzen erweitert werden. Angewandt werden Kombinationen verschiedener Wirkstoffe: Die Aminoglykoside Capreomycin und Kanamycin, die Fluorchinolone Ofloxacin/Levofloxacin, Ciprofloxacin und Moxifloxacin, die Thionamide Ethionamid, Prothionamid sowie die bakteriostatisch wirksamen Substanzen 4-Aminosalicylsäure (PAS) und Cycloserin bzw. Terizidon. Zur Sekundärtherapie bei Resistenzen kommen auch Streptomycin, Amikacin und Protionamid in Betracht.Das Antibiotikum Linezolid galt einige Zeit als Wunderwaffe gegen multiresistente Tuberkulose und findet noch heute bei besonders schweren Fällen Anwendung. Jedoch entwickelten in einer rezenten Studie von Lee 82 % der Patienten möglicherweise Linezolid-assoziierte Nebenwirkungen. Häufigste unerwünschte Wirkungen sind Myelosuppression mit Anämie und Neutropenie, optische Neuropathie und periphere Neuropathie.Die Behandlung einer multiresistenten Tuberkulose (englisch multidrug-resistant tuberculosis – MDR-TB) bedeutet die Einnahme mehrerer Medikamente gleichzeitig über einen Zeitraum von mindestens 21 Monaten. In den ersten drei Monaten erhalten die Patienten eine Mischung aus fünf verschiedenen Medikamenten. Grundsätzlich sind die Chancen auf eine erfolgreiche Behandlung einer multiresistenten Tuberkulose geringer als bei der Behandlung einer unkomplizierten Tuberkulose, selbst wenn die Patienten die effizienteste Therapie erhalten. Die Anwendung von Ofloxazin und Levofloxazin ist durch vergleichsweise hohe Produktpreise in ärmeren Ländern kaum durchführbar. Beide Wirkstoffe stehen unter Patentschutz der Hersteller. Capreomycin wird nur von einem einzigen Hersteller (Eli Lilly) vertrieben, zu einem Preis, der die Verwendung enorm einschränkt. Mittlerweile werden in die Behandlung der multiresistenten Tuberkulose auch neuere Arzneistoffe einbezogen. So wurden im Mausmodell erfolgreich Kombinationen aus Bedaquilin, PA-824 und Sutezolid sowie Rifapentin eingesetzt.Bedaquilin (Handelsname Sirturo) wurde zwischenzeitlich von der Europäischen Kommission zugelassen. Zwei weitere Arzneistoffe – die neue chemische Entität Delamanid (Handelsname: Deltyba; Hersteller: Otsuka Pharmaceuticals) und die seit langem bekannte Substanz 4-Aminosalicylsäure (Handelsname: Granupas; Hersteller: Lucane) – wurden im Mai 2014 europaweit zugelassen.In einer türkischen Studie führte die zusätzliche Anwendung einer pulmonalen Resektion bei 12 von 13 MDR-TB-Patienten zu einer dauerhaften Heilung.Thioridazin mindert unter anderem die Aktivität der Antibiotikum-Resistenzen in Mycobacterium tuberculosis, weshalb der Einsatz in Kombination mit Antibiotika untersucht wird. === Therapie der komplizierten Tuberkulose === Bei zusätzlichen Komplikationen, wie zum Beispiel Verlegung eines Teils der Atemwege durch einen beteiligten Lymphknoten, soll die Behandlung auf insgesamt neun bis zwölf Monate ausgedehnt werden. Eine Miliartuberkulose oder eine tuberkulöse Hirnhautentzündung (Meningitis) machen eine initiale Vierfachtherapie auch im Kindesalter über dann eher drei Monate und eine Ausdehnung der Gesamtbehandlungsdauer auf neun bis zwölf Monate erforderlich. Außerdem sollen die Patienten für mindestens sechs Wochen mit Prednisolon beziehungsweise bei der Meningitis mit Dexamethason in absteigender Dosierung behandelt werden.Eine besondere therapeutische Herausforderung stellt die Behandlung der Tuberkulose bei gleichzeitig HIV-infizierten Patienten dar. Insbesondere das Standardmedikament Rifampicin darf wegen erheblicher Wechselwirkungen nicht gleichzeitig mit bestimmten Wirkstoffen, die zur Therapie der HIV-Infektion eingesetzt werden, verabreicht werden. Daher muss von entsprechend erfahrenen Fachärzten entweder die HIV-Therapie oder die tuberkulostatische Therapie umgestellt werden. === Unterstützende Behandlung === Aufgrund der Schwierigkeit und Langwierigkeit der Standardtherapie wurde versucht, durch Ergänzung diverser Stoffe die Therapie zu unterstützen. Am aussichtsreichsten zeigten sich hierbei L-Arginin, eine Aminosäure, die die Bildung von reaktiven Stickstoffspezies in Makrophagen unterstützen soll, so durch täglichen Verzehr von 30 Erdnüssen, die etwa 1 g L-Arginin enthalten, und Vitamin D, dessen unterstützende Rolle bei Infektionen allgemein belegt ist. Beide Stoffe sind in Erkrankten zu wenig vorhanden.Im Jahr 1903 errichtete Auguste Rollier eine Anstalt zur heliotherapeutischen Behandlung bestimmter Tuberkuloseformen. Eine hochdosierte Vitamin-D-Therapie bei Patienten mit Lungentuberkulose beschleunigte in einer randomisierten Studie der Queen Mary University of London sogar die mikroskopische Sputumkonversion, d. h. die Zeitdauer, während der die Patienten ansteckend sind, verringerte sich signifikant von 36 auf 23 Tage. Dabei wurde die Konzentration verschiedener entzündlicher Zytokine und Chemokine im Blut vermindert und lebensbedrohliche Entzündungserscheinungen gingen schneller zurück als in der Kontrollgruppe.Weiterhin untersuchten Subbian und andere in einer Studie mit Kaninchen den Einfluss eines PDE-4-Hemmers auf die angeborene Immunantwort in der Lunge und den Effekt, den ihre Abschwächung wiederum auf die Expression verschiedener Bakteriengene hatte. Es zeigte sich eine verminderte Expression der INH-Resistenzgene und, damit zusammenhängend, eine bessere Clearance des Gewebes bei Behandlung mit Isoniazid.Eine andere Möglichkeit besteht in der Abschwächung der Granulombildung in der Lunge mittels Laktoferrin. Hierzu gab es 2010 noch keine klinischen Studien. === Empfehlungen für deutsche Krankenhäuser === Stationär betreute Patienten mit einer ansteckungsfähigen Lungentuberkulose sind für die Dauer der Ansteckungsfähigkeit in einem Einzelzimmer mit eigener Nasszelle zu isolieren. Die Dauer der Isolierung wird mit mindestens 14 Tagen nach Einleitung einer wirksamen Therapie mit nachgewiesener Sputum-Konversion (bei mikroskopisch positiven Personen) und klinischem und radiologischem Ansprechen als ausreichend angesehen. Personen mit extrapulmonaler Tuberkulose gelten in der Regel als nicht ansteckungsfähig und müssen nicht isoliert werden. Kranke sollen Mund-Nasen-Schutz tragen, medizinisches Personal trägt FFP2-Maske. Das Tragen von FFP3-Masken für bestimmte medizinische Untersuchungen kann mangels Evidenz für eine höhere Schutzwirkung im Vergleich zu FFP2-Masken entfallen. Schutzkittel, Schutzhandschuhe und Schutzbrille sind nicht generell nötig, allenfalls bei gesteigerter Gefahr einer Aerosolbildung (z. B. bei Bronchoskopien). Eine Übertragung über Oberflächen stellt keine relevante Infektionsquelle dar. Daher reicht die tägliche Flächendesinfektion im Krankenzimmer der häufig berührten und personennahen Flächen. Gleiches gilt für Funktionsbereiche. Die Einwirkzeit muss nicht abgewartet werden, da die Abtötung der Erreger logarithmisch erfolgt und die Bakterienlast bereits nach Antrocknung des Desinfektionsmittels deutlich reduziert ist, die Flächen somit wieder benutzt werden können. Das bedeutet z. B. in der Röntgenabteilung, dass nach Desinfektion der Kontaktflächen und Antrocknung des Desinfektionsmittels die Räume wieder genutzt werden können. Anders verhält es sich bei sichtbarer Kontamination, z. B. durch Sputum, Sekret oder Blut im Rahmen einer Bronchoskopie. In diesem Fall ist zunächst die Fläche mechanisch zu reinigen, bevor nachfolgend ein tuberkulozides Desinfektionsmittel unter Einhaltung der Einwirkzeit eingesetzt wird. Ein tuberkulozides Desinfektionsmittel ist ebenfalls unter Einhaltung der Einwirkzeit bei der Entlassung der Patienten im Rahmen der Schlussdesinfektion anzuwenden. == Prävention == Da es derzeit keinen wirksamen Impfschutz gegen Tuberkulose gibt, besteht die wichtigste vorbeugende Maßnahme darin, infizierte Personen möglichst frühzeitig zu entdecken und sowohl rasch als auch effektiv zu behandeln. Wegen der geringen Fallzahl in Deutschland sind hierzu Reihenuntersuchungen weder in Form von Tuberkulintestungen noch von Röntgenuntersuchungen sinnvoll. Die aktive Suche nach infizierten Personen in Form einer Umgebungsuntersuchung von Kontaktpersonen von Patienten mit infektiöser Tuberkulose ist eine unverzichtbare Voraussetzung zur Verringerung der Erkrankungshäufigkeit. Besonders wichtig ist die Untersuchung und Kontrolle von medizinischem Personal nach Tuberkulosekontakt, weil diese Personen im Fall einer Infektion eine große Zahl von Patienten anstecken können. Zur Gruppe der Personen mit erhöhtem Tuberkuloserisiko, bei denen aktiv nach einer Infektion gesucht werden soll, gehören außerdem zum Beispiel Personen aus Ländern mit hoher Tuberkuloserate, Obdachlose, Drogenabhängige, Gefängnisinsassen, aber auch HIV-Positive. Das persönliche Erkrankungsrisiko kann heute unter Einbeziehungen wichtiger Einflussgrößen algorithmisch eingeschätzt werden. Ein ausgefeiltes, auch Medikamentenunverträglichkeiten berücksichtigendes Beispiel dafür ist der Online TST/IGRA Interpreter, der an der kanadischen McGill-Universität von Dick Menzies und seinen Mitarbeitern entwickelt wurde. === Impfung === Bis 1998 wurde in Deutschland eine aktive Schutzimpfung (Lebendimpfung) mit dem abgeschwächten Mykobakterien-Impfstamm Bacillus Calmette-Guérin (BCG) gegen die Tuberkulose durchgeführt. Aufgrund der nachlassenden Schutzwirkung, lokaler Komplikationen und Nebenwirkungen und der geänderten epidemiologischen Situation wird die Indikation zur BCG-Impfung seit 1998 in Deutschland nur noch selten gestellt. Bei der Einführung des Impfstoffs kam es 1930 in Lübeck zum Lübecker Impfunglück. Dabei wurden 208 Kinder durch eine fehlerhafte Verarbeitung der aus Paris bezogenen BCG-Kultur zu Impfstoff mit virulenten Tuberkulosebakterien infiziert. 77 von ihnen starben. Durch diesen Impfunfall weiß man aus der Beobachtung dieser Kinder heute viel über den Verlauf der Krankheit. Die Einführung der Impfung in Deutschland wurde dadurch aber bis in die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg verzögert. Die BCG-Impfung wird heute von der Ständigen Impfkommission nicht mehr empfohlen, da die eingeschränkte Wirksamkeit die Impfkomplikationen nicht aufwiegen konnte. Außerdem ist bei geimpften Personen der Tuberkulintest auch nach Jahrzehnten noch gelegentlich leicht bis mäßig positiv. Aus diesem Grund wird dieser Test (etwa bei einem Kontakt mit einer Person, die an offener TBC erkrankte) erst bei einer stärkeren Reaktion in Form einer verhärteten Schwellung (Induration) von mehr als 15 mm Querdurchmesser zur Unterarmachse als positiv gewertet. Auch weltweit konnte die BCG-Impfung die Verbreitung der Tuberkulose nicht eindämmen, obwohl sie zu den am weitesten verbreiteten Impfungen gehört. Lediglich die besonders fulminanten und gefürchteten Verläufe im Kindesalter in Form einer tuberkulösen Meningitis oder einer Miliartuberkulose vermag die BCG-Impfung wohl relativ zuverlässig zu verhindern. Derzeit versuchen verschiedene Forscher, die Wirksamkeit des BCG-Impfstammes durch gentechnische Veränderungen zu erhöhen, indem die Impfbakterien zusätzliche Antigene produzieren, durch die das Immunsystem besser auf die echten Mykobakterien reagieren kann.Der BCG-Impfstoff ist besonders in den Tropen und in den Subtropen von sehr schlechter Wirksamkeit. Tiermodelle wie auch Impfstudien mit Menschen zeigten, dass die schlechte Wirksamkeit von bereits existierenden Immunantworten auf boden- und (trink-)wasserbewohnende, nichtpathogene Mycobacterium-Arten herrührt. Viele der Mykobakterien besitzen kreuz-reaktive Antigene, so dass eine Infektion mit dem einen Mykobakterium einen gewissen Schutz gegen die Infektion mit dem anderen verleiht. Dies hat Folgen für den Impfschutz: Einerseits bestehen Antikörper gegen den BCG-Lebendimpfstoff – der Impfstoff wird vom Körper vernichtet, bevor er selbst das Immunsystem stimulieren kann. Und zweitens besteht durch die im täglichen Leben aufgenommenen Mykobakterien ein immerhin so guter Schutz gegen das Tuberkulose-Bakterium, dass die Impfung keinen nennenswerten zusätzlichen Schutz bringt. Man vermutet, dass durch die bessere Hygiene und Trinkwasseraufbereitung in Industrieländern dieser natürliche Impfschutz fehlt und dadurch die BCG-Impfung bislang effektiv war. In den 1970er Jahren wurde in Indien eine Tuberkulose-Impfstoff-Studie an 260.000 Menschen durchgeführt. Diese ergab, dass mehr Fälle von Tuberkulose bei den Geimpften als bei den Ungeimpften auftraten.Eine Phase-I-Studie mit einem neuen Impfstoff VPM1002 wurde in den Jahren 2009 und 2010 in Neuss mit 80 Probanden getestet und mit guter Verträglichkeit bewertet. Der Impfstoff VPM1002 wird in einer Phase-III-Studie bis 2020 an 2000 Menschen in Indien getestet.Der bisher vielversprechende Impfstoff MVA85A zeigte 2013 in der Phase-II-Studie Schwächen auf. Es gibt bei geimpften gesunden und HIV-negativen Säuglingen keine Verbesserung zum bisherigen Impfstoff. Jedoch ist abzuwarten, ob der Impfstoff bei Erwachsenen oder HIV-Positiven (die den Lebendimpfstoff nicht erhalten dürfen) einen Vorteil bringt. Neben diesem sind derzeit 12 weitere Tuberkulose-Impfstoffe in der klinischen Phase, AERAS-402/Crucell Ad35 und GSK M72 werden aktuell an Erwachsenen und Kindern in Südafrika getestet.Ende 2010 konnte gezeigt werden, dass im Mausmodell intranasale Impfung mit mRNA (Hsp-65) von M. leprae effektiv und sicher vor Infektion mit M. tuberculosis schützt.Eine weitere Neuentwicklung ist H4:IC31. Dabei handelt es sich um ein rekombinantes Fusionsprotein H4 und das Adjuvans IC31. H4 besteht aus den Tuberkel-Antigenen Ag85B und TB10.4. Ag85B wird auch α-Antigen genannt und ist eine Mycolyl-Transferase. TB10.4 ist eines von drei sehr ähnlichen Proteinen der ESAT-6-Gruppe von Mycobacterium tuberculosis. Eine Prüfung in Südafrika an BCG-geimpften Jugendlichen verlief vielversprechend. === Chemoprophylaxe und Chemoprävention === Da kleine Kinder unter fünf Jahren nach einer Infektion häufiger und schneller erkranken als Erwachsene (20 % der angesteckten Kinder erkranken nach der Literatur bei einer Mindestlatenzzeit von etwa drei Wochen bis zu Jahren oder gar Jahrzehnten), gelten bei ihnen nach Kontakt zu an Tuberkulose Erkrankten besondere Vorsorgemaßnahmen. Auch bei negativer Tuberkulin-Testung sollten sie nach den Richtlinien der Schweizer Lungenliga für zwei Monate prophylaktisch mit Antituberkulotika (z. B. Isoniazid) behandelt werden. Wenn nach diesen zwei Monaten der Tuberkulin-Test immer noch negativ ist, kann die Behandlung beendet werden. Ist der Tuberkulin-Test in der Zwischenzeit aber positiv geworden, muss zum einen eine aktive Tuberkulose durch eine Röntgenuntersuchung der Lungen ausgeschlossen werden. In Europa geschieht dies durch eine Brustaufnahme; in Übersee wie in Australien empfiehlt man dagegen gerade bei Kindern eine Computertomographie der Brustorgane. Die Behandlung mit dem Antituberkulotikum wird dann für weitere Monate als Chemoprävention fortgesetzt. Wenn die Erreger bei der Infektionsquelle bekanntermaßen resistent gegen das Antituberkulotikum sind, muss die Chemoprophylaxe selbstverständlich mit einem anderen Wirkstoff, vorzugsweise Rifampicin erfolgen. Bei Mehrfachresistenzen soll sie sogar mit zwei verschiedenen wirksamen Substanzen durchgeführt werden. === Meldepflicht === In Deutschland ist „behandlungsbedürftige“ Tuberkulose beim Menschen eine meldepflichtige Krankheit im Sinne des Infektionsschutzgesetzes (IfSG), auch wenn ein bakteriologischer Nachweis nicht vorliegt (§ 6 Absatz 1 Satz 1 Nummer 1a Buchstabe a IfSG). Erkrankung und Tod sind zu melden. Dem Gesundheitsamt ist darüber hinaus zu melden, „wenn Personen, die an einer behandlungsbedürftigen Lungentuberkulose erkrankt sind, eine Behandlung verweigern oder abbrechen“ (§ 6 Absatz 1 Satz 2 IfSG). Außerdem besteht auch für die Leitungen von Gemeinschaftseinrichtungen eine Benachrichtigungspflicht nach § 34 Absatz 6 IfSG. Beim Tier ist die Erkrankung in Deutschland eine meldepflichtige Tierkrankheit nach § 26 Tiergesundheitsgesetz (TierGesG) in Verbindung mit § 1 und der Anlage der Verordnung über meldepflichtige Tierkrankheiten. Ausgenommen sind davon Mycobacterium-bovis- inklusive deren Subspezies-Infektionen, die sogar anzeigepflichtige Tierseuchen sind nach § 4 TierGesG in Verbindung mit § 1 der Verordnung über anzeigepflichtige Tierseuchen sind.In Österreich ist Tuberkulose beim Menschen eine meldepflichtige Krankheit gemäß § 3 Tuberkulosegesetz. Danach ist jeder Nachweis eines Tuberkuloseerregers, jede aktive oder ansteckende Tuberkuloseerkrankung sowie jeder darauf zurückzuführende Todesfall meldepflichtig. Zudem ist jeder Verdacht auf eine Tuberkuloseerkrankung zu melden, wenn sich die an der Tuberkulose erkrankte Person der diagnostischen Abklärung entzieht. Es besteht nach § 2 Tuberkulosegesetz auch die Pflicht, sich behandeln zu lassen (Behandlungspflicht). In Österreich ist Tuberkulose der Rinder anzeigepflichtig nach § 16 Tierseuchengesetz. In der Schweiz ist Tuberkulose beim Menschen ebenfalls eine meldepflichtige Krankheit und zwar nach dem Epidemiengesetz (EpG) in Verbindung mit der Epidemienverordnung und Anhang 1 der Verordnung des EDI über die Meldung von Beobachtungen übertragbarer Krankheiten des Menschen. Meldungpflichtig sind der Beginn einer Behandlung mit drei verschiedenen Antituberkulotika oder der Nachweis von Mykobakterien des Tuberculosis-Komplexes in klinischem Material. In der Schweiz ist Tuberkulose als auszurottende Tierseuche im Sinne von Artikel 3 Tierseuchenverordnung (TSV) mit umfassenden Pflichten nach den Artikeln 158–165a meldepflichtig. == Tuberkulose bei anderen Lebewesen == Tuberkulosen kommen bei nahezu allen Wirbeltieren vor und können neben M. tuberculosis von zahlreichen anderen Mykobakterien des Mycobacterium tuberculosis-Komplexes ausgelöst werden. === „Mycobacterium tuberculosis“ === M. tuberculosis kann sowohl bei Haustieren als auch bei Wildtieren (wie zum Beispiel Hirschen oder Springböcken) eine Erkrankung hervorrufen. Beschrieben ist die Infektion aufgrund des engeren Kontakts zum Menschen bei vielen domestizierten Arten, z. B. bei Haushunden, Hauskatzen und Papageien, und bei Zootieren wie Elefanten.Bei den meisten Tierarten sitzt der Primärherd vor allem in der Lunge, die Erkrankung gleicht also der Lungentuberkulose des Menschen. Bei Schweinen sind nahezu ausschließlich die mesenterialen Lymphknoten betroffen. Bei Rindern verläuft die Infektion mit M. tuberculosis zumeist ohne pathologische Prozesse, von Bedeutung ist aber, dass der Erreger mit der Milch ausgeschieden wird, weshalb die Pasteurisierung der Milch eine wesentliche Maßnahme für die Bekämpfung der Tuberkulose des Menschen war. Rohmilch sollte allenfalls aus tuberkulosefreien Rinderbeständen konsumiert werden. === Andere Mykobakterien === Die Tuberkulose der Rinder ist von den Tiertuberkulosen für den Menschen am bedeutsamsten. Ihr Erreger, Mycobacterium bovis und Mycobacterium caprae, besitzen zwar eine relativ hohe Wirtsspezifität, können aber auch Erkrankungen bei Menschen und anderen Säugetieren (einschließlich vieler Haustiere und zahlreicher Wildtiere) verursachen, so dass es sich um einen Zoonose-Erreger handelt. Die Tuberkulose der Rinder ist eine anzeigepflichtige Tierseuche. Für Infektionen bei anderen Haussäugetieren als Rindern sowie bei Wildsäugetieren besteht Meldepflicht.Die Geflügeltuberkulose wird durch M. avium verursacht. Sie war eine der häufigsten Erkrankungen bei Haushühnern, ist heute allerdings selten. Prinzipiell sind alle Vogelarten, aber auch der Mensch, Rinder, Schweine, Schafe, Ziegen, Katzen und vor allem das Kaninchen empfänglich. Die Geflügeltuberkulose zählt zu den meldepflichtigen Tierkrankheiten.Bei Schlangen ist die Tuberkulose selten und verläuft meist chronisch mit Tuberkelbildung in inneren Organen, der Unterhaut oder im Maul. Hauptsächliche Erreger sind M. thamnopheos, M. marinum und M. chelonae. Bei Echsen ist die Erkrankung ebenfalls selten und verläuft als unspezifische Allgemeinerkrankung oder unter Manifestation in der Haut. Haupterreger sind M. ulcerans, M. marinum und M. thamnopheos. M. ulcerans ist beim Menschen Erreger des Buruli-Ulkus. Die Fischtuberkulose wird durch M. marinum, M. fortuitum und M. chelonae hervorgerufen und befällt sowohl Süß- als auch Salzwasserfische. M. chelonae kann bei Verfütterung infizierter Fische auch bei Schildkröten geschwürige Veränderungen im oberen Verdauungstrakt, Lungenentzündungen und Hauterkrankungen auslösen. Die Paratuberkulose ist eine durch M. paratuberculosis hervorgerufene Darmerkrankung der Wiederkäuer. === Pseudotuberkulose === Zwei unterschiedliche, der Tuberkulose sehr ähnliche Krankheitsbilder, die jedoch nicht durch Mykobakterien verursacht werden, bezeichnet man als Pseudotuberkulose. Die Pseudotuberkulose der Ziegen und Schafe – seltener sind Rinder, Pferde, Schweine und zunehmend auch Kamele betroffen – ist eine Infektionskrankheit, die durch das mit den Mykobakterien verwandte Bakterium Corynebacterium pseudotuberculosis verursacht wird. Beim Menschen kann es nach massivem Kontakt mit Corynebacterium pseudotuberculosis zu Infektionen mit Lymphknotenentzündungen kommen.Ebenso wird die bei Hasen, Nagetieren und Vögeln, durch Yersinia pseudotuberculosis hervorgerufe Yersiniose als Pseudotuberkulose bezeichnet, bei Nagetieren auch Rodentiose genannt. Yersinia pseudotuberculosis ist für viele Säugetier- und Vogelarten potenziell pathogen, so auch für den Menschen. == Geschichte == === Paläolithikum und Neolithikum === Untersuchungen eines etwa 500.000 Jahre alten Fossils des Frühmenschen Homo erectus aus der Türkei zeigten, dass die Tuberkulose wesentlich früher in der Menschheitsgeschichte auftrat als bislang gedacht. Am Schädeldach fanden sich Spuren einer durch Tuberkulose ausgelösten Hirnhautentzündung (Leptomeningitis tuberculosa). Die Forscher mutmaßen, dass dieser aus Afrika stammende Frühmensch dunkelhäutig gewesen sei und daher im Vergleich zu hellhäutigen Menschen deutlich weniger Vitamin D produzieren konnte, was ihn folglich besonders anfällig für diese Erkrankung gemacht haben könnte. Diese allerdings nur auf morphologischen Skelettveränderungen beruhende Annahme einer Erkrankung an Tuberkulose sowie der weitere, nunmehr erstmals molekularbiologisch abgesicherte Befund einer 9000 Jahre alten Probe bestätigen die Annahme der modernen Forschung, dass die Tuberkulose nicht in der Jungsteinzeit im Verlaufe der Domestikation des Viehs von diesem auf den Menschen übersprang, sondern sich während eines langen, wesentlich früher beginnenden Zeitraumes parallel mit dem Homo erectus entwickelte. Auch Skelettüberreste von prähistorischen Menschen, die auf ca. 4000 v. Chr. datiert wurden, zeigen Spuren der Krankheit. Auch handelt es sich nicht etwa um geographisch isolierte Befunde, vielmehr wurde Mycobacterium tuberculosis schon 2001 in Wyoming, Nordamerika in 17.000 Jahre alten Funden nachgewiesen. === Altertum === Tuberkulöse Zerstörung fand sich in Knochen ägyptischer Mumien von 3000 bis 2400 v. Chr. Vergleichbare Befunde aus Altamerika datieren um 2000 v. Chr. Nach den schriftlichen Überlieferungen gibt es Hinweise auf eine Tuberkuloseepidemie in Indien um 1300 v. Chr. Im 5. Jahrhundert v. Chr. kennzeichnete Hippokrates die Schwindsucht (griechisch φθίσις phthísis „Schwund, Auszehrung“) als eine der Epidemien, die fast immer tödlich war. Von ihm sind eindrucksvolle Krankheitsbeschreibungen überliefert. === Mittelalter === Im frühen Mittelalter spielte die Tuberkulose in Europa aufgrund der dünnen Besiedelung eine untergeordnete Rolle. Stärker war sie lediglich in den wenigen Ballungsgebieten vertreten. Dazu gehörte in erster Linie Byzanz. Die Tuberkuloseopfer der Zeit stammen aus allen Klassen bis hin zu Angehörigen des Kaiserhauses. Die medizinische Literatur aus Byzanz beschreibt zu allen Zeiten tuberkulöse Krankheitsbilder. Wesentliche Neuerungen in der Therapie der Tuberkulose wurden dagegen im Mittelalter nicht eingeführt. Bis in die frühe Neuzeit verharrte man auf dem Stand der hippokratischen Schriften und derer Galens. Eine der wenigen Ausnahmen war im 6. Jahrhundert Alexander von Tralleis aus Lydien, der therapeutische Maßnahmen weiterentwickelte oder ausdifferenzierte. === Frühe Neuzeit === Nach einem vorausgehenden Ausbruch in Italien in der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts begann im 17. Jahrhundert die größte und längste geschichtliche Tuberkulosewelle. Sie erreichte ihren Höhepunkt im 18. Jahrhundert und hält nach einem temporären Aufflackern der Epidemie kurz nach dem Ersten und dem Zweiten Weltkrieg in letzten Ausläufern bis heute an. Hinsichtlich der Auffassung der Pathogenese existierten in den europäischen Ländern des 18. Jahrhunderts unterschiedliche Traditionen. Viele Medizinautoren dieser Zeit betrachteten die Tuberkulose bzw. die nicht immer damit synonyme Schwindsucht (von mittelhochdeutsch swinden „schwinden, abnehmen, abmagern usw.“) als die schlimmste unter den damals bekannten Seuchen. Ursächlich sahen sie eine Ungleichverteilung der Körpersäfte, unheilvolle Ausdünstungen des Bodens, die Verstädterung oder den Verfall der Sitten. Hingegen neigte man in Italien traditionell zu einer contagiösen, d. h. übertragbaren Ursache. Konsequenterweise führte die Republik Venedig Mitte des 18. Jahrhunderts die schriftliche Meldepflicht bei Erkrankungen an der Phthise (Schwindsucht bei Lungentuberkulose) ein. Die persönliche Habe der an der Erkrankung verstorbenen Personen wurde zur Minderung der Ansteckungsgefahr verbrannt. In England und den nordischen Ländern vertrat man dagegen gemeinhin die Ansicht, die Erkrankung beruhe auf einer hereditären (erblichen) Ursache. Eine große Ausnahme stellte in England die Veröffentlichung Benjamin Martens von 1720 dar: A New Theory of Consumptions, in der Marten 162 Jahre vor Robert Koch die Ursache der Erkrankung einer Infektion durch Mikroorganismen zuschrieb. Martens in kleiner Auflage erschienene Veröffentlichung fand jedoch keine weitere Rezeption. In Frankreich, Deutschland und der Schweiz mischten sich Vertreter beider Schulen. Zum Teil vertrat man hier ausdrücklich die hereditäre Theorie, leitete aber gleichzeitig Maßnahmen zur Minderung einer Ansteckungsgefahr ein. Eine herausragende Rolle unter den Phthisiologen seiner Zeit nahm Johann Jakob Wepfer in Schaffhausen ein, der bei seinem Studienaufenthalt in Italien die Idee von der kontagiösen Ätiologie der Erkrankung übernommen hatte. Er beschrieb so als erster die Entstehung der Lungencavernen (hanc calamitatem) aus Tuberkeln (tubercula). Seine Arbeiten und Untersuchungen zur Epidemiologie der Tuberkulose gingen in vielem qualitativ über die Leistungen der folgenden zwei Jahrhunderte hinaus. Sie wurden erst posthum 1727 durch den Sohn veröffentlicht und blieben außerhalb eines kleinen Expertenzirkels unbekannt. === 19. Jahrhundert === Zu Beginn des 19. Jahrhunderts behandelte Thomas Beddoes die „Schwindsucht“ bzw. Lungentuberkulose und andere Erkrankungen der Atemwege mit Inhalation bestimmter Gase.Aufgrund der Vielzahl ihrer Symptome wurde die Krankheit bis ins 19. Jahrhundert nicht von anderen mit ähnlichen Symptomen wie der heute seltenen Skrofulose abgegrenzt. Erst 1819 erklärte René Laënnec die Einheitlichkeit von Tuberkeln mit Miliarknötchen und (tuberkulösen) Kavernen und erkannte, dass die tuberkulöse Materie sich neben der Lunge auch in anderen Organen bilden kann. Erst 1839 wurde von Johann Lukas Schönlein der einheitliche Krankheitsbegriff Tuberkulose geprägt. Tuberkulose fand im 19. und frühen 20. Jahrhundert allgemeines Interesse als die endemische Krankheit der städtischen Armen. 1815 wurde in England ein Viertel der Todesfälle und 1918 in Frankreich ein Sechstel der Todesfälle durch Tuberkulose verursacht. In der Altersgruppe der 15- bis 40-Jährigen war um 1880 jeder zweite Todesfall in Deutschland auf diese Krankheit zurückzuführen. Auch in ländlichen Gegenden stellte die Tuberkulose die häufigste Todesursache dar. Von den 2188 in der Liechtensteiner Gemeinde Triesen verzeichneten Todesfällen der Jahre 1831 bis 1930 gingen 15 % auf das Konto der Tuberkulose. Im 19. Jahrhundert entwickelte sich die Luftkur, bei der die Patienten mehrere Stunden täglich an der freien Luft liegen mussten, zur bevorzugten Therapie für Tuberkulose. Diese fand in eigenen Tuberkulose-Sanatorien (Lungenheilstätten) statt; das erste weltweit errichtete Hermann Brehmer 1855 im niederschlesischen Görbersdorf (heute Sokołowsko, Polen). Nachdem man auch im Norden erkannt hatte, dass die Krankheit ansteckend ist, wurde die Tuberkulose in den 1880er Jahren in Großbritannien meldepflichtig. Es gab damals Kampagnen zum Vermeiden des Ausspuckens auf öffentlichen Plätzen. Die angesteckten Armen wurden angeregt, in Sanatorien zu gehen, die eher Gefängnissen ähnelten. Trotz des behaupteten Nutzens der Frischluft und der Arbeit im Sanatorium verstarben 75 Prozent der Insassen innerhalb von fünf Jahren (1908). Neben solchen Maßnahmen, die immer noch dem hygienisch-diätetischen Behandlungskonzept anhingen, gab es im 19. Jahrhundert mit zunehmend besseren chirurgischen Möglichkeiten auch sehr unterschiedliche lokale Behandlungskonzepte. Insbesondere die Pneumothorax-Technik bzw. Pneumolyse und die Thorakoplastik fanden in zahlreichen Varianten verbreitete Anwendung. Bei der Pneumothorax-Technik wurde ein betroffener Lungenflügel künstlich zum Kollabieren gebracht, um die Lunge zum Stillstand und zur Ausheilung der Veränderungen zu veranlassen. Der italienische Mediziner Carlo Forlanini gilt (seit 1892) als Erfinder dieser Kollapstherapie der Lungentuberkulose. Diese Technik war aber von geringem Nutzen und wurde nach 1946 allmählich eingestellt. Daneben entwickelten sich immer feinere Resektionsverfahren, mit denen betroffene Lungenabschnitte entfernt wurden. Der international renommierte französische Herzchirurg Théodore Tuffier resezierte bei Tuberkulose 1891 als Erster eine rechte Lungenspitze mittels „Apikolyse“ (Ausschälung der Lungenspitze aus ihren Verwachsungen). Mit seiner Schrift Über die chirurgische Behandlung der Lungentuberkulose (1910) fördert er die moderne Lungenchirurgie.Das Bakterium Mycobacterium tuberculosis beschrieb Robert Koch am 24. März 1882. Er erhielt 1905 für die Entdeckung des Erregers den Nobelpreis für Physiologie oder Medizin. Koch glaubte nicht, dass sich die bovine und menschliche Tuberkulose ähnlich waren, was die Erkennung infizierter Milch als Quelle der Erkrankung verzögerte. Später wurde diese Quelle durch Pasteurisierung beseitigt. Koch braute 1890 einen Glycerin-Extrakt der Tuberkelbazillen als Hilfsmittel zur Behandlung der Tuberkulose und nannte ihn Tuberkulin. Es war bei einer zunächst euphorisch begrüßten Anwendung jedoch nicht wirkungsvoll. Die Beobachtung lokaler Hautreaktionen bei der Anwendung von Tuberkulin führte aber später zur Entwicklung eines Testverfahrens zum Nachweis der Ansteckung respektive Erkrankung durch Clemens von Pirquet 1907, Felix Mendel und Charles Mantoux jeweils um 1910. 1883 wies Robert Koch erstmals Tuberkelbazillen im Gewebe von Lupus vulgaris, einer zu Beginn des 19. Jahrhunderts erstmals als eigenständiges Krankheitsbild beschriebenen Hauterkrankung, nach und zeigte somit deren Ursache als Hauttuberkulose. Im Blut von an akuter Miliartuberkulose Verstorbener wies Anton Weichselbaum im Jahr 1884 Tuberkelbazillen nach. Eine von dem Chirurgen Ferdinand Sauerbruch in München, wo dieser an der Universitätsklinik eine Lupusstation eingerichtet hatte (im ersten Viertel des 20. Jahrhunderts) gemäß den Erfahrungen eines Bielefelder Arztes namens Gerson durchgeführte mineralhaltige, aber kochsalzfreie Diät zeigte offenbar (angeblich in 448 von 450 Fällen) Erfolge bei der Behandlung der Hauttuberkulose. Niels Ryberg Finsen begründete 1896 die Lichttherapie der Hauttuberkulose. === 20. Jahrhundert === Im Jahr 1903 behandelte Oskar Bernhard (1861–1939) die „chirurgische Tuberkulose“ mit Bestrahlung durch Sonnenlicht. Den ersten Erfolg mit Immunisierung gegen Tuberkulose hatten 1906 Albert Calmette und Camille Guérin mit ihrem BCG-Impfstoff. Er wurde erstmals am 18. Juli 1921 in Frankreich am Menschen angewendet. Nationalistische Strömungen, die das Lübecker Impfunglück für ihre Zwecke nutzten, verhinderten in Deutschland den weitverbreiteten Gebrauch bis nach dem Zweiten Weltkrieg. Dennoch sank die durch Tuberkulose verursachte Sterblichkeitsrate in den hundert Jahren von 1850 bis 1950 in Europa deutlich von 500 auf 50 pro Jahr, bezogen auf 100.000 Einwohner. Verbesserungen im öffentlichen Gesundheitswesen, vor allem die Einrichtung eines dichten Netzes an Tuberkulosefürsorgestellen ab 1905, verringerten die Erkrankungszahl schon vor Einführung von Antibiotika. Dabei wechselte das Konzept mehrfach. Bis 1945 stand die Heilstättenbehandlung von Frühfällen und leicht erkrankten Fällen im Vordergrund. Aus den Erfahrungen der kriegsbeeinflussten Jahre 1917 bis 1919 wurde 1945 das stationäre Behandlungskonzept grundlegend geändert. Primär kamen nur noch schwer erkrankte und ansteckungsverdächtige Patienten in die Heilstätten. Die Heilstätten wurden apparativ aufgerüstet, um unter Einschluss lungenchirurgischer Verfahren eine Maximalversorgung anbieten zu können. Mit der Entwicklung des Antibiotikums Streptomycin durch Selman Waksman im Jahr 1943 wurde neben der Prävention die aktive Behandlung möglich. Den Erfolg trübten allerdings häufige Resistenzen der Mykobakterien gegen Streptomycin. Die fast gleichzeitige Herstellung der 1945, befürwortet von Jörgen Lehmann, in die Tuberkulosetherapie eingeführten Paraaminosalicylsäure (PAS) fand zunächst kaum Beachtung, obwohl schon die Kombination dieser beiden Substanzen die Bildung resistenter Stämme erschwert. Ab 1952 fand Isoniazid als weiteres Tuberkulosemedikament zunehmende Verwendung. Die Kombinationstherapie zur Vermeidung von Resistenzbildungen wurde von dieser Zeit an Standard der Tuberkulosebehandlung. Der bis heute anhaltende Durchbruch in der antituberkulotischen Behandlung wurde ab den 1960er Jahren durch das Hinzukommen von Ethambutol und zuletzt Rifampicin erzielt. Bedingt durch die Abschaffung des öffentlichen Gesundheitswesens im New York der 1970er Jahre kam es dort in den 1980er Jahren zu einer Zunahme an Erkrankungen. Die Zahl derer, die ihre Medikamente nicht einnehmen konnten, war hoch. In der Folge erlitten in New York mehr als 20.000 Menschen eine vermeidbare Infektion mit antibiotikaresistenten Erregerstämmen. Seit dem Auftreten antibiotikaresistenter Stämme (d. h. resistent gegen mindestens Rifampicin und Isoniazid) in den 1980er Jahren geht die Hoffnung zurück, dass man die Krankheit vollständig ausrotten könnte. So gab es um 1955 in Großbritannien 50.000 Tuberkulose-Fälle. Von 1987 bis 2001 stieg die Zahl Tuberkulosekranker in Großbritannien dann wieder von 5500 auf über 7000 bestätigte Fälle an. Das Wiederaufleben der Tuberkulose veranlasste die WHO 1993 dazu, einen globalen Gesundheitsnotfall auszurufen. 1996 erklärte sie den 24. März zum Welttuberkulosetag. === 21. Jahrhundert === In Ländern außerhalb Europas und Nordamerika, wie z. B. Bangladesch bleibt Tuberkulose auch im 21. Jahrhundert weiterhin eines der Hauptprobleme für die Gesundheitsversorgung. Eine erneute Zunahme von Fällen wurde mehrfach mit dem Problem des Klimawandels in Verbindung gebracht. == Tuberkulose in der Kunst == Aufgrund ihrer enormen Bedeutung spiegelt sich die Krankheit vielfach in der Kunst wider. Manche Künstler verarbeiteten die Konfrontation mit dem frühen (eigenen) Tod. Bereits in der darstellenden Kunst der Ägypter findet sich ab dem mittleren Reich die Darstellung des Gibbus, des markanten äußeren Ausdrucks von Pott’s Disease, der Wirbelsäulentuberkulose. Vergleichbare Darstellungen sind auch aus den altamerikanischen Kulturen überliefert. In den letzten Jahren seines Lebens zeigte der deutsche Schriftsteller Friedrich Schiller immer öfter Symptome einer Tuberkuloseerkrankung. In jener Zeit entstand eines seiner wichtigsten Werke, das Drama Wilhelm Tell. Am 9. Mai 1805 verstarb der Schriftsteller an der durch die Tuberkuloseerkrankung hervorgerufenen akuten Lungenentzündung in Weimar. Drei der sechs Geschwister Brontë starben an Tuberkulose. Charlotte Brontë nahm das Thema in ihrem Roman Jane Eyre auf, in dem Janes Freundin Helen Burns daran stirbt. Auch im Roman Sturmhöhe ihrer Schwester Emily Brontë ist Tuberkulose ein Thema. Darin stirbt Hindleys Frau Frances sehr jung an ihr. 1848 ließ Alexandre Dumas d. J. in seinem Roman La Dame aux Camélias – Die Kameliendame (EA Paris, Alexandre Cadot) die weibliche Hauptfigur an der Tuberkulose sterben. Der Stoff wurde von Giuseppe Verdi (Musik) und Francesco Maria Piave (Libretto) in der 1853 uraufgeführten Oper La traviata (italienisch: „Die Gestrauchelte“ oder „Die Entgleiste“) verarbeitet. In dieser geht Violetta Valery sehr realistisch drei Akte lang an der „weißen Pest“ zugrunde. Zur Zeit der Entstehung war es fast ein Skandal, den Tod so realistisch zu inszenieren. Im Roman Anna Karenina lässt der Autor Leo Tolstoi seine Figur Nikolaj Dmitrijewitsch Lewin an der Tuberkulose sterben. In der 1896 uraufgeführten Oper La Bohème von Giacomo Puccini stirbt die Hauptfigur Mimì im 4. Akt an der Tuberkulose. Auch in Knut Hamsuns Erzählung Victoria (1898) stirbt die Heldin zuletzt an dieser Krankheit. Der tschechische Dichter Jiří Wolker verstarb mit 24 Jahren an Tuberkulose; seine Erkrankung und das herannahende Sterben verarbeitete er in seinem Spätwerk. Eines der wohl bekanntesten Beispiele dürfte Thomas Manns Zauberberg (Erstausgabe von 1924) sein. Inspiriert durch die Erkrankung seiner Frau Katia lokalisiert er die Handlung des weltbekannten Romans in Davos zu einer Zeit ohne wirksame Medikamente. Franz Kafkas Lungentuberkuloseerkrankung, an der er 1924 in einem österreichischen Sanatorium bei Wien verstarb, wird in dem biografischen Roman Die Herrlichkeit des Lebens von Michael Kumpfmüller (2011) thematisiert. In Kafkas Parabel Auf der Galerie leidet die im ersten Teil erwähnte Kunstreiterin an Tuberkulose, dort „Lungensucht“ genannt. Franz Kafka litt zeitlebens an einer Tuberkuloseerkrankung. Joachim Ringelnatz, seine Tagebuchaufzeichnungen aus dem Tuberkulosekrankenhaus Waldhaus Charlottenburg, erschienen posthum, in Der Nachlaß, Berlin 1935. In dem Roman Das Tagebuch der Jutta S. von Inge Stolten werden ausführlich die Diagnose- und Therapiemethoden der 1950er Jahre beschrieben, inklusive eines längeren Luftkur-Aufenthalts der Hauptperson. Im Roman Les trois quarts du temps (Leben will ich) beschreibt Benoîte Groult die Behandlungsmethoden im Jahr 1945 bis zum Tod des erkrankten Jean-Marie. Thomas Bernhard, der selbst seit frühen Jahren an Tuberkulose litt, verarbeitete die Krankheit in beinahe allen Werken. Viele seiner Protagonisten sind Kranke und Leidende. Besonders deutlich wird das in seinen autobiographischen Bänden Die Kälte und Der Atem. Bernhard starb 1989 letztlich auch an den Folgen dieser Krankheit. John le Carré beschreibt im Roman Der ewige Gärtner eine im Jahr 2001 spielende Verschwörung eines multinationalen Unternehmens, das ein neuartiges, noch in der Entwicklung befindliches Mittel gegen Tuberkulose im Feldversuch an Einheimischen in Kenia ohne deren Wissen anwendet und dadurch ethische Grenzen überschreitet. Angorichina ist ein 2011 erschienener Roman von Marion Grace Wolley über Menschen in einem Tuberkulose-Sanatorium in Australien in den 1930er Jahren. Im Roman Ana in Venedig von João Silvério Trevisan leidet eine der Hauptfiguren, die schwarze ehemalige Sklavin Ana, in ihren letzten Lebensjahren an Tuberkulose.Der amerikanische Country-Musiker Jimmie Rodgers singt in mehreren Liedern über seine TB-Erkrankung, an der er 1933 im Alter von 35 Jahren verstarb (TB Blues, 1931; Whippin’ That Old TB, 1933). Im 1967 veröffentlichten Lied T. B. Sheets schildert der nordirische Musiker Van Morrison das Leid eines jungen Mädchens, das auf der Tuberkulose-Abteilung eines Spitals im Sterben liegt, aus der Sicht ihres mit der Situation völlig überforderten Freundes. In John Schlesingers Film Asphalt-Cowboy (1969) siecht der Kleingauner Ratso – gespielt von Dustin Hoffman – an der Tuberkulose dahin. Der aus Frankreich stammende polnische Grafiker Józef Gielniak, der 1972 an Tuberkulose im Sanatorium verstarb, stellte in seinen Linolschnitten hauptsächlich das Thema Tuberkulose mit ihren gesundheitlichen und sozialen Folgen sowie die geschlossene Welt der Sanatorien künstlerisch dar. Einer trage des anderen Last … (1987), preisgekrönter Film der DEFA, Regie: Lothar Warneke: Zu Zeiten der DDR müssen sich ein Polizist und ein evangelischer Pfarrer ein Zimmer in einer Tuberkuloseklinik teilen. Dabei diskutieren sie über Gott, die Liebe, den Sinn des Lebens, den Tod und die Krankheit. Aus anfänglicher Abneigung wird Freundschaft. Im Film Winter’s Tale von 2014, mit dem Hauptdarsteller Colin Farrell, stirbt Beverly Penn, die Geliebte des Haupthelden, dargestellt von Jessica Brown Findlay, an Tuberkulose. Im Videospiel Red Dead Redemption 2 erkrankt der Hauptcharakter im Laufe des Spiels an Tuberkulose.Weitere Beispiele aus Literatur und Film sind in Romanen von Fjodor Dostojewski Ippolít Teréntjeff in Der Idiot und Katerina Iwanowna in Schuld und Sühne; Julika Stiller-Tschudy in Stiller (Roman von Max Frisch); Patrice Hollmann (Pat) in Erich Maria Remarques Roman Drei Kameraden; Lilian in Remarques Roman Der Himmel kennt keine Günstlinge; Ruby Gillis in Anne in Kingsport (Roman von Lucy Maud Montgomery); Red Stovall (gespielt von Clint Eastwood) in dem Film Honkytonk Man (USA 1982); Satine (gespielt von Nicole Kidman) in dem Film Moulin Rouge (USA 2001), nach Verdis Oper bzw. Dumas’ Roman, siehe oben. == Museum == Am 1. Dezember 2011 wurde im Rohrbacher Schlösschen in Heidelberg auf dem Gelände der Thorax-Klinik das Museum für Tuberkulose eröffnet. Es besteht zu einem großen Teil aus den Exponaten und der Fachliteratur des früheren Tuberkulose-Archivs in Fulda, das der Lungenfacharzt Robert Kropp leitete; es ist seit Anfang 2012 öffentlich zugänglich. == Welttuberkulosetag == Jedes Jahr findet am 24. März der Welttuberkulosetag statt. Er wurde von der Weltgesundheitsorganisation (WHO) ausgerufen und wird von der Europäischen Arzneimittelagentur (EMA) unterstützt. Er soll das öffentliche Bewusstsein wachhalten und darauf hinweisen, dass die Tuberkulose in vielen Ländern der Welt, überwiegend in Entwicklungsländern, immer noch als Epidemie auftritt. Das Datum erinnert an den Tag, an dem Robert Koch 1882 erklärte, dass er den Erreger der Tuberkulose entdeckt habe. == Siehe auch == Dronning Ingrids Hospital == Literatur == === 19. Jahrhundert === August Predöhl: Die Geschichte der Tuberkulose. Leipzig 1888; Neudruck: Sändig, Wiesbaden 1966. === 20. Jahrhundert === M. L. 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November 2009 Tuberculosis in Europe and North America, 1800–1922. Harvard University Library, Open Collections Program, Contagion, Historical Views of Diseases and Epidemics Deutsche Lepra- und Tuberkulosehilfe e. V. Kompetenzzentrum Tuberkulose (Schweiz) Deutsche Lungenstiftung Detaillierte Informationen zu Tuberkulose bei HIV-Patienten Tuberkulose. Lungeninformationsdienst.de Zeitschriftenbestand des Deutschen Tuberkulose Archives (2009). (PDF; 296 kB) Carola Otterstedt: Die Kinder von Scheidegg. (Berichte aus einer Kinderheilstätte für Lungen- und Knochentuberkulose, Dokumentation). Tuberkulose – Informationen des Bundesamts für Gesundheit (Schweiz) == Anmerkungen ==
https://de.wikipedia.org/wiki/Tuberkulose
Vancouver
= Vancouver = Vancouver (englische Aussprache [væŋˈkuːvɚ] oder [vænˈkuːvɚ]) ist eine Stadt im Südwesten von British Columbia an der Westküste Kanadas. Sie liegt zwischen der Straße von Georgia und den Coast Mountains, rund 45 Kilometer nordwestlich der Grenze zu den USA. Die Stadt gehört zum Regionaldistrikt Metro Vancouver, der mit 2.642.825 Einwohnern die größte Metropolregion Westkanadas und nach Toronto und Montreal die drittgrößte des Landes bildet. Die Bevölkerungszahl der eigentlichen Stadt Vancouver beträgt 662.248. Benannt ist die Stadt nach dem britischen Kapitän George Vancouver, der die Region Ende des 18. Jahrhunderts erforschte und vermaß. Der Name Vancouver selbst stammt vom niederländischen „van Coevorden“, abgeleitet von der Stadt Coevorden. Die Stadt entstand in den 1860er Jahren als Folge der Einwanderungswelle während des Fraser-Canyon-Goldrauschs und entwickelte sich nach der Eröffnung der transkontinentalen Eisenbahn im Jahr 1887 innerhalb weniger Jahrzehnte von einer kleinen Sägewerkssiedlung zu einer Metropole. Die Wirtschaft basierte zu Beginn auf der Ausbeutung der natürlichen Ressourcen von British Columbia: Forstwirtschaft, Bergbau, Fischerei und Landwirtschaft. Der Hafen Vancouver erlangte nach der Eröffnung des Panamakanals internationale Bedeutung. Er ist heute der größte in Kanada und exportiert mehr Güter als jeder andere Hafen in Nordamerika. Vancouver wandelte sich mit der Zeit zu einem Dienstleistungszentrum und (insbesondere nach der Weltausstellung Expo 86) zu einem Reiseziel für Touristen. Die Stadt ist darüber hinaus hinter Los Angeles und New York der drittwichtigste Standort der nordamerikanischen Filmindustrie und wird daher auch als „Hollywood North“ bezeichnet. Die Finanzwirtschaft spielt ebenfalls eine bedeutende Rolle. In einer Rangliste der wichtigsten Finanzzentren weltweit belegt Vancouver den 15. Platz (Stand: 2018). In der Städteplatzierung des Beratungsunternehmens Mercer belegte Vancouver im Jahr 2018 unter 231 Großstädten weltweit den fünften Platz nach Lebensqualität.Vancouver veranstaltete vom 12. bis 28. Februar 2010 die XXI. Olympischen Winterspiele. Einige Wettbewerbe der Spiele fanden im 125 Kilometer von Vancouver entfernten Whistler statt. Nach Montreal im Jahr 1976 (Sommerspiele) und Calgary im Jahr 1988 war Vancouver die dritte kanadische Stadt, die Olympische Spiele veranstaltet hat. == Geographie == === Lage und Nachbarorte === Vancouver liegt an der Straße von Georgia, einem Meeresarm, der durch Vancouver Island vom Pazifischen Ozean abgeschirmt wird. Das 114,67 km² große Stadtgebiet erstreckt sich auf der Burrard-Halbinsel, zwischen dem rund 25 km langen Burrard Inlet im Norden und dem Fraser River im Süden. An der Westseite der Halbinsel befindet sich die English Bay. An ihrer Nordküste wird die Burrard-Halbinsel durch einen weiteren Meeresarm, den rund zwei Kilometer langen False Creek, nochmals unterteilt. Auf dieser kleineren Halbinsel liegen das Stadtzentrum (Downtown) und der Stanley Park, einer der größten städtischen Parks in Nordamerika. An der Westseite des Parks ragt der Siwash Rock in die Höhe, ein markanter Felsen vulkanischen Ursprungs. Das Stadtgebiet Vancouvers umfasst flaches und hügeliges Terrain, die höchste Stelle liegt auf 167 m ü. NN, auf dem Little Mountain im Queen Elizabeth Park. Die Stadt ist bekannt für ihre landschaftlich reizvolle Lage. Hoch aufragende Berge prägen das Stadtbild; diese gehören zu den North Shore Mountains, der südlichsten Kette der Coast Mountains. Die drei Hausberge Grouse Mountain (1231 m), Mount Seymour (1449 m) und Mount Strachan (1454 m) liegen am Nordufer des Burrard Inlet direkt gegenüber der Stadt. An klaren Tagen ist im Südosten der Vulkan Mount Baker erkennbar, der im US-Bundesstaat Washington liegt. Die Berge an der Sunshine Coast im Nordwesten sowie Vancouver Island im Westen und Südwesten runden die Szenerie ab. Die Nachbargemeinden Vancouvers sind West Vancouver im Nordwesten, North Vancouver im Norden, der Distrikt North Vancouver im Nordosten, Burnaby im Osten und Richmond im Süden. Die University Endowment Lands im Westen sind ein gemeindefreies Gebiet und bilden einen Teil des Greater Vancouver Electoral Area A. === Vegetation === Die ursprüngliche Vegetation Vancouvers und seiner Vororte war gemäßigter Regenwald, bestehend aus Nadelbäumen sowie vereinzelten Ahornen und Erlen, durchsetzt von Sümpfen (aufgrund der schlechten Wasserableitung selbst in höheren Lagen). Die Nadelbäume waren eine für die Küste von British Columbia typische Mischung aus Sitka-Fichten, Riesenlebensbäumen, Westamerikanischen Hemlocktannen, Douglasien und Pazifischen Eiben. Nur an der Elliott Bay in Seattle sollen die mächtigsten Bäume dieser Arten noch größer gewesen sein als am Burrard Inlet und an der English Bay. Die höchsten Bäume in Vancouvers Primärwald standen im Gebiet Gastown, wo die Forstwirtschaft erstmals tätig war, sowie an den Südufern von False Creek und English Bay (insbesondere an der Jericho Beach). Der Baumbestand im Stanley Park ist mehrheitlich Sekundärwald, doch existieren dort auch einige unter besonderem Schutz stehende und gekennzeichnete Bäume, die in voreuropäischer Zeit von Indianern bearbeitet worden sind (Culturally Modified Trees).Zahlreiche Pflanzen- und Baumarten, die in Vancouver und im restlichen Lower Mainland wachsen, wurden aus anderen Teilen Nordamerikas und anderen Kontinenten hierher importiert. Verschiedene Palmenarten sind häufig anzutreffen, aber auch eine große Anzahl weiterer exotischer Bäume wie Araukarie und Fächer-Ahorn sowie Magnolien, Azaleen und Rhododendren. Zahlreiche Rhododendren sind zu enormer Größe angewachsen, wie auch andere aus den kälteren Klimazonen Ostkanadas und Europas stammende Arten. Viele Straßen der Stadt werden seit den 1930er Jahren von japanischen Kirschbäumen gesäumt, die von Japan gestiftet wurden. === Klima === Im Vergleich zum kanadischen Durchschnitt ist das Klima in Vancouver aufgrund des Einflusses der Kuroshio-Strömung ungewöhnlich mild. Die Winter sind die viertwärmsten in den vom kanadischen Umweltministerium erfassten Städten, nach Victoria, Nanaimo und Duncan (alle auf der nahe gelegenen Vancouver Island gelegen). Durch die Nähe zum Meer bildet sich ein Mikroklima, die Wintertemperaturen sind in der Regel 2 bis 4 °C wärmer und die Sommertemperaturen 3 bis 8 °C kälter als im Landesinneren. An durchschnittlich 46 Tagen im Jahr fällt die Tagestiefsttemperatur unter den Gefrierpunkt, an nur zwei Tagen unter −10 °C. Die durchschnittlichen Tageshöchstwerte betragen im Juli und August rund 22 °C, können aber vereinzelt auf mehr als 26 °C ansteigen. Vancouver gilt als regnerische Stadt, im Durchschnitt regnet es pro Jahr an 166 Tagen. Zwischen November und März kann oft bis zu 20 Tage hintereinander Regen fallen, wenn die als Pineapple Express (Ananas-Express) bezeichnete subtropische Windströmung warme und feuchte Luft aus Hawaii heranführt. Als Faustregel gilt, dass pro 100 Höhenmeter rund 100 mm mehr Niederschlag zu erwarten sind. Schnee fällt in den höher gelegenen östlichen und nördlichen Vororten weitaus häufiger als in der Stadt und auf Meereshöhe. Die jährliche Schneemenge beträgt zwar nur knapp einen halben Meter, doch schon leichter Schneefall kann zum Schließen von Schulen, Geschäften und zu großflächigen Verkehrsproblemen führen. Dies hat damit zu tun, dass der Schnee aufgrund der Küstennähe sehr nass ist und sich durch das mehrmalige Steigen und Sinken der Temperatur über bzw. unter den Gefrierpunkt Straßenglätte bildet. Es gibt jährlich bis zu sechs Gewitter. Diese treten meist im Spätherbst und im Winter auf und werden manchmal von Hagel begleitet. Die geringe Anzahl ist darauf zurückzuführen, dass sich der Meeresarm selten genügend erwärmt, um ideale Bedingungen für Gewitter zu schaffen. === Stadtgliederung === Vancouver gliedert sich in 23 Stadtbezirke, neighbourhoods genannt: == Geschichte == === Voreuropäische Besiedlung === Archäologische Funde deuten darauf hin, dass die Präsenz der Ureinwohner (First Nations) in der Gegend um Vancouver etwa 4.500 bis 9.000 Jahre zurückreicht. Zur Zeit des ersten Aufeinandertreffens mit Europäern gab es am unteren Fraser River und an der angrenzenden Pazifikküste zahlreiche Siedlungen der Musqueam, Squamish, Stó:lō, Tsawwassen und Tsleil'wau-tuth, die zu den Küsten-Salish zählen. Diese Stämme zwischen Vancouver Island und dem US-Bundesstaat Washington sind durch Sprache und Kultur, aber auch durch Verwandtschaft und Handel nahe miteinander verbunden. Obwohl die Nahrungsmittelbeschaffung auf Sammeln und Jagd basierte, besaßen sie eine vergleichsweise hoch entwickelte Kultur mit starker gesellschaftlicher Differenzierung. So existierte – ähnlich wie im zeitgenössischen Europa – eine Dreiteilung der Gesellschaft in einen dominierenden „Adel“, einfache Stammesangehörige und Sklaven. Ihr ökonomisches System belohnte harte Arbeit, das Anhäufen von Reichtum sowie die soziale Umverteilung dieses Reichtums, vor allem durch die führenden Familien, deren Oberhäupter die Europäer als chiefs (Häuptlinge) bezeichneten. Die Winterquartiere im Raum Vancouver bestanden aus großen Langhäusern, die aus dem Holz des Riesenlebensbaums gebaut wurden. Die Potlatch-Zeremonien waren ein wichtiger Bestandteil des sozialen und spirituellen Lebens dieser Stämme. === Europäische Entdeckung und Besiedlung === Der spanische Kapitän José María Narváez war 1791 der erste Europäer, der an den Küsten in der Gegend des heutigen Vancouver entlang segelte. Ein Jahr später erkundete der britische Kapitän George Vancouver die Straße von Georgia, den Burrard Inlet und den Puget Sound. Der erste Europäer, der die Gegend auf dem Landweg erreichte, war Simon Fraser, ein Pelzhändler der North West Company, der 1808 mit seinen Begleitern den nach ihm benannten Fraser River auf seiner ganzen Länge erkundete. Als Folge des Fraser-Canyon-Goldrauschs (1858–1860) und insbesondere des Cariboo-Goldrauschs (1861–1862) zogen rund 25.000 Männer, viele davon aus Kalifornien, in das Einzugsgebiet des Fraser River. Die erste permanente europäische Siedlung, die McCleery-Farm, entstand 1862 am Flussufer, östlich der Winterlager der Musqueam im heutigen Stadtteil Marpole. 1863 nahm in Moodyville (heute North Vancouver) das erste Sägewerk seinen Betrieb auf und begründete die traditionsreiche Forstwirtschaft. Weitere Sägewerke entstanden bald darauf auch am Südufer des Burrard Inlet, das damals im Besitz von Captain Edward Stamp war. Stamp, der um Port Alberni als Holzfäller tätig gewesen war, hatte zunächst am Brockton Point, am östlichen Ende des Stanley Park, ein Sägewerk aufgebaut. Doch tückische Strömungen und Riffe zwangen ihn 1865 zur Verlegung des Betriebs. An einer Stelle nahe der heutigen Gore Street entstand Stamp’s Mill. Die verschiedenen Sägewerke der Umgebung waren bedeutende Hersteller von Holzprodukten für die Schifffahrt. Viele der Masten der zahlreichen Windjammer und der stetig größer werdenden Schiffe der Royal Navy waren aus Holz aus der Gegend um Vancouver gefertigt. Unter den zahlreichen Aufträgen befand sich auch einer des chinesischen Kaisers, der Dutzende von riesigen Balken für das Tor des Himmlischen Friedens in der Verbotenen Stadt in Peking bestellte. Unmittelbar neben Stamp’s Mill entstand die Siedlung Gastown. Sie war nach John Deighton benannt, dessen Spitzname „Gassy Jack“ (geschwätziger Jack) lautete und der 1867 dort eine Kneipe eröffnet hatte. 1870 ließ die Kolonialregierung von British Columbia die Siedlung vermessen und benannte diese am 1. März zu Ehren von Lord Granville, dem Minister für die Kolonien, offiziell Granville. Diese Bezeichnung konnte sich aber nie durchsetzen und noch heute wird der Stadtteil Gastown genannt.Die Siedlung befand sich an einem natürlichen Hafen und wurde 1885 aus diesem Grund von der Canadian Pacific Railway (CPR) anstelle des 20 km östlich gelegenen Port Moody als westlicher Endpunkt der transkontinentalen Eisenbahnlinie bestimmt. Der Bau der Strecke war eine der Vorbedingungen für den Beitritt von British Columbia zur Kanadischen Konföderation im Jahr 1871 gewesen. CPR-Präsident William Cornelius Van Horne setzte sich dafür ein, den Namen des Ortes in Vancouver zu ändern, da seiner Meinung nach die Menschen im Osten des Landes wüssten, wo Vancouver Island liege, während Gastown oder gar Granville völlig unbekannt seien. === Nach der Stadtgründung === Am 6. April 1886 erfolgte die offizielle Stadtgründung mit dem neuen Namen Vancouver. Eine durch einen heftigen Windstoß außer Kontrolle geratene Brandrodung zerstörte am 13. Juni desselben Jahres die junge Stadt fast vollständig. Innerhalb von 45 Minuten wurden über 1000 Holzhäuser ein Raub der Flammen, doch bereits am darauf folgenden Tag begann der Wiederaufbau. Der erste Zug fuhr am 23. Mai 1887 in der Waterfront Station am Ufer des Burrard Inlet ein. Dank des von der Eisenbahn ausgelösten wirtschaftlichen Aufschwungs erholte sich Vancouver rasch und wuchs von 5.000 Einwohnern im Jahr 1887 auf 15.000 im Jahr 1892 und 100.000 im Jahr 1900 an.In den ersten Jahrzehnten dominierten große Konzerne das wirtschaftliche Geschehen, da sie das nötige Kapital besaßen, um das quantitative und qualitative Wachstum der Stadt voranzutreiben. Es entwickelten sich zwar einige Industriebetriebe, doch das Rückgrat der städtischen Wirtschaft bildete die Ausbeutung der natürlichen Ressourcen. Zuerst dominierte die Forstwirtschaft, später der Exportverkehr über den Hafen Vancouver. Der Hafen profitierte insbesondere von der Eröffnung des Panamakanals im Jahr 1914, weil dadurch eine direktere Exportroute in Richtung Europa geschaffen wurde. Während des Ersten Weltkriegs wurde rund ein Drittel des Meeresarms False Creek aufgefüllt, um Platz für weitere Bahnanlagen zu schaffen, insbesondere die Pacific Central Station der Canadian Northern Railway (später Canadian National Railway). Die Vorherrschaft der Großkonzerne führte oftmals zu gewalttätigen Arbeiterbewegungen. Der erste große Streik fand 1903 statt, als Eisenbahner der CPR für die Anerkennung ihrer Gewerkschaft demonstrierten. 1918 war Vancouver Ausgangspunkt des ersten kanadischen Generalstreiks. Andere Sozialbewegungen wie Feministinnen, moralische Erneuerer und Abstinenzler übten ebenfalls Einfluss auf die städtische Politik aus. 1906 versuchte die Stadtverwaltung vergeblich, die Bordelle in der Dupont Street zu schließen. Während des Ersten Weltkrieges und bis 1921 war ein Gesetz zur Alkoholprohibition in Kraft. Während der 1920er Jahre wurde Vancouver wiederholt von rassistisch motivierten Ausschreitungen erschüttert, insbesondere gegen Chinesen und Japaner; verschiedene Zeitungen warnten vor einer „orientalischen Bedrohung“.Am 1. Januar 1929 wurde das Gebiet der Stadt Vancouver mit der Eingemeindung von Point Grey und South Vancouver auf den heutigen Umfang erweitert. Es umfasst seither fast den gesamten westlichen Teil der Halbinsel zwischen dem Burrard Inlet und dem Fraser River. Die Einwohnerzahl betrug an diesem Tag 228.193, womit Vancouver zur drittgrößten Stadt des Landes aufstieg. Der wirtschaftliche Aufschwung der 1920er Jahre endete abrupt mit der Weltwirtschaftskrise. Die Nachbargemeinden North Vancouver und Burnaby mussten Konkurs anmelden, während Vancouver diesen knapp abwenden konnte. Tausende junger Menschen reisten durch ganz Kanada nach Vancouver, weil sie hier Arbeit zu finden hofften. Großen Zulauf in den Armenvierteln fanden die Kommunisten, die mehrmals Massenstreiks organisierten. Viele Angehörige des Mackenzie-Papineau-Bataillons, das im Spanischen Bürgerkrieg kämpfte, stammten aus Vancouver. Der Ausbruch des Zweiten Weltkriegs verhalf der Region zu einem raschen Wirtschaftsaufschwung. Die Werften produzierten Korvetten und Minensuchboote für die Royal Canadian Navy und das Boeing-Werk im benachbarten Richmond produzierte Teile für B-29-Bomber. Im Jahr 1942, wenige Monate nach dem Angriff auf Pearl Harbor, betrachtete die kanadische Regierung die japanischstämmigen Kanadier als Bedrohung der nationalen Sicherheit, ähnlich wie im Ersten Weltkrieg die Deutschen. So wurden auch die japanischstämmigen Kanadier enteignet, im Hastings Park zusammengetrieben und danach in Lagern im Landesinneren interniert. Erst 1988 entschuldigte sich die Regierung offiziell und leistete Entschädigungszahlungen. === Seit 1950 === Im Dezember 1953 nahm CBUT, die erste Fernsehstation in Westkanada, den Sendebetrieb auf. Mehrere neue Brücken schufen bessere Verkehrsverbindungen. Bereits vor dem Krieg waren die Second Narrows Bridge (1925) und die Lions Gate Bridge (1938) zum Nordufer des Burrard Inlet errichtet worden. 1957 folgte die Oak Street Bridge über den Fraser River nach Richmond und 1960 der Ironworkers Memorial Second Narrows Crossing über den Burrard Inlet. Im Vorort Burnaby wurden zwei neue Universitäten gegründet, die heute beide Zweigstellen in Vancouver besitzen und die 1908 gegründete University of British Columbia ergänzen: Den Anfang machte 1960 das British Columbia Institute of Technology, 1965 folgte die Simon Fraser University. Einwohner des chinesisch geprägten Stadtteils Strathcona bildeten in den späten 1960er Jahren eine Protestbewegung und verhinderten den Abriss dieses Viertels, das einer geplanten Autobahn weichen sollte. Die Proteste führten zu einem Umdenken in der Verkehrspolitik und 1980 zum Verbot weiterer Autobahnen auf Stadtgebiet. 1971 wurde in Vancouver Greenpeace gegründet, heute eine der weltweit bedeutendsten Umweltschutzorganisationen. Das anhaltende Wachstum des Vancouver International Airports auf Sea Island machte den Bau einer weiteren Brücke über den Fraser River notwendig, die Arthur Laing Bridge wurde 1976 eingeweiht. Nachdem Vancouver den Zuschlag zur Durchführung der Weltausstellung 1986 erhalten hatte, begann in der Stadt ein Bauboom, der mit wenigen kurzen Unterbrechungen bis heute anhält. 1983 wurde das BC Place Stadium eröffnet, das erste überdachte Stadion Kanadas. Im Januar 1986 folgte die erste Linie des SkyTrain, einer Hochbahn, die Vancouver mit den Vororten verbindet. Weitere markante Bauten, die im Hinblick auf die Expo 86 entstanden und seither das Stadtbild prägen, sind Science World, Canada Place und die Plaza of Nations. Die von Mai bis Oktober 1986 dauernde Weltausstellung, die bisher letzte in Nordamerika, erwies sich mit über 20 Millionen Besuchern als großer Erfolg. Das Ausstellungsgelände am Nordufer des False Creek war zuvor eine ausgedehnte Industriebrache gewesen und wurde nach Ausstellungsende an den aus Hongkong stammenden Unternehmer Li Ka-shing verkauft. Dieser setzte eines der größten Stadtentwicklungsprojekte Nordamerikas um, und False Creek wandelte sich innerhalb weniger Jahre zu einem hochverdichteten und attraktiv gelegenen Wohngebiet am Rande der Innenstadt. Bereits in den 1970er Jahren war die im False Creek gelegene Halbinsel Granville Island von einer Industriezone zu einem beliebten Einkaufs- und Kulturviertel umfunktioniert worden. Diese nachhaltige Stadtplanung steigerte die Lebensqualität der Region. 1998 beschloss das Nationale Olympische Komitee Kanadas, sich um die Durchführung der Olympischen Winterspiele 2010 zu bewerben. In der innerkanadischen Ausscheidung erhielt Vancouver vor Québec und Calgary die meisten Stimmen. Am 22. Februar 2002 gaben in einem (rechtlich nicht bindenden) städtischen Referendum 63,9 % der teilnehmenden Wähler ihre Zustimmung zur Kandidatur. Vancouver erhielt am 2. Juli 2003 in der 115. IOC-Sitzung in Prag den Zuschlag und setzte sich gegen Pyeongchang und Salzburg durch.Die für die Olympischen Spiele verbesserte Verkehrsinfrastruktur nutzt die Stadt seitdem für die gezielte Stadtentwicklung an Knotenpunkten. Die Haltestellen der Canada Line, die Vancouvers Waterfront mit Richmond und dem Flughafen verbindet, werden in der Stadt und in Richmond zu Zentren verdichteter Bebauung und der Nahversorgung. Zwar konnte das Organisationskomitee für die Spiele eine ausgeglichene Bilanz vorlegen, darin einberechnet waren jedoch nicht die Kosten für den Bau der neuen Infrastruktur für die Olympischen Spiele, die den budgetären Haushalt der Stadt Vancouver seitdem erheblich belasten. Die Schulden der Provinz erhöhten sich auch aufgrund der Spiele innerhalb von zehn Jahren um 24 Milliarden CAD.Die Zuwanderungspolitik der USA, die seit der Wahl Donald Trumps zum Präsidenten amerikanische Unternehmen bei der Anwerbung von Mitarbeitern behindert, führt dazu, dass diese vielfach auf Kanada und insbesondere auf Vancouver ausweichen. So gründete Microsoft in Vancouver mit 750 Mitarbeitern sein Microsoft Canada Excellence Centre (MCEC). Bis 2020 sollen dort 50.000 neue Technologie-Arbeitsverhältnisse entstehen, Vancouver ist inzwischen die führende kanadische Stadt für Start-ups. Dies führt jedoch zu rapide wachsenden Immobilienpreisen und Mieten. Amazon erwirbt seit 2015 Immobilien und lässt neue errichten, um mindestens 5.000 Angestellte unterzubringen. == Bevölkerung == === Multikulturelle Gesellschaft === Menschen vieler Ethnien und Religionen leben in der Stadt, wodurch hier eine multikulturelle Gesellschaft entstanden ist. 47,1 Prozent der Bevölkerung gehören einer von der kanadischen Statistikbehörde so bezeichneten „visible minority group“ (sichtbare Minderheit, d. h. alle Nicht-Weiße bzw. Nicht-Kaukasier mit Ausnahme von First Nations, Inuit und Métis) an. Vancouver weist mit 7,2 Prozent die höchste Quote an interkulturellen Ehen in Kanada auf (der Landesdurchschnitt beträgt 3,2 Prozent).Seit den ersten Jahren der europäischen Besiedlung in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts bildeten Menschen von den Britischen Inseln die größte Einwanderergruppe und sind noch immer die größte ethnische Gruppe in Vancouver. Bis in die 1960er Jahre war die Stadt ausgesprochen britisch geprägt, da die meisten britischen Einwanderer direkt hierherzogen, ohne zuvor in den östlichen kanadischen Provinzen gelebt zu haben. Insbesondere in den Stadtteilen South Granville und Kerrisdale ist der britische Einfluss auf das kulturelle Leben deutlich spürbar. Vor den 1980er Jahren bildeten Menschen deutscher Abstammung die zweitgrößte Gruppe, gefolgt von solchen aus der Ukraine und aus Skandinavien. Die meisten europäischen Einwanderer bzw. deren Nachkommen sind in der Zwischenzeit vollständig assimiliert. Mit einem Anteil von knapp 30 Prozent sind die Chinesen mit Abstand die größte nichteuropäische Bevölkerungsgruppe. Sie kamen in zwei großen Einwanderungswellen nach British Columbia, in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts während des Goldrauschs im Fraser Canyon und während des Baus der transkontinentalen Eisenbahnlinie sowie in den 1980er und 1990er Jahren vor der Übergabe Hongkongs an die Volksrepublik China. Von den chinesischen Sprachen, die in Vancouver gesprochen werden, ist das Kantonesische am weitesten verbreitet. Weitere bedeutende ethnische Gruppen aus Asien sind Inder (vor allem aus dem Punjab, üblicherweise als Indo-Kanadier bezeichnet), Vietnamesen, Filipinos, Koreaner, Khmer und Japaner. Hinter Toronto und vor Montreal ist Vancouver das zweitbeliebteste Ziel für Immigranten in Kanada. Es gibt mehrere Stadtteile, die stark von einer bestimmten ethnischen Gruppe geprägt sind. So finden sich in Vancouver neben der zweitgrößten Chinatown in Nordamerika (nach San Francisco) auch Gegenden, in denen indische („Punjabi Market“), italienische („Little Italy“), japanische („Japantown“), koreanische („Koreatown“) oder griechische („Greektown“) Einflüsse spürbar sind. === First Nations und nicht sichtbare Minderheiten === Die zehn First Nations in Greater Vancouver haben in mehrfacher Hinsicht eine Sonderrolle. So grenzen die traditionellen Gebiete der Indianer Rechtsbezirke ab, in denen der Staat bei allen Dingen, die dieses Gebiet betreffen, zu rechtzeitigen Konsultationen verpflichtet ist. Das hat z. B. zur Folge, dass staatliche Gebäude nicht ohne Beratung mit der betroffenen First Nation verkauft werden dürfen. Außerdem haben etwa die Musqueam, deren traditionelles Gebiet zu großen Teilen von der Universität belegt ist, dort Grundstücke verpachtet und pflegen ein besonderes Verhältnis zur Universität selbst. Außerdem gelten die First Nations nicht als „sichtbare Minderheit“. Im Jahr 2001 lebten im Bezirk Vancouver 22.700 Indianer, von denen 17.475 als registrierte status indians galten und 5.225 als non-status indians; 10.445 wohnten in Vancouver selbst. 2006 lebten in der Stadt bereits 23.515 Indianer. Die insgesamt 22 Reservate im Großraum Vancouver umfassen nur 17,22 km² oder 0,6 Prozent der Gesamtfläche. Außerdem lebten 2001 in der Stadt 12.505 Métis, ihre Zahl stieg bis 2006 auf 15.075, und 260 Inuit, deren Zahl auf 210 zurückging. Dazu kamen 1395 Menschen mit gemischter Zugehörigkeit oder aus anderer Urbevölkerung. Damit lebten 21,7 Prozent der Ureinwohner British Columbias in Greater Vancouver, 2006 waren es genau 40.310. === Religionen === In Vancouver gibt es keine dominierende Religion oder Konfession. Den größten Anteil an der Bevölkerung stellen laut der Volkszählung 2001 die römischen Katholiken mit 19,0 Prozent. Dies geht zum einen auf die Zuwanderung aus katholischen Ländern wie Italien zurück, zum anderen darauf, dass die ersten Missionare unter den First Nations katholische Ordensangehörige, vor allem Oblaten waren. Verschiedenen protestantischen Konfessionen gehören 17,4 Prozent an, wobei aufgrund der britischen Herkunft vieler Einwohner die in Großbritannien entstandene Anglikanische Gemeinschaft dominiert. 1,7 Prozent bezeichneten sich als orthodoxe Christen, was überwiegend auf ukrainische und griechische Einwanderung zurückgeht, 4,4 Prozent gaben die Zugehörigkeit zu einer nicht näher definierten christlichen Konfession an. Hauptsächlich chinesischer Herkunft sind die Anhänger verschiedener Richtungen des Buddhismus mit einem Anteil von 6,9 Prozent. Überwiegend vom indischen Subkontinent stammen Anhänger des Sikhismus und des Hinduismus mit 2,8 Prozent bzw. 1,4 Prozent. Zum Judentum bekennen sich 1,8 Prozent der Bevölkerung, zum Islam 1,7 Prozent und zu sonstigen Religionen 0,8 Prozent. Keine religiöse Zugehörigkeit gaben 42,2 Prozent an. Die Stadt hat, wie die übrige Provinz British Columbia, im Vergleich zum übrigen nordamerikanischen Kontinent einen geringen prozentualen Anteil an regelmäßigen Gottesdienstbesuchern. Lag dieser im Jahr 1946 bei 67 Prozent, so nahm er im Verlauf der folgenden Jahrzehnte kontinuierlich ab und betrug im Jahr 2001 nur noch 20 Prozent. Das römisch-katholische Erzbistum Vancouver ersetzte 1908 das ältere Bistum New Westminster. Es umfasst den südwestlichen Teil der Provinz British Columbia ohne Vancouver Island. Bischofssitz ist die 1899/1900 erbaute Holy Rosary Cathedral. Mit der Römisch-katholischen Kirche uniert ist die Ukrainische griechisch-katholische Kirche, wobei Vancouver zur Eparchie New Westminster gehört, die einen Teil der Erzeparchie Winnipeg bildet. Das anglikanische Bistum New Westminster verlegte seinen Sitz 1929 nach Vancouver in die 1894/95 erbaute Christ Church Cathedral. Das Bistum bildet einen Teil der Kirchenprovinz British Columbia and the Yukon. Die Holy Trinity Cathedral gehört der ukrainisch-orthodoxen Kirche Kanadas; sie ist eine von zwei Kathedralen des Bistums Edmonton und Westkanada, die mit dem Ökumenischen Patriarchat von Konstantinopel verbunden ist. Die am weitesten verbreitete Richtung des Buddhismus, der mit den asiatischen Einwanderern in die Region kam, ist der in Ostasien vorherrschende Amitabha-Buddhismus. Bedeutendster Tempel der Metropolregion ist der International Buddhist Temple im benachbarten Richmond. Die jüdische Gemeinde Vancouvers, die sich ebenfalls bis in die Phase vor der eigentlichen Stadtgründung zurückverfolgen lässt, ist heute die drittgrößte Kanadas. Am meisten Mitglieder zählt das konservative Judentum, gefolgt vom Reformjudentum und dem orthodoxen Judentum. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts zogen auch Sikhs, Hindus und Muslime hierher, die aus dem damaligen Britisch-Indien stammten. So prägt das ehemalige Britische Kolonialreich bis heute auch seine ehemalige Kolonie Kanada. === Sichtbare soziale Probleme === Der Wirtschaftsboom und der Wohnungsbedarf vermögender Zuwanderer hat zu stark steigenden Mieten geführt. Dadurch sind in der Metropolregion Vancouver an die 100.000 Menschen von Obdachlosigkeit bedroht, rund 2200 leben in Vancouver auf der Straße. Dazu kommt eine steigende Zahl von Drogenabhängigen, Prostitution sowie Kriminalität.Dabei nehmen die street level social problems zu, also die Probleme, die auf der Straße erkennbar werden. Sie betreffen seit einigen Jahren nicht mehr nur die dafür bekannten Stadtteile wie Downtown Vancouver, sondern auch Metrotown in Burnaby und die Whalley/Centre City-Gegend in Surrey. Dennoch konzentrierten sich 2005 noch 63 Prozent der Wohnungslosen in Vancouver selbst, während 21 Prozent sich in der südlich des Fraser River gelegenen Subregion finden. Dabei sind Wohnungslosigkeit, vor allem aber Drogenabhängigkeit, Prostitution und (Beschaffungs-)Kriminalität eng miteinander verbunden. Die desolate Lebenssituation mehrerer hundert Bewohner ist vor allem im Umkreis der East Hastings Street (auch bekannt als Stadtteil Downtown Eastside, kurz DTES) zwischen Downtown und Chinatown leicht zu erkennen. === Bevölkerungsentwicklung === Die folgende Übersicht zeigt die Entwicklung der Einwohnerzahlen gemäß den Ergebnissen der Volkszählungen. Bei den Zahlen vor 1931 sind die Ergebnisse der eingemeindeten Vororte Point Grey und South Vancouver nicht mitberücksichtigt. === Lebensqualität === Zahlreichen Statistiken und Umfragen nach erzielen Kanada im Allgemeinen und Vancouver im Speziellen in Bezug auf die Lebensqualität vordere Platzierungen. Vancouver wird regelmäßig als eine von drei Städten mit der weltweit höchsten Lebensqualität bewertet. Damit gilt die Metropole seit vielen Jahren als lebenswerteste Stadt Kanadas. Im ungewöhnlich milden Klima sehen viele einen der wichtigsten Gründe, weshalb Vancouver vor anderen, ebenfalls weit vorn rangierenden kanadischen Städten (wie Toronto, Calgary und Montreal) liegt. In einer Rangliste der Städte mit der höchsten Lebensqualität weltweit, des Unternehmens Mercer, belegte Vancouver im Jahre 2018 den fünften Platz.In solchen Umfragen werden neben Befragungen auch Statistiken über beispielsweise Arbeitslosenquoten, Kriminalität oder Ähnliches hinzugezogen. == Politik und Recht == Die 1953 in Kraft gesetzte Vancouver Charter überträgt der Stadt mehr Kompetenzen als anderen Gemeinden, die dem BC Municipalites Act, dem Gemeindegesetz der Provinz British Columbia, unterstellt sind. Die Stadt wird von einem Stadtrat (Vancouver City Council) regiert, der aus zehn Abgeordneten und zusätzlich dem Bürgermeister zusammengesetzt ist. Daneben gibt es einen Schulrat mit neun und einen Parkrat mit sieben Mitgliedern. Die Räte werden alle drei Jahre im Proporzverfahren gewählt, wobei die gesamte Stadt einen einzigen Wahlkreis bildet. Die Einführung der in Kanada sonst üblichen Mehrheitswahl mit Einerwahlkreisen wurde am 17. Oktober 2004 in einer Volksabstimmung abgelehnt. In Kanada sind die Parteien auf Bundes- und Provinzebene strikt voneinander getrennt (Mitglieder der einen Partei-Ebene müssen nicht zwingend der anderen angehören). In Vancouver setzt sich dieses System auch auf lokaler Ebene fort. Seit den 1940er Jahren dominiert die Mitte-rechts stehende Non-Partisan Association (NPA) die städtische Politik und stellt seither mit wenigen Unterbrechungen den Bürgermeister. Ihr gegenüber steht die Mitte-links-Vereinigung Coalition of Progressive Electors (COPE). Die in der Mitte des politischen Spektrums stehende Vision Vancouver spaltete sich 2005 von der COPE ab. Bei der letzten Wahl am 15. November 2008 gewann Vision Vancouver acht Sitze, darunter auch der neu gewählte Bürgermeister Gregor Robertson (sein Vorgänger Sam Sullivan von der NPA war in der parteiinternen Ausscheidung gescheitert). COPE gewann zwei Sitze, die bisher regierende NPA einen Sitz. Traditionell wählen die wohlhabenderen Bewohner der westlichen Stadtteile in der Regel eher konservativ und liberal, die der östlichen Stadtteile eher links. Bei einigen Themen hat sich über das gesamte politische Spektrum hinweg ein Konsens etabliert: Die städtischen Parks werden vor Bebauung geschützt, der Ausbau des öffentlichen Verkehrs genießt Priorität gegenüber dem Bau von Stadtautobahnen, Drogenkonsumenten werden nicht strafrechtlich verfolgt. Im April 2019 rief die Stadt den "Klima-Notstand" wegen des weltweiten Klimawandels aus und kündigte ein Aktionsprogramm zur Reduzierung von CO2 in ihrem Einflussbereich an. === Vertretung auf Provinz- und Bundesebene === In der Legislativversammlung von British Columbia ist Vancouver durch zehn Abgeordnete vertreten, die in ebenso vielen Wahlkreisen gewählt werden. Bei der letzten Wahl am 17. Mai 2005 gewannen die British Columbia Liberal Party und die British Columbia New Democratic Party je fünf Sitze. Im kanadischen Unterhaus wird Vancouver durch fünf Abgeordnete vertreten. Bei der Wahl am 14. Oktober 2008 gewann die Liberale Partei drei Sitze, die Neue Demokratische Partei zwei Sitze. Die regierende Konservative Partei besitzt keinen Vertreter aus Vancouver. === Polizei === Während im größten Teil der Region Lower Mainland die Division E der Royal Canadian Mounted Police (RCMP) für die Sicherheit zuständig ist, besitzt Vancouver eine eigene Polizeibehörde, das Vancouver Police Department. Laut dem Jahresbericht 2016 hat das Vancouver Police Department eine Stärke von 1.716 Angehörigen (1.327 Polizeibeamte und 389 zivile Mitarbeiter) und verfügt zur Erfüllung seiner Aufgaben über ein Budget von rund 265 Millionen C $. 2006 stellte die städtische Polizei eine eigene Antiterror-Einheit auf, was zu Spekulationen über mögliche Spannungen mit der RCMP führte, da Letztere eigentlich für Angelegenheiten der nationalen Sicherheit allein zuständig ist. Der im Dezember 2005 gebildete Greater Vancouver Transportation Authority Police Service sorgt für Sicherheit in öffentlichen Verkehrsmitteln. 2005 hatte Greater Vancouver die vierthöchste Kriminalitätsrate unter den Metropolen Kanadas. Die Anzahl der Eigentumsdelikte ist besonders hoch und eine der höchsten in ganz Nordamerika, ist aber zwischen 2004 und 2005 um 10,5 Prozent zurückgegangen. Den Hauptanteil der Eigentumsdelikte machen Autodiebstähle aus. === Städtepartnerschaften === Vancouver war 1944 durch die Partnerschaft mit Odessa eine der ersten Städte, die eine internationale Städtepartnerschaft einging. Seitdem kamen weitere Städtekooperationen hinzu. === Wappen und Flagge === Die erstmals 1983 gehisste Flagge Vancouvers besteht aus einem grünen Dreieck im Liek mit der Stadtplakette auf goldenem Schild sowie wechselnden blauen und weißen Wellen auf der Flugseite. == Kultur und Sehenswürdigkeiten == === Architektur und Stadtbild === Vancouver ist baulich betrachtet eine sehr junge Stadt, weshalb durchweg moderne Gebäude das Stadtbild prägen. Einige sind in architektonischer Hinsicht herausragend, so zum Beispiel das an das Kolosseum erinnernde Hauptgebäude der Vancouver Public Library oder das zeltartige Gebäude Canada Place, der ehemalige kanadische Pavillon der Weltausstellung 1986. Aus den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts sind einige markante Bauten erhalten geblieben. Dazu gehören unter anderem die neoklassizistische Vancouver Art Gallery (ein ehemaliges Gerichtsgebäude) und das mit Terrakotta-Ziegeln verkleidete Dominion Building. Letzteres war von 1908 bis 1910 das höchste Gebäude des Britischen Empire, diese Rolle hatte anschließend bis 1912 der im Beaux-Arts-Stil erbaute Sun Tower mit seiner markanten grünen Kuppel inne. Ein Wahrzeichen der Stadt ist das 1930 im Art-déco-Stil erbaute Marine Building, das dem New Yorker Empire State Building nachempfunden ist. Mehr als drei Jahrzehnte lang, von 1939 bis 1972, war das Hotel Vancouver das höchste Gebäude der Stadt. Das The Qube entstand 1970. Die Liste der höchsten Gebäude in Vancouver führt das im Januar 2009 fertiggestellte Living Shangri-La mit einer Höhe von 201 m an (Stand 2010). 1989 genehmigte der Stadtrat „Richtlinien zum Schutz der Aussicht“ (view protection guidelines), die 1990 erweitert wurden. Diese legen im Stadtzentrum mehrere Korridore fest, in denen die Gebäude eine gewisse Höhe nicht überschreiten dürfen, um so die uneingeschränkte Aussicht auf die North Shore Mountains zu garantieren. Die Richtlinien erwiesen sich als erfolgreiche städtebauliche Maßnahme, doch wurde die Skyline Vancouvers von vielen als flach und visuell wenig interessant empfunden. Im Jahr 1997 gab der Stadtrat eine Studie in Auftrag, um zu prüfen, ob die Errichtung höherer Gebäude zur Akzentuierung der Skyline möglich sei, ohne die Aussicht auf die Berge zu stören. Im Ergebnis wurden fünf Standorte ermittelt, an denen die Gebäude die Begrenzung von 137 m überschreiten dürfen, und zwei weitere Standorte im Nordwesten des zentralen Geschäftsviertels, an denen die Gebäude bis zu 122 m hoch sein dürfen (31 m höher als die dort geltende Begrenzung). Acht Jahre später waren fünf dieser sieben Standorte bebaut oder in der Genehmigungsphase. Das höchste dieser neuen Gebäude war der Living Shangri-La, der das bisher höchste Gebäude, das One Wall Centre, um 51 Meter übertraf. Die zahlreichen Parks und Gärten in Vancouver sind zusammen 1298 Hektar groß, was rund elf Prozent der Fläche der Stadt entspricht. Der größte ist der 404 Hektar große Stanley Park mit dem Vancouver Aquarium. Ebenfalls von Bedeutung ist der Queen Elizabeth Park. In Chinatown befindet sich der Dr. Sun Yat-Sen Classical Chinese Garden. Vancouver besitzt zwei botanische Gärten, den VanDusen Botanical Garden im Stadtbezirk Shaughnessy und den UBC Botanical Garden (inkl. dem Nitobe Memorial Garden) auf dem Gelände der University of British Columbia. === Kunst und Kultur === Museen und Galerien Vancouver besitzt mehrere Museen und Galerien. Die in einem ehemaligen Gerichtsgebäude beheimatete Vancouver Art Gallery ist mit rund 8.000 Kunstwerken (darunter 200 bedeutende Werke von Emily Carr und Illustrationen von Marc Chagall) das größte Kunstmuseum in Westkanada. Im Vancouver Maritime Museum, einem Schifffahrtsmuseum, ist unter anderem der Schoner St. Roch ausgestellt, das erste Schiff überhaupt, das die Nordwestpassage von Pazifik zum Atlantik vollendete. Das Museum of Anthropology auf dem Gelände der University of British Columbia ist eines der führenden Museen für die Kultur der First Nations im pazifischen Nordwesten, während das Museum of Vancouver das größte städtische Museum des Landes ist. Science World befasst sich auf spielerische Weise mit der Welt der Wissenschaft, das Vancouver Police Centennial Museum bringt den Besuchern die Geschichte der Polizei Vancouvers näher. Skulpturen und eine Dampfuhr Vom chinesischen Künstler Yue Minjun wurde ein Skulpturenpark mit 14 Bronzeskulpturen unter dem Titel A-maze-ing Laughter geschaffen und im Rahmen der „Vancouver International Biennale“ (2009–2011) aufgestellt. Die Skulpturen der lachenden Männer – jede ist etwa 2,50 m hoch – befindet sich in der Nähe des Morton Park. An der Kreuzung der Quebec Street und der Milross Avenue befindet sich die Installation Trans Am Totem. 1986 gründete die kulturelle Gemeinschaft von Greater Vancouver eine Allianz zur Förderung und Entwicklung der kulturellen Vielfalt in der Region. Die Allianz dient heute als Sprachrohr von ca. 320 Gruppen und Künstlern. Ihr Ziel ist es, in der Stadt eine höhere Akzeptanz für Kunst zu schaffen und den Beitrag der Kunst zum gesellschaftlichen Leben zu verdeutlichen.In Gastown steht als Besonderheit die steam clock, eine mit Dampf betriebene öffentliche Uhr, die alle 15 Minuten pfeift.Theater und Musik Bedeutende Theater in Vancouver sind die Arts Club Theatre Company, die Vancouver Playhouse Theatre Company, das Touchstone Theatre, das Studio 58, das Carousel Theatre und United Players of Vancouver. Freiluftvorstellungen werden im Sommer von Bard on the Beach und Theatre Under the Stars angeboten. Darüber hinaus finden jedes Jahr das Fringe Festival und das International Film Festival statt. Vancouver spielt in der Entwicklung der kanadischen Musik eine wichtige Rolle, insbesondere in den Sparten Klassik, Folk und Pop. Führend war die Stadt in der Entwicklung des Punk mit Bands wie D.O.A. und No Means No, aber auch beim Post-Industrial, wobei hier vor allem Skinny Puppy, Delerium und Front Line Assembly zu nennen sind. Eher dem Mainstream-Geschmack angepasst sind Bryan Adams, Nickelback, Diana Krall, Sarah McLachlan, Michael Bublé und Loverboy. Als bekannteste Hip-Hop-Formation gilt Swollen Members. Größere Rock- und Popkonzerte finden in der Rogers Arena, im BC Place Stadium und im Pacific Coliseum statt, weniger bekannte Künstler treten im Plaza of Nations, im Commodore Ballroom, im Orpheum Theatre oder im Vogue Theatre auf. Jedes Jahr finden in Vancouver zwei bedeutende Musikfestivals statt, das Vancouver Folk Music Festival und das Vancouver International Jazz Festival. Aus Vancouver stammen auch zwei professionelle Orchester, das CBC Radio Orchestra und das Vancouver Symphony Orchestra. Die Vancouver Opera tritt im Queen Elizabeth Theatre auf. Regelmäßige Veranstaltungen und Freizeitmöglichkeiten Eine der bekanntesten Veranstaltungen ist Celebration of Light, ein mit Musik unterlegter Feuerwerk-Wettbewerb an den Stränden der English Bay, der jeweils Ende Juli und Anfang August von über 1,5 Millionen Zuschauern verfolgt wird. Die ethnischen Minderheiten der Stadt tragen ebenfalls ihren Teil zum kulturellen Geschehen bei, insbesondere die Chinesen. Diese feiern das chinesische Neujahrsfest mit einer großen Parade und tragen im Juni auf dem False Creek ein internationales Drachenboot-Rennen aus. Vancouver besitzt eine einflussreiche Lesben- und Schwulenbewegung. Im Juli 2003 war British Columbia die zweite kanadische Provinz, welche die gleichgeschlechtliche Ehe als verfassungsmäßiges Recht anerkannte, wenige Wochen nach Ontario. Die Schwulen- und Lesbenszene konzentriert sich um die Davie Street im Stadtzentrum; dieses Gebiet ist auch unter dem Namen Davie Village bekannt. Jedes Jahr findet in Vancouver eine der größten Gay-Pride-Paraden des Landes statt. Das Nachtleben in Vancouver war in der Vergangenheit, im Gegensatz zu anderen Städten, eher eingeschränkt. Gründe dafür waren die frühe Nachtruhe für Bars und Nachtclubs sowie die Zurückhaltung der Stadtbehörden, die weitere Entwicklung zu fördern. Dies änderte sich 2003, als die Öffnungszeiten verlängert und Verordnungen gelockert wurden. Die Stadt unternahm Anstrengungen, den Stadtteil Downtown (insbesondere die Gegend um die Granville Street) als Vergnügungszentrum zu etablieren. === Sport und Erholung === Beliebteste Sportart der Einwohner ist Eishockey; es gibt zwei Profimannschaften, die Vancouver Canucks in der NHL und die Vancouver Giants in der Juniorenliga WHL. Das dominierende Team zu Beginn des 20. Jahrhunderts waren die Vancouver Millionaires, die 1915 den Stanley Cup gewannen. Von 1973 bis 1975 existierte mit den Vancouver Blazers eine weitere Profimannschaft, die der World Hockey Association angehörte. Canadian Football, die kanadische Variante des American Footballs, wird durch die Profimannschaft British Columbia Lions in der CFL ausgeübt. Die Vancouver Canadians spielen in der Northwest League, einer der Ligen im Minor League Baseball (unterklassiger Profibaseball). Die Vancouver Whitecaps verfügen über je eine Fußball-Profimannschaft für Männer und Frauen, die in der Major League Soccer bzw. der W-League vertreten sind. Professioneller Basketball konnte sich nicht durchsetzen, die NBA-Mannschaft Vancouver Grizzlies zog 2001 nach Memphis (Tennessee) um. Übersicht der professionellen Sportmannschaften: Die beliebtesten Mannschaftssportarten auf Amateurebene sind Gaelic Football und Hallen-Lacrosse. Vancouver ist seit 1994 Austragungsort des Slam City Jam, der nordamerikanischen Skateboard-Meisterschaft. Jeweils im Mai findet der Vancouver-Marathon statt, im April der 10-Kilometer-Lauf Vancouver Sun Run. Von 1990 bis 2004 wurden auf einem Stadtkurs Champ-Car-Rennen durchgeführt. Sport für jedermann ist bei den Vancouvern weit verbreitet, es sind viele Jogger in den Parkanlagen und der Uferpromenade, Kanuten im False Creek und Segler in der English Bay zu sehen. Darüber hinaus gibt es ein gut ausgebautes Radwegenetz, Beachvolleyballplätze, Kajakverleihstationen, Schwimmbäder und Kunsteisbahnen. Entlang der Küste befinden sich zahlreiche Strände. Diese erstrecken sich einerseits am Westrand der Innenstadt vom Stanley Park bis zum False Creek, andererseits entlang der gesamten Südküste der English Bay. Zu den insgesamt 18 Kilometer langen Stränden gehören First Beach, Jericho Beach, Kitsilano Beach, Locarno Beach, Second Beach, Spanish Bank, Sunset Beach und Third Beach. In den nahe gelegenen North Shore Mountains befinden sich die drei Wintersportgebiete Cypress Mountain, Grouse Mountain und Mount Seymour. Diese können innerhalb einer halben Stunde vom Stadtzentrum aus erreicht werden, die Wintersaison dauert in der Regel von Anfang Dezember bis Ende April. Rund zwei Autostunden entfernt liegt Whistler mit weiteren Wintersportmöglichkeiten. Durch die Berge zieht sich ein ausgedehntes Netz von Wanderwegen und Mountainbike-Routen, Letztere sind als North-Shore-Trails bekannt. Auf dem Capilano River, dem Lynn Creek und dem Seymour River wird Kanusport und Rafting ausgeübt. Die North Shore Mountains bieten auch zahlreiche Möglichkeiten zum Sportklettern. In Vancouver fanden die Commonwealth Games 1954 statt. Die Stadt war 2009 Austragungsort der World Police and Fire Games und 2010 Austragungsort der Olympischen Winterspiele. == Wirtschaft und Infrastruktur == === Wirtschaft === Der Handel macht den Hauptanteil der Wirtschaft Vancouvers aus. Der Hafen Vancouver ist der größte Kanadas und der zweitgrößte an der Westküste Nordamerikas (bei den Exporten ist er der größte des Kontinents). Pro Jahr werden mit mehr als 90 Ländern Waren im Wert von 43 Milliarden CAD gehandelt. Der Hafen schafft rund 69.200 Arbeitsplätze und generiert vier Milliarden CAD Bruttoinlandsprodukt.Ein weiteres Standbein der Wirtschaft Vancouvers ist die Forstwirtschaft. Globale Konzerne wie Canfor oder West Fraser Timber (zweitgrößter bzw. drittgrößter Holzproduzent der Welt) haben hier ihren Hauptsitz. Ebenso ist Vancouver Hauptsitz zahlreicher Bergbau-Unternehmen wie Teck Resources und Goldcorp. Die Börse Vancouvers, die Vancouver Stock Exchange (heute ein Teil der Toronto Stock Exchange), ist für kleinere bis mittlere Bergbauunternehmen der weltweit bedeutendste Markt für Risikokapital. Vancouver verfügt über zahlreiche Filialen nationaler und internationaler Banken und Dienstleistungsunternehmen (z. B. HSBC, RBC, BMO, CIBC). Vancouver ist nach Los Angeles und New York City der drittwichtigste Standort der nordamerikanischen Film- und Fernsehindustrie. Rund zehn Prozent aller Hollywood-Filme werden in und um Vancouver gedreht, weshalb die Stadt häufig als „Hollywood North“ bezeichnet wird. Die Vancouver Film Studios gehören zu den bedeutendsten Film- und Fernsehstudios weltweit, weitere Unternehmen der Film- und Fernsehbranche haben ihren Sitz in verschiedenen Vororten. Gründe für das Ausweichen nach Vancouver sind der günstige Wechselkurs des kanadischen Dollars, die gleiche Zeitzone wie Los Angeles sowie die landschaftliche und architektonische Vielfalt in Greater Vancouver, die es ermöglicht, Szenerien aus (fast) der ganzen Welt nachzustellen. Begünstigt wird die Filmindustrie auch durch Steuererleichterungen der kanadischen Regierung.Zahlreiche Universitäten und die hohe Lebensqualität führten zur Ansiedlung mehrerer Spitzentechnologie- und Software-Unternehmen. In der Region hat sich ein besonders großer Cluster von Computerspiele-Entwicklern gebildet, die größten sind Electronic Arts und Relic Entertainment. Darüber hinaus entwickelt sich Vancouver zum Zentrum der Forschung an Brennstoffzellen. So hat der weltweit führende Hersteller Ballard Power Systems seinen Hauptsitz in der Nachbarstadt Burnaby, während das Institut für Brennstoffzellenforschung des National Research Council of Canada sich in Vancouver befindet.Insbesondere seit der Weltausstellung Expo 86 hat die Bedeutung des Tourismus stark zugenommen. Neben zahlreichen Sehenswürdigkeiten, Parks und Stränden in Vancouver selbst sind es vor allem die vielfältige Natur in der Umgebung und die damit verbundenen Freizeitaktivitäten, die viele Touristen anziehen. Das 126 km nördlich gelegene Whistler-Blackcomb-Resort ist eines der beliebtesten Skigebiete Nordamerikas. Auch in den näher gelegenen North Shore Mountains sind viele Sommer- und Wintersportmöglichkeiten vorhanden. Ab Vancouver verkehren regelmäßig Kreuzfahrtschiffe, üblicherweise in Richtung Alaska. Mit knapp 3,9 Millionen ausländischen Besuchern stand Vancouver 2016 auf Platz 34 der meistbesuchten Städte weltweit. Touristen brachten im selben Jahr Einnahmen von 2,1 Milliarden US-Dollar. Die meisten ausländischen Besucher kamen aus den USA und Asien. === Verkehr === Innerstädtische Bahnen Seit 1998 ist die Verkehrsgesellschaft TransLink für fast alle Belange des Verkehrswesens in Metro Vancouver und in Teilen des angrenzenden Fraser Valley Regional District zuständig, mit Ausnahme des überregionalen Schienen- und Fährverkehrs und der Taxis. TransLink betreibt in diesem Gebiet den öffentlichen Personennahverkehr und übernimmt teilweise oder gänzlich die Finanzierung und den Unterhalt von Straßen und Brücken (ohne Autobahnen). Rückgrat des öffentlichen Personennahverkehrs in Vancouver und Umgebung ist der vollautomatisch fahrende SkyTrain, der größtenteils als Hochbahn ausgeführt ist. Die Expo Line und die Millennium Line führen nach Burnaby, New Westminster und Surrey. Seit dem 17. August 2009 verbindet die Canada Line das Stadtzentrum mit Richmond und dem Flughafen. Im Auftrag von TransLink betreiben die Gesellschaften Coast Mountain Bus Company und West Vancouver Blue Bus ein dichtes Busnetz. 13 Linien werden außerdem durch den Oberleitungsbus Vancouver bedient. Dieser ersetzte 1948 die Straßenbahnen und Interurbans der British Columbia Electric Railway, die von 1890 bis 1958 existierten. Im Jahr 2008 gab es bei der Stadtverwaltung Studien zur Wiedereinführung der Straßenbahn; die erste Linie soll von Granville Island entlang des False Creek über den Bahnhof Waterfront zum Stanley Park führen. Im Jahr 2019 wurde diese Studie unter dem Aspekt einer potentiell langfristigen Realisierung aktualisiert. Entlang des Südufers des False Creek verkehrt an Sommerwochenenden die Vancouver Downtown Historic Railway, eine Museumsstraßenbahn. Außerdem sind im Stadtzentrum Gastown als Touristenattraktion historische Omnibusse im Einsatz.Flughafen Der Vancouver International Airport befindet sich in der Nachbarstadt Richmond auf Sea Island, einer Insel im Mündungsdelta des Fraser River. Vancouvers Flughafen ist der zweitgrößte Kanadas und der zweitgrößte an der Westküste Nordamerikas mit internationalen Flügen. Weitere bedeutende Flughäfen in der Umgebung sind der Abbotsford International Airport in Abbotsford und der Boundary Bay Airport in Delta. Im Stadtzentrum befinden sich zusätzlich Anlegestellen für Wasserflugzeuge, insbesondere für die Fluggesellschaft Harbour Air, die von hier aus Flüge in Richtung Vancouver Island, in den Norden, sowie Rundflüge über der näheren Umgebung anbietet. Etwas östlich des Canada Place befindet sich ferner ein Landeplatz für Hubschrauber; auch von hier werden Linienflüge angeboten. Der Flugunfall der Airwest Airlines im Vancouver Harbour 1978 forderte 11 Todesopfer. Straßennetz Aufgrund raumplanerischer Maßnahmen und der geographischen Lage gibt es in Vancouver mit einer Ausnahme keine Autobahnen. Die einzige ist der Trans-Canada Highway im äußersten Osten der Stadt. Alle anderen verengen sich vor der Stadtgrenze zu Hauptstraßen. Generell ist das Straßennetz der Metropole nach einem Gittermuster aufgebaut. Durch die Stadt zieht sich ein 170 km langes Radwegnetz. Die meisten Radwege führen entlang verkehrsberuhigter Nebenstraßen, im dichter besiedelten Stadtzentrum überwiegen Radfahrstreifen. Wasserfahrzeuge Zwischen Vancouver und Vancouver Island gibt es keine direkte Fährverbindung. Fähren von BC Ferries verkehren von der Horseshoe Bay westlich von West Vancouver nach Nanaimo und Bowen Island sowie von Tsawwassen in der Gemeinde Delta nach Swartz Bay unweit der Provinzhauptstadt Victoria und zu den Gulf Islands. Die SeaBus-Fähre verbindet die Stadtzentren von Vancouver und North Vancouver miteinander. Der Hafen macht die Stadt zum wichtigsten Endpunkt der beiden transkontinentalen kanadischen Güterbahnen Canadian Pacific Railway und Canadian National Railway. Auch die amerikanische BNSF Railway (früher Great Northern Railway) besitzt eine Strecke nach Vancouver. Die Canadian Pacific erreichte die Stadt 1887, die Great Northern 1891 und die Canadian Northern (Vorgängerin der Canadian National) 1915. Die Bahngesellschaften bieten direkte Güterzüge nach Chicago, dem Eisenbahndrehkreuz Nordamerikas, sowie nach New York/New Jersey an. Die notwendigen Rangieranlagen der Gesellschaften liegen alle außerhalb des Stadtgebietes. In North Vancouver endet das Streckennetz der seit 2004 zur CN gehörenden British Columbia Railway. Eisenbahnfernverkehr InterCity-Züge zu anderen kanadischen Städten werden von VIA Rail unter der Bezeichnung The Canadian angeboten und fahren vom Bahnhof Pacific Central ab. Amtrak Cascades bietet eine Verbindung nach Seattle an. Ausflugszüge von Great Canadian Railtour verkehren unter dem Namen Rocky Mountaineer nach Calgary, Jasper und Whistler. Der West Coast Express ist ein Pendlerzug, der vom Bahnhof Waterfront nach Mission verkehrt. Überlandbusse von Greyhound Canada verkehrten bis Ende 2018 vom Bahnhof Pacific Central aus, der Betrieb wurde jedoch eingestellt. === Bildung === Schulen Die Stadt Vancouver bildet den Schulbezirk 39, mit rund 57.000 Schülern und 119 Schulen der zweitgrößte in British Columbia. Wie auch in anderen Teilen der Provinz gibt es eine Vielzahl an privaten Schulen, die Anspruch auf eine Teilfinanzierung durch den Staat besitzen – dazu gehören religiöse, säkulare und sonderpädagogische Schulen, von denen die meisten zusätzlich Studiengebühren verlangen. Darüber hinaus gibt es drei Schulen, die Unterricht in französischer Sprache anbieten. Diese unterstehen dem Conseil scolaire francophone de la Colombie-Britannique, der für frankophone Schüler in der gesamten Provinz zuständig ist.Hochschulen und Universitäten In der Region Vancouver gibt es zwei bedeutende staatliche Universitäten. Die University of British Columbia (UBC) wurde 1908 gegründet und befindet sich unmittelbar westlich der Stadt an der Westspitze der Burrard-Halbinsel. Die 1965 gegründete Simon Fraser University (SFU) hat ihren Hauptsitz in Burnaby. Die UBC und die SFU besitzen vom jeweiligen Campus ausgelagerte Lehreinrichtungen in Vancouver. Das British Columbia Institute of Technology in Burnaby ist eine technische Universität mit Zweigstellen in Vancouver, Richmond und North Vancouver. Im September 2007 wurde in Vancouver ein Campus der privaten Fairleigh Dickinson University eröffnet. Bedeutende Kunsthochschulen sind die Emily Carr University of Art and Design, die Vancouver Film School und das Studio 58. Zwei Fachhochschulen (in Kanada college genannt) bieten in Vancouver ebenfalls höhere Ausbildungslehrgänge an, es sind dies das Vancouver Community College und das Langara College. Das Collège Éducacentre bietet Erwachsenenbildung in französischer Sprache. === Medien === In Vancouver erscheinen zwei regionale Tageszeitungen, The Vancouver Sun und The Province. Beide werden von der Pacific Newspaper Group herausgegeben, einer Tochtergesellschaft von CanWest Global Communications. Zwei landesweit erscheinende Tageszeitungen, The Globe and Mail und National Post werden ebenfalls vertrieben. Die drei Tageszeitungen Ming Pao, Sing Tao Daily und World Journal richten sich an den chinesischsprachigen Teil der Bevölkerung. 24 Hours und Metro sind kostenlose Pendlerzeitungen. Ebenfalls kostenlos ist die Wochenzeitung The Georgia Straight. Zweimal wöchentlich erscheint die Lokalzeitung Vancouver Courier. Auch in British Columbia sind die national tätigen Fernsehanstalten mit regionalen Ablegern vertreten. Bei den öffentlich-rechtlichen Anstalten Canadian Broadcasting Corporation und Télévision de Radio-Canada sind dies die Sender CBUT und CBUFT, während die kommerziellen Anbieter Citytv, CH, Global und CTV mit Citytv Vancouver, CHEK-TV, Global BC und CTV British Columbia vertreten sind. Der Sender Global BC hat die höchsten Marktanteile im Nachrichtenbereich. Channel m richtet sich an die zahlreichen Immigranten und sendet in fünf asiatischen Sprachen. Die drei wichtigsten Radiostationen sind CBC Radio One, CKNW und News1130. Daneben gibt es eine Vielzahl von Sport- oder Nachrichtensendern, hauptsächlich auf AM, sowie zahlreiche Musiksender, die mehrheitlich auf FM zu empfangen sind. == Persönlichkeiten == Vancouver ist der Geburts- und Wirkungsort zahlreicher prominenter Persönlichkeiten. Aufgrund der großen Bedeutung der Stadt für die nordamerikanische Filmindustrie sind unter ihnen viele Schauspieler vertreten. Zu den bekanntesten gehören James Doohan (Star Trek), Hayden Christensen (Star Wars) und Yvonne De Carlo (The Munsters). Aus Vancouver stammen zahlreiche bekannte Sportler, die sich insbesondere im Eishockey, dem kanadischen Nationalsport, hervorgetan haben. Glenn Anderson ist sechsmaliger Gewinner des Stanley Cup, Olympiasieger Paul Kariya gilt als einer der bekanntesten Kanadier japanischer Herkunft. Aufgrund der sehr kurzen Amtszeiten hatten nur wenige Bürgermeister einen nachhaltigen Einfluss auf die Entwicklung der Stadt. Der erste, Malcolm Alexander MacLean, leitete den Wiederaufbau nach dem Stadtbrand von 1886. Louis Denison Taylor übte das Amt zwischen 1910 und 1934 vier Mal aus, seine Amtszeit von insgesamt elf Jahren ist die längste aller bisherigen Bürgermeister. Larry Campbells frühere Tätigkeit als Leichenbeschauer diente als Vorlage für die erfolgreiche Fernsehserie Da Vinci’s Inquest. Gordon Campbell war Premierminister von British Columbia von 2001 bis 2011 und ist seit 2011 kanadischer Botschafter in Großbritannien. Ebenfalls Einfluss auf die kanadische Politik übte Squamish-Häuptling Joseph Capilano (eigentlich Su-á-pu-luck) aus, der 1906 dem britischen König eine Petition überbrachte, um damit gegen die Enteignung und Zwangsassimilierung der Ureinwohner zu protestieren. Der Leiter der Versammlung der First Nations, Shawn Atleo, stammt ebenfalls aus Vancouver. Der Umweltaktivist David McTaggart gründete hier Greenpeace. == Literatur == Chuck Davies: The Greater Vancouver Book – An Urban Encyclopedia. Linkman Press, Surrey, British Columbia 1992, ISBN 1-896846-00-9 W. Michael et al.: Horizons – Canada Moves West. Prentice-Hall, Upper Saddle River, New Jersey 2000, ISBN 0-13-012367-6 Daniel Francis: L. D. – Mayor Louis Taylor and the Rise of Vancouver. Arsenal Pulp Press, Vancouver 2004, ISBN 1-55152-156-3 Harold Kalman: Exploring Vancouver – Ten Tours of the City and its Buildings. University of British Columbia Press, Vancouver 1974, ISBN 0-7748-0028-3 == Weblinks == Vancouver. In: The Canadian Encyclopedia. Abgerufen im 1. Januar 1 (englisch, français). Offizielle Website der City of Vancouver Tourismusbehörde Vancouver Discover Vancouver Geschichte von Vancouver Kunst und Kultur in Vancouver == Einzelnachweise ==
https://de.wikipedia.org/wiki/Vancouver
Kreiszahl
= Kreiszahl = Die Kreiszahl, auch Ludolphsche Zahl, Ludolfsche Zahl oder Archimedes-Konstante, abgekürzt mit dem griechischen Kleinbuchstaben π {\displaystyle \pi } (Pi), ist eine mathematische Konstante, die das Verhältnis des Umfangs eines Kreises zu seinem Durchmesser angibt. Dieses Verhältnis ist für alle Kreise gleich, unabhängig von ihrer Größe. Die dezimale Darstellung der Kreiszahl beträgt π = 3,141 59 26535 89793 23846 26433 83279 50288 41971 69399 37510 … {\displaystyle \pi =3{,}14159\,26535\,89793\,23846\,26433\,83279\,50288\,41971\,69399\,37510\,\dots } wobei in der Praxis oft nur drei signifikante Stellen verwendet werden (3,14), deren Genauigkeit für einfache Anwendungen ausreicht. Seit dem 8. Juni 2022 sind 100 Billionen Nachkommastellen der Kreiszahl bekannt.Die Kreiszahl hat etliche interessante Eigenschaften. Vor allem ist sie keine rationale Zahl, kann also nicht exakt durch ein Verhältnis zweier ganzer Zahlen ausgedrückt werden. Sie ist sogar eine transzendente Zahl, ist also nicht Nullstelle eines vom Nullpolynom verschiedenen Polynoms mit ganzzahligen Koeffizienten (s. u. Irrationalität und Transzendenz).Die Kreiszahl tritt nicht nur bei Kreisberechnungen in der Geometrie auf, sondern hat auch in anderen mathematischen Teilgebieten und Theorien Bedeutung. Beispielsweise lässt sich durch sie die Lösung des klassischen Basler Problems mit der Theorie der Fourierreihen verknüpfen. == Geschichte der Bezeichnung == Die Bezeichnung mit dem griechischen Buchstaben Pi ( π {\displaystyle \pi } ) erfolgt nach dem Anfangsbuchstaben des griechischen Wortes περίμετρος – perímetros, „Umfang“ oder περιφέρεια – zu lateinisch peripheria, „Randbereich“. Das Pi ( π {\displaystyle \pi } ) wurde erstmals von William Oughtred in seiner 1647 veröffentlichten Schrift Theorematum in libris Archimedis de Sphæra & Cylyndro Declaratio verwendet. Darin drückte er mit π δ {\displaystyle {\tfrac {\pi }{\delta }}} das Verhältnis von halbem Kreisumfang (semiperipheria) zu Halbmesser (semidiameter) aus, d. h. π δ = 3,141 5 … {\displaystyle {\tfrac {\pi }{\delta }}=3{,}1415\ldots } . Dieselben Bezeichnungen benutzte um 1664 auch der englische Mathematiker Isaac Barrow. Im Jahr 1697 nahm David Gregory π ρ {\displaystyle {\tfrac {\pi }{\rho }}} für das Verhältnis von Umfang zu Radius.59 Jahre später als Oughtred, nämlich im Jahr 1706, setzte der walisische Mathematiker William Jones in seiner Synopsis Palmariorum Matheseos als Erster den griechischen Kleinbuchstaben π {\displaystyle \pi } ein, um das Verhältnis von Umfang zu Durchmesser auszudrücken. Erst im 18. Jahrhundert wurde π {\displaystyle \pi } durch Leonhard Euler populär. Er verwendete 1737 erstmals π {\displaystyle \pi } für die Kreiszahl, nachdem er zuvor p {\displaystyle p} verwendet hatte. Seitdem ist aufgrund der Bedeutung Eulers diese Bezeichnung allgemein üblich. == Definition == Es existieren mehrere gleichwertige Ansätze, die Kreiszahl π {\displaystyle \pi } zu definieren. Die erste (klassische!) Definition in der Geometrie beruht auf der Proportionalität von Umfang und Durchmesser eines Kreises. Entsprechend lässt sich die Kreiszahl definieren als das Verhältnis von Umfang U {\displaystyle U} zum Durchmesser d {\displaystyle d} des Kreises. Die Kreiszahl entspricht demnach dem Quotienten und Proportionalitätsfaktor π = U d {\displaystyle \pi ={\tfrac {U}{d}}} . Der zweite geometrische Ansatz fußt auf dem Vergleich des Flächeninhalts A {\displaystyle A} eines Kreises mit dem Flächeninhalt des Quadrats über seinem Kreisradius (auch: Halbmesser) r {\displaystyle r} , also seinem halben Durchmesser. Aus Gründen der Ähnlichkeit sind diese beiden Flächeninhalte ebenfalls proportional. Entsprechend lässt sich die Kreiszahl π {\displaystyle \pi } definieren als der Quotient bzw. der Proportionalitätsfaktor π = A r 2 {\displaystyle \pi ={\tfrac {A}{r^{2}}}} . Man fasst diese zweite Definition in den Merksatz, dass sich eine Kreisfläche zur umgebenden Quadratfläche wie π : 4 {\displaystyle \pi :4} verhält. In der Analysis geht man (nach Edmund Landau) oft so vor, zunächst die reelle Kosinusfunktion cos ⁡ ( x ) {\displaystyle \cos(x)} über ihre Taylorreihe zu definieren und dann die Kreiszahl als das Doppelte der kleinsten positiven Nullstelle des Kosinus festzulegen. Weitere analytische Ansätze gehen auf John Wallis und Leonhard Euler zurück.Dass die erste und die zweite Definition dieselbe Zahl definieren, bewies bereits Archimedes von Syrakus, vergleiche Kreisfläche. Der Umfang eines Kreises verhält sich also zu seinem Durchmesser genauso wie die Fläche des Kreises zum Quadrat des Radius. Das jeweilige Verhältnis – der Proportionalitätsfaktor – ist in beiden Fällen die Kreiszahl π {\displaystyle \pi } . == Eigenschaften == === Irrationalität und Transzendenz === Die Zahl π {\displaystyle \pi } ist eine irrationale Zahl, also eine reelle, aber keine rationale Zahl. Das bedeutet, dass sie nicht als Verhältnis zweier ganzer Zahlen p , q ∈ Z {\displaystyle p,q\in \mathbb {Z} } , also nicht als Bruch p q {\displaystyle {\tfrac {p}{q}}} , dargestellt werden kann. Das wurde 1761 (oder 1767) von Johann Heinrich Lambert bewiesen.Tatsächlich ist die Zahl π {\displaystyle \pi } sogar transzendent, was bedeutet, dass es kein vom Nullpolynom verschiedenes Polynom mit rationalen Koeffizienten gibt, das π {\displaystyle \pi } zur Nullstelle hat. So ist auch jede Zahl, die durch algebraische Operationen wie Addition und Multiplikation mit sich selbst und mit ganzem Zahlen aus π {\displaystyle \pi } erzeugt wird, wiederum transzendent. Das wurde erstmals von Ferdinand von Lindemann 1882 bewiesen. Als Konsequenz ergibt sich daraus, dass es unmöglich ist, π {\displaystyle \pi } nur mit ganzen Zahlen oder Brüchen und Wurzeln auszudrücken, und dass die exakte Quadratur des Kreises mit Zirkel und Lineal nicht möglich ist. === Die ersten 100 Nachkommastellen === Da π {\displaystyle \pi } eine irrationale Zahl ist, lässt sich ihre Darstellung in keinem Stellenwertsystem vollständig angeben: Die Darstellung ist stets unendlich lang und nicht periodisch. Bei den ersten 100 Nachkommastellen in der Dezimalbruchentwicklung π = 3,141 59 26535 89793 23846 26433 83279 50288 41971 69399 37510 58209 74944 59230 78164 06286 20899 86280 34825 34211 70679 … {\displaystyle \pi =3{,}14159\;26535\;89793\;23846\;26433\;83279\;50288\;41971\;69399\;37510\;58209\;74944\;59230\;78164\;06286\;20899\;86280\;34825\;34211\;70679\ldots } ist keine Regelmäßigkeit ersichtlich. Auch weitere Nachkommastellen genügen statistischen Tests auf Zufälligkeit (siehe auch Frage der Normalität). === Darstellung zu anderen Zahlenbasen === Im Binärsystem ausgedrückt ist π = 11,001 0 0100 0011 1111 0110 1010 1000 1000 1000 0101 1010 0011 0000 1000 1101 0011 0001 0011 0001 1001 1000 1010 0010 1110 … {\displaystyle \pi =11{,}0010\;0100\;0011\;1111\;0110\;1010\;1000\;1000\;1000\;0101\;1010\;0011\;0000\;1000\;1101\;0011\;0001\;0011\;0001\;1001\;1000\;1010\;0010\;1110\dots } (Siehe OEIS-Folge OEIS:A004601).In OEIS sind auch die Zahlen der Darstellungen zu den Basen 3 bis 16 und 60 angegeben. === Kettenbruchentwicklung === Eine alternative Möglichkeit, reelle Zahlen darzustellen, ist die Kettenbruchentwicklung. Da π {\displaystyle \pi } irrational ist, ist diese Darstellung unendlich lang, und, da es keine quadratisch irrationale Zahl ist, ist sie nicht periodisch. Der reguläre Kettenbruch der Kreiszahl beginnt so: π = 3 + 1 7 + 1 15 + 1 1 + 1 292 + 1 1 + 1 1 + ⋱ {\displaystyle \pi =3+{\frac {1}{7+{\frac {1}{15+{\frac {1}{1+{\frac {1}{292+{\frac {1}{1+{\frac {1}{1+\ddots }}}}}}}}}}}}} Eine mit der regulären Kettenbruchentwicklung verwandte Entwicklung von π {\displaystyle \pi } ist diejenige als negativ-regelmäßiger Kettenbruch (Folge A280135 in OEIS): π = 4 − 1 2 − 1 2 − 1 2 − 1 2 − 1 2 − 1 2 − 1 17 − 1 294 − ⋱ {\displaystyle \pi =4-{\frac {1}{2-{\frac {1}{2-{\frac {1}{2-{\frac {1}{2-{\frac {1}{2-{\frac {1}{2-{\frac {1}{17-{\frac {1}{294-\ddots }}}}}}}}}}}}}}}}} Anders als bei der Eulerschen Zahl e {\displaystyle e} konnten bislang (2000) bei der regulären Kettenbruchdarstellung von π {\displaystyle \pi } keine Muster oder Gesetzmäßigkeiten festgestellt werden.Jedoch gibt es nicht-reguläre Kettenbruchdarstellungen von π {\displaystyle \pi } , bei denen einfache Gesetzmäßigkeiten erkennbar sind: π = 3 + 1 2 6 + 3 2 6 + 5 2 6 + 7 2 6 + 9 2 6 + 11 2 6 + ⋱ = 4 1 + 1 2 2 + 3 2 2 + 5 2 2 + 7 2 2 + 9 2 2 + ⋱ = 4 1 + 1 2 3 + 2 2 5 + 3 2 7 + 4 2 9 + 5 2 11 + ⋱ {\displaystyle \pi =3+{\frac {1^{2}}{\scriptstyle 6+{\frac {3^{2}}{6+{\frac {5^{2}}{6+{\frac {7^{2}}{6+{\frac {9^{2}}{6+{\frac {11^{2}}{6+\ddots }}}}}}}}}}}}={\frac {4}{1+{\frac {1^{2}}{2+{\frac {3^{2}}{2+{\frac {5^{2}}{2+{\frac {7^{2}}{2+{\frac {9^{2}}{2+\ddots }}}}}}}}}}}}={\frac {4}{\scriptstyle 1+{\frac {1^{2}}{3+{\frac {2^{2}}{5+{\frac {3^{2}}{7+{\frac {4^{2}}{9+{\frac {5^{2}}{11+\ddots }}}}}}}}}}}}} === Näherungsbrüche der Kreiszahl === Aus ihrer regulären Kettenbruchdarstellung ergeben sich als beste Näherungsbrüche der Kreiszahl (Zähler Folge A002485 in OEIS bzw. Nenner Folge A002486 in OEIS) die folgenden: Der absolute Fehler in der Praxis wird dabei schnell vernachlässigbar: Mit der 20. Näherung ( m 20 n 20 ) {\displaystyle \left({\tfrac {m_{20}}{n_{20}}}\right)} stimmen 21 Nachkommastellen mit denen der Kreiszahl π {\displaystyle \pi } überein. Mit diesem Näherungsbruch wäre erst der Umfang eines Kreises von etwa 3,8 Billiarden km Durchmesser (das entspricht der Entfernung zum Polarstern) um einen Millimeter falsch (nämlich zu kurz) berechnet. === Sphärische Geometrie === In der Kugelgeometrie ist der Begriff Kreiszahl nicht gebräuchlich, da das Verhältnis von Umfang zu Durchmesser in diesem Fall nicht mehr für alle Kreise gleich, sondern von deren Größe abhängig ist. Für einen Kreis mit einem sehr viel kleineren Durchmesser als dem der Kugel, auf deren Oberfläche er „gezeichnet“ wird (etwa ein Kreis mit 1 m Durchmesser auf der kugeligen Erdoberfläche), ist die Krümmung der Kugelfläche gegenüber der euklidischen Kreisebene meist vernachlässigbar klein, bei größeren Kreisen oder hoher Präzisionsanforderung muss sie berücksichtigt werden. === Normalität === Es ist noch ungeklärt, ob π {\displaystyle \pi } eine normale Zahl ist, das heißt, ob ihre binäre (oder jede andere n-äre) Zahlendarstellung jede mögliche endliche Binär- bzw. sonstige Zifferngruppe gleichermaßen enthält – so wie es die Statistik erwarten ließe, wenn man eine Zahl vollkommen nach dem Zufall erzeugte. Umgekehrt wäre es beispielsweise auch denkbar, dass irgendwann nur noch zwei Ziffern in unregelmäßiger Folge auftreten.Wenn π {\displaystyle \pi } eine normale Zahl ist, dann enthält ihre (nur theoretisch mögliche) vollständige Stellenwertdarstellung alle nur denkbaren Muster, zum Beispiel sämtliche bisher und zukünftig geschriebenen Bücher in codierter Binärform (analog zum Infinite-Monkey-Theorem). Bailey und Crandal zeigten im Jahr 2000 mit der Bailey-Borwein-Plouffe-Formel, dass die Normalität von π {\displaystyle \pi } zur Basis 2 auf eine Vermutung der Chaostheorie reduziert werden kann.Physiker der Purdue-Universität haben im Jahre 2005 die ersten 100 Millionen Dezimalstellen von π {\displaystyle \pi } auf ihre Zufälligkeit hin untersucht und mit kommerziellen Zufallszahlengeneratoren verglichen. Der Forscher Ephraim Fischbach und sein Mitarbeiter Shu-Ju Tu konnten dabei keinerlei verborgene Muster in der Zahl π {\displaystyle \pi } entdecken. Demnach sei nach Ansicht Fischbachs die Zahl π {\displaystyle \pi } tatsächlich eine gute Quelle für Zufälligkeit. Allerdings schnitten einige Zufallszahlengeneratoren noch besser als π {\displaystyle \pi } ab. ==== Feynman-Punkt ==== Die auffälligste und bekannteste „Unzufälligkeit“ in den ersten 1000 Dezimalstellen ist der Feynman-Punkt, eine Folge von sechs Neunen ab der 762-sten Stelle. Das wirkt deshalb erstaunlich, weil es unter den ersten 1000 Dezimalstellen nur fünf genaue Dreifachfolgen und überhaupt keine genauen Vier- oder Fünffachfolgen gibt. Die zweite Sechsfachfolge beginnt bei der 193.034-sten Dezimalstelle und besteht wieder aus Neunen. == Entwicklung von Berechnungsverfahren == Die Notwendigkeit, den Umfang eines Kreises aus seinem Durchmesser zu ermitteln oder umgekehrt, stellt sich im ganz praktischen Alltag: Man braucht solche Berechnungen zum Beschlagen eines Rades, zum Einzäunen runder Gehege, zum Berechnen der Fläche eines runden Feldes oder des Rauminhalts eines zylindrischen Getreidespeichers. Daher suchten Buchhalter und Wissenschaftler, vor allem Mathematiker und Astronomen, seit der Antike nach immer genaueren Näherungswerten für die Kreiszahl. Wesentliche Beiträge lieferten etwa ägyptische, babylonische und griechische Wissenschaftler, im Mittelalter vor allem chinesische und persische Wissenschaftler, in der Neuzeit französische, englische, schottische, deutsche und schweizerische Wissenschaftler. In der jüngeren Geschichte gerieten die Bestrebungen zur größtmöglichen Annäherung an π {\displaystyle \pi } phasenweise zu einer regelrechten Rekordjagd, die zuweilen skurrile und auch aufopfernde Züge annahm. === Erste Näherungen === ==== Berechnungen und Schätzungen in den vorchristlichen Kulturen ==== Die Kreiszahl und einige ihrer Eigenschaften waren bereits in der Antike bekannt. Das älteste bekannte Rechenbuch der Welt, das altägyptische Rechenbuch des Ahmes aus der Mitte der 16. Jahrhundert v. Chr., nennt den Wert ( 16 9 ) 2 ≈ 3,160 5 {\displaystyle \left({\tfrac {16}{9}}\right)^{2}\approx 3{,}1605} , was vom tatsächlichen Wert nur um rund 0,60 % abweicht. Als Näherung für π {\displaystyle \pi } benutzten die Babylonier 3 + 1 8 = 3,125 {\displaystyle 3+{\tfrac {1}{8}}=3{,}125} oder einfach nur 3, solange dessen Abweichung von gut 4,5 % nicht ins Gewicht fiel. Den Wert 3 nutzte man auch im alten China, und er findet sich auch in der biblischen Beschreibung des Wasserbeckens, das für den Jerusalemer Tempel geschaffen wurde: In Indien nahm man für die Kreiszahl in den Sulbasutras, den Schnurregeln zur Konstruktion von Altären, den Wert ( 26 15 ) 2 ≈ 3,004 4 {\displaystyle \left({\tfrac {26}{15}}\right)^{2}\approx 3{,}0044} und wenige Jahrhunderte v. Chr. in der Astronomie den Näherungswert 10 ≈ 3,162 3 {\displaystyle {\sqrt {10}}\approx 3{,}1623} . ==== Näherungen für den praktischen Alltag ==== Handwerker benutzten in Zeiten vor Rechenschieber und Taschenrechner die Näherung 22 7 ≈ 3,142 857 {\displaystyle {\tfrac {22}{7}}\approx 3{,}142857} und berechneten damit vieles im Kopf. Der Fehler gegenüber π {\displaystyle \pi } beträgt etwa 0,04 %. In den meisten Fällen liegt das innerhalb der möglichen Fertigungsgenauigkeit und ist damit völlig ausreichend. Eine andere oft genutzte Näherung ist der Bruch 355 113 ≈ 3,141 5929 {\displaystyle {\tfrac {355}{113}}\approx 3{,}1415929} , immerhin auf sieben Stellen genau. Allen diesen rationalen Näherungswerten für π {\displaystyle \pi } ist gemeinsam, dass sie partiellen Auswertungen der Kettenbruchentwicklung von π {\displaystyle \pi } entsprechen, z. B.: 22 7 = 3 + 1 7 = [ 3 ; 7 ] , 355 113 = 3 + 1 7 + 1 15 + 1 1 = [ 3 ; 7 , 15 , 1 ] {\displaystyle {\frac {22}{7}}=3+{\frac {1}{7}}=[3;7],\quad {\frac {355}{113}}=3+{\frac {1}{7+{\frac {1}{15+{\frac {1}{1}}}}}}=[3;7,15,1]} === Archimedes von Syrakus === ==== Die Frage, ob die Kreiszahl rational ist ==== Für den griechischen Mathematiker Archimedes und viele nach ihm war unklar, ob die Berechnung von π {\displaystyle \pi } nicht doch irgendwann zum Abschluss käme, ob π {\displaystyle \pi } also eine rationale Zahl sei, was die jahrhundertelange Jagd auf die Zahl verständlich werden lässt. Zwar war den griechischen Philosophen mit der Irrationalität von 2 {\displaystyle {\sqrt {2}}} die Existenz derartiger Zahlen bekannt, dennoch hatte Archimedes keinen Grund, bei einem Kreis von vornherein eine rationale Darstellbarkeit der Flächenberechnung auszuschließen. Denn es gibt durchaus allseitig krummlinig begrenzte Flächen, die sich als rationale Zahl darstellen lassen, sogar von Kreisteilen eingeschlossene wie die Möndchen des Hippokrates. ==== Annäherung durch Vielecke ==== Archimedes gelang es um 250 v. Chr., die Kreiszahl mathematisch einzugrenzen, d. h. eine Ober- und Unterschranke anzugeben. Hierzu näherte er sich wie auch andere Mathematiker mit regelmäßigen Vielecken dem Kreis an, um Näherungswerte für π {\displaystyle \pi } zu gewinnen. Mit umbeschriebenen und einbeschriebenen Vielecken, beginnend bei Sechsecken, durch wiederholtes Verdoppeln der Eckenzahl bis zu 96-Ecken, berechnete er obere und untere Schranken für den Kreisumfang. Er kam zu der Abschätzung, dass das gesuchte Verhältnis etwas kleiner als 3 + 10 70 {\displaystyle 3+{\tfrac {10}{70}}} sein müsse, jedoch größer als 3 + 10 71 {\displaystyle 3+{\tfrac {10}{71}}} : 3,140 8450 ≈ 3 + 10 71 < π < 3 + 10 70 ≈ 3,142 8571 {\displaystyle 3{,}1408450\approx 3+{\frac {10}{71}}<\pi <3+{\frac {10}{70}}\approx 3{,}1428571} Laut Heron besaß Archimedes eine noch genauere Abschätzung, die aber falsch überliefert ist: 3 + 9552 67441 < π < 3 + 10835 62351 ( 3,141 6349 < π < 3,173 7743 ) {\displaystyle 3+{\frac {9552}{67441}}<\pi <3+{\frac {10835}{62351}}\qquad (3{,}1416349<\pi <3{,}1737743)} Wilbur Knorr korrigierte zu: 3 + 8915 62991 < π < 3 + 9552 67441 ( 3,141 5281 < π < 3,141 6349 ) {\displaystyle 3+{\frac {8915}{62991}}<\pi <3+{\frac {9552}{67441}}\qquad (3{,}1415281<\pi <3{,}1416349)} In den westlichen Kulturen stellten diese Berechnungen von Archimedes über eine sehr lange Zeit – wie in manchen anderen gesellschaftlichen und kulturellen Bereichen auch – den Status quo in Bezug auf die Genauigkeit der Kenntnis von π {\displaystyle \pi } dar. Erst im 16. Jahrhundert erwachte das Interesse wieder. === 4. bis 15. Jahrhundert === Fortschritte in der Annäherung an π {\displaystyle \pi } erzielten in der Zeit des 4. bis 15. Jahrhunderts vor allem chinesische und persische Wissenschaftler: Im dritten Jahrhundert bestimmte Liu Hui aus dem 192-Eck die Schranken 3,141024 und 3,142704 sowie später aus dem 3072-Eck den Näherungswert 3,1416.Um 480 berechnete der chinesische Mathematiker und Astronom Zu Chongzhi (429–500) für die Kreiszahl 3,141 5926 < π < 3,141 5927 {\displaystyle 3{,}1415926<\pi <3{,}1415927} , also die ersten 7 Dezimalstellen. Er kannte auch den fast genauso guten Näherungsbruch 355 113 {\displaystyle {\tfrac {355}{113}}} (das ist der dritte Näherungsbruch der Kettenbruchentwicklung von π {\displaystyle \pi } ), der in Europa erst im 16. Jahrhundert gefunden wurde (Adriaan Metius, deshalb auch Metius-Wert genannt). Im 14. Jahrhundert berechnete Zhao Youqin die Kreiszahl über ein 16384-Eck auf sechs Dezimalstellen genau. Der indische Mathematiker und Astronom Aryabhata gibt im Jahre 498 das Verhältnis des Kreisumfangs zum Durchmesser mit 62832 20000 = 3,141 6 {\displaystyle {\tfrac {62832}{20000}}=3{,}1416} an, was nur um rund 0,00023 % zu hoch liegt. In seinem 1424 abgeschlossenen Werk Abhandlung über den Kreis berechnete der persische Wissenschaftler Dschamschid Masʿud al-Kaschi mit einem 3×228-Eck 2 π {\displaystyle 2\pi } bereits auf 16 Stellen genau. === 15. bis 19. Jahrhundert === ==== Allgemeiner Verlauf ==== In Europa gelang es Ludolph van Ceulen 1596, die ersten 35 Dezimalstellen von π {\displaystyle \pi } zu berechnen. Angeblich opferte er 30 Jahre seines Lebens für diese Berechnung. Van Ceulen steuerte allerdings noch keine neuen Gedanken zur Berechnung bei. Er rechnete einfach nach der Methode des Archimedes weiter, aber während Archimedes beim 96-Eck aufhörte, setzte Ludolph die Rechnungen bis zum einbeschriebenen 2 62 {\displaystyle 2^{62}} -Eck fort. Der französische Mathematiker François Viète variierte 1593 die Archimedische Exhaustionsmethode, indem er den Flächeninhalt eines Kreises durch eine Folge einbeschriebener 2 n {\displaystyle 2^{n}} -Ecke annäherte. Daraus leitete er als Erster eine geschlossene Formel für π {\displaystyle \pi } in Form eines unendlichen Produktes ab: 2 π = 2 2 ⋅ 2 + 2 2 ⋅ 2 + 2 + 2 2 ⋅ … {\displaystyle {\frac {2}{\pi }}={\frac {\sqrt {2}}{2}}\cdot {\frac {\sqrt {2+{\sqrt {2}}}}{2}}\cdot {\frac {\sqrt {2+{\sqrt {2+{\sqrt {2}}}}}}{2}}\cdot \dots } π 2 = 2 1 ⋅ 2 3 ⋅ 4 3 ⋅ 4 5 ⋅ 6 5 ⋅ 6 7 ⋅ 8 7 ⋅ 8 9 ⋅ … {\displaystyle {\frac {\pi }{2}}={\frac {2}{1}}\cdot {\frac {2}{3}}\cdot {\frac {4}{3}}\cdot {\frac {4}{5}}\cdot {\frac {6}{5}}\cdot {\frac {6}{7}}\cdot {\frac {8}{7}}\cdot {\frac {8}{9}}\cdot \dots } Der englische Mathematiker John Wallis, der 1655 das nach ihm benannte wallissche Produkt entwickelte, zeigte im gleichen Jahr die Viète-Reihe Lord Brouncker, dem ersten Präsidenten der „Royal Society“, der die Gleichung als Kettenbruch wie folgt darstellte: 4 π = 1 + 1 2 2 + 3 2 2 + 5 2 2 + 7 2 2 + 9 2 ⋱ {\displaystyle {\frac {4}{\pi }}=1+{\frac {1^{2}}{2+\textstyle {\frac {3^{2}}{2+\textstyle {\frac {5^{2}}{2+\textstyle {\frac {7^{2}}{2+\textstyle {\frac {9^{2}}{\;\,\ddots }}}}}}}}}}} Gottfried Wilhelm Leibniz steuerte 1682 folgende Reihendarstellung bei: π 4 = ∑ n = 0 ∞ ( − 1 ) n 2 n + 1 = 1 1 − 1 3 + 1 5 − 1 7 + 1 9 ∓ ⋯ {\displaystyle {\frac {\pi }{4}}=\sum _{n=0}^{\infty }{\frac {(-1)^{n}}{2n+1}}={\frac {1}{1}}-{\frac {1}{3}}+{\frac {1}{5}}-{\frac {1}{7}}+{\frac {1}{9}}\mp \dotsb } Siehe auch Kreiszahlberechnung nach Leibniz. Diese war indischen Mathematikern bereits im 15. Jahrhundert bekannt. Leibniz entdeckte sie für die europäische Mathematik neu und bewies die Konvergenz dieser unendlichen Summe. Die obige Reihe ist wegen arctan ⁡ 1 = π 4 {\displaystyle \arctan 1={\tfrac {\pi }{4}}} auch ein Spezialfall ( θ = 1 {\displaystyle \theta =1} ) der Reihenentwicklung des Arkustangens, die der indische Mathematiker Madhava um ca. 1400 fand und auf die der schottische Mathematiker James Gregory in den 1670er Jahren zurückkam: arctan ⁡ θ = θ 1 1 − θ 3 3 + θ 5 5 − θ 7 7 ± ⋯ {\displaystyle \arctan \theta ={\frac {\theta ^{1}}{1}}-{\frac {\theta ^{3}}{3}}+{\frac {\theta ^{5}}{5}}-{\frac {\theta ^{7}}{7}}\pm \dotsb } Sie war in der Folgezeit Grundlage vieler Approximationen von π {\displaystyle \pi } , die alle lineare Konvergenzgeschwindigkeit haben. Im Jahr 1706 beschrieb William Jones in seinem Werk Synopsis palmariorum matheseos die von ihm entwickelte Reihe, mit der er 100 Nachkommastellen von π {\displaystyle \pi } bestimmte. „Let α = 2 3 {\displaystyle \alpha =2{\sqrt {3}}} . […] Then π = α − 1 3 3 α 9 + 1 5 α 9 − 1 7 3 α 9 2 + 1 9 α 9 2 − 1 11 3 α 9 3 + 1 13 α 9 3 {\displaystyle \pi =\alpha -{\frac {1}{3}}{\frac {3\alpha }{9}}+{\frac {1}{5}}{\frac {\alpha }{9}}-{\frac {1}{7}}{\frac {3\alpha }{9^{2}}}+{\frac {1}{9}}{\frac {\alpha }{9^{2}}}-{\frac {1}{11}}{\frac {3\alpha }{9^{3}}}+{\frac {1}{13}}{\frac {\alpha }{9^{3}}}} , &c.“ Im selben Jahr 1706 berechnete John Machin mit seiner Formel π 4 = 4 arctan ⁡ 1 5 − arctan ⁡ 1 239 {\displaystyle {\frac {\pi }{4}}=4\arctan {\frac {1}{5}}-\arctan {\frac {1}{239}}} gleichfalls die ersten 100 Dezimalstellen von π {\displaystyle \pi } . Die Formel ist über das Additionstheorem des Arkustangens zu gewinnen – oder gleichwertig durch Betrachtung der komplexen Zahl, bestehend aus Potenzen ganzzahliger, so genannter Gaußscher Zahlen, mit ganzzahligen Exponenten ( 5 + i ) 4 ⋅ ( 239 − i ) = 114244 + 114244 i = ( 1 + i ) ⋅ 114244 {\displaystyle (5+\mathrm {i} )^{4}\cdot (239-\mathrm {i} )=114244+114244\;\mathrm {i} =(1+\mathrm {i} )\cdot 114244} und dem Argumentwert arg ⁡ ( 1 + i ) = π 4 {\displaystyle \arg(1+\mathrm {i} )={\tfrac {\pi }{4}}} . Im Laufe der Zeit wurden viele Formeln dieser Art gefunden. Eine Formel mit sehr guter Konvergenz der taylorschen Reihen stammt von Carl Størmer (1896): π 4 = 44 arctan ⁡ 1 57 + 7 arctan ⁡ 1 239 − 12 arctan ⁡ 1 682 + 24 arctan ⁡ 1 12943 {\displaystyle {\frac {\pi }{4}}=44\,\arctan {\frac {1}{57}}+7\,\arctan {\frac {1}{239}}-12\,\arctan {\frac {1}{682}}+24\,\arctan {\frac {1}{12943}}} ,welche gleichbedeutend damit ist, dass Real- und Imaginärteil der Gaußschen Zahl ( 57 + i ) 44 ⋅ ( 239 + i ) 7 ⋅ ( 682 − i ) 12 ⋅ ( 12943 + i ) 24 = ( 1 + i ) ⋅ n {\displaystyle (57+\mathrm {i} )^{44}\cdot (239+\mathrm {i} )^{7}\cdot (682-\mathrm {i} )^{12}\cdot (12943+\mathrm {i} )^{24}=(1+\mathrm {i} )\cdot n} mit n ∈ Z {\displaystyle n\in \mathbb {Z} } gleich sind.Leonhard Euler führte in seiner im Jahre 1748 erschienenen Introductio in Analysin Infinitorum im ersten Bande π {\displaystyle \pi } bereits auf 148 Stellen genau an. Von Euler entdeckte Formeln (siehe auch Riemannsche ζ-Funktion): ζ ( 2 ) = 1 1 2 + 1 2 2 + 1 3 2 + 1 4 2 + ⋯ = π 2 6 {\displaystyle \zeta (2)={\frac {1}{1^{2}}}+{\frac {1}{2^{2}}}+{\frac {1}{3^{2}}}+{\frac {1}{4^{2}}}+\dotsb ={\frac {\pi ^{2}}{6}}} ζ ( 4 ) = π 4 90 , ζ ( 6 ) = π 6 945 , … {\displaystyle \zeta (4)={\frac {\pi ^{4}}{90}},\quad \zeta (6)={\frac {\pi ^{6}}{945}},\quad \dotsc } π 2 8 = 1 1 2 + 1 3 2 + 1 5 2 + 1 7 2 + 1 9 2 + ⋯ {\displaystyle {\frac {\pi ^{2}}{8}}={\frac {1}{1^{2}}}+{\frac {1}{3^{2}}}+{\frac {1}{5^{2}}}+{\frac {1}{7^{2}}}+{\frac {1}{9^{2}}}+\dotsb } π − 3 4 = 1 2 ⋅ 3 ⋅ 4 − 1 4 ⋅ 5 ⋅ 6 + 1 6 ⋅ 7 ⋅ 8 ∓ ⋯ {\displaystyle {\frac {\pi -3}{4}}={\frac {1}{2\cdot 3\cdot 4}}-{\frac {1}{4\cdot 5\cdot 6}}+{\frac {1}{6\cdot 7\cdot 8}}\mp \dotsb } ==== Irrationalität ==== Johann Heinrich Lambert bewies 1761/1767 die Irrationalität der Kreiszahl. Damit stand erstmalig fest, dass eine exakte oder abschließende Berechnung nicht möglich ist. 1770 publizierte Lambert einen Kettenbruch, der heute meist in der Form 4 π = 1 + 1 2 3 + 2 2 5 + 3 2 7 + 4 2 9 + 5 2 11 + 6 2 ⋱ {\displaystyle {\frac {4}{\pi }}=1+{\frac {1^{2}}{3+\textstyle {\frac {2^{2}}{5+\textstyle {\frac {3^{2}}{7+\textstyle {\frac {4^{2}}{9+\textstyle {\frac {5^{2}}{11+\textstyle {\frac {6^{2}}{\;\,\ddots }}}}}}}}}}}}} geschrieben wird. Bei der Berechnung der Kreiszahl liefert er pro Schritt im Mittel etwa 0,76555 Dezimalstellen, im Vergleich zu anderen Kettenbrüchen relativ viel. === Numerische Verfahren ab dem 20. Jahrhundert === ==== Neue Algorithmen ==== Im 20. Jahrhundert wurden Iterationsverfahren entwickelt, die eine deutlich effizientere Berechnung „neuer“ Nachkommastellen von π {\displaystyle \pi } gestatten. 1914 fand der indische Mathematiker Srinivasa Ramanujan bei Untersuchungen von elliptischen Funktionen und Modulfunktionen die folgende Formel: 1 π = 8 9801 ⋅ ∑ n = 0 ∞ ( 4 n ) ! ⋅ ( 1103 + 26390 n ) ( n ! ) 4 ⋅ 396 4 n {\displaystyle {\frac {1}{\pi }}={\frac {\sqrt {8}}{9801}}\cdot \sum _{n=0}^{\infty }{\frac {(4n)!\cdot (1103+26390n)}{(n!)^{4}\cdot 396^{4n}}}} Die ersten Iterationen dieses Verfahrens liefern folgende Ergebnisse: Es wird also die Quadratwurzel aus 2 mit immer „längeren“ Näherungsbrüchen multipliziert. Pro Iteration liefert dieses Verfahren etwa 8 weitere korrekte Nachkommastellen. Diese hocheffizienten Verfahren wurden erst mit der Entwicklung von Computern mit Langzahlarithmetik interessant, durch die der reine Rechenaufwand immer weniger ins Gewicht fiel, so dass komplizierte Iterationsverfahren mit quadratischer oder noch höherer Konvergenz praktisch durchführbar wurden. ==== Chudnovsky-Algorithmus ==== Der 1988 veröffentlichte Chudnovsky-Algorithmus ist das schnellste derzeit bekannte Verfahren und wurde in allen aktuellen Rekordberechnungen eingesetzt. Er wurde aus dem Ramanujan-Ansatz entwickelt, arbeitet jedoch etwa 50 Prozent schneller, und basiert auf der Konvergenz einer verallgemeinerten hypergeometrischen Reihe: 1 π = 12 640320 3 ∑ k = 0 ∞ ( 6 k ) ! ⋅ ( 545140134 k + 13591409 ) ( 3 k ) ! ⋅ ( k ! ) 3 ⋅ ( − 640320 ) 3 k {\displaystyle {\frac {1}{\pi }}={\frac {12}{\sqrt {640320^{3}}}}\sum _{k=0}^{\infty }{\frac {(6k)!\cdot (545140134k+13591409)}{(3k)!\cdot (k!)^{3}\cdot (-640320)^{3k}}}} Eine technische Implementation beider Iterationsverfahren (Ramanujan und Chudnovsky) bietet die Software y-cruncher. === BBP-Reihen === 1995 entdeckte Simon Plouffe zusammen mit Peter Borwein und David Harold Bailey eine neuartige Reihendarstellung für π {\displaystyle \pi } : π = ∑ k = 0 ∞ 1 16 k ( 4 8 k + 1 − 2 8 k + 4 − 1 8 k + 5 − 1 8 k + 6 ) {\displaystyle \pi =\sum _{k=0}^{\infty }{\dfrac {1}{16^{k}}}\left({\dfrac {4}{8k+1}}-{\dfrac {2}{8k+4}}-{\dfrac {1}{8k+5}}-{\dfrac {1}{8k+6}}\right)} Diese Reihe (auch Bailey-Borwein-Plouffe-Formel genannt) ermöglicht es, die n {\displaystyle n} -te Stelle einer binären, hexadezimalen oder beliebigen Darstellung zu einer Zweierpotenz-Basis von π {\displaystyle \pi } zu berechnen, ohne dass zuvor die n − 1 {\displaystyle n-1} vorherigen Ziffernstellen berechnet werden müssen. Später wurden für π {\displaystyle \pi } weitere BBP-Reihen gefunden: π = 1 2 ∑ k = 0 ∞ 1 16 k ( 8 8 k + 2 + 4 8 k + 3 + 4 8 k + 4 − 1 8 k + 7 ) = 1 4 ∑ k = 0 ∞ 1 16 k ( 8 8 k + 1 + 8 8 k + 2 + 4 8 k + 3 − 2 8 k + 5 − 2 8 k + 6 − 1 8 k + 7 ) = ∑ k = 0 ∞ ( − 1 ) k 4 k ( 2 4 k + 1 + 2 4 k + 2 + 1 4 k + 3 ) {\displaystyle {\begin{aligned}\pi &={\frac {1}{2}}\sum _{k=0}^{\infty }{\frac {1}{16^{k}}}\left({\frac {8}{8k+2}}+{\frac {4}{8k+3}}+{\frac {4}{8k+4}}-{\frac {1}{8k+7}}\right)\\&={\frac {1}{4}}\sum _{k=0}^{\infty }{\frac {1}{16^{k}}}\left({\frac {8}{8k+1}}+{\frac {8}{8k+2}}+{\frac {4}{8k+3}}-{\frac {2}{8k+5}}-{\frac {2}{8k+6}}-{\frac {1}{8k+7}}\right)\\&=\;\;\sum _{k=0}^{\infty }{\frac {(-1)^{k}}{4^{k}}}\left({\frac {2}{4k+1}}+{\frac {2}{4k+2}}+{\frac {1}{4k+3}}\right)\end{aligned}}} === Tröpfelalgorithmus === Eng verwandt mit den Verfahren zur Ziffernextraktion sind Tröpfelalgorithmen, bei denen die Ziffern eine nach der anderen berechnet werden. Den ersten solchen Algorithmus zur Berechnung von π {\displaystyle \pi } fand Stanley Rabinowitz. Seitdem sind weitere Tröpfelalgorithmen zur Berechnung von π {\displaystyle \pi } gefunden worden. === Methode von Gauß, Brent und Salamin === Die Berechnung der Bogenlänge einer Lemniskate über elliptische Integrale und deren Approximation über das Arithmetisch-geometrische Mittel nach Gauß liefert das schnell konvergierende Verfahren von Salamin und Brent zur numerischen Berechnung. Grundlage hierfür ist die folgende zuerst von Gauß vermutete Darstellung von π {\displaystyle \pi } : 1 π = A G M ( 1 , 2 ) ∫ 0 1 2 d x 1 − x 4 {\displaystyle {\frac {1}{\pi }}=\mathrm {AGM} (1,{\sqrt {2}})\int _{0}^{1}{\frac {2\mathrm {d} x}{\sqrt {1-x^{4}}}}} Letzteres Integral ist auch als lemniskatische Konstante bekannt. Es gilt dann π = 4 A G M ( 1 , 1 2 ) 2 1 − ∑ j = 1 ∞ 2 j + 1 c j 2 {\displaystyle \pi ={\frac {4\mathrm {AGM} (1,{\frac {1}{\sqrt {2}}})^{2}}{1-\sum _{j=1}^{\infty }2^{j+1}c_{j}^{2}}}} ,wobei sich das arithmetisch-geometrische Mittel über die Iteration a n = a n − 1 + b n − 1 2 , b n = a n − 1 b n − 1 {\displaystyle a_{n}={\frac {a_{n-1}+b_{n-1}}{2}},\qquad b_{n}={\sqrt {a_{n-1}b_{n-1}}}} mit zwei initialen Argumenten a 0 , b 0 > 0 {\displaystyle a_{0},b_{0}>0} berechnet und c n 2 = a n 2 − b n 2 {\displaystyle c_{n}^{2}=a_{n}^{2}-b_{n}^{2}} gesetzt wird. == Nichtnumerische Berechnungsverfahren == === Berechnung mittels Flächenformel === Diese Berechnung nutzt den Zusammenhang aus, dass π {\displaystyle \pi } in der Flächenformel des Kreises enthalten ist, dagegen nicht in der Flächenformel des umschreibenden Quadrats. Die Formel für den Flächeninhalt des Kreises mit Radius r {\displaystyle r} lautet A K = π r 2 {\displaystyle A_{K}=\pi r^{2}} ,der Flächeninhalt des Quadrates mit Seitenlänge 2 r {\displaystyle 2r} errechnet sich als A Q = ( 2 r ) 2 {\displaystyle A_{Q}=(2r)^{2}} .Für das Verhältnis der Flächeninhalte eines Kreises und seines umschreibenden Quadrats ergibt sich also A K A Q = π r 2 ( 2 r ) 2 = π 4 {\displaystyle {\frac {A_{K}}{A_{Q}}}={\frac {\pi r^{2}}{(2r)^{2}}}={\frac {\pi }{4}}} .Damit lässt sich π {\displaystyle \pi } als das Vierfache dieses Verhältnisses schreiben: π = 4 A K A Q {\displaystyle \pi =4\,{\frac {A_{K}}{A_{Q}}}} . ==== Programm ==== Als Beispiel ist ein Algorithmus angegeben, in dem die Flächenformel demonstriert wird, mit der π {\displaystyle \pi } näherungsweise berechnet werden kann. Man legt dazu über das Quadrat ein Gitter und berechnet für jeden einzelnen Gitterpunkt, ob er auch im Kreis liegt. Das Verhältnis der Gitterpunkte innerhalb des Kreises zu den Gitterpunkten innerhalb des Quadrats wird mit 4 multipliziert. Die Genauigkeit der damit gewonnenen Näherung von π {\displaystyle \pi } hängt von der Gitterweite ab und wird mittels r {\displaystyle r} kontrolliert. Mit r = 10 {\displaystyle r=10} erhält man z. B. 3,16 und mit r = 100 {\displaystyle r=100} bereits 3,1428. Für das Ergebnis 3,14159 ist allerdings schon r = 10000 {\displaystyle r=10000} zu setzen, was sich durch den zweidimensionalen Lösungsansatz auf die Zahl der notwendigen Rechenvorgänge in quadratischer Form niederschlägt. Anmerkung: Das obige Programm ist nicht für die schnellstmögliche Ausführung auf einem realen Computersystem optimiert, sondern aus Gründen der Verständlichkeit so klar wie möglich formuliert worden. Weiterhin ist die Kreisfläche insofern unpräzise bestimmt, als nicht die Koordinaten der Mitte für die jeweiligen Flächeneinheiten benutzt werden, sondern der Flächenrand. Durch die Betrachtung eines Vollkreises, dessen Fläche für die erste und letzte Zeile gegen Null geht, ist die Abweichung für großes r {\displaystyle r} marginal. Die Konstante Pi ist für den Alltagsgebrauch in Computerprogrammen typischerweise bereits vorberechnet vorhanden, üblicherweise ist der zugehörige Wert dabei mit etwas mehr Stellen angegeben, als ihn die leistungsfähigsten Datentypen dieser Computersprache aufnehmen können. ==== Alternatives Programm ==== Dieses Programm summiert die Fläche des Kreises aus im Verhältnis zum Radius sehr schmalen Streifen. Es verwendet die Gleichungen y = ± r 2 − x 2 {\displaystyle y=\pm {\sqrt {r^{2}-x^{2}}}} und π = A K r 2 {\displaystyle \pi ={\frac {A_{K}}{r^{2}}}} sowie π = ∫ − 1 1 2 1 − x 2 d x {\displaystyle \pi =\int _{-1}^{1}2{\sqrt {1-x^{2}}}\,\mathrm {d} x} . Die x-Koordinaten der untersuchten Fläche gehen von − 1 {\displaystyle -1} bis + 1 {\displaystyle +1} . Da Kreise rund sind und dieser Kreis sein Zentrum auf den Koordinaten 0 , 0 {\displaystyle 0,0} hat, liegen die y-Koordinaten ebenfalls im Bereich von − 1 {\displaystyle -1} bis + 1 {\displaystyle +1} . Das Programm teilt die zu untersuchende Fläche in 2 Millionen schmale Streifen auf. Jeder dieser Streifen hat dieselbe Breite, nämlich 1 / n {\displaystyle 1/n} . Die Oberkante eines jeden Streifens ist jedoch unterschiedlich und ergibt sich aus der obigen Formel zu 1 − x 2 {\displaystyle {\sqrt {1-x^{2}}}} , im Code wird das als sqrt(1 - x*x) geschrieben. Die Höhe eines jeden Streifens geht von der Oberkante bis zur Unterkante. Da die beiden Kanten bei Kreisen gleich weit von der Mittellinie entfernt sind, ist die Höhe genau das Doppelte der Kantenlänge, daher die 2 im Code. Nach dem Durchlaufen der for-Schleife befindet sich in der Variablen s der Flächeninhalt des Kreises mit Radius 1. Um aus dieser Zahl den Wert von Pi zu ermitteln, muss diese Zahl gemäß der Formel A = π ⋅ r 2 {\displaystyle A=\pi \cdot r^{2}} noch durch r 2 {\displaystyle r^{2}} geteilt werden. In diesem Beispiel ist r = 1 {\displaystyle r=1} , daher ist das im Programmcode weggelassen. === Statistische Bestimmung === ==== Berechnung mit einem Monte-Carlo-Algorithmus ==== Eine Methode zur Bestimmung von π {\displaystyle \pi } ist die statistische Methode. Für die Berechnung lässt man zufällige Punkte auf ein Quadrat „regnen“ und berechnet, ob sie innerhalb oder außerhalb eines einbeschriebenen Kreises liegen. Der Anteil der innen liegenden Punkte ist approximiert π 4 {\displaystyle {\tfrac {\pi }{4}}} . Diese Methode ist ein Monte-Carlo-Algorithmus; die Genauigkeit der nach einer festen Schrittzahl erreichten Näherung von π {\displaystyle \pi } lässt sich daher nur mit einer Irrtumswahrscheinlichkeit angeben. Durch das Gesetz der großen Zahlen steigt jedoch im Mittel die Genauigkeit mit der Schrittzahl. Der Algorithmus für diese Bestimmung ist: Die 4.0 im Code ergibt sich daraus, dass in der Tröpfchensimulation nur die Anzahl für einen Viertelkreis berechnet wurde. Um daraus die (hochgerechnete) Anzahl für einen ganzen Kreis zu bekommen, muss die berechnete Anzahl noch mit 4 multipliziert werden. Da die Zahl Pi das Verhältnis zwischen der Kreisfläche und dem Quadrat des Radius ist, muss die so erhaltene Zahl noch durch das Quadrat des Radius geteilt werden. Der Radius ist in diesem Fall 1, daher kann das Teilen weggelassen werden. ==== Buffonsches Nadelproblem ==== Eine weitere auf Wahrscheinlichkeiten beruhende und ungewöhnliche Methode ist das Buffonsche Nadelproblem, von Georges-Louis Leclerc de Buffon (1733 vorgetragen, 1777 veröffentlicht). Buffon warf Stöcke über die Schulter auf einen gekachelten Fußboden. Anschließend zählte er, wie oft sie die Fugen trafen. Eine praktikablere Variante beschrieb Jakow Perelman im Buch Unterhaltsame Geometrie. Man nehme eine ca. 2 cm lange Nadel – oder einen anderen Metallstift mit ähnlicher Länge und Durchmesser, am besten ohne Spitze – und zeichne auf ein Blatt Papier eine Reihe dünner paralleler Striche, die um die doppelte Länge der Nadel voneinander entfernt sind. Dann lässt man die Nadel sehr häufig (mehrere hundert- oder tausendmal) aus einer beliebigen, aber konstanten Höhe auf das Blatt fallen und notiert, ob die Nadel eine Linie schneidet oder nicht. Es kommt nicht darauf an, wie man das Berühren eines Striches durch ein Nadelende zählt. Die Division der Gesamtzahl N {\displaystyle N} der Nadelwürfe durch die Zahl P {\displaystyle P} der Fälle, in denen die Nadel eine Linie geschnitten hat, nähert sich (stochastisch) mit zunehmender Zahl der Würfe an die Formel N P = π 2 d ℓ {\displaystyle {\frac {N}{P}}={\frac {\pi }{2}}{\frac {d}{\ell }}} an, wobei ℓ {\displaystyle \ell } die Länge der Nadeln und d {\displaystyle d} den Abstand der Linien auf dem Papier bezeichnet. Daraus ergibt sich leicht eine Näherung für π {\displaystyle \pi } . Die Nadel kann dabei auch gebogen oder mehrfach geknickt sein, wobei in diesem Fall auch mehr als ein Schnittpunkt pro Wurf möglich ist und entsprechend mehrfach gezählt werden muss. In der Mitte des 19. Jahrhunderts kam der Schweizer Astronom Rudolf Wolf durch 5000 Nadelwürfe auf einen Wert von π = 3,159 6 ± 0,051 8 {\displaystyle \pi =3{,}1596\pm 0{,}0518} . == Rekorde der Berechnung von π == == Geometrische Konstruktionen == Aufgrund der Transzendenz von π {\displaystyle \pi } ist es nicht möglich, durch eine Konstruktion mit Zirkel und Lineal eine Strecke mit der exakten Länge von π {\displaystyle \pi } Längeneinheiten zu erstellen. Es existieren jedoch sowohl eine Reihe von Zirkel-und-Lineal-Konstruktionen, die sehr gute Näherungen liefern, als auch Konstruktionen, die dank eines weiteren Hilfsmittels – zusätzlich zu Zirkel und Lineal – eine exakte Konstruktion ermöglichen. Als ein solches weiteres Hilfsmittel kommen dabei insbesondere als Quadratrizes bezeichnete Kurven zum Einsatz, die z. B. mit Hilfe einer sogenannten Dynamische-Geometrie-Software (DGS) erzeugt und als Ausdruck u. a. auf Papier Verwendung finden. Zudem gibt es einige spezielle mechanische Zeichengeräte und eventuell eigens angefertigte Kurvenlineale, mit denen sich solche Kurven zeichnen lassen. Ohne direktischen praktischen Nutzen, doch geometrisch anschaulich, lässt sich π {\displaystyle \pi } als Flächeninhalt eines angepassten Sierpinski-Teppiches konstruieren. === Näherungskonstruktionen === Zur geometrischen Konstruktion der Zahl π {\displaystyle \pi } gibt es die Näherungskonstruktion von Kochański aus dem Jahr 1685, mit der man einen Näherungswert der Kreiszahl mit einem Fehler von weniger als 0,002 Prozent bestimmen kann. Es handelt sich also um eine Näherungskonstruktion für die (exakt nicht mögliche) Quadratur des Kreises. 143 Jahre später, nämlich 1828, veröffentlichte C. G. Specht seine Zweite Annäherungs-Construction des Kreis-Umfanges im Journal für die reine und angewandte Mathematik. Für die Annäherung fand er den Wert 5 ⋅ 439 278 = 6,283 18528 … {\displaystyle 5\cdot {\sqrt {\frac {439}{278}}}=6{,}28318528\ldots } Halbiert man diesen Wert, ergibt sich eine Dezimalzahl, bei der sieben Nachkommastellen mit denen der Kreiszahl π {\displaystyle \pi } übereinstimmen: 3,141 592 6 40 1 … ≈ π {\displaystyle 3{,}141\;592\;6{\color {red}40\;1\ldots }\;\approx \pi } Bei einem Kreis mit Radius r = 1 {\displaystyle r=1} ist dieser Wert auch gleich dem Flächeninhalt des Dreiecks A E M {\displaystyle AEM} , mit anderen Worten, der Flächeninhalt des Dreiecks ist nahezu gleich dem des Kreises. Beachtenswert ist, erst im Jahr 1914, d. h. 86 Jahre später, verbesserte Srinivasa Ramanujan – in seiner zweiten Quadratur des Kreises – die Genauigkeit des nahezu flächengleichen Quadrats um eine auf acht gemeinsame Nachkommastellen mit der Kreiszahl π {\displaystyle \pi } . Eine zeichnerische Darstellung wird in dem oben angeführten Journal nicht erfasst; hierzu die Anmerkung des Herausgebers: Die nachfolgende Beschreibung der nebenstehenden Konstruktion ist eine Anlehnung an das Original der Konstruktionsbeschreibung.Zeichne zuerst den Einheitskreis um den Punkt A {\displaystyle A} und dann ab A {\displaystyle A} eine gerade Linie; dabei ergibt sich a {\displaystyle a} . Anschließend wird in A {\displaystyle A} eine Senkrechte zur Geraden errichtet; sie erzeugt M {\displaystyle M} . Es folgen auf der Geraden ab a {\displaystyle a} hintereinander vier Halbkreise mit dem Radius A a ¯ {\displaystyle {\overline {Aa}}} jeweils um den sich neu ergebenden Schnittpunkt, dabei entstehen die Punkte m , p , q {\displaystyle m,p,q} und B {\displaystyle B} . Nach der Dreiteilung der Strecken m p ¯ {\displaystyle {\overline {mp}}} in n {\displaystyle n} und o {\displaystyle o} sowie q B ¯ {\displaystyle {\overline {qB}}} in r {\displaystyle r} und s {\displaystyle s} , wird nun der Punkt M {\displaystyle M} mit m {\displaystyle m} verbunden. Die dabei entstandene Strecke M m ¯ {\displaystyle {\overline {Mm}}} auf die Senkrechte ab A {\displaystyle A} abgetragen ergibt R {\displaystyle R} . Verbinde auch den Punkt R {\displaystyle R} mit r {\displaystyle r} und übertrage die neue Strecke R r ¯ {\displaystyle {\overline {Rr}}} ab A {\displaystyle A} auf die Senkrechte; es ergibt sich C {\displaystyle C} . Es geht weiter mit den Verbindungen der Punkte C {\displaystyle C} mit o {\displaystyle o} sowie C {\displaystyle C} mit B {\displaystyle B} . Beim Übertragen der Strecke A B ¯ {\displaystyle {\overline {AB}}} auf die Strecke C o ¯ {\displaystyle {\overline {Co}}} ab C {\displaystyle C} ergibt sich c {\displaystyle c} . Abschließend zeichne ab c {\displaystyle c} eine Parallele zur Strecke A B ¯ {\displaystyle {\overline {AB}}} , die C B ¯ {\displaystyle {\overline {CB}}} in d {\displaystyle d} schneidet. Die somit entstandene Strecke C d ¯ {\displaystyle {\overline {Cd}}} entspricht annähernd dem Wert 2 π {\displaystyle 2\pi } . Die Annäherung an die Kreiszahl π = U d {\displaystyle \pi ={\tfrac {U}{d}}} kann z. B. auf folgende Art und Weise verdeutlicht werden: Wäre der Durchmesser d {\displaystyle d} eines Kreises 200 k m {\displaystyle 200\;\mathrm {km} } , würde sein angenäherter Umfang U = d π {\displaystyle U=d\pi } nur um ca. 2 , 7 m m {\displaystyle 2{,}7\;\mathrm {mm} } kürzer als sein theoretischer Wert sein. === Mithilfe der Quadratrix des Hippias === Die nebenstehende Darstellung zeigt die Kreiszahl π {\displaystyle \pi } als Strecke, erstellt mit Hilfe der Quadratrix des Hippias. Es beginnt mit einer Geraden ab dem Punkt A {\displaystyle A} und einer Senkrechten auf diese Gerade durch A {\displaystyle A} . Anschließend wird der Halbkreis mit dem Radius A B ¯ = 1 {\displaystyle {\overline {AB}}=1} um A {\displaystyle A} gezogen; dabei ergeben sich die Schnittpunkte B , D {\displaystyle B,D} und E {\displaystyle E} . Nun konstruiert man das Quadrat A B C D {\displaystyle ABCD} mit der Seitenlänge 1. Es folgt die Festlegung der Quadratrix, ohne „Lücke“ auf der x {\displaystyle x} -Achse. Hierfür wird der Bezug der Kurve nicht auf die x {\displaystyle x} -Achse, sondern auf die y {\displaystyle y} -Achse gewählt. Die Quadratrix (rot) verläuft somit durch D {\displaystyle D} und E {\displaystyle E} . Für diese Lage der Quadratrix ( a = 1 {\displaystyle a=1} ) gilt die kartesische Gleichung: x = y ⋅ cot ⁡ ( π 2 a ⋅ y ) {\displaystyle x=y\cdot \cot \left({\frac {\pi }{2a}}\cdot y\right)} Die Quadratrix schneidet nach dem Satz des Dinostratos die Seite A B ¯ {\displaystyle {\overline {AB}}} ihres zugehörigen Quadrates im Punkt F {\displaystyle F} und generiert damit auf der Geraden, nun als Zahlengerade genutzt, den Wert 2 π {\displaystyle {\tfrac {2}{\pi }}} . Das Errichten der Senkrechten auf die Strecke A B ¯ {\displaystyle {\overline {AB}}} ab 2 π {\displaystyle {\tfrac {2}{\pi }}} bis zum Halbkreis ergibt den Schnittpunkt G {\displaystyle G} . Nach der Verlängerung der Strecke B C ¯ {\displaystyle {\overline {BC}}} über C {\displaystyle C} hinaus und dem Zeichnen einer geraden Linie ab A {\displaystyle A} durch G {\displaystyle G} bis zur Verlängerung ergibt sich der Schnittpunkt H {\displaystyle H} . Eine Möglichkeit u. a. ist nun, die Länge der Strecke A H ¯ {\displaystyle {\overline {AH}}} mit Hilfe des Strahlensatzes zu bestimmen. In der Zeichnung ist ersichtlich, dass 2 π {\displaystyle {\tfrac {2}{\pi }}} der Strecke A F ¯ {\displaystyle {\overline {AF}}} entspricht. Infolgedessen sind nach dem ersten Strahlensatz die Verhältnisse der Abschnitte | A F | : | A B | = | A G | : | A H | {\displaystyle |AF|:|AB|=|AG|:|AH|} ,umgeformt und die entsprechenden Werte eingesetzt ergibt sich | A H | = 1 1 2 π ⋅ 1 = π 2 {\displaystyle |AH|={\frac {\frac {1}{1}}{\frac {2}{\pi }}}\cdot 1={\frac {\pi }{2}}} .Nun wird der Kreisbogen mit dem Radius A H ¯ {\displaystyle {\overline {AH}}} um A {\displaystyle A} bis auf die Zahlengerade gezogen; es entsteht der Schnittpunkt π 2 {\displaystyle {\tfrac {\pi }{2}}} . Der abschließende Thaleskreis über π 2 {\displaystyle {\tfrac {\pi }{2}}} ab dem Punkt A {\displaystyle A} ergibt somit exakt die Kreiszahl π {\displaystyle \pi } . === Mithilfe der archimedischen Spirale === Eine sehr einfache Konstruktion der Kreiszahl π {\displaystyle \pi } zeigt das folgende Bild, erzeugt mithilfe der archimedischen Spirale. Wird als Windungsabstand (mit a = 2 {\displaystyle a=2} ) a ⋅ π 2 {\displaystyle a\cdot {\tfrac {\pi }{2}}} gewählt, so schneidet der Graph der Spirale die y {\displaystyle y} -Achse in B {\displaystyle B} und liefert somit bereits nach einer Vierteldrehung O B ¯ = π . {\displaystyle {\overline {OB}}=\pi .} Der auf die y {\displaystyle y} -Achse projizierte Halbkreis mit Radius r = 1 {\displaystyle r=1} sowie die Strecke O C ¯ = π {\displaystyle {\overline {OC}}=\pi } (grüne Linien) dienen lediglich der Verdeutlichung des Ergebnisses. === Mithilfe der Sinuslinie === Die Konstruktion der Kreiszahl π {\displaystyle \pi } mithilfe des Graphen der Sinusfunktion f ( x ) = s i n ( x ) {\displaystyle f(x)=\mathrm {sin} (x)} , auch als Sinuslinie bezeichnet, ist eine der einfachsten ihrer Art. Die Sinuskurve wird mittels Schablone oder einer sogenannten Dynamische-Geometrie-Software (DGS) auf einer Zahlengeraden eingezeichnet. Sie durchläuft zuerst den Punkt 0 {\displaystyle 0} und liefert schließlich beim zweiten Überqueren der Zahlengerade (Winkel α = 180 ∘ {\displaystyle \alpha =180^{\circ }} ) die Kreiszahl π {\displaystyle \pi } als Länge, d. h. den halben Umfang des Einheitskreises. == Experimentelle Konstruktion == Die folgende Methode nutzt die in der Kreisfläche „versteckte“ Kreiszahl π {\displaystyle \pi } , um mit Hilfe experimenteller Physik den Wert von π {\displaystyle \pi } als messbare Größe darzustellen.Ein Zylinder mit dem Radius r = 1 {\displaystyle r=1} und der Gefäßhöhe h G Z ≈ 1 , 5 {\displaystyle h_{GZ}\approx 1{,}5} wird bis auf die Höhe h Z = 1 {\displaystyle h_{Z}=1} mit Wasser gefüllt. Die so bestimmte Wassermenge wird nun vom Zylinder in einen Quader umgefüllt, der eine quadratische Grundfläche mit Seitenlänge a = 1 {\displaystyle a=1} und eine Gefäßhöhe von h G Q ≈ 4 {\displaystyle h_{GQ}\approx 4} aufweist. Wassermenge im Zylinder V Z {\displaystyle V_{Z}} in Volumeneinheiten [VE]: V Z = r 2 π h Z = 1 3 ⋅ π = 3,141 59 … [ V E ] {\displaystyle V_{Z}=r^{2}\pi h_{Z}=1^{3}\cdot \pi =3{,}14159\dotso \,\mathrm {[VE]} } Wasserstand im Quader h Q {\displaystyle h_{\text{Q}}} in Längeneinheiten [LE]: V Q = a 2 h Q = 1 2 h Q = V Z {\displaystyle V_{Q}=a^{2}h_{Q}=1^{2}h_{Q}=V_{Z}} , daraus h Q {\displaystyle h_{Q}} h Q = 1 3 π 1 2 = π = 3,141 59 … [ L E ] {\displaystyle h_{Q}={\frac {1^{3}\pi }{1^{2}}}=\pi =3{,}14159\dotso \,\mathrm {[LE]} } Das Ergebnis zeigt: Eine Wassermenge, die in einem Zylinder mit dem Radius r = 1 {\displaystyle r=1} den Wasserstand 1 [ L E ] {\displaystyle 1\;\mathrm {[LE]} } hat, liefert – umgefüllt in den Quader ( a = 1 ) {\displaystyle (a=1)} – den Wasserstand π [ L E ] {\displaystyle \pi \,\mathrm {[LE]} } . == Formeln und Anwendungen == === Formeln, die π enthalten === ==== Formeln der Geometrie ==== In der Geometrie treten die Eigenschaften von π {\displaystyle \pi } als Kreiszahl unmittelbar hervor. Umfang eines Kreises mit Radius r {\displaystyle r} : U = 2 π r {\displaystyle U=2\pi r} Fläche eines Kreises mit Radius r {\displaystyle r} : A = π r 2 {\displaystyle A=\pi r^{2}} Volumen einer Kugel mit Radius r {\displaystyle r} : V = 4 3 π r 3 {\displaystyle V={\frac {4}{3}}\pi r^{3}} Oberfläche einer Kugel mit Radius r {\displaystyle r} : A O = 4 π r 2 {\displaystyle A_{O}=4\pi r^{2}} Volumen eines Zylinders mit Radius r {\displaystyle r} und Höhe a {\displaystyle a} : V = r 2 π a {\displaystyle V=r^{2}\pi a} Volumen eines durch die Rotation des Graphen y = f ( x ) {\displaystyle y=f(x)} um die x {\displaystyle x} -Achse definierten Rotationskörpers mit den Grenzen a {\displaystyle a} und b {\displaystyle b} : V = π ∫ a b f ( x ) 2 d x {\displaystyle V=\pi \int _{a}^{b}f(x)^{2}\mathrm {d} x} ==== Formeln der Analysis ==== Im Bereich der Analysis spielt π {\displaystyle \pi } ebenfalls in vielen Zusammenhängen eine Rolle, zum Beispiel bei der Integraldarstellung π = ∫ − ∞ ∞ d x 1 + x 2 = 2 ⋅ ∫ − 1 1 d x 1 + x 2 {\displaystyle \pi =\int _{-\infty }^{\infty }{\frac {\mathrm {d} x}{1+x^{2}}}=2\cdot \int _{-1}^{1}{\frac {\mathrm {d} x}{1+x^{2}}}} , die Karl Weierstraß 1841 nutzte, um π {\displaystyle \pi } zu definieren, der unendlichen Reihe: ∑ n = 1 ∞ 1 n 2 = π 2 6 {\displaystyle \sum _{n=1}^{\infty }{\frac {1}{n^{2}}}={\frac {\pi ^{2}}{6}}} (Euler, siehe Basler Problem und auch Riemannsche Zetafunktion), der gaußschen Normalverteilung: ∫ − ∞ ∞ e − x 2 d x = π {\displaystyle \int _{-\infty }^{\infty }e^{-x^{2}}\mathrm {d} x={\sqrt {\pi }}} oder in anderer Darstellung: ∫ R 2 e − | x | 2 d x = π {\displaystyle \int _{\mathbb {R} ^{2}}e^{-|x|^{2}}\mathrm {d} x=\pi } , der Stirling-Formel als Näherung der Fakultät für große n {\displaystyle n} : n ! ≈ 2 π n ( n e ) n {\displaystyle n!\approx {\sqrt {2\pi n}}\left({\frac {n}{e}}\right)^{n}} , der Fourier-Transformation: F ( ω ) = F { f } ( ω ) = 1 2 π ∫ − ∞ ∞ f ( t ) e − i ω t d t {\displaystyle F(\omega )={\mathcal {F}}\{f\}(\omega )={\frac {1}{\sqrt {2\pi }}}\int _{-\infty }^{\infty }f(t)e^{-\mathrm {i} \omega t}\,\mathrm {d} t} . den Formeln der Funktionentheorie: Wie für alle Teilgebiete der Analysis ist auch für die Funktionentheorie (und darüber hinaus für die gesamte komplexe Analysis) die Kreiszahl von grundlegender Bedeutung. Als herausragende Beispiele sind hier die Euler-Identität e i π + 1 = 0 {\displaystyle e^{\mathrm {i} \pi }+1=0} zu nennen sowie die Integralformel von Cauchy f ( z ) = 1 2 π i ∮ γ f ( ζ ) ζ − z d ζ {\displaystyle f(z)={\frac {1}{2\pi \mathrm {i} }}\oint _{\gamma }{\frac {f(\zeta )}{\zeta -z}}\mathrm {d} \zeta } .Darüber hinaus wird die Bedeutung der Kreiszahl ebenfalls augenfällig in den Formeln zur Partialbruchzerlegung der komplexwertigen trigonometrischen Funktionen, die im Zusammenhang mit dem Satz von Mittag-Leffler stehen. Hier sind vor allem die Partialbruchzerlegung des Kotangens: π cot ⁡ ( π z ) = ∑ n = − ∞ + ∞ 1 z + n = 1 z + ∑ n = 1 ∞ ( 1 z − n + 1 z + n ) = 1 z + 2 z ⋅ ∑ n = 1 ∞ 1 z 2 − n 2 = z ⋅ ∑ n = − ∞ + ∞ 1 z 2 − n 2 ( z ∈ C ∖ Z ) {\displaystyle {\begin{aligned}\pi \cot(\pi z)&=\sum _{n={-\infty }}^{+\infty }{\frac {1}{z+n}}\\&={\frac {1}{z}}+\sum _{n=1}^{\infty }\left({\frac {1}{z-n}}+{\frac {1}{z+n}}\right)\\&={\frac {1}{z}}+2z\cdot \sum _{n=1}^{\infty }{\frac {1}{z^{2}-n^{2}}}\\&=z\cdot \sum _{n={-\infty }}^{+\infty }{\frac {1}{z^{2}-n^{2}}}\quad (z\in {\mathbb {C} \setminus \mathbb {Z} })\\\end{aligned}}} zu erwähnen sowie die daraus – neben weiteren! – zu gewinnenden Partialbruchzerlegungen zu Sinus und Kosinus: ( π sin ⁡ ( π z ) ) 2 = ∑ n = − ∞ + ∞ 1 ( z − n ) 2 ( z ∈ C ∖ Z ) ( π cos ⁡ ( π z ) ) 2 = ∑ n = − ∞ + ∞ 1 ( z − 2 n − 1 2 ) 2 ( z ∈ C ∖ { 2 n − 1 2 : n ∈ Z } ) {\displaystyle {\begin{aligned}\left({\frac {\pi }{\sin(\pi z)}}\right)^{2}&=\sum _{n={-\infty }}^{+\infty }{\frac {1}{(z-n)^{2}}}\quad (z\in {\mathbb {C} \setminus \mathbb {Z} })\\\left({\frac {\pi }{\cos(\pi z)}}\right)^{2}&=\sum _{n={-\infty }}^{+\infty }{\frac {1}{(z-{\tfrac {2n-1}{2}})^{2}}}\quad \left(z\in \mathbb {C} \setminus \left\{{\frac {2n-1}{2}}\colon n\in \mathbb {Z} \right\}\right)\\\end{aligned}}} Die obige Partialbruchreihe zum Sinus liefert dann durch Einsetzen von z = 1 2 {\displaystyle z={\frac {1}{2}}} die bekannte Reihendarstellung π 2 8 = 1 + 1 9 + 1 25 + 1 49 + ⋯ = ∑ n = 1 ∞ 1 ( 2 n − 1 ) 2 {\displaystyle {\frac {{\pi }^{2}}{8}}=1+{\frac {1}{9}}+{\frac {1}{25}}+{\frac {1}{49}}+\cdots =\sum _{n=1}^{\infty }{\frac {1}{(2n-1)^{2}}}} ,die ihrerseits direkt zu der eulerschen Reihendarstellung π 2 6 = 1 + 1 4 + 1 9 + 1 16 + ⋯ = ∑ n = 1 ∞ 1 n 2 {\displaystyle {\frac {{\pi }^{2}}{6}}=1+{\frac {1}{4}}+{\frac {1}{9}}+{\frac {1}{16}}+\cdots =\sum _{n=1}^{\infty }{\frac {1}{n^{2}}}} führt, siehe Basler Problem. Neben diesen von den Partialbruchreihen herrührenden π-Formeln kennt die Funktionentheorie noch eine große Anzahl weiterer davon, die statt der Darstellung mit unendlichen Reihen eine Darstellung mittels unendlicher Produkte aufweisen. Viele von ihnen gehen auf das Werk von Leonhard Euler zurück (s. u.). ==== Formeln der Zahlentheorie ==== Die relative Häufigkeit, dass zwei zufällig gewählte natürliche Zahlen, die unterhalb einer Schranke M {\displaystyle M} liegen, teilerfremd sind, strebt mit M → ∞ {\displaystyle M\rightarrow \infty } gegen 6 π 2 {\displaystyle {\frac {6}{\pi ^{2}}}} (Satz von Ernesto Cesàro, 1881). Nimmt man eine ganze Zahl z, deren Dezimaldarstellung aus n {\displaystyle n} Fünfen besteht, und berechnet das 10 n + 2 {\displaystyle 10^{n+2}} -Fache des Sinus des z-ten Teils eines Grades, dann strebt das Resultat mit wachsendem n {\displaystyle n} gegen π: lim n → ∞ 10 n + 2 sin ⁡ ( 1 ∘ 55 … 5 ⏟ n − mal ) = π {\displaystyle \lim _{n\to \infty }10^{n+2}\sin {\bigg (}{\frac {1^{\circ }}{\underbrace {55\dots 5} _{n-{\text{mal}}}}}{\bigg )}=\pi } ==== Formeln der Physik ==== In der Physik spielt π {\displaystyle \pi } neben der Kreisbewegung: ω = 2 π f {\displaystyle \omega =2\pi f} (Winkelgeschwindigkeit gleich 2 π {\displaystyle 2\pi } mal Umlauffrequenz)vor allem bei Wellen eine Rolle, da dort π {\displaystyle \pi } über die Sinus- und Kosinusfunktion eingeht; somit also zum Beispiel in der Quantenmechanik: Δ x Δ p ≥ h 4 π {\displaystyle \Delta x\Delta p\geq {\frac {h}{4\pi }}} (Heisenbergsche Unschärferelation),außerdem in der Berechnung der Knicklast F K = π 2 E I s 2 {\displaystyle F_{K}={\frac {\pi ^{2}EI}{s^{2}}}} und bei der Reibung von Partikeln in Flüssigkeiten (Gesetz von Stokes) F R = 6 π η r v {\displaystyle F_{R}=6\,\pi \,\eta \,r\,v} . ==== Produktformeln von Leonhard Euler ==== Wird die Folge der Primzahlen mit ( p k ) k ∈ N = ( 2 , 3 , 5 , … ) {\displaystyle {\bigl (}p_{k}{\bigr )}_{k\in \mathbb {N} }={\bigl (}2,3,5,\dots {\bigr )}} bezeichnet, so gilt:Siehe dazu auch die Artikel über die Zeta-Funktion ζ {\displaystyle \zeta } und insbesondere den Abschnitt Funktionswerte für gerade natürliche Zahlen.Auf Euler gehen auch die folgenden Produktformeln zurück, welche die Kreiszahl mit der komplexen Gammafunktion und dem komplexen Sinus und Kosinus verbinden:Die erste der drei folgenden Formeln bezeichnet man auch als eulerschen Ergänzungssatz. Bei den beiden anschließenden Produktformeln für Sinus und Kosinus handelt es sich um absolut konvergente Produkte. Beide Produktformeln ergeben sich aus dem Ergänzungssatz, wobei die Produktformel des Kosinus ihrerseits wegen cos ⁡ ( z ) = sin ⁡ ( 2 z ) 2 sin ⁡ ( z ) {\displaystyle \cos(z)={\tfrac {\sin(2z)}{2\sin(z)}}} eine direkte Anwendung der Produktformel des Sinus ist. Γ ( z ) ⋅ Γ ( 1 − z ) = π sin ⁡ ( π z ) ( z ∈ C ∖ Z ) sin ⁡ ( π z ) = π z ∏ k = 1 ∞ ( 1 − z 2 k 2 ) ( z ∈ C ) cos ⁡ ( π z ) = ∏ k = 1 ∞ ( 1 − 4 z 2 ( 2 k − 1 ) 2 ) ( z ∈ C ) {\displaystyle {\begin{aligned}\Gamma (z)\cdot \Gamma (1-z)&={\frac {\pi }{\sin(\pi z)}}\quad (z\in \mathbb {C} \setminus \mathbb {Z} )\\\sin(\pi z)&=\pi z\prod _{k=1}^{\infty }\left(1-{\frac {z^{2}}{k^{2}}}\right)\quad (z\in \mathbb {C} )\\\cos(\pi z)&=\prod _{k=1}^{\infty }\left(1-{\frac {4z^{2}}{(2k-1)^{2}}}\right)\quad (z\in \mathbb {C} )\\\end{aligned}}} Die Produktformel des Sinus führt dann mit z = i {\displaystyle z=\mathrm {i} } zu dieser interessanten Beziehung (Folge A156648 in OEIS): ∏ k = 1 ∞ ( 1 + 1 k 2 ) = e π − e − π 2 π = sinh ⁡ ( π ) π ≈ 3,676 0779103749 {\displaystyle {\begin{aligned}\prod _{k=1}^{\infty }\left(1+{\frac {1}{k^{2}}}\right)&={\frac {e^{\pi }-e^{-\pi }}{2\pi }}&={\frac {\sinh(\pi )}{\pi }}&\approx 3{,}6760779103749\\\end{aligned}}} == Sonstiges == === Kuriositäten === Freunde der Zahl π {\displaystyle \pi } feiern am 14. März (in US-amerikanischer Notation 3/14) den Pi-Tag und am 22. Juli (in US-amerikanischer Notation 7/22) den Pi Approximation Day. Im Jahr 1897 sollte im US-Bundesstaat Indiana mit dem Indiana Pi Bill die Kreiszahl gesetzlich auf einen der von Hobbymathematiker Edwin J. Goodwin gefundenen Werte festgelegt werden, der sich auf übernatürliche Eingebungen berief. Aus seinen Arbeiten lassen sich unterschiedliche Werte für die Kreiszahl ableiten, unter anderem 4 oder 16⁄5. Nachdem er eine gebührenfreie Nutzung seiner Entdeckungen anbot, verabschiedete das Repräsentantenhaus diesen Gesetzentwurf einstimmig. Als Clarence A. Waldo, Mathematikprofessor der Purdue University, davon zufällig bei einem Besuch des Parlaments erfuhr und Einspruch erhob, vertagte die zweite Kammer des Parlaments den Entwurf auf unbestimmte Zeit. Der § 30b der Straßenverkehrszulassungsordnung bestimmt in Deutschland für die Berechnung des (für die Kfz-Steuer relevanten) Hubraums eines Verbrennungsmotors: „Für pi wird der Wert von 3,1416 eingesetzt.“ Die Versionsnummer des Textsatzprogramms TeX von Donald E. Knuth wird entgegen den üblichen Konventionen der Software-Entwicklung seit den 1990er Jahren so inkrementiert, dass sie sich langsam π {\displaystyle \pi } annähert. Die aktuelle Version von Januar 2021 trägt die Nummer 3.141592653. Der Versionsname der freien Geoinformationssystemssoftware QGIS lautet in der Version 3.14 „Pi“. Für Bugfix-Versionen werden zusätzliche Dezimalstellen hinzugefügt. Wissenschaftler senden mit Radioteleskopen die Kreiszahl ins Weltall. Sie sind der Meinung, dass andere Zivilisationen diese Zahl kennen müssen, wenn sie das Signal auffangen können. Der aktuelle Rekord im Pi-Vorlesen liegt bei 108.000 Nachkommastellen in 30 Stunden. Der Weltrekordversuch begann am 3. Juni 2005 um 18:00 Uhr und wurde am 5. Juni 2005 um 0:00 Uhr erfolgreich beendet. Über 360 Leser lasen jeweils 300 Nachkommastellen. Organisiert wurde der Weltrekord vom Mathematikum in Gießen. === Film, Musik, Kultur und Literatur === Im Roman Der Zauberberg von Thomas Mann schildert der Erzähler im Kapitel Der große Stumpfsinn auf mitleidig-belächelnde Weise, wie die Nebenfigur des Staatsanwalts Paravant den „verzweifelten Bruch“ Pi zu enträtseln versucht. Paravant glaubt, dass die „planende Vorsehung“ ihn dazu bestimmt habe, „das transzendente Ziel in den Bereich irdisch genauer Erfüllung zu reißen“. Er bemüht sich, in seiner Umgebung eine „humane Empfindlichkeit zu wecken für die Schande der Verunreinigung des Menschengeistes durch die heillose Irrationalität dieses mystischen Verhältnisses“, und fragt sich, „ob nicht die Menschheit sich die Lösung des Problems seit Archimedes’ Tagen viel zu schwer gemacht habe, und ob diese Lösung nicht in Wahrheit die kindlich einfachste sei.“ In diesem Zusammenhang erwähnt der Erzähler den historischen Zacharias Dase, der Pi bis auf zweihundert Stellen nach dem Komma berechnet hat. In der Science-Fiction-Serie Raumschiff Enterprise bemächtigt sich in Folge 43, Der Wolf im Schafspelz (orig. Titel Wolf in the Fold), ein fremdes Wesen des Bordcomputers. Der 1. Offizier Spock befiehlt darauf dem Computer, die Zahl Pi bis auf die letzte Nachkommastelle zu berechnen. Durch diese Aufgabe wird der Computer so überfordert, dass das Wesen den Computer wieder verlässt. 1981 wurde Carl Sagans Buch Contact veröffentlicht. Das Buch beschreibt das SETI-Programm zur Suche nach außerirdischer Intelligenz und damit verbundene philosophische Betrachtungen. Es endet mit der fiktiven Beantwortung der Frage, ob das Universum zufällig entstanden ist oder planvoll geschaffen wurde. Die Zahl π {\displaystyle \pi } spielt für die im Rahmen der Handlung folgerichtige Antwort die zentrale Rolle. 1988 initiierte Larry Shaw den Pi-Tag am 14. März im Exploratorium. 1998 veröffentlichte Darren Aronofsky (Requiem for a Dream) den Film Pi, in dem ein mathematisches Genie (Sean Gullette als ‚Maximilian Cohen‘) die Weltformel aus π {\displaystyle \pi } herausfiltern möchte. Auf dem 2005 erschienenen Doppelalbum Aerial von Kate Bush ist ein Lied der Zahl Pi gewidmet. Die im November 2006 eröffnete Medieninstallation Pi in der Wiener Opernpassage widmet sich unter anderem der Kreiszahl. Im Film Nachts im Museum 2 (2009) ist die Kreiszahl die Kombination für die Tafel des Ahkmenrah. Die Kombination wird mit Hilfe von Wackelkopf-Einsteins gelöst und öffnet in dem Film das Tor zur Unterwelt. Die progressive Deathcore-Band After the Burial hat auf ihrem Debütalbum Forging a Future Self das Lied Pi (The Mercury God of Infinity) veröffentlicht. Es besteht aus einem Akustikgitarrensolo, auf das ein Breakdown folgt, dessen Rhythmus an die ersten 110 Stellen der Kreiszahl angelehnt ist. In der Folge 28 (2x06) Rückkehr des Thor der Fernsehserie Stargate – Kommando SG-1 ist die Zahl 3,14159 die Lösung eines Rätsels zur Kontaktaufnahme mit freundlichen Aliens. === Pi-Sport === Das Memorieren der Zahl Pi ist die beliebteste Möglichkeit, das Merken langer Zahlen unter Beweis zu stellen. So ist aus dem Lernen von Pi ein Sport geworden. Der Inder Rajveer Meena ist offizieller Weltrekordhalter mit bestätigten 70.000 Nachkommastellen, die er am 21. März 2015 fehlerfrei in einer Zeit von 10 Stunden aufsagte. Er wird im Guinness Book of Records als Rekordhalter geführt. Der inoffizielle Weltrekord lag im Oktober 2006 bei 100.000 Stellen, aufgestellt von Akira Haraguchi. Der Japaner brach damit seinen ebenfalls noch inoffiziellen alten Rekord von 83.431 Nachkommastellen. Den deutschen Rekord hält seit dem 10. März 2023 die Frankfurter Gedächtniskünstlerin Susanne Hipp mit 15.637 Nachkommastellen.Für das Memorieren von Pi werden spezielle Mnemotechniken angewandt. Die Technik unterscheidet sich dabei nach den Vorlieben und Begabungen des Gedächtniskünstlers sowie der Menge der zu memorierenden Nachkommastellen. Für das Merken der ersten Ziffern von Pi gibt es einfache Merksysteme, dazu Pi-Sport-Merkregeln. === Alternative Kreiszahl τ === Der amerikanische Mathematiker Robert Palais schlug 2001 in einer Ausgabe des Mathematik-Magazins The Mathematical Intelligencer vor, für π {\displaystyle \pi } , statt wie bisher den Quotienten aus Umfang und Durchmesser eines Kreises, in Zukunft den Quotienten aus Umfang und Radius (entsprechend 2 π {\displaystyle 2\pi } ) als grundlegende Konstante zu verwenden. Seine Argumentation beruht darauf, dass in vielen mathematischen Formeln der Faktor 2 {\displaystyle 2} vor der Kreiszahl auftauche. Ein weiteres Argument ist die Tatsache, dass die neue Konstante im Bogenmaß einen Vollwinkel darstellt, statt wie π {\displaystyle \pi } einen halben Winkel, und so weniger willkürlich wirkt. Die neu normierte Kreiszahl, für deren Notation Michael Hartl und Peter Harremoës den griechischen Buchstaben τ {\displaystyle \tau } (Tau) vorschlugen, würde diese Formeln verkürzen. Nach dieser Konvention gilt dann τ = 2 π = 6,283 185 … {\displaystyle \tau =2\pi =6{,}283185\ldots } , also π = τ 2 {\displaystyle \pi ={\tfrac {\tau }{2}}} . == Literatur == Jörg Arndt, Christoph Haenel: Π [Pi]. Algorithmen, Computer, Arithmetik. 2., neu bearbeitete und erweiterte Auflage. Springer Verlag, Berlin 2000, ISBN 3-540-66258-8 (mit CD-ROM, 1. Auflage. 1998 – ohne CD-ROM, ISBN 3-540-63419-3). Heinrich Behnke, Friedrich Sommer: Theorie der analytischen Funktionen einer komplexen Veränderlichen (= Die Grundlehren der Mathematischen Wissenschaften in Einzeldarstellungen. Band 77). Springer-Verlag, Berlin / Heidelberg / New York 1965. Petr Beckmann: A History of π. St. Martin’s Press, New York City 1976, ISBN 978-0-312-38185-1 (englisch). Ehrhard Behrends (Hrsg.): Π [Pi] und Co. Kaleidoskop der Mathematik. Springer, Berlin / Heidelberg 2008, ISBN 978-3-540-77888-2. David Blatner: Π [Pi]. Magie einer Zahl. In: rororo Sachbuch (= rororo. Nr. 61176). Rowohlt, Reinbek bei Hamburg 2001, ISBN 3-499-61176-7 (Originaltitel: The Joy of Π [pi]. Übersetzt von Hainer Kober). Jonathan Borwein, Peter Borwein: Pi and the AGM. A Study in Analytic Number Theory and Computational Complexity. In: Canadian Mathematical Society Series of Monographs and Advan. 2. Auflage. Wiley, New York NY 1998, ISBN 0-471-31515-X (englisch). Egmont Colerus: Vom Einmaleins zum Integral. Mathematik für Jedermann (= rororo-Sachbuch. Nr. 6692). Rowohlt, Reinbek bei Hamburg 1974, ISBN 3-499-16692-5. Jean-Paul Delahaye: Π [Pi]. Die Story. Birkhäuser, Basel 1999, ISBN 3-7643-6056-9. Keith Devlin: Sternstunden der modernen Mathematik. berühmte Probleme und neue Lösungen (= dtv-Taschenbuch 4591). 2. Auflage. Deutscher Taschenbuch Verlag, München 1992, ISBN 3-423-04591-4 (Originaltitel: Mathematics. Übersetzt von Doris Gerstner, Lizenz des Birkhäuser-Verlags, Basel). Leonhard Euler: Einleitung in die Analysis des Unendlichen. Springer Verlag, Berlin / Heidelberg / New York 1983, ISBN 3-540-12218-4 (Erster Teil der Introductio in Analysin Infinitorum – Reprint der Ausgabe Berlin 1885). Eberhard Freitag, Rolf Busam: Funktionentheorie 1 (= Springer-Lehrbuch). 3., neu bearbeitet und erweiterte Auflage. Springer Verlag, Berlin (u. a.) 2000, ISBN 3-540-67641-4. Klaus Jänich: Einführung in die Funktionentheorie. 2. Auflage. Springer-Verlag, Berlin (u. a.) 1980, ISBN 3-540-10032-6. Paul Karlson: Vom Zauber der Zahlen. Eine unterhaltsame Mathematik für jedermann. In: Das moderne Sachbuch. 8., überarbeitete Auflage. Band 41. Ullstein, Berlin 1965 (ohne ISBN, früherer Titel: Du und der Zauber der Zahlen). Karel Markowski: Die Berechnung der Zahl Π [(Pi)] aus Sinus- und Tangens-Intervallen. 1. Auflage. Trigon, Potsdam 2007, ISBN 978-3-9810752-1-2. Konrad Knopp: Theorie und Anwendung der unendlichen Reihen (= Die Grundlehren der Mathematischen Wissenschaften. Band 2). 5., berichtigte Auflage. Springer Verlag, Berlin (u. a.) 1964, ISBN 3-540-03138-3. Konrad Knopp: Funktionentheorie II. Anwendungen und Weiterführung der allgemeinen Theorie (= Sammlung Göschen. Band 703). 11. Auflage. de Gruyter, Berlin 1965. Herbert Meschkowski: Unendliche Reihen. 2., verbesserte und erweiterte Auflage. BI Wissenschaftsverlag, Mannheim (u. a.) 1982, ISBN 3-411-01613-2. Jakow Perelman: Unterhaltsame Geometrie. Volk und Wissen, Berlin 1962. Jürgen Petigk: Dreieckige Kreise oder wie man Π [Pi] mit einer Nadel bestimmen kann. Mathematische Rätsel, Training fürs Gehirn. Komet, Köln 2007, ISBN 978-3-89836-694-6 (1998 als Mathematik in der Freizeit bei Aulis-Verlag Deubner, Köln erschienen, ISBN 3-7614-1997-X). Karl Helmut Schmidt: Π [Pi]. Geschichte und Algorithmen einer Zahl. Books on Demand GmbH, Norderstedt, ISBN 3-8311-0809-9 ([2001]). Karl Strubecker: Einführung in die höhere Mathematik. Band 1: Grundlagen. R. Oldenbourg Verlag, München 1956. Heinrich Tietze: Mathematische Probleme. Gelöste und ungelöste mathematische Probleme aus alter und neuer Zeit. Vierzehn Vorlesungen für Laien und Freunde der Mathematik. C. H. Beck, München 1990, ISBN 3-406-02535-8 (Sonderausgabe in einem Band, 1990 auch als dtv-Taschenbuch 4398 / 4399, ISBN 3-423-04398-9 – Band 1 und ISBN 3-423-04399-7 – Band 1). Fridtjof Toenniessen: Das Geheimnis der transzendenten Zahlen. Eine etwas andere Einführung in die Mathematik. 2. Auflage. Springer Verlag, Berlin 2019, ISBN 978-3-662-58325-8, doi:10.1007/978-3-662-58326-5. Claudi Alsina, Roger B. Nelsen: Charming Proofs: A Journey Into Elegant Mathematics. MAA 2010, ISBN 978-0-88385-348-1, S. 145–146 (Auszug (Google)) == Weblinks == Beweis der Irrationalität von π {\displaystyle \pi } in der Formelsammlung Mathematik Beweis der Transzendenz von e {\displaystyle e} und π {\displaystyle \pi } im Beweisarchiv. Albrecht Beutelspacher (Mathematikum Gießen): Mathematik zum Anfassen – Die Zahl π {\displaystyle \pi } . Bayern α. Werner Scholz: Die Geschichte der Approximationen der Zahl. TU Wien, 3. November 2001. Archimedes und die Ermittlung der Kreiszahl. The π {\displaystyle \pi } -Search Page. Ziffernfolgen innerhalb von π {\displaystyle \pi } suchen. Pibel.de. Auf dieser Website steht die Zahl Pi auf bis zu 10 Millionen Kommastellen zum Download bereit. Aktuelle Weltrangliste der π {\displaystyle \pi } -Auswendiglerner. Englisch. Monte-Carlo-Methode zur Approximation von π. Don Zagier: Zahlentheorie und die Kreiszahl Pi. Gaußvorlesung 2003 in Freiburg (Podcast). == Anmerkungen == == Einzelnachweise ==
https://de.wikipedia.org/wiki/Kreiszahl
Michael Faraday
= Michael Faraday = Michael Faraday [ˈmaɪkəl ˈfærədeɪ] (* 22. September 1791 in Newington, Surrey; † 25. August 1867 in Hampton Court Green, Middlesex) war ein englischer Naturforscher, der als einer der bedeutendsten Experimentalphysiker gilt. Faradays Entdeckungen der „elektromagnetischen Rotation“ und der elektromagnetischen Induktion legten den Grundstein zur Herausbildung der Elektroindustrie. Seine anschaulichen Deutungen des magnetooptischen Effekts und des Diamagnetismus mittels Kraftlinien und Feldern führten zur Entwicklung der Theorie des Elektromagnetismus. Bereits um 1820 galt Faraday als führender chemischer Analytiker Großbritanniens. Er entdeckte eine Reihe von neuen Kohlenwasserstoffen, darunter Benzol und Buten, und formulierte die Grundgesetze der Elektrolyse. Aufgewachsen in einfachen Verhältnissen und ausgebildet als Buchbinder, fand der von der Naturforschung begeisterte Faraday eine Anstellung als Laborgehilfe von Humphry Davy an der Royal Institution, die zu seiner wichtigsten Wirkungsstätte wurde. Im Labor der Royal Institution führte er seine wegbereitenden elektromagnetischen Experimente durch, in ihrem Hörsaal trug er mit seinen Weihnachtsvorlesungen dazu bei, neue wissenschaftliche Erkenntnisse zu verbreiten. 1833 wurde Faraday zum ersten Fuller-Professor für Chemie ernannt. Faraday führte etwa 30.000 Experimente durch und veröffentlichte 450 wissenschaftliche Artikel. Die wichtigsten seiner Publikationen zum Elektromagnetismus fasste er in seinen Experimental Researches in Electricity (Experimental-Untersuchungen über Elektrizität) zusammen. Sein populärstes Werk Chemical History of a Candle (Naturgeschichte einer Kerze) war die Mitschrift einer seiner Weihnachtsvorlesungen. Im Auftrag des britischen Staates bildete Faraday mehr als zwanzig Jahre lang die Kadetten der Royal Military Academy in Woolwich in Chemie aus. Er arbeitete für eine Vielzahl von Behörden und öffentlichen Einrichtungen, beispielsweise für die Schifffahrtsbehörde Trinity House, das British Museum, das Home Office und das Board of Trade. Faraday gehörte zu den Anhängern einer kleinen christlichen Minderheit, den Sandemanianern, an deren religiösem Leben er aktiv teilnahm. == Leben und Wirken == === Herkunft und Ausbildung === Michael Faraday wurde am 22. September 1791 in Newington in der Grafschaft Surrey, das heute zum London Borough of Southwark gehört, geboren. Er war das dritte von vier Kindern des Schmieds James Faraday (1761–1810) und dessen Frau Margaret (geborene Hastwell, 1764–1838), einer Bauerntochter. Bis Anfang 1791 lebten seine Eltern mit seinen beiden älteren Geschwistern Elizabeth (1787–1847) und Robert (1788–1846) im kleinen Dorf Outhgill in der damaligen Grafschaft Westmorland im Nordwesten Englands (heute Cumbria). Als die Auswirkungen der Französischen Revolution zu einem Rückgang des Handels führten und die Familie von Armut bedroht war, beschloss sie, in die unmittelbare Nähe von London zu ziehen. Faradays Vater fand Arbeit beim Eisenwarenhändler James Boyd im Londoner Stadtteil West End. Die Familie zog kurz darauf in die Gilbert Street und etwa fünf Jahre später in die Jacob’s Well Mews. Dort wurde Faradays jüngere Schwester Margaret (1802–1862) geboren. Bis zu seinem zwölften Lebensjahr besuchte Faraday eine einfache Tagesschule, wo ihm die Grundlagen des Lesens, Schreibens und Rechnens beigebracht wurden. 1804 fand er eine Anstellung als Laufbursche beim hugenottischen Auswanderer George Riebau, der in der Blanford Street einen Buchladen betrieb. Eine von Faradays Aufgaben bestand darin, am Morgen die Zeitung zu Riebaus Kunden zu bringen, sie im Laufe des Tages wieder abzuholen und zu weiteren Kunden zu tragen. Nach etwa einem Jahr als Laufbursche unterzeichnete Faraday am 7. Oktober 1805 einen siebenjährigen Lehrvertrag für eine Buchbinderlehre bei Riebau. Entsprechend den Gepflogenheiten der damaligen Zeit zog er zu seinem Lehrmeister und wohnte während seiner Ausbildung bei ihm. Faraday erwies sich als ein geschickter, aufgeschlossener und wissbegieriger Lehrling. Er erlernte das Buchbinderhandwerk schnell und las aufmerksam viele der zum Binden gebrachten Bücher. Darunter befanden sich Jane Marcets 1806 erschienene Conversations on Chemistry, eine populäre Einführung in die Chemie, und der von James Tytler für die dritte Auflage der Encyclopædia Britannica verfasste Beitrag über Elektrizität, aber auch die Geschichte von Ali Baba sowie Nachschlagewerke und Zeitschriften über Kunst. Riebau gestattete ihm die Durchführung kleinerer chemischer und elektrischer Experimente. Unter den Werken, die Faraday studierte, befand sich auch Isaac Watts’ Buch The Improvement of the Mind (1741), das sich an Leser richtete, die ihr Wissen und ihre geistigen Fähigkeiten selbständig erweitern wollten. Der Autor legte in seinen Ausführungen Wert darauf, Wissen nicht nur passiv zu vermitteln, sondern seine Leser dazu anzuregen, sich aktiv damit auseinanderzusetzen. Watts empfahl unter anderem, sich Notizen zu Artikeln zu machen, bei Vorträgen Mitschriften anzufertigen und den Gedankenaustausch mit Gleichgesinnten zu suchen.Unter diesem Eindruck begann Faraday 1809 eine von ihm The Philosophical Miscellany betitelte Sammlung von Notizen über Artikel zu den Themen Kunst und Wissenschaft, die er in verschiedenen Zeitungen und Zeitschriften gelesen hatte. 1810 ermutigte Riebau den 19-jährigen Faraday, die jeden Montag vom Goldschmied John Tatum in seinem Haus abgehaltenen wissenschaftlichen Vorträge zu besuchen. Tatum war der Gründer der 1808 ins Leben gerufenen City Philosophical Society, deren Ziel es war, Handwerkern und Lehrlingen den Zugang zu wissenschaftlichen Kenntnissen zu ermöglichen. Für die Vorträge war jeweils eine Gebühr von einem Schilling zu entrichten, den Faraday von seinem Bruder Robert erhielt. Mit dieser Unterstützung konnte er vom 19. Februar 1810 an bis zum 26. September 1811 etwa ein Dutzend Vorträge besuchen. Während Tatums Vorträgen fertigte Faraday Notizen an, die er in seiner freien Zeit überarbeitete, zusammenfasste und in ein Notizbuch übertrug. Bei Tatum freundete er sich mit den Quäkern Benjamin Abbott (1793–1870) und Edward Magrath (1791?–1861) sowie Richard Phillips (1778–1851) an. Mit Abbott begann er am 12. Juli 1812 einen schriftlichen Gedankenaustausch, der viele Jahre fortdauerte.Faraday, dessen Lehrzeit bei Riebau dem Ende entgegenging, verspürte wenig Neigung, sein Leben als Buchbinder zu verbringen. Er schrieb einen Brief an Joseph Banks, den Präsidenten der Royal Society, in dem er um eine niedrige Anstellung in den Laboratorien der Royal Society bat. Banks hielt es jedoch nicht für erforderlich, sein Ersuchen zu beantworten. Am 8. Oktober 1812, einen Tag nach Ende seiner Lehrzeit, trat Faraday seine Tätigkeit als Buchbindergeselle bei Henri De La Roche an. === Anstellung als Laborgehilfe === Anfang 1812 zeigte Riebau dem Sohn von William Dance (1755–1840), einem seiner Kunden, Faradays Notizbuch mit den Mitschriften von Tatums Vorträgen. Dance berichtete seinem Vater davon, der daraufhin Faraday zu Humphry Davys letzten vier Vorlesungen mit dem Titel The Elements of Chemical Philosophy als Professor der Chemie im März und April 1812 mitnahm. Davy galt als herausragender Dozent und hatte sich in der Fachwelt durch die Entdeckung der Elemente Kalium, Natrium und Chlor ein hohes Ansehen erworben. Während Davys Vorträge machte sich Faraday zahlreiche Notizen, die er, überarbeitet und mit Zeichnungen versehen, zu einem Buch band und an Davy schickte. Ende Oktober 1812 befand sich Davy jedoch nicht in London, sondern wiederholte gemeinsam mit John George Children in Tunbridge Wells einen Versuch von Pierre Louis Dulong, der kurz zuvor eine neue Verbindung aus Chlor und Stickstoff entdeckt hatte. Während der Experimente explodierte ein Glasröhrchen mit dem entstandenen Stickstofftrichlorid und verletzte Davys linkes Auge schwer. Davy wurde umgehend zur Behandlung nach London gebracht und fand dort Faradays Sendung vor. Da er aufgrund seiner Augenverletzung zur Ordnung seiner Notizen Hilfe benötigte, lud er Faraday Ende des Jahres 1812 zu sich nach Hause ein.Am 19. Februar 1813 kam es an der Royal Institution zwischen dem Laborgehilfen William Payne und dem Instrumentenbauer John Newmann zu einer handgreiflichen Auseinandersetzung. Drei Tage später wurde Payne von den Managern der Royal Institution entlassen. Davy, der einen neuen Assistenten benötigte, schlug Faraday für den vakanten Posten vor. Am 1. März 1813 begann dieser seine Tätigkeit als Laborgehilfe an der Royal Institution. Seine Pflichten umfassten die Betreuung und Unterstützung der Vortragenden und Professoren bei der Vorbereitung und Durchführung ihrer Vorlesungen, das wöchentliche Reinigen der Modelle im Lager sowie das monatliche Entstauben der Instrumente in den Glaskästen. Er bezog die zwei Räume seines Vorgängers und erhielt die Erlaubnis, das Labor für eigene Experimente zu benutzen. === Reise durch Kontinentaleuropa === Napoleon Bonaparte hatte Davy eine Goldmedaille für dessen Beiträge zur Elektrochemie verliehen, die dieser in Paris entgegennehmen wollte. Trotz der andauernden Napoleonischen Kriege erhielt er von der französischen Regierung die Erlaubnis, Kontinentaleuropa zu bereisen. Davy und seine Frau Jane Apreece (1780–1855) planten daher 1813 eine Reise durch Kontinentaleuropa, die auf zwei oder drei Jahre ausgelegt war und bis nach Konstantinopel führen sollte. Er bat Faraday, ihn als sein Amanuensis (Sekretär und wissenschaftlicher Gehilfe) zu begleiten. Das bot diesem, der sich noch nie „weiter als zwölf Meilen“ von London entfernt hatte, die Möglichkeit, von Davy zu lernen und mit einigen der bedeutendsten ausländischen Naturforscher in Kontakt zu kommen. Am 13. Oktober 1813 verließ die fünfköpfige Reisegesellschaft London. In Plymouth schiffte sie sich nach Morlaix ein, wo sie durchsucht und für etwa eine Woche festgesetzt wurde. Am Abend des 27. Oktober erreichte sie schließlich Paris. Faraday erkundete die Stadt, die ihn sehr beeindruckte, und besuchte gemeinsam mit Davy und dem Geologen Thomas Richard Underwood (1772–1835) das Musée Napoleon. Im Labor des Chemikers Louis-Nicolas Vauquelin beobachteten Davy und Faraday die Herstellung von Kaliumchlorid, die sich von der in England angewandten Methode unterschied. Am Morgen des 23. November suchten André-Marie Ampère, Nicolas Clément und Charles-Bernard Desormes Davy in seinem Hotel auf, präsentierten ihm eine zwei Jahre zuvor durch Bernard Courtois entdeckte Substanz und führten ihm einige Experimente vor, bei denen violette Dämpfe entstanden. Mit Faradays Hilfe führte Davy eigene Experimente durch, unter anderem im Labor von Eugène Chevreul im Jardin des Plantes. Am 11. Dezember wurde ihm klar, dass es sich bei der Substanz um ein neues Element handelte, das er nach dem griechischen Wort iodes für ‚violett‘ Iod nannte. Davys Experimente verzögerten die geplante Weiterreise nach Italien. Am 29. Dezember 1813 verließen sie Paris in Richtung Mittelmeerküste, wo Davy hoffte, iodhaltige Pflanzen für seine Untersuchungen zu finden. Faraday wurde Anfang Februar in Montpellier Zeuge des Durchzugs von Papst Pius VII., der nach seiner Befreiung durch die Alliierten nach Italien zurückkehrte. Nach einem einmonatigen Aufenthalt setzten sie in Begleitung von Frédéric-Joseph Bérard (1789–1828) ihren Weg nach Italien fort. Über Nîmes und Nizza überquerten sie die Alpen über den Tenda-Pass. Während des beschwerlichen Weges von Stadt zu Stadt erklärte Davy Faraday die geologische Beschaffenheit der Landschaft und machte ihn mit den antiken Kulturstätten vertraut. In Genua verhinderte schlechtes Wetter die Weiterreise. Davy nutzte die Verzögerung, um bei Domenico Viviani (1772–1840), der einige „Elektrische Fische“ in Gefangenschaft hielt, Experimente durchzuführen, mit denen er überprüfen wollte, ob die Entladung dieser Fische ausreichte, um Wasser zu zersetzen. Die Ergebnisse seiner Experimente waren negativ. Am 13. März überquerten sie mit dem Schiff den Golf von Genua. Einen Tag vor der Landung der britischen Armee in Livorno passierten sie Lucca und gelangten am 16. März nach Florenz, wo sie das Museum der Accademia del Cimento besuchten, in dem sich unter anderem Galileo Galileis Beobachtungsinstrumente befanden. Davy und Faraday setzten ihre Versuche mit Iod fort und bereiteten ein Experiment vor, das beweisen sollte, dass Diamanten aus reinem Kohlenstoff bestanden. Dazu verwendeten sie große Brenngläser aus dem Besitz von Großherzog Ferdinand III. Am 27. März 1814 gelang dieser Nachweis zum ersten Mal. In den folgenden Tagen wiederholten die beiden das Experiment noch mehrere Male. Die Ankunft in Rom erfolgte inmitten der Karwoche. Wie schon an anderen Orten erkundete Faraday die Stadt auf eigene Faust. Er war besonders vom Petersdom und dem Kolosseum beeindruckt. An der Accademia dei Lincei experimentierten Davy und Faraday mit Kohle, um einigen offenen Fragen aus dem Diamanten-Experiment nachzugehen. Am 5. Mai waren sie im Haus von Domenico Morichini (1773–1836) zu Gast. Dort wiederholte Faraday erfolglos unter der Anleitung des Hausherrn dessen Experiment zur vermeintlichen Magnetisierung einer Nadel durch den violetten Spektralanteil des Sonnenlichts. Zwei Tage später brachen sie zu einem zweiwöchigen Abstecher nach Neapel auf. Dort bestiegen sie mehrmals den Vesuv. Caroline Bonaparte, die Königin von Neapel, machte Davy ein Gefäß mit antiken Farbpigmenten zum Geschenk, die Davy und Faraday später analysierten. Um der Sommerhitze zu entfliehen, brach die Reisegesellschaft am 2. Juni von Rom aus in Richtung Schweiz auf. Über Terni, Bologna, Mantua und Verona gelangten sie nach Mailand. Hier begegnete Faraday am 17. Juni Alessandro Volta. Sie kamen am 25. Juni 1814 in Genf an und verbrachten den Sommer bei Charles-Gaspard de la Rive in dessen Haus am Genfersee, jagten, fischten, experimentierten weiter mit Iod und arbeiteten mit Marc-Auguste Pictet und Nicolas-Théodore de Saussure zusammen. Am 18. September 1814 reisten sie über Lausanne, Vevey, Payerne, Bern, Zürich und den Rheinfall bei Schaffhausen schließlich nach München, wo sie drei Tage blieben. Über den Brennerpass kehrten sie nach Italien zurück und besuchten dabei Padua und Venedig. In Florenz untersuchten sie ein brennbares Gas, das in Pietramala dem Erdboden entwich und das sie als Methan identifizierten. In Rom, wo sie am 2. November 1814 ankamen und bis zum März 1815 blieben, erlebte Faraday das Weihnachtsfest und besuchte während des Karnevals mehrere Maskenbälle. Davy und Faraday führten weitere Experimente mit Chlor und Iod durch. Ihre ursprünglichen Pläne, nach Konstantinopel weiterzureisen, zerschlugen sich. Nachdem sie Tirol und Deutschland durchquert hatten, erreichten sie am 23. April 1815 schließlich London. === Entwicklung zum chemischen Analytiker === Nach der Rückkehr war Faraday in London zunächst ohne Anstellung. Auf Wunsch von William Thomas Brande, der 1812 von Davy die Position des Professors für Chemie übernommen hatte, und mit voller Unterstützung durch Davy, der eine Woche zuvor zum Vizepräsidenten der Royal Institution gewählt worden war, erhielt Faraday am 15. Mai seinen alten Posten als Laborgehilfe wieder und war zusätzlich für die mineralogische Sammlung verantwortlich. Faraday besuchte erneut die Vorträge der City Philosophical Society und wurde Mitglied der Gesellschaft. Am 17. Januar 1816 hielt er dort seinen ersten Vortrag über Chemie, dem in den nächsten zweieinhalb Jahren 16 weitere folgten. Um seine Fähigkeiten als Vortragender zu vervollkommnen, besuchte er 1818 die am Donnerstagabend an der Royal Institution abgehaltenen Rhetorikkurse von Benjamin Humphrey Smart (1786–1872). Gemeinsam mit vier Freunden gründete er im Sommer desselben Jahres einen Schreibzirkel. Die Mitglieder der nach den Richtlinien der City Philosophical Society organisierten Gruppe verfassten Aufsätze zu frei wählbaren oder festgelegten Themen, die anonym eingereicht und in der Gruppe gemeinsam bewertet wurden.Im Labor der Royal Institution führte Faraday häufig in Davys Auftrag Experimente durch und war 1816 maßgeblich an dessen Untersuchungen beteiligt, die zur Entwicklung der im Bergbau eingesetzten „Davy-Lampe“ führten. Für Brande, den Herausgeber des Quarterly Journal of Science, stellte Faraday ab 1816 die Miscellanea betitelten Seiten zusammen und übernahm im August 1816 während Brandes Abwesenheit die volle Verantwortung für das Journal. 1816 erschien im Quarterly Journal of Science auch Faradays erste wissenschaftliche Veröffentlichung über aus der Toskana stammende Kalksteinproben. Bis Ende 1819 hatte er 37 Mitteilungen und Artikel im Quarterly Journal of Science veröffentlicht, darunter eine Untersuchung über das Entweichen von Gasen aus Kapillarrohren und Bemerkungen über „singende Flammen“. In seinem Labor führte Faraday für William Savage (1770–1843), den Drucker der Royal Institution, Papieranalysen durch, untersuchte Tonerdeproben für den Keramikproduzenten Josiah Wedgwood II (1769–1843) und nahm in gerichtlichem Auftrag kriminaltechnische Untersuchungen vor. Anfang 1819 begann Faraday gemeinsam mit James Stodart (1760–1823), der chirurgische Instrumente herstellte, eine umfangreiche Reihe von Experimenten, die sich mit der Verbesserung von Stahllegierungen beschäftigten. Er untersuchte zunächst Wootz, ein weit verbreitetes Ausgangsprodukt für Stahl, auf dessen chemische Zusammensetzung. Es folgten zahlreiche Versuche zur Veredelung von Stahl, bei denen unter anderem Platin und Rhodium zum Einsatz kamen. Die Stahluntersuchungen erstreckten sich über einen Zeitraum von etwa fünf Jahren und wurden nach Stodarts Tod von Faraday alleine fortgeführt.Am 21. Dezember 1820 wurde Faradays erste für den Abdruck in den Philosophical Transactions bestimmte Abhandlung vor den Mitgliedern der Royal Society verlesen. Darin wurden die beiden neuen von ihm entdeckten Chlorkohlenstoffverbindungen Tetrachlorethen und Hexachlorethan beschrieben. Zu dieser Zeit galt Faraday bereits als Großbritanniens führender chemischer Analytiker. 1821 wurde er zum „Superintendent of the House“ der Royal Institution ernannt. Am 12. Juni 1821 heiratete er Sarah Barnard (1800–1879), die Schwester seines Freundes Eduard Barnard (1796–1867), die er im Herbst 1819 kennengelernt hatte. Ihre Ehe blieb kinderlos. === Anerkennung als Naturforscher === ==== „Elektromagnetische Rotation“ ==== 1821 bat Richard Phillips, mittlerweile Herausgeber der Annals of Philosophy, Faraday um einen Abriss aller bekannten Erkenntnisse über Elektrizität und Magnetismus. Kurz zuvor hatte Hans Christian Ørsted seine Beobachtungen über die Ablenkung einer Kompassnadel durch elektrischen Strom veröffentlicht. Faraday wiederholte in seinem Labor Experimente von Ørsted, André-Marie Ampère und François Arago. Sein zweiteiliger Historical Sketch of Electro-Magnetism erschien, auf seinen Wunsch anonym, im September und Oktober 1821 in den Annals of Philosophy. Am 3. September gelang Faraday zum ersten Mal ein Experiment, bei dem sich ein stromdurchflossener Leiter unter dem Einfluss eines Dauermagneten um seine eigene Achse drehte. Noch im gleichen Monat veröffentlichte er seine Entdeckung im Quarterly Journal of Science. Die sogenannte „elektromagnetische Rotation“ war eine wesentliche Voraussetzung für die Entwicklung des Elektromotors. Bereits wenige Tage nach Veröffentlichung seiner Entdeckung bezweifelten Freunde von William Hyde Wollaston, darunter Davy, die Eigenständigkeit der Arbeit Faradays. Sie bezichtigten ihn, die Idee „elektromagnetische Rotation“ von Wollaston gestohlen und dessen Autorschaft nicht gewürdigt zu haben. Faradays experimenteller Nachweis unterschied sich jedoch völlig von der von Wollaston vorgeschlagenen Lösung, was dieser auch anerkannte. Da die Gerüchte in der Öffentlichkeit darüber nicht abebbten, war Faraday gezwungen, die Autorschaft seines Historical Sketch of Electro-Magnetism offenzulegen. ==== Entdeckungen auf dem Gebiet der Chemie ==== Im Jahr 1818 hatte Michael Faraday die einschläfernde Wirkung des „Schwefeläthers“ beschrieben. 1823 begann Faraday die Eigenschaften des von Davy entdeckten Chlorhydrats zu untersuchen. Als er es unter Druck erhitzte, gelang ihm zum ersten Mal die Verflüssigung von Chlor. 1823 und nochmals 1844, als er sich erneut mit dem Thema beschäftigte, gelang es ihm, Ammoniak, Kohlenstoffdioxid, Schwefeldioxid, Distickstoffmonoxid, Chlorwasserstoff, Schwefelwasserstoff, Dicyan und Ethen zu verflüssigen. Faraday erkannte als Erster, dass eine kritische Temperatur existierte, oberhalb derer sich Gase unabhängig vom ausgeübten Druck nicht mehr verflüssigen ließen. Er wies nach, dass die Zustände „fest“, „flüssig“ und „gasförmig“ ineinander überführbar waren und keine festen Kategorien bildeten.1825 fielen Faraday in Kannen mit Leuchtgas, die sein bei der London Gas Company arbeitender Bruder Robert der Royal Institution lieferte, flüssige Rückstände auf. Er analysierte die Flüssigkeit und entdeckte eine neue Kohlenwasserstoff-Verbindung, die er als „Bicarburet of Hydrogen“ bezeichnete. Von Eilhard Mitscherlich erhielt diese Substanz, ein aromatischer Kohlenwasserstoff, im selben Jahr die Bezeichnung Benzol. Kurz darauf entdeckte er mit Buten eine Verbindung, die die gleiche Verhältnisformel wie Ethen hatte, sich aber in den chemischen Eigenschaften völlig unterschied. 1826 ermittelte Faraday die Zusammensetzung von Naphthalin und stellte zwei verschiedene kristalline Proben von Naphthalinschwefelsäure her. Im April 1827 erschien Chemical Manipulation. Diese Monografie Faradays war eine Einführung in die praktische Chemie und richtete sich an Anfänger auf dem Gebiet der chemischen Naturforschung. Sie umfasste alle Belange der praktischen Chemie, beginnend mit der zweckmäßigen Einrichtung eines Laboratoriums über die zweckmäßige Durchführung chemischer Experimente bis hin zur Fehleranalyse. Der Erstausgabe folgten 1830 und 1842 zwei weitere Auflagen. ==== Herstellung optischer Gläser ==== Am 1. April 1824 gründeten die Royal Society und das Board of Longitude eine gemeinsame Kommission (Committee for the Improvement of Glass for Optical Purposes). Sie hatte das Ziel, Rezepturen für die Herstellung hochwertiger optischer Gläser zu finden, die mit den von Joseph von Fraunhofer in Deutschland hergestellten Flintgläsern konkurrieren konnten. Die Untersuchungen fanden anfangs in den von Apsley Pellatt (1763–1826) und James Green betriebenen Falcon Glass Works statt. Um die Durchführung der Experimente direkter überwachen zu können, wurde am 5. Mai 1825 ein Unterkomitee berufen, das aus John Herschel, George Dollond und Faraday bestand. Nach der Errichtung eines neuen Schmelzofens an der Royal Institution wurden die Glasuntersuchungen ab September 1827 an der Royal Institution durchgeführt. Zur Entlastung Faradays wurde am 3. Dezember 1827 Charles Anderson, ein ehemaliger Sergeant der Royal Artillery, eingestellt. Die Glasuntersuchungen waren für über fünf Jahre Faradays Hauptaufgabe und Ende 1829 das Thema seiner ersten Baker-Vorlesung vor der Royal Society. 1830 wurden die Glasexperimente aus finanziellen Gründen gestoppt. Ein 1831 vorgelegter Bericht der Astronomen Henry Kater (1777–1835) und John Pond, die ein Teleskop mit einem Objektiv aus einem von Faraday hergestellten Glas testeten, bescheinigte dem Glas gute achromatische Eigenschaften. Faraday hielt die Ergebnisse seiner fünfjährigen Arbeit jedoch für unzulänglich. ==== Institutioneller Aufstieg ==== Auf Betreiben seines Freundes Richard Phillips, der kurz zuvor selbst in die Royal Society aufgenommen worden war, wurde am 1. Mai 1823 zum ersten Mal der Antrag zur Aufnahme von Faraday in die Gesellschaft verlesen. Der Antrag trug die Unterschrift von 29 Mitgliedern und musste an zehn aufeinanderfolgenden Sitzungen verlesen werden. Davy, seit 1820 Präsident der Royal Society, wollte die Wahl Faradays verhindern und versuchte, die Rücknahme des Antrages zu erwirken. Mit einer Gegenstimme wurde Faraday am 8. Januar 1824 in die Royal Society aufgenommen. Von März bis Juni 1824 fungierte Faraday aushilfsweise als erster Sekretär des von Davy mitgegründeten Londoner Clubs The Athenaeum. Als ihm im Mai vorgeschlagen wurde, den Posten für ein Jahresgehalt von 100 Pfund dauerhaft zu übernehmen, schlug er das Angebot aus und empfahl seinen Freund Edward Magrath für diese Position. Am 7. Februar 1825 wurde Faraday zum Labordirektor der Royal Institution ernannt und begann dort die ersten eigenen Vorträge abzuhalten. Im Februar 1826 wurde er von der Verpflichtung befreit, Brande bei dessen Vorlesungen zu assistieren. 1827 hielt Faraday Chemievorlesungen an der London Institution und gab die erste seiner zahlreichen Weihnachtsvorlesungen. Ein Angebot, erster Professor für Chemie an der neu gegründeten University of London zu werden, lehnte er mit einem Hinweis auf seine Verpflichtungen an der Royal Institution ab. 1828 wurde er mit der Fuller-Medaille geehrt. Bis 1831 half er Brande bei der Herausgabe des Quarterly Journal of Science und betreute anschließend die ersten fünf Ausgaben des neuen Journal of the Royal Institution. === Untersuchungen über Elektrizität (1831 bis 1838) === ==== Elektromagnetische Induktion ==== Bereits 1822 merkte Faraday in seinem Notizbuch an: „Convert magnetism into electricity“ („Magnetismus in Elektrizität umwandeln“). In dem im September 1820 begonnenen Labortagebuch notierte er am 28. Dezember 1824 erstmals ein Experiment, mit dem er versuchte, mit Hilfe von Magnetismus Elektrizität zu erzeugen. Der erwartete elektrische Strom blieb jedoch aus. Am 28. und 29. November 1825 sowie am 22. April 1826 führte er weitere Versuche durch, ohne jedoch das gewünschte Ergebnis zu erzielen. Nach einer durch die aufwändigen Glasuntersuchungen bedingten fünfjährigen Pause wandte sich Faraday am 29. August 1831 erstmals wieder elektromagnetischen Experimenten zu. Er hatte von seinem Assistenten Anderson einen Weicheisenring mit einem Innendurchmesser von sechs Zoll (etwa 15 Zentimeter) anfertigen lassen. Auf der einen Seite des Ringes brachte er drei Wicklungen aus Kupferdraht an, die durch Bindfaden und Kattun voneinander isoliert waren. Auf der anderen Seite des Ringes befanden sich zwei solcher Wicklungen. Er verlängerte auf der einen Seite die beiden Enden einer der Wicklungen mit einem langen Kupferdraht, der zu einer etwa drei Fuß (etwa ein Meter) entfernten Magnetnadel führte. Eine der Wicklungen auf der anderen Seite verband er mit den Polen einer Batterie. Jedes Mal, wenn er den Stromkreis schloss, bewegte sich die Magnetnadel aus ihrer Ruhelage. Beim Öffnen des Stromkreises bewegte sich die Nadel erneut, nur diesmal in die entgegengesetzte Richtung. Faraday hatte die elektromagnetische Induktion entdeckt und dabei ein Prinzip angewandt, das den später entwickelten Transformatoren zugrunde liegt. Seine Experimente, die bis zum 4. November andauerten, unterbrach er für einen dreiwöchigen Ferienaufenthalt mit seiner Frau in Hastings und eine vierzehntägige Untersuchung für die Royal Mint. Während seiner an nur elf Tagen durchgeführten Experimente fand er heraus, dass ein zylindrischer Stabmagnet, der durch eine Drahtwendel bewegt wurde, eine elektrische Spannung in dieser induzierte. Nach diesem Grundprinzip arbeiten elektrische Generatoren.Faradays Bericht über die Entdeckung der elektromagnetischen Induktion wurde von ihm Ende 1831 vor der Royal Society vorgetragen. Die in den Philosophical Transactions abgedruckte Form erschien erst im Mai 1832. Die lange Verzögerung ergab sich aus einer Änderung der Veröffentlichungsbedingungen für neue Artikel. Bis Ende 1831 reichte ein Mehrheitsbeschluss des Committee of Papers zur Veröffentlichung eines Artikels in den Philosophical Transactions. Die geänderten Regeln sahen eine individuelle Begutachtung der Artikel vor. Das Gutachten zu Faradays Artikel schrieben der Mathematiker Samuel Hunter Christie und der Mediziner John Bostock (1773–1846).Im Dezember 1831 schrieb Faraday an seinen langjährigen französischen Briefpartner Jean Nicolas Pierre Hachette und teilte ihm darin seine jüngsten Entdeckungen mit. Hachette zeigte den Brief dem Sekretär des Institut de France, François Arago, der das Schreiben am 26. Dezember 1831 vor den Mitgliedern des Instituts verlas. In den französischen Zeitungen Le Temps und Le Lycée erschienen am 28. bzw. 29. Dezember 1831 Berichte über Faradays Entdeckung. Der Londoner Morning Advertiser druckte diese am 6. Januar 1832 nach. Die Presseberichte bedrohten die Priorität seiner Entdeckung, da die Italiener Leopoldo Nobili und Vincenzo Antinori (1792–1865) in Florenz einige Versuche Faradays wiederholt hatten und ihre in der Zeitschrift Antologia veröffentlichten Ergebnisse vor Faradays Aufsatz in den Philosophical Transactions erschienen. ==== Einheitlichkeit der Elektrizität ==== Nach seiner Entdeckung, dass Magnetismus Elektrizität zu erzeugen vermag, stellte sich Faraday die Aufgabe nachzuweisen, dass unabhängig davon, wie Elektrizität erzeugt wird, diese immer gleichartig wirkt. Am 25. August 1832 begann er mit den bekannten Elektrizitätsquellen zu arbeiten. Er verglich die Wirkungen von voltaischer Elektrizität, Reibungselektrizität, Thermoelektrizität, tierischer Elektrizität und magnetischer Elektrizität. In seinem am 10. und 17. Januar verlesenen Beitrag gelangte er aufgrund seiner Experimente zum Schluss, „…daß die Elektricität, aus welcher Quelle sie auch entsprungen sey, identisch ist in ihrer Natur“. ==== Grundgesetze der Elektrolyse ==== Ende Dezember 1832 stellte sich Faraday die Frage, ob ein elektrischer Strom in der Lage wäre, einen festen Körper – beispielsweise Eis – zu zersetzen. Bei seinen Experimenten stellte er fest, dass sich Eis im Gegensatz zu Wasser wie ein Nichtleiter verhielt. Er testete eine Reihe von Substanzen mit niedrigem Schmelzpunkt und beobachtete, dass ein nichtleitender fester Körper nach dem Übergang in die flüssige Phase den Strom leitete und sich unter dem Einfluss des Stromes chemisch zersetzte. Am 23. Mai 1833 sprach er vor der Royal Society Über ein neues Gesetz der Elektrizitätsleitung.Diese Untersuchungen führten Faraday direkt zu seinen Experimenten über die „elektro-chemische Zersetzung“, die ihn ein Jahr lang beschäftigten. Er sichtete die vorhandenen Ansichten, insbesondere die von Theodor Grotthuß und Davy, und kam zu der Auffassung, dass die Zersetzung im Inneren der Flüssigkeit vor sich ging und die elektrischen Pole nur die Rolle einer Begrenzung der Flüssigkeit spielten. Unzufrieden mit den ihm für die Beschreibung der chemischen Zersetzung unter dem Einfluss eines elektrischen Stromes zur Verfügung stehenden Begriffen, wandte sich Faraday Anfang 1834 an William Whewell und diskutierte darüber auch mit seinem Arzt Whitlock Nicholl. Letzterer schlug Faraday vor, zur Beschreibung des Vorgangs der elektrochemischen Zersetzung die Begriffe Elektrode für die Ein- und Austrittsflächen des Stromes, Elektrolyse für den Vorgang selbst und Elektrolyt für die betroffene Substanz zu verwenden. Whewell, der die polare Natur des Vorganges kenntlicher machen wollte, prägte für die beiden Elektroden die Termini Anode und Kathode sowie für die betroffenen Teilchen die Begriffe Anion, Kation und Ion. Zu Beginn der siebenten Folge seiner Experimental Researches in Electricity, die er am 9. Januar 1834 der Royal Society vorlegte, schlug Faraday die neuen Begriffe zur Beschreibung des Vorgangs der elektrochemischen Zersetzung (Elektrolyse) vor. In diesem Artikel formulierte er die beiden Grundgesetze der Elektrolyse: „Die chemische Kraft eines elektrischen Stroms ist direct proportional der absoluten Menge von durchgegangener Elektricität.“ „Die elektro-chemischen Aequivalente sind den gewöhnlichen chemischen gleich.“Mit seinen Untersuchungen schloss Faraday den Einfluss von Faktoren, wie beispielsweise der Konzentration der elektrolytischen Lösung oder der Beschaffenheit und Größe der Elektroden, auf den Vorgang der Elektrolyse aus. Nur die Elektrizitätsmenge und die beteiligten chemischen Äquivalente waren von Bedeutung. Es war der Nachweis, dass chemische und elektrische Kräfte eng miteinander verbunden waren und quantitativ zusammenhingen. Diesen Zusammenhang nutzte Faraday bei seinen weiteren Experimenten zur genauen Messung der Elektrizitätsmenge. ==== Elektrostatische Abschirmung ==== Mitte Januar 1836 baute Faraday im Hörsaal der Royal Institution einen Würfel mit 12 Fuß (etwa 3,65 Meter) Seitenlänge auf, dessen Kanten aus einem leichten Holzrahmen gebildet wurden. Die Seitenflächen waren netzartig mit Kupferdraht bespannt und mit Papier verkleidet. Der Würfel stand auf vier 5,5 Zoll (etwa 14 Zentimeter) hohen Glasfüßen, um ihn vom Untergrund zu isolieren. In den am 15. und 16. Januar 1836 durchgeführten Untersuchungen verband er den Würfel mit einer Elektrisiermaschine, um ihn elektrisch zu laden. Anschließend begab er sich mit einem Goldblatt-Elektrometer in das Innere der Anordnung, um die möglicherweise in der Luft induzierte Elektrizität nachzuweisen. Jeder Punkt des Raumes erwies sich jedoch als frei von Elektrizität.Die als faradayscher Käfig bekannte Anordnung, bei der das elektrische Feld im Inneren eines geschlossenen, leitfähigen Körpers verschwindet, dient heute in der Elektrotechnik zur Abschirmung von elektrostatischen Feldern. ==== Einfluss von Isolatoren ==== 1837 dachte Faraday darüber nach, auf welche Weise sich die elektrische Kraftwirkung durch den Raum ausbreitete. Der Gedanke an eine Fernwirkung der elektrischen Kräfte, wie ihn das coulombsche Gesetz implizierte, bereitete ihm Unbehagen. Er vermutete hingegen, dass der Raum bei der Kraftübertragung eine Rolle spielen und eine Abhängigkeit vom Raum füllenden Medium existieren müsse. Faraday begann den Einfluss von Isolatoren systematisch zu untersuchen und entwarf eine Versuchsanordnung aus zwei identischen Kugelkondensatoren. Diese Kugelkondensatoren bestanden ihrerseits aus zwei mit einem Abstand von drei Zentimetern ineinandergestellten Messingkugeln. Die Kugeln waren durch einen mit isolierendem Schellack überzogenen Messinggriff miteinander verbunden und bildeten eine Leidener Flasche. Faraday lud zunächst einen der beiden Kondensatoren auf, brachte ihn anschließend mit dem anderen in elektrischen Kontakt und überzeugte sich mit einer selbstgebauten Coulombschen Drehwaage, dass nach dem Ladungsausgleich beide Kondensatoren die gleiche Ladung trugen. Anschließend füllte er den Luftraum des einen Kondensators mit einem Isolator und wiederholte den Versuch. Seine erneute Messung ergab, dass der Kondensator mit dem Isolator die größere Ladung trug. Er wiederholte das Experiment mit verschiedenen Stoffen. Faraday erhielt ein quantitatives Maß für den Einfluss der Isolatoren auf die Kapazität der Kugeln, das er „specific inductive capacity“ nannte, was heute der Dielektrizitätskonstanten entspricht. Für eine nichtleitende Substanz, die sich zwischen zwei Leitern befindet, hatte Whewell Ende 1836 den Begriff Dielektrikum vorgeschlagen, der von Faraday auch genutzt wurde. Faraday erklärte sein experimentelles Ergebnis mit einer Polarisation der Teilchen innerhalb der Isolatoren, bei der die Wirkung von Teilchen zu Teilchen weitergegeben wird, und dehnte diese Idee auch auf den Transport der Elektrizität innerhalb von Leitern aus. === Erschöpfung und Erholung === Anfang 1839 fasste Faraday seine zwischen November 1831 und Juni 1838 in den Philosophical Transactions erschienenen Artikel über seine Untersuchungen über Elektrizität unter dem Titel Experimental Researches in Electricity zusammen. Von August bis November 1839 führte Faraday Untersuchungen zur Funktionsweise der Voltaschen Säule durch, die er im Dezember 1839 unter dem Titel Über die Quelle der Kraft in der Volta’schen Säule veröffentlichte. Darin trat er mit zahlreichen experimentellen Belegen der voltaischen Kontakttheorie entgegen. Ende 1839 erlitt Faraday einen schweren gesundheitlichen Zusammenbruch, den er auf Überarbeitung zurückführte, und dessen Symptome Kopfschmerzen, Schwindelgefühl und zeitweiliger Gedächtnisverlust waren. Sein Arzt Peter Mere Latham (1789–1875) riet ihm, sich zeitweilig von seinen zahlreichen Verpflichtungen entbinden zu lassen und sich in Brighton zu erholen. Faraday arbeitete die nächsten Jahre nur noch sporadisch in seinem Labor. Im Januar und Februar 1840 führte er an fünf Tagen seine Untersuchungen an der Voltaschen Säule fort. Im August und September experimentierte er nochmals an fünf Tagen. Nach dem 14. September 1840 schrieb er für etwa zwanzig Monate bis zum 1. Juli 1842 keinen Eintrag in sein Labortagebuch. Ende 1840 erkannten die Manager der Royal Institution die Ernsthaftigkeit von Faradays Erkrankung und beurlaubten ihn bis zu seiner vollständigen Genesung. Fast ein Jahr lang hielt er keine Vorlesungen. Gemeinsam mit seiner Frau, deren Bruder George Barnard (1807–1890) und dessen Frau Emma begab er sich am 30. Juni 1841 auf eine dreimonatige Erholungsreise in die Schweiz, wo er in den Berner Alpen ausgedehnte Wanderungen unternahm. 1840 hatte William George Armstrong entdeckt, dass beim Ausströmen von Wasserdampf unter hohem Druck in die Luft Elektrizität erzeugt wird. Im Sommer 1842 begann Faraday nach der Ursache dieser Elektrizität zu forschen. Er konnte nachweisen, dass es sich um Reibungselektrizität handelte. Nach Abschluss dieser Arbeiten im Januar 1843 schloss sich eine weitere längere Phase an, in der er kaum experimentierte. Erst ab dem 23. Mai 1844 begann Faraday erneut mit Versuchen, Gase in den flüssigen und festen Zustand zu überführen, die über ein Jahr andauerten. Er knüpfte dabei an seine Experimente von 1823 an. Es gelang ihm, sechs Gase in Flüssigkeiten umzuwandeln und sieben, darunter Ammoniak, Distickstoffmonoxid und Schwefelwasserstoff, in den festen Zustand zu überführen.In dieser Zeit schien Faraday Zweifel daran zu haben, ob er weiterhin wichtige Beiträge als Naturforscher leisten könne. Er stellte die 15. bis 18. Folge seiner Elektrizitätsuntersuchungen gemeinsam mit etwa 30 weiteren Arbeiten zum zweiten Band der Experimental Researches in Electricity zusammen, der Ende 1844 erschien. === Untersuchungen über Elektrizität (1845 bis 1855) === ==== Magnetismus und Licht ==== Im Juni 1845 nahm Faraday am Jahrestreffen der British Association for the Advancement of Science in Cambridge teil. Dort begegnete er dem jungen William Thomson, dem späteren Lord Kelvin. Anfang August erhielt Faraday von Thomson einen Brief, in dem sich dieser nach dem Einfluss eines lichtdurchlässigen Nichtleiters auf polarisiertes Licht erkundigte. Faraday erwiderte, dass er 1833 ergebnislos derartige Versuche durchgeführt habe, und versprach, sich der Frage nochmals zuzuwenden. Mit einer leuchtstarken Argand-Lampe wiederholte er Ende August bis Anfang September mit verschiedenen Materialien seine Versuche, erzielte jedoch keinen Effekt. Der Effekt, nach dem Faraday gesucht hatte, der elektrooptische Kerr-Effekt, wurde erst dreißig Jahre später durch John Kerr nachgewiesen. Am 13. September 1845 schickte Faraday polarisiertes Licht durch die zuvor benutzten Materialien, die er dem Einfluss eines starken Magneten aussetzte. Die ersten Versuche mit Luft und Flintglas erbrachten keine Ergebnisse. Als er ein im Rahmen seiner Glasexperimente in den 1820er Jahren hergestelltes Bleiborat-Glas benutzte, fand er beim Durchgang eine schwache, aber erkennbare Drehung der Polarisationsebene, wenn er den Lichtstrahl parallel zu den Magnetfeldlinien ausrichtete. Er setzte seine Experimente fort und wurde zunächst bei einer weiteren seiner alten Glasproben fündig, bevor er den Effekt an weiteren Materialien, darunter Flintglas, Kronglas, Terpentinöl, Halitkristall, Wasser und Ethanol, nachweisen konnte. Faraday hatte den Nachweis erbracht, dass Licht und Magnetismus zwei miteinander verbundene physikalische Phänomene waren. Seine Ergebnisse veröffentlichte er unter dem Titel Über die Magnetisierung des Lichts und die Belichtung der Magnetkraftlinien. Der von Faraday gefundene magnetooptische Effekt wird heute als Faraday-Effekt bezeichnet.Faraday stellte sich sofort die Frage, ob auch der umgekehrte Effekt existiere und Licht etwas elektrisieren oder magnetisieren könne. Ein Versuch dazu, bei dem er eine Drahtspule dem Sonnenlicht aussetzte, scheiterte jedoch. Während einer Freitagabendvorlesung Anfang April 1846 äußerte Faraday einige Spekulationen über „Schwingungsstrahlungen“, die er zwei Wochen später in einem Brief an das Philosophical Magazine schriftlich niederlegte. In ihr skizzierte er die Möglichkeit, dass Licht durch transversale Schwingungen von Kraftlinien entstehen könnte. Faradays Spekulation war eine Anregung für James Clerk Maxwell bei der Entwicklung seiner elektromagnetischen Theorie des Lichtes, die er 18 Jahre später formulierte. ==== Magnetische Stoffeigenschaften ==== Die Experimente mit polarisiertem Licht zeigten Faraday, dass ein nichtmagnetischer Stoff durch Magnetismus beeinflusst werden kann. Für seine weiteren Experimente lieh er sich einen starken Elektromagneten von der Royal Military Academy in Woolwich aus. Er befestigte eine Bleiboratglasprobe an zwei Seidenfäden und hängte sie zwischen die zugespitzten Polschuhe des Elektromagneten. Als er den elektrischen Stromkreis schloss, beobachtete er, dass sich die Glasprobe von den Polschuhen fortbewegte und sich senkrecht zur gedachten Verbindungslinie zwischen den Polschuhen ausrichtete. Sie verhielt sich damit anders als magnetische Materialien, die sich entlang der Verbindungslinie ausrichteten. Faraday fand schnell eine Vielzahl von Materialien, die sich wie seine Glasprobe verhielten, darunter Holz, Olivenöl, Apfel, Rindfleisch und Blut. Die deutlichsten Effekte erzielte er mit einem Bismutbarren. In Analogie zum Begriff „dielektrisch“ bezeichnete Faraday diese Stoffe am 18. September 1845 in seinem Labortagebuch als „dimagnetisch“. Erneut half Whewell Faraday bei der Begriffsbildung. Whewell korrigierte die von Faraday benutzte Vorsilbe in dia für ‚durch‘, da die Wirkung durch die Körper hindurch stattfand („diamagnetisch“), und schlug vor, alle Substanzen, die sich nicht so verhielten, als „paramagnetisch“ zu bezeichnen. In seinem Labortagebuch benutzte Faraday in diesem Zusammenhang am 7. November erstmals den Begriff „Magnetfeld“. Faradays Entdeckung des Diamagnetismus führte zur Herausbildung der Magnetochemie, die sich mit den magnetischen Eigenschaften von Materialien beschäftigt. ==== Kraftlinien und Felder ==== Nach seiner Entdeckung des Einflusses eines Magnetfeldes auf polarisiertes Licht kam Faraday immer mehr zu der Auffassung, dass Kraftlinien eine reale physikalische Bedeutung haben könnten. Das ungewöhnliche Verhalten diamagnetischer Körper ließ sich nur schwer mit den herkömmlichen Magnetpolen erklären und führte zu einem Disput zwischen Faraday und Wilhelm Eduard Weber, der glaubte, nachweisen zu können, dass der Magnetismus wie die Elektrizität polarer Natur sei. 1848 begann Faraday mit neuen Experimenten das Verhalten von diamagnetischen Körpern unter dem Einfluss eines Magneten zu untersuchen. Dabei entdeckte er, dass Kristalle sich entlang bestimmter Vorzugsachsen orientieren (Magnetische Anisotropie). Dieses Verhalten ließ sich nicht mit den bisher genutzten Begriffen von Anziehung oder Abstoßung deuten. In seinem Untersuchungsbericht sprach Faraday erstmals von einem magnetischen Feld, das zwischen zwei Magnetpolen besteht und dessen Wirkung ortsabhängig ist.1852 fasste Faraday seine Ansichten über Kraftlinien und Felder im Artikel On the physical character of the lines of magnetic force (Über den physikalischen Charakter der magnetischen Kraftlinien) zusammen. Darin lehnte er eine Fernwirkung der Gravitationskräfte ab und vertrat die Auffassung eines mit der Masse eines Körpers verbundenen Gravitationsfeldes. ==== Elektrizität und Gravitation ==== Faradays Interesse für Gravitation reichte bis in die Mitte der 1830er Jahre zurück. Ende 1836 las er eine Arbeit des Italieners Ottaviano Fabrizio Mossotti, in der dieser die Gravitation auf elektrische Kräfte zurückführte. Faraday war anfangs von der Arbeit begeistert, ließ sie ins Englische übersetzen und sprach in einer Freitagabendvorlesung über sie. Später verwarf er jedoch Mossottis Erklärung, da er zu der Überzeugung gelangt war, die Unterschiede, wie die Schwerkraft gegenüber anderen Kräften wirkt, seien zu groß. In den nächsten Jahren spekulierte Faraday häufig darüber, auf welche Weise die Schwerkraft mit anderen Kräften in Beziehung stehen könnte. Im März 1849 begann er zu überlegen, wie ein Zusammenhang zwischen Gravitation und Elektrizität experimentell nachzuweisen sei. Er stellte sich die Gravitation als eine Kraft mit zwei komplementären Komponenten vor, bei der ein Körper positiv ist, wenn er sich zur Erde hin und negativ, wenn er sich von ihr wegbewegt. Er stellte die These auf, dass diese beiden Bewegungen mit entgegengesetzten elektrischen Zuständen verbunden seien. Für seine Versuche konstruierte Faraday eine Drahtspule, die er mit einem Galvanometer verband und aus großer Höhe fallen ließ. Er konnte jedoch bei keiner Messung einen Effekt nachweisen. Trotz des negativen Ausganges der Versuche beschrieb er seine Bemühungen in der Baker-Vorlesung vom 28. November 1850.Im Februar 1859 begann Faraday erneut eine Reihe von Experimenten, mit denen er einen Zusammenhang zwischen Gravitation und Elektrizität nachzuweisen hoffte. Aufgrund des zu erwartenden geringen Effektes benutzte er einige hundert Kilogramm schwere Bleimassen, die er vom 50 Meter hohen Schrotturm in Lambeth fallen ließ. Mit anderen Experimenten hoffte er, eine Temperaturänderung beim Heben und Senken einer Masse nachweisen zu können. Am 9. Juli 1859 brach Faraday die Versuche erfolglos ab. Er verfasste darüber den Aufsatz Note on the Possible Relation of Gravity with Electricity or Heat, den er am 16. April 1860 fertigstellte und der wie gewohnt in den Philosophical Transactions erscheinen sollte. George Gabriel Stokes, der befand, dass die Arbeit nicht veröffentlichungswürdig sei, da er nur negative Ergebnisse vorzuweisen habe, empfahl Faraday, seinen Artikel zurückzuziehen, was dieser nach Erhalt von Stokes Brief umgehend tat. === Popularisierung von Naturforschung und Technik === Kurz nach seiner Ernennung zum Labordirektor der Royal Institution Anfang 1825 öffnete Faraday die Laboratorien des Instituts für die Treffen der Institutsmitglieder. An drei bis vier Freitagabenden wollte er vor interessierten Mitgliedern von Experimenten begleitete Chemievorträge abhalten. Aus diesen informellen Treffen entwickelte er das Konzept der regelmäßig stattfindenden Freitagabendvorlesungen, bei denen Themen aus Naturforschung und Technik für Laien verständlich dargestellt werden sollten. Bei der ersten Freitagabendvorlesung am 3. Februar 1826 sprach Faraday über Kautschuk. Von den 17 Vorlesungen des ersten Jahres hielt er sechs zu Themen wie Isambard Kingdom Brunels Gasverflüssiger, Lithografie und den Thames Tunnel. Nach Faradays Ansicht sollten die Vorlesungen Spaß machen, unterhalten, bilden und vor allem anregend sein. Seine Vorlesungen wurden aufgrund der schlichten Vortragsweise sehr populär und waren stets gut besucht. Bis 1862 gab Faraday insgesamt 126 dieser einstündigen Vorlesungen. Als Sekretär des Komitees für die „Weekly Evening Meetings“ sorgte Faraday dafür, dass die Vorträge in der Literary Gazette und im Philosophical Magazin veröffentlicht wurden und auf diese Weise einem noch breiteren Publikum zugänglich waren.Neben den Freitagabendvorlesungen wurde zum Jahreswechsel 1825/26 erstmals eine Weihnachtsvorlesung abgehalten, die sich speziell an jugendliche Hörer richtete. Bis Anfang der 1860er Jahre prägte Faraday die Ausgestaltung der Weihnachtsvorlesungen wesentlich. Von 1827 an war er für insgesamt 19 Folgen verantwortlich, die meist aus sechs Einzelvorlesungen bestanden. 1860/61 nutzte er seine Notizen der bereits 1848/49 abgehaltenen Vorlesung mit dem Titel Chemical History of a Candle (Naturgeschichte einer Kerze). Auf Betreiben von William Crookes wurde Faradays Weihnachtsvorlesung mitgeschrieben und erschien als sechsteilige Artikelfolge in Crookes Chemical News. Die kurze Zeit später erschienene Buchfassung gilt als eines der erfolgreichsten populärwissenschaftlichen Bücher und wurde in zahlreiche Sprachen übersetzt. === Im öffentlichen Dienst === Neben seiner Forschungs- und Vorlesungstätigkeit war Faraday in vielfältiger Weise für den britischen Staat tätig. Im Sommer 1829 wandte sich Percy Drummond († 1843), Lieutenant Governor der Royal Military Academy in Woolwich, an Faraday und fragte ihn, ob er bereit sei, als Nachfolger des Geologen John MacCulloch den Posten des Professors für Chemie an der Akademie zu übernehmen. Nach längeren Verhandlungen, bei denen es vorwiegend um seine Pflichten und die Bezahlung ging, sagte Faraday zu. Bis 1852 hielt er in Woolwich jährlich 25 Vorlesungen.Ab dem 4. Februar 1836 war Faraday als wissenschaftlicher Berater für die Schifffahrtsbehörde Trinity House tätig, die unter anderem die englischen Leuchttürme betreibt. Er war verantwortlich für die chemische Analyse der beim Betrieb der Leuchttürme eingesetzten Materialien und begutachtete neue Beleuchtungssysteme, die Trinity House für den Einsatz vorgeschlagen worden waren. Faraday sorgte für die Modernisierung der englischen Leuchttürme. Vorbild waren ihm dabei die französischen Leuchttürme, bei denen zur Verbesserung der Lichtstärke Fresnel-Linsen eingesetzt wurden. Er begleitete auch die ersten Versuche zu ihrer Elektrifizierung. In Blackwall an der Themse gab es zwei speziell für seine Untersuchungen errichtete Leuchttürme.Im Auftrag der Regierung war Faraday an der Untersuchung zweier heikler Unfälle beteiligt. Am 13. April 1843 zerstörte eine Explosion die vom Ordnance Office geführte Schießpulverfabrik in Waltham Abbey (Essex), woraufhin Faraday mit der Ursachenanalyse betraut wurde. In seinem Bericht an den Labordirektor der Militärakademie von Woolwich James Pattison Cockburn (1779?–1847) zählte er mehrere mögliche Ursachen auf und gab Ratschläge, wie diese Probleme zukünftig vermieden werden könnten. Gemeinsam mit Charles Lyell und Samuel Stutchbury (1798–1859) erhielt er im Oktober 1844 vom Home Office den Auftrag, die Explosion in der Haswell-Grube in Durham zu untersuchen, bei der am 28. September 95 Menschen ums Leben gekommen waren. Lyell und Faraday erkannten, dass der Kohlenstaub eine wesentliche Rolle bei der Explosion gespielt hatte, und empfahlen die Einführung eines besseren Bewetterungssystemes.Ein erheblicher Teil Faradays beratender Tätigkeit befasste sich mit der Konservierung von Gegenständen und Gebäuden. Ab 1853 beriet er das Select Committee on the National Gallery bei der Konservierung von Gemälden. Beispielsweise untersuchte er den Einfluss der Gasbeleuchtung auf Gemälde. Anfang 1856 wurde Faraday in die Royal Commission berufen, die sich mit der Zukunft des Standortes der National Gallery befasste. Im Auftrag von Thomas Leverton Donaldson (1795–1885) untersuchte er für das British Museum, ob die Elgin Marbles ursprünglich bemalt waren. 1859 beriet er das Metropolitan Board of Works bei der Auswahl eines Mittels zur Behandlung der Kalksteine des kürzlich wiedererbauten Houses of Parliament, die sich unter dem Einfluss der schwefelhaltigen Londoner Luft zersetzten. === Religiöses Wirken === Faraday war ein zutiefst religiöser Mensch. Sein Vater gehörte der kleinen christlichen Sekte der Sandemanianer an, die sich Ende der 1720er Jahre von der Church of Scotland losgesagt hatten. Sie gründeten ihren Glauben und dessen Ausübung auf eine wörtliche Auslegung der Bibel. Im Großraum London gab es zur damaligen Zeit etwa einhundert und in ganz Großbritannien etwa eintausend Sandemanianer. Bereits als Kind begleitete Faraday seinen Vater zu den sonntäglichen Predigten. Kurz nach seiner Hochzeit mit Sarah Barnard, die ebenfalls Mitglied der Sandemanianer war und deren Vater der Gemeinde als Ältester („Elder“) diente, legte er am 15. Juli 1821 seinen Eid ab und wurde Mitglied.Als Zeichen ihrer hohen Wertschätzung wählte die Londoner Gemeinde Faraday am 1. Juli 1832 zum Diakon und am 15. Oktober 1840 zu einem der drei Ältesten. In den folgenden dreieinhalb Jahren gehörte es zu seinen Verpflichtungen, an jedem zweiten Sonntag die Predigt zu halten, auf die er sich genauso sorgfältig wie auf seine Vorlesungen vorbereitete. Am 31. März 1844 wurde Faraday bis zum 5. Mai aus der Gemeinde ausgeschlossen. Die Gründe hierfür sind nicht ganz geklärt, sind aber nicht in einer persönlichen Verfehlung Faradays zu suchen, sondern auf eine Kontroverse innerhalb der Sandemanianer zurückzuführen, da neben Faraday zu dieser Zeit auch zahlreiche weitere Mitglieder ausgeschlossen wurden. In seine Position als Ältester wurde er erst wieder am 21. Oktober 1860 gewählt. Bis 1864 war Faraday wieder regelmäßig für die Predigten zuständig und erhielt den Kontakt zu anderen sandemanianischen Gemeinden, so beispielsweise in Chesterfield, Glasgow und Dundee, aufrecht. Seine Predigten bestanden aus einer Reihe von Zitaten aus dem Alten und Neuen Testament, die er kommentierte. Seine religiösen Ansichten waren für ihn eine sehr private Angelegenheit und er äußerte sich nur selten gegenüber seinen Briefpartnern oder in der Öffentlichkeit darüber. === Letzte Jahre === Der dritte und letzte Band der Experimental Researches in Electricity, den Faraday Anfang 1855 zusammenstellte, umfasste alle seine seit 1846 in den Philosophical Transactions veröffentlichten Arbeiten. Zusätzlich nahm er zwei im Philosophical Magazine publizierte Artikel auf, die an die 29. Folge der Experimental Researches in Electricity anschlossen und seine charakteristische Abschnittsnummerierung fortsetzten. Einige kürzere Artikel ergänzten den Band. Insgesamt publizierte Faraday 450 wissenschaftliche Artikel.Durch Vermittlung von Prinz Albert bezogen die Faradays im September 1858 ein Haus in Hampton Court Green, das Königin Victoria gehörte und sich in unmittelbarer Nähe des Hampton Court Palace befand. Im Oktober 1861 bat der siebzigjährige Faraday die Manager der Royal Institution um seine Entlassung aus dem Institutsdienst. Diese lehnten sein Ersuchen jedoch ab und erließen ihm nur die Verantwortung für die Weihnachtsvorlesungen. Am 25. November 1861 begann Faraday eine letzte Versuchsreihe, bei der er mit einem von Carl August von Steinheil konstruierten Spektroskop die Auswirkungen eines Magnetfeldes auf das Lichtspektrum einer Flamme untersuchte. Seinen letzten Eintrag im Labortagebuch machte er am 12. März 1862. Die Versuche blieben wegen der nicht ausreichend empfindlichen Messanordnung erfolglos; der Zeeman-Effekt wurde erst 1896 entdeckt. Am 20. Juni 1862 hielt Faraday vor über 800 Zuhörern seinen letzten Freitagabendvortrag On Gas Furnaces (Über Gasöfen) und beendete seine fast vier Jahrzehnte andauernde Vortragstätigkeit für die Royal Institution. Im Frühjahr 1865 wurde er auf einmütigen Beschluss der Manager der Royal Institution von allen seinen Verpflichtungen entbunden. Bis zum Mai 1865 stand er mit seinem Rat noch der Schifffahrtsbehörde zur Verfügung. Faraday starb am 25. August 1867 in seinem Haus in Hampton Court und wurde fünf Tage später auf dem Highgate Cemetery begraben. == Rezeption und Nachwirkung == === Herausbildung der Elektrodynamik === Faradays Konzepte und seine Ansicht von der Einheitlichkeit der Natur, die ohne eine einzige mathematische Formel auskamen, hinterließen beim jungen James Clerk Maxwell einen tiefen Eindruck. Maxwell stellte es sich zur Aufgabe, Faradays experimentelle Befunde und ihre Beschreibung mittels Kraftlinien und Felder in eine mathematische Darstellung zu überführen. Maxwells erster größerer Aufsatz über Elektrizität On Faraday’s Lines of Force (Über Faradays Kraftlinien) erschien 1856. Auf Grundlage einer Analogie zur Hydrodynamik stellte Maxwell darin eine erste Theorie des Elektromagnetismus auf, indem er die Vektorgrößen elektrische Feldstärke, magnetische Feldstärke, elektrische Stromdichte und magnetische Flussdichte einführte und mit Hilfe des Vektorpotentials zueinander in Beziehung setzte. Fünf Jahre später berücksichtigte Maxwell in On Physical Lines of Force (Über physikalische Kraftlinien) auch das Medium, in dem die elektromagnetischen Kräfte wirkten. Er modellierte das Medium durch elastische Eigenschaften. Daraus ergab sich, dass eine zeitliche Änderung eines elektrischen Feldes zu einem zusätzlichen Verschiebungsstrom führt. Außerdem ergab sich, dass Licht eine transversale Wellenbewegung des Mediums ist, womit Faradays Spekulation über die Natur des Lichtes bestätigt wurde. Die weitere Ausarbeitung der Theorie durch Maxwell führte 1864 schließlich zur Formulierung der Maxwellschen Gleichungen, welche die Grundlage der Elektrodynamik bilden und mit denen sich alle von Faraday gefundenen elektromagnetischen Entdeckungen erklären lassen. Eine der vier Maxwellschen Gleichungen ist eine mathematische Beschreibung der von Faraday entdeckten elektromagnetischen Induktion. === Öffentliche Wahrnehmung === Am Ende des 19. Jahrhunderts wurde Faraday als Erfinder des Elektromotors, des Transformators und des Generators sowie als Entdecker von Benzol, des magnetooptischen Effektes, des Diamagnetismus und als Schöpfer der elektromagnetischen Feldtheorie wahrgenommen. 1868 erschien John Tyndalls Biografie Faraday as a Discoverer (Faraday und seine Entdeckungen). Tyndall, der Nachfolger von Brande an der Royal Institution war, beschrieb darin hauptsächlich Faradays wissenschaftliche Entdeckungen. Hermann Helmholtz, der Tyndalls Biografie ins Deutsche übersetzte, ergänzte diese durch zahlreiche biografische Anmerkungen. Kurz darauf publizierte Henry Bence Jones, Sekretär der Royal Institution und Arzt Faradays, eine typische viktorianische „Life-and-Letters“-Biografie, für die er auf Faradays Briefe, seine Labortagebücher und andere unveröffentlichte Manuskripte zurückgriff und Ausschnitte aus Tyndalls Biografie nutzte. Bence Jones zweibändige Biografie ist noch heute eine wichtige Quelle, da einige der darin zitierten Briefe und Tagebücher nicht mehr auffindbar sind. Diese und weitere Darstellungen von Faraday führten zu einem Bild eines Forschers, der allein und in der Abgeschiedenheit seines Labors an der Royal Institution den Naturgeheimnissen auf den Grund ging. === Instrumentalisierung === Nach dem Ende des Ersten Weltkrieges versuchten die etablierte Gasindustrie und die aufstrebende Elektroindustrie, deren Ziel die umfassende Elektrifizierung Großbritanniens war und die sich damit in unmittelbarer Konkurrenz zur Gasindustrie befand, in den 1920er Jahren die Bekanntheit Faradays für ihre jeweiligen Ziele zu nutzen. Anlässlich des einhundertsten Jahrestages der Entdeckung von Benzol konstituierte sich unter dem Vorsitz des Chemikers Henry Edward Armstrong ein Komitee aus Mitgliedern der Royal Institution, der Chemical Society, der Society of Chemical Industry und der Association of British Chemical Manufacturers. Während der Feierlichkeiten im Juni 1925 wurde hervorgehoben, welche Bedeutung Faraday für die moderne Chemieindustrie habe, und er wurde als „Vater der Chemieindustrie“ zelebriert.Auf Initiative von Walter Adolph Vignoles (1874–1953), Direktor der Electrical Development Association, und mit Unterstützung von William Henry Bragg, Direktor des Davy-Faraday Research Laboratory an der Royal Institution, wurde im Februar 1928 ein neunköpfiges Komitee berufen, das die Feierlichkeiten aus Anlass des einhundertsten Jahrestages der Entdeckung der elektromagnetischen Induktion 1931 organisieren sollte. Vom 23. September bis 3. Oktober 1931 fand in der Royal Albert Hall eine Ausstellung zu Ehren Faradays und seiner Entdeckung statt. Den Mittelpunkt der Ausstellung bildete eine Kopie der von John Henry Foley (1818–1874) und Thomas Brock (1847–1922) geschaffenen Skulptur, die sich seit 1876 in der Royal Institution befand und die Faraday in akademischer Kleidung mit seinem Induktionsring zeigte. In unmittelbarer Nähe der Skulptur befanden sich die einfachen Dinge, mit denen Faraday seine ersten Experimente durchführte: ein Draht, ein Magnet und ein Quecksilbertropfen. Die Skulptur bildete den Mittelpunkt für die darum kreisförmig angeordneten Ausstellungsstände. Auf den der Skulptur nächstgelegenen Ständen wurden die von Faraday für die einzelnen Experimente benutzten Apparaturen und seine damit verbundenen Aufzeichnungen gezeigt. Die äußeren Stände demonstrierten die daraus hervorgegangenen modernen Technologien der Elektroindustrie. Eine 12-seitige Broschüre, die die Ausstellung begleitete und von der etwa 100.000 Kopien verteilt wurden, trug den Titel Faraday: The Story of an Errand-Boy. Who Changed the World (Faraday: Die Geschichte eines Laufburschen, der die Welt veränderte). Die aufwändige Ausstellung von 1931 und die damit verbundenen Feierlichkeiten waren einerseits dem Bestreben der Elektroindustrie geschuldet, Elektrizität in vermarktbare Produkte zu verwandeln. Andererseits unterstützten sie auch das Bestreben der Naturwissenschaftler, zu zeigen, wie Grundlagenforschung zur Entwicklung neuer Technologien beitragen kann. === Auszeichnungen und Würdigung === Faradays Biograf Henry Bence Jones verzeichnet insgesamt 95 Ehrentitel und Auszeichnungen. Die erste Würdigung durch eine Gelehrtengesellschaft wurde Faraday 1823 durch die Cambridge Philosophical Society zuteil, die ihn als ihr Ehrenmitglied aufnahm. 1832 wurde er in die American Academy of Arts and Sciences, 1835 in die Göttinger Akademie der Wissenschaften und die Royal Society of Edinburgh sowie 1840 in die American Philosophical Society gewählt. Auf Bestreben von Jean-Baptiste André Dumas wurde Faraday 1844 als eines der acht Auslandsmitglieder in die Académie des sciences gewählt. 1847 wurde er als auswärtiges Mitglied in die Bayerische Akademie der Wissenschaften und 1851 in die Königlich Niederländische Akademie der Wissenschaften aufgenommen. Im Jahre 1857 wurde er zum Mitglied der Leopoldina gewählt. 1864 wurde er letztmals durch die Società Reale di Napoli geehrt, die ihn als assoziiertes Auslandsmitglied führte. Ebenfalls 1864 wurde er in die National Academy of Sciences gewählt. Die Royal Society zeichnete ihn mit der Copley-Medaille (1832 und 1838), der Royal Medal (1835 und 1846) und der Rumford-Medaille (1846) aus. Das Angebot, Präsident der Royal Society zu werden, lehnte Faraday zweimal (1848 und 1858) ab. 1842 erhielt Faraday den preußischen Verdienstorden Pour le Mérite. Ein speziell für die Verlegung von Seekabeln gebauter Kabelleger, die Faraday, wurde 1874 von seinem Konstrukteur Carl Wilhelm Siemens nach Faraday benannt. Der in Paris tagende Congrès international d’électriciens (Internationaler Elektrikerkongress) beschloss am 22. September 1881, die Einheit für die elektrische Kapazität zu seinen Ehren Farad zu nennen. Ebenso sind nach ihm der Mondkrater Faraday und der Asteroid Faraday benannt. William Whewell ehrte Faraday und Davy mit der Benennung einer seiner „Epochen der Chemie“.Am 5. Juni 1991 emittierte die Bank of England eine neue 20-Pfund-Sterling-Banknote mit dem Bildnis von Faraday, die bis zum 28. Februar 2001 gültiges Zahlungsmittel war. Mehrere Preise sind nach ihm benannt, unter anderem die Faraday-Medaille (IOP), Faraday-Medaille (IEE) und der Michael-Faraday-Preis der Royal Society. Nach ihm benannt ist die Pflanzengattung Faradaya F.Muell. aus der Familie der Lippenblütler (Lamiaceae). === Nachlass und Briefwechsel === Faradays schriftlicher Nachlass ist wahrscheinlich der umfangreichste, den ein Naturforscher in der Geschichte der Naturwissenschaften hinterlassen hat. Er umfasst seine Labortagebücher, Tagebücher, Commonplace-Books, Notizen, Manuskripte, Briefe, Bücher und anderes. Im Nachlass finden sich Aufzeichnungen zu etwa 30.000 von Faraday durchgeführten Experimenten.Anfang 1855 gab Faraday erste Anweisungen zur Regelung seines Nachlasses. Er hinterließ der Royal Institution seine Labortagebücher, einige Sonderdrucke und andere persönliche Dinge. Nach Faradays Tod erhielt die Royal Institution weiteres Material von seiner Frau Sarah. Trinity House überließ sie die Akten mit seinen Arbeiten für die Behörde. Diese befinden sich heute in der Guildhall Library. Etliche Stücke gab sie zur Erinnerung an Faraday an Freunde und Verwandte. Ein Teil davon gelangte Ende 1915 in den Besitz der Institution of Electrical Engineers. Die Manuskripte von Faradays Artikeln für die Philosophical Transactions wurden, nachdem er sie zur Veröffentlichung eingereicht hatte, Eigentum der Royal Society. Die Hälfte von ihnen blieb bewahrt. Von Faradays Korrespondenz sind etwa 4800 Briefe erhalten, die sich in 230 Archiven auf der ganzen Welt befinden. == Schriften == === Englische Erstausgaben === Chemical Manipulation: Being Instructions to Students in Chemistry on the Methods of Performing Experiments of Demonstration or of Research, with Accuracy and Success. 1. Auflage, W. Phillips, London 1827 (online). Experimental Researches in Electricity. 3 Bände, R. Taylor & W. Francis, London 1839–1855 (Band 1, Band 2, Band 3). Experimental Researches in Chemistry and Physics. R. Taylor & W. Francis, London 1859 (Digitalisathttp://vorlage_digitalisat.test/1%3D~GB%3D~IA%3Dexperimentalrese00fararich~MDZ%3D%0A~SZ%3D~doppelseitig%3D~LT%3D~PUR%3D). A Course of Six Lectures on the Various Forces of Matter, and Their Relations To Each Other. Richard Griffin & Co., London Glasgow 1860 (Digitalisathttp://vorlage_digitalisat.test/1%3D~GB%3D~IA%3Dcourseofsixlectu00fararich~MDZ%3D%0A~SZ%3D~doppelseitig%3D~LT%3D~PUR%3D). A Course of Six Lectures on the Chemical History of a Candle: To Which is Added a Lecture on Platinum. Harper & Brothers, New York 1861 (Digitalisathttp://vorlage_digitalisat.test/1%3D~GB%3D~IA%3Dcourseofsixlectu00fara~MDZ%3D%0A~SZ%3D~doppelseitig%3D~LT%3D~PUR%3D). === Deutsche Erstausgaben === Chemische Manipulation oder das eigentlich Practische der sichern Ausführung chemischer Arbeiten und Experimente. Verlag des Landes-Industrie-Comptoir, Weimar 1828, 1832. Experimental-Untersuchungen über Elektricität. 3 Bände, übersetzt von Salomon Kalischer, Verlag von Julius Springer, Berlin 1889–1891. Naturgeschichte einer Kerze. Sechs Vorlesungen für die Jugend, aus dem Englischen übertragen von Lüdicke, Robert Oppenheim, Berlin 1871. Die verschiedenen Kräfte der Materie und ihre Beziehungen zu einander. Sechs Vorlesungen für die Jugend, übersetzt von H. Schröder, Robert Oppenheim, Berlin [1872]. === Aktuelle deutsche Ausgaben === Nach der aus dem Englischen von Salomon Kalischer übersetzten Ausgabe von 1889 bis 1891 mit einer Einleitung von Friedrich Steinle: Experimental-Untersuchungen über Elektricität. Band 1, Harri Deutsch Verlag, 2004, ISBN 3-8171-3292-1. Experimental-Untersuchungen über Elektricität. Band 2, Harri Deutsch Verlag, 2004, ISBN 3-8171-3293-X. Experimental-Untersuchungen über Elektricität. Band 3, Harri Deutsch Verlag, 2004, ISBN 3-8171-3294-8. == Literatur == === Biografien === Klassische James Arnold Crowther: The Life and Discoveries of Michael Faraday. London 1920 (Digitalisathttp://vorlage_digitalisat.test/1%3D~GB%3D~IA%3Dlifediscoverieso00crowrich~MDZ%3D%0A~SZ%3D~doppelseitig%3D~LT%3D~PUR%3D). John Hall Gladstone: Michael Faraday: His Life and Work. Macmillan & Co., London 1872 (Digitalisathttp://vorlage_digitalisat.test/1%3D~GB%3D~IA%3Dmichaelfaraday00gladrich~MDZ%3D%0A~SZ%3D~doppelseitig%3D~LT%3D~PUR%3D). Henry Bence Jones: The Life and Letters of Michael Faraday. 2 Bände, Longmans, Green, London 1870 (Band 1http://vorlage_digitalisat.test/1%3D~GB%3D~IA%3Dlifelettersoffar01joneiala~MDZ%3D%0A~SZ%3D~doppelseitig%3D~LT%3DBand%201~PUR%3D, Band 2http://vorlage_digitalisat.test/1%3D~GB%3D~IA%3Dlifelettersoffar02joneiala~MDZ%3D%0A~SZ%3D~doppelseitig%3D~LT%3DBand%202~PUR%3D). Silvanus Phillips Thompson: Michael Faraday, His Life and Work. Cassel & Co., London 1898 (Digitalisathttp://vorlage_digitalisat.test/1%3D~GB%3D~IA%3Dcu31924012323014~MDZ%3D%0A~SZ%3D~doppelseitig%3D~LT%3D~PUR%3D). John Tyndall: Faraday as a Discoverer. Longmans, Green & Co., London 1868 (Digitalisathttp://vorlage_digitalisat.test/1%3D~GB%3D~IA%3Dfaradayasdiscove00tyndrich~MDZ%3D%0A~SZ%3D~doppelseitig%3D~LT%3D~PUR%3D) (deutsch: Faraday und seine Entdeckungen. Übersetzt von Hermann Helmholtz, Friedrich Vieweg und Sohn, Braunschweig 1870).Moderne Geoffrey Cantor: Michael Faraday: Sandemanian and Scientist. 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Bell & Sons, London 1936. === Zur Rezeption seines Werkes (Auswahl) === Geoffrey Cantor: The scientist as a hero: public images of Michael Faraday. In: Michael Shortland, Richard R. Yeo (Hrsg.): Telling lives in science: essays on scientific biography. Cambridge University Press, 1996, ISBN 0-521-43323-1, S. 171–194. Geoffrey Cantor: Michael Faraday’s religion and its relation to his science. In: Endeavour. Band 22, Nummer 3, 1998, S. 121–124, doi:10.1016/S0160-9327(98)01134-X. Michael Faraday. In: Michael J. A. Howe: Genius Explained. Cambridge University Press, 2001, ISBN 0-521-00849-2, S. 84–107. Alan E. Jeffreys: Michael Faraday: A List of his Lectures and Published Writings. Chapman and Hall: London 1960. Alice Jenkins: Michael Faraday’s mental exercises: An artisan essay-circle in Regency London. Liverpool University Press, Liverpool 2008, ISBN 978-1-84631-140-6. David Keith Chalmers MacDonald: Faraday, Maxwell, and Kelvin. Science Study Series, Anchor Books, 1964. 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https://de.wikipedia.org/wiki/Michael_Faraday
Baskische Sprache
= Baskische Sprache = Die baskische Sprache – Eigenbezeichnung euskara [eus̺ˈkaɾa] (dialektal auch euskera, eskuara, üskara) – wird im Baskenland (Euskal Herria), der spanisch-französischen Grenzregion an der Atlantikküste (Biskaya), von über 750.000 Menschen gesprochen, davon über 700.000 in Spanien. Die Zahl der Sprecher außerhalb des angestammten Sprachgebiets vor allem in Europa und Amerika ist nicht unerheblich, sodass insgesamt rund 1,2 Millionen Menschen Baskisch sprechen. Das Baskische ist nach dem überwiegenden Urteil der einschlägigen Forschung mit keiner anderen bekannten Sprache genetisch verwandt. Es wäre also eine isolierte Sprache, während alle anderen heutigen Sprachen Europas zu einer größeren Sprachfamilie gehören: entweder zu den indogermanischen, den uralischen, den Turksprachen oder – im Falle des Maltesischen – den semitischen Sprachen. Die Bezeichnung „Basken“ stammt vom Lateinischen vascones, einem Namen, der etymologisch mit der Wurzel eusk- in Zusammenhang steht und ursprünglich auch für keltiberische Gruppen benutzt wurde. Die Eigenbezeichnung der Basken ist Euskaldunak, abgeleitet vom Sprachnamen Euskara (bedeutet also eigentlich „Baskischsprecher“). Zur aktuellen Sprachpolitik im Baskenland siehe den Artikel Baskische Sprachpolitik. == Einordnung == Das Baskische ist die einzige nichtindogermanische Sprache im westlichen Europa und die einzige isolierte Sprache des gesamten europäischen Kontinents. Schon dadurch nimmt sie eine auffällige Sonderrolle ein. Baskisch konnte sich im westlichen Pyrenäengebiet Spaniens (in den Autonomen Gemeinschaften Baskenland und Navarra) und Frankreichs (französisches Baskenland) über Jahrtausende gegen verschiedene indogermanische Sprachen behaupten, darunter das Keltische, das Lateinische und die heutigen romanischen Sprachen. Es wird angenommen, dass das Baskische der letzte überlebende Vertreter einer alteuropäischen Sprachschicht ist, die vor dem Vordringen des Indogermanischen in weiten Teilen Westeuropas verbreitet war. Allerdings kann das Altbaskische oder Vaskonische – der antike Vorgänger der modernen Sprache – entgegen einer populären Auffassung kaum als eine Art alteuropäische Gemeinsprache angesehen werden, die vor der Indogermanisierung über ganz Süd-, West- und Mitteleuropa verbreitet gewesen sein soll. Sicherlich gab es in diesen umfangreichen Gebieten vorindogermanische Sprachen, von denen die eine oder andere mit dem Vorläufer des heutigen Baskischen verwandt gewesen sein mag. Aber schon die Verwandtschaft zu den auf der iberischen Halbinsel vormals verbreiteten vorindogermanischen Sprachen Iberisch und Südlusitanisch wird von den meisten Forschern angezweifelt. Als eine frühe Form des Baskischen kann in Südfrankreich das aus der Antike belegte Aquitanische gelten, das nur in etwa 500 Personen- und Götternamen auf lateinisch geschriebenen Grab- und Weihinschriften überliefert ist. Sowohl das Namengut als auch die wenigen identifizierbaren morphologischen Partikeln weisen eine Verwandtschaft mit dem heutigen Baskischen auf (z. B. aquitanisch nesca „Wassernymphe“, baskisch neska „Mädchen“; aquitanisch cison „Mann“, baskisch gizon „Mensch, Mann“; -en(n) aquitanische und baskische Genitivendung). == Ethnolinguistische Daten zum Baskischen == === Sprecherzahlen, Sprachstatus === Das Baskische wird von etwa 700.000 Menschen vor allem in Nordostspanien und Südwestfrankreich gesprochen. Zuverlässige Sprecherzahlen für das Baskische außerhalb des Baskenlandes liegen nicht vor, aber rund 90.000 dürften die Sprache in anderen Teilen Europas und Amerikas sprechen oder wenigstens verstehen, so dass die Gesamtzahl der Sprecher auf fast 800.000 geschätzt werden kann. (Encyclopædia Britannica 1998 liefert höhere Zahlen, Ethnologue 2006 – basierend auf Zählungen von 1991 – geht von insgesamt 650.000 Sprechern aus. Der Zensus von 1994 ergab etwa 618.000 Muttersprachler. EUROSTAT, das statistische Jahrbuch der EU, gibt 1999 rund 690.000 Sprecher für Spanien an, für Frankreich rechnet das Instituto Cultural Vasco 1997 mit 56.000 Baskischsprechern über 15 Jahren.) Die Sprecher des Baskischen sind zwei- oder mehrsprachig und beherrschen die Nationalsprache ihres jeweiligen Landes. Im spanischen Baskenland (im engeren Sinne: Provinzen Guipúzcoa, Vizcaya und Álava) besitzt das Baskische seit 1978 den Status einer regionalen Amtssprache (dazu ausführlich der Artikel Baskische Sprachpolitik), in Navarra ist es seit 1986 kooffizielle Amtssprache in den überwiegend baskischsprachigen Gemeinden. In Frankreich hat auf dem gesamten Staatsgebiet alleine die französische Sprache den Status einer offiziellen (Amts-)Sprache. Baskisch gilt wie alle anderen traditionell in den verschiedenen Landesteilen gesprochenen Sprachen als regionale Sprache Frankreichs und besitzt als solche (nicht spezifisch genannt) seit der Verfassungsänderung vom 23. Juli 2008 Verfassungsrang als (schützenswertes) Kulturgut (patrimoine de la France). Hieraus leitet sich (bisher) keinerlei konkreter Rechtsanspruch ab. Die französische Sprachpolitik sieht nicht einmal eine offizielle Zählung der Sprecher vor. Baskische Verbände gehen teilweise von höheren Sprecherzahlen aus – bis zu zwei Millionen –, dabei werden aber kompetente aktive Sprecher und passive Sprecher (Personen, die das Baskische bis zu einem gewissen Grade zwar verstehen, aber es nicht kompetent sprechen können) nicht unterschieden. In Spanien tragen heute etwa 4,5 Mio. Menschen einen baskischen Nachnamen. === Geografische Verteilung === Das Sprachgebiet liegt an der Küste im Südosten des Golfs von Biskaya von Bilbao in Spanien bis Bayonne in Frankreich. Es hat eine Ost-West-Ausdehnung von über 150 km, eine Nord-Süd-Ausdehnung von weniger als 100 km und umfasst eine Fläche von etwa 10.000 km². In Spanien sind das die Provinzen Guipúzcoa, Teile von Vizcaya und Navarra, und der Nordteil von Álava. Die Baskischsprecher konzentrieren sich vor allem in den hochindustrialisierten Regionen dieses Gebiets. Die höchsten Bevölkerungsanteile haben sie allerdings in ländlichen Gebirgstälern. Zahlreiche Sprecher des Baskischen leben auch in den Großstädten außerhalb des geschlossenen baskischen Sprachraums, insbesondere den Provinzhauptstädten Vitoria-Gasteiz und Pamplona/Iruña sowie in Madrid. In Frankreich wird Baskisch vor allem im französischen Teil des Baskenlandes, dem westlichen Teil des Departments Pyrénées-Atlantiques mit den historischen baskischen Provinzen Labourd, Basse-Navarre und Soule gesprochen. An der Küste im Bereich der bevölkerungsreichen urbanen Zentren (Bayonne/Baiona, das seit dem 19. Jahrhundert mehrheitlich französischsprachig ist und Biarritz) ist der Anteil der Baskischsprecher auch hier niedriger als im ländlichen Inneren. Außerhalb des Baskenlandes gibt es größere Sprecherzahlen in den USA, den lateinamerikanischen Ländern, Australien, den Philippinen und in anderen Teilen Europas. === Dialekte, Euskara Batua === Die Sprachwissenschaft unterscheidet meist sieben Hauptdialekte des Baskischen: in Spanien: die Dialekte von Bizkaia (Biskayisch auch Vizcainisch), Gipuzkoa (Gipuzkoanisch), Araba (Álava) (heute †) und Nafarroa (Obernavarrisch) in Frankreich: die Dialekte von Lapurdi (Laburdinisch auch Labourdisch), Nafarroa Beherea (Niedernavarrisch) und Zuberoa (Suletinisch, auch Soulisch)Diese Mundarten lassen sich aber noch einmal in mindestens 25 Subdialekte untergliedern. Die Dialekte werden nach den (ehemaligen) Provinzen eingeteilt. Die Dialektunterschiede sind nicht sehr groß, Nachbardialekte sind gegenseitig gut verständlich, am stärksten weicht der östlichste französische Dialekt, der Dialekt von Zuberoa (Suletinisch), ab. Drei Hauptgruppen unterscheidet man: 1. Biskayisch, 2. Gipuzcoanisch, Labourdisch und Obernavarresisch, 3. Niedernavarresisch und Soulisch. Eine Aufteilung der baskischen Dialekte in drei separate Sprachen – spanisches Baskisch, Navarro-Labourdin und Souletin, wie sie Ethnologue vornimmt – entspricht trotz der starken Abweichung des suletinischen Dialekts nicht der wissenschaftlichen Literatur. Aus dem zentralen Dialekt von Gipuzkoa und auf der Basis früherer Standardisierungsprojekte hat die Baskische Akademie unter der Leitung von Koldo Mitxelena (Luís Michelena) seit 1968 einen Sprach- und Schriftstandard Euskara Batua (Geeintes Baskisch) geschaffen. Seit 1980 sind mehr als 80 % aller baskischen Publikationen – immerhin rund 5000 Titel – in dieser standardisierten Sprache erschienen, die sich langsam auch als gesprochene Hochsprache durchzusetzen beginnt. (Dazu weitere Details im Artikel Baskische Sprachpolitik.) == Geschichte der baskischen Sprache == === Die Entwicklung des Baskischen === Zu Beginn unserer Zeitrechnung wurde das Baskische nachweislich nördlich und südlich der Pyrenäen und in weiten Teilen Nordspaniens gesprochen. Nach der römischen Herrschaft dehnte sich das Sprachgebiet weiter nach Südwesten bis in die Provinz Rioja Alta, ein Gebiet innerhalb der heutigen Provinz La Rioja, aus. Die östlichsten baskischen Dialekte (Aquitanisch) wurden früh von den romanischen Sprachen verdrängt. Im Mittelalter konnte sich das ländliche schriftlose Baskische nur schwer gegen die aufstrebenden romanischen Schrift- und Kultursprachen (z. B. Aragonesisch und Okzitanisch) behaupten. Im Süden verlor das Baskische seit dem 10. Jahrhundert kontinuierlich gegen das weiter vordringende Kastilische bzw. Spanische an Boden. === Schriftliche Überlieferung === Lateinische Inschriften meist aus dem heutigen Südwestfrankreich bewahren einige eindeutig baskische Personennamen oder Götternamen (Leherenno deo „der erste Gott“). Seit 1000 n. Chr. bleiben baskische Eigennamen, aber auch baskische Formeln und kurze Sätze häufiger erhalten. Das erste Buch in baskischer Sprache wurde 1545 gedruckt (Linguae Vasconum Primitiae). Es wurde von Jean (d’) Etxepare (Echepare), einem Priester aus Niedernavarra, verfasst und enthält eine Reihe volkstümlicher Gedichte. Dieses Buch war der Beginn einer ununterbrochenen, aber nicht besonders umfangreichen literarischen Überlieferung, die vor allem religiöse Titel aufweist. Die „Baskische Wiedererweckungs- oder Renaissancebewegung“ (Euskal pizkundea, 1887–1936) unternahm erste konkrete Schritte zur Vereinheitlichung der Schriftsprache auf Basis des Zentraldialekts von Gipuzkoa. In den Jahren 2005 und 2006 wurden in Iruña-Veleia (Provinz von Alava) baskische Inschriften gefunden, die auf das 4. Jahrhundert datiert wurden, d. h. auf die Zeit der Christianisierung der Basken. Ihre Echtheit ist umstritten, wird aber von den Findern verteidigt. === Bürgerkrieg und Franco-Zeit === Vorübergehend erlangte das Baskische 1936 nach der Annahme des Baskischen Autonomiestatuts während der Zweiten Spanischen Republik den Status einer Amtssprache für das spanische Baskenland. Nach dem Sieg der Aufständischen im „Krieg im Norden“ verlor es diesen Status wieder (1937). In der anschließenden Franco-Diktatur (1939–1975) wurde der Gebrauch des Baskischen im gesamten öffentlichen Bereich verboten, was die Sprecherzahlen im Laufe jener Jahre stark absinken ließ. Erst seit 1975 wurden die Einschränkungen etwas gelockert, so dass auch Schulen mit Baskisch als Unterrichtssprache (ikastolak) und Baskischkurse für Erwachsene eingerichtet werden konnten. Diese Institutionen, die sich bald im gesamten Baskenland ausbreiteten, machten die Schaffung einer einheitlichen baskischen Schriftsprache immer dringender. === Standardisierung, regionale Amtssprache === Die Etablierung des gemeinsamen Schrift- und Sprachstandards Euskara Batua (‚geeintes Baskisch‘) wurde durch die Rechtschreibung-Festlegung von Koldo Mitxelena (auch Luís Michelena) 1968 entscheidend gefördert, sie ist aber nicht vollständig abgeschlossen. Die Demokratisierung Spaniens seit 1975 und insbesondere die Verfassung von 1978, die dem Baskischen den Status einer regionalen Amtssprache neben dem Spanischen in den Provinzen Bizkaia, Gipuzkoa, Álava und Teilen von Navarra einräumte, schuf günstigere Voraussetzungen für die Stabilisierung und weitere Entwicklung der baskischen Sprache in Spanien. === Ausblick === Diese förderlichen politischen Umstände, die feste Verwurzelung des Baskischen in der baskischen Bevölkerung und deren starkes ethnisches und sprachliches Bewusstsein tragen sicherlich zur längerfristigen Behauptung dieser außerordentlichen Sprache bei, obwohl sie weniger als eine Million Sprecher hat. == Herkunftstheorien == Der Nachweis einer genetischen Verwandtschaft des Baskischen mit anderen Sprachen ist schon aus folgenden Gründen schwierig: Größere schriftliche Zeugnisse liegen erst aus dem 15. bzw. 16. Jahrhundert vor, so dass ältere Sprachstufen nur schwer rekonstruiert werden können. Hier kann allerdings die alte baskische Toponymie (Ortsnamenkunde) helfen. Andere altiberische Sprachen sind nur lückenhaft bekannt. Man kann deswegen nicht entscheiden, ob die in geringer Zahl existierenden baskisch-altiberischen Wortgleichungen nicht vielleicht auf Entlehnung oder Sprachkontakt zurückgehen (siehe „Iberische Hypothese“).Die bisher unter seriösen Forschern meistverbreitete Hypothese besagt, dass das Baskische mit keiner anderen Sprache verwandt, also isoliert ist. Dennoch gab und gibt es auch zahlreiche Versuche, das Baskische mit anderen Sprachen und Sprachfamilien genetisch in Beziehung zu setzen. Offensichtlich bot die Isolation des Baskischen inmitten indogermanischer Sprachen dazu einen besonderen Anreiz. R. P. G. Rijk (1992) beschreibt das Ergebnis dieser Bemühungen lapidar: „Trotz all der Tinte, die auf seine genetische Verwandtschaft in den letzten hundert Jahren verwendet wurde, ist die Sache immer noch unklar.“ === Iberische Hypothese === Bereits Wilhelm von Humboldt und später Hugo Schuchardt stellten im 19. Jahrhundert die Hypothese der Verwandtschaft des Baskischen mit dem Iberischen auf. Das Iberische – nicht zu verwechseln mit dem Keltiberischen, einer keltischen und somit indogermanischen Sprache – ist eine nicht-indogermanische Sprache des vor- und frührömischen Spaniens (6. bis 1. Jahrhundert v. Chr.), die zunächst vereinzelt in griechischer, später in größerem Umfang in einer eigenen – von den Phöniziern und Griechen beeinflussten – iberischen Schrift auf zahlreichen Inschriften und Münzen in Spanien, auf den Balearen und in Südfrankreich überliefert wurde. Obwohl die Entzifferung der iberischen Buchstaben-Silben-Schrift gelungen ist (M. G. Moreno 1922–24), sind die iberischen Texte kaum verständlich geworden. Insbesondere war – entgegen der ursprünglichen Erwartung – das Baskische zu ihrem Verständnis bisher in keiner Weise hilfreich, was allein schon eine nähere Verwandtschaft dieser beiden Sprachen unwahrscheinlich macht. Dennoch wird von einigen Forschern die baskisch-iberische Hypothese nach wie vor vertreten, während die Mehrheit sie inzwischen ablehnt. Einige iberisch-baskische Wortgleichungen (z. B. mit baskisch bizkar „Felswand“, argi „hell“, ilun „dunkel“, iri/ili „Stadt“) sind auch durch den engen Kontakt des Altbaskischen mit dem Iberischen erklärbar. === Afrikanische Hypothese === Andere sehen eine Verbindung des Baskischen zu afrikanischen Sprachen. Genannt wurden die Berbersprachen, eine Untergruppe der afroasiatischen Sprachen, die Songhai-Sprachen, deren eigene Klassifikation jedoch umstritten ist, und die Gruppe der Mande-Sprachen, die zu den Niger-Kongo-Sprachen gehören. Keine dieser Hypothesen konnte sich durchsetzen; sprachtypologisch sind sie äußerst fragwürdig. === Kaukasische Hypothese === Die iberische Hypothese und die afrikanische Hypothese wurden bald durch die baskisch-kaukasische These verdrängt, die das Baskische mit den Kaukasus-Sprachen insgesamt oder einer Teilgruppe davon in Verbindung brachte. Unter den kaukasischen Sprachen versteht man die alteingesessenen Sprachen des Kaukasus, die weder indogermanisch noch turkisch noch semitisch sind. Der Kaukasologe Georgij A. Klimov setzte sich mit verschiedenen Autoren der baskisch-kaukasischen These kritisch auseinander und kommt zu einer völligen Ablehnung (Klimov 1994). Klimovs Hauptgründe für die Ablehnung einer Verwandtschaft des Baskischen mit den kaukasischen Sprachen lauten: Die verschiedenen genetischen Einheiten des Kaukasischen (das in mindestens drei verschiedene Sprachfamilien zerfällt) werden beim Sprachvergleich nicht berücksichtigt. Das Baskische wird nach Bedarf mit einzelnen der rund 40 modernen Kaukasussprachen verglichen, anstatt rekonstruierte kaukasische Protosprachen heranzuziehen. Lautgesetze zwischen dem Baskischen und kaukasischen Einheiten werden selten etabliert. Die Argumentation ist generell stark typologisch geprägt, wodurch sie keinerlei genetische Beweiskraft besitzt. Semantische Anachronismen werden herangezogen (zum Beispiel werden Wörter der Eisenverarbeitung zum Vergleich benutzt, obwohl das Baskische und die Kaukasus-Sprachen sich vor mindestens 5000 Jahren getrennt haben müssten; damals gab es keine Eisenverarbeitung). Indogermanische Lehnwörter werden in den Vergleich einbezogen.Klimovs Fazit: „Die baskisch-kaukasische These wird heutzutage nur noch von Journalisten oder von solchen Sprachforschern aufrechterhalten, die mit den Fakten des Baskischen oder der kaukasischen Sprachen nicht vertraut sind.“ (Klimov 1994). === Dene-Kaukasische Hypothese === Edward Sapir führte 1915 die Bezeichnung Na-Dené-Sprachen ein. Darüber hinaus gibt es weitere Ansätze, die Na-Dené Sprachfamilie mit den eurasischen Sprachen in Verbindung zu bringen, so mit dem Sinotibetischen und dem Jenisseischen. Aufgrund linguistischer Analysen wurde eine genetische Verwandtschaft verschiedener Sprachen in einer hypothetischen Makro-Sprachfamilie, dem Dene-Kaukasisch, vermutet. In dieser Sprachfamilie finden sich einige Sprachen aus Eurasien und Nordamerika. Wesentliche Mitglieder sind das Sinotibetische, die nordkaukasischen Sprachen und eben das Baskische. Nach Vitaly Shevoroshkin auch „Dene-Sino-Caucasian Languages“.Die neuesten Versuche zielen darauf ab, das Baskische als ein Glied einer hypothetischen europäisch-asiatisch-nordamerikanischen Makrofamilie, des sogenannten Dene-Kaukasischen, zu etablieren. Diese Makrofamilie geht im Kern auf Sergei Starostin 1984 zurück, die Hinzunahme des Baskischen wurde unter anderen von Wjatscheslaw Tschirikba (* 1959) 1985 vorgeschlagen. Nach dieser These wäre das Baskische mit dem Nordkaukasischen, dem Sinotibetischen und den Na-Dené-Sprachen Nordamerikas verwandt. === Eurasische Hypothese === Der französische Sprachwissenschaftler Michel Morvan hat ein „euro-sibirisches“ Substrat des Baskischen erwogen und sieht Parallelen mit sibirischen Sprachen und Kulturen, aber auch mit anderen vorindogermanischen Sprachen. Er versucht, eine eurasische Verwandtschaft zu beweisen (Etymologisches Wörterbuch, Online/ Internet/ Lexilogos). === Vaskonische Hypothese === Der Münchner Linguist Theo Vennemann stellt die Hypothese auf, dass eine als Vaskonisch bezeichnete Vorläufersprache des Baskischen einst in weiten Teilen West- und Mitteleuropas verbreitet war. Nach seinen namen- (s. „Onomastik“) und gewässerkundlichen (s. „Hydronymie“) Interpretationen sieht er Übereinstimmungen von Wortkernen vieler Fluss- und Ortsnamen in West- und Mitteleuropa mit baskischen Wörtern für Wasser, Fluss, Gewässer, Tal u. a. Viele Forscher, darunter auch Baskologen, haben diesen Ansatz verworfen, weil er kaum beweisbar sei. == Wechselbeziehungen zu Nachbarsprachen == === Phonologie === Zwei benachbarte romanische Sprachen, nämlich Spanisch und noch stärker die südwestokzitanische Regionalsprache Gaskognisch, weisen eine Reduktion des lateinischen f zu h auf, das in der spanischen Hochsprache heute verstummt ist. Dieses Phänomen wird auf den Einfluss des Baskischen zurückgeführt, zum Vergleich der spanische Ortsname Fuenterrabia, baskisch Hondarribia, hoch-aragonisch Ongotituero. lat. filia → französisch fille, okzitanisch. filha | spanisch hija, gaskognisch hilha ‚Tochter‘ lat. farina → frz. farine, okz. farina | span. harina, gask. haría ‚Mehl‘ lat. flos/flor- → frz. fleur, span./okz. flor | gask. hlor ‚Blume‘ lat. frigidus → span. frío, frz. froid, okz. freg, fred | gask. hred ‚kalt‘ vulgärlateinisch calefare → frz. chauffer, katalanisch. calfar, okz. caufar | gask. cauhar ‚heizen‘Weitere Einflüsse sind die Unterscheidung zweier r-Laute im Baskischen wie im Spanischen und der prothetische Sprossvokal vor ursprünglich anlautendem r. lat. rota → spanisch rueda, französisch roue, okzitanisch ròda | baskisch errota, gaskognisch arroda ‚Rad‘Die gesamte Gascogne wird als ehemaliges baskisches Sprachgebiet angesehen, was sich schon aus dem Namen erschließt (Vascones > Wascons > Gascons). In Spanien weist die Toponomie auf ein früher weit ausgedehnteres Verbreitungsgebiet, z. B. Val d’Aran (baskisch aran ‚Tal‘). === Lexikalische Entlehnung === Das Baskische hat nicht nur in seiner Morphologie, sondern auch in seinem Wortschatz eine augenfällige Eigenständigkeit bewahrt, trotz des mindestens 2500-jährigen Drucks der umgebenden indogermanischen Sprachen. Dennoch hat es im Laufe seiner Geschichte Lehnwörter vor allem aus den lateinisch-romanischen Sprachen integriert. Einige Beispiele sind: bake ‚Frieden‘ ← lat. pax, pacis dorre ‚Turm‘ ← lat. turris eliza ‚Kirche‘ ← lat. ecclesia errege ‚König‘ ← lat. rex, regis errota ‚Rad‘ ← lat. rota gaztelu ‚Kastell‘ ← lat. castellum katu ‚Katze‘ ← lat. cattus lege ‚Gesetz‘ ← lat. lex, legis liburu ‚Buch‘ ← lat. liber, vulgärlat. librumEine weitere wichtige Lehnwortschicht entstammt dem Keltischen wie z. B. adar ‚Horn‘ ← kelt. adarcos (unsicher) hartz ‚Bär‘ ← kelt. artos lekeda ‚Bodensatz‘ ← kelt. legita maite ‚geliebt‘ ← kelt. matis ‚gut‘ (unsicher) mando ‚Maultier‘ ← kelt. mandus ‚kleines Pferd‘ tegi ‚Stall, Korral‘ ← kelt. tegos ‚Haus‘ tusuri ‚Teufelei‘ ← kelt. dusios ‚Teufel‘Obwohl das Baskische zahlreiche Möglichkeiten besitzt, durch Ableitungen neue Wörter zu bilden, finden heute die englischen und romanischen Wörter der modernen Technologie in großem Umfang als Fremdwörter Eingang ins Baskische. Umgekehrt wurden nur sehr wenige baskische Wörter in die umgebenden romanischen Sprachen entlehnt; allerdings haben baskische Familien- und Ortsnamen in Spanien und Lateinamerika weite Verbreitung gefunden (z. B. Bolívar, Echeverría und Guevara). Mögliche baskischstämmige Lehnwörter in romanischen Sprachen sind: span. becerro ‚einjähriges Kalb‘, zu aspan. bezerro ← bask. bet- ‚Kuh‘ (Wortbildungsform von behi) + -irru. span. bizarro ‚kühn, lebendig, tapfer‘ ← bask. bizar ‚Bart‘. span. cachorro ‚Hündchen‘, südkorsisch ghjacaru ‚Jagdhund‘, sardisch giagaru ← bask. txakur ‚Welpen‘. span. cencerro ‚Kuhglocke‘ ← bask. zintzarri, zintzerri. port. esquerdo, span. izquierda, kat. esquerre ‚links‘, okz. esquèr(ra) ‚link‘ ← bask. ezkerra ‚Linke‘, zu ezker ‚link‘ gebildet. span. madroño, arag. martuel, kat. maduixa ‚Erdbeerbaum‘ ← bask. martotx ‚Brombeerstrauch‘, martuts ~ martuza ‚Brombeer‘. port. pestana, span. pestaña, kat. pestanya ‚Wimper‘ ← *pistanna ← urbaskisch *pist-, woraus bask. pizta ‚Augenbutter‘ und piztule ‚Wimper‘. port. sarça, span. zarza ‚Brombeerstrauch‘, zu altspanisch çarça ← altbaskisch çarzi (17. Jh.), wovon bask. sasi ‚Dornbusch‘ und sarri ‚Gesträuch, Dickicht‘. port. veiga, span. vega ‚Aue, fruchtbare Ebene‘, zu altspanisch vayca ← bask. ibai ‚Fluss‘ + -ko (Separativendung; Diminutivsuffix). == Sprachstruktur == Das Baskische unterscheidet sich typologisch völlig von den benachbarten romanischen und allen indogermanischen Sprachen: es besitzt eine Suffix-Deklination (wie agglutinierende Sprachen, z. B. die uralischen und turkischen Sprachen), kein grammatisches Geschlecht und ein äußerst formenreiches und kompliziertes Verbalsystem mit der Markierung von einer oder bis zu vier Personen in jeder finiten Verbalform (polypersonale Flexion). Die Markierung der Nominalflexion (Deklination) erfolgt am Ende einer Wortgruppe (Syntagma). Im Gegensatz zu den meisten indoeuropäischen Sprachen – die einem Nominativ-/Akkusativ-System gehorchen – ist das Baskische eine Absolutiv-/Ergativ-Sprache (s. u.). === Lautsystem === ==== Alphabet ==== Das baskische Alphabet, welches auf dem lateinischen Alphabet basiert, zählt die folgenden 27 Buchstaben und 7 Digraphe: ==== Vokale ==== Das Vokalsystem ist dreistufig und unterscheidet keine Vokalquantitäten. Das Baskische hat fünf Vokale und zehn Diphthonge. Die Vokale sind a [a], e [e], i [i], o [o] und u [u]. Dabei können e und i je nach Umgebung offener oder geschlossener ausgesprochen werden. Zusätzlich gibt es im suletinischen Dialekt den Laut ü [y]. Unter Linguisten ist strittig, ob er nur als Aussprachevariante des u zu betrachten ist oder als eigenständiges Phonem. Bei den Diphthongen unterscheidet man zwei Gruppen. Die abnehmenden Diphthonge beginnen mit einem offenen Vokal und enden mit einem geschlossenen: ai, ei, oi, au, eu. Bei den ansteigenden Diphthongen folgt auf einen geschlossenen Vokal ein offener: ia, ie, io, ua, ue. Die häufigste Vokalbuchstabenverbindung, das „ai“, kennzeichnet oft nicht ein Diphthong, sondern das darin enthaltene i palatalisiert den nachfolgenden Konsonanten, Beispiel baina [baɲa]. ==== Konsonanten ==== Besonderheiten im baskischen Konsonantensystem sind die beiden s-Laute und die fünf Palatal-Laute. Der Buchstabe z stellt ein stimmloses [s̻] dar, bei dem die Zungenspitze am unteren Zahnwall liegt, wie bei der deutschen, französischen oder englischen Aussprache des Buchstabens s. Bei dem baskischen mit s dargestellten Laut [s̺] liegt die Zungenspitze dagegen beim oberen Zahnwall, ähnlich wie bei der Aussprache des Lautes, der im europäischen Spanisch mit dem Buchstaben s dargestellt wird. Zu den Palatallauten gehören: stimmloses [c] (zwischen deutschem „z“ und „tsch“), geschrieben als tt oder -it-, dazu das stimmhafte [ɟ] (zwischen „ds“ und „dj“), geschrieben als dd oder -id-, das [ɲ] (zwischen deutschem „n“ und „j“), geschrieben ñ oder in, das [ʎ] (zwischen deutschem „l“ und „j“), geschrieben ll oder il, und das [ʃ], im Baskischen mit dem Buchstaben x dargestellt. Die Aussprache ähnelt deutschem „sch“, schwankt jedoch zwischen ch und dsch. Die Laute sind in der IPA-Form angegeben, in Klammern dahinter die schriftlichen Realisierungen der baskischen Orthographie, falls sie von der IPA-Form abweichen. Eingeklammerte Phoneme haben keinen vollständigen Phonemstatus, so tritt [f] nur in Lehnwörtern auf, [c] und [ɟ] kommt besonders in Koseformen vor. Auch wenn [h] von vielen Sprechern an der Oberfläche nicht artikuliert wird, handelt es sich systematisch gesehen um ein Phonem des Baskischen. Der Unterschied zwischen ts und tz ist phonemisch, wie das Beispielpaar atzo „gestern“ atso „alt“belegt. Die Aussprache der stimmlosen Plosive ist stärker aspiriert als in den romanischen Sprachen. === Wortstellungen === Einige grundlegende Wortstellungen: Subjekt – Objekt – Verb (Stellung der Satzglieder im Satz) erläuternder Genitiv – Nomen Nomen – zugehöriges Adjektiv Possessivpronomen – Nomen Nomen – Postposition Zahlwort – gezähltes Nomen === Ergativsprache === Das Baskische ist eine Ergativ-Sprache, das heißt, es gibt für das Subjekt eines transitiven Verbums einen besonderen Fall, den Ergativ, während für das Subjekt intransitiver Verben der Absolutiv benutzt wird. Dieser Absolutiv dient gleichzeitig als direktes (Akkusativ-)Objekt transitiver Verben. Der Ergativ wird im Baskischen durch das Suffix /-(e)k/ gekennzeichnet, der Absolutiv bleibt unmarkiert, er stellt die Grundform des Nomens dar. Jon dator > John kommt (intransitiv, Jon im Absolutiv) Jonek ardoa dakar > John bringt Wein (ardo) (transitiv, Jon im Ergativ, ardo im Absolutiv) Oinak zerbitzatzen du eskua eta eskuak oina > Der Fuß (oina) bedient die Hand (eskua) und die Hand den Fuß. === Nominalmorphologie === Hier gibt es zwei Sichtweisen: ==== 1. Transnumeral ==== Das Nomen besitzt in dieser Darstellung eine numerusfreie Grundform (Transnumeral), einen Singulativ und eine Plural-Form. Im Absolutiv (siehe oben) lauten die Formen wie folgt: Bei der numerusfreien Grundform (Transnumeral) geht es darum, vom Numerus zu abstrahieren. ==== 2. Definitheitssuffix ==== Manche Sprachwissenschaftler bevorzugen eine alternative Sicht. Sie bezeichnen die endungslose Form katu als „indefinit“ (durch kein Merkmal ausgezeichnet) und das Morphem -a als „Definitheitssuffix“, das bei jedweder Charakterisierung an die indefinite Form angehängt wird. Man sieht aber, dass das Baskische schon bei einer Einschränkung der Unbestimmtheit durch eine Teil-Charakterisierung („specific indefinite“.) eines Nomens ein solches Suffix vorschreibt, wie der Beispielsatz Garfield katua da („Garfield ist eine (und zwar eine ganz bestimmte!) Katze“) zeigt ==== Kasusbildung ==== Das Baskische bildet die Kasus eines Nomens durch Anfügen von Suffixen, die jedoch nicht unmittelbar auf das Nomen folgen müssen, sondern immer an das letzte Element einer Nominalgruppe angefügt werden. Die Suffixe der Deklination sind in reiner Form bei den Eigennamen und transnumeralen Formen erhalten. Die Singularsuffixe werden durch Anfügen des Markers /-a(-)/ gebildet, die Plurale meist durch Wegfall des suffixeinleitenden /-r-/. Ein Genus (grammatisches Geschlecht) kennt das Baskische nicht. Die folgende Tabelle gibt eine Übersicht über die regelmäßige Deklination im Baskischen. Die Fälle und ihre entsprechenden Suffixe: Die Deklination von Nomina, die auf einen Konsonanten auslauten, unterscheidet sich nur unwesentlich: das suffixeinleitende /-r/ entfällt bei den transnumeralen Formen, vor manchen Suffixen wird ein /-e-/ eingefügt. ==== Personalpronomina ==== Die Deklination der Personalpronomina erfolgt nach demselben Schema: ==== Nominalphrasen ==== Die Kasusendungen werden in einer Nominalphrase aus mehreren Gliedern nur an das letzte Glied angehängt. Die vorangehenden Glieder werden nicht mitdekliniert. Attributive Adjektive stehen hinter dem zugehörigen Substantiv, bat (‚ein‘) hat die Funktion eines unbestimmten Artikels und steht am Ende der Nominalphrase. === Zahlwörter === Das Baskische zeigt ein klares Vigesimalsystem (Zwanziger-System), z. B. 40 = 2 × 20, 60 = 3 × 20, 80 = 4 × 20, 90 = 4 × 20 + 10. Ein Vigesimalsystem gibt es allerdings auch in anderen Sprachen Europas: in den kaukasischen Sprachen, in den keltischen Sprachen Bretonisch, Irisch, schottisches Gälisch (dort fakultativ) und Walisisch, im Dänischen sowie in Resten im Französischen (70=soixante-dix, 80=quatre-vingt, 90=quatre-vingt-dix). === Verbalmorphologie === Während sich die Flexion des Nomens im Baskischen trotz der vielen Fälle recht übersichtlich gestaltet, ist die Verbalmorphologie geradezu berüchtigt für ihre außerordentlich vielfältige und komplizierte Formenbildung. Grammatiker des 18. Jahrhunderts zählten nicht weniger als 30.952 Formen eines einzigen Verbs. Das hat folgende Ursache: die Formen des finiten Verbs enthalten im Baskischen nicht nur einen Bezug auf die jeweilige Person des handelnden Subjekts (das ist der Normalfall etwa in indogermanischen Sprachen: ich lieb-e, du lieb-st, er lieb-t usw.), sondern zusätzlich auf die Person des direkten und des indirekten Objekts der Handlung und manchmal sogar noch die Person des Angesprochenen. Hier einige Formen des Präsens vom Verb ukan ‚haben‘ (3sg = 3. Person Singular usw.): Man erkennt sofort, zu welcher Formenfülle diese dreifache Markierung der Verbalformen führen muss. Eine übersichtliche Darstellung des Paradigmas müsste dreidimensional sein. ==== Die einfache Konjugation ==== Das Baskische unterscheidet eine sog. einfache (oder synthetische) Konjugation, bei der die Formen direkt vom Verb selbst gebildet werden (wie z. B. das deutsche Präsens ‚er liebt‘) und eine zusammengesetzte (analytische oder periphrastische) Konjugation mit Hilfsverben (wie z. B. das deutsche Perfekt ‚ich habe geliebt‘). Die sog. einfache Konjugation findet nur für eine kleine Gruppe häufig verwendeter Verben Anwendung. Einfach konjugiert werden die Verben izan ‚sein‘, ukan ‚haben‘, egon ‚sein‘, etorri ‚kommen‘, joan ‚(zielgerichtet) gehen‘, ibili ‚umhergehen‘, eduki ‚haben, halten‘, jakin ‚wissen‘, esan ‚sagen‘. Im literarischen Baskischen werden noch einige weitere Verben einfach konjugiert, wie ekarri ‚bringen‘, erabili ‚benutzen‘, eraman ‚tragen‘, etzan ‚liegen‘, iraun ‚dauern‘. Der Anteil der sog. einfachen Verben war in früheren Sprachphasen größer, Texte aus dem 16. Jahrhundert enthalten etwa fünfzig. Heute werden sie als Mittel des gehobenen Stils verwendet. Alle anderen Verben werden periphrastisch (d. h. mit Hilfsverben) konjugiert. Die einfache Konjugation besitzt heute nur noch zwei Tempora – Präsens und Präteritum – und einen Imperativ. Beispiel: Präsens vom Verbum ekarri ‚bringen‘ mit einigen Varianten des Subjekts und direkten und indirekten Objekts (3sg = 3. Person Singular etc.): Ein vollständiges Schema des Präsens des häufig benutzten Hilfsverbs ukan ‚haben‘ mit festem direktem Objekt in der 3. Sg. ‘es’ und variablem Dativ-Objekt zeigt folgende Tabelle: Zum Beispiel heißt diguzue „ihr habt es für uns“ (Subjekt 2.pl., indirektes Objekt 1.pl., direktes Objekt 3.sg. „es“). Die entsprechenden Formen für ein direktes Objekt in der 3. Pers. Plural werden bei den Formen mit Dativbezug durch Einschub von /-zki-/ hinter der ersten Silbe /di-/ erzeugt, z. B. dizkiot „ich habe sie (pl.) für ihn/sie (sg.)“, aber diot „ich habe es für ihn/sie (sg.)“. Man erkennt, dass reflexive Formen (z. B. ‚ich habe mich‘) in diesem Schema nicht existieren. Sie müssen durch Umschreibungen gebildet werden. ==== Die zusammengesetzte Konjugation ==== Die Formen der zusammengesetzten oder periphrastischen Konjugation, nach der alle anderen, nicht-einfachen Verben konjugiert werden, werden von einer der Stammformen des Verbums zusammen mit einer Form der Hilfsverben izan, ukan, edin oder ezan gebildet. Stammformen sind der Stamm des Verbums selbst, das Partizip Perfekt, das Partizip Futur und das Gerundium (eigentlich ein Verbalnomen im Inessiv). Dabei werden ukan und ezan bei transitiven, izan und edin bei intransitiven Verben verwendet. Auf weitere Details soll hier verzichtet werden (siehe Literaturangabe). == Sprachbeispiel == Als Sprachbeispiel sei Artikel 1 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte genannt: == Siehe auch == == Literatur == === Lexika === Manuel Agud, Antonio Tovar: Diccionario etimológico vasco. Gipuzkaoko Foru Aldundia, Donostia-San Sebastián (1989, 1990, 1991 (nicht abgeschlossen)). 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Mouton de Gruyter, Berlin 2003, ISBN 3-11-017683-1. Alan R. King: The Basque Language. A Practical Introduction. University of Nevada Press, Reno 1994, ISBN 0-87417-155-5. Pierre Lafitte: Grammaire basque – navarro-labourdin littéraire. Elkarlanean, Donostia-San Sebastián/Bayonne 1962 / 2001, ISBN 2-913156-10-X. Juan Antonio Letamendia: Bakarka 1. Método de aprendizaje individual del euskera. Elkarlanean, Donostia-San Sebastián 1998. Deutsch: Lehrbuch der baskischen Sprache, übertragen und bearbeitet von Christiane Bendel und Mercedes Pérez García. Buske, Hamburg 2009, ISBN 978-3-87548-508-0. Mario Saltarelli: Basque. Croom Helm, London/New York 1988. === Sprachgeschichte === Joxe Azurmendi: Die Bedeutung der Sprache in Renaissance und Reformation und die Entstehung der baskischen Literatur im religiösen und politischen Konfliktgebiet zwischen Spanien und Frankreich. In: Wolfgang W. Moelleken, Peter J. Weber (Hrsg.): Neue Forschungsarbeiten zur Kontaktlinguistik. 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(MS Word; 80 kB) Gießen 2001 (der Aufsatz ist die Basis für diesen Artikel) (CNRS) Baskische Sprachakademie Archive ARTXIKER Artxiboa: Archive de la Recherche pour la Langue basque et les Langues typologiquement proches Dictionnaire Freelang – Wörterbuch baskisch–französisch/französisch–baskisch Morris Student Plus Hiztegia – Wörterbuch baskisch-englisch/englisch-baskisch Euskonews – Geschichte des letzten Sprechers des Roncal-Dialekts (spanisch) Muturzikin: Cartes linguistiques du Pays Basque. 2007; abgerufen am 11. Februar 2018 (französisch). Jacques Leclerc: Le Pays basque (Memento vom 24. Oktober 2012 im Internet Archive) == Einzelnachweise ==
https://de.wikipedia.org/wiki/Baskische_Sprache
Henri Matisse
= Henri Matisse = Henri Matisse [ɑ̃ʁi matis], vollständiger Name: Henri Émile Benoît Matisse (* 31. Dezember 1869 in Le Cateau-Cambrésis, Département Nord, Frankreich; † 3. November 1954 in Cimiez, heute ein Stadtteil von Nizza), war ein französischer Maler, Grafiker, Zeichner und Bildhauer. Er zählt mit Pablo Picasso zu den bedeutendsten Künstlern der Klassischen Moderne. Neben André Derain gilt er als Wegbereiter und Hauptvertreter des Fauvismus, der die Loslösung vom Impressionismus propagierte und die erste künstlerische Bewegung des 20. Jahrhunderts darstellt. Matisse’ Werk ist getragen von einer flächenhaften Farbgebung und spannungsgeladenen Linien. In seinen Gemälden sind die Farbgebung, der spielerische Bildaufbau und die Leichtigkeit seiner Bildthemen das Ergebnis langer Studien.Mit seinen in den 1940er Jahren entstandenen Scherenschnitten (gouaches découpées) – ein Beispiel ist das Künstlerbuch Jazz – schuf Matisse, der schwer erkrankt war, ein Spätwerk, das seine Reduktionsbestrebungen zum Abschluss bringt und mit seiner Farbigkeit und Ornamentik als Höhepunkt seiner künstlerischen Laufbahn gilt. Die von ihm geplante und ausgestattete Rosenkranzkapelle in Vence, eingeweiht im Jahr 1951, hielt der Künstler für sein Meisterwerk.Seine stilistischen Neuerungen beeinflussten die Moderne Kunst. So bezogen sich die abstrakten Expressionisten in den USA wiederholt auf sein Werk. == Leben == === Kindheit und Ausbildung (1869–1898) === Henri Matisse, Sohn des Émile Matisse und dessen Ehefrau Héloïse, geborene Gérard, wurde auf dem Hof der Großeltern in Le Cateau-Cambrésis geboren. Seine Eltern betrieben in Bohain-en-Vermandois eine Drogerie und einen Samenhandel; dort wuchs Matisse auf. 1872 wurde sein Bruder Émile Auguste geboren. Der Vater wünschte, dass sein ältester Sohn das elterliche Geschäft übernehmen möge. Henri entschied sich jedoch nach dem Besuch des humanistischen Henri-Martin-Gymnasiums in Saint-Quentin in den Jahren 1882 bis 1887 für das Studium der Rechtswissenschaft in Paris, das er zwei Jahre lang absolvierte. Während einer kurzen Tätigkeit als Anwaltsgehilfe 1889 in Saint-Quentin belegte Matisse in den Morgenstunden Zeichenkurse an der École Quentin de la Cour. Im Jahr 1890 begann er nach einer Blinddarmoperation, deren Folgen ihn ein Jahr lang ans Bett fesselten, mit der Malerei. Er gab 1891 seine juristische Karriere auf, kehrte nach Paris zurück und trat in die Académie Julian ein, an der unter anderem der Salonmaler William Adolphe Bouguereau unterrichtete. Matisse wollte sich damit auf die Aufnahmeprüfung an der École des Beaux-Arts vorbereiten. Er bestand sie jedoch nicht.Matisse besuchte ebenfalls die École des Arts décoratifs (Kunstgewerbeschule), an der er Albert Marquet kennenlernte, mit dem ihn eine lange Freundschaft verband. Im Jahr 1895 wurden beide nach bestandener Aufnahmeprüfung der École des Beaux-Arts Schüler des symbolistischen Malers Gustave Moreau, in dessen Klasse sie bereits 1893 als Gastschüler aufgenommen worden waren. Matisse wurde 1894 Vater einer Tochter, Marguerite († 1982), die Mutter war Camille (Caroline) Joblaud, eine Frau, die er als Modell beschäftigte und die seine Geliebte war. Während eines Aufenthalts in der Bretagne im Jahr 1896 lernte Matisse durch seinen Reisebegleiter, den Maler Émile Auguste Wéry (1868–1935), der sein Pariser Nachbar vom Quai Saint-Michel 19 war, die impressionistische Farbpalette kennen. In dieser Zeit begann er, klassische Werke im Louvre zu kopieren, und stellte erstmals fünf Gemälde im Salon der Société nationale des beaux-arts aus. In den Jahren 1897 und 1898 besuchte er den Maler John Peter Russell auf Belle-Île, einer Insel vor der Küste der Bretagne. Russell führte ihn in die impressionistische Malweise ein und machte ihn mit dem Werk von Vincent van Gogh bekannt. Matisse’ Malstil veränderte sich grundlegend, und später führte er aus: „Russell war mein Lehrer, und Russell erklärte mir die Farbtheorie“. === Heirat (1898) === Am 10. Januar 1898 heiratete Henri Matisse Amélie Noellie Parayre. Auf den Rat Camille Pissarros reiste er anschließend nach London, um die Arbeiten Turners zu studieren. Gleichzeitig verbrachte er dort mit Amélie die Flitterwochen, die das Paar, kurz nach Paris zurückgekehrt, ab 9. Februar in Ajaccio auf Korsika fortsetzte. Aus der Ehe gingen zwei Söhne, Jean Gérard (1899–1976) und Pierre (1900–1989) hervor. Marguerite wurde in die Familie aufgenommen; Matisse liebte seine Tochter sehr und porträtierte sie häufig. Sie heiratete später den Kunstkritiker und Philosophen Georges Duthuit; kurz vor ihrem Tod gab sie mit ihrem Sohn Claude Duthuit das Werkverzeichnis der Druckgrafik ihres Vaters heraus.Als Matisse’ Lehrer Gustave Moreau starb, verließ er 1899 die École des Beaux-Arts, da es Differenzen mit Moreaus Nachfolger Fernand Cormon gab. Nach einem erneuten kurzen Studium an der Académie Julian belegte er Kurse bei Eugène Carrière, der ein Freund des Bildhauers Auguste Rodin war. Matisse lernte hier seine späteren Weggefährten André Derain und dessen Freund Maurice de Vlaminck kennen. Er malte mit Albert Marquet im Jardin du Luxembourg und besuchte in den Abendstunden Kurse für Skulptur. Noch im selben Jahr kaufte er bei Vollard das Gemälde Die drei Badenden von Paul Cézanne. Trotz schwerer finanzieller Sorgen behielt er das Werk, das einen weitreichenden Einfluss auf sein Denken und Schaffen ausübte, bis zum Jahr 1936. In diesem Jahr übergab er das Gemälde als Geschenk an das Museum der schönen Künste im Petit Palais in Paris. === Krisenjahre (1900–1905) === An der Académie Rodin besuchte Matisse im Jahr 1900 Abendkurse und arbeitete unter der Leitung des Bildhauers Antoine Bourdelle mit anfangs geringem Erfolg. Aufgrund mangelnder Einnahmen – das Modistengeschäft seiner Frau warf zum Lebensunterhalt nicht genug Einnahmen ab und die Kinder mussten oft den Großeltern überlassen werden – geriet er in eine schwere finanzielle Krise und nahm Arbeit als Dekorationsmaler an. Gemeinsam mit Albert Marquet malte Matisse Girlanden und Rahmenschmuck für die Ausstattung der Weltausstellung 1900, die im Pariser Grand Palais stattfand. Die Arbeit war anstrengend, deshalb kehrte er erschöpft nach Bohain zurück, um sich zu erholen. In jenen Tagen war Matisse derart entmutigt, dass er daran dachte, die Malerei aufzugeben. Nachdem Matisse seine Krise überwunden hatte, bemühte er sich um Kunstsammler und Ausstellungsmöglichkeiten. Im Februar 1902 nahm er an einer Gemeinschaftsausstellung der neu gegründeten Galerie B. Weill teil. Im April und Juni des Jahres war Berthe Weill die erste Galeristin, die Arbeiten von ihm verkaufte. Eine erste Einzelausstellung seiner Arbeiten fand 1904 bei dem französischen Kunsthändler Ambroise Vollard statt. Im Sommer desselben Jahres reiste Matisse auf Veranlassung von Paul Signac nach Saint-Tropez und begann, Bilder im Stil des Neoimpressionismus zu malen. === Entstehung des Fauvismus (1905) === Den Sommer des Jahres 1905 verbrachte Matisse mit André Derain und zeitweise mit Maurice de Vlaminck in Collioure, einem Fischerdorf am Mittelmeer. Dieser Aufenthalt wurde zu einem bedeutsamen Wendepunkt in seinem Schaffen. So kristallisierte sich in dieser Zeit in Zusammenarbeit mit Derain ein Stil heraus, der unter dem Namen Fauvismus in die Kunstgeschichte einging. Die Bewegung erhielt ihren Namen, als die kleine Gruppe gleichgesinnter Maler, bestehend aus Matisse, André Derain und Maurice de Vlaminck, zum ersten Mal in einer Ausstellung des Salon d’Automne in Paris im Herbst 1905 ihre Bilder zeigte und Empörung bei Publikum und Kunstkritikern erntete. Der Kritiker Louis Vauxcelles bezeichnete die Künstler als „Fauves“ („Die wilden Tiere“). Sein Kommentar „Donatello chez les fauves“ wurde am 17. Oktober 1905 in der Zeitschrift Gil Blas veröffentlicht und erlangte Eingang in den allgemeinen Sprachgebrauch. Im Mittelpunkt der Kritik stand das starkfarbige Gemälde Femme au chapeau (Frau mit Hut) von Matisse. Leo Stein, ein Bruder von Gertrude Stein, kaufte das Bild für 500 Franc. Dieser „Skandalerfolg“ trieb Matisse’ Marktwert in die Höhe. Die Steins gehörten ebenfalls in der Zukunft zu seinen Förderern. Die Gruppe der Fauvisten löste sich bereits 1907 wieder auf. Heute erinnert der Chemin du Fauvisme in Collioure an die dortige Entstehung des Fauvismus: An 19 Stellen des Ortes sind auf einem Rundweg Reproduktionen der dort entstandenen Gemälde von Matisse und Derain angebracht. === Bekanntschaft mit Picasso (1906) === Am 20. März 1906 zeigte Matisse im Salon des Indépendants sein neues Werk Lebensfreude (Le bonheur de vivre). Kritiker und akademische Maler reagierten gereizt; Paul Signac, Vizepräsident der Indépendants, reihte sich in die Kritik ein und nahm Matisse die durch das Gemälde deutlich gewordene Absage an den Nachimpressionismus übel. Leo Stein empfand es jedoch „als das wichtigste Bild unserer Zeit“ und erwarb es für den gemeinsam mit seiner Schwester Gertrude geführten Salon. Im selben Jahr lernte Matisse Pablo Picasso kennen; ihr erstes Zusammentreffen fand im Salon der Steins statt, in dem Matisse seit einem Jahr regelmäßig verkehrte. Mit Picasso verband ihn seit dieser Zeit eine von schöpferischer Rivalität und gegenseitigem Respekt getragene Freundschaft. Gertrude Steins amerikanische Freunde aus Baltimore, Clarabel und Etta Cone, wurden ebenfalls Förderer und Sammler von Matisse und Picasso. In der Gegenwart ist die Cone Collection im Baltimore Museum of Art ausgestellt. === Reise nach Algerien (1906) === Im Mai 1906 reiste Matisse nach Algerien und besuchte die Oase Biskra. Während der Reise malte er nicht; erst nach der Rückkehr entstand das Gemälde Blauer Akt (Erinnerung an Biskra) und nach der Vollendung des Gemäldes eine Skulptur Liegender Akt I (Aurora), die eine ähnliche Körperhaltung aufweist. Von der zweiwöchigen Reise brachte er Gebrauchsgegenstände wie Keramiken und Stoffe mit, die er häufig als Motive für seine Bilder verwendete. Matisse entnahm der orientalischen Keramik die reine, flächig aufgetragene Farbe, die Reduktion der Zeichnung auf eine arabeskenhafte Linie sowie die flächige Anordnung des Bildraums. Orientalische Teppiche erschienen auf seinen Gemälden wie bei keinem anderen Maler der Moderne. Ein Beispiel ist das Stillleben Orientalische Teppiche, das er nach der Rückkehr malte. === Die Académie Matisse (1908–1911) === Auf Betreiben und mit Unterstützung seiner Bewunderer, Michael, Sarah, Gertrude und Leo Stein sowie Hans Purrmann, Marg und Oskar Moll und anderer gründete er eine private Malschule, die seinen Namen erhielt: „Académie Matisse“. Dort unterrichtete er von Januar 1908 bis 1911 und hatte schließlich 100 Schüler aus dem In- und Ausland. Purrmann war für Organisation und Verwaltung zuständig.Der Unterricht fand zunächst in den Räumen des Couvent des Oiseaux an der Rue de Sèvres statt. In diesem leerstehenden Kloster hatte Matisse bereits seit 1905 neben seinem ursprünglichen Atelier am Quai St.-Michel einen weiteren Atelierraum angemietet. Nachdem die Gründung der Privatakademie beschlossen worden war, mietete Stein im Couvent einen weiteren Raum für den Unterricht. Allerdings musste der Klosterkomplex schon nach wenigen Wochen geräumt werden. Die Schule zog deshalb in den Couvent de Sacré-Cœur auf dem Boulevard des Invalides an der Ecke der Rue de Babylon um. Durch ihren nicht-kommerziellen Charakter hob sich die Académie Matisse von vergleichbaren Meisterateliers ab. Matisse legte viel Wert auf eine klassische Grundausbildung der jungen Künstler. Einmal in der Woche stand ein gemeinsamer Museumsbesuch auf dem Lehrplan. Das Arbeiten nach einem Modell kam erst nach der Mühe des Kopierens. Für die damalige Zeit war der Frauenanteil innerhalb der Schülerschaft überraschend hoch. Unter den insgesamt 18 deutschen Schülern, beispielsweise Friedrich Ahlers-Hestermann, Franz Nölken und Walter Alfred Rosam, waren acht Künstlerinnen, unter anderem Mathilde Vollmoeller und Gretchen Wohlwill. Auch die in Russland geborene Olga Markowa Meerson, früher Mitstudentin von Wassily Kandinsky in München, und die Dänin Astrid Holm gehörten zu seinen Schülerinnen.Mit Hans Purrmann unternahm Matisse 1908 seine erste Reise nach Deutschland. Dort lernte er die Künstlergruppe Brücke kennen. Er wurde als „Übervater ihrer Rebellion“ zum Beitritt in die Gruppe aufgefordert – vergeblich. Im selben Jahr fand seine erste amerikanische Ausstellung in Alfred Stieglitz’ Galerie 291 statt. Seine kunsttheoretische Schrift Notes d’un Peintre (Notizen eines Malers) erschien am 25. Dezember 1908 in der Grande Revue. === Umzug nach Issy-les-Moulineaux (1909) === Der russische Mäzen Sergei Schtschukin war auf Matisse’ Werk aufmerksam geworden und erteilte ihm den Auftrag zu zwei großen Gemälden: Der Tanz und Die Musik. Die Krisenjahre waren überwunden, und die finanziell gefestigte Position ermöglichte es Matisse, 1909 den Wohnsitz am Quai Saint-Michel in Paris zu verlassen und nach Issy-les-Moulineaux zu ziehen, wo er ein Haus kaufte und auf dem Grundstück sein Atelier errichten ließ. Für lange Zeit standen ihm die Familienmitglieder kostenlos Modell und kamen seinen Wünschen verständnisvoll entgegen. Sie richteten sich nach den Bedürfnissen des Künstlers, beispielsweise mussten die Kinder beim Essen schweigen, um die Konzentration des Vaters nicht zu stören. Nach der Teilnahme an der von Roger Fry im Jahr 1910 zusammengestellten Ausstellung Manet and the Post-Impressionists in London wurden Matisse’ Skulpturen erstmals 1912 in Alfred Stieglitz’ Galerie 291 in New York ausgestellt. Ein Jahr später, 1913, nahmen einige seiner Gemälde an der bedeutenden Ausstellung Armory Show, New York, teil, die das konservative amerikanische Publikum jedoch mit ätzender Kritik bedachte. Der Schatzmeister der Armory Show, Walter Pach, vertrat Matisse’ Werk von 1914 bis 1926 in den USA.Um 1912 wurden einige Kompositionen von Matisse von vielen Kritikern als parakubistisch angesehen. Matisse und Picasso tauschten in jenen Jahren ihre Ideen häufig aus. Matisse äußerte: „Wir gaben uns gegenseitig viel bei diesen Begegnungen.“ In jenen Gesprächen spielte Picasso den advocatus diaboli, der an Matisse’ Malerei ständig etwas in Frage stellen wollte, was ihn in Wirklichkeit selbst sehr beschäftigte.Neben seinen Aufenthalten in Sevilla (1910/1911) und Tanger (1911/1912 und 1912/1913), sowie einer Reise nach Moskau (1911) weilte Matisse im Sommer 1914 in Berlin. === Kriegsjahre (1914–1918) === Zu Beginn des Ersten Weltkriegs im August 1914 hielt sich Matisse in Paris auf. Er meldete sich zum Militärdienst, sein Gesuch wurde jedoch abgelehnt. Nachdem das Gehöft der Familie bei einem deutschen Angriff zerstört worden war, erhielt Matisse keine Nachricht mehr von seiner Mutter und von seinem Bruder, der wie die anderen Männer des Dorfes von deutschem Militär als Kriegsgefangener mitgenommen worden war. Kurz vor der Marne-Schlacht verließ er Paris und fuhr mit Marquet nach Collioure. Die Schrecken jener Zeit führte Fauvisten und Kubisten, die bisher durch künstlerische Konflikte zerstritten waren, wieder näher zusammen, so wohnte Juan Gris bei dem Lehrer der Kinder von Matisse. Dessen kubistischer Einfluss verstärkte Matisse’ Neigung zu geometrischer Vereinfachung. Die Söhne Jean und Pierre mussten ab dem Sommer 1917 Militärdienst leisten. === In Nizza (1916–1954) === Matisse hielt sich 1916 auf ärztliches Anraten in Menton an der Côte d’Azur auf, da er unter Bronchitis litt, und mietete 1916/1917 in Nizza im Hôtel Beau-Rivage ein Zimmer. Diese Stadt sollte für die weiteren Jahre zu seinem Domizil werden. Nachdem er zwischenzeitlich im Hôtel Méditerranée gewohnt hatte, bezog er in den 1920er-Jahren eine zweistöckige Wohnung am Place Charles-Félix in Nizza. In den Monaten Mai bis September kehrte er regelmäßig nach Issy-les-Moulineaux zurück und arbeitete dort in seinem Atelier.1918 fand in der Galerie Guillaume die Ausstellung Matisse – Picasso statt, die in gewissem Maße ein Beweis für die führende Rolle dieser Maler in der zeitgenössischen Kunst war. Matisse zeigte einige seiner Bilder Renoir, den er in dieser Zeit oft besuchte; ebenso verkehrte er mit Bonnard in Antibes. Im Jahr 1920 wurde Djagilews Ballett Le Chant du Rossignol in Paris uraufgeführt, für das Matisse die Kostüme und das Bühnenbild entworfen hatte. Er widmete sich erneut der Arbeit an Skulpturen, die er in den vorhergehenden Jahren vernachlässigt hatte. 1927 organisierte sein Sohn Pierre Matisse, der Galerist geworden war, eine Ausstellung für ihn in seiner New Yorker Galerie; im selben Jahr erhielt er den Preis für Malerei der Carnegie International Exhibition in Pittsburgh. Zur Entspannung unternahm Matisse viele Reisen, so 1921 nach Étretat, 1925 nach Italien und 1930 über New York und San Francisco nach Tahiti. ==== Scheidung – Auftrag zum Wandgemälde Tanz (1930) ==== Auf der Rückreise im September 1930 besuchte er seinen wichtigen Sammler Albert C. Barnes in Merion (USA), der ihn um ein Wandbild mit dem Thema Tanz für sein Privatmuseum bat. Werke von Georges Seurat, Cézanne, Auguste Renoir füllten dort bereits die Wände. Matisse nahm die Herausforderung an und konnte die Arbeit 1932 fertigstellen. Im Jahr 1933 wurde sein Enkel Paul Matisse in New York geboren. Für die gewaltige Aufgabe von Barnes’ Wandgemälde hatte Matisse die 22-jährige russische Emigrantin Lydia Delectorskaya (1910–1998) als Assistentin angestellt, die ihm außerdem Modell saß. Daraufhin wurde er von seiner Frau Amélie vor die Alternative gestellt: „Ich oder sie.“ Lydia Delectorskaya wurde entlassen, trotzdem forderte Amélie die Scheidung und verließ ihn nach 31 Jahren Ehe. Matisse wurde sehr krank und stellte Delectorskaya wieder ein. Nach einem Parisaufenthalt bei Ausbruch des Zweiten Weltkriegs kehrte er nach Nizza zurück.In den folgenden Jahren entstanden Projekte für Tapisserien und Buchillustrationen. Er radierte Szenen aus der Odyssee als Illustrationen zum Ulysses von James Joyce. Im November 1931 gab das Museum of Modern Art Matisse die Gelegenheit zu seiner ersten großen amerikanischen Einzelausstellung in New York. Vorausgegangen war eine bedeutende Ausstellung in der Berliner Galerie Thannhauser im Spätsommer 1930. So brachten die Jahre 1930 bis 1931 viele von Matisse’ persönlichen Plänen zur Reife und festigten seinen bereits wachsenden internationalen Ruf. Im Oktober erschien das erste von Matisse illustrierte Buch, die Skira-Ausgabe der Poésie de Stéphane Mallarmé. 1937 wurde Matisse von Léonide Massine gebeten, Dekorationen und Kostüme für Rouge et noir zu entwerfen, ein Ballett mit der Musik von Schostakowitsch und der Choreographie von Massine. Ein Jahr später übersiedelte er nach Cimiez in das frühere Hotel Régina, mit Blick auf Nizza. ==== Schwere Krankheit – Arbeit an Jazz (1941–1946) ==== 1941 musste sich Matisse in Lyon einer schweren Darmoperation unterziehen. Fast drei Monate blieb er in der Klinik, danach zwei Monate mit Grippe im Hotel. Er litt an einem Zwölffingerdarmkrebs und zwei nachfolgenden Lungenembolien. Im Mai kehrte er wieder nach Cimiez zurück. Die Operation und die darauffolgende Krankheit setzten ihm ernstlich zu, sodass er sich nur noch beschränkte Zeit aufrecht halten konnte. Während seiner Rekonvaleszenz begann er von neuem zu arbeiten, er malte und zeichnete im Bett, so unter anderem an den Illustrationen für die Fabiani-Ausgabe von Henry de Montherlants Pasiphaé und die Skira-Ausgabe der Florilège des amours de Ronsard. In seinem nach einem Luftangriff auf Cimiez im Jahr 1943 bezogenen Atelier zu Füßen des Montagne du Baou in der Villa Le Rêve, zwei Kilometer vom Hauptplatz des provenzalischen Dorfes Vence entfernt, begann Matisse an seinen Schnitt- und Klebekompositionen für sein Buch Jazz zu arbeiten. 1944 wurde seine geschiedene Frau verhaftet und Tochter Marguerite wegen Beteiligung an der Résistance deportiert und zu einer sechsmonatigen Haft verurteilt. Le Rêve blieb bis 1948 sein Wohnsitz, dann kehrte er nach Nizza in das Hotel Régina zurück. Im Frühsommer 1945 reiste Matisse nach Paris, wo 37 Werke im Salon d’Automne in einer Retrospektive gezeigt wurden. Im selben Jahr stellte er mit Picasso zusammen im Victoria und Albert Museum in London aus. 1946 erhielt Matisse erstmals Besuch von Picasso und dessen Lebensgefährtin Françoise Gilot in Vence; die beiden Künstler trafen sich bis 1954 noch mehrmals. ==== Letzte Jahre – Die Kapelle in Vence (1947–1954) ==== Im Jahr 1947 wurde Matisse in den Rang eines Kommandeurs der Ehrenlegion erhoben. Im selben Jahr begann er mit Entwürfen für eine Kapelle der Dominikanerinnen, die Rosenkranzkapelle in Vence, die ihn während der nächsten Jahre fast ausschließlich beschäftigen sollten. Das Projekt war das Ergebnis einer engen Freundschaft zwischen Matisse und Schwester Jacques-Marie alias Monique Bourgeois. Er hatte sie 1941 als Pflegerin und Modell angestellt; 1946 trat sie in ein Dominikanerkloster in Vence ein und erhielt den Namen Jacques-Marie. Als sie sich dort wiedersahen, bat sie ihn um Rat für die Errichtung einer Kapelle für das Kloster. Im Dezember 1949 wurde der Grundstein für die Kapelle gelegt, und am 25. Juni 1951 erfolgte die Einweihung durch den Bischof von Nizza. Im selben Jahr erhielt Matisse den ersten Preis für Malerei auf der Biennale in Venedig. Im Zusammenhang mit seinen 1951 in den USA ausgestellten Werken gab der amerikanische Kunsthistoriker Alfred H. Barr Matisse: his Art and his Public heraus, das bis in die heutige Zeit ein bedeutendes Buch über den Künstler darstellt. Im Jahr 1952 eröffnete das Musée Henri Matisse in seiner Heimatstadt Le Cateau-Cambrésis seine Pforten. Ein Jahr später folgten Ausstellungen der papiers découpés in Paris und seiner Skulpturen in London. 1954 wurde er als Ehrenmitglied in die American Academy of Arts and Letters gewählt.Matisse arbeitete in den letzten Tagen seines Lebens an der Rockefeller Rose, die sein letztes Werk werden sollte, ein Glasfenster für die Union Church of Pocantico Hills, das er im Auftrag der Familie Nelson Rockefeller zur Erinnerung an Abby Aldrich Rockefeller gestaltete. Die Kirche enthält neben Matisse’ Werk auch Fenster von Marc Chagall. Matisse starb am 3. November 1954 in Nizza an einem Herzanfall. Sein Grab – der Gedenkstein ist ihm und seiner früheren Ehefrau gewidmet – liegt auf dem höchsten Punkt des Friedhofs von Cimiez; es ist ein Geschenk der Stadt Nizza. Am 5. Januar 1963 wurde ein weiteres Museum, das Musée Matisse, in Nizza gegründet. Der Künstler selbst schenkte bereits vor der Gründung am 21. Oktober 1953 das Gemälde Stillleben mit Granatapfel (1947), vier Zeichnungen aus den Jahren 1941/42, den Scherenschnitt Die kreolische Tänzerin (1950) sowie die zwei Seidendrucke, Ozeanien – Das Meer und Ozeanien – Der Himmel, beide aus dem Jahr 1947. Weitere Schenkungen der Erben folgten zwischen den Jahren 1960 und 1978. == Das malerische Werk == === Matisse’ Bildauffassung === In Matisse’ Bildwelt erhält die Farbe durch flächig-dekorativen und ornamentalen Einsatz unter Auslassung ihrer räumlichen Gestaltungsaspekte autonomen Charakter. Die Farbgebung wird hierbei weder der Lokalfarbe noch der Beschreibung von Oberflächenstrukturen unterworfen. Matisse setzt sie vielmehr als Mittel ein, die farblichen Empfindungen, die durch den Eindruck des Motivs im Maler ausgelöst werden, wiederzugeben. Auf seinem Weg über den Fauvismus schuf er eine Bildwelt, in der dem Gegenstand nicht mehr Bedeutung beigemessen wird als dem Binnenraum, das heißt dem Raum zwischen den Gegenständen. Keine dieser Formen ist einer anderen bei der Verwirklichung der ‚expression‘ (‚Ausdruck und Aussage‘) als Gestaltungselement über- respektive untergeordnet. Die ‚expression‘ kann nach dieser Auffassung nur durch die Anordnung und den Zusammenhang der Farbformen – Farbe und Form sind eins – untereinander realisiert werden. Durch diese Sichtweise wird Naturbeobachtung (Objekt) nicht nur zum Anlass der farblichen Empfindungen (Subjekt), sondern in ihrem wechselseitigen Miteinander auch zu einem Korrektiv innerhalb des Schaffensprozesses erhoben. In diesem Sinne sah sich Matisse der Tradition verbunden. So hat Matisse – wie auch Picasso – nie den Schritt zur völligen Abstraktion vollzogen, da auf diese Weise, wie er betonte, die Abstraktion nur imitiert werde.Charakteristisch für Matisse’ Bildaufbau ist des Weiteren, dass er die Objekte linearisiert. Die räumlichen Beziehungen zwischen den Objekten treten in den Hintergrund, werden aufgelöst, ohne jedoch ihre Raumbezüge völlig zu negieren. So hob er hervor, dass durch die Gleichstellung der Formen – Gegenstand und Binnenraum – sowie durch die Autonomie der Farbe eine Linearisierung der Bildelemente notwendig sei und umgekehrt. Das in jenen Tagen immer stärker aufkommende Bedürfnis nach Originalität und Individualität einerseits und die Abneigung gegenüber den aus der Sicht ihrer Gegner „degenerierten“ Sichtweisen der immer noch etablierten Akademien andererseits führten dazu, dass viele Maler eine eigene Position beziehen wollten. So fand Matisse zwar in Cézanne die Figur des spiritus rector, jedoch intendierte er nicht, Cézannes Werk weiterzuführen. === Das Frühwerk bis 1900 === Matisse entschied sich erst spät für eine künstlerische Laufbahn. Als 20-jähriger Anwaltsgehilfe in St.-Quentin begann er, Kunstunterricht zu nehmen. Seine ersten Bilder entsprachen dem bürgerlichen Naturalismus, den die französische Schule von den Niederländern übernommen hatte. Ein bekanntes Bild aus dieser Zeit ist Die Lesende aus dem Jahr 1894, das sich heute im Musée National d’Art Moderne in Paris befindet. In seinen Bildthemen werden Frauen vom Früh- bis zum Spätwerk in den 1950er-Jahren seine Kunst dominieren, dargestellt in Matisse’ verschiedenen Phasen. Das Stillleben mit Selbstbildnis in ähnlichen braun-grünen Farben folgte 1895. Es weist in seiner Ästhetik eine Ähnlichkeit zu Cézannes zwanzig Jahre älteren Stillleben auf, ohne deren Raffinesse zu haben. Bekannte Gemälde aus dem Jahr 1897 sind Der gedeckte Tisch und das Seestück, Belle Île; in letzterem finden sich Annäherungen an Claude Monets Sturm in Belle Île aus dem Jahr 1896, das die impressionistischen Einflüsse Monets und John Peter Russells in der Bretagne widerspiegelt.Das Hauptwerk des Künstlers lässt sich in die folgenden fünf Perioden einteilen: === Fauve-Periode (1900–1908) === Im Jahr 1900 begann Matisse in einer Art zu malen, die im Rückblick als „Proto-Fauve“ bezeichnet wurde. Er wollte seine Formen nicht in Licht aufgelöst sehen, sondern als ein vollständiges Ganzes auffassen, und so entfernte er sich vom „orthodoxen“ Impressionismus. Es waren neben den Arbeiten Paul Cézannes die divisionistischen Arbeiten Seurats, denen er seine Aufmerksamkeit widmete. Georges Seurat und die Neoimpressionisten schufen ihre Werke nach der theoretischen Lehre, die auf der Farbtheorie Eugène Chevreuls basierte. Neben Seurat waren es Vincent van Gogh und Paul Gauguin, die Matisse’ Farbempfinden steigerten; die Imitation der Natur wollte er überwinden. Matisse’ Figurenkomposition Luxus, Stille und Begierde (1904/05) entstand beispielsweise nach divisionistischen Regeln. Wenig später erkannte er, dass die divisionistische Bildauffassung nicht dazu geeignet war, den Bildwerken Festigkeit zu verleihen und die farblichen Empfindungen des Malers wiederzugeben, daher wandte er sich, wie es Cézanne schon Jahre vor ihm getan hatte, von der impressionistischen Richtung ab.Das Ergebnis seiner Arbeit während seiner fauvistischen Phase stellte eine Lösung in Form einer flächigen Farbgebung dar, die dem „Zerfließen“ impressionistischer Bilder entgegensteht. Beispiele sind Offenes Fenster in Collioure und Frau mit Hut, beide aus dem Jahr 1905, die auf der Ausstellung im Salon Empörung hervorriefen und damit zum Begriff „Fauvismus“ führten. In seinem Gemälde Der grüne Streifen. Bildnis Madame Matisse, ebenfalls aus dem Jahr 1905, bildet das Grün eine feste Größe. Der auf den ersten Blick unnatürlich wirkende Streifen über dem Gesicht ist nicht willkürlich gesetzt, sondern dient als Grenze zwischen Licht- und Schattenzone. Matisse zeigte auf, dass durch die Autonomie der Farbe in Verbindung mit ihrem flächenhaften Auftrag die Objekte untereinander zu linearisieren sind, ihre räumlichen Zusammenhänge somit in den Hintergrund treten müssen. Die Werke der Folgejahre stellen in erster Linie Variationen dieser grundlegenden Erkenntnis dar. Nach eigener Aussage begann sein Lebenswerk mit dem Gemälde Die Lebensfreude, das er 1906 im Salon des Indépendants ausstellte, wo es heftige Kritik hervorrief. Nach der Algerienreise 1906 entstand Blauer Akt (Erinnerung an Biskra), die Palmen im Hintergrund reflektieren die Reise. Der weibliche Akt lastet schwer auf dem Boden und wirft einen Schatten. Die dominante Figur und die flächige Umgebung gibt Matisse’ Auffassung wieder: „Gerade die Figur und nicht das Stillleben oder die Landschaft interessiert mich am meisten. An ihr kann ich am besten, man könnte sagen, das mir stets eigene religiöse Gefühl dem Leben gegenüber zum Ausdruck bringen.“ === Experimentelle Periode (1908–1917) === Matisse’ experimentelle Periode, in der er sehr produktiv war, wird in zwei Phasen unterteilt: Von 1908 bis 1910 herrschen organisch-flüssige und arabeske Formen vor, während die zweite Phase von 1911 bis 1917, geprägt von Matisse’ Auseinandersetzung mit dem Kubismus, von geometrischen Formen dominiert wird. Matisse hat seine Malerei niemals einer einheitlichen Stilistik untergeordnet, sondern er vollzog häufig Positionswechsel, von dekorativen zu realistischeren Perioden.Im Jahr 1909 gab der russische Kunstmäzen Sergei Iwanowitsch Schtschukin zwei große Werke in Auftrag, La Danse (Der Tanz) und La Musique (Die Musik), die zum Schmuck des Treppenhauses seines Moskauer Domizils dienen sollten. Vom Tanz entstanden zwei Fassungen in unterschiedlichen Farbtönungen. Inspiriert hatte Matisse der provenzalische Rundtanz Farandole. Die jeweils aus fünf Körpern vor einem starkfarbigen Hintergrund bestehenden Bilder vermitteln Lebensfreude, der dekorative Stil verbindet sich mit der menschlichen Figur. Ihre Monumentalität folgt aus der Vereinfachung der malerischen Mittel: wenige Farben sind in großen homogenen Flächen aufgetragen, die Zeichnung wird zur reinen Linie, die die Formen bildet. Der Tanz gehört zu Matisse’ bekanntesten Werken. Durch die Vereinfachung der Formen wird auch das Gemälde Blumenstrauß und Keramikteller (1911) bestimmt. Henri Matisse fasste in einem Interview für die Zeitung Utro Rossii (Утро России) am 27. Oktober 1911 während seines Aufenthalts in Moskau seine Eindrücke von russischen Ikonen sowie Objekten aus Emaille zusammen: Im Ersten Weltkrieg wird seine Farbskala dunkler, die Reduktion auf geometrische Formen in Anlehnung an den Kubismus erreichte 1914 mit dem Bild Ansicht von Notre Dame ihren Höhepunkt und setzte sich bis 1918 fort. Die Farbe Schwarz spielt in den Kriegsjahren eine große Rolle, ein Beispiel ist das Türfenster in Collioure, 1914. === Nizza-Periode (1917–1929) === Matisse widmete sich unter anderem dem Malen von Odalisken in verschiedenen Positionen. Auch Porträts, lichtdurchflutete Interieurs, Stillleben, Landschaften standen im Zentrum seines Darstellungsinteresses. Seine Werke wiesen mehr naturalistische Züge auf als jemals zuvor. Indem Matisse seine fantasievolle Vorstellung real gestaltete, bewies er damit seinen Glauben an die Malerei als „Quelle ungetrübter Freude“.Die Liebe zur Farbe und zum Detail wird durch den oft außergewöhnlichen „ornamentalen Hintergrund“ deutlich. Das Gemälde Dekorative Figur vor ornamentalem Hintergrund (1925/26) weist besonders die emblematischen Attribute seiner Malerei auf: eine Frau, Blumen und bunte Stoffe im Hintergrund. Es zählt zu den bedeutendsten Werken der „Nizza-Periode“. Sein Modell war zu dieser Zeit Henriette Darricarrère. In Nizza dekorierte er sein Atelier mit Stoffbahnen, Teppichen und Vorhängen. Der mit Blumen übersäte Stoff erscheint noch bei weiteren Werken, beispielsweise in Zwei Odalisken (1927/28) und Odaliske mit Lehnstuhl (1928). === Periode erneuter Einfachheit (1929–1940) === Der Nizza-Periode folgte eine Periode erneuter Einfachheit. Matisse’ künstlerisches Streben konzentrierte sich auf die Harmonie zwischen der maximalen Entfaltungsmöglichkeit der Farbe und einer fortschreitenden Abstraktion der gegenständlichen Form. Im Jahr 1929 reiste er in die USA und war dort Jurymitglied der 29. Carnegie International. Ein Jahr später reiste er nach Tahiti, New York und Baltimore, Maryland sowie nach Merion in Pennsylvania. Albert C. Barnes aus Merion, ein bedeutender Kunstsammler moderner Kunst, der bereits die größte Matisse-Sammlung Amerikas besaß, beauftragte den Künstler, ein großes Wandbild für die Kunstgalerie seines Wohnhauses anzufertigen. Matisse wählte ein Tanzthema, das ihn bereits seit seiner fauvistischen Phase eingenommen hatte. Das Wandbild Der Tanz existiert in zwei Versionen aufgrund eines Irrtums in den Maßangaben; es wurde im Mai 1933 installiert und wird gegenwärtig bei der Barnes Foundation ausgestellt. Die Komposition zeigt in ihrer Einfachheit tanzende Frauen in überaus starker Bewegung vor einem abstrakten, fast geometrischen Hintergrund. Bei den Vorarbeiten zum Wandbild wandte Matisse ein neues Verfahren an, indem er die Komposition aus ausgeschnittenen Teilen kolorierten Papiers zusammenfügte. Ab 1940 wurden die Scherenschnitte zu Matisse’ bevorzugtem Ausdrucksmittel, eine Technik, die er bis zum Lebensende beibehielt. === Periode der Beschränkung auf das Wesentliche (1940–1954) === Die Reduktion der Form bis hin zur Abstraktion führte Matisse zur Betonung des dynamischen Elements. Um 1943 wurde wegen seiner schweren Erkrankung der Scherenschnitt zu einem Hauptausdrucksmittel in der Arbeit des Künstlers; um 1948 schloss Matisse ganz mit der Malerei ab. Er ließ von Assistenten Papierbögen mit monochromer Gouachefarbe bemalen, aus denen er seine Figuren und freien Formen ausschneiden konnte (gouaches découpées). Matisse nannte diese Technik „mit der Schere zeichnen“. Sie bot die Möglichkeit, Linie und Farbe zu verbinden, und war daher die von ihm lange erstrebte Lösung seines Anliegens. In der Zeichnung konnte er einen Eindruck in wenigen Umrisslinien darstellen, wenn auch ohne Farbe. In der Malerei fehlte diese Spontanität. Wenn die Schere den Pinsel ersetzt und direkt in die Farbe einzeichnet, wird der Gegensatz von Farbe und Linie überwunden. Das Ergebnis – der Schnitt – ist schärfer als der gezeichnete Strich, hat also einen anderen Charakter. 1947 wurde eine Folge von Scherenschnitten aus den Jahren 1943 bis 1944 als Künstlerbuch unter dem Titel Jazz veröffentlicht, die im Schablonendruck vervielfältigt worden waren. Der Titel spielt auf die Spontanität und Improvisation des Musikstils Jazz an. Zum Gebrauch der Linien schrieb Matisse in diesem Buch: Hinzu kamen Entwürfe für Wandteppiche wie Polynesien – Der Himmel und Polynesien – Das Meer, 1946. Die Ausgestaltung einer Kapelle, der Rosenkranzkapelle (auch Chapelle Matisse genannt) in Vence, eingeweiht 1951, deren Glasfenster er ebenfalls in Scherenschnitten vorbereitet hatte, zeigt die erste Glasmalerei des Künstlers. Ein weiteres Beispiel ist die Serie Blauer Akt aus dem Jahr 1952; sie ist ausschließlich in Blau und Weiß gehalten und hat in ihrer Abstraktion eine skulpturale Wirkung. == Das grafische Werk – Buchillustrationen == Matisse schuf Zeichnungen, Studien zu seinen Werken, in großer Anzahl. Sein Interesse an grafischen Arbeiten begann um 1900, als er probeweise anfing zu radieren. Das von seiner Tochter Marguerite Duthuit und seinem Enkel Claude Duthuit herausgegebene Werkverzeichnis der Druckgrafik beschreibt etwa 800 Arbeiten, wobei die zwischen 1908 und 1948 entstandenen rund 300 Radierungen und 300 Lithografien aus den Jahren 1906 bis 1952 den Schwerpunkt bilden. Außerdem schuf er 62 Werke in Aquatinta, 68 Monotypien, 70 Linolschnitte und aus der Frühzeit 1906/07 vier Holzschnitte. Im Gegensatz zu Picasso verzichtete Matisse auf die Erprobung neuer Materialien und Techniken. 1935 fertigte Matisse 26 ganzseitige Illustrationen für den Roman Ulysses von James Joyce an. Die Illustrationen basieren auf Themen der Odyssee von Homer.Nach Ausbruch des Zweiten Weltkriegs nahm Matisse’ grafische Arbeit einen größeren Raum ein, so entwarf er Illustrationen zu Henry de Montherlants Pasiphaé (1944), Pierre Reverdys Visages (1946), Mariana Alcaforados Lettres portugaises (1946), Charles Baudelaires Les Fleurs du Mal (1947), Pierre de Ronsards Florilège des Amours (1948) und Charles d’Orléans’ Poèmes (1950). Diese Bücher waren meistens mit schwarz-weißen Illustrationen ausgestattet; im Unterschied hierzu versah er sein bekanntes Künstlerbuch Jazz aus dem Jahr 1947, in dem er seine Reflexionen über die Kunst und das Leben niederschrieb, mit farbigen Illustrationen. == Das plastische Werk == Mehr als die Hälfte von Matisse’ Skulpturen entstanden in den Jahren zwischen 1900 und 1910. Er arbeitete oft in Serien, wobei er die Form über Jahre hinweg vereinfachte. Die erste dreidimensionale Arbeit von insgesamt 82, Jaguar, einen Hasen verschlingend, entstand während seiner bildhauerischen Studien ab dem Jahr 1899. Sie weist nicht nur auf den Einfluss von Auguste Rodin hin, sondern ebenfalls auf Antoine-Louis Barye, einen bekannten französischen Bildhauer, der für seine Tierskulpturen bekannt war. Matisse modellierte nach dessen Bronzeskulptur Jaguar dévorant un lièvre die Jaguar-Skulptur, an der er von 1899 bis 1901 arbeitete. Die Skulptur Der Knecht entstand wie das gleichnamige Gemälde im Jahr 1900 und wurde 1903 beendet. Als Modell diente ihm der Italiener Bevilaqua, der schon für Rodin in dessen Werk Johannes der Täufer (1878) und Gehender Mann (1900) Modell gestanden hatte. Matisse setzte oft Motive seiner Plastiken in Gemälde um oder umgekehrt. Die Größe seiner Skulpturen entsprachen nicht wie bei traditionellen Bildhauern der Lebensgröße, sondern sie wurden in kleinerem Format angelegt. Im Jahr 1907 begann seine Arbeit am Liegenden Akt, den er aus dem Gemälde Luxus, Stille und Begierde (1904–1905) weiter entwickelt hatte. Das Sujet sollte ihn 30 Jahre lang beschäftigen. Die Skulptur Zwei Negerinnen aus dem Jahr 1908 findet sich wieder auf seinem Stillleben von 1910, Bronze mit Früchten. Cézannes Gemälde, Die drei Badenden, 1899 erworben, diente Matisse zum Vorbild in Werken, die den Körper monumental abbilden, so wie beispielsweise in der Reliefserie der Rückenakte, die Matisse in den Jahren 1909 bis 1929 schuf. Die Inspiration zu der Serie Jeannette I – V von 1910 bis 1913 war ein früheres impressionistisches Gemälde, der Kopf der Jeanette wurde in den Fassungen mehr und mehr verfremdet. Jeanette V bildet eine Vorstufe zur körperlichen Abstraktion, die sich später, ab den 1930er-Jahren, in der Kunst ausbreitete. Die Anregungen durch die primitive Kunst schlugen sich nicht wie bei Picasso in seinen Gemälden nieder, sondern seine Transformationen blieben in dieser Hinsicht auf das plastische Werk beschränkt.Fast alle seine Skulpturen bestanden aus einer Edition von zehn Exemplaren, mit einer Ausnahme: Der Kleine dünne Torso aus dem Jahr 1929 existiert nur in drei Exemplaren. Matisse benutzte als Gusstechnik das Sand- und das Wachsausschmelzverfahren. Die meisten seiner plastischen Werke wurden in späteren Jahren gegossen, als eine größere Zahl von Sammlern sich dafür interessierte. Die Rückenakte I – IV, die zu den wichtigsten Matisse-Skulpturen gehören, wurden erst nach Matisse’ Tod auf Veranlassung seiner Erben gegossen. In den 1990er-Jahren ließen die Erben die meisten Originalformen vernichten, um weitere Editionen zu verhindern. == Kunsttheoretische Schriften == Unter den vier größten französischen Malern der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts – Matisse, Picasso, Derain und Braque – war Matisse der erste Theoretiker. Seine Schrift aus dem Jahr 1908, Notes d’un peintre (Notizen eines Malers), ging den publizierten Aussagen von Braque und Picasso mit zeitlichem Abstand voraus. Obwohl Braques frühestes Interview (1908) im Jahr 1910 veröffentlicht wurde, kamen seine Texte erst im Jahr 1917 heraus. Picassos erste theoretische Aussage, Picasso speaks, kam im Mai 1923 heraus. In den Notizen eines Malers verdeutlichte Matisse die Hauptanliegen seiner Kunst: „Expression“ („Ausdruck und Aussage“), geistige Verarbeitung von Naturformen, Klarheit und Farbe. Ferner bekennt er in diesem Artikel seinen Glauben an die Kunst als Ausdruck der Persönlichkeit. Sie ist für ihn weder Darstellung einer „Imagination“ noch Mittler literarischer Vorstellungen, sondern er begründet sie auf der intuitiven Synthese von Natureindrücken. In dieser Schrift lautet eine zentrale, oft zitierte Passage: Der zweite theoretische Text Notes d’un peintre sur son dessin (Notizen eines Malers über das Zeichnen) erschien im Jahr 1939 in Le Point. In den Jahren nach 1930 schuf er viele Strichzeichnungen, die mit Bleistift oder Feder ausgeführt wurden; die Federzeichnungen entstanden, wie Matisse definierte, „erst nach Hunderten von Zeichnungen, nach Versuchen, Erkenntnissen, und Formdefinitionen; dann zeichnete ich sie mit geschlossenen Augen.“ == Rezeption == === Zeugnisse von Zeitgenossen === Der um viele Jahre ältere Impressionist Auguste Renoir äußerte gegen Ende des Ersten Weltkriegs gegenüber Henri Matisse, als dieser ihn in Südfrankreich besuchte: Der um sechs Jahre ältere Malerkollege Paul Signac kaufte im Jahr 1905 das von Matisse im Salon des Indépendants ausgestellte Bild Luxus, Stille und Wollust. Ein Jahr später mokierte sich der Neoimpressionist über Matisse’ im Salon ausgestelltes Werk Die Lebensfreude: Gertrude Stein, Matisse’ Förderin, beschrieb sein Gemälde aus dem Jahr 1907 Blauer Akt (Erinnerung an Biskra) und seine Intention folgendermaßen: Matisse’ Schüler und Freund, der deutsche Maler Hans Purrmann, organisierte im Jahr 1908 eine Ausstellung in Berlin in der Galerie von Paul Cassirer. Die Ausstellung stieß auf Kritik. Bei einem gemeinsamen Treffen mit Max Liebermann in der Galerie fürchtete dieser beim Anblick der Bilder „der Jugend Verderben“ und beschäftigte sich lieber mit seinem Dackel. „Pfefferkuchen-Malerei“ und „Tapete“ lauteten die Schlagworte jener Zeit über Matisse’ Malerei. Wenige Jahre vor Matisse’ Tod äußerte sich Purrmann über dessen späte Lebensumstände: Picasso drückte sehr häufig seine Wertschätzung gegenüber Matisse aus. Unter den vielen Äußerungen Picassos lässt die unten aufgeführte jedoch am deutlichsten erkennen, wie sehr Picasso das Werk Matisse’ erkannte: === Beziehung zu Picasso === Matisse war der einzige zeitgenössische Künstler, den Picasso als ebenbürtig ansah. Kein anderer zeitgenössischer Künstler hatte ihm, trotz ihrer gegensätzlichen künstlerischen Ausrichtung, so viel bedeutet wie Matisse. Während ihrer Treffen herrschte ein reger Austausch. „Wir müssen uns soviel miteinander unterhalten, wie wir können“, sagte Matisse Ende der 1940er-Jahre zu Picasso und fügte hinzu: „Wenn einer von uns stirbt, wird es einige Dinge geben, über die der andere mit niemandem sonst sprechen kann.“Picasso, der auch bisweilen grausame Beleidigungen vom Stapel ließ, gestattete niemals einem anderen, an Matisse Kritik zu üben. Es gibt viele Beweise dafür, und eines der besten unter den zahlreichen Zeugnissen stammt von Christian Zervos. Matisse und Picasso verbrachten mit mehreren anderen einen Nachmittag in der Coupole. Matisse verließ für einen Augenblick die Runde. Als jemand fragte, wo er abgeblieben sei, antwortete Picasso, er sitze sicher auf seinem Lorbeerkranz. Die meisten der Anwesenden begannen, weil sie bei Picasso Anklang suchten, über Matisse herzufallen. Picasso wurde darauf wütend und schrie: „Ich dulde nicht, daß ihr etwas gegen Matisse sagt, er ist unser größter Maler.“So würdigten sich die beiden gegenseitig. Picasso äußerte: „Im Grunde gibt es nichts als Matisse.“ „Nur Picasso kann sich alles erlauben. Er kann alles verwirren. Entstellen, verstümmeln, zerstückeln. Er ist immer, er bleibt immer im Recht“, sagte Matisse. „Deshalb allein zum Beispiel ist Matisse Matisse: weil er die Sonne im Leib hat“, sagte Picasso.Die respektvolle und von einer schöpferischen Rivalität geprägte künstlerische Beziehung zwischen diesen beiden Maßstäbe setzenden Künstlern des 20. Jahrhunderts wird von Françoise Gilot in ihrem Buch Matisse und Picasso – Eine Künstlerfreundschaft ausführlich hervorgehoben. Ihre Gegensätzlichkeit zeigte sich in den grundlegenden Fragen nach dem Charakter des Bildes und nach dem Sinn der Kunst. Picasso wollte das dissonante, Matisse das harmonische Bild. Ihre Gegensätze treten in den folgenden Zitaten scharf hervor: „Die Malerei ist nicht dazu da, Wohnungen zu schmücken. Sie ist eine Angriffs- und Verteidigungswaffe“, sagte Picasso 1945 in einem Interview in „Lettres Françaises“. „Ein Gemälde an der Wand sollte wie ein Blumenstrauß im Zimmer sein“, äußerte Matisse sich wenige Monate später in derselben Zeitschrift.Andererseits stellt das Werk Cézannes das beide verbindende Element dar. Picasso hatte wie Matisse dessen Gemälde studiert und äußerte später gegenüber dem Fotografen Brassaï: „Cézanne! Er war unser aller Vater!“ Matisse studierte unter anderem Cézannes Briefe und er hatte mit ihm den Forscherinstinkt gemein, der danach strebt, ein voll und ganz „realisiertes“ Bild hervorzubringen (siehe hierzu → réalisation bei Cézanne). Dieses Suchen und Forschen, das die Schriften von Matisse wie ein roter Faden durchzieht, findet sich ganz ausgeprägt bei Cézanne. === Matisse’ Widerstand gegen die abstrakte Malerei === Mit nicht nachlassender Vehemenz verurteilte Matisse im Gespräch mit Marie Raymond 1953 die abstrakte Malerei. „Begriffe wie nicht gegenständlich oder abstrakt sind nichts anderes als ein Schutzschild, um einen Mangel zu verbergen.“ Und fügt hinzu: „Schreiben sie es nur genauso, wie ich es Ihnen sage: Matisse ist gegen die abstrakte Kunst. Picasso denkt genau wie ich: alle, die ein Werk geschaffen haben, denken wie ich.“Auf die Frage Marie Raymonds, ob denn nicht sein Spätwerk eine gewisse Annäherung an die Experimente der Abstrakten aufweist, erwiderte Matisse, dass Kunst schon immer abstrakt war und dass er, wenn er jünger wäre, eine Kampagne gegen die abstrakte Kunst beginnen würde.An anderer Stelle hob er zur Begründung seiner Ablehnung der abstrakten Malerei hervor, dass diese die Abstraktion nur imitiere. === Einfluss auf den Abstrakten Expressionismus in den USA === Nachdem Mark Rothko, ein Vertreter des Abstrakten Expressionismus, Ende der 1940er-Jahre im New Yorker Museum of Modern Art Matisse’ Red Studio (Das rote Atelier, 1911) gesehen hatte, war er vom Schaffen des französischen Künstlers sehr beeindruckt, und es beeinflusste wesentlich sein eigenes Werk. Wie Rothko einmal erzählte, habe er „Stunden um Stunden“ vor dem Gemälde sitzend verbracht. Im Todesjahr von Matisse, 1954, malte Rothko Homage to Matisse; dieses Werk erzielte im November 2005 bei einer Auktion über 22 Millionen Dollar.Die amerikanischen Maler des Abstrakten Expressionismus wie Robert Motherwell, Sam Francis sowie Frank Stella und der Farbfeldmaler Ellsworth Kelly sind ebenfalls vom Werk Matisse’ beeinflusst worden. === Matisse und seine Modelle === Über Leben und Arbeit von Matisse gibt es zahlreiche Vorurteile – zum Beispiel, dass er mit seinen weiblichen Modellen Affären gehabt haben soll. Hilary Spurling, die britische Matisse-Biografin, hat diese Vermutung ins Reich der Legende verwiesen. Sie schreibt, dass sich aus Briefen, Tagebucheinträgen und Berichten seiner Weggefährten ein anderes Bild ergäbe: „Sie alle beschrieben ein System mönchischer Strenge und Disziplin, und alle waren von Matisse’ unmenschlicher Norm der Selbstkasteiung bis an die Grenzen des Erträglichen getrieben worden“. Spurling hat mit allen noch lebenden Modellen ausführliche Gespräche geführt. === Filme über Matisse === Der Schriftsteller Louis Aragon hatte Henri Matisse im Winter des Jahres 1941 kennengelernt, als er mit Elsa Triolet aus dem besetzten Teil Frankreichs nach Nizza geflohen war, um dort die gemeinsame Arbeit in der Résistance fortzusetzen. Es entstand eine tiefe Freundschaft, aus der heraus Aragons Buch über Matisse, Henri Matisse, roman entstand, das jedoch erst kurz nach Elsas Tod im Jahr 1971 vollendet werden konnte. Aragons Werk bildete mit der Mischung aus Autobiografie und Kunstkritik sowie Aufsätzen und Gedichten die Vorlage für den Filmemacher Richard Dindo, der bereits Dokumentarfilme, unter anderem über Max Frisch und Arthur Rimbaud, gedreht hatte. Dindo schildert in dem 52-minütigen Farbfilm Aragon, le roman de Matisse die Rückkehr an die Orte, wo Matisse gewohnt hatte. Eine gelungene Montage verdichtet Bilder und Töne zu einer filmischen Lektüre von Gemälden, Buch und authentischen Schauplätzen. Produktion: Lea Produktion, Zürich 2003, Regie Richard Dindo.Ferner wurden Filme gedreht, die als Videofilme erhältlich sind und von verschiedenen Fernsehsendern ausgestrahlt wurden: Gero von Boehm drehte Henri Matisse – die Jahre in Nizza, Fernsehmitschnitt: ARD, 4. Oktober 1988. Matisse – Picasso, eine unwahrscheinliche Freundschaft von Philippe Kohly aus dem Jahr 2002 ist ein französischer Filmbericht, Fernsehmitschnitt: 3sat, 20. Juli 2003. Henri Matisse – eine filmische Reise (OT: Henri Matisse – un voyage en peinture), ein Filmporträt, wurde von Heinz Peter Schwerfel bearbeitet, Deutschland/Frankreich 2005, Fernsehmitschnitt: Arte, 10. Dezember 2005. Der halbstündige Fernsehfilm Matisse & Picasso: A Gentle Rivalry entstand im Jahr 2001; er befasst sich mit den Porträts der zwei „Giganten“ in der Kunst des 20. Jahrhunderts. Er zeigt unter anderem selten veröffentlichte Fotografien ihrer Gemälde und Skulpturen sowie Fotos und Filme der beiden Künstler aus Archiven, die sie bei der Arbeit zeigen. Geneviève Bujold ist die Stimme von Françoise Gilot, Robert Clary ist Matisse und Miguel Ferrer Picasso. Die mit einem nationalen Emmy ausgestattete Produktion stammt von KERA-Dallas/Fort Worth/Denton in Zusammenarbeit mit dem Kimbell Art Museum, Fort Worth, Texas. === Matisse auf dem Kunstmarkt === Matisse’ Werke erzielen oft Spitzenpreise bei Auktionen. Beispiele aus den letzten Jahren sind das Gemälde L'Espagnole (1922), das 2007 bei Sotheby’s in New York City für 10,121 Millionen Dollar versteigert wurde sowie das Gemälde aus dem Jahr 1911, Les coucous, tapis bleu et rose, das im Februar 2009 auf der Versteigerung der Kunstsammlung des Modeschöpfers Yves Saint Laurent durch Christie’s in Paris den Rekordpreis für ein Matisse-Gemälde erzielte. Der Hammer fiel bei 35.905.000 Euro. Unter den aktuell zwölf teuersten Gemälden der Welt sind seine Werke im Gegensatz zu Arbeiten Picassos jedoch nicht zu finden. Sein Bronzerelief, Nu de dos 4 état, versteigert bei Christie’s am 3. November 2010, erbrachte den Rekord für ein Matisse-Werk (in Dollar): Die Gagosian Gallery, New York, erwarb es für mehr als 48 Millionen Dollar (umgerechnet gut 43 Millionen Euro). === Frauenbildnis beim Schwabinger Kunstfund entdeckt === In einer Pressekonferenz zum Schwabinger Kunstfund am 5. November 2013 wurde ein Matisse zugeschriebenes Porträt einer sitzenden Frau gezeigt, entstanden um 1924, das 1942 durch den Einsatzstab Reichsleiter Rosenberg aus dem Banktresor des Kunsthändlers Paul Rosenberg in Libourne beschlagnahmt worden war. Beim Schwabinger Kunstfund handelt es sich um die Entdeckung von 1280 Kunstwerken in der Münchner Wohnung von Cornelius Gurlitt am 28. Februar 2012. Zu den dort gefundenen und teils unbekannten Werken gehören neben Matisse’ Porträt unter anderem Arbeiten von Marc Chagall, Otto Dix, Max Liebermann, Franz Marc oder Pablo Picasso. === Matisse in Alltag und Wissenschaft, Ehrungen === Die Werke des Künstlers sind in der Gegenwart so beliebt, dass sowohl viele Poster mit Abbildungen seiner Werke angeboten werden als auch Puzzles, beispielsweise das 1000-teilige Puzzle mit dem Werk Der Tanz. Der Autohersteller Citroën stellt nicht nur ein Auto mit dem Namen seines Freundes und Antipoden Picasso her, sondern seit dem Jahr 2006 auch den C Matisse. Matisse’ Name ist ebenfalls in der Musikszene vertreten: Im Jahr 1999 nannte sich eine alternative griechische Rockband in Athen Matisse, und in Troisdorf gibt es eine Musikkneipe gleichen Namens. 1993 wurde eine Rose gezüchtet, die seinen Namen erhielt. Straßen und Plätze in Frankreich wurden nach Matisse benannt. Auf dem Planeten Merkur werden Krater nach verstorbenen bekannten Persönlichkeiten benannt, beispielsweise nach Künstlern, Malern, Schriftstellern und Musikern. Der Matisse-Krater wurde 1976 nach Henri Matisse benannt; er hat einen mittleren Durchmesser von rund 190 Kilometern und liegt auf der Südhalbkugel des Merkur. Am 2. April 1999 wurde ein 1973 entdeckter Asteroid des inneren Hauptgürtels nach Matisse benannt: (8240) Matisse. == Ausstellungen, Museen (Auswahl) == Werke von Henri Matisse wurden in der Galerie 291 (1908, 1910, 1912), der Armory Show (1913), auf der documenta 1 (1955), der documenta II (1959) und der documenta III (1964) in Kassel gezeigt. 1904: Erste Einzelausstellung bei Ambroise Vollard, Paris 1905: Gemeinschaftsausstellung im Salon d’Automne, der Begriff Fauvismus wurde hier geprägt. 1910: Erste Ausstellung bei Bernheim-Jeune, Paris 1919/1920: Ausstellungen bei Bernheim-Jeune, Paris 1931–1933: Retrospektiven in Berlin, Paris, Basel, New York 1934/35: Mehrere Ausstellungen in der New Yorker Galerie seines Sohnes Pierre Matisse 1945: Retrospektive im Salon d’Automne; gemeinsame Ausstellung mit Picasso in London 1949: Ausstellung von Scherenschnitten und anderen neuen Werken im Musée National d’Art Moderne, Paris 1952: Eröffnung des Musée Matisse in seiner Heimatstadt Le Cateau-Cambrésis 1953: Ausstellung der Scherenschnitte in der Galerie Berggruen, Paris und der Skulpturen in London 1963: Eröffnung des Musée Matisse in Nizza 2002: Matisse – Picasso. Tate Modern, London; Les Galeries Nationales du Grand Palais, Paris; Museum of Modern Art, New York 2007: Matisse Jazz. Das Musée Matisse zu Gast in Nürnberg. Germanisches Nationalmuseum & Musée Matisse, Nürnberg, 18. Juli 2007 bis 4. November 2007 2008/2009: Matisse – Menschen Masken Modelle. Staatsgalerie Stuttgart und Bucerius Kunst Forum, Hamburg 2009/2010: Matisse – Rodin, une rencontre entre deux maîtres de l’art moderne, Musée Matisse, Nizza; anschließend im Musée Rodin, Paris 2010/11: Cézanne – Picasso – Giacometti. Meisterwerke der Fondation Beyeler, Leopold Museum, Wien 2012/13: Im Farbenrausch. Munch, Matisse und die Expressionisten. Museum Folkwang, Essen 2013/14: Matisse und die Fauves. Albertina, Wien, 20. September 2013 bis 12. Januar 2014 2014: Henri Matisse: The Cut-Outs. Tate Gallery of Modern Art, London, 17. April bis 7. September 2014. 2015/16: Matisse Prints & Drawings, Baltimore Museum of Art, Baltimore, 9. Dezember 2015 bis 3. Juli 2016 2016/17: Henri Matisse – Die Hand zum Singen bringen. Kunstmuseum Pablo Picasso Münster, Münster, 29. Oktober 2016 bis 12. Februar 2017 2017/18: Matisse – Bonnard: „Es lebe die Malerei!“ Städel, Frankfurt am Main, 13. September 2017 bis 14. Januar 2018 2017/18: Die Sehnsucht lässt alle Dinge blühen … Van Gogh bis Cézanne, Bonnard bis Matisse. Kunstmuseum Bern, 11. August 2017 bis 11. März 2018 2019/20: Inspiration Matisse. Kunsthalle Mannheim, 27. September 2019 bis 19. Januar 2020 2020: Van Gogh, Cézanne, Matisse, Hodler. Die Sammlung Hahnloser. Albertina, Wien, 27. August bis 15. November 2020 2020/21: Matisse, comme un roman. Centre Georges-Pompidou, Paris, 21. Oktober 2020 bis 22. Februar 2021. 2022: Henri Matisse and The Red Studio. Museum of Modern Art, New York, 1. Mai bis 10. September 2022 == Werke (Auswahl) == === Gemälde und Scherenschnitte, grafisches Werk === 1894: Die Lesende, Öl auf Leinwand, 61,5 × 47,9 cm, Musée National d’Art Moderne, Paris • Abb. 1897: Der gedeckte Tisch, Öl auf Leinwand, 100 × 131 cm, Sammlung Stavros Niarchos • Abb. 1900: Der Knecht, Öl auf Leinwand, 99,3 × 72,7 cm, Museum of Modern Art, New York 1904/05: Luxus, Stille und Begierde, Öl auf Leinwand, 94 × 117 cm, Musée National d’Art Moderne, Paris • Abb. 1905: Lebensfreude, Barnes Foundation, Merion • Abb. 1905: Frau mit Hut, Öl auf Leinwand, 81 × 60 cm, San Francisco Museum of Modern Art 1905: Offenes Fenster in Collioure, Öl auf Leinwand, 55,3 × 46 cm, National Gallery of Art, Washington D.C. 1905: Der grüne Streifen. Bildnis Madame Matisse, Öl auf Leinwand, 40 × 32,5 cm, Statens Museum for Kunst, Kopenhagen • Abb. 1906: Orientalische Teppiche, Öl auf Leinwand, 89 × 116,5 cm, Musée de Peinture et de Sculpture, Grenoble 1907: Blauer Akt (Erinnerung an Biskra), Öl auf Leinwand, 92 × 140 cm, Baltimore Museum of Art, Baltimore 1907: Luxus I, Öl auf Leinwand, 210 × 138 cm, Musée National d’Art Moderne, Paris 1908: Rote Harmonie, Öl auf Leinwand, 180 × 200 cm, Eremitage, Sankt Petersburg 1909: Spanierin mit Tamburin, Puschkin-Museum, Moskau 1909/10: Der Tanz (I und II), Museum of Modern Art, New York und Eremitage, Sankt Petersburg 1910: Bronze mit Früchten, Öl auf Leinwand, 90 × 115 cm, Puschkin-Museum, Moskau 1910: Die Musik, Öl auf Leinwand, 260 × 398 cm, Eremitage, Leningrad 1911: Familienbildnis, Öl auf Leinwand, 143 × 194 cm, Eremitage, Sankt Petersburg • Abb. 1911: Das rote Atelier, Öl auf Leinwand, 181 × 219 cm, Museum of Modern Art, New York (Abb.) 1913: Blumen und Keramik, Öl auf Leinwand, 93,3 × 82,5 cm, Städelsches Kunstinstitut, Frankfurt a. M. • Abb. 1914: Ansicht von Notre Dame, Öl auf Leinwand, 147,3 × 94,2 cm, Museum of Modern Art, New York • Abb. 1917: Kopf Laurettes mit Kaffeetasse, Öl auf Leinwand, 92 × 73 cm, Kunstmuseum Solothurn, Dübi-Müller-Stiftung 1919: Die Teestunde, Öl auf Leinwand, 140 × 211,1 cm, Los Angeles County Museum of Art, Los Angeles 1919: Bouquet de fleurs pour le Quatorze Juillet, Öl auf Leinwand 1928: Odaliske mit Lehnstuhl, Öl auf Leinwand, 60 × 73 cm, Musée National d’Art Moderne, Paris 1932: Der Tanz, Öl auf Leinwand, 356,8 × 1432,5 cm, Wanddekoration für die Barnes Foundation in Merion 1937: Dame in Blau, Öl auf Leinwand, 93 × 73,6 cm, Philadelphia Museum of Art, Philadelphia 1940: Der Traum, Öl auf Leinwand, 80,9 × 64,7, Privatbesitz 1940: Stillleben mit Austern, Öl auf Leinwand, 65,5 × 81,5 cm, Basel, Kunstmuseum 1946: Polynesien – Das Meer, Scherenschnitt, 200 × 314 cm, Musée National d’Art Moderne, Paris 1950: Zulma, Scherenschnitt, 238,1 × 133 cm, Statens Museum for Kunst, Kopenhagen 1952: Blauer Akt, Serie, Scherenschnitte 1952: Der Papagei und die Sirene, Scherenschnitt, 337 × 773 cm, Stedelijk Museum, Amsterdam 1953: Die Trauer des Königs, Scherenschnitt, 292 × 386 cm, Musée National d’ Art Moderne, Paris 1953: Die Schnecke, Scherenschnitt, 286,4 × 287 cm, Tate Gallery, London • Abb. Das zeichnerische und grafische Werk in einer Auswahl als PDF: Galerie Boisserée (PDF; 4,8 MB) === Das bildhauerische Werk === 1899–1901: Jaguar, einen Hasen verschlingend, Bronze, 22,8 × 57,1 cm, Privatbesitz 1900–1903: Der Knecht, Bronze, Höhe 92,3 cm, Sockel 33 × 30,5 cm, Baltimore Museum of Art, Cone Collection • Abb. 1906: Stehender Akt, Bronze, Höhe 48,2 cm, Privatbesitz um 1909, 1914, 1916, 1930: Rückenakt I–IV, Bronze, alle im Museum of Modern Art, New York • Abb. 1910–1913: Jeanette I – V. Jeanette V: Bronze, Höhe 58,4 cm, Art Gallery of Ontario, Toronto • Abb. === Buchillustrationen === 1932: Stéphane Mallarmé: Poésies. Albert Skira, Lausanne 1935: James Joyce: Ulysses. Macy, New York 1944: Henry de Montherlant: Pasiphaé. Chant de Minos. Fabiani, Paris 1946: Tristan Tzara: Le signe de vie. Bordas, Paris 1947: Charles Baudelaire: Les Fleurs du Mal. Bibliothèque française, Paris 1947: Henri Matisse: Jazz. Tériade, Paris. Deutsche Ausgabe: Hrsg. Katrin Wiethege; Neuausgabe von Prestel, München 2009, ISBN 978-3-7913-4278-8 1948: Pierre de Ronsard: Florilège des amours. Albert Skira, Genf 1950: Charles d’Orléans: Poèmes. Verve, Paris == Literatur == === Primärliteratur === Henri Matisse: Farbe und Gleichnis. Gesammelte Schriften. Hrsg.: Peter Schifferli. Fischer, Frankfurt am Main 1960. Autorensammlung: Henri Matisse. Hrsg.: Jack D. Flam. Könemann, Köln 1994, ISBN 3-89508-009-8. Henri Matisse: Über Kunst. In: Jack D. Flam (Hrsg.): detebe 26077. Diogenes, Zürich 1982, ISBN 3-257-21457-X (Originaltitel: On Art. aktuelle Neuausgabe als «Diogenes Taschenbuch» 21457, Zürich 2005). englische Originalausgabe: Matisse on Art. Phaidon, New York NY 1973, ISBN 0-520-20032-2 (eingeschränkte Vorschau in der Google-Buchsuche – Revised Edition in «Documents of Twentieth-century Art» by University of California Press, Berkeley CA 1993). Henri Matisse: Zeichnungen und Gouaches découpées. Text von Lydia Delectorskaya, Ortrud Dreyer, Ulrike Gauss. Hrsg.: Graphische Sammlung Staatsgalerie Stuttgart, Stuttgarter Galerieverein. Hatje Cantz, Ostfildern 1993, ISBN 3-7757-0445-0 (Ausstellungskatalog «Stuttgart 11. Dezember 1993 bis 20. Februar 1994» deutsch, französisch, englisch). Henri Matisse: Scherenschnitte. Text von Gilles Néret. Taschen, Köln / London / Los Angeles / Madrid / Paris / Tokyo 1994, ISBN 3-8228-8412-X. Henri Matisse: Scherenschnitte. Text von Ralf Schiebler. Schirmer/Mosel, München 1994, ISBN 3-88814-359-4. Henri Matisse: Matisse Portfolio. Taschen, Köln / London / Los Angeles / Madrid / Paris / Tokyo 2003, ISBN 3-8228-2982-X. Henri Matisse: Jazz. Hrsg.: Katrin Wiethege. Prestel, München 2005, ISBN 3-7913-3508-1. === Sekundärliteratur === Biografische Gesamtdarstellungen Volkmar Essers: Matisse. Taschen, Köln 2006, ISBN 978-3-8228-6365-7 Lawrence Gowing: Matisse. Lichtenberg, München 1997, ISBN 3-7852-8406-3 Gabriele Grepaldi: Henri Matisse. DuMont, Köln 1998, ISBN 3-7701-4541-0 Gilles Néret: Henri Matisse. Taschen, Köln 1997, ISBN 3-8228-8217-8 John Russell: Matisse, Father & Son. Harry N. Abrams, New York 1999, ISBN 0-8109-4378-6 Pierre Schneider: Matisse. Rizzoli, New York 1984, ISBN 0-8478-0546-8 Hilary Spurling: The unknown Matisse. Volume 1: A Life of Henri Matisse: The early years, 1869–1908. A. Knopf, New York 1998, ISBN 978-0-375-71133-6, eingeschränkte Vorschau in der Google-Buchsuche. Hilary Spurling: Matisse the Master. Volume 2: A Life of Henri Matisse: The Conquest of Colour, 1909–1954. Knopf, New York 2005, ISBN 0-679-43428-3; Neuauflage: Hamish Hamilton, London 2005, ISBN 978-0-241-13339-2, eingeschränkte Vorschau in der Google-Buchsuche. Matisse. Leben und Werk. Ins Deutsche übertragen von Jürgen Blasius. DuMont: einbändige Ausgabe: 700 S., 150 s/w. Abb., 300 farbige Abb., Köln 2006, ISBN 978-3-8321-7704-1 zweibändige Ausgabe: im Schuber, zus. 1096 S., 320 s/w. Abb., 60 farbige Abb., Köln 2007, ISBN 978-3-8321-7774-4Lebensabschnitte 1916–1930: Jack Cowart, Dominique Fourcade: Henri Matisse. The Early Years in Nice 1916–1930. Ausstellungskatalog (2. November 1986 bis 29. März 1987) der National Gallery of Art (Washington), Harry N. Abrams, New York 1986, ISBN 0-89468-097-8 1943–1948: Marie-France Boyer, Hélène Adant: Matisse in der Villa Le Rêve. (1943–1948). Benteli, Bern 2005, ISBN 3-7165-1390-3 1943–1954: Françoise Gilot: Matisse und Picasso. Eine Künstlerfreundschaft. Kindler, München 1990, ISBN 3-463-40139-8Augenzeugenberichte Hans Purrmann: Über Henri Matisse. In: Henri Matisse Farbe und Gleichnis. Gesammelte Schriften. Hrsg. von Peter Schifferli, Fischer Bücherei Nr. 324, Fischer Bücherei KG, Frankfurt a. M. 1960, o. ISBN, S. 121–154.Einzelaspekte des Werkes Olivier Berggruen, Max Hollein (Hrsg.): Henri Matisse. Mit der Schere zeichnen. Meisterwerke der letzten Jahre. Ausstellungskatalog. Prestel, München 2002, ISBN 3-7913-2798-4. John Bidwell u. a.: Graphic passion. Matisse and the book arts. University Park, Pennsylvania, The Pennsylvania State University Press 2015, ISBN 978-0-271-07111-4 (englisch). Sylvie Forestier, Marie-Thérèse Pulvenis de Séligny: Matisse. Der ausgeschnittene Himmel. Die späten Scherenschnitte. Wienand, Köln 2012, ISBN 978-3-86832-102-9 Xavier Girard, Sandor Kuthy: Henri Matisse 1869–1954 – Skulpturen und Druckgraphik – Sculptures et gravures. Ausstellungskatalog (30. November 1990 bis 10. Februar 1991), Kunstmuseum Bern / Musée des beaux-arts de Berne, Bern 1990, ISBN 3-7165-0768-7 Ernst-Gerhard Güse (Hrsg.): Henri Matisse. Zeichnungen und Skulpturen. Ausstellungskatalog zur Ausstellung im Saarlandmuseum Saarbrücken (12. Mai – 7. Juli 1991). Prestel, München 1991, ISBN 3-7913-1124-7 Gotthard Jedlicka: Die Matisse Kapelle in Vence – Rosenkranzkapelle der Dominikanerinnen. Suhrkamp, Frankfurt a. M. 1955 Beatrice Lavarini: Henri Matisse: JAZZ (1943–1947). Ein Malerbuch als Selbstbekenntnis. scaneg, München 2000, ISBN 3-89235-079-5. Thomas Levy und Carl-Jürgen Tohmfor: Das Café du Dôme und die Académie Matisse. Schimper, Schwetzingen 1988, ISBN 978-3-87742-033-1 Annette Ludwig: Zauberfest des Lichts. Matisse in Marokko: Gemälde und Zeichnungen. Insel, Frankfurt a. M. 2007, ISBN 978-3-458-19226-8 Markus Müller (Hrsg.): Matisse – Picasso. Ihr künstlerischer Dialog im buchillustrativen Schaffen. Ausstellungskatalog zur Ausstellung im Graphikmuseum Pablo Picasso Münster (18. Februar – 25. Mai 2005), Münster 2005 Pia Müller-Tamm (Hrsg.): Henri Matisse. Figur, Farbe, Raum. Ausstellungskatalog zur Ausstellung der Kunstsammlung Nordrhein-Westfalen (29. Oktober 2005 bis 19. Februar 2006). Hatje Cantz, Ostfildern-Ruit 2005, ISBN 3-7757-1600-9 Henri Matisse, Nina Hollein, Max Hollein: Schnipp, Schnapp, Matisse. Prestel, München 2002, ISBN 3-7913-2753-4. Otfried Schütz: Henri Matisse. Die blauen Akte. Insel, Frankfurt a. M. 1996, ISBN 3-458-33495-5 Dania Thomas: Henri Matisse. ‚Der Tanz‘ und ‚Die Musik‘. VDM-Verlag, Saarbrücken 2008, ISBN 978-3-8364-9561-5 Ortrud Westheider: Matisse: Menschen Masken Modelle. Hirmer, München 2008, ISBN 978-3-7774-4385-0Wirkung und Rezeption Alfred H. Barr: Matisse. His Art and his Public. Erstausgabe 1951. Little, Brown & Co, Boston 1974, ISBN 0-87070-469-9 Die große Inspiration. Deutsche Künstler in der Académie Matisse, Teil III. Ausstellungskatalog, Kunstmuseum Ahlen 2004/05Werkverzeichnis Claude Duthuit, Marguerite Duthuit-Matisse (Hrsg.): Henri Matisse. Catalogue Raisonné de l’Œuvre Gravé. Zwei Bände. Paris, 1983 Claude Duthuit (Hrsg.): Henri Matisse. Catalogue Raisonné des Ouvrages illustrées. Paris, 1988 Claude Duthuit (Hrsg.): Henri Matisse. Catalogue Raisonné de l’Œuvre Sculpté. Duthuit, Paris 1997, ISBN 2-904852-04-2 Pierre Schneider, Massimo Carrà: Tout l’Œuvre peint de Matisse 1904–1928. Paris 1982Belletristik Louis Aragon: Henri Matisse. Roman. Zwei Bände, aus dem Französischen von Eugen Helmlé. Belser, Stuttgart 1974, ISBN 3-7630-1575-2 (frz. Originalausgabe Gallimard, Paris 1971)Bücher für Kinder Nina Hollein: Schnipp Schnapp Matisse (Abenteuer Kunst). Prestel, München 2002, ISBN 3-7913-2753-4 Britta Benke: Wer ist eigentlich dieser Matisse? Kindermann, Berlin 2007, ISBN 3-934029-30-2 Annemarie van Haeringen: Monsieur Matisse und seine fliegende Schere. Verlag Freies Geistesleben, Stuttgart 2015, ISBN 978-3-7725-2769-2 == Filme (Auswahl) == An Essay on Matisse. Dokumentarfilm, USA, 1996, 57 Min., Buch und Regie: Perry Wolff, Produktion: Great Projects Film Company, Erstausstrahlung bei PBS. An Essay on Matisse in der Internet Movie Database (englisch). Der Dokumentarfilm erhielt 1996 eine Oscar-Nominierung in der Kategorie Short documentary. Matisse – Picasso. Eine unwahrscheinliche Freundschaft. (OT: Matisse – Picasso, 52 Min.) Dokumentarfilm, Frankreich, 2002, 47:22 Min., Buch und Regie: Philippe Kohly, Produktion: Les Films d'Ici, RM Associates, 3sat, France 3, France 5. Matisse – Picasso in der Internet Movie Database (englisch), OCLC 717913551. Der Film zeigt selten veröffentlichte Fotografien ihrer Gemälde und Skulpturen sowie Fotos und Filme aus Archiven, während ihrer Arbeit. Henri Matisse. Die Farben des Südens. Dokumentarfilm, Deutschland, 2005, 43:10 Min., Buch und Regie: Evelyn Schels, Produktion: BR, Reihe: Lido, Inhaltsangabe (Memento vom 24. November 2016 im Webarchiv archive.today) vom Bayerischen Fernsehen. Henri Matisse – eine filmische Reise. (OT: Henri Matisse – un voyage en peinture.) Dokumentarfilm, Deutschland, Frankreich, 2005, 26:08 Min., Buch und Regie: Heinz Peter Schwerfel, Produktion: Artcore Film, WDR, arte, Erstausstrahlung: 10. Dezember 2005 bei arte. Matisse – Auf der Suche nach dem Licht. (OT: Matisse voyageur, en quête de la lumière.) Dokumentarfilm, Frankreich, 2019, 51:29 Min., Buch und Regie: Raphaël Millet, Produktion: arte France, CC&C, Man's Films, Nocturnes Productions, RTBF, Le Centre Pompidou, Erstsendung: 31. Mai 2020 bei arte, Inhaltsangabe von ARD. == Weblinks == Literatur von und über Henri Matisse im Katalog der Deutschen Nationalbibliothek Werke von und über Henri Matisse in der Deutschen Digitalen Bibliothek Henri Matisse in Swisscovery, dem schweizerischen Suchportal der wissenschaftlichen BibliothekenMuseen Musée Matisse, Nizza (englisch, französisch) Henri Matisse auf kunstaspekte.de, AusstellungskalenderBiografien Museen und Biografie von artcyclopedia (englisch) Anke Rebbert: 03.11.1954 – Der Todestag von Henri Matisse. In: WDR, ZeitZeichen, 3. November 2014, Audiodatei,13:57 Min., aufrufbar bis 31. Oktober 2024.Bilder Werke von Henri Matisse in der Europeana Henri Matisse: Eine virtuelle Kunst-Galerie (englisch) Matisse im WebMuseum Paris, 2002 (englisch) Henri Matisse: The Cut-Outs auf YouTube, 16. April 2014, abgerufen am 20. März 2021. In: Tate Modern, 4:19 Min., (englisch) == Einzelnachweise ==
https://de.wikipedia.org/wiki/Henri_Matisse
Tamil
= Tamil = Tamil (தமிழ் tamiḻ [ˈt̪amɨɻ], auch Tamilisch) ist eine Sprache aus der dravidischen Sprachfamilie. Sie wird von mindestens 76 Millionen Angehörigen des Volks der Tamilen vor allem im südindischen Bundesstaat Tamil Nadu und in Sri Lanka als Muttersprache gesprochen. Tamil ist weniger stark vom Sanskrit beeinflusst worden als die übrigen dravidischen Literatursprachen. Mit einer eigenständigen Literaturgeschichte von über 2000 Jahren hat das Tamil die längste durchgängige Tradition aller modernen indischen Sprachen und ist in Indien als klassische Sprache anerkannt. Im modernen Tamil herrscht eine Situation der Diglossie, das heißt, die am klassischen Tamil angelehnte Schriftsprache unterscheidet sich stark von der Umgangssprache. == Verbreitung und Sprecherzahl == Tamil wird im Süden Indiens, in Sri Lanka und in der weltweiten Diaspora gesprochen. Das Verbreitungsgebiet des Tamil innerhalb Indiens deckt sich weitgehend mit dem Bundesstaat Tamil Nadu, dessen Grenzen 1956 entlang der Sprachgrenze des Tamil gezogen wurden. Das tamilische Siedlungsgebiet in Sri Lanka umfasst den Norden und Osten der Insel. Durch die Ansiedlung von indischen Tamilen als Teepflücker im 19. Jahrhundert während der britischen Kolonialzeit ist das Tamil heute auch im zentralen Bergland Sri Lankas verbreitet. Ebenfalls während der Kolonialzeit entstand eine tamilische Diaspora in Südostasien (Malaysia und Singapur), Réunion, Mauritius und Südafrika. Seit dem 20. Jahrhundert sind viele Tamil-Sprecher (u. a. infolge des Bürgerkriegs in Sri Lanka) nach Nordamerika und Europa ausgewandert. Weltweit gibt es mindestens 76 Millionen muttersprachliche Sprecher des Tamil. Die weitaus meisten von ihnen leben in Indien, wo bei der Volkszählung 2011 rund 69 Millionen Tamil-Sprecher gezählt wurden. Davon leben 64 Millionen im Bundesstaat Tamil Nadu, wo Tamil-Sprecher die große Bevölkerungsmehrheit stellen. Größere tamilischsprachige Minderheiten gibt es auch in den Nachbarbundesstaaten Karnataka, Andhra Pradesh und Kerala sowie in Maharashtra. In Sri Lanka leben laut der Volkszählung 2012 insgesamt 5 Millionen Angehörige von tamilischsprachigen Ethnien (Sri-Lanka-Tamilen, indischstämmige Tamilen und Moors). Sie stellen zusammen ein Viertel der Bevölkerung Sri Lankas. In der Nord- und Ostprovinz sowie in Teilen der Zentralprovinz stellen Tamil-Sprecher die Bevölkerungsmehrheit. Größere Gruppen von Tamil-Sprechern in der Diaspora finden sich in Malaysia (geschätzt 1,6 Millionen), Singapur (110.000), den Vereinigten Staaten (190.000), Kanada (130.000) und dem Vereinigten Königreich (100.000 allein in England und Wales).Tamil dient im indischen Bundesstaat Tamil Nadu und im Unionsterritorium Puducherry als Amtssprache. Auf überregionaler Ebene ist es als eine von 22 Verfassungssprachen Indiens anerkannt. Ferner ist Tamil Amtssprache in Sri Lanka (neben Singhalesisch) und Singapur (neben Malaiisch, Chinesisch und Englisch). == Sprachverwandtschaft == Tamil gehört zur Familie der dravidischen Sprachen. Diese bilden mit insgesamt rund 240 Millionen Sprechern neben den indoarischen Sprachen die zweite große Sprachfamilie Südasiens. Andere wichtige dravidische Sprachen sind Telugu, Malayalam und Kannada, die alle ebenfalls im Süden Indiens gesprochen werden. Innerhalb der dravidischen Sprachfamilie gehört das Tamil zum süddravidischen Zweig. Sein nächster Verwandter ist das Malayalam, das sich erst zwischen 800 und 1000 n. Chr. als eigenständige Sprache herausbildete. Ebenfalls nah mit dem Tamil verwandt sind Irula, Toda und Kota, allesamt kleine Stammessprachen, die von der Adivasi-Bevölkerung in den Nilgiri-Bergen gesprochen werden. Tamil ist nach Telugu die dravidische Sprache mit der zweitgrößten Sprecherzahl, kann aber wegen seiner reichen Literaturgeschichte als wichtigster Vertreter dieser Sprachfamilie angesehen werden.Mit den indoarischen Sprachen Nordindiens ist das Tamil als dravidische Sprache nicht verwandt. Während die übrigen dravidischen Literatursprachen vor allem im Bereich von Wortschatz und Lautlehre stark durch das indoarische Sanskrit, die klassische Sprache des Hinduismus, beeinflusst worden sind, ist das Tamil weniger stark indoarisch beeinflusst. == Sprachgeschichte == Tamil hat eine über zweitausendjährige Sprachgeschichte, die in drei Perioden eingeteilt wird: Alt-Tamil (300 v. Chr. – 700 n. Chr.), Mittel-Tamil (700–1600) und modernes Tamil (seit 1600).Die Vorgeschichte des Tamil liegt weitgehend im Dunkeln, da ungeklärt ist, ob die dravidischen Sprachen in Indien autochthon sind, oder ob sie in prähistorischer Zeit von außerhalb auf den Subkontinent gelangten. Die unter den tamilischen Nationalisten populäre Vorstellung, die Tamilen stammten vom versunkenen Kontinent Kumarikkandam, muss dagegen als rein legendär gelten. Auch die Etymologie des Namens „Tamil“ ist unklar. Vorgeschlagen werden unter anderem Herleitungen von taku „geeignet, angemessen“, von tāmarai „Lotus“ und von *tam-miḻ „eigene Sprache“.Die geschichtliche Phase des Tamil beginnt mit den ältesten bekannten Sprachzeugnissen, Steininschriften aus dem Jahr 254 v. Chr., die in einer speziellen Form der Brahmi-Schrift abgefasst sind. Das älteste bekannte Werk der tamilischen Literatur, das Grammatikwerk Tolkappiyam, wird meist auf die Zeit um 100 oder 200 v. Chr. datiert. Das Tolkappiyam ist ebenso wie die in den ersten Jahrhunderten n. Chr. entstandenen Liebes- und Heldendichtungen der Sangam-Literatur auf Alt-Tamil verfasst. Diese Sprachform zeichnet sich durch den häufigen Verzicht auf Endungen aus und ist für heutige Tamilen nicht ohne weiteres verständlich. Schon in den ältesten Sprachschichten des Tamil finden sich, wenn auch nur vereinzelt, Lehnwörter aus dem Sanskrit und den mittelindischen Prakrit-Sprachen. Ab dem 7. Jahrhundert nahm der Einfluss des Sanskrit im Zuge der fortschreitenden kulturellen Beeinflussung der tamilischen Gebiete durch die arische Kultur Nordindiens spürbar zu und erreichte um das Jahr 1000 seinen Höhepunkt. Immer mehr Sanskrit-Wörter fanden ihren Weg ins Tamil. Vor allem in der religiösen Literatur wurde zwischen dem 14. und 16. Jahrhundert sogar eine regelrechte Mischsprache aus Sanskrit und Tamil (als மணிப்பிரவாளம் maṇippiravāḷam bezeichnet) populär. Die Beeinflussung durch das Sanskrit war im Tamil aber nie so stark wie in den anderen dravidischen Literatursprachen. Anders als diese übernahm das Tamil nicht die stimmhaften und aspirierten Laute des Sanskrit in sein Lautsystem, sondern passte die Lehnwörter weitgehend an die tamilische Phonologie an. Auch genoss das sanskritisierte Tamil nicht automatisch ein höheres Prestige, sondern blieb nur ein Stil, der neben dem „reinen“ Tamil existierte.Anfang des 20. Jahrhunderts bildete sich in Tamil Nadu unter Führung von E. V. Ramasami die tamilisch-nationalistische „Dravidische Bewegung“ heraus, die für einen unabhängigen Dravidenstaat und gegen die gesellschaftliche Dominanz der Brahmanenkaste eintrat. Zur gleichen Zeit hoben Spekulationen um einen möglichen dravidischen Ursprung der kürzlich entdeckten Indus-Kultur und die Wiederentdeckung einer großen Zahl von in Vergessenheit geratenen Werken der Sangam-Literatur das kulturelle und sprachliche Selbstbewusstsein der Tamilen. In diesem Klima entstand die sprachpuristische Tanittamil-Iyakkam (தனித்தமிழ் இயக்கம், „Reines-Tamil-Bewegung“), die eine „Bereinigung“ des Tamil von Sanskrit-Einflüssen anstrebte. Unter ihrem Einfluss wurde ein Großteil der Sanskrit-Lehnwörter durch tamilische Wörter ersetzt. Der tamilische Sprachnationalismus richtete sich auch gegen den nach der indischen Unabhängigkeit wachsenden Einfluss der nordindischen Sprache Hindi. Als die indische Zentralregierung 1965 versuchte, Hindi als alleinige Nationalsprache einzuführen, kam es in Tamil Nadu zu mitunter gewaltsamen Protesten, bis hin zur Selbstverbrennung eines Aktivisten der DMK-Partei.Im Jahr 2004 verlieh die indische Regierung Tamil offiziell den Status einer klassischen Sprache. Neben dem Tamil haben noch Sanskrit, Kannada, Malayalam, Odia und Telugu diesen Status erhalten. == Sprachformen == Im heutigen Tamil herrscht eine ausgeprägte Situation der Diglossie vor, das heißt die Umgangs- und Schriftsprache unterscheiden sich stark voneinander. Die beiden Varietäten werden je nach Situation in komplementärer Verteilung benutzt. Die prestigeträchtigere Schriftsprache (செந்தமிழ் centamiḻ) wird bei geschriebenen Texten, Rundfunksendungen und formalen Anlässen (Reden, Vorträgen etc.) benutzt, während die Umgangssprache (கொடுந்தமிழ் koṭuntamiḻ) die Sprache der gewöhnlichen Alltagskonversation ist. Daneben kommt die Umgangssprache in begrenztem Maße auch in der schriftlichen Domäne zum Einsatz, etwa für Dialogpassagen in moderner Prosaliteratur. Die Diglossie ist typisch für die südasiatischen Sprachen, im Tamil jedoch am deutlichsten ausgeprägt.Die Umgangssprache unterscheidet sich in Phonologie, Morphologie und Wortschatz von der Schriftsprache. Generell zeichnet sich die Umgangssprache durch eine stärkere phonetische Verschleifung aus. So wird die Abschiedsformel போய்விட்டு வாருங்கள் pōyviṭṭu vāruṅkaḷ (wörtlich etwa: „gehen Sie und kommen Sie wieder“) in der Umgangssprache zu போய்ட்டு வாங்க pōyṭṭu vāṅka. Außerdem setzt die Umgangssprache teilweise anderslautende Suffixe ein (z. B. -kiṭṭa statt -iṭam für den Lokativ bei Personen) und unterscheidet sich im Bereich des Wortschatzes vor allem durch die größere Anzahl an englischen Lehnwörtern. Die in diesem Artikel beschriebene Sprachform ist die moderne Schriftsprache. Die Umgangssprache unterteilt sich wiederum in zahlreiche Dialekte. Hierbei unterscheiden sich vor allem die Dialekte Sri Lankas von jenen auf dem indischen Festland. Sie sind besonders konservativ und haben einige Merkmale des Alt-Tamil bewahrt, die in der modernen Schriftsprache verloren gegangen sind (z. B. die dreifache Abstufung der Deixis: இவன் ivaṉ „dieser (hier)“, உவன் uvaṉ „dieser (dort)“ und அவன் avaṉ „jener“). Parallel zu den geografischen Dialekten existieren Kastendialekte bzw. Soziolekte. Die Hauptunterscheidung liegt dabei zwischen den Dialekten der Brahmanen und Nichtbrahmanen. Nicht zuletzt durch den Einfluss der tamilischen Filmproduktion hat sich eine Art überregionale Standard-Umgangssprache entwickelt, die auf der von der gebildeten nichtbrahmanischen Bevölkerung verwendeten Sprache beruht. == Phonologie == === Konsonanten === Das Tamil verfügt über folgende 16 bzw. 18 konsonantische Phoneme (angegeben sind der entsprechende Buchstabe der Tamil-Schrift, die Transliteration und der Lautwert in der IPA-Lautschrift): *) Der alveolare Nasal /n/ kommt in komplementärer Verteilung zum dentalen Nasal /n̪/ vor (zwischen Vokalen und am Wortende) und kann daher nicht als vollwertiges Phonem gewertet werden. **) Der velare Nasal /ŋ/ kommt fast nur vor dem entsprechenden Plosiv /k/ vor und kann daher als Allophon von /n/ gewertet werden. (Ausnahme: இங்ஙானம் iṅṅaṉam [ˈiŋːənʌm] „auf diese Weise“). Wie es für die Sprachen Südasiens typisch ist, unterscheidet das Tamil zwischen dentalen (mit der Zunge an den Zähnen gesprochenen) und retroflexen (mit zurückgebogener Zunge gesprochenen) Konsonanten (vgl. பத்து pattu [ˈpat̪ːɯ] „zehn“ und பட்டு paṭṭu [ˈpaʈːɯ] „Seide“). Ein für das Tamil charakteristischer Laut ist das ழ் ḻ, das teils als retroflexer Approximant /ɻ/, teils als retroflexer Frikativ /ʐ/ beschrieben wird. Alle Konsonanten außer /ɾ/ und /ɻ/ können verdoppelt vorkommen (vgl. புளி puḷi [ˈpuɭi] „Tamarinde“ und புள்ளி puḷḷi [ˈpuɭːi] „Punkt“). Da Stimmlosigkeit und Stimmhaftigkeit bei echten Tamil-Wörtern nicht distinktiv (bedeutungsunterscheidend) sind, und da Tamil anders als die meisten anderen indischen Sprachen keine aspirierten Konsonanten kennt, ist die Anzahl der Konsonantenphoneme im Tamil verhältnismäßig gering. Dafür haben die Plosive (Verschlusslaute) eine große Zahl an Allophonen, d. h. sie werden in Abhängigkeit von ihrer Position im Wort unterschiedlich ausgesprochen (siehe Aussprache des Tamil). Generell werden die Plosive am Wortanfang und in Verdopplung stimmlos, nach Nasal und zwischen Vokalen stimmhaft gesprochen (vgl. பட்டம் paṭṭam [ˈpaʈːʌm] „Titel“ und படம் paṭam [ˈpaɖʌm] „Bild“). Zwischen Vokalen tendieren sie außerdem dazu, als Frikative (Reibelaute) gesprochen zu werden (vgl. மக்கள் makkaḷ [ˈmakːəɭ] „Leute“ und மகள் makaḷ [ˈmaxəɭ] „Tochter“). In Lehnwörtern können auch am Wortanfang stimmhafte Plosive vorkommen (z. B. பஸ் pas [bas] „Bus“, von engl. bus). Ferner kommen außer dem einheimischen Kerninventar an Konsonantenphonemen in Lehnwörtern noch die Phoneme /f/, /ɦ/, /ʤ/, /s/ und /ʂ/ vor. Retroflexe und alveolare Konsonanten sowie Liquida können in echten Tamil-Wörtern nicht am Wortanfang vorkommen, am Wortende sind nur /m/, /n/, /ɳ/, /ɾ/, /l/, /ɭ/, /ɻ/ und /j/ zulässig. Konsonantenanhäufungen kommen in echten Tamil-Wörtern nur beschränkt im Wortinneren vor, d. h. ein Wort kann nicht mit zwei Konsonanten beginnen oder enden. Nicht von diesen Regeln betroffen sind lautmalerische Wörter (z. B. ணங் ṇaṅ [ɳaŋ] „Klang einer Münze“) und Lehnwörter (z. B. டிக்கட் ṭikkaṭ [ˈʈikːəʈ] „Eintrittskarte, Fahrschein“, von engl. ticket). === Vokale === Die Vokallänge ist im Tamil bedeutungsunterscheidend (vgl. eri [ˈjeɾi] „brennen“ und ēri [ˈjeːɾi] „See“). Die fünf einfachen Vokale a, i, u, e und o kommen jeweils als kurze und lange Variante vor: Daneben werden die beiden Diphthonge ஐ ai /ai̯/ und ஔ au /au̯/ als Phoneme gewertet, sodass das Tamil insgesamt über 12 vokalische Phoneme verfügt. Die genaue Aussprache der Vokale hängt teilweise von ihrer Stellung im Wort und den umgebenden Lauten ab. Insbesondere wird das kurze u am Wortende ungerundet und überkurz als [ɯ] gesprochen. Der Wortakzent liegt im Tamil stets auf der ersten Silbe, ist aber nur schwach ausgeprägt. === Sandhi === Beim Aufeinandertreffen von Wortbestandteilen oder Wörtern im Satz treten phonologische Prozesse auf, die man als Sandhi bezeichnet. Wird an ein vokalisch auslautendes Wort ein Suffix, das mit einem Vokal beginnt, angefügt, kann ein [ɯ] am Wortende ausfallen (z. B. கதவு katavu + -ஐ -ai > கதவை katavai „die Tür (Akkusativ)“), in anderen Fällen wird ein Gleitlaut eingefügt (தம்பி tampi + -ஐ -ai > தம்பியை tampiyai „den jüngeren Bruder“). Beim Aufeinandertreffen von zwei Konsonanten können bestimmte Lautwandel eintreten, z. B. wandelt sich etwa das auslautende [l] im Wort பல் pal „Zahn“ vor dem Pluralsuffix -கள் -kaḷ in ein [r]: பற்கள் paṟkaḷ. In früheren Sprachstufen konnten beim Aufeinandertreffen zweier Wörter im Satz (sog. externer Sandhi) Lautveränderungen über die Wortgrenzen hinweg auftreten (z. B. பணம் paṇam + கொடுங்கள் koṭuṅkaḷ > பணங்கொடுங்கள் paṇaṅkoṭuṅkaḷ „geben Sie Geld“). Im modernen Tamil beschränkt sich der externe Sandhi im Wesentlichen darauf, dass nach bestimmten Wörtern oder Endungen ein anlautender Plosiv des folgenden Wortes verdoppelt und an das erste Wort gehängt wird, z. B. இந்த inta + புத்தகம் puttakam > இந்தப் புத்தகம் intap puttakam „dieses Buch“. == Schrift und Aussprache == === Schrift === Hauptartikel: Tamilische SchriftWie viele indische Sprachen verfügt Tamil über eine eigene Schrift, die Tamilische Schrift. Es handelt sich, wie bei allen Schriften des indischen Schriftenkreises, um eine Zwischenform aus Alphabet und Silbenschrift, ein sogenanntes Abugida. Das Grundelement der Schrift ist ein Konsonantenzeichen mit dem inhärenten Vokal a (z. B. க ka, ம ma). Folgt dem Konsonanten ein anderer Vokal, wird dieser mithilfe eines diakritischen Zeichens ausgedrückt (z. B. கா kā, மா mā). Dieses sogenannte Sekundärvokalzeichen ist unselbstständig und bildet mit dem Konsonantenzeichen eine feste Einheit. Nur am Wortanfang werden Vokale durch selbständige Schriftzeichen dargestellt (z. B: அ a, ஆ ā). Ein Konsonant, dem kein Vokal folgt, wird durch einen übergesetzten Punkt als Vokalausfallzeichen gekennzeichnet (z. B. க் k). Von den anderen indischen Schriften unterscheidet sich die Tamil-Schrift in zwei Punkten wesentlich: Aufgrund der Phonologie des Tamil, in der die Stimmhaftigkeit und Aspiration nicht bedeutungsunterscheidend sind, verfügt sie über eine wesentlich geringere Anzahl an Zeichen. Zudem setzt die Tamil-Schrift konsequent das Vokalausfallzeichen, um Konsonantenverbindungen darzustellen, während die anderen indischen Schriften zu diesem Zweck Ligaturen verwenden. Die Tamil-Schrift verfügt über zwölf selbständige Vokalzeichen und 18 Konsonantenzeichen. Dazu kommen das spezielle Konsonantenzeichen āytam (ஃ, ḵ), das aus dem Alt-Tamil stammt, sowie die sogenannten Grantha-Zeichen, die nur bei Lehnwörtern aus dem Sanskrit oder dem Englischen vorkommen. Durch Kombination der 18 Konsonanten mit den 12 unselbständigen Vokalzeichen können 216 Konsonant-Vokal-Verbindungszeichen gebildet werden. Im gesamten ergibt das 247 Buchstaben (ohne die Grantha-Zeichen, die in der Regel nicht mitgezählt werden). === Aussprache === Hauptartikel: Aussprache des TamilDie Aussprache der einzelnen Zeichen kann von ihrer Stellung im Wort abhängen. Generell werden die Plosive (Verschlusslaute) am Wortanfang und in Verdopplung stimmlos, zwischen Vokalen und nach Nasalen hingegen stimmhaft gesprochen, da die stimmlosen und stimmhaften Laute im Tamil Allophone sind. So kann zum Beispiel der Buchstabe ப் p den Lautwert [p] wie in பெண் peṇ [pɘɳ] „Mädchen “oder [b] wie in தம்பி tampi [ˈt̪ambi] „jüngerer Bruder“ haben. Somit ist die Tamil-Schrift gut an die tamilische Phonologie (siehe oben) angepasst, eignet sich aber nur schlecht zur Schreibung von Lehnwörtern aus dem Englischen oder Sanskrit, weil in diesen das Vorkommen von stimmlosen und stimmhaften Lauten nicht positionsgebunden ist. So wird das englische Lehnwort பஸ் pas „Bus“ entgegen der erwähnten Regel mit stimmhaftem Anlaut [bas] gesprochen. === Umschrift === Für die wissenschaftliche Umschrift des Tamil gilt die für das Tamil Lexicon (1924–1939) entwickelte Transliteration nach ISO 15919 als Standard. Diese Umschrift wird auch in diesem Artikel verwendet. Sie ähnelt der für das Sanskrit entwickelten IAST-Transkription, verfügt aber über besondere Umschriftzeichen für die dem Tamil eigenen Buchstaben. Nicht einheitlich gehandhabt wird die Umschrift des Buchstabens ழ், der als ḻ, ẓ oder r ̤ wiedergegeben werden kann. Da die Transliteration sich am tamilischen Schriftbild orientiert, ist eine Kenntnis der Phonologie des Tamil vonnöten, um von der Umschrift auf die genaue Aussprache schließen zu können. Im nichtwissenschaftlichen Bereich, z. B. bei der Schreibung tamilischer Orts- oder Personennamen in lateinischer Schrift, existiert keine einheitliche Konvention. Für ein und dasselbe Wort können mitunter mehrere unterschiedliche Schreibweisen in Lateinschrift üblich sein. Die Schreibung richtet sich dabei nach der Aussprache und orientiert sich mehr oder weniger stark an der englischen Orthografie (z. B. ee und oo für ī und ū). Charakteristisch ist, dass das dentale t meist mit th umschrieben wird (z. B. Thanjavur für தஞ்சாவூர் Tañcāvūr). == Grammatik == === Wortarten und Wortbildung === Über die Anzahl der Wortarten des Tamil herrscht in der Fachliteratur keine Einigkeit. Die Hauptwortarten sind Nomina (Wörter, die dekliniert werden können), Verben (Wörter, die konjugiert werden können) und Indeklinable (Wörter, die nicht flektiert werden können). Letztere können nach ihrer Funktion weiter in Adjektive, Adverbien, Postpositionen, Klitika etc. eingeteilt werden. Die Möglichkeiten zur Derivation (Ableitung) von Wörtern sind im Tamil nicht besonders ausgeprägt. Nomina können durch bestimmte Suffixe aus Verben abgeleitet werden (z. B. சிரி ciri „lachen“, சிரிப்பு cirippu „(das) Lachen“). Der umgekehrte Weg ist aber nicht möglich, die Verben bilden also eine geschlossene, nicht produktive Klasse. Sowohl Nomina als Verben können zu Komposita zusammengesetzt werden. === Morphologie === Die Morphologie (Formenlehre) des Tamil ist hochgradig agglutinativ. Das Tamil setzt Suffixe (Nachsilben) ein, um die Beziehungen von Wörtern untereinander auszudrücken. Dabei sind im Gegensatz zu flektierenden Sprachen wie dem Deutschen oder Lateinischen diese Suffixe bis auf wenige Ausnahmen eindeutig, d. h. ein Suffix drückt genau eine Funktion aus, und eine Funktion wird stets durch dasselbe Suffix ausgedrückt. So wird etwa die Form வாத்தியர்களுக்கு vāttiyarkaḷukku „den Lehrern“ durch Kombination des Plural-Suffixes -kaḷ und des Dativ-Suffixes -ukku gebildet, während in den lateinischen Formen magistro „dem Lehrer“ und magistris „den Lehrern“ die Endungen -o und -is gleichzeitig Kasus und Numerus ausdrücken. Viele Sachverhalte, die im Deutschen analytisch, d. h. durch Einzelwörter, bezeichnet werden, drückt das Tamil synthetisch durch Suffixe aus. Durch Kombination mehrerer Suffixe können Wörter von teils erheblicher Länge und Informationsfülle gebildet werden. So lässt sich vom Verb செய் cey „tun“ die Form செய்யாதவர்களிடமிருந்தும் ceyyātavarkaḷiṭamiruntum ableiten, die „auch von denen, die nicht machen“ bedeutet und sich folgendermaßen auflösen lässt: ==== Nomina ==== Zur Wortklasse der Nomina gehören auch Pronomina, Quantitätsbezeichnungen wie எல்லாம் ellām „alles“ und Zahlwörter, nicht jedoch Adjektive, da diese im Tamil indeklinabel sind. Artikel wie im Deutschen gibt es im Tamil nicht, jedoch entspricht dem deutschen unbestimmten Artikel „ein“ oft das Zahlwort ஒரு oru, anstelle des bestimmten Artikels „der/die/das“ werden bisweilen die Demonstrativpronomina அந்த anta „jener“ bzw. இந்த inta „dieser“ verwendet. Das Genus (grammatische Geschlecht) der Wörter im Tamil entspricht ihrem natürlichen Geschlecht (Sexus). Die Nomina werden dabei in zwei Hauptklassen eingeteilt: Die „Hochklasse“ (உயர்திணை uyartiṇai), die vernunftbegabte Wesen (Menschen, Götter) bezeichnet, und die „Niederklasse“ (அஃறிணை aḵṟiṇai) bzw. das Neutrum für nicht vernunftbegabte Wesen (Kinder, Tiere, Dinge). Die Hochklasse wird weiter unterteilt in Maskulinum (männlich), Femininum (weiblich) und gemeingeschlechtliche Formen (Epicönum), die sowohl Maskulina als Feminina bezeichnen können und zugleich stets Höflichkeit ausdrücken. In bestimmten Zusammenhängen spielt auch die Belebtheit eines Nomens eine Rolle. Das Genus eines Nomens ist nicht immer aus seiner Form ersichtlich, manche Nomina weisen aber eines der Genussuffixe -aṉ (Maskulinum, z. B. மாணவன் māṇavaṉ „Student“), -i (Femininum, z. B. மாணவி māṇavi „Studentin“) oder -ar (Epicönum, z. B. மாணவர் māṇavar „Student(in)“) auf. Neutra enden oft auf -am. ===== Deklination ===== Das Tamil kennt folgende acht Kasus: Der Nominativ hat keine Endung und ist die Grundform eines Nomens. Der Akkusativ (Endung -ai) drückt das bestimmte direkte Objekt aus (நீ இந்தப் புத்தகத்தைப் படி nī intap puttakattaip paṭi „lies dieses Buch“). Unbestimmte direkte Objekte erscheinen hingegen im Nominativ, sofern sie nicht der Hochklasse angehören (நீ ஒரு புத்தகம் படி nī oru puttakam paṭi „lies ein Buch“). Der Dativ (Endung meist -(u)kku) drückt das indirekte Objekt (எனக்குப் பணம் கொடுங்கள் enakkup paṇam koṭuṅkaḷ „geben Sie mir Geld“) oder das Ziel einer Bewegung aus (அவன் ஊருக்குப் போனான் avaṉ ūrukkup pōṉāṉ „er ging in die Stadt“). Der Soziativ (Endungen -ōṭu oder -uṭan) bezeichnet eine Begleitung und beantwortet die Frage „(zusammen) mit wem?“ (அவன் தன் மனைவியோடு வந்தான் avaṉ taṉ maṉaiviyōṭu vantāṉ „er kam zusammen mit seiner Frau“). Der Genitiv (Endung -uṭaiya oder -atu, meist mit Bindesuffix -iṉ-) drückt ein Besitzverhältnis aus (அப்பாவினுடைய வேலை appāviṉuṭaiya vēlai „Vaters Arbeit“). Dieselbe Bedeutung lässt sich auch durch die bloße Obliquusform, meist erweitert um das Suffix -iṉ ausdrücken (அப்பாவின் வேலை appāviṉ vēlai „Vaters Arbeit“). Das Genitivattribut erscheint stets vor seinem Bezugswort. Der Instrumental (Endung -āl) drückt ein Mittel oder einen Grund aus und beantwortet die Frage „mittels was“ oder „wodurch“ (நான் சாவியால் கதவைத் திறந்தேன் nāṉ cāviyāl katavait tiṟantēṉ „ich öffnete die Tür mit dem Schlüssel“). Der Lokativ setzt für belebte und unbelebte Nomina jeweils unterschiedliche Suffixe ein, die sich auch in ihrer Bedeutung unterscheiden. Bei unbelebten Nomina drückt das Suffix -il eine Ortsangabe aus und beantwortet die Frage „wo“ (நகரத்தில் nakarattil „in der Stadt“). Bei belebten Nomina drückt die Endung -iṭam ähnlich wie der Dativ das indirekte Objekt (என்னிடம் பணம் கொடுங்கள் enniṭam paṇam koṭuṅkaḷ „geben Sie mir Geld“) oder das Ziel einer Bewegung aus (குழந்தை அம்மாவிடம் நடந்தது kuḻantai ammāviṭam naṭantatu „das Kind lief zur Mutter“). Beim indirekten Objekt drückt der Lokativ im Gegensatz zum Dativ jedoch keinen ständigen Besitz aus. Der Ablativ (Lokativ + -iruntu) bezeichnet den Ausgangspunkt einer Bewegung und beantwortet also die Frage „woher“ (அவன் மரத்திலிருந்து விழுந்தான் avaṉ marattiliruntu viḻuntāṉ „er fiel vom Baum“).Während der Nominativ die endungslose Grundform ist, werden die übrigen Kasus gebildet, indem eine Endung an eine spezielle Form, den sogenannten Obliquus, angehängt wird. Der Obliquus kann auch ohne nachfolgendes Kasussuffix vorkommen und hat dann genitivische Bedeutung. Bei den meisten Nomina sind Nominativ- und Obliquusform identisch. Die zahlenmäßig große Gruppe der Wörter auf -am ersetzt diese Endung im Obliquus durch -attu (மரம் maram – மரத்து marattu „Baum“). Wörter auf -ṭu und -ṟu verdoppeln den auslautenden Konsonanten im Obliquus (வீடு vīṭu – வீட்டு vīṭṭu „Haus“). Personalpronomina und wenige weitere Wörter haben spezielle Formen für den Obliquus (நான் nāṉ – என் eṉ „ich“). Zusätzlich kann der Obliquus durch das sogenannte euphonische Suffix -iṉ markiert werden. Neben den acht erwähnten Kasus gibt es noch den Vokativ (Endung meist -ē), der als Anredeform fungiert (மகனே makaṉē „o Sohn!“). Weil er aber nicht auf der Basis des Obliquus gebildet wird und keine echte syntaktische Funktion erfüllt, wird er nicht immer als vollwertiger Kasus gezählt. Genauere Beziehungen zwischen Wörtern können durch Postpositionen ausgedrückt werden, die den Dativ oder Akkusativ regieren oder direkt an den Obliquus angefügt werden (z. B. வீட்டுக்கு முன்னால் vīṭṭukku muṉṉāl „vor dem Haus“, மேசையின் மேல் mecaiyiṉ mēl „auf dem Tisch“). Die Beschreibung des Kasussystems des Tamil richtet sich nach dem Vorbild der Sanskrit-Grammatik. Ältere Grammatiken übernehmen sogar gänzlich die Einteilung in die acht Kasus des Sanskrit (Nominativ, Akkusativ, Instrumental, Dativ, Ablativ, Genitiv, Lokativ, Vokativ). Neuere Beschreibungen werten meist den Soziativ, der in älteren Grammatiken als Variante des Instrumentals angesehen wird, als eigenen Kasus. Nach wie vor bestehen aber einige Ungereimtheiten, wie am Fall des Lokativs deutlich wird, der jeweils unterschiedliche Suffixe mit unterschiedlichen Bedeutungen in sich vereint. Es lässt sich auch nur schwerlich eine klare Grenze zwischen Kasussuffixen und Postpositionen treffen. So wird der Ablativ, obwohl er sich aus einem Kasussuffix und einer gebundenen Postposition (Lokativ + -iruntu) zusammensetzt, als eigenständiger Kasus gerechnet, der ähnlich gelagerte Benefaktiv (Dativ + -āka) mit der Bedeutung „für“, „um … willen“ aber nicht. Ein starres Kasussystem nach dem Vorbild der indogermanischen Sprachen eignet sich also nicht allzu gut zur Beschreibung der Tamil-Grammatik.Das Tamil kennt zwei Numeri, den Singular und den Plural. Der Plural wird durch Anfügung des Pluralsuffixes -கள் -kaḷ bzw. (je nach Auslaut des Nomens) -க்கள் -kkaḷ gebildet. Nomina auf -aṉ ersetzen vor dem Pluralsuffix diese Endung durch -ar (மனிதன் maṉitaṉ „Mann“, மனிதர்கள் maṉitarkaḷ „Männer“), bei den Neutra auf -am wandelt sich das auslautende -m in ein -ṅ (படம் paṭam „Bild“, படங்கள் paṭaṅkaḷ „Bilder“). Die Kasussuffixe sind im Plural dieselben wie im Singular und werden an das Pluralsuffix angehängt. Manche Grammatiken teilen die Nomina nach den lautlichen Änderungen, die bei der Bildung des Obliquus und des Plurals auftreten, in vier Deklinationsklassen (Maskulina auf -aṉ, Neutra auf -am, Neutra auf -ṭu und -ṟu, alle übrigen Nomina) ein. Da die Veränderungen aber anhand der lautlichen Struktur des Wortes vorhersagbar sind und die Kasussuffixe in allen Deklinationsklassen identisch sind, existiert im Grunde nur ein Paradigma. Als Beispiel ist die Deklination des Wortes மரம் maram „Baum“ angegeben: ===== Pronomina ===== Bei den Personalpronomina unterscheidet das Tamil in der 1. Person Plural zwischen inklusivem und exklusivem Wir: Das inklusive Pronomen nām bezieht den Angesprochenen mit ein (z. B. நாம் சினிமாவுக்குப் போவோம் nām ciṉimāvukkup pōvōm „wir gehen ins Kino“, d. h. du kommst mit), während das exklusive Pronomen nāṅkaḷ verwendet wird, wenn der Angesprochene ausgeschlossen wird (z. B. நாங்கள் சினிமாவுக்குப் போவோம் nāṅkaḷ ciṉimāvukkup pōvōm „wir gehen ins Kino“, d. h. du bleibst zuhause). In der 3. Person dienen die Demonstrativpronomina auch als Personalpronomina. Dabei drücken die Formen mit i- eine nahe Deixis aus (ivaṉ „dieser, er hier“), die Formen mit a- eine ferne Deixis (avaṉ „jener, er dort“). Die Pronomina der 3. Person kommen in allen drei Genera (Maskulinum, Femininum, Neutrum) sowie der doppelgeschlechtlichen Form (Epicönum) vor. In der 3. Person Plural gibt es nur zwei Formen, Epicönum und Neutrum. Das Pronomen der 2. Person Plural nīṅkaḷ „ihr“ kann wie das deutsche „Sie“ zur höflichen Anrede benutzt werden. In der 3. Person drücken die gemeingeschlechtlichen Formen stets Höflichkeit aus, wobei die Pluralform auch singularisch verwendet werden kann. Zu den Interrogativpronomina (Fragewörtern) gehören யார் yār „wer“, என்ண eṉṉa „was“, எங்கே eṅkē „wo“, ஏன் ēṉ „warum“, எப்படி eppaṭi „wie“ etc. Diese lassen sich durch Anfügung des Markers -um in alles-inklusive Pronomina (யாரும் yārum „jeder“) und durch die Anfügung der Marker -āvatu bzw. -ō in Indefinitpronomina (யாராவது yārāvatu bzw. யாரோ yārō „jemand“) umwandeln. ===== Zahlwörter ===== Bei den Zahlwörtern haben die Zahlen von 1 bis 8 sowie die Zehner, Hunderter etc. jeweils eigene Zahlennamen. Die übrigen Zahlen werden aus diesen Grundzahlen zusammengesetzt. Die Zehner von 20 bis 80, die Hunderter von 200 bis 800 und alle Tausender werden jeweils als Vielfache von 10, 100 bzw. 1000 gebildet (z. B. 60 அறுபது aṟu-patu). Die Zahlen 9, 90 und 900 werden dagegen von der jeweils nächsthöheren Zahleinheit abgeleitet, indem das Element oṉ bzw. toḷ vorangestellt wird: Vergleiche 9 ஒன்பது oṉ-patu mit 10 பத்து pattu und 900 தொள்ளாயிரம் toḷḷ-āyiram mit 1000 ஆயிரம் āyiram. Die eigenständigen Zahlwörter für 100.000 und 10.000.000 sind typisch für südasiatische Sprachen (vgl. Lakh und Crore). ==== Verben ==== Das Verb im Tamil bildet im Indikativ drei Tempora (Präsens, Präteritum, Futur), einen Imperativ und eine große Zahl von infiniten Verbformen. Das Präsens wird für gegenwärtige, das Präteritum für vergangene Handlungen benutzt. Das Futur kann sowohl zukünftige Handlungen als auch habituale Handlungen der Vergangenheit oder Gegenwart ausdrücken (z. B. அவன் தினமும் தோசை சாப்பிடுவான் avaṉ tinamum tōcai cāppiṭuvāṉ „er isst täglich Dosai“). Neben diesen drei einfachen Tempora kann mittels Hilfsverben eine Vielzahl von weiteren grammatischen Konzepten ausgedrückt werden. Die Hilfsverben bilden mit dem Hauptverb ein Verbalkompositum, das einen bestimmten Modus oder Aspekt anzeigt: Zum Beispiel drückt das Hilfsverb iru „sein“ das Perfekt aus (நான் நேற்று வந்திருக்கிறேன் nāṉ nēṟṟu vantirukkiṟēṉ „ich bin gestern gekommen“), die Hilfsverben koḷ „halten“ und iru „sein“ bilden zusammen die Verlaufsform (அவள் படித்துக் கொண்டிருக்கிறாள் avaḷ paṭittuk koṇṭirukkiṟāḷ „sie lernt gerade“). Ein Wort wie das deutsche „nicht“ gibt es im Tamil nicht. Die Negation wird hingegen durch eigene Verbformen ausgedrückt. Diese können entweder synthetisch (z. B. negativer Imperativ செய்யாதே ceyyātē „mache nicht!“) oder mit Hilfe von Hilfsverben (z. B. அவன் செய்யவில்லை avaṉ ceyya.v-illai „er macht/machte nicht“) gebildet werden. ===== Konjugation ===== Die drei finiten Zeitformen werden nach Person und Numerus konjugiert. Dabei setzt sich ein konjugiertes Verb aus dem Verbstamm, einem Tempussuffix und einem Personalsuffix zusammen. Je nach den Suffixen, die sie zur Bildung der Tempora einsetzen, lassen sich die Verben im Tamil in sieben Klassen einteilen. Während es beim Präsens nur zwei und beim Futur drei verschiedene Tempussuffixe gibt, hat das Präteritum mit fünf verschiedenen Bildungsweisen die größte Bandbreite. Teilweise gibt es Variantenformen der Tempussuffixe; so kann in der gehobenen Sprache das Präsenssuffix -(k)kiṟ- durch -(k)kiṉṟ- ersetzt werden. Welcher Klasse ein Verb angehört, lässt sich bedingt aus dessen lautlicher Struktur schließen. Oftmals wird derselbe Verbstamm in zwei unterschiedlichen Klassen konjugiert, je nachdem, ob die Bedeutung transitiv oder intransitiv ist (z. B. பிரி piri (Klasse II) „sich trennen“ und பிரி piri (Klasse VI) „(etwas) trennen“). Die Klassen I und V lassen sich nach den Sandhi-Veränderungen, die beim Zusammentreffen von Verbstamm und Tempussuffix auftreten, weiter in drei bzw. vier Unterklassen einteilen. Parallel zu der auf den Tempussuffixen beruhenden Einteilung in sieben Verbklassen gibt es beruhend auf der Stammveränderung vor vokalisch anlautenden Suffixen noch eine Einteilung in schwache, mittlere und starke Verben. Die Verben der Klassen I bis Vb sind schwach und verändern sich nicht, wenn ein vokalisch anlautendes Suffix an den Verbstamm tritt. Die mittleren Verben der Klasse Vc und Vd fügen dagegen ein -k-, die starken Verben der Klassen VI und VII ein -kk- zwischen Stamm und Endung ein. Die Personalendungen sind prinzipiell für alle drei Tempora dieselben. Bei der Konjugation werden in der 3. Person ebenso wie bei den Personalpronomina vier (im Singular) bzw. zwei (im Plural) Genusformen unterschieden. Für die inklusiven und exklusiven Formen der 1. Person Plural gibt es hingegen nur eine Verbform. Die 3. Person Neutrum ist teilweise unregelmäßig; so wird sie im Futur im Singular und Plural nicht durch die Kombination aus dem Tempus- und Personalsuffix gebildet, sondern besteht aus dem Stamm und dem Suffix -um (அது செய்யும் atu ceyyum „es wird machen“). Auch im Präteritum gibt es bei der 3. Person Neutrum in der Klasse III Unregelmäßigkeiten. *) Die 3. Person Plural Neutrum nimmt im Präsens regelmäßig die Variante -(k)kiṉṟ- statt -(k)kiṟ- des Tempussuffixes. ===== Infinite Verbformen ===== Das Tamil kennt eine Vielzahl infiniter Verbformen, mit denen in komplexen Satzgefügen verschiedene syntaktische Beziehungen ausgedrückt werden können. Zur Verwendung dieser Formen siehe den Abschnitt zusammengesetzte Sätze. Infinitiv (செய்ய ceyya) Verbalpartizip (positiv: செய்து ceytu, negativ: செய்யாமல் ceyyāmal) Konditional: (positiv: செய்யால் ceyyāl, negativ: செய்யாவிட்டால் ceyyāviṭṭāl) Adjektivisches Partizip (Präsens: செய்கிற ceykiṟa, Präteritum: செய்த ceyta, Futur: செய்யும் ceyyum, negativ: செய்யாத ceyyāta) Partizipialnomen (Präsens: செய்கிறவன் ceykiṟavaṉ, Präteritum: செய்தவன் ceytavaṉ, Futur: செய்பவன் ceypavaṉ, negativ: செய்யாதவன் ceyyātavaṉ) Verbalnomen (Präsens: செய்கிறது ceykiṟatu, Präteritum: செய்தது ceytatu, Futur: செய்வது ceyvatu, negativ: செய்யாதது ceyyātatu)Außerdem werden der Infinitiv und das Verbalpartizip zur Bildung von Verbalkomposita (zusammengesetzten Verben) benutzt. Diese können eine grammatikalische oder lexikalische Bedeutung haben. Im ersten Fall dient wie bereits beschrieben ein Hilfsverb als zweiter Bestandteil eines Verbalkompositums dazu, ein bestimmtes grammatikalisches Konzept auszudrücken. Bei lexikalischen Verbalkomposita bilden zwei Verben ein zusammengesetztes Verb mit einer neuen Bedeutung. Zum Beispiel ist das zusammengesetzte Verb கொண்டுவா koṇṭuvā „bringen“ aus den einfachen Verben கொள் koḷ „halten“ und வா vā „kommen“ zusammengesetzt. ==== Indeklinable ==== Die Adjektive teilen sich im Tamil in abgeleitete und nichtabgeleitete Adjektive. Die nichtabgeleiteten Adjektive bilden eine geschlossene Wortklasse, zu der wenige zentrale Begriffe wie நல்ல nalla „gut“, பெரிய periya „groß“, சின்ன ciṉṉa „klein“, பழைய paḻaiya „alt“, புதிய putiya „neu“ etc. gehören. Die abgeleiteten Adjektive werden durch das Suffix -āṉa aus Nomina gebildet: அழகு aḻaku „Schönheit“ – அழகான aḻakāṉa „schön“. Adjektivische Attribute werden nicht dekliniert und stehen stets unverändert vor ihrem Bezugswort (vgl. பெரிய வீடு periya vīṭu „großes Haus“ und பெரிய வீடுகளில் periya vīṭukaḷil „in großen Häusern“). Fungiert ein Adjektiv hingegen als Prädikat eines Nominalsatzes, wird es nominalisiert und nimmt eine Personalendung an, die mit dem Subjekt kongruiert: இந்த வீடு பெரியது inta vīṭu periya-tu „dieses Haus ist groß (= ein Großes)“, அவள் அழகானவள் avaḷ aḻakāṉa-vaḷ „sie ist schön (= eine Schöne)“. Ähnlich wie Adjektive lassen sich auch Adverbien mittels der Suffixes -āka oder -āy aus Nomina ableiten: அவள் அழகாகப் பாடுகிறாள் avaḷ aḻakāka.p pāṭukiṟāḷ „sie singt schön (= auf schöne Weise)“. === Syntax === ==== Einfache Sätze ==== Die Wortstellung im Tamil ist Subjekt-Objekt-Verb (SOV). Demnach steht normalerweise das Subjekt an erster Stelle im Satz (ihm können höchstens noch Umstandsbestimmungen der Zeit und des Ortes vorangehen) und das Prädikat, das entweder ein Verb oder Nomen sein kann, am Satzende. Tamil weist auch die übrigen typologischen Merkmale auf, die für SOV-Sprachen kennzeichnend sind: Es benutzt Postpositionen statt Präpositionen (z. B. வீட்டுக்கு முன்னால vīṭṭukku muṉṉāl wörtl. „dem Haus vor“ = „vor dem Haus“) und setzt das bestimmende Element vor das bestimmte, d. h. Attribute gehen ihren Bezugswörtern und Nebensätze Hauptsätzen voran (z. B. அப்பாவுடைய வீடு appāvuṭaiya vīṭu „des Vaters Haus“ = „das Haus des Vaters“). Sätzen, die im Deutschen die Kopula „sein“ als Prädikat haben, entsprechen im Tamil Nominalsätze, die ein Nomen als Prädikat haben und keine Kopula aufweisen. Beim verneinten Nominalsatz erscheint hingegen die negative Kopula இல்லை illai „nicht sein“. Das Subjekt eines Satzes muss im Tamil nicht zwangsläufig im Nominativ stehen. Die Besitzkonstruktion („haben“) und bestimmte Verben verlangen ein Subjekt im Dativ. Hierbei wird deutlich, dass die Abgrenzung von Subjekt und Objekt im Tamil nicht genauso leicht möglich ist wie in indogermanischen Sprachen. Im folgenden Beispielsatz steht etwa das Objekt im Nominativ und kongruiert mit dem Prädikat. Dennoch wird das im Dativ stehende Satzglied als Subjekt gewertet, weil es am Satzanfang steht und bei zusammengesetzten Sätzen bestimmte Eigenschaften des Subjekts zeigt. Entscheidungsfragen werden durch den Marker -ā markiert (நீ வருகிறாய் nī varukiṟāy „du kommst“ – நீ வருகிறாயா nī varukiṟāyā „kommst du?“). ==== Zusammengesetzte Sätze ==== Satzgefüge werden im Tamil nicht wie im Deutschen mittels Konjunktionen („dass“, „weil“ etc.) ausgedrückt. Grundsätzlich kann in einem Tamil-Satz nur ein finites Verb stehen. Die Prädikate von untergeordneten oder beigeordneten Sätzen können durch verschiedene infinite Verbformen oder nominalisierte Verben mit dem Hauptsatz verknüpft werden. Will man etwa den Aussagesatz அவள் நாளைக்கு வருவாள் avaḷ nāḷaikku varuvāḷ „sie kommt morgen“ in einen Bedingungssatz umwandeln, nutzt man dazu nicht wie im Deutschen eine Konjunktion („wenn sie morgen kommt“), sondern wandelt das Prädikat வருவாள் varuvāḷ in eine besondere infinite Verbform, den Konditional வந்தால் vantāl, um, die die Konnotation der Bedingung ausdrückt. Eine andere Möglichkeit, zwei Sätze zu verbinden, besteht darin, den ersten Satz durch bestimmte Funktionswörter in den zweiten Satz einzubetten. Zur Bildung von zusammengesetzten Sätzen stehen folgende Möglichkeiten zur Verfügung: Verbalpartizip Das Verbalpartizip drückt eine Abfolge von Handlungen aus, die im Deutschen mit „und“ verknüpft werden. In Bezug auf Subjekt, Tempus und Modus richtet sich das Verbalpartizip nach dem übergeordneten Verb. In den folgenden Beispielsätzen drückt das Verbalpartizip போய் pōy in Abhängigkeit vom jeweiligen finiten Verb am Satzende im ersten Fall die 3. Person Singular maskulinum Imperfekt („er ging“) und im zweiten Fall die 2. Person Singular Imperativ („gehe!“) aus: Um explizite Zeitverhältnisse auszudrücken, kann das Verbalpartizip mit den Formen -viṭṭu für die Vorzeitigkeit bzw. -koṇṭu für die Gleichzeitigkeit kombiniert werden: Infinitiv Der Infinitiv tritt als Ergänzung von Verben auf (z. B. எனக்கு அங்கே போக வேண்டாம் eṉakku aṅkē pōka vēṇṭām „ich will dort nicht hingehen“). Ferner bildet er Final-, Kausal- (mit dem Marker -ē) und gleichzeitige Temporalsätze. Konditional Durch den Konditional wird ein Bedingungssatz („wenn/falls …“) ausgedrückt. In Kombination mit dem Marker -um drückt er Konzessivität („obwohl …“) aus. Adjektivisches Partizip Das Adjektivische Partizip fungiert als Prädikat eines attributiven Satzes, der ähnlich wie ein Adjektiv vor einem Nomen erscheint. Einem solchen adjektivischen Satz kann im Deutschen ebenfalls eine Partizipialkonstruktion („der nach Hause gehende Mann“) oder ein Relativsatz („der Mann, der nach Hause geht“) entsprechen. Anders als bei einem Relativsatz im Deutschen ist beim adjektivischen Partizip die Kasusbeziehung zwischen dem Bezugswort und dem adjektivischen Satz nicht explizit ausgedrückt und muss aus dem Zusammenhang erschlossen werden. Vergleiche: Durch die Verbindung des adjektivischen Partizips mit bestimmten Nomina kann eine Reihe temporaler oder modaler Beziehungen ausgedrückt werden (z. B. அவன் வந்த போது avaṉ vanta pōtu wörtl. „die Zeit, zu der er kam“ = „als er kam“). Partizipialnomen Das Partizipialnomen entspricht einer nominalisierten Form des adjektivischen Partizips (vgl. adjektivisches Partizip in நான் பார்த்த மனிதன் nāṉ pārtta maṉitaṉ „der Mann, den ich gesehen habe“ und Partizipialnomen in நான் பார்த்தவன் nāṉ pārttavaṉ „derjenige, den ich gesehen habe“). Verbalnomen Das Verbalnomen nominalisiert einen gesamten Nebensatz, um ihn als Subjekt- oder Objektsatz mit dem Hauptsatz zu verknüpfen. Das Verbalnomen kann auch im Instrumental, Dativ oder Ablativ stehen, der nominalisierte Satz fungiert als Kausalsatz („weil“), Finalsatz („damit“) bzw. vorzeitiger Temporalsatz („seitdem“). Funktionswörter Neben der Möglichkeit, einen Satz durch eine infinite Verbform als Nebensatz auszuweisen, können im Tamil auch Sätze mit einer finiten Verbform mittels bestimmter Funktionswörter in ein Satzgefüge eingebettet werden. Hierzu dienen insbesondere die Formen des Verbs என் eṉ „sagen“. Das Verbalpartizip என்று eṉṟu „gesagt habend“ markiert bei Verben des Redens, Denkens usw. den Objektsatz und kann dabei sowohl die direkte als auch die indirekte Rede markieren. == Wortschatz == Ein Großteil des tamilischen Wortschatzes besteht aus Erbwörtern, die sich auf einen proto-dravidischen Ursprung zurückführen lassen. Daneben hat das Tamil aber auch in größerem Maße Lehnwörter aus anderen Sprachen, insbesondere dem Sanskrit und in neuerer Zeit dem Englischen, entnommen. Ein beträchtlicher Teil des tamilischen Wortschatzes stammt aus dem Sanskrit, der klassischen Sprache des Hinduismus. In vielen Fällen gibt es Dubletten aus gleichbedeutenden Wörtern, die ihren Ursprung im Sanskrit oder Tamil haben, z. B. பூமி pūmi (von Sanskrit भूमि bhūmi) und மண் maṇ „Erde“ oder சந்திரன் cantiraṉ (von Sanskrit चन्द्र candra) und நிலா nilā „Mond“. Der Einfluss des Sanskrit war zeitweise noch deutlich größer, in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts wurden aber aus sprachpuristischen Gründen zahlreiche Sanskrit-Lehnwörter durch tamilische Wörter ersetzt (siehe den Abschnitt Sprachgeschichte). Es wird geschätzt, dass um 1900 rund 50 Prozent der Wörter im geschriebenen Tamil aus dem Sanskrit stammten, während ihr Anteil um 1950 schon auf 20 Prozent zurückgegangen war. Der Anteil an Sanskrit-Wörtern ist daher im Tamil deutlich niedriger als in den anderen Sprachen Indiens, auch den dravidischen Nachbarsprachen. Für Neologismen, bei deren Bildung in den übrigen indischen Sprachen das Sanskrit in ähnlicher Weise wie in Europa das Lateinische oder Altgriechische verwendet wird, greift man im Fall des Tamil auf tamilische Wurzeln zurück. Diese Wortschöpfungen haben es aber oft schwer, sich gegen englische Lehnwörter durchzusetzen: So hört man für „Telefon“ statt des tamilischen தொலைபேசி tolaipēci (wörtl. etwa „Fernsprecher“) meist das englische டெலிபோன் ṭelipōṉ. Während der britischen Kolonialzeit hat das Englische deutliche Spuren im tamilischen Wortschatz hinterlassen. Der Einfluss des Englischen hat sich auch nach der indischen Unabhängigkeit unvermindert fortgesetzt. Aus dem Englischen stammen zahlreiche Wörter vor allem für moderne Begriffe wie பஸ் pas „Bus“ (von englisch bus), லீவு līvu „Urlaub“ (von englisch leave) oder ரெயில் reyil „Eisenbahn“ (von englisch rail). Insbesondere in der gesprochenen Sprache werden außerordentlich viele englische Wörter verwendet. So kann man durchaus einen Satz wie உன் வாய்ஸ் ஸ்வீட்டா இருக்கு uṉ vāys (voice) svīṭṭā (sweet-ā) irukku „deine Stimme ist süß“ hören. Durch den Kontakt mit dem Islam übernahm das Tamil einige Wörter aus dem Arabischen und Persischen, etwa வக்கீல் vakkīl „Anwalt“ (von arabisch وكيل wakīl) oder திவான் tivāṉ „Minister“ (von persisch ديوان dīwān). Auch das Portugiesische und Niederländische hinterließen, wenn auch in wesentlich geringerem Maße als das Englische, während der Kolonialzeit Einflüsse im Tamil. Aus diesen Sprachen stammen Wörter wie மேசை mēcai „Tisch“ (von portugiesisch mesa), ஜன்னல் jaṉṉal „Fenster“ (von portugiesisch janela) oder கக்குசு kakkucu „Toilette“ (von niederländisch kakhuis). Zu den wenigen tamilischen Lehnwörtern im Deutschen gehören „Katamaran“ (tamilisch கட்டுமரம் kaṭṭumaram, von kaṭṭu „Band, Bündel“, und maram „Baum“, im Sinne von „Boot aus zusammengebundenen Baumstämmen“), „Curry“ (von கறி kaṟi, ursprünglich „Gemüse“), Paria (von பறையர் paṟaiyar, ursprünglich der Name einer Trommlerkaste) sowie eventuell „Mango“ (von மாங்காய் māṅkāy „(unreife) Mango“) und „Kuli“ (von கூலி kūli „Lohn“). == Forschungsgeschichte == Das Tamil hat eine sehr alte einheimische Grammatiktradition. Die älteste Tamil-Grammatik und zugleich das älteste bekannte Werk der Tamil-Literatur überhaupt, das Tolkappiyam, stammt aus dem 1. oder 2. Jahrhundert v. Chr. Es dürfte aber noch ältere Vorläufer gegeben haben, die uns nicht erhalten sind. Eine zweite bekannte Grammatik ist das Nannul (um 1200). Die ersten Europäer, die sich mit dem damals noch als „Malabarisch“ bezeichneten Tamil befassten, waren christliche Missionare. Der portugiesische Jesuit Anrique Anriquez (ca. 1520–1600) schrieb religiöse Texte auf Tamil, verfasste eine Tamil-Grammatik und ließ 1554 das erste tamilische Buch, noch in lateinischer Schrift, sowie 1578 das erste Buch in der Tamil-Schrift drucken. Andere Missionare, die sich um das Tamil bemüht machten, waren etwa der Italiener Constantine Beschi (1680–1743), auf den einige nachhaltige orthografische Erneuerungen in der Tamil-Schrift zurückgehen, und der Deutsche Bartholomäus Ziegenbalg (1682–1719). Die in der Zeit um 1800 aufkommende westliche Indologie beschäftigte sich zunächst vornehmlich mit dem Sanskrit. Als Robert Caldwell 1856 die Eigenständigkeit der dravidischen Sprachen entdeckte, verstärkte sich das wissenschaftliche Interesse an dieser Sprachfamilie. Die Tamilistik (Sprach- und Literaturwissenschaft des Tamil) ist in der Indologie aber nach wie vor weniger stark präsent als die Beschäftigung mit dem Sanskrit oder Hindi. Das europaweit einzige Institut, das die Tamilistik als Schwerpunkt hat, ist das Institut für Indologie und Tamilistik der Universität zu Köln. Daneben wird Tamil im deutschsprachigen Raum am Südasien-Institut der Universität Heidelberg unterrichtet. == Sprachbeispiel == Angegeben ist eine Textprobe mit Originaltext in Tamil-Schrift, Transliteration, IPA-Lautschrift, Interlinearübersetzung und deutscher Übersetzung: == Siehe auch == Liste tamilischer Schriftsteller == Quellen und Weiterführende Informationen == === Literatur === M. S. Andronov: A Standard Grammar of Modern and Classical Tamil. Madras: New Century Book House, 1969. E. Annamalai und Sanford B. Steever: Modern Tamil. In: Sanford B. Steever (Hrsg.): The Dravidian Languages. London / New York: Routledge, 1998. S. 100–128. A. H. Arden: A Progressive Grammar of the Tamil Language. Madras: Christian Literature Society, 1942 (Nachdruck 1969). Hermann Beythan: Praktische Grammatik der Tamilsprache. Wiesbaden: Harrassowitz, 1943. Francis Britto: Diglossia: A Study of the Theory with Application to Tamil. Washington D.C.: Georgetown University Press, 1986. Thomas Lehmann: A Grammar of Modern Tamil. Pondicherry: Pondicherry Institute of Linguistics and Culture, 1989. Horst Schweia, Krishnamoortthypillai Muruganandam: Tamil. Wort für Wort (= Kauderwelsch. Band 39). 5. Auflage. Reise Know-How Verlag Rump, Bielefeld 2010, ISBN 978-3-89416-011-1. Sanford B. Steever: Tamil and the Dravidian Languages. In: Bernard Comrie (Hrsg.): The Major Languages of South Asia, the Middle East and Africa. Routledge, London 1990. === Weblinks === Literatur von und über Tamil im Katalog der Deutschen Nationalbibliothek Kostenloses Lernmaterial – Homepage des Tamil-Lektors der Universität Heidelberg, Dr. Thomas Lehmann Institut für Indologie und Tamilistik Köln === Einzelnachweise ===
https://de.wikipedia.org/wiki/Tamil
Argon
= Argon = Argon (altgriechisch ἀργός argós „untätig, träge“) ist ein chemisches Element mit dem Symbol Ar (bis 1957 nur A) und der Ordnungszahl 18. Im Periodensystem steht es in der 8. Hauptgruppe bzw. der 18. IUPAC-Gruppe und zählt daher zu den Edelgasen. Wie die anderen Edelgase ist es ein farbloses, äußerst reaktionsträges, einatomiges Gas. In vielen Eigenschaften wie Schmelz- und Siedepunkt oder Dichte steht es zwischen dem leichteren Neon und dem schwereren Krypton. Argon ist das häufigste auf der Erde vorkommende Edelgas, der Anteil an der Atmosphäre beträgt etwa 0,934 %. Damit ist Argon der dritthäufigste Bestandteil der Erdatmosphäre, nach Stickstoff und Sauerstoff. Dies ist großteils auf den Zerfall des Kaliumisotops 40K zurückzuführen, bei dem 40Ar entsteht. Argon war das erste Edelgas, das als Stoff entdeckt und gewonnen wurde, daher der Name, der im Grunde zu jedem Edelgas passt. Helium (von griechisch helios für „Sonne“) wurde vorher lediglich spektroskopisch im Sonnenlicht sowie in irdischen Proben nachgewiesen und Neon erst später entdeckt. Argon wurde 1894 von Lord Rayleigh und William Ramsay durch fraktionierte Destillation von flüssiger Luft gefunden. Als preiswertestes Edelgas wird Argon in großen Mengen als Schutzgas etwa beim Schweißen und in der Produktion von manchen Metallen, aber auch als Füllgas von Glühlampen verwendet. == Geschichte == Einen ersten Hinweis auf das später entdeckte Argon fand Henry Cavendish, der 1783 die Reaktivität der Luft erforschte. Er erzeugte elektrische Entladungen in einer bestimmten Menge Luft, die mit Sauerstoff im Verhältnis von 5:3 angereichert war. Stickstoff und Sauerstoff reagierten miteinander und die entstandenen Stickoxide konnten ausgewaschen werden. Dabei blieb stets ein kleiner Rest nicht-reagierten Gases zurück. Cavendish erkannte jedoch nicht, dass es sich dabei um ein anderes Element handelte und setzte seine Experimente nicht fort.Nachdem John William Strutt, 3. Baron Rayleigh 1892 die Dichte von aus Luft isoliertem Stickstoff bestimmt hatte, fiel ihm auf, dass aus Ammoniak gewonnener Stickstoff eine niedrigere Dichte aufwies. Es gab verschiedene Spekulationen zu diesem Befund; so meinte James Dewar, es müsse sich um ein N3, also ein Stickstoff-Analogon zu Ozon handeln. Rayleigh wiederholte Cavendishs Experimente, indem er in einer luftgefüllten Glaskugel elektrische Funken erzeugte und so Stickstoff und Sauerstoff zur Reaktion brachte. Nach Bestätigung von Cavendishs Ergebnis eines unreaktiven Rückstandes untersuchte William Ramsay diesen ab 1894 durch Überleitung über heißes Magnesium genauer. Da Magnesium mit Stickstoff zum Nitrid reagiert, konnte er dem Gemisch weiteren Stickstoff entziehen. Dabei stellte er eine Erhöhung der Dichte fest und fand schließlich ein bislang unbekanntes, reaktionsträges Gas. Am 31. Januar 1895 gaben Ramsay und Rayleigh schließlich die Entdeckung des neuen Elements bekannt, das sie nach dem altgriechischen ἀργός argos, „träge“, Argon nannten. Als William Ramsay ab 1898 das aus der Luft isolierte Argon weiter untersuchte, entdeckte er darin drei weitere Elemente, die Edelgase Neon, Krypton und Xenon.Erste technische Anwendungen fand das Gas in der Elektroindustrie: Es wurden unter anderem Gleichrichter auf der Basis der Glimmentladung in Argon hergestellt, die sogenannten Tungar-Röhren. == Vorkommen == Argon zählt im Universum zu den häufigeren Elementen, in seiner Häufigkeit ist es vergleichbar mit Schwefel und Aluminium. Es ist im Universum nach Helium und Neon das dritthäufigste Edelgas. Dabei besteht das primordiale Argon, das etwa in der Sonne oder Gasplaneten wie Jupiter gefunden wird, hauptsächlich aus den Isotopen 36Ar und 38Ar, während das dritte stabile Isotop, 40Ar, dort nur in geringer Menge vorkommt. Das Verhältnis von 36Ar zu 38Ar beträgt etwa 5,7.Auf der Erde ist Argon dagegen das häufigste Edelgas. Es macht 0,934 % des Volumens der Atmosphäre (ohne Wasserdampf) aus und ist damit nach Stickstoff und Sauerstoff der dritthäufigste Atmosphärenbestandteil. Die Zusammensetzung des terrestrischen Argons unterscheidet sich erheblich von derjenigen des primordialen Argons im Weltall. Es besteht zu über 99 % aus dem Isotop 40Ar, das durch Zerfall des Kaliumisotops 40K entstanden ist. Die primordialen Isotope sind dagegen nur in geringen Mengen vorhanden. Da das Argon durch den Kaliumzerfall in der Erdkruste entsteht, findet man es auch in Gesteinen. Beim Schmelzen von Gesteinen im Erdmantel gast das Argon, aber auch das bei anderen Zerfällen entstehende Helium aus. Es reichert sich daher vorwiegend in den Basalten der ozeanischen Erdkruste an. Aus den Gesteinen wird das Argon an das Grundwasser abgegeben. Daher ist in Quellwasser, vor allem wenn es aus größerer Tiefe kommt, Argon gelöst. == Gewinnung und Darstellung == Die Gewinnung des reinen Argons erfolgt ausschließlich aus der Luft, in der Regel im Rahmen der Luftverflüssigung im Linde-Verfahren. Das Argon wird dabei nicht in der Haupt-Rektifikationskolonne des Verfahrens von den Hauptluftbestandteilen getrennt, sondern in einer eigenen Argon-Kolonne. In dieser wird durch Rektifikation zunächst Rohargon hergestellt, das noch etwa 3–5 % Sauerstoff und 1 % Stickstoff enthält. Anschließend wird das Rohargon in weiteren Stufen gereinigt. Das Gasgemisch wird zunächst auf Raumtemperatur erwärmt und auf 4–6 bar verdichtet. Um den restlichen Sauerstoff zu entfernen, wird danach Wasserstoff eingespritzt, der an Edelmetall-Katalysatoren mit dem Sauerstoff zu Wasser reagiert. Nachdem dieses entfernt wurde, wird in einer weiteren Kolonne das Argon, das sich am unteren Ende der Kolonne anreichert, vom restlichen Stickstoff getrennt, so dass Argon mit einer Reinheit von 99,9999 % (Argon 6.0) produziert werden kann.Weitere Quellen für die Gewinnung von Argon sind die Produktion von Ammoniak im Haber-Bosch-Verfahren sowie die Synthesegasherstellung, etwa zur Methanolproduktion. Bei diesen Verfahren, die Luft als Ausgangsstoff nutzen, reichern sich Argon und andere Edelgase im Produktionsprozess an und können aus dem Gasgemisch isoliert werden. Wie beim Linde-Verfahren werden auch hier die verschiedenen Gase durch Adsorption oder Rektifikation voneinander getrennt und so reines Argon gewonnen. == Eigenschaften == === Physikalische Eigenschaften === Argon ist bei Normalbedingungen ein einatomiges, farbloses und geruchloses Gas, das bei 87,15 K (−186 °C) kondensiert und bei 83,8 K (−189,3 °C) erstarrt. Wie die anderen Edelgase außer dem Helium kristallisiert Argon in einer kubisch dichtesten Kugelpackung mit dem Gitterparameter a = 526 pm bei 4 K.Wie alle Edelgase besitzt Argon nur abgeschlossene Schalen (Edelgaskonfiguration). Dadurch lässt sich erklären, dass das Gas stets einatomig vorliegt und die Reaktivität gering ist. Mit einer Dichte von 1,784 kg/m3 bei 0 °C und 1013 hPa ist Argon schwerer als Luft, es sinkt also ab. Im Phasendiagramm liegt der Tripelpunkt bei 83,8 K und 689 hPa, der kritische Punkt bei 150,86 K, 48.960 hPa sowie einer kritischen Dichte von 0,536 g/cm3.In Wasser ist Argon etwas löslich. In einem Liter Wasser können sich bei 0 °C und Normaldruck maximal 53,6 ml Argon lösen. === Chemische Eigenschaften === Als Edelgas reagiert Argon fast nicht mit anderen Elementen oder Verbindungen. Bislang ist nur das experimentell dargestellte Argonfluorohydrid HArF bekannt, das durch Photolyse von Fluorwasserstoff in einer Argonmatrix bei 7,5 K gewonnen wird und anhand neuer Linien im Infrarotspektrum identifiziert wurde. Oberhalb von 27 K zersetzt es sich. Nach Berechnungen sollten weitere Verbindungen des Argons metastabil sein und sich verhältnismäßig schwer zersetzen; diese konnten jedoch experimentell bislang nicht dargestellt werden. Beispiele hierfür sind das Chloranalogon des Argonfluorohydrides HArCl, aber auch Verbindungen, bei denen das Proton durch andere Gruppen ersetzt ist, etwa FArCCH als organische Argonverbindung und FArSiF3 mit einer Argon-Silicium-Bindung.Argon bildet einige Clathrate, in denen es physikalisch in Hohlräume eines umgebenden Kristalls eingeschlossen ist. Bei −183 °C ist ein Argon-Hydrat stabil, jedoch ist die Geschwindigkeit der Bildung sehr langsam, da eine Umkristallisierung stattfinden muss. Ist das Eis mit Chloroform gemischt, bildet sich das Clathrat schon bei −78 °C. Stabil ist auch ein Clathrat von Argon in Hydrochinon. == Isotope == Insgesamt sind 23 Isotope sowie ein weiteres Kernisomer von Argon bekannt. Von diesen sind drei, nämlich die Isotope 36Ar, 38Ar und 40Ar, stabil und kommen in der Natur vor. Dabei überwiegt bei weitem 40Ar mit einem Anteil von 99,6 % am natürlichen irdischen Isotopengemisch. 36Ar und 38Ar sind mit einem Anteil von 0,34 % beziehungsweise 0,06 % selten. Von den instabilen Isotopen besitzen 39Ar mit 269 Jahren und 42Ar mit 32,9 Jahren die längsten Halbwertszeiten. Alle anderen Isotope besitzen kurze Halbwertszeiten im Bereich von unter 10 ps bei 30Ar bis 35,04 Tagen bei 37Ar.40Ar wird für die Altersbestimmung von Gesteinen genutzt (Kalium-Argon-Datierung). Dabei wird ausgenutzt, dass instabiles 40K, das in diesen enthalten ist, langsam zu 40Ar zerfällt. Je mehr Kalium zu Argon zerfallen ist, desto älter ist das Gestein. Das kurzlebige Isotop 41Ar kann zur Überprüfung von Gasleitungen verwendet werden. Durch das Durchleiten von 41Ar kann die Leistungsfähigkeit einer Belüftung oder Dichtigkeit einer Leitung festgestellt werden.39Ar wird hingegen für die Altersbestimmung von Grund-, See- und Ozeanwasser sowie von Gletschereis verwendet. So lange das Wasser Kontakt zur Atmosphäre hat, löst sich Argon zu gleichen Teilen wie es in dieser vorkommt. Sobald das Wasser von der Atmosphäre abgeschlossen ist, verringert sich der Anteil des gelösten 39Ar aufgrund seines Zerfalls mit einer Halbwertszeit von 269 Jahren. Mittels Low Level Counting (LLC) oder Atom Trap Trace Analysis (ATTA) kann der verbliebene Anteil an 39Ar bestimmt und darüber das Alter berechnet werden.→ Liste der Argon-Isotope == Biologische Bedeutung == Wie die anderen Edelgase hat Argon auf Grund der Reaktionsträgheit keine biologische Bedeutung und ist auch nicht toxisch. In höheren Konzentrationen wirkt es durch Verdrängung des Sauerstoffs erstickend. Bei Drücken von mehr als 24 bar wirkt es narkotisierend. == Verwendung == Als günstigstes und in großen Mengen verfügbares Edelgas wird Argon in vielen Bereichen verwendet. Die Produktion betrug 1998 weltweit etwa zwei Milliarden m³ bzw. zwei km³. Der größte Teil des Argons wird als Schutzgas verwendet. Es wird immer dann genutzt, wenn der billigere Stickstoff nicht anwendbar ist. Dazu zählen vor allem Schweißverfahren für Metalle, die mit Stickstoff bei hohen Temperaturen reagieren, etwa Titan, Tantal und Wolfram. Auch beim Metallinertgasschweißen und Wolfram-Inertgasschweißen, die etwa beim Schweißen von Aluminiumlegierungen oder hoch legierten Stählen angewendet werden, dient Argon als Inertgas. Weiterhin wird es in der Metallurgie als Schutzgas, etwa für die Produktion von Titan, hochreinem Silicium oder der Schmelzraffination sowie zum Entgasen von Metallschmelzen genutzt. Argon ist ein Lebensmittelzusatzstoff (E 938) und dient als Treib- und Schutzgas bei der Verpackung von Lebensmitteln und der Weinherstellung.Argon wird als gasförmiges Löschmittel vorwiegend für den Objektschutz, vor allem bei elektrischen und EDV-Anlagen eingesetzt und wirkt dabei durch Sauerstoffverdrängung. Für diesen Zweck wird reines Argon oder ein Gasgemisch zusammen mit Stickstoff verwendet. In der Analytik wird Argon als Träger- und Schutzgas für die Gaschromatographie und das induktiv gekoppelte Plasma (ICP-MS, ICP-OES) verwendet.Glühlampen werden häufig mit Argon-Stickstoff-Gemischen gefüllt, weil eine Gasfüllung die Sublimation des Glühfadens vermindert. Argon hat dabei eine geringere Wärmeleitfähigkeit als leichtere Gase, ist aber preiswerter als andere schwerere und damit noch geringer wärmeleitende Gase wie Krypton oder Xenon. Ein Vorteil der geringeren Wärmeleitfähigkeit ist eine höhere mögliche Glühtemperatur und damit höhere Lichtausbeute. Ebenfalls wegen der geringen Wärmeleitfähigkeit wird es als Füllgas für Isolierglasscheiben verwendet. Auch in Gasentladungslampen dient Argon als Leuchtgas mit einer typischen violetten Farbe. Wird etwas Quecksilber dazugegeben, ändert sich die Farbe ins Blaue. Weiterhin ist Argon das Lasermedium in Argon-Ionen-Lasern. Im Bereich der Stahlerzeugung kommt Argon eine besonders wichtige Rolle im Bereich der Sekundärmetallurgie zu. Mit der Argon-Spülung kann die Stahllegierung entgast und gleichzeitig homogenisiert werden, speziell wird dabei der unerwünschte, gelöste Stickstoff aus der Schmelze entfernt.Beim Tauchen wird Argon – insbesondere bei der Nutzung des heliumhaltigen Trimix als Atemgas – dazu verwendet, um Trockentauchanzüge zu füllen bzw. damit zu tarieren. Hierbei wird ebenfalls die geringe Wärmeleitfähigkeit des Gases genutzt, um das Auskühlen des Anzugträgers zu verzögern.Seit Mai 2014 ist Argon auf der Dopingliste der Welt-Anti-Doping-Agentur (WADA). Durch den bei der Inhalation von Argon entstehenden Sauerstoffmangel wird offensichtlich die Bildung von körpereigenem Erythropoetin (EPO) aktiviert. Aus demselben Grund ist auch Xenon auf der Dopingliste. == Literatur == P. Häussinger, R. Glatthaar, W. Rhode, H. Kick, C. Benkmann, J. Weber, H.-J. Wunschel, V. Stenke, E. Leicht, H. Stenger: Noble Gases. In: Ullmann's Encyclopedia of Industrial Chemistry. Wiley-VCH, Weinheim 2006, doi:10.1002/14356007.a17_485. Eintrag zu Argon. In: Römpp Online. Georg Thieme Verlag, abgerufen am 19. Juni 2014. A. F. Holleman, E. Wiberg, N. Wiberg: Lehrbuch der Anorganischen Chemie. 102. Auflage. Walter de Gruyter, Berlin 2007, ISBN 978-3-11-017770-1, S. 417–429. == Weblinks == == Einzelnachweise ==
https://de.wikipedia.org/wiki/Argon
Leipzig
= Leipzig = Leipzig ([ˈlaɪ̯pt͡sɪç], [ˈlaɪ̯pt͡sɪk]; im sächsischen Dialekt auch Leibzsch [ˈlaɪ̯bt͡sʃ]; obersorbisch Lipsk) ist eine kreisfreie Stadt sowie mit 601.866 Einwohnern (31. Dezember 2021) bzw. 624.689 (laut Melderegister am 31. Dezember 2022) Einwohnern die einwohnerreichste Stadt im Freistaat Sachsen. Sie belegte 2021 in der Liste der Großstädte in Deutschland den achten Rang. Für Mitteldeutschland ist sie ein historisches Zentrum der Wirtschaft, des Handels und Verkehrs, der Verwaltung, Kultur und Bildung sowie gegenwärtig ein Zentrum für die „Kreativszene“.Leipzig ist eines der sechs Oberzentren Sachsens und bildet mit der rund 35 Kilometer entfernten Großstadt Halle (Saale) im Land Sachsen-Anhalt den länderübergreifenden Ballungsraum Leipzig-Halle, in dem etwa 1,2 Millionen Menschen leben. Mit Halle und weiteren Städten in den Ländern Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen ist Leipzig Teil der polyzentralen Metropolregion Mitteldeutschland.Nach Verleihung des Stadtrechts und der Marktprivilegien um das Jahr 1165 entwickelte sich Leipzig bereits während der deutschen Ostsiedlung zu einem wichtigen Handelszentrum. Leipzigs Tradition als bedeutender Messestandort in Mitteleuropa mit einer der ältesten Messen der Welt geht auf das Jahr 1190 zurück und war eng mit der langjährigen Rolle Leipzigs als internationales Zentrum des Pelzhandels verknüpft. In der Zeit des Nationalsozialismus trug Leipzig von 1937 bis 1945 offiziell den Stadt-Ehrentitel Reichsmessestadt. Die Stadt ist ein historisches Zentrum des Buchdrucks und -handels. Außerdem befinden sich in Leipzig eine der ältesten Universitäten sowie die ältesten Hochschulen sowohl für Handel als auch für Musik in Deutschland. Leipzig verfügt über eine große musikalische Tradition, die vor allem auf das Wirken von Johann Sebastian Bach und Felix Mendelssohn Bartholdy zurückgeht und sich unter anderem auf die Bedeutung des Gewandhausorchesters und des Thomanerchors stützt. Im Zuge der Montagsdemonstrationen 1989, die einen entscheidenden Impuls für die Wende in der Deutschen Demokratischen Republik (DDR) gaben, wurde Leipzig als Heldenstadt bezeichnet. Die informelle Auszeichnung für den so mutigen wie friedlichen Einsatz vieler Leipziger Bürger im Umfeld der Leipziger Nikolaikirche prägte den Ruf der Stadt nach der Wende und wird bei der Stadtvermarktung unter dem Motto „Leipziger Freiheit“ aufgegriffen. Darüber hinaus ist Leipzig für seinen Reichtum an aufwändig sanierten bzw. rekonstruierten Kulturdenkmalen und städtischen Kanälen, den artenreichen Zoo sowie das durch Rekultivierung ehemaliger Braunkohletagebaue entstehende Leipziger Neuseenland und den Bundesliga-Verein RB Leipzig bekannt. In Leipzig haben das Bundesverwaltungsgericht, der Fünfte und Sechste Strafsenat des Bundesgerichtshofes sowie seit dem 1. Oktober 2018 das Fernstraßen-Bundesamt, welches ab 1. Januar 2021 seine Tätigkeit aufnahm, ihren Sitz. == Geographie == === Lage und Morphologie === Leipzig liegt im Zentrum der Leipziger Tieflandsbucht, die den südlichsten Teil der Norddeutschen Tiefebene bildet, und am Zusammenfluss von Weißer Elster, Pleiße und Parthe. Die Flüsse sind im Stadtgebiet vielfach verzweigt und bilden so den Leipziger Gewässerknoten, der von einem großen Auwaldgebiet begleitet ist (siehe nachfolgender Abschnitt). Die Umgebung Leipzigs ist waldarm. Das Gebiet war im 20. Jahrhundert durch umfangreichen Braunkohletagebau geprägt, in dessen Folge nun zahlreiche Seen entstehen. Die Ausdehnung der Stadt beträgt in Nord-Süd-Richtung 23,4 Kilometer und in Ost-West-Richtung 21,3 Kilometer. Die Länge der Stadtgrenze beläuft sich auf 128,7 Kilometer. Im Norden grenzt der Landkreis Nordsachsen an die Stadt, im Süden der Landkreis Leipzig. * Entfernungen sind gerundete Straßenkilometer bis zum Ortszentrum. Der Höhenunterschied im Stadtgebiet beträgt etwa 60 Meter. Die höheren Teile liegen im Südosten und die tieferen im Nordwesten. Der tiefste Punkt mit 97 Meter über Normalnull befindet sich an der Neuen Luppe bei Gundorf. Die höchsten natürlichen Punkte der Stadt sind mit 159 Meter der Monarchenhügel und mit 163 Meter der Galgenberg in Liebertwolkwitz. Übertroffen wird der Monarchenhügel von den Deponien Seehausen (178 m) und Liebertwolkwitz (177 m), eine innenstadtnahe Erhebung ist der Schuttberg mit dem Namen Fockeberg (153 m).Obwohl die Weiße Elster der wasserreichste der drei Flüsse im Stadtgebiet ist, wird mit Leipzig vor allem die Pleiße in Verbindung gebracht, da diese mit ihrem Nebenarm, dem Pleißemühlgraben, der Innenstadt am nächsten kommt. === Flächennutzung === Die Grafik zeigt die Anteile der Flächennutzung auf dem Stadtgebiet im Jahr 2014. === Natur und Umwelt === Entlang der Flüsse zieht sich ein ausgedehntes Auwaldgebiet in Nord-Süd-Richtung durch die Stadt, das im mittleren Bereich zum Teil in Parks umgestaltet wurde. Der Auwald bildet eine klimatisch, ökologisch und für die Erholungsversorgung relevante Grünverbindung vom Leipziger Umland bis in die Kernstadt und hat trotz des jahrhundertelangen unmittelbaren anthropogenen Einflusses eine selten gewordene Flora und Fauna bewahrt. Die enge Verknüpfung zwischen Auwald und städtischer Bebauung ist ein Alleinstellungsmerkmal Leipzigs in Europa. Da sich unter Leipzig und seinem Umland bedeutende Braunkohlelagerstätten befinden, wurde bereits in den 1930er Jahren mit dem industriellen Abbau dieses Rohstoffes in Tagebauweise begonnen. Durch den Bergbau, der sich während der DDR-Zeit immer weiter ausbreitete (Braunkohle war der Hauptenergieträger der DDR), wurden südlich von Leipzig Teile des Auwaldes zerstört. Zahlreiche Hochwasserschutzmaßnahmen, unter anderem der Bau des Elsterbeckens und die Verlegung natürlicher Flussläufe, sowie mit dem Braunkohleabbau verbundene Absenkungen des Grundwasserspiegels führten zu Störungen des hochspezialisierten Ökosystems, das ursprünglich als natürliches Überflutungsgebiet diente. Die Stadt liegt inmitten des Leipziger Gewässerknotens, einem ehemaligen Binnendelta, das z. B. durch die Anlage von Mühlgräben und Hochwasserschutzanlagen häufig umgestaltet wurde. In den 1950er Jahren wurden der Pleißemühlgraben und ein Teil des Elstermühlgrabens – im Mittelalter für den Betrieb von Mühlen teilweise künstlich angelegte Nebenarme der beiden Flüsse Pleiße und Weiße Elster – wegen der Verschmutzung durch Industrieabwässer aus der Braunkohleverarbeitung südlich von Leipzig verrohrt oder verfüllt, so dass Leipzig seinen Charakter als Flussstadt teilweise verlor. Die Einleitung der hochgiftigen Abwässer hatte dazu geführt, dass die Flüsse biologisch tot waren. Seit dem weitgehenden Ende der gewässerverschmutzenden Industrie zu Beginn der 1990er Jahre werden beide Flussläufe nach und nach wieder freigelegt. Rund 141 Kilometer ständig wasserführende Fließgewässer verlaufen auf der Stadtfläche, hinzu kommen nur temporär wasserführende Bäche und Gräben. Neben der Gewässerverunreinigung brachte die Braunkohlebefeuerung veralteter Industrieanlagen, die teilweise noch dem Vorkriegsstandard entsprachen, sowie häuslicher Ofenheizungen eine sehr starke Luftverschmutzung mit sich. Die schwefel- und phenolhaltige Luft und der damit einhergehende saure Regen griffen Teile der Bausubstanz, vor allem die aus Sandstein, an. In den 1970er und 1980er Jahren galt Leipzig als eine der mit Umweltgiften am meisten belasteten Großstädte Europas. Nach der „Wende“ führten die Stilllegung der Altindustrie und die Modernisierung der Kraftwerke und häuslichen Heizungsanlagen sehr schnell zu erheblich verbesserten Wasser- und Luftverhältnissen und zu einer sichtbaren Erholung der Tier- und Pflanzenwelt. Leipzig zählt mit seinen zahlreichen Stadtparks, wie beispielsweise dem zentrumsnahen Clara-Zetkin-Park und dem Rosental, vielen neu geschaffenen Anlagen in den Wohngebieten sowie den traditionellen Schrebergartenvereinen zu den grünsten Städten Deutschlands. Der Grünflächenanteil wird mit rund 50 %, der Waldanteil mit etwa 7 % beziffert. Bis 2015 sollen der Waldanteil auf 10 % erhöht und Biotopverbünde ausgebaut werden. Leipzig ist seit 2007 Modellregion für das Erprobungs- und Entwicklungsvorhaben „Urbane Waldflächen“ des Bundesamtes für Naturschutz, wobei in Zusammenarbeit mit den zuständigen Stadtämtern Wälder verschiedenen Typs auf innerstädtischen Brachflächen angelegt und deren Wirkung auf Klima, Erholungsvorsorge und Naturschutz untersucht werden sollen. Dabei existieren im innerstädtischen Bereich Flächenpotentiale von rund 1850 Hektar. Einen wesentlichen Anteil am Leipziger Stadtgrün haben die Straßenbäume, wobei sie sowohl gestalterische als auch ökologische Funktionen erfüllen. Im Baumkataster der Stadt sind gegenwärtig 57.732 Straßenbäume registriert. Das sind mehr als die registrierten Parkbäume. Von den Straßenbäumen sind über 35 % Linden, zur Herkunft des Stadtnamens passend. 38 % der Straßenbäume sind jünger als 20 Jahre, was sowohl aus der Ergänzung alter Bestände als auch aus der sofortigen Bepflanzung neu angelegter Straßen resultiert. Seit Beginn der Aktion Baumstarke Stadt im Jahr 1996 konnten durch Spenden (ab 250 EUR pro Baum) jährlich bis zu 150 Bäume gepflanzt werden.Anfang der 1990er Jahre wurde der Braunkohleabbau gestoppt und mit der Rekultivierung der Tagebaurestlöcher und der Renaturierung des Umfeldes begonnen. Inzwischen sind aus den gefluteten Tagebauen mehrere Seen mit sehr guter Wasserqualität entstanden. Weitere Tagebaue befinden sich noch in der Flutung. Der Kulkwitzer und Cospudener See liegen dem Leipziger Stadtzentrum am nächsten, sie dienen als sehr gut erschlossenes Naherholungsgebiet. Zudem grenzt das Leipziger Stadtgebiet auch an den Zwenkauer See, welcher durch einen Kanal mit den Cospudener See verbunden werden soll. Der so entstehende großflächige Erholungsraum wird als „Leipziger Neuseenland“ touristisch vermarktet und soll bei Fertigstellung 70 km² Wasserfläche umfassen. Im Stadtgebiet selbst stehen rund 130 Stillgewässer mit einer Gesamtfläche von 80 Hektar unter städtischer Verwaltung. Um Natur und Landschaft der Region gemeinsam mit den umliegenden Kommunen und Landkreisen zu entwickeln und erlebbar zu machen, ist Leipzig seit 1996 Mitglied im Grünen Ring Leipzig. Am 1. März 2011 wurde ein großer Teil der Stadt zur Umweltzone der Schadstoffgruppe 4 erklärt. === Stadtgliederung und Nachbargemeinden === Leipzig ist seit 1992 verwaltungsmäßig in zehn Stadtbezirke gegliedert, die 63 Ortsteile enthalten. Im Gegensatz dazu werden als Stadtteile Gebiete der Stadt bezeichnet, die durch Eingemeindung vorher selbständiger Dörfer entstanden sind. Daher sind Grenzen von Stadt- und Ortsteilen nicht immer identisch. Zur Erreichung etwa gleich großer Verwaltungseinheiten bilden manchmal zwei Stadtteile einen Ortsteil, oder ein Stadtteil wird in mehrere Ortsteile zerlegt. Falls nicht durch Eingemeindung entstanden, entspricht mitunter ein Ortsteil keinem Stadtteil. Krostitz, Jesewitz, Schkeuditz, Rackwitz und Taucha liegen im Landkreis Nordsachsen, Borsdorf, Brandis, Markranstädt, Markkleeberg, Pegau, Zwenkau und Großpösna im Landkreis Leipzig. === Klima === Leipzig liegt in der gemäßigten Klimazone, im Übergangsbereich vom ozeanischen Klima Westeuropas zum Kontinentalklima Osteuropas. Die durchschnittliche Jahrestemperatur beträgt 8,4 °C und die mittlere jährliche Niederschlagsmenge 507 mm (Mittel 1972–2001). Im Mittel gab es im gleichen Zeitraum 77 Tage mit Frost, 37 Sommertage und über sieben heiße Tage. Der meiste Niederschlag fällt in den Sommermonaten Juni bis August mit einem Spitzenwert von 58,6 mm im August. Im Februar fällt der geringste Niederschlag mit 27 mm, in den anderen Wintermonaten liegt er etwa bei 30 mm. Der Regenschatten des Harzes erreicht im Leipziger Stadtgebiet seine südöstliche Grenze. Nach Süden schließen sich die Regenstaulagen des Erzgebirges an. Dies äußert sich in einem bedeutenden Niederschlagsgradienten in der Umgebung der Stadt, aber auch innerhalb des Stadtgebietes. Am trockensten ist der Norden Leipzigs, der meiste Niederschlag fällt im Südraum der Stadt, wobei die Jahresdifferenz etwa 100 mm beträgt. Zum Vergleich: In der vollständig im Regenschatten liegenden Stadt Halle (Saale) fallen nur etwa 450 mm Niederschlag im Jahr. Die höchste Temperatur wurde in Leipzig am 20. Juli 2022 mit 39,3 °C gemessen. Die niedrigste aufgezeichnete Temperatur wurde am 14. Januar 1987 mit −24,1 °C erfasst. == Geschichte == Um das Jahr 900 wurde an beiden Ufern der Parthe eine slawische Siedlung angelegt, wie Grabungen von Herbert Küas im Gebiet des heutigen Matthäikirchhofs bestätigten. Erstmals erwähnt wurde Leipzig 1015, als Thietmar von Merseburg von einer urbs Libzi (Stadt der Linden; sorbisch lipa = „Linde“) berichtete (Chronikon VII, 25). Als Gründungsjahr der Stadt gilt das Jahr 1165, in dem Markgraf Otto der Reiche von Meißen dem Ort an der Kreuzung der Via Regia mit der Via Imperii das Stadtrecht und das Marktrecht erteilte. Mit der Stadtgründung entstanden die beiden großen Kirchbauwerke – die Thomaskirche und die St.-Nikolaikirche. Der erste Nachweis der Münzstätte Leipzig ist mit Brakteaten der Umschrift MARCHIO OTTO DE LIPPI oder OTTO MARCHIO DE LIPPZINA des Markgrafen Otto des Reichen erbracht worden. Leipzig lag in der Markgrafschaft Meißen, die 1439 im Kurfürstentum Sachsen aufging. Das Kurfürstentum wurde bereits 1485 durch die beiden Brüder Albrecht den Beherzten und Ernst mit der Leipziger Teilung aufgeteilt. Leipzig gehörte danach zum Herzogtum Sachsen, zu dessen Hauptstadt das bis dahin im Vergleich zu Leipzig oder Meißen unbedeutende Dresden ernannt wurde. Leipzig war darin häufig Tagungsort des Landtags. Nach der Verwaltungsreform 1499 lag Leipzig als sogenanntes Kreisamt Leipzig im Leipziger Kreis, neben dem es sieben weitere im Kurfürstentum gab. Am 2. Dezember 1409 wurde die Universität Leipzig als „Alma Mater Lipsiensis“ gegründet und gehört damit zu den drei ältesten Universitäten in Deutschland. Der Gründungstag ist der Dies academicus der Universität. 1519 trafen sich Martin Luther, Andreas Karlstadt und Philipp Melanchthon mit dem katholischen Theologen Johannes Eck auf Einladung der Universität in der Pleißenburg zu einem Streitgespräch, das als Leipziger Disputation in die Geschichte einging. Nach Erhebung zur Reichsmessestadt 1497 und Ausdehnung des Stapelrechts auf einen Umkreis von 115 Kilometer zehn Jahre später durch den späteren Kaiser Maximilian I. wurde Leipzig zu einer Messestadt von europäischem Rang. Für den Güteraustausch zwischen Ost- und Westeuropa entwickelte es sich zum wichtigsten deutschen Handelsplatz. Bedeutend für die spätere Entwicklung zur Messestadt waren insbesondere der Fellhandel sowie die Weiterverarbeitung zu Pelzhalbfabrikaten für die Kürschnerei und die Herstellung der zugehörigen Werkzeuge und Maschinen. Der Leipziger Brühl wurde neben London zum internationalen Handelszentrum der Pelzwirtschaft, die bedeutende Rolle der Leipziger jüdischen Gemeinde war eng mit ihm verknüpft. Noch 1913 lag der Anteil der Pelzbranche am Steueraufkommen Leipzigs bei 40 Prozent.1539 wurde die Reformation endgültig durch Luther und Justus Jonas in Leipzig eingeführt. Leipzig war vom Schmalkaldischen Krieg 1546 und 1547 betroffen, in dem es für Leipzig und Sachsen vorrangig um die Gleichstellung der protestantischen Konfession ging. Infolge des Krieges, in dem Herzog Moritz auf kaiserlicher (katholischer) Seite stand, wechselte die Kurwürde in Sachsen von der ernestinischen an die albertinische Linie, in deren Herzogtum Leipzig lag. In diesen Jahren war die Entwicklung Leipzigs vor allem durch die sich stetig verbessernden Lebensbedingungen gekennzeichnet. Als immer bedeutendere Handels- und Messestadt profitierte Leipzig dabei vom wohlhabenden Leipziger Handelsbürgertum. Bereits im 16. Jahrhundert entstand eine Trinkwasserversorgung. 1650 erschienen erstmals die Einkommenden Zeitungen sechsmal pro Woche. Sie gelten damit als älteste Tageszeitung der Welt. Der Dreißigjährige Krieg war ein schwerer Einschnitt in die prosperierende Entwicklung der Stadt, die Bevölkerungszahl ging von 18.000 auf 12.000 zurück. Zwischen 1631 und 1642 wurde die Stadt fünfmal belagert, von 1642 bis 1650 war sie schwedisch besetzt. Am 17. September 1631 war die Leipziger Umgebung mit der Schlacht bei Breitenfeld Schauplatz einer der größten Niederlagen der Kaiserlichen unter Tilly im Dreißigjährigen Krieg. In dem zu Leipzig gehörenden ehemaligen Rittergut Breitenfeld erinnert ein Gustav-Adolf-Denkmal an den schwedischen Heerführer. Ein Jahr darauf, am 16. November 1632, fiel Gustav Adolf in der Schlacht bei Lützen, etwa zehn Kilometer südwestlich der heutigen Leipziger Stadtgrenze. 1701 wurde in Leipzig eine Straßenbeleuchtung eingeführt. Die etwa 700 Laternen, nach Amsterdamer Vorbild gefertigt und mit Öl betrieben, wurden erstmals am Abend des 24. Dezember 1701 angezündet. Dazu stellte die Stadt sogenannte Laternenwärter ein, die nach einem festen Brennplan dafür zu sorgen hatten, dass die Laternen rechtzeitig angezündet und wieder gelöscht wurden. Während des Siebenjährigen Krieges war Leipzig von 1756 bis 1763 durch Preußen besetzt. Im Jahre 1813 fand die Völkerschlacht bei Leipzig im Zuge der Befreiungskriege statt. Die verbündeten Heere der Österreicher, Preußen, Russen und Schweden brachten in dieser Schlacht Napoleons Truppen und deren Verbündeten, darunter das Königreich Sachsen, die entscheidende Niederlage bei, die schließlich zur Verbannung Napoleons auf die Insel Elba führte. Am 20. April 1825 wurde der Börsenverein der Deutschen Buchhändler gegründet, zu dem Zeitpunkt war Leipzig eines der Zentren des deutschen Buchhandels und Verlagswesens. Als erste deutsche Fernbahnstrecke wurde 1839 die Leipzig-Dresdner Eisenbahn eröffnet. Leipzig entwickelte sich allmählich zum wichtigsten Verkehrsknotenpunkt in Mitteldeutschland, was sich auch darin äußerte, dass der Leipziger Hauptbahnhof von 1902 bis 1915 als einer der seinerzeit größten Kopfbahnhöfe Europas entstand. Am 2. April 1843 begründete Felix Mendelssohn Bartholdy mit dem Conservatorium der Musik die erste Musikhochschule Deutschlands, im selben Jahr erschien die erste Ausgabe der Illustrirten Zeitung. Infolge der Industrialisierung, aber auch vielfältiger Eingemeindungen der Vororte, stieg am Ende des 19. Jahrhunderts die Bevölkerungszahl rasant an. 1871 wurde Leipzig mit 100.000 Einwohnern Großstadt. Im Jahr 1900 konstituierte sich in Leipzig der Deutsche Fußball-Bund. Der VfB Leipzig war 1903 erster deutscher Fußballmeister. Am 1. Oktober 1879 wurde in Leipzig das Reichsgericht als oberstes Zivil- und Strafgericht des 1871 gegründeten Deutschen Reiches etabliert. Es hatte die Funktion des heutigen Bundesgerichtshofs und war ab 1895 im neuen Reichsgerichtsgebäude (Sitz des Bundesverwaltungsgerichts) untergebracht. Während der Leipziger Prozesse wurde versucht, dort Verbrechen des Ersten Weltkriegs aufzuklären und die Täter zu verurteilen. Während der Weimarer Republik spielte das Reichsgericht mit seinem Urteil zum sogenannten Preußenschlag vom 25. Oktober 1932 eine kontroverse Rolle auf dem Weg der Nationalsozialisten zur Macht. Mit der Machtergreifung der Nationalsozialisten 1933 wurde das Reichsgericht zunehmend vom Regime Hitlers instrumentalisiert. Im Dezember 1933 verhandelte es im Prozess um den Reichstagsbrand gegen Marinus van der Lubbe. Er wurde zum Tode verurteilt und im Januar 1934 in Leipzig hingerichtet. Freisprüche weiterer Angeklagter führten zur Einrichtung des Volksgerichtshofs, um die Justiz bei den Delikten Hoch- und Landesverrat zu zentralisieren. Bis zum Ende des Krieges wurde die Strafpraxis am Reichsgericht verschärft, viele Strafen wurden zu Todesurteilen revidiert. Die Auflösung des Gerichtes erfolgte 1945. Leipzigs beherrschende Rolle im deutschsprachigen Verlagswesen und Buchgewerbe erreichte im späten 19. Jahrhundert und bis zum Ersten Weltkrieg seinen Höhepunkt. 1914 war etwa ein Zehntel der Stadtbevölkerung von etwa 600.000 Menschen in diesen Bereichen tätig. Der hiesige Kommissionsbuchhandel stellte alle anderen Städte weit in den Schatten. 1914 wurden im Statistischen Jahrbuch allein 323 Druckereien mit 18.307 Beschäftigten verzeichnet. Etliche renommierte Verlage wie Reclam, Teubner, Brockhaus, das Bibliographische Institut, Seemann, Baedeker, Hirzel, Barth und Velhagen & Klasing, im Musikalienhandel Breitkopf & Härtel, C. F. Peters und Friedrich Hofmeister, hatten hier ihren Sitz. Mit dem Deutschen Buchhändlerhaus, dem Deutschen Buchgewerbehaus und der Deutschen Bücherei saßen auch die zentralen Institutionen der Buchbranche und des Bibliothekswesens in Leipzig, wo sie sich im Graphischen Viertel östlich der Altstadt konzentrierten, der dichtesten Konzentration derartiger Betriebe und Einrichtungen in Europa. Hinzu kamen diverse Zuliefererindustrien für Maschinen, Farben, Papier, Einbände. Während des Zweiten Weltkrieges kam es in den Jahren 1943 bis 1945 zu häufigen Luftangriffen auf die Stadt, die zu erheblichen Zerstörungen der Innenstadt führten – bis zu 60 Prozent der Bausubstanz waren betroffen – und etwa 6000 Opfer forderten. Am 18. April 1945 erreichten Einheiten der 1. US-Armee die Stadt und errichteten ihr Hauptquartier im Hotel Fürstenhof. Aufgrund des 1. Londoner Zonenprotokolls von 1944 und der Beschlüsse der Konferenz von Jalta gehörte Sachsen zur Sowjetischen Besatzungszone (SBZ) und die Rote Armee übernahm am 2. Juli 1945 Leipzig. Die Sowjetische Militäradministration in Deutschland (SMAD) bildete den Rat der Stadt und die Stadtverordnetenversammlung, deren Zusammensetzung mit Gründung der DDR die Sozialistische Einheitspartei Deutschlands (SED) diktierte. Nach dem Zweiten Weltkrieg ging die wirtschaftliche Bedeutung Leipzigs infolge der Lage in der Sowjetischen Besatzungszone bzw. der DDR stark zurück, was in einem kontinuierlichen Rückgang der Einwohnerzahl zu spüren war. Lediglich nach der Vollendung der Teilung Deutschlands durch den 1961 erfolgten Bau der Berliner Mauer erholten sich bis Mitte der 1960er Jahre die Bewohnerzahlen etwas. Zwischen 1950 und 1989 ging die Einwohnerzahl insgesamt um rund 87.000 (über 14 Prozent) auf 530.000 Personen zurück. Von 1952 bis 1990 war Leipzig Hauptstadt des gleichnamigen Bezirks und, gemessen nach Einwohnerzahlen, die zweitgrößte Stadt der DDR. In den Großstädten Berlin, Leipzig und Dresden wurden die meisten Kombinatsleitungen und Stammbetriebe angelegt, so dass sich die wirtschaftliche Bedeutung Leipzigs bezogen auf die DDR bis 1990 erhielt. 1989 leiteten die von der Nikolaikirche ausgehenden Montagsdemonstrationen das Ende der DDR mit ein. Da Gewalt gegen die staatliche Ordnungsmacht und Zerstörungen von den DDR-Behörden propagandistisch ausgenutzt wurden, fanden die Montagsdemonstrationen in Leipzig unter der Losung „Keine Gewalt“ statt. Mit der Besetzung der Bezirksverwaltung für Staatssicherheit durch Demonstranten am 4. Dezember 1989 endeten in Leipzig die staatlichen Überwachungsmaßnahmen. 1990 wurden Leipzig und der größte Teil des Bezirks Leipzig dem Freistaat Sachsen zugeordnet. Leipzig war seitdem Sitz des Regierungsbezirks Leipzig, der am 1. August 2008 im Direktionsbezirk Leipzig aufgegangen ist und am 1. März 2012 aufgelöst wurde. Am 23. September 2008 erhielt die Stadt den von der Bundesregierung verliehenen Titel „Ort der Vielfalt“. 2016 wurde Leipzig der Ehrentitel „Reformationsstadt Europas“ durch die Gemeinschaft Evangelischer Kirchen in Europa verliehen.Unverändert ist Leipzig als Messe-, Medien- und Universitätsstadt bekannt, wenn auch die Bedeutung geringer ist als vor dem Zweiten Weltkrieg. Namensentwicklung Der erste schriftliche Beleg Leipzigs erfolgte in der Chronik des Thietmar von Merseburg aus dem Jahr 1015 und lautet in urbe Libzi vocatur.Weitere Belege zeigen den Namen als Lipz oder Lipsk. Allgemein akzeptiert ist die Etymologie des Ortsnamens Leipzig als vom sorbischen Wort Lipsk kommend (gleichlautend aus dem Altsorbischen abgeleitet). Es bedeutet „Linden-Ort“. Im Sorbischen und Polnischen ist Lipsk immer noch in Gebrauch, der tschechische Name Leipzigs lautet Lipsko. Möglich – aber nicht durch handfeste Belege untermauert – ist, dass sich eine ältere, alteuropäische Wurzel im Ortsnamen verbirgt, die erst später zu Lipsk wurde. Hans Walther schlägt die Deutung des Namens Libz(i) von der urslawischen Wurzel *lib- als „wanken, schwanken“ bzw. von germanisch *lib-ia („weicher, schwankender, wasserhaltiger Boden/Gelände“) und Übernahme zu Lib-c ins Altsorbische vor, wonach der Name einen „Ort auf gewässerreichem schlammigen, lehmigem Boden“ bezeichnet (auf die Auenlandschaft bezugnehmend, was sich ebenfalls in Namen heutiger Ortsteile widerspiegelt: z. B. Lausen, Leutzsch, Mockau, Schleußig).Im Lateinischen wird der Name mit Lipsia wiedergegeben. In dem in der Stadt gesprochenen osterländischen Dialekt, der der Thüringisch-obersächsischen Dialektgruppe angehört, wird der Name der Stadt Leibzsch ausgesprochen. In der Tragödie Faust verewigte Goethe in einer Szene in Auerbachs Keller seinen Studienort Leipzig als Klein-Paris. Goethe lässt einen Studenten sagen: Mein Leipzig lob’ ich mir! Es ist ein klein Paris und bildet seine Leute. Die Bezeichnung etablierte sich in der Umgangssprache des zur Großstadt aufstrebenden und fortschrittlichen Leipzig des 19. Jahrhunderts. In der jüngeren Nachwendezeit wurde in Presseberichten das Modewort Hypezig als Kofferwort aus Hype und Leipzig geprägt. Der Blogger André Herrmann schuf den Begriff als Kritik an dem Leipzig-Hype, der sich vor allem durch Berlin-Leipzig-Vergleiche ausdrückte. == Bevölkerung == === Einwohnerentwicklung === Leipzig zählt nach umfangreichen Eingemeindungen Ende der 1990er Jahre zu den flächengrößten Städten Deutschlands. Vorher war es, im Gegensatz dazu, eine der kompaktesten Städte, die 1870 mit 100.000 Einwohnern zur Großstadt wurde. Die gegenwärtige Bevölkerungszahl hatte Leipzig bereits vor 1914 erreicht. Zum Ende des 19. und in den ersten Jahren des 20. Jahrhunderts holte die Bevölkerungszahl Leipzigs sprunghaft auf die größten Städte auf: Vor Beginn des Ersten Weltkriegs war sie mit fast 590.000 Einwohnern die viertgrößte Stadt Deutschlands. Um 1930 hatte die Bevölkerung mit etwas mehr als 700.000 Einwohnern den historischen Höchststand erreicht. Nach einem kriegsbedingten Rückgang stieg die Bevölkerung in Leipzig in den 1960er Jahren wieder auf etwa 600.000 Einwohner. Vor allem seit Ende der 1980er Jahre, aber schon in den 1970er Jahren, hatte die Stadt einen erheblichen Bevölkerungsschwund zu verzeichnen. Zum Zeitpunkt der Wiedervereinigung lebten aufgrund der restriktiven Migrationspolitik der DDR knapp 9.000 Ausländer in der Stadt. Der Tiefststand der Gesamtbevölkerung wurde Mitte der 1990er Jahre mit etwas weniger als 440.000 Einwohnern erreicht. Der Bevölkerungsschwund ist einerseits durch Abwanderung in Regionen der westlichen Bundesländer begründet, andererseits durch einsetzende Suburbanisierung. Wie alle größeren Städte versucht Leipzig, die Bevölkerungszahl aktiv zu erhöhen, um die Erträge aus dem kommunalen Finanzausgleich zu steigern, die über die Schlüsselzuweisung berechnet werden. Durch umfangreiche Eingemeindungen im Jahr 1999 versuchte Sachsen, der Suburbanisierung Leipzigs entgegenzuwirken. Es kamen mehrere große Industriegemeinden hinzu, wodurch sich die Fläche der Stadt etwa verdoppelt hat. Durch diese Eingemeindungen, ansteigende Geburtenraten und eine positive Bilanz bei Zu- und Wegzügen begann die Bevölkerungszahl Leipzigs wieder so zu wachsen, dass 2005 die Halbe-Million-Einwohner-Grenze überschritten wurde. Ab 2010 gehörte Leipzig zu den am schnellsten wachsenden Städten in Deutschland und erfuhr bis einschließlich 2017 jährlich einen Anstieg von etwa 10.000 Menschen, was jährlichen Wachstumsraten von über 2 Prozent entsprach. Zwischen 2012 und 2014 war Leipzig die am stärksten wachsende Großstadt Deutschlands und die tatsächliche Entwicklung übertraf jegliche Prognosen. Erklärt wird das starke Wachstum mit dem Zuzug junger Menschen, der Arbeit wegen, bei neuen großen Arbeitgebern und dem Geburtenüberschuss 2013 und 2014. Davor hatte Leipzig letztmals im Jahr 1965 einen Geburtenüberschuss. Auch die absolute Zahl der Geburten erreichte einen Höchststand. 2014 wurden so viele Kinder geboren wie zuletzt 1988. Dieses unerwartet hohe Wachstum sorgte für Schwierigkeiten bei der Versorgung mit Kinderkrippen, Kindergärten und Schulen.Im Jahr 2015 nahm die Bevölkerungszahl um fast 16.000 und im Jahr 2016 um 10.000 Einwohner zu. Im Zuge der Flüchtlingskrise in Deutschland 2015/2016 kam es zu einem Anstieg der ausländischen Bevölkerung und der Bevölkerung mit Migrationshintergrund. Zum 31. Dezember 2013 waren beispielsweise 919 Einwohner mit syrischem Migrationshintergrund in Leipzig gemeldet. Zum 31. Dezember 2019 waren es 9.498. Im Jahr 2017 kamen über 7.000 Einwohner hinzu. Seitdem ist das Bevölkerungswachstum leicht zurückgegangen, dennoch steigt die Bevölkerungszahl jährlich um mehrere Tausend. Laut dem Melderegister der Stadt Leipzig wuchs die Bevölkerungszahl 2019 um 5.151 und hatte Ende 2019 demnach 601.668 Einwohner, womit erneut die 600.000 Marke erreicht war. Die seitens des statistischen Landesamtes Sachsen veröffentlichte amtliche Bevölkerungszahl am 31. Dezember 2019 lag bei 593.145 und damit um mehr als 6.000 unter 600.000. Laut Einwohnerregister stieg die Bevölkerungszahl im Jahr 2020 um 3.739 auf 605.407 Personen. Mit der höchsten deutschen Bevölkerungswachstumsrate in den Jahren 2014 bis 2017 (6,9 %), wurde Leipzig 2018 zur achtgrößten Großstadt in Deutschland. Prognosen zufolge soll Leipzig mit einem Bevölkerungswachstum von 16 % in den Jahren 2017 bis 2035 die prozentual am stärksten wachsende Stadt Deutschlands bleiben.Leipzig verzeichnete am 31. Dezember 2019 einen Bevölkerungsanteil mit Migrationshintergrund von 15,4 %. Der Ausländeranteil belief sich auf 10,2 %. Hinter Berlin hat Leipzig somit den höchsten Bevölkerungsanteil mit Migrationshintergrund unter den Großstädten im Osten von Deutschland. Im Vergleich mit westdeutschen Großstädten ist es dennoch ein niedriger Wert. Die größten Gruppen der Leipziger mit Migrationshintergrund kamen am Stichtag 31. Dezember 2019 aus Russland (9.712), Syrien (9.498), Polen (6.279), Rumänien (4.672), Vietnam (3.498) und der Ukraine (3.450). Die Stadtteile mit den höchsten Migrantenanteilen zum 31. Dezember 2019 waren Volkmarsdorf (42,2 %) und Neustadt-Neuschönefeld (38,0 %) sowie Grünau-Mitte (27,4 %). === Religionen === ==== Religionsgemeinschaften ==== Leipzig gehörte bis zur Reformation zum Bistum Merseburg. Im 13. Jahrhundert entstanden in Leipzig vier Klöster: St. Paul (Dominikaner), St. Thomas (Augustiner-Chorherren), Zum Heiligen Geist (Franziskaner) und St. Georg (Zisterzienserinnen und Benediktinerinnen). Erste lutherische Predigten wurden 1522 abgehalten, 1539 wurde die Reformation eingeführt. Gegenwärtig gehören alle lutherischen Kirchengemeinden der Stadt zum Kirchenbezirk Leipzig der sächsischen Landeskirche oder gehören der jeweils altkonfessionellen Evangelisch-Lutherischen Freikirche oder der Selbständigen Evangelisch-Lutherischen Kirche an. Der Kirchenbezirk der sächsischen Landeskirche umfasst auch Gemeinden außerhalb der Stadt. Seit 1697 gibt es in Leipzig wieder katholische Gottesdienste. 1921 wurde das Bistum Meißen (jetzt Dresden-Meißen) wiedererrichtet, in dem die Messestadt Sitz eines Dekanats ist. Katholische Hauptkirche der Stadt ist die Propsteikirche St. Trinitatis. 2016 fand auf Einladung des Bistums Dresden-Meißen in Leipzig der 100. Deutsche Katholikentag statt. Gegen den bundesweiten Trend wächst beispielsweise die katholischen Hauptgemeinde der Messestadt um jährlich 150 Mitglieder. Dort wurde auch der größte Kirchenneubau nach 1990 im Osten Deutschlands verwirklicht.Seit 1700 besteht in Leipzig eine evangelisch-reformierte Gemeinde, die zur Evangelisch-reformierten Landeskirche gehört. Neben den beiden großen Kirchen bestehen in Leipzig eine Gemeinde der altkatholischen Kirche und Gemeinden evangelischer Freikirchen wie die Freie evangelische Gemeinde, die Baptisten, Methodisten, Mennoniten und die Siebenten-Tags-Adventisten. Leipzig ist Sitz der Bundesverwaltungsstelle der ChristusForums Deutschland im BEFG. Die erste Erwähnung jüdischen Lebens in Leipzig stammt aus einer Urkunde Heinrich des Erlauchten von 1248. Nach 1800 bildete sich erstmals eine Jüdische Gemeinde. Bis zur Zeit des Nationalsozialismus prägten jüdische Bürger die Stadt als Unternehmer, Wissenschaftler, Künstler und Stifter wesentlich mit. 1912 gründete der Rabbiner Ephraim Carlebach die Höhere Israelitische Schule als erste jüdische Schule in Sachsen. Sie bestand bis 1942. 1929 hatte Leipzig mit über 14.000 Mitgliedern die größte jüdische Gemeinde Sachsens und eine der größten Deutschlands. Ab 1933 begann die systematische Auslöschung jüdischen Lebens in der Stadt, die mit der Deportation und Ermordung fast aller Leipziger Juden ihr Ende fand. Das Gedenkbuch des Bundesarchivs für die Opfer der nationalsozialistischen Judenverfolgung in Deutschland (1933–1945) verzeichnet namentlich 4904 jüdische Einwohner Leipzigs, die deportiert und größtenteils ermordet wurden. Daran erinnern auch an verschiedenen Orten der Stadt die Stolpersteine des Kunst-Projektes von Gunter Demnig. Nach dem Krieg bestand die Jüdische Gemeinde nur noch aus 24 Mitgliedern. Die Mitgliederzahl stagnierte bis Anfang der 1990er Jahre. 2004 zählte die „Israelitische Religionsgemeinde zu Leipzig“, insbesondere durch die Einwanderung russischer Juden, wieder über 1300 Mitglieder. 2009 wurde ein neues Kultur- und Begegnungszentrum im Ariowitsch-Haus errichtet. Die muslimische Gemeinde in Leipzig ist sehr jung, und der Bevölkerungsanteil der Muslime liegt weit unter dem der Großstädte in den alten Bundesländern, dennoch ist der Islam in der Stadt die zweitgrößte Religion nach dem Christentum. In Leipzig wurden 2009 etwa 10.000 Muslime gezählt, was einem Anteil von ungefähr 2,0 % an der Gesamtbevölkerung entspricht. Die größte Moschee ist die Ar-Rahman-Moschee. Es gibt eine türkische Gemeinde, welche unter dem Dachverband der Türkisch-Islamischen Union der Anstalt für Religion (DİTİB) steht. ==== Konfessionsstatistik ==== Laut der Volkszählung 2011 waren 11,8 % der Einwohner evangelisch, 4,0 % römisch-katholisch und 84,2 % waren konfessionslos, gehörten einer anderen Glaubensgemeinschaft an oder machten keine Angabe. Die Zahl der Protestanten ist seitdem gesunken, die Zahl der Katholiken ist seitdem gestiegen. Ende 2021 hatte Leipzig 609.869 Einwohner, 4,3 % (plus 0,3 %) Katholiken, 10,7 % (minus 1,1 %) Protestanten und 85,0 % gehörten entweder einer anderen oder keiner Glaubensgemeinschaft an. Unter den rund 100.000 Kirchenmitgliedern gab es 2021 3 % (3045) Kirchenaustritte. === Kriminalität === Nach der am 24. April 2017 veröffentlichten Polizeilichen Kriminalstatistik des Bundeskriminalamtes rangiert Leipzig nach Berlin auf Platz 2 der registrierten Kriminalität in deutschen Städten ab 200.000 Einwohnern. 2016 ereigneten sich pro 100.000 Einwohnern 15.811 Straftaten. Dabei bestehen zwischen den einzelnen Leipziger Ortsteilen starke Unterschiede. Der Kriminalitätsatlas des Landeskriminalamtes Sachsen bescheinigt 2016 dem Ortsteil Leipzig Zentrum die höchste Kriminalitätsrate mit 2664 Straftaten pro 1.000 Einwohnern (insgesamt 6082 Fälle), gefolgt von Leipzig Zentrum-Ost mit 728 Delikten pro 1.000 Einwohnern (insgesamt 3072).Rund um das Gebiet der Eisenbahnstraße, eingeschlossen die Parkanlage Rabet, galt seit 5. November 2018 in Leipzig nach der Sächsischen Waffenverbotszonenverordnung Leipzig eine Waffenverbotszone, die am 24. März 2021 wieder abgeschafft wurde. == Politik == Nach der Wende von 1989 wurde die „Stadtverordnetenversammlung“ (seit 1991 wieder Stadtrat) wieder frei gewählt. Erster Vorsitzender war von 1990 bis 1994 zunächst der Stadtpräsident Friedrich Magirius (parteilos). Seit 1994 ist der Oberbürgermeister Vorsitzender des Stadtrats. Anfangs wählte der Stadtrat den Oberbürgermeister, seit 1994 wird dieser jedoch direkt von den Leipziger Bürgern gewählt. Oberbürgermeister der Stadt ist seit März 2006 Burkhard Jung (SPD). Er löste Wolfgang Tiefensee (SPD) ab, der die Stadtgeschäfte von 1998 bis 2005 führte, das Amt aber wegen seiner Berufung zum Bundesverkehrsminister am 22. November 2005 niederlegte. Unterstützt wird der Oberbürgermeister von acht hauptamtlichen Beigeordneten, die die Amtsbezeichnung Bürgermeister tragen und vom Stadtrat für eine Amtszeit von sieben Jahren gewählt werden. === Ergebnis der Stadtratswahl vom 26. Mai 2019 === Der Leipziger Stadtrat hat insgesamt 70 Sitze. Seit den Kommunalwahlen 2019 sind Linke und Grüne mit jeweils 15 Sitzen stärkste Parteien im Leipziger Stadtrat. Sie lösten damit die CDU ab, die in der Wahlperiode 2014–2019 über 19 Sitze verfügte und 2019 sechs Sitze verlor. Stärkste Fraktion ist dagegen die Linke, die mit der PARTEI eine gemeinsame Fraktion bildet und auf gemeinsam 17 Sitze kommt. Insgesamt sind im aktuellen Stadtrat neun Parteien vertreten, die sechs Fraktionen bilden. Bei den Stadtratswahlen 2019 ergab sich folgendes Ergebnis: Nach der Stadtratswahl 2019 haben sich folgende Fraktionen gebildet: DIE LINKE (17 Mitglieder, incl. Die PARTEI), GRÜNE (16 Mitglieder, incl. WVL), CDU (13 Mitglieder), AfD (11 Mitglieder), SPD (9 Mitglieder), Freibeuter (4 Mitglieder, incl. FDP + PIRATEN). === Weitere Wahlen === In der folgenden Tabelle sind die Ergebnisse von Bundestags-, Landtags- und Europawahlen in Leipzig dargestellt. 1 bis 2007: PDS === Ergebnis der letzten Oberbürgermeisterwahl === Die letzten Oberbürgermeisterwahlen fanden im Frühjahr 2020 statt. Im ersten Wahlgang am 2. Februar 2020 traf Amtsinhaber Burkhard Jung (SPD) auf sieben Mitbewerber. Die Wahlbeteiligung betrug 49,1 Prozent. Da kein Kandidat im ersten Wahlgang die absolute Mehrheit der Stimmen auf sich vereinen konnte, bedurfte es des zweiten Wahlgangs, in dem die beiden Bestplatzierten des ersten Wahlgangs gegeneinander antraten, nachdem die übrigen Parteien ihre Kandidaten im Hinblick auf die Unterstützung von Burkhard Jung zurückgezogen hatten, obwohl diese nach dem sächsischen Kommunalwahlgesetz auch für den zweiten Wahlgang hätten kandidieren dürfen. Der zweite Wahlgang, in dem die einfache Mehrheit ausreicht, fand am 1. März 2020 statt. Burkhard Jung wurde bei einer Wahlbeteiligung von 48,4 % zum dritten Mal in Folge zum Oberbürgermeister Leipzigs gewählt. === Stadtverwaltung === Die Leipziger Stadtverwaltung wird geleitet von einem Oberbürgermeister, der die Stadt nach außen vertritt und dem Stadtrat vorsitzt, und den Bürgermeistern, die als Beigeordnete, für sieben Jahre vom Stadtrat gewählt, den Oberbürgermeister in den festgelegten Geschäftskreisen, den sogenannten Dezernaten, bei der Amtsführung unterstützen und ihn vertreten. Jedem Dezernat sind mehrere Ämter nachgeordnet. Leipzig hat mit mehr als 500.000 Einwohnern die höchstmögliche Zahl von acht Dezernaten und Beigeordneten.Folgende Bürgermeister sind gegenwärtig tätig: === Bundestag und Bundespolitik === Das Stadtgebiet ist deckungsgleich mit den Wahlkreisen 152 Leipzig I mit gut 200.000 Wahlberechtigten und 153 Leipzig II mit gut 210.000 Wahlberechtigten. 2009 bis 2017 vertrat Bettina Kudla (CDU) den Wahlkreis Leipzig I und Thomas Feist (CDU) den Wahlkreis Leipzig II. Damit gingen die Leipziger Direktmandate erstmals seit 1998 nicht an die SPD. 2017 und 2021 wurden Jens Lehmann (CDU) im Wahlkreis Leipzig I und Sören Pellmann (Die Linke) im Wahlkreis Leipzig II als Direktkandidaten gewählt. Darüber hinaus wird Leipzig im 20. Deutschen Bundestag auch durch die über die jeweiligen Landeslisten eingezogenen Abgeordneten Holger Mann, Nadja Sthamer (beide SPD) und Paula Piechotta (Bündnis 90/Die Grünen) vertreten. Der langjährige Oberbürgermeister Leipzigs, Wolfgang Tiefensee, war von 2005 bis 2009 Bundesminister für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung im Kabinett Merkel, sowie der Beauftragte der Bundesregierung für die neuen Bundesländer. Bereits nach den Wahlen von 2002 erhielt er von Gerhard Schröder ein Angebot für diesen Ministerposten, lehnte diesen aber mit der Begründung der Verbundenheit mit seiner Arbeit in Leipzig ab. === Landespolitik === Leipzig ist in insgesamt sieben Landtagswahlkreise unterteilt. Seit der Landtagswahl 2019 hat die CDU vier der sieben Direktmandate inne, die übrigen verteilen sich auf die Grünen (zwei Mandate) und die Linke (ein Mandat). === Wappen und Flagge === Das Wappen der Stadt Leipzig zeigt in gespaltenem Schild heraldisch rechts in Gold einen nach rechts aufsteigenden rot gezungten und rot bewehrten schwarzen Meißner Löwen, links in Gold zwei blaue Landsberger Pfähle.Der Löwe der Mark Meißen und die Pfähle der Markgrafen von Landsberg sind alte wettinische Wappenbilder, die auf die Einbindung der Stadt Leipzig in deren Herrschaftsgebiet hindeuten. Nachweisen lässt sich das heutige Wappen erstmals 1468 als Siegel, vorher (um 1287) war auf ihm nur eine Burg beziehungsweise eine Burg mit dem Löwen der Markgrafen zu sehen. Im Volksmund des 17. Jahrhunderts wurde folgende Sage erzählt: Der Löwe habe einst in die andere Richtung geblickt und mit den Tatzen nach den Pfählen gegriffen, sei später aber „zur Strafe“ umgekehrt worden. Tatsächlich wendet sich der Löwe auf Groschen des 15. Jahrhunderts den Pfählen zu. Der Unterschied zum Dresdner Wappen besteht lediglich in der Tingierung der Landsberger Pfähle, der zum Chemnitzer und Delitzscher Wappen in der Anordnung der Schilde. Beim Wappen des ehemaligen Landkreises Leipziger Land wurde dem Leipziger Wappen noch ein Fluss hinzugefügt. Die Stadtfarben sind dem Wappen entsprechend Blau und Gelb. Die Flagge der Stadt besteht aus zwei gleich großen, horizontalen Streifen – oben blau und unten gelb – mit aufgelegtem Stadtwappen. === Städtepartnerschaften === Die Stadt Leipzig ist verschwistert mit: Ukraine Kiew, Ukraine – seit 1961, erneuert 1992 Italien Bologna, Italien – seit 1962, erneuert 1997 Polen Krakau, Polen – seit 1973, erneuert 1995 Tschechien Brünn, Tschechien – seit 1973, erneuert 1999 Frankreich Lyon, Frankreich – seit 1981 Griechenland Thessaloniki, Griechenland – seit 1984, erneuert 2008 Deutschland Hannover, Deutschland – seit 1987 China Volksrepublik Nanjing, Volksrepublik China – seit 1988 Deutschland Frankfurt am Main, Deutschland – seit 1990 Vereinigtes Konigreich Birmingham, Vereinigtes Königreich – seit 1992 Vereinigte Staaten Houston, Vereinigte Staaten – seit 1993 Bosnien und Herzegowina Travnik, Bosnien und Herzegowina – seit 2003 Athiopien Addis Abeba, Äthiopien – seit 2004 Israel Herzlia, Israel – seit 2011 Vietnam Ho-Chi-Minh-Stadt, Vietnam – seit 2021 === Konsulate und Auslandsvertretungen === In der Stadt befinden sich mehrere Auslandsvertretungen. Von den etwa 40 Konsulaten, die vor dem Zweiten Weltkrieg in Leipzig existierten, sind jedoch nur sehr wenige nach der Wende zurückgekehrt. So besitzen die Vereinigten Staaten und Russland ein Generalkonsulat in Leipzig. Polen unterhielt bis 2008, Griechenland bis Ende 2010 ein Generalkonsulat. Polen ersetzte dieses durch ein Honorarkonsulat. Weitere Länder, die Honorarkonsulate in Leipzig eingerichtet haben, sind Bosnien-Herzegowina, Costa Rica, die Demokratische Republik Kongo, Frankreich, Italien, Kosovo, Liberia, die Mongolei, Norwegen, Rumänien, die Slowakische Republik, Sri Lanka und die Ukraine. Polen unterhält in Leipzig ein Polnisches Institut als Zweigstelle des Polnischen Institutes Berlin. Außerdem befindet sich in Leipzig ein British Council, ein Institut français und ein Konfuzius-Institut. Des Weiteren wurde 2008 von den Niederlanden ein „Netherlands Business Support Office“ (NBSO) in Leipzig eröffnet, das für die wirtschaftlichen Kontakte zwischen der Region und den Niederlanden verantwortlich ist. Um den kulturellen, wirtschaftlichen oder politischen Austausch zwischen Leipzig und anderen Regionen beziehungsweise Staaten zu vertiefen, wurden mehrere Vereine gegründet, wie das Deutsch-Arabische Kulturhaus, der Deutsch-Irakische Verein oder der Deutsch-Britische Verein. === Jugendparlament === Vom 23. bis 29. März 2015 wurde in Leipzig das erste Jugendparlament in einer Online-Wahl gewählt. Die 20 gewählten Parlamentarier im Alter von 14 bis 21 Jahren sollen die Interessen der Jugendlichen in der Stadt vertreten. Deutschlandweit ist Leipzig damit nach Stuttgart und Trier die dritte Großstadt, welche eine solche Institution ins Leben ruft. Die Legislaturperiode dauert 2 Jahre, sodass 2017, 2019 und 2021 erneut Wahlen stattfanden.Über den zusätzlich eingerichteten Jugendbeirat, der aus 8 Mitgliedern des Jugendparlamentes und je einem Vertreter pro Stadtratsfraktion besteht, hat das Jugendparlament Rede- und Antragsrecht im Leipziger Stadtrat. Die Leitung der öffentlichen Sitzungen des Gremiums sowie anfallende organisatorische Aufgaben übernimmt ein von den Mitgliedern gewählter „Sprecher*innenkreis“. Die thematische Arbeit findet schwerpunktmäßig in den Arbeitsgruppen statt, die sich aus Mitgliedern des Jugendparlamentes und interessierten Jugendlichen zusammensetzen. Unterstützt wird das Parlament außerdem von einer pädagogischen Begleitung und einer Geschäftsstelle. Des Weiteren verfügt das Gremium über einen Jugendfonds durch den Projekte von und für Jugendliche mit maximal 500 Euro im Rahmen des Bundesprogrammes Demokratie leben! gefördert werden können. === Beiräte === In Leipzig gibt es zehn Stadtbezirksbeiräte, 14 Ortschaftsbeiräte und zehn Fachbeiräte. Sie setzen sich jeweils aus Mitgliedern der Stadtverwaltung und gewählten oder ernannten sachkundigen Einwohnern zusammen. Die Beiräte können keine rechtlich bindende Entscheidung treffen, haben aber Anhörungspflicht und die Möglichkeit, selber Angelegenheiten vorzubringen, mit denen sich die Ausschüsse des Stadtrats beschäftigen müssen.Es gibt folgende Fachbeiräte: Drogenbeirat, Beirat für Gleichstellung, Kinder- und Familienbeirat, Migrantenbeirat, Psychiatriebeirat, Seniorenbeirat, Behindertenbeirat, Tierschutzbeirat und Kleingartenbeirat.Der Migrantenbeirat wurde am 2009 gegründet und wird alle fünf Jahre gewählt (Letzte Wahl 2021). Er besteht aus 22 Mitgliedern, davon sechs Fraktionsvertreter und 16 Migranten. Die Geschäftsstelle des Beirats liegt in der Verantwortung des Referats für Migration und Integration. Wahlberechtigt hierfür sind alle Ausländer, die über einen gültigen Aufenthaltstitel oder eine Duldung verfügen, eingebürgerte Personen und Spätaussiedler, die am Wahltag das 18. Lebensjahr vollendet und seit mindestens drei Monaten in Leipzig ihren ständigen Wohnsitz haben. Zehn Mitglieder werden anhand von Herkunftsregionen frei gewählt (Nordafrika, West- und Zentralasien, Süd- und Mittelamerika, Nord-, West- und Mitteleuropa, Südostasien und sonstiges Asien, Süd- und Osteuropa, Nordamerika, Australien, Ozeanien und subsaharisches Afrika). Bewerben können sich alle wahlberechtigten Personen. Die übrigen zwölf Mitglieder setzen sich aus sechs Vertretern der Stadtratsfraktionen und sechs durch die Stadtverwaltung ernannten Personen zusammen. == Wirtschaft und Infrastruktur == === Entwicklung bis 1990 === Vor dem Zweiten Weltkrieg war Leipzig nicht nur ein bedeutender Handelsplatz (Leipziger Messe), sondern auch ein bedeutender Industriestandort. Traditionell waren hier Verlagswesen (z. B. Reclam, Teubner, Brockhaus, das Bibliographische Institut, Seemann, Baedeker, Hirzel, Barth und Velhagen & Klasing, Insel Verlag, bei den Musikalien Breitkopf & Härtel, C. F. Peters und Friedrich Hofmeister) und polygrafische Industrie, Maschinenbau (Pittler Drehmaschinen, Brehmer Heftmaschinen), Förderanlagen- und Seilbahnbau (Adolf Bleichert & Co.), Landmaschinenbau (Pflugfabrik Rud. Sack), Pelzindustrie, Textilindustrie (Leipziger Baumwollspinnerei, Buntgarnwerke Leipzig, Leipziger Wollkämmerei) ansässig. Ferner war der Klavierbau (Blüthner, Hupfeld, Schimmel, Feurich, Zimmermann) vertreten. In der DDR-Zeit blieb Leipzig ein bedeutender Wirtschaftsstandort. Der Bezirk Leipzig trug 1972 9,3 Prozent zur Industrieproduktion der DDR bei. Neben den bereits erwähnten Wirtschaftszweigen wurden insbesondere der Braunkohleabbau, die Energieerzeugung und die chemische Industrie südlich von Leipzig stark ausgebaut. Mit der Bildung von Kombinaten wurde Leipzig Sitz der Kombinate für Baumaschinen, komplette Anlagen und Erdbewegungsmaschinen (Baukema), Gießereianlagenbau und Gusserzeugnisse (Gisag), polygraphischen Maschinenbau, Rundfunk- und Fernmelde-Technik (RFT), Technische Gebäudeausrüstung (TGA), Tagebauausrüstungen, Krane und Förderanlagen (TAKRAF) und Chemieanlagenbau (Chemieanlagenbau Leipzig-Grimma, CLG). Robotron baute in seinem Leipziger Zweigbetrieb (VEB Robotron-Anlagenbau Leipzig) vor allem Großrechner für die Industrie. Die fruchtbaren Böden der Leipziger Tieflandsbucht im Leipziger Raum wurden intensiv landwirtschaftlich genutzt. === Kennzahlen === Im Jahre 2016 erbrachte Leipzig ein Bruttoinlandsprodukt (BIP) von 19,872 Milliarden Euro und belegte damit Platz 17 innerhalb der Rangliste der deutschen Städte nach Wirtschaftsleistung. Der Anteil an der Wirtschaftsleistung des Bundeslandes Sachsen betrug 16,8 Prozent. Das BIP pro Kopf lag im selben Jahr bei 35.123 Euro (Sachsen: 28.947 Euro, Deutschland 38.180 Euro). In der Stadt gab es 2016 ca. 328.700 erwerbstätige Personen. Die Arbeitslosenquote lag im Dezember 2018 bei 6,1 Prozent und damit leicht über dem Durchschnitt von Sachsen mit 5,6 Prozent.Gegenwärtig befinden sich in Leipzig über 38.000 bei der Industrie- und Handelskammer zu Leipzig gemeldete Unternehmen und mehr als 5.100 Handwerksbetriebe (Stand 2011). In Leipzig gibt es 58.704 bestehende Betriebe. Davon haben 90,3 % deutsche Betreiber und 9,7 % ausländische Betreiber (Stand 2019).Im Zukunftsatlas 2019 belegte die kreisfreie Stadt Leipzig Platz 104 von 402 Landkreisen, Kommunalverbänden und kreisfreien Städten in Deutschland und zählt damit zu den Regionen mit „Zukunftschancen“. In der Ausgabe von 2016 lag sie noch auf Platz 137 von 401.Leipzig belegte im HWWI/Berenberg-Städteranking 2015 nach München und Berlin den dritten Platz. === Öffentliche Investitionen und Subventionen === Wie in allen Städten und Gemeinden in den ostdeutschen Bundesländern flossen hohe Summen staatlicher Gelder nach Leipzig. Die Struktur der Investitionen und Förderungen unterscheiden sich dabei etwas. Vergleichsweise stark wurde die „unternehmensnahe Infrastruktur“ gefördert – im Zeitraum 1990 bis 2005 mit etwa 750 Millionen Euro. Nach Darstellung der Leipziger Wirtschaftsförderung können Zuschüsse für die gewerbliche Wirtschaft aufgrund der Wirtschaftsstruktur in Leipzig hauptsächlich für Großinvestitionen genutzt werden. Sie betrugen von 1990 bis 2005 etwa 650 Millionen Euro. Vergleichsweise wenig wurde für die Technologieförderung aufgebracht, sie summierte sich im Zeitraum 1990 bis 2005 auf 81 Millionen Euro.Leipzig liegt in einer „Ziel-1-Region“ des Europäischen Fonds für regionale Entwicklung. Im Zuge der EU-Osterweiterung erreichen die sächsischen Regionen die Fördergrenze, die sich am Bruttoinlandsprodukt je Einwohner relativ zum EU-Durchschnitt bemisst. Zum Nachteil von Leipzig könnte sich der Umstand entwickeln, dass die anderen sächsischen Großstädte durch strukturschwache Regionen wie dem Erzgebirge oder der Oberlausitz länger in einer „Ziel-1-Regionen“ verbleiben könnten. Die Förderregionen entsprechen den sächsischen Regierungsbezirken. === Verschuldung der Stadt Leipzig === Die Verschuldung der Stadt Leipzig begann 1992 und erreichte ihren Höchststand Ende 2004 mit einem Schuldenstand von 911,6 Mio. Euro. In den darauffolgenden Jahren wurde die Verschuldung kontinuierlich abgebaut, wobei der größte Sprung 2009 unter anderem durch Rückzahlung der Stadtanleihe von 100 Mio. Euro gemacht wurde. Zum 31. Dezember 2011 bestand das Kreditportfolio aus 101 Krediten mit einem Volumen von circa 733 Mio. Euro. Von 2011 zu 2012 stieg der Schuldenstand der Stadt Leipzig um die Netto-Neuverschuldung von rund 4 Mio. Euro von 733 Mio. Euro auf 737 Mio. Euro. Die Stadt Leipzig plant den vollständigen Schuldenabbau in den nächsten 25 Jahren. === Ansässige Unternehmen === Mit der Wende brach, wie in fast allen Regionen der ehemaligen DDR, nahezu die gesamte Industrieproduktion zusammen. Nur wenige Unternehmen blieben nach der Privatisierung erhalten. Es bestehen weiterhin die Maschinenbauunternehmen Kirow Ardelt GmbH (ein Hersteller von Eisenbahnkränen mit etwa 180 Mitarbeitern), TAKRAF GmbH (ein Tochterunternehmen der Tenova S.p.A. und Hersteller von Tagebauausrüstung und -einrichtungen mit etwa 400 Mitarbeitern in Leipzig und Lauchhammer) sowie das Kugel- und Rollenlagerwerk Leipzig (ein Hersteller von Wälzlagern mit etwa 192 Mitarbeitern). Von den Klavierherstellern besteht noch die Julius Blüthner Pianofortefabrik. Das 1852 in Leipzig gegründete Typographisches Kunst-Institut Giesecke & Devrient wurde 1948 als VEB Wertpapierdruckerei verstaatlicht und ist jetzt wieder als Giesecke & Devrient GmbH, Wertpapierdruckerei Leipzig in Leipzig ansässig. Nach der Wende gelangen aber auch einige große Industrieansiedlungen, darunter Siemens (etwa 1.700 Mitarbeiter), Porsche (etwa 4.300 Mitarbeiter bei Porsche Leipzig sowie weitere 800 in Dienstleistungsbetrieben) und BMW (3.700, mit Partnern und Zulieferern über 6.500 Mitarbeiter am Standort Leipzig). Mit der Ansiedlung der beiden letzteren konnte sich die Stadt als neuer Automobilstandort etablieren. 2005 stiegen die Leipziger Verkehrsbetriebe (LVB) in den Schienenfahrzeugbau ein. Das Tochterunternehmen HeiterBlick baute zunächst die Straßenbahn Leoliner für den Eigenbedarf, die sich mit einem konkurrenzfähigen Preis und ihrer Robustheit aber auch den osteuropäischen Markt erschließen sollte. 2010 übernahm Kirow Ardelt das Unternehmen vollständig und fertigt im Stadtteil Lindenau verschiedene Straßenbahnmodelle für andere deutsche Städte. Die LVB beschäftigen über 2.300 Mitarbeiter. Kirow Ardelt entwickelte sich zum Weltmarktführer von Eisenbahnkranen. Auch Unternehmen der Kommunikations- und Informationstechnologien wie die Comparex, die Softline AG oder der überregionale Kabelnetzbetreiber Primacom mit seiner größten ostdeutschen Niederlassung sind in Leipzig beheimatet. Die Unister Holding GmbH, ein auf den Betrieb und die Vermarktung von Webportalen spezialisierter E-Business-Anbieter, hatte ihren Hauptsitz in der Leipziger Innenstadt. Dieses Gebäude gehört seit April 2017 der Hamburger Immobilieninvestment- und Entwicklungsgesellschaft DC Values. Die buw Holding GmbH, ein Kommunikationsdienstleister, beschäftigt am Standort Leipzig rund 1.100 Mitarbeiter in Callcentern. Die Mercateo-Gruppe verlegte ihren Hauptsitz Anfang 2020 von München nach Leipzig.Neben Frankfurt am Main, München und Stuttgart gilt Leipzig darüber hinaus als überregional bedeutsamer Banken- und Finanzstandort. Seit 2017 hat die Förderbank des Freistaats, die Sächsische Aufbaubank (SAB), ihren Sitz in Leipzig. Neben der Sparkasse Leipzig, einer der größten in Mitteldeutschland, sitzen in Leipzig kleine Bereiche der Landesbank Baden-Württemberg, nachdem diese 2008 die Landesbank Sachsen übernommen hatte. Die gesamte Region Leipzig ist ein wichtiges Zentrum der Energiewirtschaft und Leipzig tritt als Energiemetropole Leipzig auf. Leipzig betreibt das Cluster Energie und Umwelt und hat dort einen Wirtschaftsförderschwerpunkt. 2008 wurde das Deutsche Biomasseforschungszentrum (DBFZ) in Leipzig eröffnet. Der umsatzstarke Energieversorger VNG – Verbundnetz Gas, der für Stadtwerke und kommunale Energieversorger Erdgas bereitstellt, hat in Leipzig seinen Sitz. In der Stadt wird mit der European Energy Exchange (EEX) die größte Energiebörse Kontinentaleuropas betrieben. In Leipzig sitzen zudem die Verwaltung und der Vorstand der Verbio Vereinigte Bioenergie AG. Leipzig besitzt mit den Stadtwerken Leipzig eines der acht großen Stadtwerke, die in den 8KU organisiert sind. In unmittelbarer Nähe Leipzigs befinden sich das Kraftwerk Lippendorf sowie der Solarpark Waldpolenz in Brandis und das Solarkraftwerk Espenhain, in Leipzig selbst mehrere kleinere Solarkraftwerke. In der Stadt selbst gibt es zudem einen Verwaltungsstandort der Veolia Wasser.Aufgrund der zentralen Lage entwickelte sich Leipzig zu einem Verkehrs- und Logistikzentrum. Die Logistik ist als Wirtschaftsschwerpunkt im Netzwerk Logistik Leipzig-Halle organisiert. So hat neben den Leipziger Verkehrsbetrieben auch der Mitteldeutsche Verkehrsverbund seinen Sitz in Leipzig. Die DB Netz koordiniert den Regionalbereich Südost von Leipzig aus. Das Tochterunternehmen der Transdev GmbH, Transdev Regio Ost und deren Marke Mitteldeutsche Regiobahn, haben ihren Sitz in Leipzig. Die Logistikbranche ist mittlerweile eine der wachstumsstärksten der Regionen in Deutschland. Schon kurz nach der Wende wurde in der Nähe des Messegeländes ein Quelle-Versandzentrum eröffnet, das allerdings im Zuge der Insolvenz des Unternehmens 2009 schließen musste. Dieses wurde 2012 reaktiviert und ist wieder voll vermietet. Darunter sind Unternehmen wie Momox und diverse Zulieferer der Automobilwerke. Im Herbst 2006 stellte Amazon sein zweites und größtes deutsches Logistikzentrum fertig. 2008 ging das europäische Luftdrehkreuz der Post-Frachttochter DHL am Flughafen Leipzig-Halle in Betrieb, das bisher in Brüssel beheimatet war. Damit sind 3.500 Arbeitsplätze direkt am Flughafen entstanden und etwa 7.000 in der näheren Umgebung. Das DHL-HUB wird ab 2014 in seiner Kapazität verdoppelt, womit weitere 400 Arbeitsplätze entstehen sollen. Im Norden der Stadt wurde von ProLogis ein Logistikzentrum mit 50.000 m² erbaut, dieses hat 350 Arbeitsplätze geschaffen. Im Norden wurde ein Logistikzentrum der DB Schenker mit 145.000 m² und ca. 800 Arbeitsplätzen geschaffen. === Gesundheitswesen === Die Stadt bekennt sich mit ihrer Wirtschaftsstrategie zum Cluster Gesundheitswirtschaft & Biotechnologie, unterstützt wird sie vom Verein zur Förderung der Gesundheitswirtschaft in der Region Leipzig e. V. Die Stadt ist Mitglied des bundesweiten Gesunde-Städte-Netzwerks. Das Universitätsklinikum mit seinen mehr als 4000 Mitarbeitern ist ein Krankenhaus der Maximalversorgung. Seine Vorläufer waren das St. Jacobs-Hospital und das Städtische Krankenhaus St. Jakob. Das 1994 gegründete Herzzentrum Leipzig in Trägerschaft der Helios Kliniken fungiert als Universitätsklinik und ist ein Fachkrankenhaus mit dem Versorgungsauftrag für Herzchirurgie, Kardiologie und Kinderkardiologie. Mit der Kapazität für 420 stationäre und 10 tagesklinische Patienten ist es das größte Herzzentrum der Welt. Das Klinikum St. Georg, das als Spital 1439 von der Stadt übernommen wurde, feierte 2012 sein 800-jähriges Bestehen. Das Klinikum ist ein Krankenhaus der Schwerpunktversorgung und beschäftigt über 3.000 Mitarbeiter. Die Infektionszentrale und das Schwerbrandverletztenzentrum besitzen bundesweite Bedeutung. 2006 übernahm das St. Georg das Fachkrankenhaus Hubertusburg in Wermsdorf. Das St. Georg bekam 2011 vom Freistaat den Zuschlag für die Errichtung einer Septischen Chirurgie. In unmittelbarer Nähe des Herzzentrums befindet sich mit dem Park-Klinikum, dem größten Krankenhaus der Regelversorgung (626 Betten, 98 teilstationär, 154 Rehabilitationsplätze) in Sachsen, eine weitere Einrichtung der Helios-Kliniken. In Leipzig gibt es mit dem evangelischen Diakonissenkrankenhaus und dem 1931 eingeweihten St. Elisabeth-Krankenhaus (in katholischer Trägerschaft) noch zwei Krankenhäuser der Regelversorgung. Letzteres ist eines der beliebtesten Krankenhäuser Sachsens. Das bis 2007 betriebene Bundeswehrkrankenhaus in Wiederitzsch will der Erwerber zusammen mit dem ehem. Amberger Bundeswehrkrankenhaus zu einer Fachklinik entwickeln.Leipzig verfügt über zwei zertifizierte Stroke Units (St. Georg, Uni), zwei Brustkrebszentren (St. Elisabeth, St. Georg), drei Darmkrebszentren (Diako, Park-Klinikum, Uni), ein Prostatakrebszentrum (Uni) und ein Hautkrebszentrum (Uni).Die Medica-Klinik für ambulante Rehabilitation und Sportmedizin ist eine der größten Einrichtungen für ambulante Reha in Deutschland und Akademisches Lehrkrankenhaus der Leipziger Universität. In Leipzig haben die Krankenhausgesellschaft Sachsen, der Verband der Privatkliniken in Sachsen und Sachsen-Anhalt und die Landesgeschäftsstelle Sachsen der Barmer GEK ihren Sitz. 1900 wurde in Leipzig der Hartmannbund, ein freier Berufsverband aller Ärzte, Zahnärzte und Medizinstudenten in Deutschland, gegründet. Die DAVASO GmbH in Mölkau, ein Technologieanbieter und Dienstleister für die gesetzlichen Krankenversicherungen, gehört mit ca. 1300 Mitarbeitern zu den 15 größten Unternehmen der Region. Zur Ansiedlung von Unternehmen der Biotechnologie wurde 2003 am Rande des alten Messegeländes die Bio City Leipzig errichtet. Hier befinden sich das Biotechnologisch-Biomedizinische Zentrum der Universität Leipzig sowie verschiedene Unternehmen. U. a. gehörten Vita 34 International, Europas erste und größte private Nabelschnurblutbank, sowie Haema, der größte unabhängige Blutspendedienst Deutschlands, zu den ersten Mietern. Das Leipziger Arzneimittelwerk ging aus einer 1926 in Paunsdorf errichteten Betriebsstätte der Unternehmung Dr. Willmar Schwabe hervor, 2000 wurde es von Riemser übernommen und 2013 an die Prange Gruppe weiterveräußert. === Leipziger Messe === Die Stadt Leipzig ist über die Grenzen Deutschlands hinaus durch die Leipziger Messe bekannt. Sie gilt als einer der ältesten Messeplätze der Welt, dessen Tradition auf das vom Meißner Markgrafen Otto dem Reichen 1165 verliehene Marktrecht zurückgeht. 1190 wurden der Jubilatemarkt (Ostermarkt) und der Michaelismarkt durch den Meißner Markgrafen Albrecht den Stolzen bestätigt. Ab 1218 ließen sich die ersten urkundlich benannten Kaufleute und Handwerker in Leipzig nieder. 1341 kauften die Tuchmacher ihr eigenes Gebäude am Leipziger Markt, das erste Gewandhaus. Ebenfalls ab dem 13. Jahrhundert wurden in Leipzig Waren mit polnischen und im 14. Jahrhundert mit böhmischen Kaufleuten gehandelt. Ab 1420 wurde der Markt als Umschlagplatz für Nürnberger Kaufleute nach Polen genutzt. 1458 erhielt die Stadt von Kurfürst Friedrich II. das Recht für den Neujahrsmarkt. Von diesem Zeitpunkt an war die Stadt ein bedeutender Umschlagplatz für Metalle, Pelze, Seide, Edelsteine, Zinn und sächsisches Silber. 1497 verlieh der römisch-deutsche König und spätere Kaiser Maximilian I. Leipzig das Reichsmesseprivileg. 1507 erhielt die Stadt das Stapelprivileg, was bedeutet, dass im Umkreis von 115 Kilometern keine Messen veranstaltet werden durften. Auch war das Lagern von Gütern vor der Stadt verboten. Seit 1573 war es der Stadt gelungen, feste Handelsbeziehungen nach Moskau aufzubauen. 1824 wurde Leipzig zum Welthandelsplatz, als auch Händler aus Nordamerika, Brasilien, Argentinien und Indien an der Messe teilnahmen. 1833 wurden alle Privilegien vom Deutschen Zollverein für ungültig erklärt. Allerdings hatte sich Leipzig zu der Zeit schon als Messestandort etabliert, weswegen sich der größte Konkurrent (Frankfurt) nicht durchsetzen konnte. Zum Frühjahr 1895 erfolgte die Umstellung von einer Waren- zur weltweit ersten Mustermesse. In der Zeit des Nationalsozialismus wurde die Leipziger Messe dem Reichsministerium für Volksaufklärung und Propaganda unterstellt und zur einzigen „Allgemeinen internationalen Messe auf deutschem Boden“ erklärt. 1937 wurde Leipzig zur Reichsmessestadt ernannt. Während der DDR-Zeit waren die Frühjahrs- und Herbstmessen ein wichtiger Treffpunkt des Handels zwischen Ost und West. Mit der Wiedervereinigung wurden die beiden saisonalen Universalmessen von Fachmessen abgelöst. 1996 wurde ein neues und modernes Messegelände am Stadtrand erbaut und begonnen, neue Nutzer für die Alte Messe Leipzig zu suchen. Die Messegesellschaft steht seither national in Konkurrenz mit vielen, oft erheblich größeren Standorten wie Hannover, Frankfurt oder Düsseldorf und muss sich in einem engen Markt behaupten. Die Leipziger Messe mit einem Umsatz von 100 Mio. Euro (2016) konkurriert hier etwa mit der Messe Frankfurt mit einem siebenfachen Umsatz. Zu den wichtigsten Messen des Jahres zählen die Leipziger Buchmesse, die Zuliefermesse Z sowie die Industriemesse Intec, die Publikumsmesse Haus Garten Freizeit, die Messe Touristik & Caravaning International sowie die Auto Mobil International. Mit der Games Convention (GC) konnte erstmals eine Messe etabliert werden, die in Europa Alleinstellungsmerkmale besitzt. Die GC wurde jedoch im Sommer 2008 durch den Branchenverband BIU als gamescom nach Köln verlegt, mit der Begründung, man habe dort bessere Wachstumsmöglichkeiten. Die Leipziger Messe hatte sich zunächst entschieden, diese Unterhaltungssparte nicht ganz aufzugeben und dafür 2009 die Games Convention Online gegründet, eine Messe die ausschließlich auf Onlinespiele fokussiert war. Es gelang jedoch nicht, diese Messe zu etablieren, sodass sie nach nur zwei Auflagen seit 2011 nicht mehr stattfindet.Zur Leipziger Messe gehört mit dem Congress Center Leipzig ein Kongresszentrum für die Bereiche Medizin, Industrie und Dienstleistung. Neben dem Messegelände im Leipziger Norden betreibt die Leipziger Messe GmbH seit 2015 die Kongresshalle am Zoo in einem 1900 erbauten Gründerzeitgebäude im Leipziger Zentrum. === Medien === ==== Funk- und Fernsehsender ==== Leipzig ist Hauptsitz des Mitteldeutschen Rundfunks (MDR). Die Media City Leipzig, ein Studiokomplex für Fernseh- und Filmproduktionen, an der der MDR beteiligt ist, befindet sich in unmittelbarer Nähe. Die Privatsender Radio PSR, Energy Sachsen, R.SA und Radio Leipzig mit zwei Programmen, Leipzig eins, Deutschlands erstes lizenziertes Universitätsradio Mephisto 97.6 und das Freie Radio Radio Blau produzieren hier ihr Programm. Aber auch neue Medien wie das Internetradio und Podcast-Label detektor.fm haben ihre Studios in Leipzig. Aus dem Studio von Radio PSR sendete bis zum 31. Januar 2014 außerdem der Radiosender 90elf, der 24 Stunden am Tag über Bundesligaspiele berichtete. Leipzig Fernsehen und ehemals info tv leipzig sind bzw. waren lokale Fernsehsender. Leipzig ist Sitz der Sächsischen Landesanstalt für privaten Rundfunk und neue Medien. ==== Presse ==== Leipzig hat eine weit zurückreichende Tradition als Pressestadt mit zahlreichen Zeitungs- und Zeitschriftenverlagen und -redaktionen. Hier gab Timotheus Ritzsch von 1650 an die täglich erscheinenden Leipziger Einkommenden Nachrichten als erste Tageszeitung der Welt heraus; von 1660 an trug sie den Titel Neu-einlauffende Nachricht von Kriegs- und Welt-Händeln. Die Bedeutung Leipzigs als Pressestadt betont eine vom Leipziger Institut für Kommunikations- und Medienwissenschaft, von der Deutschen Presseforschung an der Universität Bremen und der Deutschen Forschungsgemeinschaft getragene und von Holger Böning geleitete Studie.Derzeit gibt es als einzige Tageszeitung die Leipziger Volkszeitung mit bis 1894 zurückreichender Geschichte, zudem eine regionale Ausgabe der Zeitung Bild. Seit 2004 erscheint das Online-Nachrichtenmagazin Leipziger Internet Zeitung, dessen Redaktion seit 2015 auch die gedruckte LZ Leipziger Zeitung herausbringt – zunächst als Wochenzeitung und dann umgestellt auf monatliche Erscheinung. Die Dresdener Morgenpost unterhält unter der Marke Tag 24 ein lokales Redaktionsbüro. Darüber hinaus werden mehrere Stadtmagazine, Kultur- und Wirtschaftsjournale publiziert, u. a. der Kreuzer und die Leipziger Zeitung. ==== Buchstadt Leipzig ==== Die Geschichte Leipzig als Druckort geht bis ins 16. Jahrhundert zurück. Ab dem 17. Jahrhundert gewinnt die Leipziger Buchmesse größere Bedeutung. Im Laufe des 19. Jahrhunderts hatte sich Leipzig als zentrale Schnittstelle und Hauptumschlagplatz des deutschen Buchgewerbes etabliert. Rund 1500 Firmen des herstellenden und vertreibenden Buchhandels, der polygrafischen Industrie sowie die zentralen Branchenverbände waren hier ansässig. Zentrum dessen war das Graphische Viertel. Dazu zählten Verlage wie Baedeker (Fritz Baedeker), Brockhaus (Bibliographisches Institut & F. A. Brockhaus), S. Hirzel Verlag, Insel Verlag, Gustav Kiepenheuer Verlag, C. F. Peters (Edition Peters), Reclam-Verlag, E. A. Seemann, B. G. Teubner und Georg Thieme, sowie große Firmen des Zwischenbuchhandels, Maschinenbauunternehmen, Buchbindereien, grafische Anstalten und Druckunternehmen (Giesecke & Devrient, Offizin Haag-Drugulin u. v. a.). Nahezu jeder zehnte Einwohner war in einem dieser Gewerbe tätig. Ein Beispiel für einen besonders vielseitigen Vertreter der Branche gibt Carl Berendt Lorck; er war als Buchhändler, Buch- und Presseverleger, Buchhistoriker, Typograf, Drucker und Autor aktiv. Im Ausland war die Buchstadt Leipzig als City of Books bekannt. Ihre Hochphase hatte sie Ende des 19. bis Anfang des 20. Jahrhunderts. Im Zweiten Weltkrieg hatten die Verlage unter starken Restriktionen zu leiden. Das sogenannte Graphische Viertel, in dem sich ein Großteil der Firmen konzentrierte, wurde in den Bombenhageln fast vollständig zerstört. Die Teilung Deutschlands führte zur Teilung von Verlagen und anderen Unternehmen, die fortan in Westdeutschland und Leipzig parallel agierten. In der DDR konnte sich Leipzig zwar weiterhin als Buchstadt behaupten, jedoch nicht mehr mit seiner früheren Bedeutung. Nach der Wiedervereinigung wurden die Leipziger Parallelverlage an ihre westdeutschen Alteigentümer restituiert und teilweise als Zweigniederlassungen weitergeführt, jedoch früher oder später geschlossen (Brockhaus, Hirzel, Insel, List, Reclam, Teubner, Thieme). Andere Verlage wurden verkauft und sind teilweise noch in Leipzig ansässig (E.A. Seemann, St. Benno, Koehler & Amelang, Buchverlag für die Frau u. a.). Parallel gab es nach 1989 viele Neugründungen und Neuansiedlungen (z. B. Klett-Verlag, Connewitzer Verlagsbuchhandlung, Evangelische Verlagsanstalt, Voland & Quist, Faber & Faber, Lehmstedt). Die Leipziger Buchmesse mit dem größten Lesefestival Europas Leipzig Liest, die Deutsche Nationalbibliothek, zahlreiche Ausbildungsstätten, Dauerausstellungen und Museen zeugen noch von der Buchstadt Leipzig.Die Stadt hatte eine große Bedeutung in der deutschen Enzyklopädik. Jahrzehntelang hatten mit dem Verlag F.A. Brockhaus und dem Bibliographischen Institut die beiden wichtigsten deutschen Lexikonverlage ihren Sitz in der Stadt. Eine lange Tradition hat die Hochschule für Grafik und Buchkunst Leipzig, deren Ursprünge 1764 liegen. Unterlagen aus Unternehmensarchiven zu vielen dieser Unternehmen lagern im Staatsarchiv Leipzig.In Leipzig ist die Gesellschaft für zeitgenössische Lyrik ansässig. Sie veranstaltet Lesungen und poetologische Tagungen, gibt die Literaturzeitschrift Poesiealbum neu heraus und stellt der Öffentlichkeit mit der Leipziger Lyrikbibliothek eine der größten Sammlungen internationaler zeitgenössischer Poesie in Deutschland zur Verfügung. === Sozial-Ökologische Infrastrukturen === Leipzig verfügt über ein dichtes Netz sozial-ökologischer Infrastrukturen. Erwähnenswert sind im Lebensmittelbereich die Fairteiler von foodsharing, und die zahlreichen Solidarischen Landwirtschaften (SoLawi), im Textilbereich der Umsonstladen in Plagwitz, mehrere Fahrrad-Selbsthilfe-Werkstätten, im Computerbereich der Hackerspace Die Dezentrale. und im Bereich Reparieren das Café kaputt. Außerdem gibt es zahlreiche öffentliche Bücherschränke und Schenkregale, z. B. Lenes Tauscho im Lene-Voigt-Park. === Öffentliche Einrichtungen === ==== Justiz ==== Das Bundesverwaltungsgericht wurde am 26. August 2002 von Berlin nach Leipzig verlegt und hat seinen Sitz im Reichsgerichtsgebäude. Auch der Fünfte Strafsenat des Bundesgerichtshofes sowie eine Dienststelle des Generalbundesanwaltes sind in Leipzig angesiedelt. Außerdem sind das Sächsische Finanzgericht und Verfassungsgericht in Leipzig beheimatet, und weiterhin gibt es mehrere Gerichte der unteren Instanzen wie das Landgericht, Amtsgericht, Sozialgericht, Verwaltungsgericht und ein Arbeitsgericht. ==== Wirtschaft ==== Die Bundesnetzagentur für Elektrizität, Gas, Telekommunikation, Post und Eisenbahnen unterhält eine Außenstelle in Leipzig. Weitere öffentliche Einrichtungen sind die Handwerkskammer und die Industrie- und Handelskammer zu Leipzig. Die Hauptverwaltung der Deutschen Bundesbank für die Freistaaten Sachsen und Thüringen ist ebenfalls in der Stadt angesiedelt. Die Sparkasse Leipzig, die für die Stadt Leipzig und die umliegende Landkreise Leipziger Land und Nordsachsen zuständig ist, ist die wichtigste öffentliche Einrichtung auf dem Finanzsektor. Die 2008 erloschene Landesbank Sachsen hatte hier ebenfalls ihren Hauptsitz. Seit dem 1. April 2008 existiert die daraus entstandene Sachsen Bank, eine rechtlich unselbständige Anstalt des öffentlichen Rechts der Landesbank Baden-Württemberg (LBBW) mit Sitz in Leipzig. Auch die Deutsche Rentenversicherung Mitteldeutschland und der Kommunale Sozialverband Sachsen (KSV) haben ihre Hauptgeschäftsstellen in Leipzig. Durch bekanntgegebene geplante Änderungen und Umstrukturierungen innerhalb der sächsischen Verwaltung wird die Sächsische Aufbaubank in den kommenden Jahren ihren Hauptsitz von Dresden nach Leipzig verlegen, um den Finanzsektor und Bankenstandort Leipzigs zu stärken. Im Zuge der Reform wird der Sächsische Rechnungshof zum Jahr 2020 von Leipzig nach Döbeln umziehen. ==== Wissenschaft ==== Leipzig beherbergt drei Max-Planck-Institute (für evolutionäre Anthropologie (MPI-EVA), Kognitions- und Neurowissenschaften (MPI-CBS) und Mathematik in den Naturwissenschaften (MPI-MIS)), das Fraunhofer-Institut für Zelltherapie und Immunologie (IZI), das Fraunhofer-Zentrum für Mittel- und Osteuropa (MOEZ), die Leibniz-Institute für Troposphärenforschung (TROPOS), Oberflächenmodifizierung (IOM), für jüdische Geschichte und Kultur – Simon Dubnow (DI), für Geschichte und Kultur des östlichen Europas (GWZO) und Länderkunde (IfL) sowie das Helmholtz-Zentrum für Umweltforschung – UFZ. Seit 2008 befinden sich außerdem das Deutsche Biomasseforschungszentrum (DBFZ), das Forschungs- und Transferinstitut Institut für Angewandte Informatik (InfAI), sowie das Deutsche Zentrum für integrative Biodiversitätsforschung (iDiv) in Leipzig. Die Stadt Leipzig ist weiterhin „Korporativ Förderndes Mitglied“ der Max-Planck-Gesellschaft. Des Weiteren betreibt der Deutsche Wetterdienst eine Außenstelle in Leipzig.Die Sächsische Akademie der Wissenschaften wurde als wissenschaftliche Organisation 1846 in Leipzig gegründet und hat hier am Standort der Sächsischen Landesuniversität ihren Sitz. === Städtebau === Leipzig verfügt noch über einen beträchtlichen Teil der Vorkriegsbebauung, die während der Gründerzeit, um die Jahrhundertwende sowie in der Weimarer Republik entstand. Diese kompakten Altbauviertel wurden zu DDR-Zeiten vernachlässigt und verfielen. Stattdessen wurde zwischen 1960 und 1980 auf Großsiedlungen, wie Grünau und Paunsdorf, gesetzt, die etwa 40 Prozent der nach 1945 in Leipzig entstandenen Wohnungen ausmachen. Eine Umstellung der Wohnungsbaupolitik in Richtung auf den Grundsatz der „Stadterneuerung im Bestand“ hat nun die großflächige Restaurierung der Gründerzeitquartiere zum Ziel. Leipzig stand 1990 vor dem Problem, dass 196.000 der 257.000 Wohnungen sanierungsbedürftig waren. In den Gründerzeitvierteln waren davon 103.000 Wohnungen betroffen. Ein Großteil der Quartiere in Plagwitz, Reudnitz und Connewitz war baufällig und drohte einzustürzen. Die Dächer waren nur notdürftig repariert, mehrere Straßenzüge komplett und dauerhaft eingerüstet, um Passanten vor herabfallenden Gebäudeteilen zu schützen. Mit der politischen Wende in der DDR nahmen sich die Medien dieses Problems an. Das DDR-Fernsehen sendete im November 1989 die aufsehenerregende Reportage „Ist Leipzig noch zu retten?“, die den Verfall Leipzigs am Beispiel des Stadtteils Plagwitz ungeschminkt darstellte. Insgesamt konzentrierte sich die Stadterneuerung im Bereich der Gründerzeitbebauung auf 13 Gebiete mit 464 Hektar und 29.000 Wohnungen. Ein Beispiel dafür ist das zwischen der Innenstadt und dem Rosental gelegene Waldstraßenviertel. Es ist eines der wenigen vollständig erhaltenen Gründerzeit-Wohngebiete in Deutschland. Auf einer Fläche von über 100 Hektar sind von 845 Gebäuden 626 als Einzeldenkmale ausgewiesen. Für ihre Strategie zum Erhalt dieses Ensembles erhielt die Stadt beim Bundeswettbewerb vom Bundesministerium für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau 1994 eine Goldmedaille. Ein Großteil der Altbausubstanz wurde in den ersten Jahren nach 1990 saniert. Direkte und indirekte staatliche Fördermodelle wie Investitionszulagen und Sonderabschreibungen trieben den Sanierungsprozess dabei wesentlich voran. Der Anteil des Wohnungsneubaus blieb dabei im Vergleich zur Zahl der Sanierungen von Altsubstanz sehr gering. Eine intensive Bautätigkeit betraf Anfang der 1990er Jahre insbesondere die Leipziger Innenstadt; damit im Zusammenhang steht auch das Wirken um Jürgen Schneider, der einen Immobilienskandal verursachte und sich dennoch eines gewissen Nimbus als Retter historischer Bauten erfreut, wenngleich wertvolle historische Bauten wie Barthels Hof noch unter dem von Schneider begonnenen Umbau weitgehend entkernt wurden; Thiemes Hof blieb unsaniert und wurde später abgerissen. In den weiteren Jahren wurde die Innenstadt aufwändig saniert, allerdings wurden zahlreiche historische Bauten entkernt, so dass sich das historische Stadtbild oft nur noch auf die Fassade beschränkt (vgl.). Mit einer einsetzenden Suburbanisierung infolge neu entstandener Einfamilienhaussiedlungen und der überregionalen Abwanderung in den 1990er Jahren kam es aufgrund fehlender Lenkungsmaßnahmen zu einem großen Überhang an Wohnraum. Der Leipziger Wohnungsmarkt war dadurch stark gesättigt. Investitionen in verbliebene unsanierte Objekte verringerten sich entsprechend der Marktsituation erheblich und erfolgten seitdem wesentlich gezielter meist in den attraktiveren Wohnlagen, die aufgrund der dort höheren Wohnraumnachfrage höhere Grundmieten ermöglichen. Es zeigte sich eine grundsätzliche Bevorzugung gegenüber unattraktiveren Gebieten (Stand 2011), obwohl das Investitionspotenzial in den attraktiveren Vierteln mit einem hohen Sanierungsstand nahezu ausgeschöpft ist. Daraus resultierend ist seit 1997 eine heterogene Entwicklung zwischen attraktiveren Standorten und solchen Altbauvierteln erkennbar, die in ihrer Entwicklung und Erneuerung zurückbleiben. Standen von den gründerzeitlichen Wohnungen, die saniert wurden, im Jahre 2000 etwa 2 Prozent leer, so waren von den unsanierten Wohnungen 71 Prozent unbewohnt. Im Jahre 2004 waren ca. 3.000 Gründerzeithäuser noch nicht saniert. Dem Leerstand versuchte das Stadtumbau-Ost-Programm entgegenzuwirken. Da dieses auch den Abriss historisch wertvoller Bauten nicht ausschloss, kam es in den 2000er Jahren zu einer regelrechten Abrisswelle von Gründerzeithäusern, nicht nur in Leipzig. Bis zum Jahre 2006 verschwanden hier 446 der denkmalgeschützten Gründerzeithäuser, so auch die Kleine Funkenburg oder das sogenannte Märchenhaus, was zu Protesten in der Bevölkerung und zur Gründung des Vereins Stadtforum Leipzig e. V. führte. Mit dem einsetzenden Bevölkerungswachstum in den Folgejahren zog die Nachfrage nach Gründerzeitwohnungen wieder stark an. Aufgrund ihrer höheren baulichen und architektonischen Qualität und der oftmals besseren Lage wurden die sanierten Altbaustandorte den nunmehr ebenfalls größtenteils sanierten Großwohnsiedlungen vorgezogen. Dies führt zu einer beginnenden Verödung der Neubauviertel in Plattenbauweise. Dort wurde versucht, mit teilweisem Rückbau und Umfeldaufwertungen eine Gesundung der Immobilienstruktur in der Stadt zu erreichen. Mit dem Bevölkerungswachstum schwächt sich mittlerweile dieser Trend ab, und die Plattenbauviertel erfahren sogar teilweise wieder eine punktuelle Verdichtung durch Neubauten. === Bildung und Forschung === ==== Universität Leipzig ==== Die 1409 gegründete Universität Leipzig (Alma Mater Lipsiensis) ist die zweitälteste durchgehend bestehende Universität auf dem Gebiet der heutigen Bundesrepublik Deutschland. Sie wurde 1953 in Karl-Marx-Universität umbenannt, 1991 wurde der Namenszusatz wieder entfernt. Anfang der 1990er Jahre wurde nach der Schließung der Deutschen Hochschule für Körperkultur (DHfK) als Ersatz eine Sportfakultät gegründet und die ehemalige Pädagogische Hochschule „Clara Zetkin“ angeschlossen. Die Universität hat 14 Fakultäten und einige angeschlossene Institute wie das Herder-Institut und das aus dem Literaturinstitut „Johannes R. Becher“ der DDR hervorgegangene Deutsche Literaturinstitut (DLL). An dieser im deutschsprachigen Raum einmaligen Lehranstalt werden in einem künstlerischen Studiengang Schriftsteller ausgebildet. 2009 fanden vom 9. Mai bis Mitte Dezember die Jubiläumsfeierlichkeiten zum 600. Geburtstag der Alma Mater Lipsiensis statt. An der Universität Leipzig waren im Wintersemester 2019/2020 3248 (11,2 %) der eingeschriebenen Studierenden ausländische Studierende.An der Leipziger Universität wurden einige bahnbrechende Forschungsleistungen erzielt. Hier unterrichteten unter anderem die Nobelpreisträger Werner Heisenberg, Gustav Hertz, Nathan Söderblom und Wilhelm Ostwald sowie der Begründer der experimentellen Psychologie Wilhelm Wundt. In den Fächern Soziologie und Psychologie wurde hier eine sogenannte „Leipziger Schule“ begründet. Prominente Studenten an der Universität waren unter anderem Georgius Agricola, Tycho Brahe, Johann Gottlieb Fichte, Johann Wolfgang von Goethe, Ulrich von Hutten, Erich Kästner, Gottfried Wilhelm Leibniz, Gotthold Ephraim Lessing, Karl Liebknecht, Angela Merkel, Thomas Müntzer, Friedrich Nietzsche, Novalis, Leopold von Ranke, Ferdinand de Saussure, Robert Schumann, Johann Gottfried Seume, Georg Philipp Telemann und Richard Wagner. ==== Hochschulen ==== Die Hochschule für Grafik und Buchkunst Leipzig (HGB) wurde bereits 1764 als Zeichnungs-, Mahlerey- und Architecturakademie gegründet. Einer ihrer berühmtesten Studenten war Johann Wolfgang Goethe. 1901 wurde die Einrichtung in Königliche Akademie für graphische Künste und Buchgewerbe umbenannt, 1947 erhielt sie ihre heutige Ausprägung. Die HGB zählt zu den renommiertesten Kunsthochschulen Deutschlands. Nachdem sich hier bereits in den 1970er und 1980er Jahren mit der Leipziger Schule eine eigene Strömung in der Malerei gebildet hatte, werden seit Ende der 1990er Jahre Werke von Neo Rauch und anderen namhaften Künstlern als Neue Leipziger Schule bezeichnet. Die Hochschule für Musik und Theater „Felix Mendelssohn Bartholdy“ Leipzig entstand 1843 als Leipziger Konservatorium und war die erste höhere musikalische Bildungsstätte in Deutschland. Einer ihrer Mitbegründer war Felix Mendelssohn Bartholdy. 1992 wurde durch die Eingliederung der Theaterhochschule „Hans Otto“ das Ausbildungsprofil erweitert. Die Handelshochschule Leipzig (HHL) wurde am 25. April 1898 gegründet. Die seit 2012 auch unter dem Namen HHL Leipzig Graduate School of Management bekannte private Universität ist die älteste Business School Deutschlands und bildet Führungskräfte sowie Manager von Morgen aus. Neben Master- und MBA-Programmen beinhaltet das Programmportfolio auch Management-Weiterbildungen.Zudem befindet sich mit der Designhochschule eine private Akademie für die Bachelor-Studiengänge Game-, Grafik- und Modedesign in Leipzig.Die britische Lancaster University betreibt unter dem Namen Lancaster University Leipzig einen Studienstandort in Leipzig. ==== Fachhochschulen ==== Die Hochschule für Technik, Wirtschaft und Kultur Leipzig (HTWK) trägt seit 1992 ihren heutigen Namen und entstand aus der Technischen Hochschule Leipzig. Letztere wurde 1977 durch die Zusammenlegung der Hochschule für Bauwesen Leipzig, der Ingenieurhochschule Leipzig, der Fachschule für Bibliothekare und Buchhändler, der Fachschule für wissenschaftliches Bibliothekswesen sowie dem Institut für Museologie gebildet. Mit etwa 6300 (Stand Sommersemester 2009) immatrikulierten Studenten ist die HTWK Leipzig die größte Fachhochschule Sachsens. Die Hochschule für Telekommunikation (HfTL) ist eine Fachhochschule in privater Trägerschaft der Deutschen Telekom AG und wurde 1991 als Fachhochschule der Deutschen Bundespost TELEKOM durch den Freistaat Sachsen staatlich anerkannt. Weitere höhere Bildungseinrichtungen sind die AKAD-Fachhochschule Leipzig, die Hochschule für Kreativitätspädagogik (HfK), die Diploma Hochschule und die Studienakademie Leipzig, eine Zweigstelle der Berufsakademie Sachsen. 2008 eröffnete die Essener FOM – Hochschule für Oekonomie und Management ein Studienzentrum in Leipzig. Die Deutsche Hochschule für Prävention und Gesundheitsmanagement betreibt außerdem noch ein Studienzentrum in der Stadt. Im November 2017 eröffnet die SRH Fernhochschule – The Mobile University ein Studienzentrum in der Leipziger Innenstadt. ==== Allgemeinbildende Schulen ==== Aufgrund der wachsenden Einwohnerzahl ist auch die Anzahl der allgemeinbildenden Schulen in den letzten Jahren wieder gestiegen. So beherbergt die Stadt momentan 76 Grundschulen, 28 Oberschulen, 21 Gymnasien, 18 Förderschulen sowie eine freie Waldorfschule. Aufgrund der Bevölkerungsentwicklung fehlen demnächst 80 Schulen und 30 Kindergärten. Leipzig ist einer der Standorte der Bernd-Blindow-Schule, an denen berufliche Aus- und Weiterbildung, die Fachhochschulreife, das Abitur und sogar verschiedene Studiengänge angeboten werden. ==== Deutsche Nationalbibliothek Leipzig ==== Die Deutsche Bücherei wurde 1912 in Leipzig gegründet und diente bis zur deutschen Teilung als alleinige Sammelstätte für die gesamte deutschsprachige Literatur ab 1913. 1990 wurde sie in Die Deutsche Bibliothek integriert, seit 2006 ist sie Teil der Deutschen Nationalbibliothek (DNB), zu der die 1947 gegründete Deutsche Bibliothek in Frankfurt am Main und das 1970 gegründete Deutsche Musikarchiv gehören. Letzteres ist inzwischen von Berlin nach Leipzig umgezogen. === Verkehr === Leipzig war durch die Lage an der Kreuzung der Fernstraßen Via Regia und Via Imperii bereits frühzeitig ein wichtiger Verkehrsknotenpunkt. Die erste deutsche Fernbahnstrecke der Leipzig-Dresdner Eisenbahn-Compagnie führt seit 1839 von Leipzig nach Dresden. Insbesondere durch die nach der politischen Wende 1989/1990 investierten Mittel für die Modernisierung und den Ausbau der Fernstraßen-, Schienen- und Flugverkehrsanbindung kann Leipzig eine hervorragende Verkehrsinfrastruktur vorweisen. Die folgende Tabelle zeigt die Verteilung der in der Stadt zurückgelegten Wege auf die verschiedenen Verkehrsmittel (den sogenannten Modal Split) in ausgewählten Jahren seit 2003: Es ist festzustellen, dass der Anteil der im PKW zurückgelegten Wege zurückgegangen ist, während der Anteil von Fußverkehr, Radverkehr sowie öffentlichem Verkehr gestiegen ist. Der zuständige Bürgermeister Martin zur Nedden spricht von einer „positiven Entwicklung im Sinne der Leitlinien“. ==== Schienenverkehr ==== Der 1915 eröffnete Leipziger Hauptbahnhof ist hinsichtlich der überbauten Fläche der größte Kopfbahnhof Europas. Zugleich ist er ein überregional wichtiger Knotenpunkt im ICE- und Intercity-Netz der Deutschen Bahn sowie Verknüpfungspunkt des S-Bahn- und Regionalverkehrs im Ballungsraum Leipzig-Halle. Leipzig war in der Frühphase der Industrialisierung gemäß den Plänen des Nationalökonomen Friedrich List zum Zentrum des deutschen Schienenfernverkehrs auserkoren, demzufolge wurde hier auch die erste deutsche Fernstrecke (Leipzig-Dresden)1839 eröffnet. Daneben verfügt die Stadt mit dem Porticus des Bayerischen Bahnhofs über einen der ältesten europäischen Kopfbahnhöfe (Verkehr eingestellt). In Leipzig kreuzen sich die Intercity-Express-Strecken (Hamburg–) Berlin–Leipzig–Erfurt–Nürnberg–München und Dresden–Leipzig–Erfurt–Frankfurt am Main–(Wiesbaden/Saarbrücken) und befahren dabei zwischen Erfurt und Leipzig gemeinsam die Schnellfahrstrecke VDE 8 über den Flughafen Leipzig/Halle. Außerdem ist Leipzig Ausgangspunkt der Intercity-Linien Leipzig–Halle (Saale)–Magdeburg–Braunschweig–Hannover–Dortmund–Köln beziehungsweise Bremen–Oldenburg (–Norddeich Mole). Beide Linien ergänzen sich zum Stunden-Takt und halten am Flughafen Leipzig/Halle. Die einzige internationale Verbindung ist der täglich verkehrende Intercity Wien–Linz–Passau–Nürnberg–Saalfeld–Halle–Leipzig–Berlin–Rostock–(Warnemünde). Im Regionalverkehr sind die meisten Groß- und Mittelstädte in Sachsen sowie im südlichen Sachsen-Anhalt ohne Umsteigen erreichbar. Auch in Richtung Falkenberg/Elster–Cottbus beziehungsweise Hoyerswerda und Dessau–Magdeburg sowie Chemnitz bestehen Direktverbindungen durch Regional-Express-Linien. Das benachbarte Halle (Saale) ist über zwei S-Bahn-Linien, von denen eine stündlich über den Flughafen Leipzig/Halle verkehrt, erreichbar. Das Leipziger Umland wird durch zahlreiche Regionalbahn- und S-Bahn-Linien erschlossen. Die Bahnanbindung der Stadt wird zurzeit durch große Bauprojekte, insbesondere im Rahmen der Verkehrsprojekte Deutsche Einheit, stark verbessert. So wurde die Strecke nach Berlin ausgebaut und ist seit 2006 mit 200 km/h befahrbar. Am 13. Dezember 2015 wurde die für 300 km/h ausgelegte Hochgeschwindigkeitsstrecke von Leipzig nach Erfurt in Betrieb genommen. Die Fertigstellung deren Weiterführung nach Nürnberg erfolgte im Dezember 2017. Durch diese Einbindung in das Hochgeschwindigkeitsnetz wurden die Fahrzeiten der ICE von Leipzig in Richtung Nürnberg, München und Frankfurt am Main erheblich reduziert. Die Bahnstrecke Leipzig–Dresden, die 1839 als erste deutsche Fernbahn in Betrieb ging, befindet sich ebenfalls im Ausbau für 200 km/h. Bedeutendstes Bauvorhaben im Regionalverkehr war der im Dezember 2013 als Stammstrecke der S-Bahn Mitteldeutschland in Betrieb genommene, vier Kilometer lange City-Tunnel. Für den Güterverkehr gibt es Güterbahnhöfe in den Stadtteilen Wahren und Engelsdorf. Außerdem wurde in der Nähe des Schkeuditzer Kreuzes für den Warenumschlag zwischen Straße und Bahn ein großes Güterverkehrszentrum eingerichtet sowie ein Güterbahnhof auf dem Gelände des DHL-Hubs auf dem Flughafen Leipzig/Halle. ==== S-Bahn ==== Leipzig ist der Kern des Liniennetzes der S-Bahn Mitteldeutschland. Sechs der insgesamt elf Linien bilden zusammen mit der Straßenbahn das Rückgrat des öffentlichen Personennahverkehrs und eine wichtige Anbindung an die Region und ins benachbarte Halle. Stammstrecke der S-Bahn bilden die durch den City-Tunnel verbundenen unterirdischen S-Bahnhöfe Hauptbahnhof (tief), Markt, Wilhelm-Leuschner-Platz und Bayerischer Bahnhof sowie die oberirdische Station Leipzig MDR. Im Leipziger Stadtgebiet befinden sich insgesamt 30 S-Bahnhöfe. Endpunkte der S-Bahnstrecken sind unter anderem Oschatz, Zwickau, Geithain und Bitterfeld. Nach Halle verkehren zwei Linien, eine davon über den Flughafen Leipzig/Halle. 2015 erfolgen Erweiterungen des Netzes bis Dessau und Lutherstadt Wittenberg. Mit Fahrplanwechsel im Dezember 2004 wurden die Netze von Leipzig und Halle zur S-Bahn Leipzig-Halle zusammengefasst. Dieses Netz diente jedoch nur als Übergangslösung und wurde am 15. Dezember 2013 durch die S-Bahn Mitteldeutschland ersetzt. Gleichzeitig ging der als City-Tunnel Leipzig vermarktete Stammstreckentunnel in Betrieb. Der knapp vier Kilometer lange Tunnel unterquert die komplette Innenstadt vom Hauptbahnhof zum Bayerischen Bahnhof. Die S-Bahnhöfe liegen bis zu 22 Meter unter der Erde. Mit dem Bau wurde erstmals eine durchgängige Nord-Süd-Achse hergestellt, die durch den nach Norden ausgerichteten Kopfbahnhof bisher nicht existierte. Die Anbindung an den Süden der Stadt und des Bundeslandes wird dadurch stark verbessert. ==== Straßenbahn und Bus ==== Die seit dem 1. Januar 1917 bestehenden Leipziger Verkehrsbetriebe (LVB) unterhalten in der Stadt insgesamt 13 Straßenbahnlinien, 51 Buslinien und zwei Ridepooling-Bediengebiete. Auf wichtigen Straßenbahnstrecken, die einen Stadtbahnausbau erlauben, wird dieser nach und nach vorangetrieben. Dieser Ausbau ist bei den Linien 15 (mit Ausnahme von zwei Teilstücken) und 16 bereits erfolgt. Die Linien 11 und 7 (Ostabschnitt) sind die nächsten Strecken, auf denen der Stadtbahnausbau vorgesehen ist. Darüber hinaus finden an weiteren Linien Ausbauarbeiten statt. Es wurden jedoch einige weniger stark frequentierte Straßenbahnlinien eingestellt. Der Nordabschnitt der Linie 14 wurde im Dezember 2008 aufgegeben – dagegen ist der Westabschnitt selbiger Linie erhalten geblieben. Im Oktober 2010 wurden im Zuge der Einführung des neuen Busnetzes die Linien 2 und 8 auf ihrem jeweiligen Westabschnitt um einige Haltestellen gekürzt. Die Busnetzreform vom Oktober 2010 war eine Reaktion auf die sich verschiebende Einwohnerverteilung in den Stadtteilen sowie die bevorstehenden Veränderungen im S-Bahn-Netz. Nach der Einführung der neuen S-Bahn Mitteldeutschland wurde 2015 die Straßenbahnlinie 9 zwischen Connewitz und Markkleeberg-West eingestellt. Insgesamt umfasst das Straßenbahnnetz eine Streckenlänge von 146 Kilometern und ist damit vor Dresden mit 134,3 Kilometern das größte in Sachsen und das zweitgrößte in Deutschland (nach Berlin mit 193,6 km). Die längste Linie im Leipziger Netz ist die Linie 11, die auf 22 Kilometern Schkeuditz mit Markkleeberg-Ost verbindet und dabei als einzige Leipziger Straßenbahnlinie in drei Tarifzonen des Mitteldeutschen Verkehrsverbundes fährt. Die LVB modernisieren seit Jahren ihren Fuhrpark, insbesondere mit dem NGT12 („Classic XXL“), dem Leoliner und dem Tramino („XL“). Im Nachtverkehr verkehren die Nachtbuslinien N1 bis N9 sowie die Nachtstraßenbahn N17. An Samstagen, Sonn- und Feiertagen verkehren zusätzlich die Straßenbahnlinie N10 und die Buslinie N60. Zentraler Umsteigepunkt zwischen den Bus- und Straßenbahnlinien sowie zur S-Bahn ist der Hauptbahnhof Leipzig. ==== Radverkehr ==== Der Anteil des Radverkehrs am gesamten Verkehrsaufkommen betrug 2015 in Leipzig 17,3 Prozent. Einmal im Monat findet in Leipzig eine Critical Mass statt, um gemeinsam auf den Radverkehr als Form des Individualverkehrs aufmerksam zu machen.Seit 2004 gibt es mit Nextbike ein Fahrradverleihsystem. Die Ausleihe und Rückgabe ist per Smartphone-App oder telefonisch möglich. Seit 2018 ermöglicht das System die flexible Ausleihe und Rückgabe im inneren Stadtgebiet. Damit können in dieser Zone die Räder an nahezu jeder Straßenecke abgegeben und wieder ausgeliehen werden. Außerhalb dieser Zonen bestehen Stationen, an denen Räder bereitstehen. Die aktuellen Standorte der Räder sind über die App ersichtlich. Das Lastenradkollektiv Kolara verleiht Lastenräder. Es gibt Kooperationsangebote mit den Leipziger Verkehrsbetrieben und Carsharing, um eine möglichst lückenlose Mobilitätskette zu bieten. ==== Fußverkehr ==== Der Anteil des Fußverkehrs am gesamten Verkehrsaufkommen betrug 2008 in Leipzig 27,3 Prozent und im Jahr 2015 25,4 Prozent. Ziel für 2025 sind 27 Prozent. ==== Straßenverkehr ==== An Leipzig führen mehrere Bundesautobahnen vorbei: im Norden die , im Westen die und im Süden die . Die drei Autobahnen bilden einen dreieckigen Teilring des Autobahndoppelringes Mitteldeutsche Schleife um Halle und Leipzig. In Richtung Süden nach Chemnitz ist die bis Rötha noch in Bau. Außerdem wird derzeit eine bestandsnahe Neutrassierung der in Taucha geplant. Auch die nach Merseburg soll neu trassiert werden. Durch das Stadtgebiet führen die Bundesstraßen , , , , und . Der Ring, der dem Verlauf der alten Stadtbefestigung entspricht, umführt die Innenstadt Leipzigs, die in weiten Teilen verkehrsberuhigt ist. Neben dem üblichen Taxi-Angebot verfügt Leipzig über ein dichtes Netz an Carsharing-Stationen sowie ein Carsharing-Freefloating-Angebot. Bis Anfang 2022 gab es in Leipzig auch ein individuell über App buchbares Ridepooling-Angebot. ==== Flugverkehr ==== Der Leipzig/Halle Airport ist der internationale Verkehrsflughafen der gleichnamigen Region. Er befindet sich am Schkeuditzer Kreuz nordwestlich von Leipzig auf halber Strecke zwischen den beiden Großstädten. Durch den östlichsten Abschnitt der Neubaustrecke Erfurt–Leipzig/Halle erhielt der Flughafen einen Fernbahnhof, der 2015 mit deren Fertigstellung in das ICE-Netz eingebunden wurde. Angeflogen werden im Passagierbereich die großen deutschen Drehkreuzflughäfen, europäische Metropolen und Ferienziele vor allem im Mittelmeerraum und Nordafrika. Internationale Bedeutung hat der Flughafen im Frachtbereich. Hier belegt er in Deutschland den zweiten Platz nach Frankfurt am Main, in Europa den fünften und weltweit den 26. Platz (Stand 2015). DHL nutzt den Flughafen als zentralen Europa-Hub. Außerdem ist er die Heimatbasis der Frachtfluggesellschaften Aerologic und European Air Transport Leipzig. Der Flughafen Leipzig-Altenburg befindet sich etwa 40 Kilometer südlich der Innenstadt der Nähe der ostthüringischen Stadt Altenburg. Bis 2010/2011 bot Ryanair dort Verbindungen nach Barcelona und London. ==== Fernbusse ==== Seit März 2018 gibt es unmittelbar östlich des Leipziger Hauptbahnhofs einen zentralen Busbahnhof. Das neue Terminal bietet neun überdachte Bussteige – sogenannte Gates. Neben einer Vielzahl nationaler, bedienen einige internationale Linien Leipzig. So können unter anderem die Städte Bregenz, Budapest, Mailand, Prag, Sofia oder Zürich umsteigefrei erreicht werden. Erwartet werden am neuen Busbahnhof pro Jahr rund 30.000 Fahrten und 1,5 Millionen Passagiere.Einige Linien nutzen den am Autobahnkreuz A9/A14 gelegenen Flughafen Leipzig/Halle und die Leipziger Messe für einen Stopp. Passagiere können von dort mit der S-Bahn die Innenstadt erreichen. ==== Schifffahrt ==== In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts wurde der Bau des Elster-Saale-Kanals, der Weiße Elster und Saale verbinden sollte, begonnen, um Leipzig an das Wasserstraßennetz anzuschließen. Der Ausbruch des Zweiten Weltkrieges stoppte die Arbeiten. Der Lindenauer Hafen war zwar fast fertiggestellt, aber noch nicht an den Elster-Saale- und erst 2015 an den Karl-Heine-Kanal angeschlossen worden. Die Leipziger Flüsse (Weiße Elster, Neue Luppe, Pleiße, Parthe) haben im Stadtraum größtenteils künstliche Flussbetten und werden durch einige Kanäle ergänzt. Diese Wasserwege eignen sich nur für muskelbetriebene Boote. Durch die Anlage neuer und den Ausbau vorhandener Gräben und Fließgewässer im Süden der Stadt und die Verbindung gefluteter Tagebaurestlöcher soll ein Gewässerverbund entstehen. Mehrfach geplant war weiterhin die Fertigstellung des Elster-Saale-Kanals. Ein solcher Schritt würde es Sportbooten ermöglichen, von Leipzig bis zur Elbe (Von der Elster an die Alster) zu gelangen. Im Februar 2012 wurde eine Potenzialanalyse vorgestellt. Sie sieht Chancen für den Tourismus in der Region, in der Diskussion stehen jährlich eine halbe Million Touristen und Kosten von ca. 100 Millionen Euro. === Tourismus === Leipzig ist ein beliebtes Ziel für Städtereisen und besitzt eine ausgebaute touristische Infrastruktur. 2016 besuchten rund 1,5 Millionen Touristen die Stadt bei etwa 2,8 Millionen Übernachtungen; es gab 122 Hotels/Pensionen mit 15.000 Betten. Die Zahlen konnten seit 2012 stetig gesteigert werden. Der Umsatz im Gastgewerbe und die zusätzlichen Umsätze durch Gäste in der Stadt betrugen 1,1 Milliarden Euro (2012). Die meisten Touristen (Werte 2012) kommen dabei aus anderen Teilen Deutschlands (ca. 840.000). Gäste aus anderen europäischen Staaten stammen zum großen Teil aus Großbritannien (ca. 11.800) und den Niederlanden (ca. 11.000), interkontinental sind US-Amerikaner (ca. 25.000) und Japaner (ca. 5600) am stärksten vertreten. In der neuesten Auflage von 2021 des Reiseführers „Lonely Planet“ des Verlags MairDumont belegt Leipzig in der Topliste der 250 beliebtesten Reiseziele in Deutschland den ersten Platz.Der Lutherweg, die Straße der Braunkohle, der Radweg Berlin–Leipzig und der Elster-Radweg sind die wichtigsten Themen- bzw. Radwege, die Leipzig kreuzen bzw. dort enden. Der Radwanderweg Grüner Ring Leipzig umrundet die Stadt und führt durch umliegende Städte und Gemeinden. == Kultur und Sehenswürdigkeiten == === Lokale Besonderheiten === ==== Sprache ==== In Leipzig wird teilweise osterländisch gesprochen. Dieser Dialekt gehört zur thüringisch-obersächsischen Dialektgruppe. Ein über die Grenzen Sachsens bekanntes Lied in Leipziger Sprache war „Sing, mei Sachse, sing“ des Kabarettisten Jürgen Hart. Die Leipziger Kabarettbühnen bieten regelmäßig Programme in sächsischer Sprache, beispielsweise die bekannten Academixer sowie Bernd-Lutz Lange und Gunter Böhnke mit ihren Bühnenpartnern. Von den in Leipziger Mundart schreibenden Autoren ist vor allem Lene Voigt einem breiteren Publikum bekannt. Im örtlichen Dialekt klingt der Name der Stadt etwa wie „Laibzsch“. ==== Kulinarische Spezialitäten ==== Leipzig hat mehrere lokale Spezialitäten zu bieten, darunter das Leipziger Allerlei, die Leipziger Lerche und die Leipziger Gose. Das Leipziger Allerlei ist ein gemischtes Gemüse, das in der Originalversion mit Flusskrebsen, Krebsbutter und Semmelklößchen angerichtet wurde. Die Leipziger Lerchen wurden im 18. und 19. Jahrhundert tatsächlich aus Singvögeln hergestellt. Diese wurden beispielsweise als gefüllte Pasteten gereicht. Nachdem 1876 ein Fangverbot für Singvögel verhängt worden war, entwickelten findige Bäcker ein feines Gebäck, das aus Mürbeteig mit Marzipanfüllung besteht und nur noch in der Form an die damaligen Pasteten erinnert. Eine weniger bekannte süße Köstlichkeit sind die Leipziger Räbchen, in heißem Öl ausgebackene, mit Marzipan gefüllte Dörrpflaumen. Die Gose ist ein ursprünglich aus Goslar stammendes obergäriges Bier, das zu DDR-Zeiten kaum noch gebraut wurde, nun aber wieder vermehrt als Spezialität in Gasthäusern gereicht wird. Außerdem gibt es den Leipziger Allasch, einen ursprünglich aus dem Baltikum stammendem Kümmellikör. Dieser wird oft mit der Gose gemixt, so entsteht der „Regenschirm“. === Museen und Ausstellungen === ==== Museen ==== Wegen ihrer Geschichte als alte Universitäts- und Messestadt mit einem wohlhabenden Bürgertum gibt es in Leipzig eine große Anzahl bedeutender Sammlungen und Ausstellungen. Die Museumskonzeption 2030 der Stadt Leipzig sieht unter anderem vor, dass die Besuche der vier städtischen Museen zukünftig kostenlos sind.Das Deutsche Buch- und Schriftmuseum der Deutschen Bücherei Leipzig ist das weltweit älteste Fachmuseum zur Buch-, Schrift- und Papierkultur und erinnert zusammen mit dem Museum für Druckkunst an die Leipziger Tradition als Buchstadt. 2018 wurde das Reclam-Museum eröffnet, in dessen Mittelpunkt die 1876 begründete Reclams Universal-Bibliothek steht. Die Universität Leipzig besitzt eine Reihe bedeutender Sammlungen. Einige, wie das Ägyptische Museum, das Antikenmuseum und das Museum für Musikinstrumente, sind permanent der Öffentlichkeit zugänglich. Anlässlich der Museumsnacht der Stadt Leipzig präsentiert die Universität ihre Lehrsammlungen einem breiten Publikum. Die HTWK unterhält ein Automatik-Museum. Das Stadtgeschichtliche Museum ist im Alten Rathaus beheimatet. Darüber hinaus besitzt es Nebenstellen mit dem ältesten Kaffeehaus Deutschlands Zum Arabischen Coffe Baum, dem Schillerhaus, in dem Friedrich Schiller den Sommer 1785 verbrachte, dem 1977 gegründeten Sportmuseum Leipzig und dem Völkerschlachtdenkmal. Das Zeitgeschichtliche Forum in der Innenstadt untersteht als Bundeseinrichtung dem Bundeskanzleramt. Es stellt die Geschichte Deutschlands vom Zweiten Weltkrieg bis zur Gegenwart mit Schwerpunkt auf der Geschichte der DDR dar. Die Gedenkstätte Museum in der „Runden Ecke“ im ehemaligen Sitz der Bezirksverwaltung des Ministeriums für Staatssicherheit arbeitet die Mechanismen des Repressionsapparats in der DDR auf. Zum Thema der Völkerschlacht gibt es in Leipzig und Umgebung noch weitere Museen, wie das Zinnfigurenmuseum im Torhaus Dölitz, das Sanitäts- und Lazarettmuseum Seifertshain, das Körnerhaus Großzschocher, das Memorialmuseum Liebertwolkwitz und das Regionalmuseum im Torhaus Markkleeberg. Im Komplex des Grassimuseums befinden sich neben dem Musikinstrumentenmuseum auch das Museum für Angewandte Kunst und das Museum für Völkerkunde zu Leipzig. Das Naturkundemuseum Leipzig besitzt eine große Sammlung an Dermoplastiken und ergänzt dieses Angebot durch wechselnde Sonderausstellungen zu Naturthemen. Das Deutsche Kleingärtnermuseum befindet sich im Vereinshaus des 1864 gegründeten, weltweit ersten Schrebergartenvereins. Im Panometer, einem 1910 erbauten und 1977 stillgelegten Gasometer, ist das größte Panoramagemälde der Welt zu sehen. Yadegar Asisi hat hier von 2003 bis 2005 das Panorama 8848Everest360° des Mount Everest und von 2005 bis Februar 2009 Rom CCCXII und zwischen März 2009 und August 2013 Amazonien gezeigt. Im März bis Juni 2012 war mit EVEREST – Erlebnis zwischen Expedition und Tradition eine überarbeitete Version des Everest-Panoramas von 2003 nochmals zu sehen. Von August bis September 2013 war Leipzig 1813 zu besichtigen, danach das Great Barrier Reef, seit Januar 2017 das Wrack der Titanic und seit Anfang 2019 Carolas Garten.Seit 2000 gibt es das Da Capo Oldtimermuseum & Eventhalle. Das 2010 eröffnete Kindermuseum Leipzig bietet wechselnde Ausstellungen zu Themen, die Kinder interessieren. Außerdem gibt es mit dem Mitspielzeugmuseum eine große Sammlung historischer Spielzeuge aus der DDR und den ehemaligen Staaten des Ostblocks. Zur Erinnerung an die gleichnamigen Komponisten und Musiker existieren Ausstellungen im Schumann- und im Mendelssohn-Haus sowie das Bach-Archiv und das Bach-Museum. Weiterhin gibt es das Sächsische Psychiatriemuseum, das Sächsische Apothekenmuseum, die Medizinhistorische Sammlung des Karl-Sudhoff-Instituts, das Schulmuseum, das Eisenbahnmuseum, das N’Ostalgiemuseum, das Kriminalmuseum des Mittelalters und das Reichsgerichtsmuseum.Das Privatmuseum Haus der Computerspiele hat keine festen Räumlichkeiten, erreicht aber als Wanderausstellung auf Messen und Festivals jährlich mehrere hunderttausend Besucher. ==== Bildende Kunst ==== Das 1837 durch den Leipziger Kunstverein gegründete Museum der bildenden Künste besitzt eine der eindrucksvollsten Bildersammlungen Deutschlands, die etwa 58.500 Exponate vom Spätmittelalter bis zur Moderne zeigt, darunter einige Exponate der Neuen Leipziger Schule, deren bekanntester Vertreter wohl Neo Rauch ist. Die 1990 gegründete Galerie für Zeitgenössische Kunst ergänzt dieses Angebot mit wechselnden Ausstellungen moderner und zeitgenössischer Kunst. Im Mai 2005 eröffnete in der Baumwollspinnerei in Lindenau ein Galeriezentrum. Elf kommerzielle und zwei nicht-kommerzielle Kunsträume präsentieren zeitgenössische Arbeiten. Rund 80 Künstler unterhalten auf dem Gelände Ateliers. Weitere kommerzielle Kunstzentren befinden sich im Tapetenwerk Leipzig, der Alten Handelsschule mit der LSOD Leipzig School of Design, dem Westwerk und im Kunstkraftwerk am Karl-Heine-Kanal. 2015 wurde die erste Leipziger Kunstmesse eröffnet, und findet seitdem jährlich statt. Darüber hinaus gibt es im Stadtgebiet zahlreiche Galerien, Kunstvereine und temporäre Projekte, die für einen regen Ausstellungsbetrieb sorgen, etwa die Universität mit einer ständigen Ausstellung von Stücken aus ihrer Kunstsammlung und die Kunsthalle der Sparkasse Leipzig. Die G2 Kunsthalle am Thomaskirchhof eröffnete im März 2015 als Privatmuseum und zeigt Positionen zur zeitgenössischen Kunst. Um die Kunst zu fördern und zu diskutieren, wurde am 17. Juni 1992 die Freie Akademie der Künste zu Leipzig nach dem Vorbild der Freien Akademie der Künste in Hamburg gegründet. === Musik und Theater === ==== Theater und Oper ==== Von Leipzig aus reformierten im 18. Jahrhundert Friederike Caroline Neuber und Johann Christoph Gottsched die deutsche Theaterlandschaft. So verfügt das Schauspiel Leipzig über mehrere Spielstätten. Zu dem städtischen Betrieb gehören neben der großen Bühne im Schauspielhaus auch kleinere Spielstätten wie die Diskothek, die Baustelle und die Residenz. Das Schauspiel Leipzig wird seit 2013/2014 von Enrico Lübbe geleitet und gehört zu den führenden Sprechtheatern im deutschsprachigen Raum mit Einladungen zum Berliner Theatertreffen, den Mülheimer Theatertagen, Ruhrfestspielen Recklinghausen, Autorentheatertagen Berlin, Heidelberger Stückemarkt und Biennale in Venedig. Zudem gibt es in Leipzig eine lebendige Off-Theater-Szene mit zahlreichen freien Theatergruppen und mehreren kleineren Spielstätten (LOFFT, Schaubühne Lindenfels, Ost-Passage Theater und weitere). Eine Reihe freier Choreographinnen und Tänzerinnen sorgen für ambitioniertes Tanztheater, seit 1967 existiert das Leipziger Tanztheater. Teile der Off-Kultur haben sich zur Interessengemeinschaft Freie Szene Leipzig zusammengeschlossen. Das Kinder- und Jugendtheater hat in Leipzig eine lange Tradition. Hauptträger ist das Theater der Jungen Welt, darüber hinaus gibt es einige Puppen- und Marionettentheater. Leipzig war und ist partiell immer noch eines der Zentren der deutschsprachigen Kabarett-, Varieté- und Kleinkunstszene. Zu den überregional bekannten Kabaretts zählen die Leipziger Pfeffermühle und die Academixer. Des Weiteren bestehen noch die Kabaretts Sanftwut, Funzel und Leipziger Brettl. Die Oper in Leipzig blickt auf eine über dreihundertjährige Tradition zurück. Das erste Opernhaus am Brühl wurde 1693 errichtet. Nach dem Teatro San Cassiano in Venedig und der Oper am Gänsemarkt Hamburg war dies das dritte bürgerliche Opernhaus. Neben dem in Leipzig geborenen Richard Wagner ist die Geschichte der Oper in Leipzig verknüpft mit Komponisten wie Georg Philipp Telemann, Heinrich Marschner und Albert Lortzing. Das heutige Opernhaus (Leipzig) wurde 1960 am Augustusplatz an der Stelle des im Zweiten Weltkrieg zerstörten Neuen Theaters fertiggestellt. Das Gewandhausorchester spielt seit 1840 bei allen Vorstellungen der Oper Leipzig. Ulf Schirmer ist ab der Spielzeit 2009/2010 Generalmusikdirektor der Oper Leipzig und wurde zur Spielzeit 2011/2012 auch Intendant des traditionsreichen Musiktheaters. Das Repertoire der Oper Leipzig reicht vom Barock bis zur Gegenwart. Das Kellertheater der Oper Leipzig ist die kleine, experimentelle Spielstätte mit 99 Plätzen für Produktionen der Oper Leipzig, unter anderem des Kinderchors der Oper Leipzig, kleineren szenischen Produktionen des Opernensembles, aber auch von Gastproduktionen freier Ensembles, so auch von Heike Hennig & Co. Aufgrund von Sparmaßnahmen wird das Kellertheater jedoch seit einigen Spielzeiten nicht mehr bespielt. Die Musikalische Komödie (MuKo) im Haus Dreilinden in Lindenau, die zur Oper Leipzig gehört, hat eine bis 1713 zurückgehende Geschichte. Hier werden Operette und Musical gepflegt, aber auch die deutsche Spieloper. ==== Orchester ==== Das Gewandhausorchester ist eines der international renommiertesten Orchester. Als ältestes bürgerliches Konzertorchester Deutschlands wurde es 1781 gegründet. Das Gewandhausorchester hat drei Spielstätten: das Gewandhaus, die Oper Leipzig und die Thomaskirche. Chefdirigenten waren unter anderem Felix Mendelssohn Bartholdy, Arthur Nikisch, Wilhelm Furtwängler, Bruno Walter, Václav Neumann, Kurt Masur, Herbert Blomstedt und Riccardo Chailly, seit 2018 hat Andris Nelsons das Amt des Gewandhauskapellmeisters (Chefdirigent des Gewandhausorchesters) inne. Ulf Schirmer ist seit der Spielzeit 2009/2010 Generalmusikdirektor an der Oper Leipzig. Das Neue Bachische Collegium Musicum wurde 1979 von Mitgliedern des Gewandhausorchesters gegründet. Als „historisches Bachorchester“ kombiniert es moderne Instrumente und „historische“ Spielweise, von 2004 bis 2013 wurde es von Albrecht Winter geleitet. Seitdem arbeitet es ohne festen künstlerischen Leiter. Das MDR-Sinfonieorchester wurde 1924 als Leipziger Sinfonieorchester gegründet. Es trat dabei die Nachfolge des seit 1915 existierenden Orchesters des Konzertvereins an. 1925 wurde es von der damaligen Mitteldeutschen Rundfunk AG übernommen und als Rundfunk-Sinfonieorchester Leipzig bekannt. Chefdirigent war unter anderem Herbert Kegel, Kristjan Järvi leitete das Orchester bis 2018. Nach Gründung des Mitteldeutschen Rundfunks 1991 erhielt es seinen neuen Namen. Die aus Musikern des Rundfunk-Sinfonieorchesters zusammengesetzte und von 1970 bis 1993 bestehende Gruppe Neue Musik Hanns Eisler gehörte zu den bedeutendsten Interpreten Neuer Musik in der DDR. Mitglieder der Gruppe gründeten 1990 das Forum Zeitgenössischer Musik Leipzig. Weiterhin war bis 1993 das Leipziger Consort und ist seit 1992 das Ensemble Sortisatio Träger Neuer Musik in Leipzig. Die Capella Fidicinia am Musikinstrumenten-Museum der Universität Leipzig wurde von Hans Grüß 1957 gegründet. Das Kammerorchester spielt Werke alter Meister auf Originalinstrumenten. Das Akademische Orchester Leipzig wurde 1954 von Horst Förster an der Universität Leipzig ins Leben gerufen, der es weiterhin leitet. Es gibt jährlich sechs „Akademische Konzerte“ im großen Saal des Gewandhauses. Bereits 1951 wurde das Leipziger Lehrerorchester durch Karl Winkler gegründet und ist somit das älteste Laiensinfonieorchester der Stadt, welches von Gerd-Eckehard Meißner geleitet wird und ebenfalls im Gewandhaus auftritt. Die Berufszugehörigkeit spielt keine Rolle mehr, der Name wird aus Tradition beibehalten. Das Leipziger Universitätsorchester entstand 2003 als Leipziger studentisches Orchester. Es ist studentisch besetzt und gibt ein großes Sinfoniekonzert pro Semester sowie Kammermusikabende. Das Pauliner Kammerorchester wurde 1992 gegründet und stand bis 2004 unter der Leitung von Wolfgang Unger. Es steht dem Universitätschor mit modernen Instrumenten zur Verfügung. Das Pauliner Barockensemble wurde 1994 aus dem Pauliner Kammerorchester heraus gebildet und musiziert ausschließlich auf historischem Instrumentarium. Das Jugendsinfonieorchester der Leipziger Musikschule gehört ebenfalls zu den bekannteren der Leipziger Orchesterszene. Die Kammerphilharmonie Leipzig besteht aus Musikern, die an der Hochschule für Musik und Theater „Felix Mendelssohn Bartholdy“ Leipzig studieren oder diese absolviert haben. Das seit 2001 bestehende Orchester konzertiert im Großen Saal des Leipziger Gewandhauses und im Konzerthaus Berlin; Konzertreisen führten unter anderem nach China und Indien. Die Kammerphilharmonie arbeitet unter der Leitung von Michael Köhler. Das Leipziger Streichquartett wurde 1988 von damaligen Studenten der Leipziger Hochschule für Musik und Theater und späteren Mitgliedern des Gewandhausorchesters gegründet. Es ist ein international anerkannter Bestandteil der Kammermusikszene. Das Ensemble Avantgarde um den Komponisten und Pianisten Steffen Schleiermacher war bis 2007 eine Vereinigung von Musikern verschiedener Leipziger Orchester, die sich der Musik des 20. Jahrhunderts widmete. Es gründete die Konzertreihe musica nova am Leipziger Gewandhaus. Seit 1957 organisiert der Verein Jugend- & Blasorchester Leipzig e. V. mehrere Ensembles des Laienmusizierens in der Stadt: die Pfiffigen Musikusse, das Symphonische Blasorchester Leipzig sowie die ISKRA Oldstars. ==== Chöre ==== Der weltberühmte Thomanerchor wurde 1212 zusammen mit der Thomasschule als Klosterschule für zwölf Knaben gegründet und mit der Reformation 1519 vom Stadtrat übernommen. Der bekannteste Thomaskantor war der Leipziger Musikdirektor Johann Sebastian Bach, der diese Stellung von 1723 bis zu seinem Tod 1750 innehatte. Es singen etwa 100 Thomaner im Alter von 9 bis 18 Jahren im Chor, der dreimal in der Woche in der Thomaskirche auftritt. Der GewandhausChor wurde 1861 durch Gewandhauskapellmeister Carl Reinecke gegründet und 1920 mit dem 1875 gegründeten Bach-Verein fusioniert. Die Leitung hat seit August 2007 Gregor Meyer in der Nachfolge Morten Schuldt-Jensens inne. Der 1973 gegründete GewandhausKinderchor zählt zu den Kinderchören Deutschlands mit internationalem Renommee. Der MDR-Rundfunkchor Leipzig entstand 1924 als Leipziger Oratorienvereinigung. Nach der Auflösung 1942 wurden im August 1946 die verbliebenen Künstler als Kammerchor des Senders Leipzig durch den Mitteldeutschen Rundfunk übernommen. Ab 1947 firmierte er als Rundfunkchor Leipzig. Unter der Leitung von Herbert Kegel, der den Chor von 1949 bis 1978 führte, etablierte sich das Ensemble als europäischer Spitzenchor. Seinen heutigen Namen trägt er seit der Neugründung des Mitteldeutschen Rundfunks und der gleichzeitigen Übernahme des Chors am 1. Januar 1992. Derzeitiger künstlerischer Leiter ist Risto Joost. Der MDR-Kinderchor wurde 1948 von Hans Sandig gegründet und ist der einzige Kinderchor der ARD. Derzeit leitet Alexander Schmitt das Ensemble. Der Leipziger Universitätschor ging 1926 aus dem Madrigalkreis Leipziger Studenten hervor. Sein Leiter ist der Universitätsmusikdirektor David Timm. Unter der Leitung des inzwischen verstorbenen Wolfgang Unger erhielt der Chor im Jahr 2001 den von der Deutschen Phono-Akademie vergebenen ECHO-Klassik-Preis. Der Leipziger Studentenchor Vivat academia wurde 1954 gegründet und vereint Studierende vieler Leipziger Hochschulen. Er arbeitet seit 2009 als Philharmonischer Jugendchor Leipzig, ist an der Hochschule für Telekommunikation Leipzig ansässig und wird von Marcus Friedrich geleitet. Der Leipziger Oratorienchor wurde 1993 als Laienchor gegründet und wird seither von Martin Krumbiegel geleitet. Als gemeinnütziger Verein wird er sowohl von seinen Mitgliedern wie auch aus Mitteln der Stadt getragen. Der 1962 von Oberkantor Werner Sander gegründete und seit 2012 von Ludwig Böhme geleitete Leipziger Synagogalchor stellt sich der Aufgabe, synagogale Musik des 19. und 20. Jahrhunderts sowie jiddische und hebräische Folklore als besonders wertvollen Bestandteil des jüdisch-kulturellen Erbes nicht nur in Leipzig zu erhalten und zu pflegen. Der Leipziger Männerchor wurde 1891 von Gustav Wohlgemuth gegründet. Die Schola Cantorum Leipzig ist der Kinder- und Jugendchor der Stadt Leipzig. 1963 gegründet, besteht sie aus über 300 singenden Kindern, Jugendlichen und jungen Erwachsenen. ==== Unesco-Initiative Musikstadt ==== Leipzig war und ist eine bedeutende Musikstadt. So erinnert das Bach-Archiv Leipzig am Thomaskirchhof mit einem Bach-Museum im Bosehaus – die Familie Bose war eng mit der Familie Bach befreundet – an eine der bedeutendsten Persönlichkeiten der Stadt. Eine Besonderheit in Leipzig ist, dass eine Vielzahl an Komponistenhäusern erhalten geblieben ist, in den meisten sind Museen eingerichtet worden: so das Wohn- und Sterbehaus von Felix Mendelssohn Bartholdy, das als Mendelssohn-Haus der Öffentlichkeit zugänglich ist, das Schumann-Haus, wo Robert und Clara Schumann ihre ersten vier Ehejahre verbrachten, und die Talstraße 10, wo sich die Edvard-Grieg-Gedenk- und Begegnungsstätte befindet. Die Wohnorte von Gustav Mahler und Erwin Schulhoff befinden sich unweit der Innenstadt im Waldstraßenviertel, hier erinnern Gedenktafeln an die Komponisten. Das Geburtshaus Richard Wagners am Brühl existiert zwar nicht mehr, aber auch dort erinnern eine Gedenktafel und ein Platz an den Musiker. Albert Lortzing hatte gleich mehrere Wohnstätten in Leipzig, zumeist im Waldstraßenviertel. Um das musikalische Erbe besser zu vermarkten, wurde eine UNESCO-Initiative gegründet, die Leipzig zu einem Welterbetitel verhelfen möchte. Zu diesem Zweck werden momentan mehrere Routen durch Leipzig geplant. Zum einen die „Notenspur“. Diese stellt einen etwa 5,1 Kilometer langen Spaziergang dar, der die Arbeits- oder Wohnorte der Komponisten beziehungsweise andere musikalischer Objekte von überregionaler Bedeutung miteinander verbindet. Zu den Einrichtungen gehören neben den Komponistenhäusern die Nikolai- und Thomaskirche als Uraufführungsorte der Werke von Bach, die Musikbibliothek Peters, das Gewandhaus, die Oper und das Café Zum Arabischen Coffe Baum. Der zweite Spaziergang, der „Notenbogen“, ist etwa fünf Kilometer lang und verbindet unter anderen das Alte Bachdenkmal, die Hochschule für Musik und Theater „Felix Mendelssohn Bartholdy“ als Wirkungsstätte Max Regers und die Blindenmusikbibliothek der Deutschen Zentralbibliothek für Blinde. Als Letztes ist noch ein Radweg geplant: das „Notenrad“. Es ist in zwei Schleifen gegliedert, die westliche und die östliche, wobei beide ungefähr die gleiche Länge haben und an das Stadtzentrum angeschlossen sind. Sie führen zum Beispiel von der Thomaskirche bis zum Rittergut Kleinzschocher. ==== Verbände ==== Als bedeutende Musikstadt haben sich in Leipzig die sächsischen Landesverbände des deutschen Tonkünstlerverbandes und des Verbandes Deutscher Musikschulen sowie der Sächsische Musikbund niedergelassen. === Freizeit und Unterhaltung === ==== Kino ==== Leipzig besitzt eine lebendige Kinoszene. Internationale Bedeutung gewann das seit 1955 alljährlich stattfindende Festival für Dokumentar- und Animationsfilm. Nach zunehmender Beeinflussung des Festivalprogramms durch staatliche Organe der DDR in den Jahren ab 1968 entwickelte es sich nach der Wiedervereinigung mit modernisierter Ausrichtung erneut zu einem Publikumsmagneten. Neben größeren Kinos, wie CineStar und Passage Kinos im Zentrum, Regina Filmpalast in Reudnitz und Cineplex Leipzig in Grünau präsentieren zahlreiche Programmkinos Filme für kleinere Zielgruppen. Eine Mischform stellt das Filmtheater Schauburg in Kleinzschocher dar. Einmal jährlich finden seit 1995 in mehreren Spielstätten des Großraumes Halle-Leipzig die Französischen Filmtage statt. Seit 2001 wird in Leipzig jährlich die Filmkunstmesse ausgerichtet. Im Sommer finden an verschiedenen Orten unter freiem Himmel Kinovorführungen statt. Zudem findet seit 1991 jährlich die Visionale Leipzig, ein Medienwettbewerb für Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene, statt. ==== Nachtleben ==== Das alltägliche kulturelle Leben spielt sich vor allem in der Innenstadt, in der Gottschedstraße und der Südvorstadt entlang der Karl-Liebknecht-Straße bis zum Stadtteil Connewitz sowie in Plagwitz entlang der Karl-Heine-Straße ab. Im Jahr 2018 schaffte der Leipziger Stadtrat die Sperrstunde für Gastronomiebetriebe und Clubs ab. Ganz besonders in den Abend- und Nachtstunden der Sommermonate lässt sich im Barfußgäßchen und in der Gottschedstraße, wenn die Freisitze gefüllt sind, ein vitales Straßenleben erleben. Durch den Verfall der Bausubstanz während der DDR-Zeit sind viele ehemalige Kulturhäuser in den Stadtteilen verschwunden, so dass Leipzig nur noch eine begrenzte Anzahl an größeren Sälen für Musikveranstaltungen besitzt. Im Norden sind dies der Anker und das Haus Auensee, in der Westvorstadt das Haus Leipzig, im Zentrum die Moritzbastei sowie in Connewitz das Werk 2 und das Conne Island. Im Jahr 2006 eröffnete mit dem Volkspalast (seit 2012 als Eventpalast bezeichnet) eine neue Veranstaltungshalle, die größere Konzerte erlaubt, die zuvor der Mehrzweckhalle Arena Leipzig vorbehalten waren. In Connewitz und Teilen der Südvorstadt entwickelte sich nach der Wende eine lebendige alternative Szene. Aus dem ehemaligen Kino UT Connewitz wurde eine für alle Kulturformen genutzte Einrichtung. Das Tanzcafé Ilses Erika im Haus der Demokratie – ebenfalls in Connewitz gelegen – ist mit seinen Clubabenden und -konzerten eine der bekanntesten Indie-Adressen in Ostdeutschland. Die in der Südvorstadt gelegene Distillery gilt als Ostdeutschlands dienstältester Technoclub, welcher das Eintagesfestival Th!nk? veranstaltet. 2014 wurde der Techno-Club Institut für Zukunft eröffnet, der 2018 zur Spielstätte des Jahres gekürt wurde. Bekannt war auch das Nachtcafé, welches auf Blackmusic und House spezialisiert war. Vielfältige kulturelle Veranstaltungen wie Programmkino, Lesungen oder kleinere Konzerte finden außerdem in der naTo statt. Mit den Beschlüssen der 3. Hochschulreform der DDR 1968 entstanden in Leipzig zahlreiche Studentenclubs, von denen die meisten noch existieren und die nicht nur von Studenten genutzt werden. Der älteste Studentenclub ist der TV-Club Leipzig. Die Studentenclubs haben sich mit dem Runden Tisch Leipziger unabhängiger Studentenclubs (RuTiLuSt) Anfang der 1990er Jahre eine gemeinsame Plattform geschaffen. Der ehemals größte Studentenclub Europas, die Moritzbastei, wurde Ende der 1970er Jahre aus einer mittelalterlichen Festungsanlage ausgebaut. 1993 wurde er in eine GmbH umgewandelt. ==== Freizeitpark ==== Im Süden von Leipzig, zwischen Cospudener und Zwenkauer See, befindet sich mit Belantis der größte Freizeitpark in Mitteldeutschland. Errichtet wurde er auf einen 27 Hektar großen ehemaligen Braunkohlegebiet und bietet seinen Besuchern über 60 Attraktionen und Shows verteilt auf acht Themenwelten. Eröffnet wurde der Park am 5. April 2003 nach 19-monatiger Bauzeit und zählt jährlich über 500.000 Besucher. === Natur und Erholung === ==== Parks und Gärten ==== Leipzig besitzt einen verglichen mit ähnlichen Großstädten bemerkenswerten Anteil an Parks und Grünflächen, überwiegend mit hohem gestalterischem Anspruch oder stadtstruktureller Bedeutung. Weit überregional bekannt waren die aufwendigen Bürgergärten, die sich seit Renaissance und Barock um die historische Innenstadt legten, etwa Apels Garten oder der Großbosesche Garten. Mit dem städtischen Wachstum im 19. Jahrhundert wurden diese privaten Anlagen überbaut, jedoch erhielten sich ihre Bezeichnungen verschiedentlich in Straßennamen. Bereits Anfang des 18. Jahrhunderts begannen Begrünungen der städtischen Befestigungsanlagen und Wälle mit Alleen und Gehölzpflanzungen. Ende des Jahrhunderts entstand unter Bürgermeister Carl Wilhelm Müller (1728–1801) eine zusammenhängende Parkgestaltung am Schwanenteich und in dem heutigen Bereich vor dem Hauptbahnhof. Es handelte sich um die erste vom Bürgertum initiierte Landschaftsparkanlage Deutschlands. Zugleich war damit der Grundstein zu dem die Innenstadt umgebenden Promenadenring gelegt. Bis in das 20. Jahrhundert erfolgte die Gestaltung weiterer Abschnitte, darunter bis 1858 die Lenné-Anlage, Schillerpark genannt. Für die Planung konnte der Königlich Preußische Gartendirektor Peter Joseph Lenné gewonnen werden, einer der größten Gartenkünstler des 19. Jahrhunderts. Im Auftrag des Bankiers Wilhelm Seyfferth konzipierte er wenig später ebenfalls den städtischen Johannapark. Ab 1898 entstand unter Gartendirektor Otto Wittenberg direkt im Anschluss westlich der König-Albert-Park, ein repräsentativer Stadtpark mit Springbrunnenbassin, Teich und Musikpavillon. Seit 1955 führt er gemeinsam mit benachbarten Anlagen wie dem Palmengarten oder dem Scheibenholzpark die Bezeichnung Clara-Zetkin-Park. Unter Otto Wittenberg entstanden parallel mit der Stadtentwicklung Ende des 19. Jahrhunderts zahlreiche begrünte Stadtplätze, ferner die landschaftlich gestalteten Anlagen Volksgarten – Sellerhausen, Volkshain Stünz sowie der Südteil des Eutritzscher Parks. Im Gegensatz dazu schuf der Nachfolger Wittenbergs, Carl Hampel, zahlreiche formale Gestaltungen, unter anderem am westlichen Promenadenring, jedoch auch den weitläufigen Wilhelm-Külz-Park am Völkerschlachtdenkmal. Seit 1913 gestaltete Leberecht Migge in der seinerzeit noch selbständigen Gemeinde Schönefeld einen klassischen Volkspark, den Mariannenpark. Fertiggestellt wurde die Anlage in der Zwischenkriegszeit bis 1928 unter Stadtgartendirektor Molzen. Bereits 1932 begannen die Arbeiten am Richard-Wagner-Hain beiderseits des Elsterflutbeckens. Er sollte ein monumentales Denkmal zu Ehren des gebürtigen Leipzigers Richard Wagner aufnehmen. Die Nationalsozialisten nahmen sich des Vorhabens an und erklärten es zum Projekt „Richard-Wagner-Nationaldenkmal“. Für die erhaltene gärtnerische Gestaltung verantwortlich war Gustav Allinger. Emil Hipp fertigte am Chiemsee die Teile des Denkmals, das jedoch kriegsbedingt nicht mehr zur Aufstellung in Leipzig gelangte. Westlich an den Zoologischen Garten grenzt der weitläufige Park Rosental. Ursprünglich kurfürstlicher Besitz, dann an die Stadt verkauft, beabsichtigte August der Starke hier dennoch die Errichtung einer Residenz, die die Stadt finanzieren sollte. Zwar konnte dies abgewendet werden, jedoch veranlasste der Landesherr die Anlage der noch vorhandenen Sichtschneisen durch die begrenzenden Waldbereiche, ausgehend von der großen zentralen Wiesenfläche. Seit dem 19. Jahrhundert fanden verschiedene Umgestaltungen im Sinne einer landschaftlichen Gestaltung statt. Auf den Leipziger Arzt Moritz Schreber geht indirekt die nach ihm benannte Kleingartenbewegung (Schrebergärten) zurück. Neben der ältesten sogenannten Schreberanlage befindet sich in der Stadt das Deutsche Kleingärtnermuseum. Etwa 30 % (1240 ha) der Leipziger Grünfläche wird von Kleingärten gebildet, die damit zur Erholung und für die Biodiversität der Stadt eine wichtige Rolle spielen.Als Friedenspark wird der 1950 geschlossene ehemalige Neue Johannisfriedhof bezeichnet. Ab 1973 erfolgte die Beräumung der zahlreichen historisch bedeutenden Grabdenkmale. Einige wenige wurden auf dem erhaltenen Alten Johannisfriedhof aufgestellt, dem über Jahrhunderte zentralen Begräbnisplatz der Stadt. Zu den Parkfriedhöfen der Stadt gehören der Südfriedhof und der Ostfriedhof. Im Osten von Leipzigs Stadtteil Grünau befindet sich der 1913 vollendete und seit 1984 öffentlich zugängliche Robert-Koch-Park mit der Robert-Koch-Klinik als Außenstelle des städtischen Klinikums St. Georg. In den letzten Jahren entstanden neue Parkanlagen auf dem Gelände des ehemaligen Eilenburger Bahnhofs (Lene-Voigt-Park) und am Karl-Heine-Kanal in Plagwitz (Stadtteilpark Plagwitz). ==== Botanischer Garten ==== Der Botanische Garten der Universität Leipzig beheimatet auf einer Fläche von 3,5 Hektar etwa 10.000 verschiedene Arten. Er ist der älteste Botanische Garten Deutschlands und gehört zu den ältesten weltweit. In seiner Geschichte, die bis zur Mitte des 16. Jahrhunderts zurückreicht, wurde der Standort des Botanischen Gartens dreimal im Stadtgebiet verlegt. Er befindet sich an der Linnéstraße im Ortsteil Zentrum-Südost, angrenzend an den Friedenspark. ==== Tierparks ==== Der Zoologische Garten Leipzig ist eine 26 Hektar große parkartig gestaltete Grünanlage nordwestlich der Leipziger Altstadt, in der etwa 900 Tierarten gehalten und präsentiert werden. Er grenzt an das Rosental, einen Stadtpark. Der Leipziger Zoo wurde am 9. Juni 1878 eröffnet und ist mit seinen vielen historischen Bauten einer der traditionsreichsten in Deutschland. Er war einst berühmt für seine Löwen- und später auch Tigerzucht, für die er seither das Internationale Zuchtbuch führt. Er beherbergt viele seltene Tierarten wie Baikalrobben, Moschustiere, Okapis oder Sepikwarane. Die wöchentliche Doku-Soap Elefant, Tiger & Co. des Mitteldeutschen Rundfunks machte den Zoo seit 2003 in ganz Deutschland bekannt. Eine der charakteristischen Backsteinanlagen ist die Bärenburg. Sie war Schauplatz vieler Zuchterfolge, ist aber längst veraltet. Noch in den 1990er Jahren war der Zoo stark sanierungsbedürftig und entsprach kaum mehr moderner Tierhaltung. Daher wird er seit einigen Jahren zu einem Zoo der Zukunft umgebaut, was ursprünglich 2014 abgeschlossen sein sollte. Die zwei größten Bauprojekte dabei waren die 2001 eröffnete weltgrößte Menschenaffenanlage Pongoland (als Teil des Wolfgang-Köhler-Primaten-Forschungszentrum) und Europas größte Tropenhalle Gondwanaland, in der seit 2011 Tiere und Pflanzen der Kontinente Asien, Südamerika und Afrika gezeigt werden. Ende 2011 kündigte die Zooleitung an, dass der Masterplan zum Umbau des Zoos überarbeitet wird. Die weiteren Baumaßnahmen sollen nunmehr bis zum Jahr 2020 erfolgen – Schwerpunkte sollen die Bereiche Asien und Südamerika sein. Der Wildpark Leipzig ist ein Naturpark im Süden der Stadt. Die Tiere des Parks kommen größtenteils aus der europäischen Region, gezeigt werden zum einen Rot-, Dam-, Reh-, Muffelwild, aber auch Elche, Wisente, verschiedene Vogelarten und Füchse, Wildkatzen, Hermeline, Marder und Waschbären. Am Zuchtprogramm für den gefährdeten europäischen Nerz nimmt der Wildpark teil. Demnächst soll ein Erlebnispfad mit Wolfsgehege erstellt werden. === Bauwerke === In Leipzig befinden sich einige bedeutende Gebäude aus den Epochen der letzten Jahrhunderte. Leipzig war ein Zentrum des bürgerlichen Barocks und wurde vor allem in der Gründerzeit und im letzten Viertel des 19. Jahrhunderts durch viele öffentliche Gebäude des Historismus ergänzt. Leipzig besitzt einen vergleichsweise hohen Anteil an Gebäuden des Jugendstils. Außerdem befinden sich Gebäude der Vor- und Nachkriegsmoderne in Leipzig. ==== Sakralbauten ==== Eine Zusammenfassung aller Kirchen findet sich unter Liste der Kirchengebäude in Leipzig. Ausführliche Beschreibungen der Sakralbauten finden sich unter Kirchen in Leipzig, Ehemalige Kirchen in Leipzig und Synagogen in Leipzig. In der Innenstadt befinden sich zwei sehr bekannte Kirchenbauten. Die Thomaskirche war die Wirkungsstätte von Johann Sebastian Bach und wird noch durch Aufführungen des Thomanerchors belebt. Das gotische Bauwerk stammt größtenteils aus dem späten 15. Jahrhundert. Die Nikolaikirche war einer der wichtigsten Orte der Friedensgebete und Ausgangspunkt der Montagsdemonstrationen in Leipzig, einem wesentlichen Bestandteil der politischen Wende in der DDR. Sie wurde ab 1165, dem Jahr der Vergabe des Stadtrechts, im romanischen Stil errichtet und im Spätmittelalter zu einer gotischen Hallenkirche umgestaltet. Unmittelbar neben der Nikolaikirche befindet sich die Alte Nikolaischule. Zum Gedächtnis der russischen Gefallenen während der Völkerschlacht bei Leipzig entstand 1913 die Russische Gedächtniskirche im sogenannten Nowgoroder Stil russisch-orthodoxer Kirchen. In Leipzig sind zwei bedeutende Kirchenbauten der klassischen Moderne zu finden: die Versöhnungskirche in Gohlis-Nord und die Bonifatiuskirche in Connewitz. Die 1932 geweihte Versöhnungskirche zählt zu den wichtigsten Zeugnissen sakraler Architektur im Stile des Neuen Bauens in Deutschland. Die St.-Bonifatius-Kirche gilt als wichtigster katholischer Kirchenneubau zwischen den beiden Weltkriegen in Sachsen. Der Rundbau im Stil des Art déco wurde 1929/30 zur Erinnerung an die im Ersten Weltkrieg gefallenen Mitglieder des Katholischen Kaufmännischen Vereins errichtet. ==== Historische Gebäude ==== Die Innenstadt Leipzigs besteht aus sehr wechselvollen Ansichten. Im Herzen der Stadt dominiert das Alte Rathaus, ein Renaissancebau aus den Jahren 1556/57. Bemerkenswert ist, dass dieses nicht den damaligen Regeln gemäß axialsymmetrisch in der Frontansicht aufgebaut, sondern im Goldenen Schnitt geteilt ist. Der aus der Mittelachse gerückte Rathausturm galt als architektonische Avantgardeleistung der damaligen Zeit und stand mit dem dadurch verursachten Wirbel und Aufruhr für das städtische Selbstbewusstsein und das typische Leipziger Bestreben, stets einen eigenen, unabhängigen Weg zu wählen und zu behaupten. Sein Erbauer, Hieronymus Lotter, Stadtbaumeister, Ratsherr und Bürgermeister, errichtete die Alte Waage am Marktplatz sowie wesentliche Teile der Stadtbefestigung. So konstruierte er die noch erhaltene Moritzbastei, die zwischen 1551 und 1554 erbaut wurde. Sie galt als Meisterwerk der Festungsbaukunst und uneinnehmbar. Im Dreißigjährigen Krieg wurde sie jedoch von schwedischen Truppen überrannt. Vorher befand sich in unmittelbarer Nähe die Pleißenburg, die bereits im Schmalkaldischen Krieg im 16. Jahrhundert beschädigt und teilweise geschleift wurde. Das Neue Rathaus befindet sich auf den Resten der Pleißenburg. Es ist mit seinem 114 Meter hohen Hauptturm eines der größten Rathausgebäude weltweit. Mit dem starken Wachstum Leipzigs im 19. Jahrhundert benötigte die Stadtverwaltung dieses größere Bauwerk, das 1905 fertiggestellt wurde. Ein großer Teil der Innenstadt wird durch ehemals von der Leipziger Messe genutzte Handelshöfe – prachtvolle Kaufmannshäuser mit charakteristischen Passagen – dominiert. Die Passagen wurden ursprünglich angelegt, um den Kutschen in den engen Innenhöfen das Wenden zu ersparen. Der älteste noch erhaltene Handelshof ist Barthels Hof; weitere mittlerweile restaurierte sind Specks Hof oder Stentzlers Hof. Sie dienten hauptsächlich zur Ausrichtung von Handelsmessen. Das Städtische Kaufhaus und der Handelshof waren die ersten Mustermessehäuser der Stadt. Andere Handelshäuser wie Auerbachs Hof wurden bereits Anfang des 20. Jahrhunderts in Ladenstraßen umgewandelt, als sich der Rückzug der Leipziger Messe aus der Innenstadt mit dem Bau des Messegeländes abzeichnete. Auf dem Gelände von Auerbachs Hof befindet sich die prachtvollste Passage Leipzigs, die nach mailändischem Vorbild von 1912 bis 1914 errichtete Mädlerpassage. Hier befindet sich Auerbachs Keller, durch Goethes Faust weltberühmt geworden. In Leipzig gibt es noch viele Gebäude des bürgerlichen Barock, die in der wohlhabenden Kaufmannsstadt etwa zeitgleich mit den Gebäuden des kurfürstlichen Barock in Dresden entstanden. Unmittelbar hinter dem Alten Rathaus, am Naschmarkt, befindet sich die im Barockstil errichtete Alte Börse, die einstmals als Versammlungsgebäude der Leipziger Kaufmannschaft diente. Wohlhabende Bürger erbauten Stadtpalais in der kompakten Innenstadt wie das Fregehaus, das Romanushaus und das Königshaus, das bis ins 19. Jahrhundert als Gästehaus des Stadtrates für hochrangige Besucher diente. Teilweise bestanden die Gebäude schon vorher und wurden im 18. Jahrhundert umgebaut. In Randlage der Stadt entstand das Gohliser Schlösschen ebenfalls als barockes Bauwerk in bürgerlichem Besitz. An Aufenthalte und Wirkungsstätten von berühmten Personen erinnern einige Gebäude in Leipzig. So befindet sich östlich der Innenstadt das Mendelssohn-Haus, in dem Felix Mendelssohn Bartholdy, der als Komponist am Gewandhaus wirkte, bis zu seinem Tod lebte. Friedrich Schiller verbrachte 1785 einige Monate in Leipzig beziehungsweise im damals noch außerhalb der Stadtgrenzen gelegenen Gohlis. Dort befindet sich das Schillerhaus, das eigentlich ein Bauernhaus ist. Dort arbeitete Schiller unter anderem an dem Gedicht An die Freude, das später von Ludwig van Beethoven in seiner 9. Sinfonie vertont wurde. Leipzig besitzt einige bedeutende Gebäude des Historismus. Die Ähnlichkeit des Reichsgerichtsgebäudes, das von 1888 bis 1895 erbaut wurde, mit dem Reichstagsgebäude in Berlin ist nicht zu verkennen. Beide orientieren sich an Motiven der italienischen Renaissance und sollen über ihre monumentale Wirkung das gefestigte Deutsche Reich verkörpern. Die Deutsche Bücherei markiert am Ende des Vorkriegshistorismus einen Übergang zur Moderne. Ähnlich wie beim Deutschen Hygienemuseum bleiben die Formen monumental und aufragend; die Auffüllung der Fassade wurde aber vergleichsweise sachlich angelegt. Oskar Pusch entwarf neben der Bücherei das neoklassizistische Achilleion auf dem Messegelände Leipzigs. Das Gebäude der Universitätsbibliothek Albertina ist als Bauwerk der Neorenaissance mit einem mittigen Eingangsportal stark symmetrisch konzipiert. Der Mendebrunnen ist die größte Zierbrunnenanlage in Leipzig und wurde 1883 im Stil des Neobarock erbaut. Das Grassimuseum wurde 1925 bis 1929 in einem Stil mit Anklängen an Art déco und Neue Sachlichkeit als einer der wenigen deutschen Museumsneubauten in der Zeit der Weimarer Republik errichtet. ==== Monumentalarchitektur ==== Das Völkerschlachtdenkmal als eines der bekanntesten Wahrzeichen der Stadt wurde ab 1898 als Mahn- und Denkmal an die Völkerschlacht 1813 errichtet. Eingeweiht wurde es 1913 anlässlich des 100. Jahrestages der Schlacht. Seine Architektur ist über klassische Motive stark symbolbehaftet und wirkt durch seine Höhe von 91 Metern und der Stärke der Wände und Säulen monumental. Zusammen mit den Hochhäusern am Innenstadtring, dem Turm des Neuen Rathauses, dem Hotel „The Westin Leipzig“, dem Hochhaus der Leipziger Sparkasse in Löhrs Carré und den Kirchen im Stadtzentrum bestimmt es die Stadtsilhouette von Leipzig. ==== Moderne und zeitgenössische Architektur ==== Leipzigs Architektur der Moderne ist vor allem durch Hochhäuser geprägt. Das Krochhochhaus entstand 1927/28 als erstes Hochhaus in Leipzig in Stahlbetonskelettbauweise und gehört zu den wenigen erhaltenen Gebäuden der Vorkriegsmoderne. Der schlicht gestaltete schlanke, etwa 50 Meter hohe Turm mit markantem Glockenspiel wurde dem Uhrenturm (Torre dell'Orologio) in Venedig nachempfunden. Unweit davon überragt das City-Hochhaus mit seinen 142 Metern (155,40 m Gesamthöhe mit Antennenträger) weithin die Innenstadt. Es wurde von 1968 bis 1972 als Sektionsgebäude für die Universität erbaut und trägt durch seine Form als aufgeschlagenes Buch eine eindeutige Symbolik. Es war bis 1972 das höchste Gebäude in Deutschland, als es vom Jenaer Uniturm abgelöst wurde. 1972 wurde das 95 Meter hohe (106,8 m Gesamthöhe) Wintergartenhochhaus mit 31 Etagen am Hauptbahnhof als höchstes Wohngebäude Leipzigs eingeweiht. Ein weiteres architektonisch bedeutsames hohes Gebäude am östlichen Innenstadtring ist das 1928/29 im Stil der Neuen Sachlichkeit errichtete 53 Meter hohe Europa-Hochhaus an der Südostseite des Augustusplatzes, nach dem Krochhochhaus das zweite in Leipzig gebaute Hochhaus. Das Europa-Haus war Ausgangsbau des 1927 vom damaligen Stadtbaurat Hubert Ritter vorgelegten, jedoch nie verwirklichten Ringcity-Konzeptes. Dieses sah vor, die Innenstadt durch eine moderne Randbebauung mit mehreren Hochhäusern über den im 19. Jahrhundert angelegten Promenadenring hinweg zu erweitern und damit den kompakten Altstadtkern durch die Schaffung damals dringend benötigter neuer Gewerbeflächen zu entlasten und dessen historische Bebauung zu bewahren.Am Augustusplatz, der östlichen Grenze der Innenstadt, befinden sich das Neue Gewandhaus und das Opernhaus. Beide sind moderne Neubauten, die an der Stelle von im Zweiten Weltkrieg zerstörten Kulturhäusern errichtet wurden. Das Opernhaus wurde zwischen 1956 und 1960 am Ort des Vorgängerbauwerks errichtet und nimmt dessen spätklassizistische Formen vereinfacht auf. Der Bau gilt durch seine Verbindung von Tradition und Moderne als ein Musterbeispiel der DDR-Architektur jener Zeit. Das am Standort des ehemaligen Städtischen Museums erbaute Neue Gewandhaus war der einzige vollwertige Konzertsaalneubau der DDR und gehörte zu ihren aufwändigsten Bauprojekten. Auffällig ist die hohe Glasfront, auf die ein massiver Betonsims gesetzt ist. Mit dem Neubau moderner Kulturhäuser wurde in Leipzig ein anderer Weg gewählt als in Berlin und Dresden, wo Konzerthaus und Semperoper detailgetreu wiederaufgebaut wurden. Dies hatte neben Kostenaspekten konzeptionelle Gründe, da der damalige Karl-Marx-Platz in seiner Gesamtheit ein von sozialistisch geprägten Gestaltungsgrundsätzen geprägtes Antlitz erhalten sollte. Auch der nördliche Innenstadtring wird durch zwei Hochhäuser flankiert. Das knapp 70 Meter hohe Hochhaus Löhrs Carré (Sitz der Sparkasse Leipzig/Sachsen Bank) und das 96 Meter hohe Hotel „The Westin Leipzig“ bilden hier ein Ensemble. Die Dominante der Ringbebauung im Südwesten der City ist der 115 Meter hohe Turm des Neuen Rathauses, der zugleich der höchste Rathausturm Deutschlands ist. Eine zeitgenössische architektonische Besonderheit ist die sogenannte Niemeyer-Kugel, erbaut 2020 nach einem Entwurf des Star-Architekten Oscar Niemeyer am ehemaligen Kirow-Werk im Ortsteil Neulindenau. Die Betonkugel beherbergt ein Restaurant und Café mit Bar. ==== Verkehrs- und Industriebauwerke ==== Leipzig wird von einer Ringeisenbahn umgeben, an die sich zwei Kopfbahnhöfe anschließen. Beide Bahnhöfe, der Hauptbahnhof und der Bayerische Bahnhof sind durch den City-Tunnel verbunden. Der Hauptbahnhof gilt als der größte Kopfbahnhof Europas. Er steht mit einer fast 300 Meter breiten historistischen Fassade an der Grenze der Innenstadt und birgt dahinter zwei große Empfangshallen. Diese sind entstanden, weil der Bahnhof früher in einen sächsischen und einen preußischen Teil aufgeteilt war, wobei jeder seine eigene Empfangs- und Wartehalle hatte. Insgesamt verfügt der Bahnhof über sechs Bahnsteighallen. Er wurde bis 1997 aufwendig restauriert und am Querbahnsteig um ein Einkaufszentrum ergänzt. Südlich vor der Innenstadt liegt der bis 1844 errichtete Bayerische Bahnhof, der älteste erhaltene Kopfbahnhof Deutschlands. Markantes Merkmal des Bahnhofs ist der viertorige Portikus für die Eisenbahn. Die Buntgarnwerke in Plagwitz sind Deutschlands größtes Industriedenkmal aus der Gründerzeit mit über 100.000 Quadratmetern Geschossfläche. Im Süden liegen die Leipziger Großmarkthallen, scherzhaft „Kohlrabizirkus“ genannt. Sie beherbergen eine Eislaufbahn und werden als Veranstaltungshalle genutzt. ==== Höchste Bauwerke ==== ==== Brücken ==== Die Stadt Leipzig hat derzeit 479 Brücken und Stege. Dazu zählen gegenwärtig 180 Eisenbahnbrücken und 277 Straßenbrücken. === Regelmäßige Veranstaltungen === ==== Musik und Theater ==== Das Bachfest Leipzig ist ein Musikfestival, das erstmals 1908 stattfand. Seit 1999 wird es jährlich ausgerichtet und widmet sich ganz der Pflege der Werke von Johann Sebastian Bach. Bis 2016 wurden jährlich die Mendelssohn-Festtage Leipzig veranstaltet, die sich um das Erbe von Felix Mendelssohn Bartholdy in der Stadt kümmerten. Die Richard-Wagner-Gesellschaft Leipzig 2013 veranstaltet seit 2006 jährlich um den Geburtstag des Komponisten Richard Wagner herum die Wagner-Festtage Leipzig. Mit der Veranstaltung soll das Andenken an den Komponisten in seiner Heimatstadt verbessert werden. Der Robert-und-Clara Schumann-Verein veranstaltet in Gedenken der beiden jährlich die Schumann-Woche. Das Internationale Kammermusikfestival Leipzig wird in Kooperation mit dem Gewandhaus seit 1996 im November durchgeführt. Innerhalb der Classic Open Leipzig finden seit 1995 im August Freiluftkonzerte und Videoübertragungen von Konzerten in der Leipziger Innenstadt statt. Bei der seit 1997 veranstalteten Konzertwoche Internationales Festival für Vokalmusik „a cappella“ treten jeweils im Mai international renommierte und Nachwuchskünstler dieses Genres auf. Im Oktober werden seit 1976 die Leipziger Jazztage veranstaltet. Sie widmen sich dem zeitgenössischen Jazz und werden vom Jazzclub Leipzig e. V. ausgerichtet. Seit 2004 veranstaltet der Radiosender Energy Sachsen zweimal im Jahr die Energy Clubzone. Courage zeigen ist ein seit 1998 am 30. April stattfindendes Rockkonzert vor dem Leipziger Völkerschlachtdenkmal, das als Antwort auf die Neonazi-Aufmärsche am 1. Mai entstand. Seit 1991 findet jährlich im November das Festival euro-scene Leipzig statt. Es widmet sich dem experimentellen Theater und dem modernen Tanz. Die Lachmesse ist ein Europäisches Humor- und Satire-Festival, das seit 1991 jährlich im Oktober in Leipzig veranstaltet wird. Sie vergibt den mit 3500 Euro dotierten Kleinkunstpreis Leipziger Löwenzahn. ==== Feste und Märkte ==== Über Pfingsten ist Leipzig Austragungsort des viertägigen Wave-Gotik-Treffens (WGT), das seit 1992 stattfindet, derzeit regelmäßig bis zu 23.000 Besucher aus der Schwarzen Szene in die Stadt lockt und selbst szenefremde Besucher mit Veranstaltungen wie dem Wikingerlager im Rahmen des Heidnischen Dorfes und einem weiteren Mittelaltermarkt an der Moritzbastei erfreut. Alljährlich richtet der Leipzig Tourist Service das Leipziger Stadtfest aus, das mit seinen über 300.000 Besuchern zu den zehn größten Open Air Veranstaltungen Deutschlands zählt. Die Leipziger Kleinmesse ist ein jetzt dreimal (früher zweimal) jährlich stattfindendes Volksfest, das 1907 als Ableger der Leipziger Messe entstand. Bis 1935 wurde es auf der sogenannten „Vogelwiese“ an der Alten Elster veranstaltet. 1936 erfolgte der Umzug an den Cottaweg, westlich des Elsterbeckens. Anfang 2009 wurde der Kleinmesseplatz jedoch erneuert, es entstand ein runder, gepflasterter Platz für Zirkus und Kleinmesse. Der Leipziger Weihnachtsmarkt ist einer der größten in den östlichen Bundesländern und wird seit 1767 ausgerichtet. Im Herbst findet die Interkulturelle Woche statt, hier werden zahlreiche Lesungen, Diskussionen, Konzerte usw. veranstaltet. Das Eröffnungskonzert findet in der Nikolaikirche statt und markiert gleichzeitig den Beginn der sachsenweiten Aktionswochen. Die Saxonia International Balloon Fiesta war ein populäres Ballonfestival mit europäischer Beteiligung. Es fand jährlich Ende Juli in Leipzig statt und wurde von mehr als 130.000 Menschen besucht. Die erste Fiesta fand 1995 mit 5000 Besuchern und 100 Heißluftballonen in der sächsischen Kleinstadt Mügeln statt. 1996 wurde die Veranstaltung nach Leipzig in das Naherholungsgebiet an den Silbersee verlegt, da dieses außerhalb der offiziellen Flugkorridore liegt. Der Silbersee-Park liegt zwischen den urbanen Gebieten Lößnigs und der Braunkohlelandschaft des Leipziger Südraumes. Bei der Veranstaltung kämpften die Heißluftballone in den Kategorien Fuchsjagd, Weitflug und Keygrab. Seit 2009 wird jährlich mit dem Lichtfest Leipzig der Montagsdemonstration vom 9. Oktober 1989 gedacht. An der ersten Veranstaltung nahmen 150.000 Menschen teil. Der Karneval spielt im protestantischen Leipzig nur eine untergeordnete Rolle. Seit den 1950er Jahren entstand mit dem Leipziger Studentenfasching eine jährliche Veranstaltungsreihe. 1992 gründete sich das Förderkomitee Leipziger Karneval e. V. und richtet alljährlich einen Rosensonntagsumzug unter dem Motto Leila helau aus. == Sport == === Institute === Die Deutsche Hochschule für Körperkultur (DHfK) war in der DDR eine Sporthochschule, aus der zahlreiche Spitzensportler und -trainer hervorgingen. Das Forschungsinstitut für Körperkultur und Sport an der DHfK mit 20 Mitarbeitern entwickelte Doping-Substanzen und -methoden für das Zwangsdopingsystem. Die Einordnung der DHfK als Hochburg der Anabolika führte auch zur Schließung der Hochschule. 1993 wurde die Sportwissenschaftliche Fakultät der Universität Leipzig gegründet. Die Abkürzung „DHfK“ tragen noch die HSG DHfK und der SC DHfK im Namen. In Leipzig ist das Institut für Angewandte Trainingswissenschaft ansässig. === Stützpunkte === In der Stadt befindet sich zurzeit der Olympiastützpunkt Leipzig, in den mehrere Bundes- und Landesstützpunkte integriert sind. So gibt es Bundesstützpunkte in den Sportarten Kanu-Slalom, Kanu-Rennsport, Leichtathletik und Judo. Bundesstützpunkte für den Nachwuchs liegen beim Schwimmen, Turmspringen und Turnen der Frauen. Landesstützpunkte umfassen Volleyball der Männer, Handball der Frauen, Rudern und Ringen (Freistil). Des Weiteren existiert, neben dem Nachwuchsleistungszentrum von RasenBallsport Leipzig e. V., ein DFB-Talentestützpunkt an der Sportschule Egidius Braun. === Sportverbände === Neben dem Landessportbund Sachsen sind auch mehrere andere Landesverbände, wie der Sächsische Turn-Verband e. V., der Sächsische Fechtverband, der Sächsische Hockey-Verband, der Sächsische Kanu-Verband, der Sächsische Tennisverband, der Sächsische Fußball-Verband und der Rugby-Verband Sachsen in Leipzig angesiedelt. === Inklusion === 2021 bewarb sich Leipzig als Gastgeber („Host Town“) für die Gestaltung eines viertägigen Programms für eine internationale Delegation der Special Olympics World Summer Games 2023 in Berlin. 2022 wurde die Stadt als Gastgeberin für Special Olympics Libyen ausgewählt. Damit wurde sie Teil des größten kommunalen Inklusionsprojekts in der Geschichte der Bundesrepublik mit mehr als 200 Host Towns. === Sportarten === ==== Hand-, Volley- und Basketball ==== Der HC Leipzig (HCL) ist einer der erfolgreichsten Frauen-Handballclubs Deutschlands. Er war viermal Europapokal-Sieger, sechsmal Deutscher Meister, dreimal DHB-Pokalsieger und 13 Mal DDR-Meister. Im Herrenhandball war die MTSA Leipzig (Militär-Turn-und Sportabteilung) in den 30er Jahren erfolgreich. 1936 wurde der Verein Deutscher Vizemeister. Die Feldhandballmannschaft errang weiterhin dreimal in Folge (1937, 1938 und 1939) den Deutschen Meisterschaftstitel. In der Nachkriegszeit setzte der Verein SC DHfK Leipzig Handball die Erfolgsserie fort. In den 1960er und 70er Jahren gewann er einmal den Europapokal der Landesmeister, den Vorläufer der EHF Champions League, sechsmal die DDR-Meisterschaft und zweimal die Turniermeisterschaft. Seit der Saison 2015/16 spielt die Mannschaft in der 1. Handball-Bundesliga. Die 2009 neu gegründeten L.E. Volleys stiegen bis in die 2. Volleyball-Bundesliga auf. Der Basketball-Verein Leipzig (BBVL) spielte zeitweise in der Basketball-Bundesliga der Damen. Die letzten Erfolge der Herrenteams wurden in DDR-Zeiten erzielt. ==== Fußball ==== Leipzig hat eine lange und große Fußballtradition. Es war 1900 Gründungsort des Deutschen Fußball-Bundes (DFB). Die Gründungsversammlung des Deutschen Fußball-Bunds fand im Restaurant „Zum Mariengarten“ in der Karlstraße 10 (heute Büttnerstraße 10) statt. Der VfB Leipzig war mit vier weiteren Leipziger Vereinen Gründungsmitglied des DFB. Bei der ersten deutschen Meisterschaft konnte sich der VfB Leipzig den Meistertitel sichern. In den Jahren 1906 und 1913 konnten sie erneut deutscher Meister werden. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde der Verein aufgelöst. Der DDR-Fußballclub 1. FC Lokomotive Leipzig, welcher 1966 gegründet wurde, gilt als Nachfolger des VfB Leipzig. Der Verein war DDR-Pokalsieger, dreimaliger DDR-Vizemeister und schaffte es 1987 bis in das Finale des Europapokals der Pokalsieger. Nach der Wiedervereinigung wollte der Verein an die ruhmreichen Zeiten des VfB Leipzigs anknüpfen und nannte sich 1991 in VfB Leipzig um. Wie der Vorkriegsverein entwickelte sich der VfB Leipzig zum Mehrspartenverein. In der Saison 1993/94 spielte der Verein in der Bundesliga und belegt in der ewigen Tabelle den vorletzten Platz. Im Jahr 2004 ging der Verein dann Konkurs, wurde aber nie aus dem Vereinsregister gelöscht. Als inoffizieller Nachfolgeverein wurde der 1. FC Lokomotive Leipzig gegründet und dieser spielt seit der Saison 2016/17 in der Regionalliga Nordost. Im Oktober fusionierte der 1. FC Lok mit dem VfB Leipzig und schloss damit die Traditionslücke. Auch der zweite traditionsreiche Fußballverein der Stadt, die BSG Chemie Leipzig, hat eine wechselhafte Geschichte. Die DDR-Betriebssportgemeinschaft Chemie Leipzig konnte zweimal DDR-Meister werden und konnte zudem einmal den FDGB-Pokal (1966) gewinnen. Der Meistertitel von 1964 ging wegen des überraschenden Zustandekommens als „Leutzscher Legende“ in die DDR-Fußballgeschichte ein. Nach der Wende schlossen sich die BSG Chemie Leipzig und die BSG Chemie Böhlen zum FC Sachsen Leipzig zusammen, welcher 2011 nach zweifacher Insolvenz endgültig den Spielbetrieb einstellte. Bereits 1997 wurde die BSG Chemie Leipzig von Fans neugegründet und trat nach der Insolvenz die inoffizielle Nachfolge von Sachsen Leipzig an. Nachdem der Verein 2017/18 in der Regionalliga Nordost nicht den Klassenerhalt schaffen konnte, startete die Mannschaft in der Saison 2018/19 in der Staffel Süd Oberliga Nordost und schaffte dort den direkten Wiederaufstieg. Im Mai 2009 wurde der Verein RB Leipzig gegründet. Dieser spielte mit der Oberliga-Lizenz des SSV Markranstädt und schaffte nach einer Saison in der Oberliga den Aufstieg in die Regionalliga. 2013 schaffte es RB Leipzig in die 3. Liga, 2014 den Aufstieg in die 2. Bundesliga und 2016 den Aufstieg in die 1. Bundesliga. RB Leipzig trägt seine Heimspiele seit der Saison 2010/11 in der Red Bull Arena, dem als Fußballstadion umgebauten ehemaligen Zentralstadion, aus. In der Saison 2017/18 spielte er erstmals in der Champions League. Der FC International Leipzig oder kurz Inter Leipzig wurde erst 2013 gegründet. Der Verein konnte in der Saison 2013/14 in der Sachsenliga starten, da der Verein das Spielrecht des insolventen Vereins SV See 90 aus See bei Niesky übernehmen konnte. Seit der Saison 2015/16 spielt der Verein in der Südstaffel Oberliga Nordost. Obwohl es sich um einen Leipziger Verein handelt, trägt Inter Leipzig seine Heimspiele im Hafenstadion Torgau aus, da der Verein in Leipzig über kein Oberliga-taugliches Stadion verfügt. Das Leipziger Zentralstadion wurde 1956 mit 100.000 Plätzen als größtes Stadion Deutschlands eröffnet. Der Zuschauerrekord liegt weit über dem Fassungsvermögen und datiert aus dem Jahr 1958 beim Spiel SC Wismut Karl-Marx-Stadt gegen 1. FC Kaiserslautern, bei dem 125.000 Zuschauer im Stadion waren. Dies ist der Zuschauerrekord für Fußballspiele in Deutschland. Zwischen 2000 und 2004 wurde innerhalb des alten Stadionwalls ein neues Fußballstadion mit 44.345 Plätzen gebaut. Es diente während der Fußball-Weltmeisterschaft 2006 als Austragungsort von Gruppenspielen und einer Achtelfinalpartie. Es ist das Heimstadion von RB Leipzig und wurde 2010 in Red Bull Arena umbenannt. Es gehört mit der Arena Leipzig, der Nordanlage (Leichtathletikanlage) und der Festwiese zum Leipziger Sportforum. Das Bruno-Plache-Stadion in Probstheida war bei seiner Einweihung 1922 mit 40.000 Sitzplätzen das größte vereinseigene Stadion in Deutschland und ist Spielstätte des 1. FC Lokomotive Leipzig. Der Alfred-Kunze-Sportpark in Leutzsch ist das Heimstadion der BSG Chemie Leipzig. ==== Hockey ==== Mit dem ATV Leipzig 1845, dem Leipziger SC 1901 und dem HC Lindenau-Grünau wird in Leipzig Feld- und Hallenhockey auf hohem Niveau gespielt. Während die Damen des ATV in der Feldsaison 2010/11 in der 2. Bundesliga spielten, sind sie seit Jahren in der Hallenhockeybundesliga vertreten. Sowohl die Herren des ATV, als auch die Damen des HCLG Leipzig spielten beide in der Saison 2009/10 in der zweiten Bundesliga und sind aktuell in der dritthöchsten Spielklasse, der auch die Damen des Leipziger SC lange Jahre angehörten, vertreten. Die Herren des Leipziger SC schafften den Aufstieg 2010/11 in die Regionalliga und konnten diese Spielklasse 2011/12 halten. In der Arena Leipzig wurde 2003 die 1. Hallenhockey-Weltmeisterschaft in der Halle und 2015 die 4. Hallenhockey-Weltmeisterschaft ausgetragen. Es traten sowohl bei den Herren wie bei den Damen 12 Nationalmannschaften an. 2005 wurde in Leipzig die Feldhockey-Europameisterschaft der Herren ausgetragen. ==== Leichtathletik ==== Das Leichtathletikzentrum Leipzig übernahm die ehemals sehr erfolgreiche Leichtathletiksektion der DHfK. Besonders in den Disziplinen Kugelstoßen und Hürdenlauf konnten in den vergangenen Jahren Erfolge erzielt werden. ==== Wassersport ==== Um national und international erfolgreicher auftreten zu können, haben sich verschiedene Leipziger Schwimmvereine am 25. September 2008 zu einer Startgemeinschaft (SSG Leipzig) zusammengeschlossen. Hier treten die D-Kader der Vereine geschlossen bei Wettkämpfen auf. Der Kanusport hat in Leipzig eine große Tradition. So ist der Leipziger Kanu Club (LKC) besonders im Kanuslalom aktiv. Aber auch im Rennsport (zum Beispiel bei der SC DHfK Leipzig sowie LVB Leipzig) sind Leipziger Kanusportler international erfolgreich (unter anderem: Christian Gille, Anett Schuck, Robert Nuck, Tina Dietze und Mandy Planert). Darüber hinaus gibt es viele Kanuvereine, die ausschließlich das Wasserwandern betreiben. Der SC DHFK ist beim Turmspringen aktiv, Heike Fischer gewann bei den Olympischen Spielen in Peking 2008 eine Bronzemedaille. ==== Radsport ==== Auf der Radrennbahn Alfred-Rosch-Kampfbahn in Kleinzschocher finden seit 1949 Bahnradsportveranstaltungen statt, deutsche Bahnmeisterschaften, früher DDR-Meisterschaften. 1960 wurden auf ihr die Bahn-Weltmeisterschaften ausgetragen sowie 1981 die Juniorenweltmeisterschaften. 1988 war sie Ziel der Internationalen Friedensfahrt. ==== Rugby ==== Rugby kann auf eine lange Tradition in Leipzig verweisen. Rugby in Leipzig geht bis in die 1950er Jahre zurück, als mehrere Rugby-Abteilungen gegründet wurden. BSG Lok Leipzig-Wahren, DHfK Leipzig, BSG Gastronom Leipzig und der Armeesportklub ASK Leipzig waren vier Teams, die sich in dieser Zeit bildeten. DHfK war das erfolgreichste Team. Die Mannschaft gewann zwischen 1954 und 1963 fünf Meisterschaften, gefolgt von Lok mit vier. In den 1980er Jahren hatten nur zwei Rugby-Abteilungen überlebt. Dies waren Lok und Gastronom. Lok hatte eine erfolgreiche Periode in den späten 1970er Jahren, als er die Dominanz von BSG Stahl Hennigsdorf brach und drei Ostdeutsche Meisterschaften hintereinander gewann. Mit der deutschen Wiedervereinigung gingen die beiden Rugby-Abteilungen in den HSG DHfK Leipzig über. Im September 1994 traten die Rugbyspieler in den TSV 1893 Leipzig-Wahren ein, wo sie wieder eine eigene Abteilung gründeten. Die Rugbyspieler blieben die nächsten zehn Jahre beim TSV, bis sie im September 2004 den RC Leipzig im Stadtteil Lützschena-Stahmeln gründeten. Der Rugby-Verband Sachsen hat seinen Sitz in Leipzig und plant zusammen mit dem Deutschen Rugby-Verband und der WILD Rugby Academy den Aufbau eines Leistungszentrums. Rugby zählt neben wenigen anderen Sportarten in Leipzig zu einer Bundesligasportart. ==== Bergsport ==== Sektion Leipzig des Deutschen Alpenvereins Sektion BSV Leipzig-Mitte des Deutschen Alpenvereins IG Klettern und Naturfreunde Mittelsachsen, Mitpächter der Steinbrüche der Leipziger Kletterschule ==== Andere ==== Damenmannschaft des Tischtennisvereins LTTV Leutzscher Füchse 1990; Aufstieg in der Saison 2012/13 in die erste Tischtennis-Bundesliga American Football Club ASC Leipzig Hawks e. V. (Herren-, U19-, U17-, Damenmannschaft und den Hawkies) American Football Club Leipzig Lions von 1992 in der Regionalliga American Football Team Leipzig Kings in der European League of Football (kein eingetragener Verein) Unihockey-Abteilung des SC DHfK Leipzig und Unihockey-Löwen Leipzig; beide in der Unihockey-Bundesliga Eishockeymannschaft Icefighters Leipzig in der Eishockey-Oberliga Nord. SC Leipzig-Gohlis: Herren- und Damenmannschaft zeitweise in der Schachbundesliga Jährlich wird auf der Anlage des Leipziger Tennisclubs 1990 das Tennisturnier Leipzig Open als Teil der German Masters Series durchgeführt. Motorsport: Speedway im Motodrom des Motorsportclubs MC Post Leipzig am Cottaweg. Slackline: Neben Dresden und Chemnitz ist der Slacknetz Leipzig e. V. einer der ersten Slackline-Vereine in Deutschland. === Internationale Großveranstaltungen === Leipzig war in den letzten Jahren oftmals Austragungsort von internationalen Sportveranstaltungen. Die 1. Hallenhockey WM wurde 2003 in der Arena ausgetragen, ebenso wie die Europameisterschaft der Herren im Feldhockey und die Weltmeisterschaften im Fechten in den Jahren 2005 und 2017. Bundesweites Aufsehen erweckte auch 2005 die Leipziger Kandidatur für die Olympischen Spiele 2012 und in deren Folge aufgekommene Korruptionsvorwürfe. Leipzig setzte sich zunächst überraschend gegen andere deutsche Städte wie Hamburg als nationaler Kandidat durch. Die Bewerbung wurde allerdings vom IOC nicht angenommen, weil die Stadt mit dieser weltweit größten Veranstaltung überfordert sei. Die Nachnutzung der erforderlichen Anlagen sei nicht gesichert und die Hotelkapazität zu klein. Die Spiele 2012 wurden nach London vergeben. 2006 war die Stadt offizieller Austragungsort der Fußball-Weltmeisterschaft 2006. Ein Jahr später folgte die Weltmeisterschaft im Bogenschießen auf der Festwiese. Dazu kamen denn die Europameisterschaften im Modernen Fünfkampf 2009 und im Fechten (2010).Im Pferdesport kann die Stadt auf zahlreiche Veranstaltungen zurück- und vorausblicken. So fand 2002 das Weltcupfinale der Springreiter und 2008 der Vierspänner in Leipzig statt. Das Weltcupfinale 2011 wurde auf der Leipziger Messe erstmals in allen vier Disziplinen ausgetragen. Jährlich im Januar findet das Weltcupturnier „Partner Pferd“ statt. Die Tradition des Leipzig-Marathons reicht bis ins Jahr 1897 zurück, als vom Leipziger Club Sportbrüder der erste Marathonlauf auf deutschem Boden organisiert wurde. Die jetzige Veranstaltung wird seit 1977 ausgetragen. Seit 1990 findet im Auwald der Leipziger 100-km-Lauf statt. == Persönlichkeiten == Leipzig hat zahlreiche prominente Söhne und Töchter, beispielsweise den Philosophen und Wissenschaftler Gottfried Wilhelm Leibniz (1646–1716), den Komponisten Richard Wagner (1813–1883), den Kunsthistoriker Nikolaus Pevsner (1902–1983), den Sozialisten Karl Liebknecht (1871–1919) oder den NASA-Manager Jesco von Puttkamer (1933–2012). Zahlreiche nicht weniger berühmte Persönlichkeiten haben zumindest Teile ihres Lebens in Leipzig verbracht und gewirkt, wie die Komponisten Johann Sebastian Bach und Felix Mendelssohn Bartholdy, der Philosoph Friedrich Nietzsche, der Physiknobelpreisträger Werner Heisenberg oder der Automobilbauer August Horch. Die Stadt Leipzig hat seit 1832 an 82 Persönlichkeiten das Ehrenbürgerrecht verliehen. Sechs Personen (Karl Binding, Paul von Hindenburg, Adolf Hitler, Hans Frank, Wilhelm Frick und Walter Ulbricht) wurde das Ehrenbürgerrecht wieder aberkannt. Seit dem Jahre 1997 verleiht die Stadt Leipzig die Ehrenmedaille an Persönlichkeiten, die sich um das Ansehen der Stadt verdient gemacht haben. Die Bürger der Stadt Leipzig wurden 2006 mit dem Courage-Preis für ihren Mut und gewaltlose Demonstrationen, die den Grundstein für die Wiedervereinigung legten, ausgezeichnet. Leipzig hat auch eine Vielzahl von Persönlichkeiten, die als Originale zu bezeichnen sind. Dazu zählt u. a. Achim Ernst Brembach, der als „Kerzenmann von Leipzig“ Bekanntheit erlangte. == Nach Leipzig benannte Orte == Das Dorf Thurland in Sachsen-Anhalt hat einen Ortsteil Klein Leipzig. In Russland gibt es in der Oblast Tscheljabinsk (Rajon Warnenskij) im Südural nahe der Grenze zu Kasachstan ein Dorf mit dem Namen Лейпциг (Leipzig), das auf Kosaken zurückgeht, die an der Völkerschlacht bei Leipzig teilgenommen hatten. Die ukrainische Siedlung Serpnewe westlich von Odessa nahe der Grenze zur Republik Moldau wurde 1814 von 126 deutschen Auswandererfamilien gegründet, die Zar Alexander I. als Kolonisten ins Gouvernement Bessarabien im Russischen Kaiserreich gerufen hatte. Der Ort hieß von 1817 bis 1940 Leipzig. Der im bessarabischen Leipzig (heute Serpnewe) geborene Daniel Sprecher wanderte 1885 in die USA aus, zunächst nach Dakota. 1893 ließ er sich mit weiteren deutschen Aussiedlern in Nord-Dakota nieder. 1895 wurde der neu entstandene Ort nach Sprechers Geburtsort New Leipzig benannt. Um die Aussprache zu erleichtern, wurden Orte in den USA statt Leipzig als Leipsic bezeichnet, so ein Leipsic im Bundesstaat Ohio, … und ein weiteres Leipsic in Delaware. In der kanadischen Provinz Saskatchewan gibt es in der Landgemeinde Reford No. 379 einen Weiler mit dem Namen Leipzig, der bis 1984 ein eigenständiges Dorf war. Er enthält das ehemalige Kloster Leipzig Convent. Die Feste Leipzig (seit 1918 Groupe fortifié François-de-Guise) ist eine etwa neun Kilometer nordwestlich von Metz gelegene, von 1907 bis 1912 zur Verteidigung des Deutschen Kaiserreichs gegen Frankreich errichtete Festungsanlage. Anlässlich der Erstbesteigung 1989 eines Berges im Pamir an der Grenze von Kirgisistan und Tadschikistan durch eine Bergsteigergruppe aus Leipzig wurde dieser als Pik Leipzig benannt. == Leipzig im Film == Leipzig ist Kulisse für mehrere Filme und Fernsehserien. Der DEFA-Kriminalfilm Schwarzer Samt mit Erich Gerberding, Christine Laszar und Fred Delmare wurde 1963 in und um Leipzig gedreht. Drehorte waren unter anderem das Hotel Astoria und das Völkerschlachtdenkmal. Auch Rudi Strahls 1965/66 gedrehte Gangster-Komödie Hände hoch oder ich schieße mit Rolf Herricht, Herbert Köfer und Manfred Uhlig zeigt verschiedene Orte der Leipziger Innenstadt. Er ist der letzte unveröffentlichte DEFA-Film mit Aufführungsverbot aus der Zeit des 11. Plenums von 1965 und konnte erst 2009 für eine Kinoversion rekonstruiert werden. Leipziger Schauplätze präsentieren auch der DEFA-Musikfilm Heißer Sommer von 1968, der Kinderfilm Der Weihnachtsmann heißt Willi (1969), ebenfalls mit Rolf Herricht und die DEFA-Komödie Du und ich und Klein-Paris von 1971 nach dem gleichnamigen Jugendbuch von Rudi Strahl. Auch Nikolaikirche, ein Film über die Demonstrationen im Wendeherbst 1989, wurde an Leipziger Originalschauplätzen gedreht. Das ZDF zeigt die Krimiserie SOKO Leipzig. Die ARD zeigt im Ersten die Serien Tierärztin Dr. Mertens und In aller Freundschaft sowie im MDR Fernsehen Dokumentationen über den Zoo (Elefant, Tiger & Co.) sowie über den Bahnhof Leipzig Hauptbahnhof. Außerdem zeigte die ARD im Ersten zwischen 2000 und 2007 die Leipziger Ermittler Ehrlicher und Kain und von 2008 bis 2015 Saalfeld und Keppler der Fernsehkrimireihe Tatort. In dem Dokumentarfilm Tanz mit der Zeit werden vier ehemalige Mitglieder der Oper Leipzig, die in dem Tanzstück Zeit – tanzen seit 1927 von Heike Hennig & Co mit achtzig Jahren auf die Bühne zurückkehrten, für ZDF und Arte von Trevor Peters porträtiert. Die im Auftrag von ARD und MDR produzierten Filme Ein Fall von Liebe sowie die dazugehörige Fernsehserie werden ebenfalls in Leipzig gedreht. Auch der größte Teil des Films Das Fliegende Klassenzimmer nach dem gleichnamigen Buch von Erich Kästner spielt in Leipzig. Die westlichen und südlichen Stadtteile der Wendezeit bilden die Kulisse für den Videoclip zu Die da von den Fantastischen Vier. In jüngerer Zeit war die Stadt Drehort für Fernsehfilme wie Die Frau vom Checkpoint Charlie, Die Gustloff oder Dresden und Kinofilme wie Das weiße Band, Flightplan, Mr. Nobody, Schwerkraft, Ein russischer Sommer, Lila, Lila, Unknown Identity und The First Avenger: Civil War. == Zitate == == Trivia/Redewendung == Leipzig/Einundleipzig: Nach dem deutschen Sieg im Deutsch-Französischen Krieg 1870/71 (kurz gesprochen: „Siebzig/Einundsiebzig“) über Napoleon III. wurde der Sieg der Deutschen und Verbündeten in der Völkerschlacht bei Leipzig (1813) über Napoleon I. kurz und in Erinnerung daran „Leipzig/Einundleipzig“ benannt. Diese Redewendung hielt sich sehr lange im deutschen Sprachraum. Später verstand man darunter: „Das ist schon so lange her!“ == Siehe auch == Sozialversicherungszentrum Leipzig Kreisreformen in Deutschland nach 1990 Sächsisch-Thüringische Industrie- und Gewerbeausstellung Leipzig 1897 Garnison Leipzig == Literatur == === Stadtführer === Toma Babovic, Edgar S. 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Detlef Döring (Hrsg.): Geschichte der Stadt Leipzig. Bd. 2: Von der Reformation bis zum Wiener Kongress. Leipziger Universitätsverlag, Leipzig 2016, ISBN 978-3-86583-802-5. Susanne Schötz (Hrsg.): Geschichte der Stadt Leipzig. Bd. 3: Vom Wiener Kongress bis zum Ersten Weltkrieg, Leipziger Universitätsverlag, Leipzig 2017, ISBN 978-3-86583-803-2, Ulrich von Hehl (Hrsg.): Geschichte der Stadt Leipzig. Bd. 4: Vom Ersten Weltkrieg bis zur Gegenwart, Leipziger Universitätsverlag, Leipzig 2019, ISBN 978-3-86583-804-9, Volker Ebersbach: Leipzig – eine Stadtlandschaft. Fotos von Sebastian Kaps. Mitteldeutscher Verlag, Halle/Saale 1994, ISBN 3-354-00815-6 (Bildband). Mario Gäbler: Was von der Buchstadt übrig blieb. Die Entwicklung der Leipziger Verlage nach 1989. Plöttner Verlag, Leipzig 2010, ISBN 978-3-938442-76-0. Niels Gormsen, Armin Kühne: Leipzig. Den Wandel zeigen. 3. Auflage. Edition Leipzig, Leipzig 2000, ISBN 3-361-00509-4. 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https://de.wikipedia.org/wiki/Leipzig
Heinrich Heine
= Heinrich Heine = Christian Johann Heinrich Heine (* 13. Dezember 1797 als Harry Heine in Düsseldorf, Herzogtum Berg; † 17. Februar 1856 in Paris) war einer der bedeutendsten deutschen Dichter, Schriftsteller und Journalisten des 19. Jahrhunderts. Heinrich Heine gilt als einer der letzten Vertreter und zugleich als Überwinder der Romantik. Er machte die Alltagssprache lyrikfähig, erhob das Feuilleton und den Reisebericht zur Kunstform und verlieh der deutschen Literatur eine zuvor nicht gekannte, elegante Leichtigkeit. Die Werke kaum eines anderen Dichters deutscher Sprache wurden bis heute so häufig übersetzt und vertont. Als kritischer, politisch engagierter Journalist, Essayist, Satiriker und Polemiker war Heine ebenso bewundert wie gefürchtet. Im Deutschen Bund mit Publikationsverboten belegt, verbrachte er seine zweite Lebenshälfte im Pariser Exil. Antisemiten und Nationalisten feindeten Heine wegen seiner jüdischen Herkunft und seiner politischen Haltung über den Tod hinaus an. Die Außenseiterrolle prägte sein Leben, sein Werk und dessen Rezeptionsgeschichte. == Leben und Werk == === Herkunft, Jugend und Lehrjahre === Heines Geburtsort ist also bekannt, über sein genaues Geburtsdatum herrscht dagegen bis heute Unklarheit. Alle zeitgenössischen Akten, die darüber Auskunft geben könnten, sind im Laufe der letzten 200 Jahre verloren gegangen. Heine selbst bezeichnete sich scherzhaft als „ersten Mann des Jahrhunderts“, da er in der Neujahrsnacht 1800 geboren sei. Gelegentlich gab er auch 1799 als Geburtsjahr an. In der Heine-Forschung gilt heute der 13. Dezember 1797 als wahrscheinlichstes Geburtsdatum. Im Februar 1798 trug der bergische Landesrabbiner Löb Scheuer ihn – möglicherweise anlässlich seiner Beschneidung – als „Hery Heine“ in das Register der jüdischen Gemeinde Düsseldorf ein.Die Familie Heine ist seit dem 17. Jahrhundert in Bückeburg nachgewiesen. Harry Heine – so sein Geburtsname – war das älteste von vier Kindern des Tuchhändlers Samson Heine und dessen Frau Betty (eigentlich Peira), geborene van Geldern. Sie war eine Tochter des angesehenen Arztes Gottschalk van Geldern, der bis 1795 der Judenschaft in Jülich-Berg vorgestanden hatte, sowie die Urenkelin des kurfürstlichen Hofkammeragenten Joseph Jacob van Geldern, in dessen Wohnhaus zu Beginn des 18. Jahrhunderts die erste Synagoge Düsseldorfs eingerichtet worden war. Über die Familie seiner Mutter war Heine ein Cousin dritten Grades von Karl Marx, mit dem er sich später anfreundete. Seine Geschwister waren Charlotte (* 18. Oktober 1800 in Düsseldorf; † 14. Oktober 1899 in Hamburg), Gustav (* ca. 1803 in Düsseldorf; † 15. November 1886 in Wien), der spätere Baron Heine-Geldern und Herausgeber des Wiener Fremden-Blatts, sowie Maximilian (* ca. 1804; † 1879), später Arzt in Sankt Petersburg.Sie alle wuchsen in einem vom Geist der Haskala – der jüdischen Aufklärung – geprägten Elternhaus auf, das weitgehend assimiliert war. Ab 1803 besuchte Harry Heine die israelitische Privatschule von Hein Hertz Rintelsohn. Als die kurpfälzisch-bayerische Regierung, der das Herzogtum Berg und dessen Hauptstadt Düsseldorf unterstanden, 1804 auch jüdischen Kindern den Besuch christlicher Schulen erlaubte, wechselte er auf die städtische Grundschule, die heutige Max-Schule in der Citadellstraße, und 1807 in die Vorbereitungsklasse des Düsseldorfer Lyzeums, des heutigen Görres-Gymnasiums, das im Sinne der Spätaufklärung wirkte. Das Lyzeum, das von katholischen Ordensgeistlichen geleitet wurde, besuchte er seit 1810. Er und sein Bruder waren dort für lange Zeit die einzigen jüdischen Schüler. Im Jahr 1814 verließ Heine das Lyzeum ohne Abgangszeugnis, da er sich, der Familientradition folgend, an einer Handelsschule auf einen kaufmännischen Beruf vorbereiten sollte. Infolge der Französischen Revolution fielen Heines Kindheit und Jugend in eine Zeit großer Veränderungen. 1811 erlebte der 13-Jährige den Einzug Napoleons I. in Düsseldorf. Maximilian Joseph von Bayern hatte die Souveränität über das Herzogtum Berg 1806 an den Kaiser der Franzosen abgetreten. In manchen biografischen Schriften findet sich die unbegründete Annahme, Heine hätte aus diesem Grund Anspruch auf die französische Staatsbürgerschaft erheben können. Entgegen späteren Behauptungen des antisemitischen Historikers Heinrich von Treitschke hat er dies nie getan. Als Großherzogtum Berg wurde seine Heimat von 1806 bis 1808 von Napoleons Schwager Joachim Murat und von 1808 bis 1813 von Napoleon selbst regiert. Als Gliedstaat des Rheinbunds stand das Land unter starkem französischem Einfluss. Heine verehrte den Kaiser zeitlebens wegen der Einführung des Code civil, der 1804 in Kraft getreten war und Juden und Nicht-Juden gesetzlich gleichgestellt hatte. Nach dem Sturz Napoleons erlebte Heine die politische und territoriale Neuordnung des Kontinents unter dem restaurativen Metternichschen System, das als Inbegriff von Verfolgung und Unterdrückung von Demokratie, Presse-, Meinungs- und Versammlungsfreiheit galt. In den Jahren 1815 und 1816 arbeitete Heine als Volontär zunächst bei dem Frankfurter Bankier Rindskopff. Damals lernte er in der Frankfurter Judengasse das bedrückende und ihm bis dahin fremde Ghettodasein vieler ärmerer Juden kennen. Heine und sein Vater besuchten damals auch die Frankfurter Freimaurerloge Zur aufgehenden Morgenröte. Unter den Freimaurern erfuhren sie die gesellschaftliche Anerkennung, die ihnen als Juden ansonsten oft verwehrt blieb. Viele Jahre später, 1844, wurde Heine Mitglied der Loge Les Trinosophes in Paris.1816 wechselte er ins Bankhaus seines wohlhabenden Onkels Salomon Heine in Hamburg. Dieser war, im Gegensatz zu seinem Bruder Samson, geschäftlich höchst erfolgreich und mehrfacher Millionär. Bis zu seinem Tod im Jahr 1844 unterstützte Salomon seinen Neffen finanziell, obwohl er wenig Verständnis für dessen literarische Interessen hatte. Überliefert ist sein Ausspruch: „Hätt’ er gelernt was Rechtes, müsst er nicht schreiben Bücher.“ Schon während seiner Schulzeit auf dem Lyzeum hatte Harry Heine erste lyrische Versuche unternommen. Seit 1815 schrieb er regelmäßig, und 1817 wurden in der Zeitschrift Hamburgs Wächter erstmals Gedichte von ihm veröffentlicht. Dennoch fühlte sich Heine in Hamburg nicht wohl. In Briefen an seinen Düsseldorfer Schulfreund Christian Sethe bezeichnete er die Stadt als „Schacherstadt“ und „verludertes Kaufmannsnest“, in dem es „Huren genug, aber keine Musen“ gebe. Nach der Literaturwissenschaftlerin Anna Danneck zeigte sich bereits hier, in der als materialistisch empfundenen Hamburger Umgebung, Heines Selbstverständnis als rebellischer Dichter.Da Heine weder Neigung noch Talent für Geldgeschäfte mitbrachte, richtete sein Onkel ihm schließlich 1818 ein Tuchgeschäft ein. Aber „Harry Heine & Comp.“ musste bereits 1819 Konkurs anmelden. Der Inhaber hatte sich schon damals lieber der Dichtkunst gewidmet. Dem Familienfrieden abträglich war auch Harrys unglückliche Liebe zu seiner Cousine Amalie. Die unerwiderte Zuneigung verarbeitete er später in den romantischen Liebesgedichten im Buch der Lieder. Die bedrückende Atmosphäre im Haus des Onkels, in dem er sich zunehmend unwillkommen fühlte, beschrieb er in dem Gedicht Affrontenburg. === Studium in Bonn, Göttingen und Berlin === Wahrscheinlich haben die Zwistigkeiten in der Familie Salomon Heine schließlich davon überzeugt, dem Drängen des Neffen nachzugeben und ihm ein Studium fernab von Hamburg zu ermöglichen. 1819 nahm Heine das Studium der Rechts- und Kameralwissenschaft auf, obwohl ihn beide Fächer wenig interessierten. Zunächst schrieb er sich in die Rheinische Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn ein und wurde Mitglied der Burschenschaft Allemannia, die unter dem Tarnnamen Allgemeinheit auftrat.Heine belegte in Bonn nur eine einzige juristische Vorlesung, dagegen hörte er im Wintersemester 1819/20 die Vorlesung zur Geschichte der deutschen Sprache und Poesie von August Wilhelm Schlegel. Der Mitbegründer der Romantik übte einen starken literarischen Einfluss auf den jungen Heine aus, was diesen aber nicht daran hinderte, sich in späteren Werken spöttisch über Schlegel zu äußern. Das Gleiche widerfuhr einem weiteren seiner Bonner Lehrer, Ernst Moritz Arndt, dessen nationalistische Ansichten Heine in späteren Gedichten und Prosatexten mehrfach aufs Korn nahm. In seiner Bonner Zeit übersetzte Heine Werke des romantischen englischen Dichters Lord Byron ins Deutsche. Im Wintersemester 1820/21 ging er an die Georg-August-Universität Göttingen, die er als äußerst rückständig und geistig wenig anregend empfand. Positiv bewertete er lediglich die Vorlesung des Historikers Georg Friedrich Sartorius über deutsche Geschichte. Noch Jahre später beschrieb er die Universitätsstadt in Die Harzreise voller Sarkasmus und Ironie: Bereits wenige Wochen nach seiner Ankunft musste Heine die Hochschule wieder verlassen. Der Universitätsleitung war zu Ohren gekommen, dass er seinen Kommilitonen Wilhelm Wibel wegen einer Beleidigung zum Duell gefordert hatte. Wibel als Beleidiger wurde daraufhin relegiert, während Heine das consilium abeundi erhielt. Nachdem Heine sich in einem Bordell eine Geschlechtskrankheit zugezogen hatte, schloss ihn wenig später auch die Burschenschaft, der er in Bonn beigetreten war, wegen „Vergehens gegen die Keuschheit“ aus. Klaus Oldenhage sieht den Ausschluss eher als Folge der antisemitischen Beschlüsse des Dresdner Burschentages von 1820. Heine wechselte an die Berliner Universität, wo er von 1821 bis 1823 studierte und u. a. Vorlesungen von Georg Wilhelm Friedrich Hegel hörte. Dessen Philosophie prägte das Geschichtsverständnis und die Kunsttheorie Heines. Wie die Junghegelianer wandelte er aber die konservativen Elemente des Hegelschen Denkens „in sozialen und religiösen Radikalismus“ um. Dazu passt eine häufig nacherzählte Anekdote Heines über seinen Philosophielehrer: „Als ich einst unmuthig war über das Wort: ‚Alles, was ist, ist vernünftig‘, lächelte er sonderbar und bemerkte: Es könnte auch heißen ‚Alles, was vernünftig ist, muß seyn‘. Er sah sich hastig um, beruhigte sich aber bald, denn nur Heinrich Beer hatte das Wort gehört.“Bald fand Heine Kontakt zu den literarischen Zirkeln Berlins und war regelmäßiger Gast im Salon Elise von Hohenhausens sowie im sogenannten Zweiten Salon Rahel Varnhagens. Rahel und ihr Mann Karl August Varnhagen von Ense blieben Heine freundschaftlich verbunden und förderten seine Karriere, indem sie seine frühen Werke positiv besprachen und ihm weitere Kontakte vermittelten, beispielsweise zu Varnhagens Schwester Rosa Maria Assing, deren Salon in Hamburg er frequentierte. Varnhagen von Ense stand bis zu Heines Tod in einem regen Briefwechsel mit ihm. Während seiner Berliner Zeit debütierte Heine als Buchautor. Anfang 1822 erschienen in der Maurerschen Buchhandlung seine Gedichte, 1823 im Verlag Dümmler die Tragödien, nebst einem lyrischen Intermezzo. Die Druckfahnen ließ er von dem jungen Handelsgehilfen und späteren Zeitschriftenredakteur Joseph Lehmann durchsehen und korrigieren, der auch einige Parodien auf Heines Lyrik verfasste. Seinen Tragödien Almansor und William Ratcliff hatte Heine zunächst einen hohen Stellenwert zugemessen, sie blieben jedoch erfolglos. Die Uraufführung des Almansor musste 1823 in Braunschweig wegen Publikumsprotesten abgebrochen werden, der Ratcliff kam zu seinen Lebzeiten überhaupt nicht auf eine Bühne. In den Jahren 1822 bis 1824 befasste sich Heine literarisch erstmals intensiv mit dem Judentum: Er war in Berlin aktives Mitglied im Verein für Cultur und Wissenschaft der Juden, verkehrte u. a. mit Leopold Zunz, einem der Begründer der Wissenschaft des Judentums, und nahm 1824 die Arbeit an dem Fragment gebliebenen Roman Der Rabbi von Bacherach auf. Auf einer Reise nach Posen, die er 1822 von Berlin aus unternahm, begegnete er erstmals dem Chassidismus, der ihn zwar faszinierte, mit dem er sich jedoch nicht identifizieren konnte. Im Frühjahr 1823, zwei Jahre vor seinem Übertritt zum Christentum, schrieb er in einem Brief an seinen Freund Immanuel Wohlwill: „Auch ich habe nicht die Kraft einen Bart zu tragen, und mir Judemauschel nachrufen zu lassen, und zu fasten etc.“ Nach der Taufe rückten jüdische Themen im Werk Heines zwar in den Hintergrund. Sie beschäftigten ihn aber ein Leben lang und traten vor allem in seinem Spätwerk wieder verstärkt zutage, etwa in den Hebräischen Melodien, dem Dritten Buch des Romanzero. === Promotion, Taufe und Platen-Affäre === Im Jahr 1824 kehrte Heine nach Göttingen zurück, wo er Mitglied des landsmannschaftlichen Corps Guestphalia wurde. Im Mai des folgenden Jahres legte er sein Examen ab und wurde im Juli 1825 zum Doktor der Rechte promoviert. Um seine Anstellungschancen als Jurist zu erhöhen, ließ Heine sich im Juni 1825, gleich nach dem bestandenen Examen, in Heiligenstadt evangelisch-lutherisch taufen und nahm die Vornamen Christian Johann Heinrich an. Von da an nannte er sich Heinrich Heine. Zunächst versuchte er, die Konversion zum Christentum geheim zu halten: So wurde er nicht in der Kirche getauft, sondern in der Wohnung des Pfarrers mit dem Taufpaten als einzigem Zeugen. Religiös völlig indifferent, sah er in der Taufe „nichts als eine bloße Nützlichkeitstatsache“ und im Taufschein nur das „Entre Billet zur Europäischen Kultur“. Seine Pläne, sich in Hamburg als Anwalt niederzulassen, scheiterten aber noch Ende desselben Jahres. Und er musste feststellen, dass viele Träger dieser Kultur auch einen getauften Juden wie ihn nicht als ihresgleichen akzeptierten. Heine war allerdings nicht bereit, Zurücksetzungen und Kränkungen unwidersprochen hinzunehmen. Dies zeigte sich deutlich in der so genannten Platen-Affäre: Aus einem literarischen Streit mit dem Dichter August Graf von Platen entwickelte sich eine persönliche Auseinandersetzung, in deren Folge Heine wegen seiner jüdischen Herkunft angegriffen wurde. Dies sollte das Heine-Bild in nationalistischen und antisemitischen Kreisen bis in die jüngste Gegenwart prägen. Heine hatte 1827 im Anhang des zweiten Teils seiner „Reisebilder“ einige Epigramme seines Freundes Karl Immermann zitiert, in denen dieser sich über einige Autoren, darunter Platen, lustig machte, weil sie versuchten, Goethes Verse aus „West-östlicher Divan“ nachzuahmen. Während andere die Kritik ignorierten, reagierte Platen mit einem 1829 veröffentlichten Lustspiel über Immermann, in dem er Heine als „Petrark des Laubhüttenfestes“ und „des sterblichen Geschlechts der Menschen Allerunverschämtester“ bezeichnete und ihm „Synagogenstolz“ vorwarf. Mit dem Immermann in den Mund gelegten Satz „… doch möcht’ ich nicht sein Liebchen sein […] Denn seine Küsse sondern ab Knoblauchsgeruch“ berührte Platen selbst das Thema gleichgeschlechtlicher Liebe, das ihm zum Verhängnis werden sollte. Heine wertete Platens Äußerungen als Teil einer Kampagne, die seine Bewerbung um eine Professur an der Münchener Universität hintertreiben sollte. Der Schlag erfolgte in literarischer Form im dritten Teil der Reisebilder: In Die Bäder von Lucca kritisierte Heine Platens Dichtung als steril und führte dies auf die Homosexualität des Grafen zurück, die er damit publik machte. Er bezeichnete ihn als warmen Freund und schrieb, der Graf sei mehr ein Mann von Steiß als ein Mann von Kopf.Der Streit schadete schließlich beiden Schriftstellern erheblich. Platen, der sich gesellschaftlich unmöglich gemacht sah, blieb im freiwilligen Exil in Italien. Heine wiederum fand wenig Verständnis und kaum öffentliche Unterstützung für sein Vorgehen. Ohne Anlass und Umstände der Affäre zu erwähnen, warfen Kritiker ihm wegen seiner Äußerungen bis in die jüngste Vergangenheit immer wieder „Charakterlosigkeit“ vor. Andere, wie der zeitgenössische Literaturkritiker Karl Herloßsohn, gestanden Heine dagegen zu, er habe Platen lediglich mit gleicher Münze heimgezahlt. Heine machte die judenfeindlichen Angriffe Platens und anderer dafür verantwortlich, dass König Ludwig I. von Bayern ihm die schon sicher geglaubte Professur nicht verlieh. Dafür bedachte er später auch den Monarchen mit einer ganzen Reihe spöttischer Verse, etwa in Lobgesänge auf König Ludwig: Die erhofften Folgen der Taufe waren ausgeblieben, und Heine bedauerte seinen Übertritt zum Christentum später mehrfach ausdrücklich. Seinem Freund Moses Moser schrieb er im Januar 1826: Und von der Nordsee schrieb er ihm im August 1826: Für Klaus Briegleb ist dieses Zitat ein Schlüsselbeleg für seine These, dass Heine als genuin jüdischer Schriftsteller in der Diaspora zu verstehen sei, ja als ein „neuzeitlicher Marrane“, d. h. als ein „Getaufter, der im Herzen jüdisch bleibt.“ An der Leitfigur des „ewigen Juden“ hat Briegleb „seine umfassende Deutung von Denk- und Schreibweise des exilierten Heine festgemacht“. Brieglebs These stieß in der Fachwelt auf Widerspruch. Gleichwohl betonen fast alle Biografen, wenn auch weniger zugespitzt als Briegleb, die Bedeutung der jüdischen Herkunft Heines und der ihm verweigerten Gleichstellung für Heines Leben und Dichtung. Insbesondere der Literaturkritiker Marcel Reich-Ranicki vertrat die Ansicht, Heines Emigration nach Paris sei weniger politisch als vielmehr durch seine Ausgrenzung aus der deutschen Gesellschaft motiviert gewesen. In Frankreich habe Heine als Deutscher und damit als Ausländer gegolten, in Deutschland dagegen immer als Jude und damit als Ausgestoßener.Mit der Platen-Affäre war Heines letzter Versuch gescheitert, als Jurist eine Anstellung in einem der deutschen Staaten zu erhalten. Er entschloss sich daher, für damalige Verhältnisse eher ungewöhnlich, seinen Lebensunterhalt als freischaffender Schriftsteller zu verdienen. === Erste literarische Erfolge === Seine ersten Gedichte (Ein Traum, gar seltsam sowie Mit Rosen, Zypressen und Flittergold) veröffentlichte Heine bereits 1816 in der Zeitschrift Hamburgs Wächter. Sie erschienen unter dem Pseudonym Sy. Freudhold Riesenharf, einem Anagramm von Harry Heine, Dusseldorff. Nachdem der Verlag F.A. Brockhaus 1821 die Veröffentlichung seines ersten Lyrikbandes abgelehnt hatte, publizierte er die Gedichte von H. Heine 1822 bei der Maurerschen Buchhandlung in Berlin. Der schmale Band umfasste 58 eigene Werke, darunter später so bekannte wie Die Grenadiere und Belsatzar, sowie vier Übersetzungen von Gedichten Lord Byrons. Im Jahr 1823 folgten die Tragödien, nebst einem Lyrischen Intermezzo, die u. a. den 1821 entstandenen Almansor enthielten. Darin befasste sich Heine erstmals ausführlich mit der islamischen Kultur des maurischen Andalusien, die er in zahlreichen Gedichten immer wieder gefeiert und deren Untergang er betrauert hat. Das Stück spielt kurz nach dem Fall von Granada und behandelt die Lage der verbliebenen Muslime, der Morisken, die unter der Regierung der Katholischen Könige ihre Religion nicht mehr ausüben durften. Im Almansor findet sich Heines berühmtes, gegen Bücherverbrennungen gerichtetes Zitat, das sich auf die Vernichtung des Korans und anderer Werke der arabischen Literatur im Spanien der frühen Neuzeit bezieht. Im Jahr 1824 erschien die Sammlung Dreiunddreißig Gedichte, darunter Heines in Deutschland bekanntestes Werk: Die Loreley, in der Zeitschrift Der Gesellschafter oder Blätter für Geist und Herz. Im selben Jahr besuchte er während einer Harzreise den von ihm hoch verehrten Johann Wolfgang von Goethe in Weimar. Bereits zwei Jahre zuvor hatte er ihm seinen ersten Gedichtband mit einer überschwänglichen Widmung zugesandt, ohne dass Goethe darauf geantwortet hatte. „Für beide war dieses Zusammentreffen unerquicklich“, schreibt sein Biograf Joseph A. Kruse. Im Gegensatz zu seinem Naturell zeigte Heine sich befangen, und Goethe habe ihn nach seiner Ansicht „ungebührlich kalt“ empfangen. In vielen Lebensbeschreibungen Heines wird geschildert, er habe auf die Frage Goethes nach seiner gegenwärtigen Arbeit geantwortet: „ein Faust“. Daraufhin habe Goethe ihn ungnädig verabschiedet. Max Brod zieht diese Anekdote in Zweifel, da sie allein durch Heines „unzuverlässigen Bruder Max“ überliefert sei. In den Briefen Heines über das Treffen ist von dergleichen keine Rede. Im Jahr 1826 veröffentlichte Heine den Reisebericht Die Harzreise, der sein erster großer Publikumserfolg wurde. Mit seinen Natur- und Landschaftbeschreibungen, eingestreuten Gedichten, erzählten Träumen und häufigen Anspielungen auf Märchen und Sagen ist dieser Bericht von allen seinen Reisebildern am stärksten romantischen Mustern verpflichtet. Im selben Jahr begann Heines lebenslange Geschäftsbeziehung zu Julius Campe in Hamburg, in dessen Verlag Heines Werke von da an erschienen. So brachte Hoffmann und Campe im Oktober 1827 den Lyrikband Buch der Lieder heraus, eine Gesamtausgabe der bis dahin veröffentlichten Lyrik Heines. In ihm kehrt das Grundmotiv der unglücklichen, unerfüllten Liebe nach Heines eigenem Eingeständnis auf geradezu monotone Weise wieder. Die Publikation begründete Heines Ruhm und ist bis heute populär. Der romantische, oft volksliedhafte Ton dieser und späterer Gedichte, die unter anderem Robert Schumann in seinem Werk Dichterliebe vertont hat, traf den Nerv nicht nur seiner Zeit. Heine sah sich selbst als „entlaufenen Romantiker“. An seinen Studienfreund Karl August Varnhagen von Ense schrieb er aus Paris: „Das tausendjährige Reich der Romantik hat ein Ende, und ich selbst war sein letzter und abgedankter Fabelkönig.“ Den romantischen Ton überwand Heine, indem er ihn ironisch unterlief und die Stilmittel des romantischen Gedichts auch für Verse politischen Inhalts nutzte. Hier ein Beispiel für die ironische Brechung, in dem er sich über sentimental-romantische Naturergriffenheit lustig macht: Heine selbst erlebte das Meer zum ersten Mal in den Jahren 1827 und 1828 auf Reisen nach England und Italien. Seine Eindrücke schilderte er in weiteren Reisebildern, die er zwischen 1826 und 1831 in insgesamt vier Bänden veröffentlichte. Dazu gehören der Zyklus Nordsee sowie die Werke Die Bäder von Lucca und Ideen. Das Buch Le Grand, letzteres ein Bekenntnis zu Napoleon und den Errungenschaften der Französischen Revolution. Heines Napoleon-Verehrung war gleichwohl nicht unkritisch, in den Reisebildern heißt es: „[…] meine Huldigung gilt nicht den Handlungen, sondern nur dem Genius des Mannes. Unbedingt liebe ich ihn nur bis zum achtzehnten Brumaire – da verrieth er die Freyheit.“ Er erwies sich als witziger und sarkastischer Kommentator, wenn er während seiner Italienreise nach Genua beispielsweise schreibt: „Ja, mich dünkt zuweilen, der Teufel, der Adel und die Jesuiten existiren nur so lange, als man an sie glaubt.“ Seine Reisebilder verweisen zwar vielfach auf Vorbilder wie Laurence Sternes Sentimental Journey through France and Italy oder Goethes Italienische Reise, setzten sich von der üblichen Reiseliteratur durch „dezidierte Subjektivierung und Politisierung der Perspektive“ bewusst ab. Zentrale Bedeutung erhielten die Reisebilder für eine ganze Generation liberaler deutscher Intellektueller, insbesondere für die Autoren des Jungen Deutschlands, die „Heines Vorbild sowohl inhaltlich wie formal aufgriffen“. Gegen Ende seines Lebens erinnerte er sich, dass sie „wie ein Gewitter einschlug<en> in die Zeit der Fäulniß und Trauer“.Die Zeit der Restauration war u. a. geprägt von den Karlsbader Beschlüssen von 1819. Die mit ihnen eingeführte Zensur im Deutschen Bund, der auch alle Veröffentlichungen Heines unterworfen waren, verstand er satirisch zu unterlaufen, wie 1827 im Buch Le Grand mit dem folgenden, vorgeblich zensierten Text: Ab November 1827, als er Redakteur der Neuen allgemeinen politischen Annalen in München wurde, geriet Heine nach Georg Lukács in einen „ständigen Guerillakampf mit der Zensur um die große Öffentlichkeit“. Seit dieser Zeit wurde er allmählich als großes literarisches Talent wahrgenommen, und sein Ruhm verbreitete sich in Deutschland und Europa. === Exil in Paris === Während eines Erholungsaufenthalts auf Helgoland im Sommer 1830 erfuhr Heine vom Beginn der Julirevolution, die er enthusiastisch begrüßte. In seinen Briefen aus Helgoland, die erst 1840 als zweites Buch seiner Börne-Denkschrift veröffentlicht wurden, heißt es unter dem 10. August 1830: Wegen seiner jüdischen Herkunft und seiner politischen Ansichten zunehmend angefeindet – vor allem in Preußen – und der Zensur in Deutschland überdrüssig, übersiedelte Heine 1831 nach Paris. Von einem Exil im strengen Sinn kann zu dieser Zeit noch nicht gesprochen werden, erst die späteren Publikationverbote 1833 und 1835 machten es dazu. In Paris begann seine zweite Lebens- und Schaffensphase. Paris habe für ihn eine „ähnlich lebensauffrischende Bedeutung“ gehabt wie „für Goethe die Flucht nach Italien“, urteilt sein Biograph Max Brod. Auch Georg Lukács wertet die Übersiedlung nach der Julirevolution als eminent bedeutsam für Heines Biografie: sie machte „aus ihm einen revolutionären Publizisten von europäischem Format und europäischer Bedeutung“. Während der 25 Jahre in Paris bezog er fünfzehnmal neue Appartements, wobei Montmartre sein Lebensmittelpunkt blieb.Im Oktober 1832 schrieb Heine in einem Brief an den Komponisten Ferdinand Hiller: Seine erste Arbeit aus Frankreich war ein Bericht über die Gemäldeausstellung im Pariser Salon von 1831 für die deutsche Zeitschrift Morgenblatt für gebildete Stände. Darin besprach er u. a. das im Jahr zuvor entstandene Gemälde Die Freiheit führt das Volk von Eugène Delacroix. Die französische Hauptstadt inspirierte Heine zu einer wahren Flut von Essays, politischen Artikeln, Polemiken, Denkschriften, Gedichten und Prosawerken. Doch zeit seines Lebens sehnte er sich nach Deutschland, wie sein Gedicht In der Fremde belegt: Er sollte dieses Vaterland nur noch zweimal wiedersehen, blieb aber in ständigem Kontakt mit den Verhältnissen dort. Indem er versuchte, den Deutschen Frankreich und den Franzosen Deutschland näher zu bringen, gelangen ihm Analysen von nahezu prophetischer Qualität. Früher als die meisten seiner Zeitgenossen erkannte Heine den zerstörerischen Zug im deutschen Nationalismus, der sich – anders als der französische – zusehends von den Ideen der Demokratie und der Volkssouveränität entfernte. Der Dichter spürte in ihm vielmehr einen untergründigen Hass auf alles Fremde, wie er in dem Gedicht Diesseits und jenseits des Rheins schrieb (Anhang zum Romanzero): Während er das französische Publikum mit der deutschen Romantik und der deutschen Philosophie vertraut machte, versuchte Heine, seinen deutschen Lesern die französische Kultur näherzubringen und dem in Deutschland verbreiteten Franzosenhass entgegenzuwirken. Er nahm zunehmend die Rolle eines geistigen Vermittlers zwischen beiden Ländern ein. Obwohl er sich dabei mitunter nationaler Stereotypen bediente, trug er durchaus zu einem differenzierten Bild des jeweils anderen Landes bei. Er schrieb für die beiden wichtigsten publizistischen Organe beider Länder: die Augsburger Allgemeine Zeitung und die (noch heute verlegte) Revue des Deux Mondes. Seit 1832 war er als Pariser Korrespondent der Allgemeinen Zeitung tätig. Gegründet von Johann Friedrich Cotta, dem bedeutendsten Verleger der Weimarer Klassik, war sie zu dieser Zeit die meistgelesene deutschsprachige Tageszeitung. In ihr stellte Heine seine Position erstmals auch in einem gesamteuropäischen Rahmen dar. So verfasste er für die Allgemeine Zeitung eine Artikelserie, die sein Hamburger Verleger Julius Campe im Dezember 1832 unter dem Titel Französische Zustände in Buchform herausgab. Sie gilt als Meilenstein der deutschen Literatur- und Pressegeschichte, da Heine mit ihr formal und inhaltlich den modernen, politischen Journalismus begründete, eine Geschichtsschreibung der Gegenwart, deren Stil das deutsche Feuilleton bis heute prägt. Die Artikel, die ganz den freiheitlichen Geist der Julirevolution atmeten, wurden als politische Sensation empfunden. Cottas Blatt druckte die Berichte zwar anonym, aber allen politisch Interessierten war klar, wer ihr Autor war. So begeistert die Leserschaft, so empört war die Obrigkeit über die Artikel. Als Folge der Pariser Julirevolution von 1830 hatte sich nämlich in Deutschland die nationalliberale, demokratische Opposition formiert, die immer lauter nach Verfassungen in den Ländern des Deutschen Bundes verlangte. Der österreichische Staatskanzler Metternich ließ bei Cotta intervenieren, sodass die Allgemeine Zeitung die Artikelserie einstellte und das von Heine gelieferte Kapitel IX nicht mehr abdruckte. Auch Julius Campe legte gegen Heines Willen das Manuskript von Französische Zustände der Zensurbehörde vor. Heine beherrschte das Französische so gut, dass er sich an den Diskussionen in den Pariser Salons beteiligen konnte, aber nicht gut genug, um in dieser Sprache auch anspruchsvolle Texte zu verfassen. Deshalb schrieb er auch seine in Frankreich publizierten Texte weiterhin in Deutsch und ließ sie übersetzen. ==== Publikationsverbote in Deutschland ==== Zensur und Polizei im Deutschen Bund reagierten auf Französische Zustände mit Verboten, Hausdurchsuchungen, Beschlagnahmungen und Verhören. Vor allem Heines Vorrede zur deutschen Buchausgabe erregte den Unwillen der Behörden. Campe druckte sie daraufhin nicht ab, eine Entscheidung, die sein Verhältnis zu Heine stark belastete und diesen veranlasste, in Paris eine unzensierte Separatausgabe der Vorrede herauszugeben. Auch Campe brachte daraufhin einen Sonderdruck, der aber wieder eingestampft werden musste. 2010 veröffentlichte der Verlag Hoffmann und Campe eine Faksimile-Edition der Handschrift „Französische Zustände“, deren Original bis dahin als verschollen galt. In der Folge wurden Heines Werke – auch alle zukünftigen – 1833 zunächst in Preußen und 1835, auf Beschluss des Frankfurter Bundestages, in allen Mitgliedsstaaten des Deutschen Bundes verboten. Das gleiche Schicksal traf die Dichter des Jungen Deutschlands. Im Beschluss des Bundestages hieß es, die Mitglieder dieser Gruppe zielten darauf ab, „in belletristischen, für alle Classen von Lesern zugänglichen Schriften die christliche Religion auf die frechste Weise anzugreifen, die bestehenden socialen Verhältnisse herabzuwürdigen und alle Zucht und Sittlichkeit zu zerstören“. Am 16. April 1844 erließ das Königreich Preußen Grenzhaftbefehle gegen Marx, Heine und andere Mitarbeiter sozialistischer Periodika für den Fall, dass sie preußischen Boden betreten sollten; im Dezember 1844 wurden gegen sie Ausweisungsbefehle vom französischen Außenminister François Guizot erlassen. Vor der Ausweisung schützte Heine der Umstand, dass er im damals von Frankreich besetzten Rheinland geboren worden war. Paris wurde nun endgültig zu Heines Exil. Die Publikationsverbote in Deutschland beraubten Heine eines Teils seiner Erwerbsquellen. Damit rechtfertigte er später die zeitweilige Annahme einer Staatspension von Seiten der französischen Regierung. Die Zahlungen, die sich insgesamt auf 37.400 Francs beliefen, wurden ihm knapp acht Jahre lang gewährt und nach der Februarrevolution 1848 gestrichen. ==== Freundschaften und Ehe ==== Heine genoss das Leben in der französischen Hauptstadt und trat mit den dort lebenden Größen des europäischen Kulturlebens in Kontakt, unter anderen mit Hector Berlioz, Ludwig Börne, Frédéric Chopin, George Sand, Alexandre Dumas und Alexander von Humboldt. Mit der Zeit wurde es selbstverständlich, dass deutsche Künstler von Rang, die sich in Paris aufhielten, Heine besuchten. Zu ihnen gehörten Schriftsteller wie Franz Grillparzer, Friedrich Hebbel und Georg Herwegh, auch Komponisten wie Richard Wagner, der während seines zweijährigen Paris-Aufenthalts Umgang mit Heine pflegte. Unter den Landsleuten, die seine Bekanntschaft suchten, befanden sich auch etliche Spione Metternichs, deren Geheimberichte 1912 publik gemacht wurden.Eine Zeitlang verkehrte Heine auch mit utopischen Sozialisten wie Prosper Enfantin, einem Schüler Saint-Simons. Heines Hoffnung, in dessen quasireligiöser Bewegung ein „neues Evangelium“, ein „drittes Testament“ zu finden, hatte zu seinem Entschluss beigetragen, nach Paris überzusiedeln. Nach anfänglicher Faszination wandte er sich bald von den Saint-Simonisten ab, auch deshalb, weil sie von ihm verlangten, sein Künstlertum in ihren Dienst zu stellen. 1835, als das Scheitern der Bewegung offenkundig geworden war, schrieb Heine: Im Jahr 1833 lernte Heine die damals 18-jährige Schuhverkäuferin Augustine Crescence Mirat (1815–1883) kennen, die er Mathilde nannte. Wahrscheinlich seit Oktober 1834 lebte er mit ihr zusammen, heiratete sie aber erst sieben Jahre später. Die Ehe sollte kinderlos bleiben. Mathilde hatte seit 1830 als sogenannte Grisette in Paris gelebt, das heißt: als alleinstehende, berufstätige, junge Frau, die nach den Maßstäben der Zeit nicht als „ehrbar“ galt. Sie war attraktiv, hatte große dunkle Augen, dunkelbraunes Haar, ein volles Gesicht und eine viel bewunderte Figur. Charakteristisch war ihre hohe „Grasmückenstimme“, die auf viele einen infantilen Eindruck machte, auf Heine aber wohl faszinierend wirkte. Er scheint sich spontan in Mathilde verliebt zu haben. Viele seiner Freunde dagegen, unter ihnen Marx und Engels, lehnten seine Verbindung mit der einfachen und lebenslustigen Frau ab. Heine aber scheint sie auch deshalb geliebt zu haben, weil sie ihm ein Kontrastprogramm zu seiner intellektuellen Umgebung bot. Zu Beginn ihrer Beziehung hatte er versucht, der Bildung seiner vom Lande stammenden Freundin ein wenig aufzuhelfen. Auf sein Betreiben lernte sie lesen und schreiben, und er finanzierte mehrere Aufenthalte in Bildungsanstalten für junge Frauen. Ihr gemeinsames Leben verlief mitunter turbulent: Heftigen Ehekrächen, oft ausgelöst durch Mathildes freigiebigen Umgang mit Geld, folgte die Versöhnung meist auf dem Fuß. Neben liebevollen Schilderungen seiner Frau finden sich bei Heine auch boshafte Verse, wie die aus dem Gedicht Celimene: Heine schätzte sie, obwohl – oder gerade weil – Mathilde kein Deutsch sprach und deshalb auch keine wirkliche Vorstellung von seiner Bedeutung als Dichter besaß. Überliefert ist ihr Ausspruch: „Mein Mann machte dauernd Gedichte; aber ich glaube nicht, daß dies besonders viel wert war, denn er war nie damit zufrieden.“ Gerade diese Unkenntnis deutete Heine als Zeichen dafür, dass Mathilde ihn als Menschen und nicht als prominenten Dichter liebte. Seine jüdische Herkunft hat Heine ihr zeitlebens verschwiegen. Die Eheschließung fand am 31. August 1841 in Paris, in der Kirche St-Sulpice statt, auf Mathildes Wunsch nach katholischem Ritus. Der Grund für die Hochzeit war eine Duellforderung, die sich aus einem zunächst rein literarischen Streit ergeben hatte. ==== Romantische Schule und Kontroverse mit Ludwig Börne ==== Wichtige Werke jener Jahre waren Die romantische Schule (1836), das Romanfragment Der Rabbi von Bacherach (1840) und die Denkschrift Ludwig Börne (1840). Die Romantische Schule fasste Zeitschriftenartikel zusammen, die 1833 unter dem Titel Zur Geschichte der neueren schönen Literatur in Deutschland erschienen waren. Darin wollte Heine den Franzosen ein aktuelleres und realistischeres Bild der deutschen romantischen Literatur vermitteln, als es das einflussreiche Werk De l’Allemagne von Madame de Staël aus dem Jahr 1813 gezeichnet hatte. Während er die Romantiker wegen ihrer Hinwendung zum katholischen Mittelalter und zu einem engen, franzosenfeindlichen, von oben verordneten Patriotismus scharf kritisierte, stellte er Goethe voller Hochachtung neben Homer und Shakespeare. Gleichwohl warf er auch seiner Dichtung Wirklichkeitsferne vor. In einem Brief an Varnhagen hatte er schon 1830 die „Kunstbehaglichkeit des großen Zeitablehnungsgenies, der sich selbst letzter Zweck ist“, kritisch kommentiert. Zentrale Aussage der Schrift ist, dass nicht nur die romantische Schule, sondern mit Goethes Tod auch die von ihm geprägte „Kunstperiode“ zu Ende gegangen sei. Eine neue literarische Schule blende die gesellschaftliche Realität nicht länger aus und stehe für die Einheit von Wort und Tat. Damit waren das Junge Deutschland und sein Vorläufer Jean Paul gemeint, die eine solche Programmatik vertraten. Er selbst sah sich zugleich als letzten Dichter der alten lyrischen Schule und Eröffner der „neuen Schule“, der „modernen deutschen Lyrik“. Insbesondere bekannte sich Heine in der Romantischen Schule zu Gotthold Ephraim Lessing, den er als Geistesverwandten und als „Champion der Geistesfreiheit und Bekämpfer der klerikalen Intoleranz“ sah, ganz im Sinne des Ideals des Jungen Deutschland. Er sei derjenige Schriftsteller, den er „in der ganzen Literaturgeschichte […] am meisten liebe“. Bereits ein Jahr vor dem Erscheinen der Romantischen Schule hatte Heine in Zur Geschichte der Religion und Philosophie in Deutschland festgestellt, „was die Zeit fühlt und denkt und bedarf und will“ sei „der Stoff der modernen Literatur“.Mit der Börne-Denkschrift, dem Literaturwissenschaftler Gerhard Höhn zufolge „eines der am kunstreichsten gearbeiteten Werke Heines“, antwortete der Autor auf die Briefe aus Paris (1830–1833) seines 1837 verstorbenen, einstigen Freundes. In ihnen hatte Börne „Heines Integrität radikal infrage gestellt“, ihn der „Charakterschwäche“ und des „käuflichen Opportunismus“ bezichtigt und ihm vorgeworfen, die Ziele der Revolution verraten zu haben. Ähnlich wie im Streit mit von Platen spielten auch in der Auseinandersetzung mit dem radikal-republikanischen Publizisten Ludwig Börne, der zu seiner Zeit bekannter war als Heine, persönliche Animositäten eine Rolle. Die wahren Ursachen waren wohl grundsätzlicher Natur: In Heines dualistischer Perspektive handelte es sich um den Zweikampf zwischen „jüdischem Spiritualismus“, den er Börne unterstellte, und der „hellenistischen Lebensherrlichkeit“, die er, in der Nachfolge Goethes, für sich in Anspruch nahm. Insofern geriet ihm das Börne-Porträt zugleich zu einem Selbstporträt über sein Selbstverständnis als Dichter und Intellektueller.Während seines gesamten Schaffens war Heine um ein überparteiliches Künstlertum bemüht. Er verstand sich als freier, unabhängiger Dichter und Journalist und sah sich zeit seines Lebens keiner politischen Strömung verpflichtet. Von Ludwig Börne grenzte er sich zunächst noch auf eine Weise ab, die dieser als wohlwollend empfinden konnte: „Ich bin eine gewöhnliche Guillotine, und Börne ist eine Dampfguillotine.“ Wenn es aber um Kunst und Dichtung ging, räumte Heine der Qualität eines Werks immer einen höheren Rang ein als der Intention oder der Gesinnung des Autors. Börne erschien diese Haltung opportunistisch. Er warf Heine mehrfach Gesinnungsmangel vor und forderte, ein Dichter habe im Freiheitskampf klar Position zu beziehen. Mit dem Streit darüber, ob und wieweit ein Schriftsteller parteilich sein dürfe, nahmen Heine und Börne spätere Debatten über politische Moral in der Literatur vorweg. Ähnliche Auseinandersetzungen gab es im 20. Jahrhundert beispielsweise zwischen Heinrich und Thomas Mann, Gottfried Benn und Johannes R. Becher, Georg Lukács und Theodor W. Adorno, Jean-Paul Sartre und Claude Simon. Daher hält Hans Magnus Enzensberger den Streit zwischen Heine und Börne für die „folgenreichste Kontroverse der deutschen Literaturgeschichte“.Die Denkschrift erschien erst 1840, drei Jahre nach Börnes Tod, unter dem missverständlichen, von Heine nicht autorisierten Titel Heinrich Heine über Ludwig Börne und enthielt Spötteleien über das Dreiecksverhältnis zwischen Börne, seiner Freundin Jeanette Wohl und deren Ehemann, dem Frankfurter Kaufmann Salomon Strauß. Dies wurde Heine selbst von ansonsten wohlwollenden Lesern übel genommen. So schrieb der frühere Jungdeutsche Karl Gutzkow in einer Besprechung des Buches (1840), es zeige Heine „vollkommen in seiner moralischen Auflösung“. Der junge Friedrich Engels bezeichnete das Werk als „das Nichtswürdigste, was jemals in deutscher Sprache geschrieben wurde“. Strauß wiederum, der sich durch die Veröffentlichung bloßgestellt fühlte, behauptete später, er habe den Dichter wegen seiner Äußerungen öffentlich geohrfeigt. Daraufhin forderte Heine ihn zu einem Pistolenduell auf. Bevor es dazu kam, heiratete er 1841 Mathilde, die er für den Fall seines Todes materiell versorgt wissen wollte. Bei dem Schusswechsel wurde Heine aber nur leicht an der Hüfte verletzt. Strauß blieb gänzlich unversehrt. === Deutschlandreisen und Erbschaftsstreit === Im Jahr 1844 erschien Heines zweiter Lyrikband, Neue Gedichte. Dessen erste Teile (Neuer Frühling und Verschiedene) hingen entstehungsgeschichtlich und inhaltlich noch mit dem Buch der Lieder zusammen. Es sind „Nachklänge der frühen Lyrik“, wenngleich die „für die deutsche Lyrik ungewöhnlich offen sinnliche Erotik“ der Verschiedenen bei Kritik und Publikum Anstoß erregten. Andere Teile, wie Deutschland. Ein Wintermärchen, das erst später als Separatdruck erschien, und die Zeitgedichte veranlassten die preußischen Behörden unmittelbar nach Veröffentlichung zur Beschlagnahme und zum Verbot, obwohl die Bedenken des Verlegers bereits verhindert hatten, einige besonders scharfe politische Gedichte, darunter das Weberlied, aufzunehmen. Gerhard Höhn hat auf die „verborgene Grundstruktur“ der einzelnen Teile des Bandes hingewiesen: „Liebe und Leiden werden in den vier Teilen auf vier verschiedene Weisen behandelt […]. So dominiert in Neuer Frühling scheiternde Liebe, in Verschiedene desillusionäres Leiden am rein körperlichen Liebesgenuß, in Romanzen trügerische Liebe und im Schluß der Zeitgedichte die leidende Liebe zum gewandelten, deutschen Vaterland.“ Den Abschluss der Neuen Gedichte bilden die 1843 entstandenen Nachtgedanken mit dem oft zitierten Eingangsvers Das Gedicht endet mit den Zeilen: Die „deutschen Sorgen“ Heines betrafen nicht nur die politischen Zustände jenseits des Rheins, sondern auch seine mittlerweile verwitwete, allein lebende Mutter, deren Wohnung dem großen Hamburger Stadtbrand von 1842 zum Opfer gefallen war. Nicht zuletzt um sie wiederzusehen und ihr seine Frau vorzustellen, unternahm er 1843 und 1844 seine zwei letzten Reisen nach Deutschland. In Hamburg traf er seinen Verleger Campe und zum letzten Mal seinen Onkel Salomon Heine. Mit den Versen über das Israelitische Krankenhaus in Hamburg, das Salomon gestiftet hatte, setzte Heine seinem langjährigen Förderer ein literarisches Denkmal. Darin heißt es Als Salomon noch im Dezember 1844 starb, brach zwischen seinem Sohn Carl und seinem Neffen Heinrich Heine ein mehr als zwei Jahre andauernder Erbschaftsstreit aus. Carl stellte nach dem Tod seines Vaters die Zahlung einer Jahresrente ein, die Salomon Heine seinem Neffen 1838 bewilligt, deren Fortzahlung er aber nicht testamentarisch verfügt hatte. Heinrich Heine, der sich von seinem Cousin gedemütigt fühlte, setzte im weiteren Verlauf des Streits auch publizistische Mittel ein und übte öffentlich Druck auf Carl aus. Dieser stimmte im Februar 1847 schließlich einer Weiterzahlung der Rente zu, unter der Bedingung, dass Heinrich Heine nichts mehr ohne seine Zustimmung über die Familie veröffentlichen durfte. Angesichts der Krankheit Heinrich Heines in seinen letzten Lebensjahren zeigte sich Carl Heine großzügig und erhöhte die Rente.Der Streit entsprang der steten Sorge Heines um seine eigene finanzielle Absicherung und um die seiner Frau. Dabei war er nicht nur ein künstlerisch, sondern auch ökonomisch sehr erfolgreicher Schriftsteller: Er verdiente in seiner besten Pariser Zeit bis zu 34.700 Francs jährlich, was einer aktuellen Kaufkraft (2007) von weit über 200.000 Euro entsprochen hätte. Ein Teil dieses Einkommens verdankte er der erwähnten französischen Staatsrente, die jedoch nach der Februarrevolution 1848 gestrichen wurde. Heine empfand seine finanzielle Lage dennoch immer als unsicher und stellte sie öffentlich meist schlechter dar, als sie in Wirklichkeit war. In den späten Jahren ging es ihm vor allem darum, seine Frau materiell abzusichern. Mathilde erwies sich allerdings nach Heines Tod selbst als äußerst geschäftstüchtig und verhandelte mit Campe sehr erfolgreich über die weitere Verwertung der Werke ihres Mannes. === Heine und der Sozialismus === Mitte der 1840er Jahre entstanden Heines große Versepen Atta Troll. Ein Sommernachtstraum (1843), das auf seine Pyrenäenreise 1841 zurückgeht, und – angeregt durch seine Deutschlandreise von 1843 – Deutschland. Ein Wintermärchen (1844). Die Titel beider Werke spielen auf Stücke William Shakespeares an, auf Ein Sommernachtstraum und Das Wintermärchen. Dies verweist nach Gerhard Höhn auf ihre „antithetische Zusammengehörigkeit“. In Form eines Tierepos ironisiert Atta Troll die zeitgenössische Tendenzliteratur und preist die Autonomie der Kunst: Bereits 1837 hatte Heine in einem Theater-Brief an einen Freund bekannt: „Ich bin für die Autonomie der Kunst; weder der Religion, noch der Politik soll sie als Magd dienen, sie ist sich selber letzter Zweck, wie die Welt selbst.“Gleichwohl legte er wenig später mit Deutschland. Ein Wintermärchen eine unverhohlen engagierte Dichtung vor, in der er äußerst bissig die staatlichen, kirchlichen und gesellschaftlichen Verhältnisse in Deutschland kritisierte. So schildert er in den Eingangsversen eine Szene gleich nach dem Grenzübertritt, in der ein Mädchen „mit wahrem Gefühle und falscher Stimme“ eine fromme Weise zur Harfe singt: In diesen Versen klingen Ideen von Karl Marx an, den er in jenen Jahren kennengelernt hatte und mit dem ihn eine enge Freundschaft verband. Marx übernahm von ihm die Metapher für die Religion als geistiges Opium aus der Börne-Denkschrift und spickte seine Beiträge für die Neue Rheinische Zeitung in den Revolutionsjahren 1848/49 häufig mit Heine-Zitaten. In seinem Hauptwerk Das Kapital hob Marx die „Courage meines Freundes H. Heine“ hervor. Georg Lukács zufolge ist Heine zu der Zeit „dem revolutionären Standpunkt von Marx und Engels näher als sonst irgendein Zeitgenosse“. Schon seit Beginn der 1840er Jahre hatte sich Heines Ton zusehends radikalisiert. Er gehörte zu den ersten deutschen Dichtern, die die Folgen der einsetzenden Industriellen Revolution zur Kenntnis nahmen und das Elend der neu entstandenen Arbeiterklasse in ihren Werken aufgriffen. Beispielhaft dafür ist sein Gedicht Die schlesischen Weber, das auch als Weberlied bekannt wurde, vom Juni 1844. Es war von dem Weberaufstand inspiriert, der im selben Monat in den schlesischen Ortschaften Peterswaldau und Langenbielau begann. Der „dreifache Fluch“ bezieht sich auf den Schlachtruf der Preußen von 1813: „Mit Gott für König und Vaterland!“ Vermittelt von Karl Marx, erschien das Gedicht am 10. Juli 1844 unter dem Titel Die armen Weber in der Wochenzeitung Vorwärts!. Es wurde in einer Auflage von 50.000 Stück als Flugblatt in den Aufstandsgebieten verteilt. Der preußische Innenminister Adolf Heinrich von Arnim-Boitzenburg bezeichnete das Werk in einem Bericht an König Friedrich Wilhelm IV. als „eine in aufrührerischem Ton gehaltene und mit verbrecherischen Äußerungen angefüllte Ansprache an die Armen im Volke“. Das Königlich Preußische Kammergericht ordnete ein Verbot des Gedichts an. Ein Rezitator, der es dennoch gewagt hatte, es öffentlich vorzutragen, wurde 1846 in Preußen zu einer Gefängnisstrafe verurteilt. Friedrich Engels, der Heine im August 1844 in Paris kennengelernt hatte und ihn als den „hervorragendsten unter allen lebenden deutschen Dichtern“ bezeichnete, übersetzte das Weberlied ins Englische und publizierte es im Dezember desselben Jahres in der Zeitung „The New Moral World“. Neben Heines Mitarbeit am Vorwärts!, der eine Reihe von Heines Zeitgedichten veröffentlichte, schrieb Heine auch für die von Marx und Arnold Ruge herausgegebenen Deutsch-Französischen Jahrbücher, von denen allerdings nur ein Doppelheft erschien. Beide Publikationen wurden vom preußischen Innenministerium verboten und die Inhaftierung ihrer Mitarbeiter beim Überschreiten der Grenze angeordnet.Im Dezember 1844 besuchte ein junger Student Heine in Paris: Ferdinand Lassalle, der spätere Begründer der deutschen Sozialdemokratie. Der energiegeladene Linkshegelianer imponierte dem Dichter ungemein wegen seiner Kampfansage an den Kapitalismus als „organisierten Räuberzustand“. Enthusiastisch schrieb Heine an Lassalles Vater: „In diesem neunzehnjährigen Jüngling sehe ich den Messias unseres Jahrhunderts.“Darüber hinaus pflegte Heine seit Beginn seiner Pariser Zeit Kontakte zu Vertretern des Saint-Simonismus, einer frühen sozialistischen Strömung. Besonders mit Pierre Leroux, der zum gemeinsamen engeren Bekanntenkreis George Sands gehörte, kam es zum intellektuellen Austausch über dessen Sozialphilosophie und die revolutionäre Rolle der deutschen Philosophie, namentlich der Hegelschen. In einem Porträt für eine deutsche Zeitung bezeichnete er ihn als „den ersten Kirchenvater des Communismus“. Als eine führende Persönlichkeit des Sozialismus und möglichen Wegbereiter der künftigen Revolution würdigte Heine Louis Blanc, an dessen Schrift L’organisation du Travail er die „glühende Phantasie für die Leiden des Volkes“ und zugleich die „Vorliebe für Ordnung[,] jene gründliche Abneigung gegen Anarchie“ hervorhob. Trotz seiner freundschaftlichen Beziehungen zu Marx und Engels hatte er ein ambivalentes Verhältnis zur marxistischen Philosophie. Heine erkannte die Not der entstehenden Arbeiterklasse und unterstützte ihre Anliegen. Zugleich fürchtete er, dass der Materialismus und die Radikalität der kommunistischen Idee vieles von dem vernichten würden, was er an der europäischen Kultur liebte und bewunderte. Motive seines „libertären und hedonistischen Sozialismus“ finden sich auch im Vorwort zur französischen Ausgabe von „Lutezia“, das Heine im Jahr vor seinem Tod schrieb: === Die gescheiterte Revolution === Der liberal-konstitutionellen Bewegung nahestehend, verfolgte Heine die europäischen Revolutionen von 1848/49 mit gemischten Gefühlen. Mit den politischen Verhältnissen, wie sie die Julirevolution von 1830 in Frankreich geschaffen hatte, war er weitgehend einverstanden. Er hatte daher auch kein Problem damit, die Rente des französischen Staates zu akzeptieren. Die Pariser Februarrevolution und ihre Auswirkungen sah er mit wachsender Skepsis. Seiner Mutter schrieb er im März 1848: „Du hast keinen Begriff davon, welche Misère jetzt hier herrscht. Die ganze Welt wird frey und bankrott.“ In einem Brief an Julius Campe vom 9. Juli 1848 charakterisierte er die „Zeitereignisse“ als „Universalanarchie, Weltkuddelmuddel, sichtbar gewordener Gotteswahnsinn“. Auch aus dem so genannten „Waterloo-Fragment“ von 1854, dessen Druck Campe ablehnte, geht Heines kritische Haltung zur Februarrevolution hervor.In den Staaten des Deutschen Bundes ging es den Revolutionären aber darum, einen demokratisch verfassten Nationalstaat, wie Heine ihn in Frankreich bereits realisiert sah, überhaupt erst zu schaffen. Dieses Ziel, das Heine unterstützte, verfolgten zunächst auch die Liberalen während der Märzrevolution. Da die Verfechter einer republikanisch-demokratischen Staatsform sowohl in den neu besetzten Kammerparlamenten als auch in der Frankfurter Nationalversammlung eine parlamentarische Minderheit bildeten, wandte sich Heine von der Entwicklung in Deutschland enttäuscht ab. Im Versuch des ersten gesamtdeutschen Parlaments, eine Monarchie unter einem erblichen Kaisertum zu schaffen, sah er politisch untaugliche, romantische Träumereien von einer Wiederbelebung des 1806 untergegangenen Heiligen Römischen Reichs. In dem Gedicht Michel nach dem März schrieb er: Die Farben Schwarz-Rot-Gold waren in Heines Augen ein rückwärtsgewandtes Symbol, die Farben der deutschen Burschenschafter, denen er „Teutomanie“ und „Phrasenpatriotismus“ vorwarf. Kritikern dieser Haltung hatte er bereits 1844 im Vorwort zu „Deutschland. Ein Wintermärchen“ geantwortet: „Pflanzt die schwarzrotgoldne Fahne auf die Höhe des deutschen Gedankens, macht sie zur Standarte des freien Menschtums, und ich will mein bestes Herzblut für sie hingeben. Beruhigt euch, ich liebe das Vaterland ebensosehr wie ihr.“ Die erste Phase der Revolution scheiterte, als Preußens König Friedrich Wilhelm IV. im Frühjahr 1849 die erbliche Kaiserwürde ablehnte, die ihm eine von der Nationalversammlung entsandte Kaiserdeputation angetragen hatte. Als Reaktion darauf entstand insbesondere in West- und Südwestdeutschland eine neue demokratische Aufstandsbewegung, die die Fürsten zur Annahme der Paulskirchenverfassung zwingen wollte. Bis Ende Juli 1849 schlugen vor allem preußische Truppen diese letzte Welle der Revolution nieder, zuletzt im Großherzogtum Baden. Resigniert kommentierte Heine die Vorgänge in seinem Gedicht Im Oktober 1849: Christian Liedtke, Archivar am Heinrich-Heine-Institut, wertet dieses Gedicht als „beispielhaft für seine [Heines] gesamte politische Lyrik im Nachmärz“, die er mit einem Wort von Klaus Briegleb als eine „Poesie der Besiegten“ charakterisiert. Das Scheitern der deutschen Revolution führte Heine nach Walter Grab auf subjektive Faktoren zurück, nämlich die „Dummheit, Feigheit und politischen Mittelmäßigkeit ihrer intellektuellen Wortführer“. Ihnen sei es nicht gelungen, ihre politischen Forderungen mit den „sozialen Anliegen der Massen des Kleinbürgertums, der Bauern, Handwerker und Arbeiter zu verknüpfen“ wie es noch die Jakobiner im „Großen Wohlfahrtsausschuss“ 1793 vermocht hätten.Die eigentliche deutsche Revolution stand für Heine noch aus, aber er war sicher, dass sie eines Tages kommen würde. Denn er war grundsätzlich der Auffassung, dass jedes Wissen und jede Erkenntnis irgendwann zur Tat werde. In Caput VI des „Wintermärchens“ kleidet er diese Überzeugung in das Bild der geheimnisvollen, dunklen Gestalt, die ihm überall hin folgt und sich ihm schließlich zu erkennen gibt: In Bezug auf eine kommende deutsche Revolution hatte Heine diesem Gedanken, nach dem jede große Idee sich irgendwann in der Wirklichkeit manifestiert, schon 1834 in diesen später vielzitierten Sätzen Ausdruck verliehen: Dieser Text war auf die deutschen „Naturphilosophen“ gemünzt, wie Heine gegenüber seinen französischen Lesern Denker wie Kant, Fichte oder Hegel bezeichnete. Im 20. Jahrhundert wurde diese Passage aus den unterschiedlichsten Perspektiven heraus als Prophezeiung verstanden. Die einen sahen im „deutschen Donner“ den Sieg des Marxismus vorhergesagt, die anderen betrachteten den Text als Warnung vor den Gewaltzexzessen des Nationalsozialismus. === Matratzengruft === Als Heine im Mai 1848 zum letzten Mal alleine das Haus verließ, erlitt er einen Zusammenbruch – nach eigener Darstellung im Louvre vor der Venus von Milo. Fast vollständig gelähmt, sollte er die acht verbleibenden Jahre bis zu seinem Tod bettlägerig in der von ihm so bezeichneten „Matratzengruft“ verbringen. Bereits 1832 hatten sich erste Symptome der Krankheit – Lähmungserscheinungen, Kopfschmerzattacken und Sehschwächen – gezeigt. Seit 1845 hatte sich das Nervenleiden in mehreren Schüben dramatisch verschlechtert. 1846 war er sogar vorzeitig für tot erklärt worden. Aufenthalte in Kurorten, etwa 1846 in Barèges in den Pyrenäen oder 1847 auf dem Lande bei Montmorency, brachten keine merkliche Linderung mehr. Dazu kamen die Belastungen des jahrelangen Erbschaftsstreits mit seinem Hamburger Cousin Carl Heine, der erst Anfang 1847 beigelegt wurde. Heines Gesundheit war zu diesem Zeitpunkt bereits weitgehend zerrüttet. Friedrich Engels berichtete im Januar 1848, noch vor dem endgültigen Zusammenbruch: „Heine ist am Kaputtgehen. Vor 14 Tagen war ich bei ihm, da lag er im Bett und hatte einen Nervenanfall gehabt. Gestern war er auf, aber höchst elend. Er kann keine drei Schritt mehr gehen, er schleicht, an den Mauern sich stützend, von Fauteuil bis ans Bett und vice versa. Dazu Lärm in seinem Hause, der ihn verrückt macht.“ Seinem Bruder Maximilian schrieb Heine am 12. September 1848: „So viel ist gewiß, daß ich in den letzten 3 Monaten mehr Qualen erduldet als jemals die spanische Inquisition ersinnen konnte.“ ==== Heines Krankheit ==== Heine selbst war überzeugt, an Syphilis erkrankt zu sein, und viele der bekanntgewordenen Symptome deuten tatsächlich auf einen syphilitischen Charakter seines Leidens hin. So spricht etwa der Neurologe Roland Schiffter von einer „Neurosyphilis in Form der chronischen Meningitis“. Zahlreiche Biographen übernahmen Heines Selbstdiagnose, die aber bis heute immer wieder in Frage gestellt wird. Gegen eine syphilitische Erkrankung spricht beispielsweise, dass Heines geistige Schaffenskraft in den qualvollen Jahren des Krankenlagers nicht nachließ. Nach einer eingehenden Untersuchung aller zeitgenössischen Dokumente zu Heines Krankengeschichte in den 1990er Jahren wurden die wichtigsten Symptome einer komplexen, tuberkulösen Erkrankung zugeordnet. Eine weitere Untersuchung von Haaren des Dichters im Jahr 1997 legte dagegen eine chronische Bleivergiftung nahe. Andere Vermutungen gehen dahin, dass es sich bei Heines Krankheit womöglich um amyotrophe Lateralsklerose oder um multiple Sklerose gehandelt haben könnte. Ein erblicher Charakter seines Leidens wird ebenfalls diskutiert, da auch Heines Vater an einer Erkrankung des zentralen Nervensystems gelitten hatte. Da Heine kaum noch selbst schreiben konnte, diktierte er seine Verse und Schriften meist einem Sekretär oder überließ diesem seine eigenhändigen Entwürfe zur Reinschrift. Das Korrekturlesen von Druckvorlagen gab er bis zuletzt nicht aus der Hand, obwohl dies für den nahezu Erblindeten eine zusätzliche Belastung darstellte. ==== Heine und die Religion ==== Trotz seiner Sympathien für die Religion seiner Vorfahren und deren Kultur war Heinrich Heine nie ein frommer Jude. Sein Übertritt zum protestantischen Christentum wiederum erfolgte aus rein pragmatischen Gründen. Grundsätzlich skeptisch gegenüber religiösen Gefühlen und Überzeugungen, schreckte ihn aber auch der radikale Materialismus der Kommunisten ab und er bekannte sich nie zum Atheismus. Dass religiöse Sinnfragen, etwa die nach dem Bösen, ihn bewegten, er sich aber gleichwohl bewusst war, dass es auf diese Fragen keine letztgültigen Antworten gab, zeigt sein spätes Gedicht Zum Lazarus Aus dem Nachwort zu seinem kurz zuvor erschienenen Spätwerk „Romanzero“ von September 1851 geht hervor, dass Heine in den Jahren vor seinem Tod zu einer milderen Beurteilung der Religion gelangte: Genährt werden solche Gerüchte bis heute durch christliche Autoren unterschiedlicher Couleur. Sie schreiben Heine ein Gedicht zu (Zerschlagen ist die alte Leier am Felsen, welcher Christus heißt), das sie als Beleg für seine vollkommene Hinwendung zum Christentum werten. Die Heine-Forschung hat diese Zuschreibung mit Verweisen auf Inhalt und Stil des Gedichtes stets abgelehnt. Der Potsdamer Religionswissenschaftler Nathanael Riemer konnte 2017 nachweisen, dass das Gedicht auf den Pfarrer und „Märzrevolutionär“ Bernhard Martin Giese (1816–1873) zurückgeht.Wie Heine tatsächlich über die organisierte Religion dachte, zeigt ein Auszug aus seinem Testament vom 13. November 1851. Darin bekannte er sich zum Glauben an einen persönlichen Gott, ohne sich einer der christlichen Kirchen oder dem Judentum wieder anzunähern. Dort heißt es: ==== Spätwerk und Tod ==== Als letzte größere Arbeit vor seinem Zusammenbruch vollendete Heine Ende 1846 das Tanzpoem Der Doktor Faust. Das Ballett, das der Londoner Operndirektor Benjamin Lumley bei ihm in Auftrag gegeben hatte, wurde jedoch nicht aufgeführt. Bemerkenswert an dem Libretto ist, dass Heine den Teufel als weibliche Mephistophela anlegte und dass sein Faust, im Gegensatz zu dem des bewunderten Goethe, nicht gerettet, sondern erbarmungslos gerichtet wird.Selbst unter den schwierigen Bedingungen seiner Krankheit schuf und veröffentlichte Heine noch eine Reihe bedeutender Werke, die er u. a. seinem Sekretär Karl Hillebrand diktierte. Auch Hillebrands Freund Wilhelm Liebknecht, später einer der Gründer der SPD, übernahm kurzzeitig Lektoratsarbeiten für Heine. Zu den Werken aus der Matratzengruft gehören drei Bände Vermischte Schriften von 1854. Sie enthielten unter anderem die Geständnisse, in der Heine versucht, seine Position in der deutschen Literaturgeschichte und seine Haltung zur Religion zu bestimmen, ferner die Gedichte. 1853 und 1854 sowie Lutezia, laut Untertitel eine Auswahl von „Berichten über Kunst, Politik und Volksleben“. Heine hatte diese Berichte ursprünglich zwischen 1840 und 1846 für die Augsburger Allgemeine Zeitung verfasst, die sie aber wegen der Zensur oft nur in gekürzter oder verstümmelter Form hatte drucken können. In Lutezia – der Titel ist der lateinische Name von Paris – erschienen sie nun in der Originalversion. In ihnen spiegelte sich auch Heines Bemühen, das Phänomen Napoleon zu „historisieren“. Anlässlich der Überführung seiner „sterblichen Überreste“ von St-Helena nach Paris, um im Invalidendom ihre Ruhestätte zu finden, schrieb er: Heines bekanntestes Spätwerk ist der 1851 erschienene dritte Gedichtband Romanzero, der aus drei Teilen besteht. Insbesondere im mittleren Teil, in den Lamentazionen, thematisierte Heine das Leiden jener Jahre, in denen er auf „den Scherbenhaufen seines Lebens“ zurückblickte. Im Lazarus-Zyklus findet die „Leidensthematik ihren subjektivsten und radikalsten Ausdruck“. Im Schlussgedicht des zweiten Buches, Enfant Perdu, zog er die Bilanz seines politischen Lebens: Im letzten Teil, in den Hebräischen Melodien, verwob Heine die „Leiden in der Matratzengruft mit dem jahrtausendealten Judenschmerz im Exil“, wobei er sich mit Dichtern identifizierte, „die mehr Fremdlinge auf dieser Welt sind“ und „die ihr Dichtertum mit Tod und Erniedrigung bezahlt haben“. Trotz seines Leidens kamen Heine Humor und Leidenschaft nicht abhanden. Die letzten Monate seines Lebens erleichterten ihm die Besuche seiner Verehrerin Elise Krinitz, die er – nach der Fliege (frz. mouche) in ihrem Briefsiegel – zärtlich „Mouche“ nannte. Die 31-jährige gebürtige Deutsche war als Adoptivkind nach Paris gekommen und verdiente ihren Lebensunterhalt mit „Klavierstunden und deutschem Sprachunterricht“. Später wurde sie unter den Pseudonymen Camille und Camilla Selden selbst Schriftstellerin. Heine machte die Freundin zu seiner „angebeteten Lotosblume“ und „holdseligen Bisamkatze“. Auch Elise Krinitz liebte den todkranken, fast blinden Mann aufrichtig, war er doch einst der „Lieblingsdichter ihrer jungen Jahre“ gewesen. Wegen Heines Hinfälligkeit konnte sich diese Leidenschaft jedoch nur auf geistiger Ebene entfalten. Er kommentierte dies selbstironisch in den Versen Dass er sogar über den Tod noch scherzen konnte – und sich seines Rangs in der deutschen Literatur vollauf bewusst war –, zeigt sein Gedicht Der Scheidende: Am 17. Februar 1856 starb Heinrich Heine in Paris im Alter von 58 Jahren. Sein Freund, der Philologe Frédéric Baudry, überlieferte laut dem Tagebuch der Brüder Edmond und Jules de Goncourt die letzten, an Mathilde gerichteten Worte des Dichters. Als Heine gehört habe, dass sie neben seinem Sterbebett betete, Gott möge ihm verzeihen, habe er sie unterbrochen: „N’en doute pas, ma chère, il me pardonnera; c’est son métier!“ – „Zweifle nicht daran, meine Liebe, er wird mir verzeihen. Das ist sein Geschäft!“ Drei Tage nach seinem Tod wurde Heine auf dem Friedhof Montmartre beerdigt. Nach seinem ausdrücklichen Willen fand Mathilde, die er als seine Universalerbin eingesetzt hatte, nach ihrem Tod 27 Jahre später ihre letzte Ruhe in derselben Grabstätte. Das im Jahr 1901 erstellte Grabmal ziert eine von dem dänischen Bildhauer Louis Hasselriis stammende Marmorbüste Heines und sein Gedicht Wo?. == Bedeutung und Nachleben == Aufgrund seiner Eigenständigkeit sowie seiner formalen und inhaltlichen Breite lässt sich Heines Werk keiner eindeutigen literarischen Strömung zuordnen. Heine geht aus der Romantik hervor, überwindet aber bald deren Ton und Thematik – auch in der Lyrik. Sein Biograf Joseph Anton Kruse sieht in seinem Werk Elemente der Aufklärung, der Weimarer Klassik, des Realismus und des Symbolismus. === Heine als „Zeitschriftsteller“ === Heine gilt vor allem als politisch kritischer Autor des Vormärz. Mit den Schriftstellern des Jungen Deutschland, denen er zugerechnet wurde, verband ihn das Streben nach politischer Veränderung hin zu mehr Demokratie in ganz Europa, speziell in Deutschland. Dass er sich die Verwirklichung der Demokratie auch in einer konstitutionellen Monarchie wie der des Bürgerkönigs Louis-Philippe vorstellen konnte, brachte ihm Kritik von Seiten überzeugter Republikaner ein. Heines Distanzierung von der „Tendenzliteratur“, die er mit „gereimten Zeitungsartikeln“ verglich, erfolgte hingegen weniger aus politischen als aus ästhetischen Motiven. Persönlich stand Heine Karl Marx und Friedrich Engels nahe, ohne deren politische Philosophie völlig zu teilen.Für Jürgen Habermas war Heine der „erste große Zeitschriftsteller“ im Zeitalter der entstehenden Massenpresse. Er folgte damit Gerhard Höhns Hinweis auf einen neuen Dichtertyp, der in der Übergangszeit von der feudalen Ständegesellschaft zur bürgerlichen Klassengesellschaft erscheint: den „Zeitschriftsteller“, der „bereits alle wesentlichen Züge des kritischen, modernen Intellektuellen in sich vereinigt“ und dessen wichtigste Publikationsorgane Zeitungen und Zeitschriften sind. Bezeichnenderweise ist der Zyklus politischer Gedichte in Heines zweitem Lyrikband mit „Zeitgedichte“ überschrieben. Habermas nennt Heine auch einen „Protointellektuellen“. Er habe noch kein Intellektueller im Sinne der Dreyfuß-Partei von 1898 sein können, weil er von der politischen Meinungsbildung in den deutschen Bundesstaaten auf doppelte Weise ferngehalten wurde: „physisch durch sein Exil und geistig durch die Zensur“. Darin widerspricht ihm Höhn, der die Geburt des modernen Intellektuellen in das Paris des Jahres 1832 verlegt, in dem Heines erste große politische Artikelserie „Französische Zustände“ entstand.Karl Kraus dagegen beurteilte Heines angebliche Rolle als Begründer des deutschsprachigen Feuilletonismus äußerst kritisch. Er habe „die Franzosenkrankheit“ eingeschleppt und bezichtigte ihn dabei, „der deutschen Sprache so sehr das Mieder gelockert“, dass „heute alle Kommis an ihren Brüsten fingern können“. Dass Kraus' Invektiven nicht frei von antisemitischen Untertönen sind, belegt der Literaturwissenschaftler Paul Peters in seiner Schrift Die Wunde Heine mit zahlreichen Wendungen.Als politischer Schriftsteller war Heine laut Klaus Briegleb „den Liberalen und frühen Sozialisten in der Mitte des 19. Jahrhunderts […] nicht weniger verdächtig […] als den Pfaffen und Aristokraten und ihren Vasallen“. Heine griff tatsächliche oder vermeintliche Gegner ebenso hart an, wie er selbst angegriffen wurde, und schreckte vor keiner Polemik zurück. Nach seinem Tod nahm die Schärfe der Auseinandersetzungen um ihn eher noch zu – und hielt mehr als ein Jahrhundert an. === Denkmäler und Denkmalsstreit === Symptomatisch für den zwiespältigen Umgang mit Heines Erbe war der 100 Jahre währende Streit um würdige Denkmäler für den Dichter in Deutschland. Dieser Streit veranlasste Kurt Tucholsky 1929 zu der Äußerung: „Die Zahl der deutschen Kriegerdenkmäler zur Zahl der deutschen Heine-Denkmäler verhält sich hierzulande wie die Macht zum Geist.“ Seit 1887 gab es Bemühungen, dem Dichter zur Feier seines bevorstehenden 100. Geburtstags ein Denkmal in seiner Geburtsstadt Düsseldorf zu setzen. Die öffentliche Wahrnehmung Heines wurde damals jedoch zunehmend durch nationalistische und antisemitische Geisteswissenschaftler geprägt. So bezeichnete der politisch einflussreiche Göttinger Orientalist Paul de Lagarde Heinrich Heine 1887 als „eines der widerlichsten Subjekte, das je die Erde gedrückt hat.“ Und der völkische Literaturkritiker Adolf Bartels denunzierte die Düsseldorfer Denkmalspläne nachträglich in seinem 1906 veröffentlichten, berühmt-berüchtigten Aufsatz „Heinrich Heine. Auch ein Denkmal“ als „Kotau vor dem Judentum“ und Heine selbst als „Decadence-Juden“. Angesichts ähnlicher Anfeindungen hatte der Düsseldorfer Stadtrat bereits 1893 seine Zustimmung zur Aufstellung des Denkmals zurückgezogen, das der Bildhauer Ernst Herter geschaffen hatte. Die Darstellung der Loreley wurde schließlich von Deutsch-Amerikanern für den New Yorker Stadtteil Bronx erworben. Sie steht heute im Joyce-Kilmer-Park in der Nähe des Yankee-Stadions und ist als „Lorelei Fountain“ bekannt. In Düsseldorf brachte man später eine Gedenkplakette an Heines Geburtshaus an, die allerdings 1940 abmontiert und für Kriegszwecke eingeschmolzen wurde. Ein zweiter, 1931 unternommener Anlauf zu einem Düsseldorfer Heine-Denkmal scheiterte zwei Jahre später an der nationalsozialistischen Machtübernahme. Die bereits fertige, allegorische Skulptur „Aufsteigender Jüngling“ von Georg Kolbe wurde ohne erkennbaren Bezug zu Heine zunächst in einem Museum und nach dem Krieg im Düsseldorfer Ehrenhof aufgestellt. Erst seit 2002 weist eine Sockel-Inschrift auf Heine hin. 1953 wurde auf dem Napoleonsberg im Düsseldorfer Hofgarten eine Heine-Gedenkstätte mit einer Skulptur von Aristide Maillol errichtet. Offiziell ehrte Heines Geburtsstadt den Dichter erst 1981 mit einem Denkmal, fast 100 Jahre nach den ersten Bemühungen darum, und erneut kam es darüber zum Streit. Die Heinrich-Heine-Denkmal-Gesellschaft befürwortete die Ausführung eines Entwurfs, den Arno Breker bereits für den Wettbewerb des Jahres 1931 angefertigt hatte. Breker, der einer der führenden Bildhauer in der Zeit des Nationalsozialismus gewesen war, schuf eine idealisierte, sitzende Figur, die den Dichter als jungen, lesenden Mann darstellt. Der Düsseldorfer Kulturdezernent lehnte diese Skulptur jedoch ab. Später wurde sie auf der Insel Norderney aufgestellt. Verwirklicht wurde schließlich der Entwurf des Bildhauers Bert Gerresheim. Das Heine-Denkmal auf dem Düsseldorfer Schwanenmarkt ist eine unkonventionelle Bronzeplastik und nach den Worten ihres Schöpfers eine „Vexierlandschaft“. Die zerteilte Totenmaske steht für die Zerrissenheit des Heines, die er in seinen Werken mehrfach beklagt hat. Die Skulptur wurde 1978 entworfen und 1981, an Heines 125. Todestag enthüllt. Ähnlich wie in Düsseldorf verlief der Denkmalsstreit in Hamburg. Die österreichische Kaiserin Elisabeth, die Heine verehrte und die erste Düsseldorfer Denkmalsinitiative unterstützt hatte, beabsichtigte, der Hansestadt eine Statue des sitzenden Heine zu schenken. Auf ein geeignetes Gipsmodell war sie bereits 1873 auf der Weltausstellung in Wien aufmerksam geworden. Es handelte sich um einen Entwurf des dänischen Bildhauers Louis Hasselriis, der später auch Heines Grabbüste anfertigen sollte. Hamburg lehnte das Geschenk jedoch ab. Daher gab die Kaiserin 1890 die Ausführung des Modells in Marmor privat in Auftrag. Das von Hasselriis geschaffene Denkmal wurde nach seiner Vollendung im September 1891 im Park ihres Schlosses Achilleion auf der Insel Korfu aufgestellt. Nach dem Tod Elisabeths 1898 verkauften ihre Erben das Achilleion dem deutschen Kaiser. Wilhelm II., der Heine als „Schmutzfinken im deutschen Dichterwald“ bezeichnete, ließ die Marmorskulptur 1909 entfernen und dem Hamburger Verleger Heinrich Julius Campe übergeben, dem Sohn Julius Campes. Dieser bot sie ein zweites Mal dem Hamburger Senat an, der das Geschenk aber erneut und mit dem Hinweis auf Heines angeblich „vaterlandsfeindliche Haltung“ ablehnte. Auch in diesem Fall hatte es wieder eine öffentliche Debatte gegeben, an der sich Adolf Bartels mit antisemitischer Polemik beteiligte. Das Denkmal wurde schließlich auf dem Privatgelände des Hoffmann und Campe Verlags an der Mönckebergstraße errichtet und erst 1927 in Altona öffentlich aufgestellt. Um es vor der Zerstörung durch die Nationalsozialisten zu schützen, ließ die Tochter Campes es 1934 abbauen und 1939 zu ihrem Wohnort, der südfranzösischen Hafenstadt Toulon, verschiffen. Während der deutschen Besetzung Frankreichs versteckt, fand das weitgereiste Denkmal 1956 seinen endgültigen Platz im botanischen Garten Toulons. Vor wenigen Jahren scheiterte eine Initiative des Schauspielers Christian Quadflieg, die Skulptur nach Hamburg zurückzubringen. Ein öffentliches Heine-Denkmal erhielt Hamburg erst 1926, als im Winterhuder Stadtpark eine Statue enthüllt wurde, die der Bildhauer Hugo Lederer 1911 angefertigt hatte. Dieses Denkmal wurde von den Nationalsozialisten bereits 1933 wieder beseitigt und im Zweiten Weltkrieg eingeschmolzen. Seit 1982 steht auf dem Rathausmarkt eine neue Heine-Statue des Bildhauers Waldemar Otto. Auf eine Privatinitiative geht das wahrscheinlich erste Heine-Denkmal zurück, das in Deutschland aufgestellt wurde: 1893 ließ Baronin Selma von der Heydt auf der Friedensaue in Küllenhahn (heute zu Wuppertal gehörig) einen etwa zwei Meter hohen Pyramidenstumpf errichten, in den drei Schrifttafeln eingelassen waren. Ein zugehöriger Fahnenmast war bereits 1906 verschwunden, der Rest wurde in der Zeit des Nationalsozialismus von der Hitlerjugend zerstört. 1958 stiftete die Stadt Wuppertal ein neues Heinrich-Heine-Denkmal im Von-der-Heydt-Park. Der Bildhauer Harald Schmahl nutzte dazu drei Muschelquader aus den Trümmern des Barmer Rathauses.Die erste Stadt Preußens, die ein Heine-Denkmal erhielt, war Halle. Der sozialdemokratische Heine-Bund ließ 1912 im Trothaer Schlösschen eine Büste des Dichters aufstellen, die jedoch 1933 von Nationalsozialisten zerstört wurde. Im Jahr 1956 wurde ein Felsen am Ufer der Saale nach Heine benannt. Dort, im Ortsteil Reideburg und seit 1997 auch am einstigen Standort der Büste erinnern Gedenktafeln an den Dichter. Seit 2002 befindet sich auf dem Universitätsplatz von Halle ein neues Heine-Denkmal. Das älteste noch existierende Heine-Denkmal in Deutschland und zugleich das erste, das von der öffentlichen Hand errichtet wurde, steht in Frankfurt am Main. Es handelt sich um die allegorische Skulptur eines schreitenden Jünglings und einer sitzenden jungen Frau, die 1913 im Auftrag der Stadt von Georg Kolbe geschaffen wurde. Kolbe erhielt 20 Jahre später auch den Auftrag für das Heine-Denkmal im Düsseldorfer Ehrenhof. Das Frankfurter Denkmal wurde in der Nacht vom 26. auf den 27. April 1933 von NS-Anhängern von seinem Sockel gestürzt. Anschließend wurde es im Keller des Städel-Museums eingelagert. Dort blieb es während der gesamten Zeit des Nationalsozialismus unter dem unverfänglichen Namen „Frühlingslied“ versteckt. So überstand es als einziges deutsches Heine-Denkmal die Hitler-Diktatur und den Zweiten Weltkrieg. Es steht heute wieder in den Frankfurter Wallanlagen. Bert Gerresheim, der Schöpfer des Düsseldorfer Denkmals von 1981, gestaltete auch die Marmorbüste Heinrich Heines, die am 28. Juli 2010 in der von König Ludwig I. von Bayern gestifteten Walhalla aufgestellt wurde. Der Düsseldorfer Freundeskreis Heinrich Heine hatte sich zehn Jahre lang dafür eingesetzt. 2006 stimmte die bayerische Staatsregierung der Aufnahme Heines in die „Ruhmeshalle“ zu, die er selbst einst als marmorne Schädelstätte verspottet hatte. Im Münchener Finanzgarten gibt es einen von Toni Stadler geschaffenen Heinrich-Heine-Brunnen in Form einer kleinen Grotte. === Kontroverse Rezeption bis in die Nachkriegszeit === Kaum ein anderer deutscher Dichter löste bei seinen Zeitgenossen wie bei der Nachwelt derart heftige Kontroversen aus wie Heine. Laut Klaus Theodor Kleinknecht war das Repertoire der Heine-Kritiker bereits seit seiner Pariser Zeit ausgebildet: „Heine der Jude, der Franzosenfreund, der Vaterlandsverächter, der Lügner, der Charakterlose, der Verführer der Jugend, der irreligiöse Materialist, aber auch: der Nur-Dichter, der Nur-Ästhet, der mit der Revolution nur Spielende, alles dies ist schon formuliert, ebenso wie die Einsicht, daß Heine generell jedem Versuch, ihn auf eine Position festzulegen, sich entziehe.“Während Friedrich Nietzsche die Vollkommenheit von Heines Lyrik pries und in ihm den „ersten Artisten der deutschen Sprache“ sah, glaubte der deutschnationale, antisemitische Historiker Heinrich von Treitschke Heines „jüdischen Verstand“ folgendermaßen charakterisieren zu können: „Geistreich ohne Tiefe, witzig ohne Überzeugung, selbstisch, lüstern, verlogen und doch zuweilen unwiderstehlich liebenswürdig, war er auch als Dichter charakterlos und darum merkwürdig ungleich in seinem Schaffen“ – „ein Dichter, der Schönheit ebenso mächtig wie der Niedertracht.“Aus wiederum ganz anderen Gründen kritisierte Karl Kraus den Dichter in seiner Schrift Heine und die Folgen von 1910. Kraus betrachtete ihn als Urheber des von ihm erbittert bekämpften Feuilletonismus: „Ohne Heine kein Feuilleton. Das ist die Franzosenkrankheit, die er uns eingeschleppt hat.“ Wie kaum ein anderes Pamphlet hat das von Kraus dazu beigetragen „einer Generation von deutschjüdischen Intellektuellen […] Heine abspenstig zu machen“. Denn sie nahmen, wie Elias Canetti aus eigener Erfahrung schrieb, „keinen der Autoren je in die Hand, die von Kraus verdammt worden waren“. Zu denen, die im Bann des Krausschen Verdikts vornehmlich Heines Lyrik abschätzig bewerteten, gehörten die aus jüdischen Familien kommenden Friedrich Gundolf, Rudolf Borchardt, Walter Benjamin und Theodor W. Adorno. In seinem Rundfunkvortrag zum 100. Todestag Heines schied der Philosoph und Soziologe Adorno immerhin den Prosaschriftsteller als einen Stilisten von Rang vom Lyriker, dem er eine „dichterische Technik der Reproduktion“ und die Nähe zu „Ware und Tausch“ unterstellte. In seiner Gedenkrede sprach Adorno von der „Wunde Heine“, die für die spätere Wirkungsgeschichte „zur geflügelten Signatur“ wurde.In der Zeit des Nationalsozialismus wurde das Werk des 80 Jahre zuvor verstorbenen Dichters unterdrückt und 1940 auch offiziell verboten. Entgegen landläufiger Meinung fielen Heines Werke nicht der Bücherverbrennung von 1933 zum Opfer. Auch für die Behauptung des Germanisten Walter A. Berendsohn, Heines Loreley-Lied sei in Lesebüchern der NS-Zeit mit der Angabe „Verfasser unbekannt“ erschienen, fehlt jeder Beleg. Dass die äußerst umfangreiche Sammlung aus Einzeldokumenten, Handschriften und Büchern Heines in der Landes- und Stadtbibliothek Düsseldorf Diktatur und Krieg überstand, ist vor allem dem damaligen Bibliotheksleiter Hermann Reuter (1880–1970) zu verdanken. Er wusste von der Freundschaft Heines mit Prinz Alexander zu Sayn-Wittgenstein-Hohenstein (1801–1874), der im April 1820 ebenfalls an der Universität Bonn studiert hatte. Im Herbst 1943 ließ Reuter mit Zustimmung von Alexanders Enkel, Fürst August zu Sayn-Wittgenstein-Hohenstein (1868–1948), den gesamten Bestand in die Kapelle von Schloss Wittgenstein bei Laasphe auslagern. Dort überstand er die Kriegswirren und den Zusammenbruch unbeschadet. Im Februar 1947 ließ die britische Militärregierung die in 40 Bücherkisten untergebrachte Sammlung wieder zurück nach Düsseldorf transportieren.Selbst nach 1945 wurde Heines Werk in Deutschland lange Zeit zwiespältig beurteilt und war Gegenstand vielfältiger Kontroversen, nicht zuletzt aufgrund der deutschen Teilung. Während Heine in der Bundesrepublik Deutschland der Adenauerzeit eher zurückhaltend und allenfalls als romantischer Lyriker rezipiert wurde, integrierte die DDR ihn frühzeitig in ihr „Erbe“-Konzept und bemühte sich um die Popularisierung seines Werks. Dabei standen vor allem Deutschland. Ein Wintermärchen und Heines Kontakt mit Karl Marx im Mittelpunkt des Interesses. Der erste internationale wissenschaftliche Heine-Kongress wurde im Gedenkjahr 1956 in Weimar veranstaltet, im selben Jahr erschien erstmals die fünfbändige Werkausgabe in der Bibliothek deutscher Klassiker (durch die Bände Lutetia 1960 und Briefe 1969 ergänzt) zuerst im Volksverlag Weimar, dann im Aufbau-Verlag (18. Auflage 1990). Eine Mitte der 1950er Jahre von Weimar initiierte gesamtdeutsche, historisch-kritische Gesamtausgabe (Säkularausgabe) kam aufgrund der Verzögerungstaktik der bundesrepublikanischen Seite nicht zustande. Der DDR-Germanist Hans Kaufmann legte 1967 die bis dahin bedeutendste Heine-Monografie der Nachkriegszeit vor. Anlässlich von Heines 100. Todestag wurde 1956 in Düsseldorf die Heinrich-Heine-Gesellschaft gegründet, doch erst in den 1960er-Jahren nahm auch in der Bundesrepublik das Interesse an dem Dichter spürbar zu. Seine Geburtsstadt benannte 1963 die Heinrich-Heine-Allee nach ihm und etablierte sich als Zentrum der westdeutschen Heine-Forschung. Aus dem Heine-Archiv entwickelte sich schrittweise das Heinrich-Heine-Institut mit Archiv, Bibliothek und Museum. Seit 1962 erscheint regelmäßig das Heine-Jahrbuch, das zum internationalen Forum der Heine-Forschung avancierte. Darüber hinaus verleiht die Stadt Düsseldorf seit 1972 den Heinrich-Heine-Preis. Dennoch hielt ein lokaler Professoren-Streit um Heine an: Dreimal – 1972, 1973 und 1982 – lehnte es der Satzungskonvent der Universität Düsseldorf ab, die Hochschule nach dem bedeutendsten Dichter zu benennen, den die Stadt hervorgebracht hat. Erst seit 1988, nach einer rund 20 Jahre währenden Auseinandersetzung, heißt die Hochschule offiziell Heinrich-Heine-Universität. === Das Heine-Bild seit den 1970er Jahren === Abgesehen von offiziellen Ehrungen erfuhr der politische Schriftsteller Heinrich Heine – forciert durch die Studentenbewegung von 1968 – ein zunehmendes Interesse bei Nachwuchswissenschaftlern und politisch engagierten Lesern. Dass die Bundesrepublik in Sachen Heine-Rezeption mit der DDR gleichgezogen hatte, zeigte sich 1972, im 175. Geburtsjahr des Dichters, als in den zwei deutschen Staaten konkurrierende Heine-Kongresse (in Düsseldorf und in Weimar) stattfanden. Wegen der deutsch-deutschen Konkurrenz erschienen auch die ersten Bände zweier groß angelegter historisch-kritischer Werkausgaben fast gleichzeitig: die der Düsseldorfer Heine-Ausgabe und der Heine-Säkularausgabe in Weimar. Nach der Konsolidierung der Heine-Renaissance in den 1970er Jahren nahm die ideologisch geprägte Auseinandersetzung um den Dichter in den 1980er Jahren spürbar ab und wich schließlich einer Kanonisierung. Gerhard Höhn, der Herausgeber des Heine-Handbuches, stellte für diesen Zeitpunkt einen Gesinnungswandel fest: „Der Kämpfer für Freiheit und Fortschritt wird heute nicht mehr verleumdet, sondern überall gefeiert und geehrt.“ Dies zeigte sich nicht nur in der Benennung der Düsseldorfer Universität, sondern auch der zahlreicher deutscher Schulen nach Heinrich Heine. Ebenso erinnern etliche „Heinrich-Heine-Straßen“ und „Heinrich-Heine-Alleen“ sowie einer der ersten Intercity-Express-Züge (ICE 4) an den Dichter. Vor allem aber fand seit dieser Zeit Heines Werk vermehrt Aufnahme in die Lehr- und Lektürepläne von Schulen und Universitäten, was auch eine deutliche Zunahme didaktisch orientierter Heine-Literatur zur Folge hatte. Die Fachwissenschaft dagegen wandte sich bisher vernachlässigten Schwerpunkten zu, beispielsweise dem späten Heine. Ihren vorläufigen Höhepunkt fand die Heine-Renaissance mit zahlreichen Veranstaltungen anlässlich seines 200. Geburtstages im Jahr 1997. Ungeachtet des weltanschaulichen Streits und fachwissenschaftlicher Paradigmenwechsel erfreut sich besonders Heines Lyrik ungebrochener Popularität, zumal sich seine romantischen, oft volksliedartigen Gedichte – allen voran das Buch der Lieder – sehr gut vertonen lassen. Im Theater ist Heine mit eigenen Dramen wenig präsent, aber Tankred Dorst machte den Dichter im Heine-Jahr 1997 selbst zum Gegenstand eines Stückes: „Harrys Kopf“. === Rezeption durch deutsche Schriftsteller und Journalisten === Im Jahr 1861 veröffentlichte der Schriftsteller Friedrich Arnold Steinmann mehrere Bände angeblicher Nachträge zu Heinrich Heine’s Werken, die sich durchweg als Fälschungen von seiner Hand herausstellten. Der Streit um die Frage der Echtheit veranlasste Heines Verleger Campe dazu, eine zuverlässige Gesamtausgabe von Heines Texten herauszugeben. Zahlreiche deutsche Schriftsteller des 19. und 20. Jahrhunderts griffen Heines Werke auf, darunter die großen Erzähler Theodor Fontane und Thomas Mann. Wie Heine wagten Bertolt Brecht und Kurt Tucholsky die Gratwanderung zwischen Poesie und Politik. In der Tradition des Dichters stehen auch die Heine-Preisträger Wolf Biermann, Hans Magnus Enzensberger und Robert Gernhardt. Biermann etwa widmete seinem Vorbild 1979 das Lied Auf dem Friedhof am Montmartre. Darin heißt es in typisch heinescher Diktion: Gernhardt parodierte in seinem Gedichtband Klappaltar von 1997 Heines Stil und das Loreley-Gedicht, um auf die Ablehnung hinzuweisen, die das Werk des Dichters in deutschen Schulen bis ins 20. Jahrhundert erfahren hat. Nach dem Eingangsvers „Ich weiß nicht, was soll das bedeuten“ nennt er die Vorurteile, die seine Generation, beeinflusst von Karl Kraus, seit „Urschülerzeiten“ gegen Heine gehegt hatte. Er schließt: Heines Prosa-Stil prägt den deutschsprachigen Journalismus, insbesondere das Feuilleton, bis in die Gegenwart. Viele von ihm geprägte Begriffe gingen auch in die deutsche Alltagssprache ein, so das Wort „Fiasko“, das er dem Französischen entnahm, oder die Metapher „Vorschusslorbeeren“, die er in dem gegen Graf Platen gerichteten Gedicht Plateniden verwendet. === Heine-Rezeption weltweit === Stieß Heine in Deutschland lange Zeit wegen seiner jüdischen Herkunft auf breite Ablehnung, ist er in Israel bis heute wegen seiner Abwendung vom Judentum umstritten. So kam es in Tel Aviv zu einer Debatte zwischen säkularen und orthodoxen Juden um die Benennung einer Straße nach Heine. Während die einen in ihm eine der bedeutendsten Gestalten des Judentums sehen, verurteilen die anderen seine Konversion zum Christentum als unverzeihlich. Schließlich wurde eine Straße in einem abgelegenen Industriegebiet nach ihm benannt, statt, wie von den Verfechtern der Ehrung vorgeschlagen, eine Straße in der Nähe der Universität. Die Tel Aviver Wochenzeitung Ha’ir spottete damals über die „Exilierung der Heine-Straße“, in der sich das Leben des Dichters symbolisch widerspiegele. Mittlerweile wurden weitere Straßen in Jerusalem und Haifa nach Heine benannt, und eine Heine-Gesellschaft ist auch in Israel aktiv. Wesentlich geradliniger verlief die Aufnahme von Heines Werk in der übrigen Welt. Heine war einer der ersten deutschen Autoren, deren Werke in allen Weltsprachen zu lesen waren. So erklärt sich der Einfluss, den er auf andere Nationalliteraturen hatte. Bereits im 19. Jahrhundert wurden Lyriker wie der spanische Romantiker Gustavo Adolfo Bécquer von Heine beeinflusst. Auf besonders große Anerkennung trifft Heine auch in Frankreich, England, den Vereinigten Staaten von Amerika, in Osteuropa und Asien. In Japan brachte der Literaturwissenschaftler Onoe Saishū 1901 eine erste Auswahl von Gedichten Heines heraus. Ihr folgte 1919 eine weitere, maßgebliche Übersetzung durch den Germanisten Shungetsu Ikuta (1892–1930). Die Auswahl des konservativen Onoe prägte über Jahrzehnte die Wahrnehmung Heines in Japan als eines romantischen Liebesdichters. Erst seit Ende der 1920er Jahre wurde Heine verstärkt auch als eminent politischer Autor wahrgenommen. Der Anstoß dafür kam von Schriftstellern und Literaturwissenschaftlern wie dem Heine-Biographen Shigeharu Nakano, die gegen die zunehmend autoritäre Politik ihres Landes opponierten. 2017 wurden zwei Essays Adornos über Heine ins Japanische übersetzt. == Heine und die Musik == Heinrich Heine spielte selbst kein Musikinstrument und war auch in musiktheoretischen Fragen ein Laie. Da es nach seinem künstlerischen Verständnis aber keine strikten Grenzen zwischen verschiedenen Kunstformen gab, kommentierte er als Journalist – etwa in der Augsburger Allgemeinen Zeitung – immer wieder auch musikalische Aufführungen und Werke seiner Zeit, darunter auch solche von internationalen Größen wie Giacomo Meyerbeer, Franz Liszt, Robert Schumann oder Richard Wagner. Auch in seine Lyrik floss sein Interesse an der Musik ein, etwa in das spöttische Gedicht Zur Teleologie: Trotz seiner fehlenden theoretischen Kenntnisse auf dem Gebiet der Musik legten viele zeitgenössische Komponisten und Interpreten Wert auf seine Meinung, wahrscheinlich weil sie ihm als Lyriker eine gewisse Kompetenz in musikalischen Fragen zugestanden. Dennoch wäre es nicht korrekt, Heine als Musikkritiker zu bezeichnen. Er war sich seiner begrenzten Fähigkeiten auf diesem Gebiet bewusst und schrieb stets als Feuilletonist, der sich der Thematik eines Stücks subjektiv und intuitiv näherte. Von größerer Bedeutung als Heines Äußerungen über die Musik ist die musikalische Bearbeitung vieler seiner Werke durch Komponisten. Dies geschah erstmals im Jahr 1825 mit seinem Gedicht Gekommen ist der Maie, das Carl Friedrich Curschmann zu einem Lied verarbeitete. In seinem Werk Heine in der Musik. Bibliographie der Heine-Vertonungen listet Günter Metzner alle vertonten Werke des Dichters in chronologischer Reihenfolge auf. Für das Jahr 1840 verzeichnet er 14 Musiker, die 71 Stücke zu Werken von Heine komponierten. Vier Jahre später waren es bereits mehr als 50 Komponisten und 159 Werke. Der Grund für diesen rapiden Anstieg dürfte die Veröffentlichung des Lyrikbandes „Neue Gedichte“ bei Campe gewesen sein. Ihren Höhepunkt erreichte die Zahl der Heine-Vertonungen fast 30 Jahre nach dem Tod des Dichters, im Jahr 1884 – mit insgesamt 1093 Stücken von 538 Musikern und Komponisten. Nie zuvor und nie wieder danach wurden mehr Werke eines einzigen Dichters in einem Jahr zur Grundlage musikalischer Kompositionen. Insgesamt zählt Metzners Bibliografie 6.833 Heine-Vertonungen, darunter Werke von Franz Schubert, Robert und Clara Schumann, Johannes Brahms, Felix Mendelssohn Bartholdy, Franz Liszt, Richard Wagner, Pjotr Iljitsch Tschaikowski, Alexander Borodin, Wendelin Weißheimer, Alma Mahler-Werfel und Charles Ives. Unter anderem gehören Schumanns Liederkreis (op. 24) und Dichterliebe (op. 48) sowie Franz Schuberts Schwanengesang (D 957) zum regelmäßigen Repertoire von Konzerthäusern auf der ganzen Welt. Die populärste Heine-Vertonung in Deutschland dürfte Friedrich Silchers Lied Die Lorelei sein, gefolgt von Du bist wie eine Blume, das, ebenfalls aus der romantischen Periode, über dreihundert Komponisten zur Vertonung reizte.Wie Schumann, so vertonte auch Richard Wagner, der mit Heine in Paris freundschaftlich verkehrte, das Napoleon verherrlichende Gedicht Die Grenadiere, allerdings in französischer Übersetzung. Darüber hinaus wurde Wagner von Heine zu zwei Opern inspiriert: Eine Erzählung in Heines Aus den Memoiren des Herren von Schnabelewopski lieferte die Vorlage zu Der Fliegende Holländer und das episch-balladeske Gedicht über die Tannhäuser-Legende aus den Neuen Gedichten verarbeitete der Komponist in Tannhäuser und der Sängerkrieg auf der Wartburg. All das hielt Wagner später nicht davon ab, Heine in seinem antisemitischen Pamphlet Das Judenthum in der Musik anzugreifen. Nach Meinung des Musiktheoretikers und -kritikers Theodor W. Adorno ist die Geschichte des deutschen Kunstliedes undenkbar ohne Heine. Ihm zufolge wäre die „selbstvergessene Melancholie“ der Schumannschen Kompositionen ohne die spätromantischen Texte Heines nicht möglich gewesen.Heines Bedeutung für das musikalische Schaffen hielt bis zum Ersten Weltkrieg an. Danach ließ der zunehmende Antisemitismus den „Heine-Boom“ weitgehend abflauen, bis er in der Zeit des Nationalsozialismus in Deutschland ganz zum Erliegen kam. Noch 1972 erfuhr die Schlager- und Chansonsängerin Katja Ebstein herbe Kritik von konservativer Seite, nachdem sie eine LP mit Liedern von Heinrich Heine veröffentlicht hatte. Heute greifen Musiker und Komponisten Heines Werk erneut auf, darunter auch Opernkomponisten wie Günter Bialas, dessen Oper Aus der Matratzengruft 1992 uraufgeführt wurde. == Zitate über Heine == Aussagen von Zeitgenossen und Nachgeborenen über Heinrich Heine zeigen, wie sehr er über seinen Tod hinaus polarisiert hat und wie stark die Rezeption seines Werkes vom jeweiligen Zeitgeist geprägt war. == Werke (Auswahl) == === Originalausgaben === Nach Erscheinungsjahr in Buchform 1821: Gedichte. Maurerische Verlagsbuchhandlung, Berlin. 1822: Briefe aus Berlin. Anonym im Verlag des Rheinisch-Westfälischen Anzeigers, Hamm. 1823: Tragödien nebst einem lyrischen Intermezzo (darin William Ratcliff, Almansor und Lyrisches Intermezzo), „Ferd. Dümmlersche Verlagsbuchhandlung“, Berlin. 1824: Dreiunddreißig Gedichte 1826: Reisebilder. Erster Teil (darin Die Harzreise, Die Heimkehr, Die Nordsee. Erste Abteilung sowie verschiedene Gedichte; Digitalisat und Volltext im Deutschen Textarchiv) 1827: Buch der Lieder (Digitalisat und Volltext im Deutschen Textarchiv) 1827: Reisebilder. Zweiter Teil (darin Die Nordsee. Zweite und dritte Abteilung, Ideen. Das Buch Le Grand und Briefe aus Berlin; Digitalisat und Volltext im Deutschen Textarchiv) 1830: Reisebilder. Dritter Teil (darin Die Reise von München nach Genua und Die Bäder von Lucca; Digitalisat und Volltext im Deutschen Textarchiv) 1831: Einleitung zu Kahldorf über den Adel sowie Reisebilder. Vierter Teil (darin Die Stadt Lucca und Englische Fragmente; Digitalisat und Volltext im Deutschen Textarchiv) 1832: Französische Zustände 1834: Der Salon. Erster Teil (darin Französische Maler, Aus den Memoiren des Herren von Schnabelewopski sowie verschiedene Gedichte) 1835: Der Salon. Zweiter Teil (darin Zur Geschichte der Religion und Philosophie in Deutschland und der Gedichtzyklus Neuer Frühling) 1836: Der Salon. Dritter Teil (darin Florentinische Nächte und Elementargeister) 1836: Die romantische Schule 1837: Über den Denunzianten. Eine Vorrede zum dritten Teil des Salons. Einleitung zu Don Quixote sowie Der Salon. Dritter Teil 1838: Der Schwabenspiegel 1839: Shakespeares Mädchen und Frauen sowie Schriftstellernöten 1840: Ludwig Börne. Eine Denkschrift sowie Der Salon. Vierter Teil (darin Der Rabbi von Bacherach, Über die französische Bühne und verschiedene Gedichte) 1844: Neue Gedichte (Titelblatt in der Wikiversity), teils darin, daneben auch separat erschien das satirische Versepos Deutschland. Ein Wintermärchen (Digitalisat und Volltext im Deutschen Textarchiv) 1847: Atta Troll – Ein Sommernachtstraum 1851: Romanzero und Der Doktor Faust. Ein Tanzpoem 1854: Vermischte Schriften (drei Bände, darin Geständnisse, Die Götter im Exil, Die Göttin Diana, Ludwig Marcus, Gedichte 1853 und 1854, Lutetia. Erster Teil und Lutetia. Zweiter Teil) === Aus dem Nachlass === 1857: Tragödien 1869: Letzte Gedichte und Gedanken 1884: Memoiren (1854–1855 geschrieben) 1892: Heinrich Heines Familienleben. 122 Familienbriefe des Dichters und 4 Bilder. (Digitale Rekonstruktion: UB Bielefeld) === Gesamtausgaben === Heinrich Heine’s sämmtliche Werke. 9 Doppelbände. Hoffmann und Campe, Hamburg 1867. Digitalisat Sämmtliche Werke. Rechtmäßige Original-Ausgabe. Hrsg. von Adolf Strodtmann. 21 Bände und 2 Supplementbände. Hoffmann und Campe, Hamburg 1861–1884. Heinrich-Heine-Säkularausgabe (HSA). Werke, Briefwechsel, Lebenszeugnisse. Hrsg. von Nationale Forschungs- und Gedenkstätten der klassischen deutschen Literatur in Weimar / Centre National de la Recherche Scientifique in PariS. 53 Bände, Akademie Verlag, Berlin 1970 ff. Die Briefausgaben sind online zugängig im Heinrich-Heine-Portal Düsseldorfer Heine-Ausgabe (DHA): Heinrich Heine. Historisch-kritische Gesamtausgabe der Werke. Hrsg. von Manfred Windfuhr. 16 Bände, Hoffmann & Campe, Hamburg 1973–1997. Online zugängig im Heinrich-Heine-Portal Klaus Briegleb (Hrsg.): Heinrich Heine. Sämtliche Schriften. 6 Bände. Hanser, München 1968–1976, ISBN 978-3-446-10726-7. Taschenbuch-Ausgabe: dtv, München 2005, ISBN 3-423-59074-2. Hans Kaufmann: Heinrich Heine. Werke und Briefe in zehn Bänden. 2. Auflage. Aufbau-Verlag, Berlin/Weimar 1972. Sämtliche Werke in 4 Bänden. 4. Auflage. Artemis & Winkler, München 2006, ISBN 978-3-538-05107-2. Lizenzausgabe für die Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 1992–1994. === Neuere Ausgaben (Auswahl) === Poesiealbum 3. Verlag Neues Leben, Berlin 1967. Die Prosa nimmt mich auf in ihre weiten Arme. Verrisse und Visionen. Hanser, München 1997, ISBN 3-446-19117-8. Buch der Lieder. Reclam, Stuttgart 1998, ISBN 3-15-002231-2. Ludwig Börne und Heinrich Heine. Ein deutsches Zerwürfnis. Bearb. v. Hans Magnus Enzensberger. Greno, Nördlingen 1986 (Die Andere Bibliothek). Aus den Memoiren des Herrn von Schnabelewopski, Manesse Verlag, Zürich 2001, ISBN 3-7175-4008-4. Auf Flügeln des Gesanges. Sämtliche Gedichte. Artemis & Winkler, Düsseldorf 2003, ISBN 3-538-06958-1. Sämtliche Gedichte in zeitlicher Folge in einem Band. 4. Auflage. Insel, Frankfurt am Main 2006, ISBN 3-458-33663-X. Denn das Meer ist meine Seele. Reisebilder, Prosa und Dramen. Artemis & Winkler, Düsseldorf 2003, ISBN 3-538-06959-X. Die romantische Schule. Reclam, Stuttgart 2002, ISBN 3-15-009831-9. Die Worte und die Küsse sind wunderbar vermischt... Ein Heine–Lesebuch, Hrsg.: Bernd Kortländer, unter Mitarbeit von Martin und Ulrike Hollender, Philipp Reclam jun., Stuttgart, ISBN 3-15-010578-1 Mit scharfer Zunge. 999 Aperçus und Bonmots (ausgewählt von Jan-Christoph Hauschild), dtv, München 2005, ISBN 3-423-13392-9. Confessio Judaica. Bekenntnis zum Judentum. Melzer, Neu-Isenburg 2006, ISBN 3-937389-97-0. Der Gott unserer Väter. Über Juden und Judentum. Klartext, Essen 2006, ISBN 3-89861-674-6. Ludwig Börne. Eine Denkschrift. WFB, Bad Schwartau 2006, ISBN 3-930730-44-8. „… und grüssen sie mir die Welt“. Ein Leben in Briefen. Hoffmann und Campe, Hamburg 2005, ISBN 3-455-09512-7. Wilma Ruth Albrecht: Harry Heine. Shaker, Aachen 2007, ISBN 978-3-8322-6062-0. Mein Leben. Autobiographische Texte. (ausgewählt von J. A. Kruse), Insel, Frankfurt am Main 2005, ISBN 3-458-34854-9. Französische Zustände: Artikel IX vom 25. Juni 1832. Urfassung. Faksimile-Edition der Handschrift. Herausgegeben von Christian Liedtke. Mit einem Essay von Martin Walser, Hoffmann und Campe, Hamburg 2010, ISBN 978-3-455-40212-4. Lästerliche Schriften. Der Rabbi von Bacherach. Bibliothek der verbotenen Bücher, herausgegeben und eingeleitet von Heinz-Joachim Fischer, Marixverlag, Wiesbaden 2010, ISBN 978-3-86539-220-6. == Bearbeitungen zu Leben und Werk == == Literatur == === Einführungen und Gesamtdarstellungen === Gerhard Höhn: Heine-Handbuch. Zeit, Person, Werk. 3., überarb. u. erw. Auflage. Metzler, Stuttgart 2004, ISBN 3-476-01965-9. Peter Uwe Hohendahl: Heinrich Heine. Europäischer Schriftsteller und Intellektueller. Erich Schmidt, Berlin 2008, ISBN 978-3-503-09846-0. Bernd Kortländer: Heinrich Heine. Reclam, Stuttgart 2003, ISBN 3-15-017638-7. Jeffrey L. Sammons: Heinrich Heine (= Realien zur Literatur. SM 261). Metzler, Stuttgart 1991, ISBN 3-476-10261-0. Ralf Schnell: Heinrich Heine zur Einführung. Junius, Hamburg 1996, ISBN 3-88506-930-X. === Tagungs- und Sammelbände === Heine-Jahrbuch 1962–1972 hrsg. vom Heine-Archiv der Landes- und Stadtbibliothek Düsseldorf 1973–1976 hrsg. von Eberhard Galley, Heinrich-Heine-Institut, Düsseldorf 1977–2009 hrsg. vom Joseph A. Kruse, Heinrich-Heine-Institut, Düsseldorf 2010 ff. hrsg. Sabine Brenner-Wilczek, Heinrich-Heine-Institut, Düsseldorf Wolfgang Kuttenkeuler (Hrsg.): Heinrich Heine. Artistik und Engagement. Metzler, Stuttgart 1977, ISBN 3-476-00347-7. Joseph A. Kruse u. a. 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Werke von Heinrich Heine im Projekt Gutenberg-DE Ulrich Goerdten: Kommentierte Linksammlung der Universitätsbibliothek der FU Berlin (Memento vom 3. Juli 2015 im Internet Archive) Gedichte von Heinrich Heine bei di-lemmata.de (inkl. lemmatisierter Wortlisten) Heine: Rezension zu: „Menzel: Die deutsche Literatur“, 1828; im Projekt „Lyriktheorie“ Akten der Universität Bonn, Heinrich Heine betreffend. Digitalisat der ULB Bonn Nachgelesene Gedichte 1812–1827 Gedichte auf zgedichte.de Werke von Heinrich Heine als gemeinfreie und kostenlose Hörbücher bei LibriVox Dichterkrieg Platen/Heine Kompositionen nach Gedichten von Heinrich Heine: Noten und Audiodateien im International Music Score Library ProjectÜber Heine Heinrich-Heine-Gesellschaft e. V. Heine-Haus Heinrich-Heine-Institut Düsseldorf Beiträge zu Heine – Aus Politik und Zeitgeschichte, 2006, 3 darin Klaus Briegleb: Heines Umgang mit Judenhass als Fortführung eines biblischen Programms. „Heine und die Deutschen“ – O-Ton und Textfassung des Vortrages von Christian Liedtke vom 13. August 2006 im Rahmen der Nibelungenfestspiele in Worms Gerd Heinemann: Die Beziehungen des jungen Heine zu Zeitschriften im Rheinland und in Westfalen. LWL, Historische Kommission, 34, 1, 2013 == Anmerkungen == Texte von Heinrich Heine werden – sofern nicht anders angegeben – nach der Düsseldorfer Heine-Ausgabe (DHA) für die Werke und nach der Heine-Säkularausgabe (HSA) für die Briefe zitiert. Über das Heinrich-Heine-Portal (siehe Weblinks) stehen die Texte beider Ausgaben inzwischen digitalisiert (mit Suchfunktion) zur Verfügung.
https://de.wikipedia.org/wiki/Heinrich_Heine
Heiliges Römisches Reich
= Heiliges Römisches Reich = Heiliges Römisches Reich (lateinisch Sacrum Imperium Romanum oder Sacrum Romanum Imperium), seit dem Ende des 15. Jahrhunderts auch Heiliges Römisches Reich Deutscher Nation (lateinisch Sacrum Imperium Romanum Nationis Germaniae), war vom Spätmittelalter bis 1806 die offizielle Bezeichnung für das seit dem 10. Jahrhundert bestehende Herrschaftsgebiet der römisch-deutschen Kaiser. Der Name leitet sich vom Anspruch seiner mittelalterlichen Herrscher ab, Nachfolger der römischen Kaiser der Antike und nach Gottes heiligem Willen die universalen, weltlichen Oberhäupter der Christenheit zu sein, im Rang also über allen anderen Königen Europas zu stehen. Zur Unterscheidung vom 1871 gegründeten Deutschen Reich wird es auch als Römisch-deutsches Reich oder als Altes Reich bezeichnet. Das Reich bildete sich im 10. Jahrhundert unter der Dynastie der Ottonen aus dem ehemals karolingischen Ostfrankenreich heraus. Mit seiner Kaiserkrönung am 2. Februar 962 in Rom knüpfte Otto I., wie 162 Jahre zuvor Karl der Große, an die Idee des erneuerten Römerreiches an. An der Theorie der Translatio imperii, die ihren universalen Herrschaftsanspruch legitimierte, hielten seine Nachfolger bis zum Ende des Reiches prinzipiell fest. Das Gebiet des Ostfrankenreichs wurde erstmals im 11. Jahrhundert in verschiedenen Schriftquellen – aber nie offiziell – als Regnum Teutonicum oder Regnum Teutonicorum bezeichnet. Seit der Zeit Kaiser Friedrich Barbarossas sind die Namen Sacrum Imperium (1157) und Sacrum Romanum Imperium (1184) erstmals urkundlich belegt, nicht erst seit 1254, wovon die ältere Forschung ausging. Der Zusatz Deutscher Nation (lateinisch nationis Germanicæ oder natio Teutonica) wurde ab dem späten 15. Jahrhundert gelegentlich gebraucht.Umfang und Grenzen des Heiligen Römischen Reiches veränderten sich im Laufe der Jahrhunderte erheblich. Seit 1033 bestand es aus drei Teilen: aus dem Regnum Teutonicum, also dem „deutschen“ Reich, aus Reichsitalien und – bis zum faktischen Verlust im ausgehenden Spätmittelalter – aus dem Königreich Burgund, das auch als Arelat bezeichnet wurde. Eine Sonderrolle nahm das ebenfalls dem Reich angehörige Königreich Böhmen ein. Zur Zeit seiner größten Ausdehnung um 1200 umfasste das Reichsgebiet das heutige Deutschland bis zur Eider, die Benelux-Staaten mit Ausnahme von Teilen Flanderns, die Schweiz, Liechtenstein, Österreich, Tschechien, Slowenien und Norditalien außer Venedig sowie weite Teile im Osten Frankreichs und ungefähr das westliche Drittel Polens. Wegen verschiedener Unklarheiten bei der Reichszugehörigkeit (z. B. den Deutschordensstaat betreffend) ist eine eindeutige Darstellung des Reichsgebietes nicht möglich; dies ist auch im Falle der hier verwendeten Karten zu beachten. Aufgrund seines multiethnischen, vor- und übernationalen Charakters und seines universalen Anspruchs entwickelte sich das Reich nie zu einem Nationalstaat moderner Prägung, sondern blieb ein monarchisch geführter, ständisch geprägter Verband von Kaiser und Reichsständen mit nur wenigen gemeinsamen Institutionen wie dem Reichstag und dem Reichskammergericht. Seit der Frühen Neuzeit war das Reich strukturell nicht mehr zu offensiver Kriegsführung, Machterweiterung und Expansion fähig. Rechtsschutz und Friedenswahrung galten seither als seine wesentlichen Zwecke. Das Reich sollte für Ruhe, Stabilität und die friedliche Lösung von Konflikten sorgen, indem es die Dynamik der Macht eindämmte: Untertanen sollte es vor der Willkür der Landesherren und kleinere Reichsstände vor Rechtsverletzungen mächtigerer Stände und des Kaisers schützen. Da seit dem Westfälischen Frieden von 1648 auch benachbarte Staaten als Reichsstände in seine Verfassungsordnung integriert waren, erfüllte das Reich zudem eine friedenssichernde Funktion im System der europäischen Mächte. Das Reich konnte seit der Mitte des 18. Jahrhunderts seine Glieder immer weniger gegen die expansive Politik innerer und äußerer Mächte schützen. Dies trug wesentlich zu seinem Untergang bei. Durch die Napoleonischen Kriege und die daraus resultierende Gründung des Rheinbunds, dessen Mitglieder aus dem Reich austraten, war es nahezu handlungsunfähig geworden. Das Heilige Römische Reich erlosch am 6. August 1806 mit der Niederlegung der Reichskrone durch Kaiser Franz II. == Charakter == Das Heilige Römische Reich entstand aus dem Ostfränkischen Reich. Es war ein vor- und übernationales Gebilde, ein Lehnsreich und Personenverbandsstaat, der sich niemals zu einem Nationalstaat wie etwa Frankreich oder Großbritannien entwickelte und aus ideengeschichtlichen Gründen auch nie als solcher verstanden werden wollte. Innerhalb der Grenzen des Reiches wurden in der Frühen Neuzeit zwölf verschiedene Sprachen gesprochen, darunter Dänisch, Tschechisch, Slowenisch, Italienisch, Französisch und Niederländisch. Am häufigsten war das Deutsche, das auch außerhalb des Reiches, vor allem in Ostmittel- und Südosteuropa verbreitet war. Der konkurrierende Gegensatz von Bewusstsein in den Stammesherzogtümern bzw. später in den Territorien und dem supranationalen Einheitsbewusstsein wurde im Heiligen Römischen Reich nie ausgetragen oder aufgelöst, ein übergreifendes Nationalgefühl entwickelte sich nicht.Die Geschichte des Reiches war geprägt durch den Streit über seinen Charakter, welcher sich – da die Machtverhältnisse innerhalb des Reiches keineswegs statisch waren – im Verlauf der Jahrhunderte immer wieder veränderte. Ab dem 12. und 13. Jahrhundert ist eine Reflexion über das politische Gemeinwesen zu beobachten, die sich zunehmend an abstrakten Kategorien orientiert. Mit dem Aufkommen von Universitäten und einer steigenden Anzahl ausgebildeter Juristen stehen sich hier über mehrere Jahrhunderte die aus der antiken Staatsformenlehre übernommenen Kategorien Monarchie und Aristokratie gegenüber. Das Reich ließ sich jedoch nie eindeutig einer der beiden Kategorien zuordnen, da die Regierungsgewalt des Reiches weder allein in der Hand des Kaisers noch allein bei den Kurfürsten oder der Gesamtheit eines Personenverbandes wie dem Reichstag lag. Vielmehr vereinte das Reich Merkmale beider Staatsformen in sich. So kam im 17. Jahrhundert Samuel Pufendorf in seiner unter Pseudonym veröffentlichten Schrift De statu imperii zu dem Schluss, dass das Reich eigener Art sei – ein „irregulärer und einem Monstrum ähnlicher Körper“ (irregulare aliquod corpus et monstro simile), was Karl Otmar von Aretin als meistzitierten Satz über die Reichsverfassung ab 1648 bezeichnet.Bereits seit dem 16. Jahrhundert rückte dann immer mehr der Begriff der Souveränität in den Mittelpunkt. Die hierauf aufbauende Unterscheidung zwischen Bundesstaat (bei dem die Souveränität beim Gesamtstaat liegt) und Staatenbund (der ein Bund souveräner Staaten ist) ist jedoch eine ahistorische Betrachtungsweise, da der feste Bedeutungsgehalt dieser Kategorien sich erst später einstellte. Auch ist sie in Bezug auf das Reich nicht aufschlussreich, da sich das Reich wiederum keiner der beiden Kategorien zuordnen ließ: Ebenso wenig wie es dem Kaiser jemals gelang, den regionalen Eigenwillen der Territorien zu brechen, ist es in einen losen Staatenbund zerfallen. In der neueren Forschung wird die Rolle von Ritualen und Inszenierung von Herrschaft in der vormodernen Gesellschaft und speziell im Hinblick auf die ungeschriebene Rang- und Verfassungsordnung des Reichs bis zu dessen Auflösung im Jahr 1806 verstärkt betont (symbolische Kommunikation).Das Reich überwölbte als „Dachverband“ viele Territorien und gab dem Zusammenleben der verschiedenen Landesherren reichsrechtlich vorgegebene Rahmenbedingungen. Diese quasi-selbstständigen, aber nicht souveränen Fürsten- und Herzogtümer erkannten den Kaiser als zumindest ideelles Reichsoberhaupt an und waren den Reichsgesetzen, der Reichsgerichtsbarkeit und den Beschlüssen des Reichstages unterworfen, gleichzeitig aber auch durch Königswahl, Wahlkapitulation, Reichstage und andere ständische Vertretungen an der Reichspolitik beteiligt und konnten diese für sich beeinflussen. Im Gegensatz zu anderen Ländern waren die Bewohner nicht direkt dem Kaiser untertan, sondern dem Landesherrn des jeweiligen reichsunmittelbaren Territoriums. Im Falle der Reichsstädte war dies der Magistrat der Stadt. Voltaire beschrieb die Diskrepanz zwischen dem Namen des Reiches und seiner ethnisch-politischen Realität in seiner späten Phase (seit der Frühen Neuzeit) mit dem Satz: „Dieser Korpus, der sich immer noch Heiliges Römisches Reich nennt, ist in keiner Weise heilig, noch römisch, noch ein Reich.“ Montesquieu beschrieb das Reich in seinem 1748 erschienenen Werk Vom Geist der Gesetze als „république fédérative d’Allemagne“, als ein föderativ verfasstes Gemeinwesen Deutschlands.In der neueren Forschung werden die positiven Aspekte des Reichs wieder stärker hervorgehoben, das nicht nur über mehrere Jahrhunderte einen funktionierenden politischen Ordnungsrahmen bot, sondern auch (gerade aufgrund der eher föderalen Herrschaftsstruktur) vielfältige Entwicklungen in den verschiedenen Herrschaftsräumen zuließ. == Name == Durch den Namen wurde der Anspruch auf die Nachfolge des antiken Römischen Reiches und damit gleichsam auf eine Universalherrschaft erhoben. Gleichzeitig fürchtete man das Eintreffen der Prophezeiungen des Propheten Daniel, der vorhergesagt hatte, dass es vier Weltreiche geben und danach der Antichrist auf die Erde kommen werde (Vier-Reiche-Lehre) – die Apokalypse sollte beginnen. Da in der Vier-Reiche-Lehre das (antike) Römische Imperium als viertes Reich gezählt wurde, durfte es nicht untergehen. Die Erhöhung durch den Zusatz „Heilig“ betonte das Gottesgnadentum des Kaisertums und die Legitimation der Herrschaft durch göttliches Recht. Mit der Krönung des Frankenkönigs Karl des Großen zum Kaiser durch Papst Leo III. im Jahr 800 stellte dieser sein Reich in die Nachfolge des antiken römischen Imperiums, die so genannte Translatio Imperii. Geschichtlich und dem eigenen Selbstverständnis nach gab es allerdings schon ein Reich, das aus dem alten römischen Reich entstanden war, nämlich das christlich-orthodoxe byzantinische Reich; nach Ansicht der Byzantiner war das neue westliche „Römische Reich“ ein selbsternanntes und illegitimes. Das Reich trug zum Zeitpunkt seiner Entstehung Mitte des 10. Jahrhunderts noch nicht das Prädikat heilig. Der erste Kaiser Otto I. und seine Nachfolger sahen sich selbst als Stellvertreter Gottes auf Erden und wurden damit als erste Beschützer der Kirche angesehen. Es bestand also keine Notwendigkeit, die Heiligkeit des Reiches besonders hervorzuheben. Das Reich hieß weiterhin Regnum Francorum orientalium oder kurz Regnum Francorum. In den Kaisertitulaturen der Ottonen tauchen die später auf das gesamte Reich übertragenen Namensbestandteile aber schon auf. So findet sich in den Urkunden Ottos II. aus dem Jahre 982, die während seines Italienfeldzuges entstanden, die Titulatur Romanorum imperator augustus, „Kaiser der Römer“. Otto III. erhöhte sich in seiner Titulatur über alle geistlichen und weltlichen Mächte, indem er sich, analog zum Papst und sich damit über diesen erhebend, demutsvoll „Knecht Jesu Christi“ (servus Jesu Christi) und später sogar „Knecht der Apostel“ (servus apostolorum) nannte.Diese sakrale Ausstrahlung des Kaisertums wurde vom Papsttum im Investiturstreit von 1075 bis 1122 massiv angegriffen und letztlich weitgehend zerstört. Die Heiligsprechung Karls des Großen 1165 und der Begriff des sacrum imperium, der erstmals 1157 in der Kanzlei Friedrichs I. bezeugt ist, wurden in der Forschung als Versuch gedeutet, „das Reich durch eine eigenständige Heiligkeit von der Kirche abzugrenzen und ihr als gleichwertig gegenüberzustellen“. Die Heiligkeit sei demnach ein „Säkularisierungsvorgang“. Friedrich berief sich jedoch nie auf seinen heiligen Vorgänger Karl, und das sacrum imperium wurde kein offizieller Sprachgebrauch zu Friedrichs Zeiten.Regnum Teutonicum oder Regnum Teutonicorum tauchen als Eigenbezeichnung in den Quellen erstmals in den 1070er Jahren auf. Die Begriffe wurden bereits zu Beginn des 11. Jahrhunderts in italienischen Quellen gebraucht, allerdings nicht von Autoren in Reichsitalien. Es handelte sich auch um keinen offiziellen Reichstitel, der deshalb in der Kanzlei der mittelalterlichen römisch-deutschen Könige in der Regel nicht verwendet wurde. Der Titel rex Teutonicus wurde vom Papsttum gezielt genutzt, um somit indirekt den Universalanspruch des rex Romanorum auf Herrschaftsrechte außerhalb des deutschen Reichsteils (wie im Arelat und in Reichsitalien) zu bestreiten bzw. zu relativieren. In der päpstlichen Kanzleisprache wurde deshalb während des Investiturstreits bewusst eine Titulatur benutzt, die die römisch-deutschen Könige selbst nicht verwendeten. Später wurden Bezeichnungen wie regnum Teutonicum weiterhin als „Kampfbegriffe“ benutzt, um Herrschaftsansprüche der römisch-deutschen Könige zu bestreiten, wie beispielsweise im 12. Jahrhundert von Johannes von Salisbury. Die römisch-deutschen Könige hingegen bestanden gerade deshalb auf ihrer Titulatur rex Romanorum und auf der Bezeichnung des Reiches als Romanum Imperium. Im sogenannten Interregnum von 1250 bis 1273, als es keinem der drei gewählten Könige gelang, sich gegen die anderen durchzusetzen, verband sich der Anspruch, der Nachfolger des Römischen Reiches zu sein, mit dem Prädikat heilig zur Bezeichnung Sacrum Romanum Imperium (deutsch „Heiliges Römisches Reich“). Die lateinische Wendung Sacrum Romanum Imperium ist erstmals 1184 belegt und wurde ab 1254 der gängige Reichstitel; in deutschsprachigen Urkunden trat sie rund hundert Jahre später seit der Zeit Kaiser Karls IV. auf. Im Spätmittelalter wurde am Universalanspruch des Reiches weiterhin festgehalten. Dies galt nicht nur für die Zeit des sogenannten Interregnums, sondern auch für das 14. Jahrhundert, als es in der Regierungszeit Heinrichs VII. und Ludwigs IV. wieder zu Spannungen bzw. offenen Konflikten mit der päpstlichen Kurie kam. Die Formulierung Imperium Sanctum ist bereits im spätantiken Römerreich vereinzelt belegt.Der Zusatz Nationis Germanicæ erschien erst auf der Schwelle zwischen Spätmittelalter und Frühneuzeit, als sich das Reich im Wesentlichen auf das Gebiet des deutschen Sprachraumes erstreckte. 1486 wurde diese Titulatur im Landfriedensgesetz Kaiser Friedrichs III. verwendet. Erstmals offiziell verwendet wurde dieser Zusatz 1512 in der Präambel des Abschieds des Reichstages in Köln. Kaiser Maximilian I. hatte die Reichsstände unter anderem zwecks Erhaltung […] des Heiligen Römischen Reiches Teutscher Nation geladen. Die genaue ursprüngliche Bedeutung des Zusatzes ist nicht ganz klar. Es kann eine territoriale Einschränkung gemeint sein, nachdem der Einfluss des Kaisers in Reichsitalien auf einen faktischen Nullpunkt gesunken war und weite Teile des Königreichs Burgund nun von Frankreich beherrscht wurden. Andererseits klingt auch eine Betonung der Trägerschaft des Reiches durch die deutschen Reichsstände an, die ihren Anspruch auf die Reichsidee verteidigen sollte. Gegen Ende des 16. Jahrhunderts verschwand die Formulierung wieder aus dem offiziellen Gebrauch, wurde aber bis zum Ende des Reiches noch gelegentlich in der Literatur verwendet.Das lateinische Wort natio hatte bis ins 18. Jahrhundert keine ganz einheitliche Bedeutung; die gemeinte Herkunftsgemeinschaft konnte mal enger, mal weiter zugeschnitten sein als das „Volk“ im heutigen Sinne. Der Zusatz „deutscher Nation“ macht das Heilige Römische Reich also nicht zum Nationalstaat, wie wir ihn kennen. Bis 1806 war Heiliges Römisches Reich die offizielle Bezeichnung des Reiches, die oft als SRI für Sacrum Romanum Imperium auf lateinisch oder H. Röm. Reich o. Ä. auf Deutsch abgekürzt wurde. Daneben werden in der Neuzeit auch Bezeichnungen wie Deutsches oder Teutsches Reich und Teutsch- oder Deutschland gebräuchlich. Erst der Reichsdeputationshauptschluss von 1803, die Rheinbundakte sowie die Auflösungserklärung Kaiser Franz’ II. von 1806 verwenden deutsches oder teutsches Reich und Teutschland für das Heilige Römische Reich offiziell. Bereits kurz nach seiner Auflösung wurde in geschichtswissenschaftlichen Abhandlungen das Heilige Römische Reich wieder vermehrt mit dem Zusatz deutscher Nation versehen, und so bürgerte sich im 19. und 20. Jahrhundert diese ursprünglich nur zeitweilige Bezeichnung nicht ganz korrekt als allgemeiner Name des Reiches ein. Daneben wird es auch das Alte Reich genannt, um es vom späteren deutschen Kaiserreich ab 1871 zu unterscheiden. == Geschichte == === Entstehung === Das Fränkische Reich hatte nach dem Tode Karls des Großen 814 mehrfach Teilungen und Wiedervereinigungen der Reichsteile unter seinen Enkeln durchlaufen. Solche Teilungen unter den Söhnen eines Herrschers waren nach fränkischem Recht normal und bedeuteten nicht, dass die Einheit des Reiches aufhörte zu existieren, da eine gemeinsame Politik der Reichsteile und eine künftige Wiedervereinigung weiterhin möglich waren. Starb einer der Erben kinderlos, so fiel dessen Reichsteil einem seiner Brüder zu oder wurde unter diesen aufgeteilt. Solch eine Teilung wurde auch im Vertrag von Verdun 843 unter den Enkeln Karls beschlossen. Das Reich wurde aufgeteilt zwischen Karl dem Kahlen, der den westlichen Teil (Neustrien, Aquitanien) bis etwa zur Maas erhielt, Lothar I. – er übernahm neben einem mittleren Streifen (mit einem Großteil Austrasiens und den ehemals burgundischen und langobardischen Gebieten bis etwa Rom) die Kaiserwürde – und Ludwig dem Deutschen, der den östlichen Reichsteil mit einem Teil Austrasiens und den eroberten germanischen Reichen nördlich der Alpen erhielt. Wenngleich hier, von den Beteiligten nicht beabsichtigt, die zukünftige Landkarte Europas erkennbar ist, kam es im Laufe der nächsten fünfzig Jahre zu weiteren, meist kriegerischen Wiedervereinigungen und Teilungen zwischen den Teilreichen. Erst als Karl der Dicke 887 wegen seines Versagens beim Abwehrkampf gegen die plündernden und raubenden Normannen abgesetzt wurde, wurde kein neues Oberhaupt aller Reichsteile mehr bestimmt, sondern die verbliebenen Teilreiche wählten sich eigene Könige, die teilweise nicht mehr der Dynastie der Karolinger angehörten. Dies war ein deutliches Zeichen für das Auseinanderdriften der Reichsteile und das auf dem Tiefpunkt angekommene Ansehen der Karolingerdynastie, die das Reich durch Thronstreitigkeiten in Bürgerkriege stürzte und nicht mehr in der Lage war, es in seiner Gesamtheit gegen äußere Bedrohungen zu schützen. Infolge der nun fehlenden dynastischen Klammer zerfiel das Reich in zahlreiche kleine Grafschaften, Herzogtümer und andere regionale Herrschaften, die meist nur noch formal die regionalen Könige als Oberhoheit anerkannten. Besonders deutlich zerfiel 888 der mittlere Reichsteil in mehrere unabhängige Kleinkönigreiche, darunter Hoch- und Niederburgund sowie Italien (während Lothringen als Unterkönigreich dem Ostreich angegliedert wurde), deren Könige sich mit der Unterstützung lokaler Adliger gegen karolingische Prätendenten durchgesetzt hatten. Im östlichen Reich wählten die lokalen Adligen auf Stammesebene Herzöge. Nach dem Tod Ludwigs des Kindes, des letzten Karolingers auf dem ostfränkischen Thron, hätte das Ostreich ebenfalls in Kleinreiche zerfallen können, wenn dieser Prozess nicht durch die gemeinsame Wahl Konrads I. zum ostfränkischen König aufgehalten worden wäre. Konrad gehörte zwar nicht der Dynastie der Karolinger an, war aber ein Franke aus dem Geschlecht der Konradiner. Lothringen schloss sich bei dieser Gelegenheit jedoch dem Westfrankenreich an. 919 wurde mit dem Sachsenherzog Heinrich I. in Fritzlar erstmals ein Nicht-Franke zum König des Ostfrankenreiches gewählt. Seit diesem Zeitpunkt trug nicht mehr eine einzige Dynastie das Reich, sondern die regionalen Großen, Adligen und Herzöge entschieden über den Herrscher. Im Jahre 921 erkannte der westfränkische Herrscher im Vertrag von Bonn Heinrich I. als gleichberechtigt an, er durfte den Titel rex francorum orientalium, König der östlichen Franken, führen. Die Entwicklung des Reiches als eines auf Dauer eigenständigen und überlebensfähigen Staatswesens war damit im Wesentlichen abgeschlossen. 925 gelang es Heinrich, Lothringen wieder dem ostfränkischen Reich anzugliedern. Trotz der Ablösung vom Gesamtreich und der Vereinigung der germanischen Völkerschaften, die im Gegensatz zum gewöhnlichen Volk Westfrankens kein romanisiertes Latein, sondern theodiscus oder diutisk (von diot volksmäßig, volkssprachig) sprachen, war dieses Reich kein früher „deutscher Nationalstaat“. Ein übergeordnetes „nationales“ Zusammengehörigkeitsgefühl existierte in Ostfranken ohnehin nicht, Reichs- und Sprachgemeinschaft waren nicht identisch. Genauso wenig war es bereits das spätere Heilige Römische Reich. Das steigende Selbstbewusstsein des neuen ostfränkischen Königsgeschlechtes zeigte sich bereits in der Thronbesteigung Ottos I., Sohn Heinrichs I., der auf dem vermeintlichen Thron Karls des Großen in Aachen gekrönt wurde. Hier zeigte sich der zunehmend sakrale Charakter seiner Herrschaft dadurch, dass er sich salben ließ und der Kirche seinen Schutz gelobte. Nach einigen Kämpfen gegen Verwandte und lothringische Herzöge gelang ihm mit dem Sieg über die Ungarn 955 auf dem Lechfeld bei Augsburg die Bestätigung und Festigung seiner Herrschaft. Noch auf dem Schlachtfeld soll ihn das Heer laut Widukind von Corvey als Imperator gegrüßt haben.Dieser Sieg über die Ungarn veranlasste Papst Johannes XII., Otto nach Rom zu rufen und ihm die Kaiserkrone anzubieten, damit dieser als Beschützer der Kirche auftrete. Johannes stand zu diesem Zeitpunkt unter der Bedrohung regionaler italienischer Könige und erhoffte sich von Otto Hilfe gegen diese. Aber der Hilferuf des Papstes bekundet auch, dass die ehemaligen Barbaren sich zu den Trägern der römischen Kultur gewandelt hatten und dass das östliche regnum als legitimer Nachfolger des Kaisertums Karls des Großen angesehen wurde. Otto folgte dem Ruf und zog nach Rom. Dort wurde er am 2. Februar 962 zum Kaiser gekrönt. West- und Ostfranken entwickelten sich nun politisch endgültig zu getrennten Reichen. === Mittelalter === ==== Herrschaft der Ottonen ==== Das Reich war im Frühmittelalter ein im Vergleich zum Hoch- und Spätmittelalter ständisch und gesellschaftlich noch wenig ausdifferenziertes Gebilde. Es wurde sichtbar im Heeresaufgebot, in den lokalen Gerichtsversammlungen und in den Grafschaften, den bereits von den Franken installierten lokalen Verwaltungseinheiten. Oberster Repräsentant der politischen Ordnung des Reiches, zuständig für den Schutz des Reiches und den Frieden im Inneren, war der König. Als politische Untereinheiten dienten die Herzogtümer. Wichtig war bis ins Spätmittelalter der Konsens zwischen Herrscher und den Großen des Reiches (konsensuale Herrschaft).Obwohl in der frühkarolingischen Zeit um 750 die fränkischen Amtsherzöge für die durch die Franken unterworfenen oder durch deren territorialen Zusammenfassung erst entstandenen Völker abgesetzt worden waren, entstanden im ostfränkischen Reich, begünstigt durch die äußere Bedrohung und das erhalten gebliebene Stammesrecht, zwischen 880 und 925 fünf neue Herzogtümer: das der Sachsen, der Baiern, der Alemannen, der Franken und das nach der Reichsteilung neu entstandene Herzogtum Lothringen, zu dem auch die Friesen gehörten. Doch schon im 10. Jahrhundert ergaben sich gravierende Änderungen der Struktur der Herzogtümer: Lothringen wurde 959 in Nieder- und Oberlothringen aufgeteilt und Kärnten wurde 976 ein eigenständiges Herzogtum. Da das Reich als Instrument der selbstbewussten Herzogtümer entstanden war, wurde es nicht mehr zwischen den Söhnen des Herrschers aufgeteilt und blieb zudem eine Wahlmonarchie. Die Nichtaufteilung des „Erbes“ zwischen den Söhnen des Königs widersprach zwar dem überkommenen fränkischen Recht, andererseits beherrschten die Könige die Stammesherzöge nur als Lehnsherren. Dementsprechend gering war die direkte Einwirkungsmöglichkeit des Königtums. Heinrich I. legte 929 in seiner „Hausordnung“ fest, dass nur ein Sohn auf dem Thron nachfolgen solle. Schon hier werden der das Reich bis zum Ende der Salier-Dynastie prägende Erbgedanke und das Prinzip der Wahlmonarchie miteinander verbunden. Otto I. (reg. 936–973) gelang es infolge mehrerer Feldzüge nach Italien, den nördlichen Teil der Halbinsel zu erobern und das Königreich der Langobarden ins Reich einzubinden. Eine vollständige Integration Reichsitaliens mit seiner überlegenen Wirtschaftskraft gelang allerdings auch in der Folgezeit nie wirklich vollständig. Außerdem band die im Süden notwendige Präsenz bisweilen recht erhebliche Kräfte. Die Kaiserkrönung Ottos 962 in Rom verband für das restliche Mittelalter den Anspruch der späteren römisch-deutschen Könige auf die westliche Kaiserwürde. Die Ottonen übten nun eine hegemoniale Machtstellung im lateinischen Europa aus. Unter Otto II. lösten sich auch die letzten verbliebenen Verbindungen zum westfränkisch-französischen Reich, die in Form von Verwandtschaftsbeziehungen noch bestanden, als er seinen Vetter Karl zum Herzog von Niederlotharingien machte. Karl war ein Nachkomme aus dem Geschlecht der Karolinger und gleichzeitig der jüngere Bruder des westfränkischen Königs Lothar. Es wurde aber nicht – wie später in der Forschung behauptet – ein „treuloser Franzose“ ein Lehnsmann eines „deutschen“ Königs. Solche Denkkategorien waren zu jener Zeit noch unbekannt, zumal die führende fränkisch-germanische Schicht des westfränkischen Reiches noch einige Zeit nach der Teilung weiterhin ihren altdeutschen Dialekt sprach. In der neueren Forschung wird die Ottonenzeit auch nicht mehr als Beginn der „deutschen Geschichte“ im engeren Sinne verstanden; dieser Prozess zog sich bis ins 11. Jahrhundert hin. Otto II. spielte jedenfalls den einen Vetter gegen den anderen aus, um für sich einen Vorteil zu erlangen, indem er einen Keil in die karolingische Familie trieb. Die Reaktion Lothars war heftig, und beide Seiten luden den Streit emotional auf. Die Folgen dieses endgültigen Bruches zwischen den Nachfolgern des Fränkischen Reiches zeigten sich aber erst später. Das französische Königtum wurde aufgrund des sich herausbildenden französischen Selbstbewusstseins aber nunmehr als unabhängig vom Kaiser angesehen. Die unter den ersten drei Ottonen begonnene Einbindung der Kirche in das weltliche Herrschaftssystem des Reiches, später von Historikern als „ottonisch-salisches Reichskirchensystem“ bezeichnet, fand unter Heinrich II. ihren Höhepunkt. Das Reichskirchensystem bildete bis zum Ende des Reiches eines der prägenden Elemente seiner Verfassung; die Einbindung der Kirche in die Politik war aber an sich nicht außergewöhnlich, dasselbe ist in den meisten frühmittelalterlichen Reichen des lateinischen Europas zu beobachten. Heinrich II. verlangte von den Klerikern unbedingten Gehorsam und die unverzügliche Umsetzung seines Willens. Er vollendete die Königshoheit über die Reichskirche und wurde zum „Mönchskönig“ wie kaum ein zweiter Herrscher des Reiches. Doch er regierte nicht nur die Kirche, er regierte das Reich auch durch die Kirche, indem er wichtige Ämter – wie etwa das des Kanzlers – mit Bischöfen besetzte. Weltliche und kirchliche Angelegenheiten wurden im Grunde genommen nicht unterschieden und gleichermaßen auf Synoden verhandelt. Dies resultierte aber nicht nur aus dem Bestreben, dem aus fränkisch-germanischer Tradition herrührenden Drang der Herzogtümer nach größerer Selbstständigkeit ein königstreues Gegengewicht entgegenzusetzen. Vielmehr sah Heinrich das Reich als „Haus Gottes“ an, das er als Verwalter Gottes zu betreuen hatte. Spätestens jetzt war das Reich „heilig“. ==== Hochmittelalter ==== Als dritter wichtiger Reichsteil kam unter Konrad II. das Königreich Burgund zum Reich, auch wenn diese Entwicklung schon unter Heinrich II. begonnen hatte: Da der burgundische König Rudolf III. keine Nachkommen besaß, benannte er seinen Neffen Heinrich zu seinem Nachfolger und stellte sich unter den Schutz des Reiches. 1018 übergab er sogar seine Krone und das Zepter an Heinrich. Die Herrschaft Konrads war weiterhin durch die sich entwickelnde Vorstellung gekennzeichnet, dass das Reich und dessen Herrschaft unabhängig vom Herrscher existiert und Rechtskraft entwickelt. Belegt ist dies durch die von Wipo überlieferte „Schiffsmetapher“ Konrads (siehe entsprechenden Abschnitt im Artikel über Konrad II.) und durch seinen Anspruch auf Burgund – denn eigentlich sollte ja Heinrich Burgund erben und nicht das Reich. Unter Konrad begann auch die Herausbildung der Ministerialen als eigener Stand des unteren Adels, indem er an die unfreien Dienstmannen des Königs Lehen vergab. Wichtig für die Entwicklung des Rechtes im Reich waren seine Versuche, die so genannten Gottesurteile als Rechtsmittel durch die Anwendung römischen Rechtes, dem diese Urteile unbekannt waren, im nördlichen Reichsteil zurückzudrängen. Konrad setzte zwar die Reichskirchenpolitik seines Vorgängers fort, allerdings nicht mit dessen Vehemenz. Er beurteilte die Kirche eher danach, was diese für das Reich tun konnte. In der Mehrzahl berief er Bischöfe und Äbte mit großer Intelligenz und Spiritualität. Der Papst spielte allerdings auch bei seinen Berufungen keine große Rolle. Insgesamt erscheint seine Herrschaft als große „Erfolgsgeschichte“, was wohl auch daran liegt, dass er in einer Zeit herrschte, in der allgemein eine Art Aufbruchsstimmung herrschte, die Ende des 11. Jahrhunderts in die Cluniazensische Reform mündete. Heinrich III. übernahm 1039 von seinem Vater Konrad ein gefestigtes Reich und musste sich im Gegensatz zu seinen beiden Vorgängern seine Macht nicht erst erkämpfen. Trotz kriegerischer Aktionen in Polen und Ungarn legte er sehr großen Wert auf die Friedenswahrung innerhalb des Reiches. Diese Idee eines allgemeinen Friedens, eines Gottesfriedens, entstand in Südfrankreich und hatte sich seit Mitte des 11. Jahrhunderts über das ganze christliche Abendland verbreitet. Damit sollten das Fehdewesen und die Blutrache eingedämmt werden, die immer mehr zu einer Belastung für das Funktionieren des Reiches geworden waren. Initiator dieser Bewegung war das cluniazensische Mönchstum. Wenigstens an den höchsten christlichen Feiertagen und an den Tagen, die durch die Passion Christi geheiligt waren, also von Mittwochabend bis Montagmorgen, sollten die Waffen schweigen und der „Gottesfrieden“ herrschen. Heinrich musste für die Zustimmung der Großen des Reiches bei der Wahl seines Sohnes, des späteren Heinrich IV., zum König 1053 eine bis dahin völlig unbekannte Bedingung akzeptieren. Die Unterordnung unter den neuen König sollte nur gelten, wenn sich Heinrich IV. als rechter Herrscher erweise. Auch wenn die Macht der Kaiser über die Kirche mit Heinrich III. auf einem ihrer Höhepunkte war – er war es gewesen, der über die Besetzung des heiligen Throns in Rom bestimmte –, so wird die Bilanz seiner Herrschaft in der neueren Forschung meist negativ gesehen. So emanzipierte sich Ungarn vom Reich, das vorher noch Reichslehen war, und mehrere Verschwörungen gegen den Kaiser zeigten den Unwillen der Großen des Reiches, sich einem starken Königtum unterzuordnen. Durch den frühen Tod Heinrichs III. gelangte sein erst sechsjähriger Sohn Heinrich IV. auf den Thron. Für ihn übernahm seine Mutter Agnes die Vormundschaft bis zu seinem 15. Lebensjahr 1065. Es kam hierdurch zu einem schleichenden Macht- und Bedeutungsverlust des Königtums. Durch den „Staatsstreich von Kaiserswerth“ konnte eine Gruppe von Reichsfürsten unter Führung des Kölner Erzbischofs Anno II. zeitweise die Regierungsgewalt an sich reißen. In Rom interessierte die Meinung des künftigen Kaisers schon bei der nächsten Papstwahl niemanden mehr. Der Annalist des Klosters Niederaltaich fasste die Situation folgendermaßen zusammen: Entscheidend für die zukünftige Stellung der Reichskirche wurde der so genannte Investiturstreit. Für die römisch-deutschen Herrscher war es selbstverständlich, dass sie die vakanten Bischofssitze im Reich neu besetzten. Durch die Schwäche des Königtums während der Regentschaft von Heinrichs Mutter hatten der Papst, aber auch geistliche und weltliche Fürsten versucht, sich königliche Besitzungen und Rechte anzueignen. Die späteren Versuche, der Königsmacht wieder Geltung zu verschaffen, trafen natürlich auf wenig Gegenliebe. Als Heinrich im Juni 1075 versuchte, seinen Kandidaten für den Mailänder Bischofssitz durchzusetzen, reagierte Papst Gregor VII. sofort. Im Dezember 1075 bannte Gregor König Heinrich und entband damit alle Untertanen von ihrem Treueid. Die Fürsten des Reiches forderten von Heinrich, dass er bis Februar 1077 den Bann lösen lassen sollte, ansonsten würde er von ihnen nicht mehr anerkannt. Im anderen Falle würde der Papst eingeladen, den Streit zu entscheiden. Heinrich IV. musste sich beugen und demütigte sich im legendären Gang nach Canossa. Die Machtpositionen hatten sich in ihr Gegenteil verkehrt; 1046 hatte Heinrich III. noch über drei Päpste gerichtet, nun sollte ein Papst über den König richten. Der Sohn Heinrichs IV. empörte sich mit Hilfe des Papstes gegen seinen Vater und erzwang 1105 dessen Abdankung. Der neue König Heinrich V. herrschte bis 1111 im Konsens mit den geistlichen und weltlichen Großen. Das enge Bündnis zwischen Herrscher und Bischöfen konnte auch bei der Investiturfrage gegen den Papst fortgesetzt werden. Die gefundene Lösung des Papstes war einfach und radikal. Um die von den Kirchenreformern geforderte Trennung der geistlichen Aufgaben der Bischöfe von den bisher wahrgenommenen weltlichen Aufgaben zu gewährleisten, sollten die Bischöfe ihre in den letzten Jahrhunderten vom Kaiser beziehungsweise König erhaltenen Rechte und Privilegien zurückgeben. Einerseits entfielen damit die Pflichten der Bischöfe gegenüber dem Reich, andererseits auch das Recht des Königs, bei der Einsetzung der Bischöfe Einfluss nehmen zu können. Da die Bischöfe aber nicht auf ihre weltlichen Regalien verzichten wollten, nahm Heinrich den Papst gefangen und erpresste das Investiturrecht sowie seine Kaiserkrönung. Erst die Fürsten erzwangen 1122 im Wormser Konkordat einen Ausgleich zwischen Heinrich mit dem amtierenden Papst Calixt II. Heinrich musste auf das Investiturrecht mit den geistlichen Symbolen von Ring und Stab (per anulum et baculum) verzichten. Dem Kaiser wurde die Anwesenheit bei der Wahl der Bischöfe und Äbte gestattet. Die Verleihung der Königsrechte (Regalien) an den Neugewählten durfte der Kaiser nur noch mit dem Zepter vornehmen. Die Fürsten gelten seitdem als „die Häupter des Staatswesens“. Nicht mehr allein der König, sondern auch die Fürsten repräsentierten das Reich.Nach dem Tod Heinrichs V. 1125 wurde Lothar III. zum König gewählt, wobei er sich in der Wahl gegen den schwäbischen Herzog Friedrich II., den nächsten Verwandten des kinderlos verstorbenen Kaisers, durchsetzen konnte. Nicht mehr die erbrechtliche Legitimation bestimmte die Thronfolge im römisch-deutschen Reich, sondern die Wahl der Fürsten war entscheidend. 1138 wurde der Staufer Konrad zum König erhoben. Konrads Wunsch, die Kaiserkrone zu erwerben, sollte sich jedoch nicht erfüllen. Auch seine Teilnahme am Zweiten Kreuzzug hatte keinen Erfolg, er musste noch in Kleinasien umkehren. Dafür gelang ihm ein gegen die Normannen gerichtetes Bündnis mit dem byzantinischen Kaiser Manuel I. Komnenos. 1152 wurde nach dem Tod Konrads dessen Neffe Friedrich, der Herzog von Schwaben, zum König gewählt. Friedrich, genannt „Barbarossa“, betrieb eine zielstrebige Politik, die auf die Rückgewinnung kaiserlicher Rechte in Italien gerichtet war (siehe honor imperii), deretwegen Friedrich insgesamt sechs Italienzüge unternahm. 1155 wurde er zum Kaiser gekrönt, doch kam es aufgrund eines nicht erfolgten, aber vertraglich zugesicherten Feldzugs gegen das Normannenreich in Unteritalien zu Spannungen mit dem Papsttum, ebenso verschlechterten sich die Beziehungen zu Byzanz. Auch die oberitalienischen Stadtstaaten, besonders das reiche und mächtige Mailand, leisteten Friedrichs Versuchen Widerstand, die Reichsverwaltung in Italien zu stärken (siehe Reichstag von Roncaglia). Es kam schließlich zur Bildung des sogenannten Lombardenbundes, der sich militärisch gegen den Staufer durchaus behaupten konnte. Gleichzeitig war es zu einer umstrittenen Papstwahl gekommen, wobei der mit der Mehrheit der Stimmen gewählte Papst Alexander III. von Friedrich zunächst nicht anerkannt wurde. Erst nachdem abzusehen war, dass eine militärische Lösung keine Aussicht auf Erfolg hatte (1167 hatte im kaiserlichen Heer vor Rom eine Seuche gewütet, 1176 Niederlage in der Schlacht von Legnano), kam es endlich im Frieden von Venedig 1177 zu einer Einigung zwischen Kaiser und Papst. Auch die oberitalienischen Städte und der Kaiser verständigten sich, wobei Friedrich jedoch längst nicht alle seine Ziele verwirklichen konnte. Im Reich hatte sich der Kaiser mit seinem Cousin Heinrich überworfen, dem Herzog von Sachsen und Bayern aus dem Hause der Welfen, nachdem beide über zwei Jahrzehnte eng zusammengearbeitet hatten. Als Heinrich nun jedoch seine Teilnahme an einem Italienzug an Bedingungen knüpfte, wurde der übermächtige Herzog Heinrich auf Bestreben der Fürsten durch Friedrich gestürzt. 1180 wurde Heinrich der „Prozess“ gemacht und das Herzogtum Sachsen zerschlagen sowie Bayern verkleinert, wovon jedoch weniger der Kaiser als vielmehr die Territorialherren im Reich profitierten. Der Kaiser verstarb im Juni 1190 in Kleinasien während eines Kreuzzugs. Seine Nachfolge trat sein zweitältester Sohn Heinrich VI. an. Dieser war schon 1186 von seinem Vater zum Caesar erhoben worden und galt seitdem als designierter Nachfolger Friedrichs. 1191, im Jahr seiner Kaiserkrönung, versuchte Heinrich, das Normannenkönigreich in Unteritalien und Sizilien in Besitz zu nehmen. Da er mit einer Normannenprinzessin verheiratet war und das dort herrschende Haus Hauteville in der Hauptlinie ausgestorben war, konnte er auch Ansprüche geltend machen, die militärisch zunächst aber nicht durchsetzbar waren. Erst 1194 gelang die Eroberung Unteritaliens, wo Heinrich mit teils äußerster Brutalität gegen oppositionelle Kräfte vorging. In Deutschland hatte Heinrich gegen den Widerstand der Welfen zu kämpfen – 1196 scheiterte sein Erbreichsplan. Dafür betrieb er eine ehrgeizige und recht erfolgreiche „Mittelmeerpolitik“, deren Ziel vielleicht die Eroberung des Heiligen Landes oder womöglich sogar eine Offensive gegen Byzanz war. Nach dem frühen Tod Heinrichs VI. 1197 scheiterte der letzte Versuch, im Reich eine starke Zentralgewalt zu schaffen. Nach der Doppelwahl von 1198, bei der Philipp von Schwaben im März in Mühlhausen/Thüringen und Otto IV. im Juni in Köln gewählt wurden, standen sich zwei Könige im Reich gegenüber. Der Sohn Heinrichs, Friedrich II., war zwar schon 1196 im Alter von zwei Jahren zum König gewählt worden, seine Ansprüche wurden aber beiseite gewischt. Philipp hatte sich schon weitgehend durchgesetzt, als er im Juni 1208 ermordet wurde. Otto IV. konnte sich daraufhin für einige Jahre als Herrscher etablieren. Seine geplante Eroberung Siziliens führte zum Bruch mit seinem langjährigen Förderer Papst Innozenz III. Im nordalpinen Reichsteil verlor Otto durch die Exkommunikation bei den Fürsten zunehmend an Zustimmung. Die Schlacht bei Bouvines 1214 beendete seine Herrschaft und brachte die endgültige Anerkennung Friedrichs II. Nach den Thronstreitigkeiten setzte im Reich ein erheblicher Entwicklungsschub ein, Gewohnheiten schriftlich festzuhalten. Als bedeutende Zeugnisse dafür gelten die beiden Rechtsbücher der Sachsen- und der Schwabenspiegel. Viele Argumente und Grundsätze, die für die folgenden Königswahlen gelten sollten, wurden in jener Zeit formuliert. Diese Entwicklung gipfelte Mitte des 14. Jahrhunderts nach den Erfahrungen des Interregnums in den Festlegungen der Goldenen Bulle. Dass sich Friedrich II., der 1212 nach Deutschland gereist war, um dort seine Rechte durchzusetzen, auch nach seiner Anerkennung nur wenige Jahre seines Lebens und damit seiner Regierungszeit im deutschen Reich aufhielt, gab den Fürsten wieder mehr Handlungsspielräume. Friedrich verbriefte 1220 besonders den geistlichen Fürsten in der Confoederatio cum principibus ecclesiasticis weitgehende Rechte, um sich von ihnen die Zustimmung zur Wahl und Anerkennung seines Sohnes Heinrich als römisch-deutscher König zu sichern. Die seit dem 19. Jahrhundert als Confoederatio cum principibus ecclesiasticis und Statutum in favorem principum (1232) genannten Privilegien bildeten für die Fürsten die rechtliche Grundlage, auf der sie ihre Macht zu geschlossenen, eigenständigen Landesherrschaften ausbauen konnten. Es waren jedoch weniger Stationen des Machtverlustes für das Königtum, sondern mit den Privilegien wurde ein Entwicklungsstand verbrieft, den die Fürsten im Ausbau ihrer Territorialherrschaft bereits erreicht hatten.In Italien war der hochgebildete Friedrich II., der die Verwaltung des Königreichs Sizilien nach byzantinischem Vorbild immer stärker zentralisierte, über Jahre in einen Konflikt mit dem Papsttum und den oberitalienischen Städten verwickelt, wobei Friedrich gar als Antichrist verunglimpft wurde. Am Ende schien Friedrich militärisch die Oberhand gewonnen zu haben, da verstarb der Kaiser, der vom Papst 1245 für abgesetzt erklärt worden war, am 13. Dezember 1250. ==== Spätmittelalter ==== Zu Beginn des Spätmittelalters verfiel im Zuge des Untergangs der Staufer und des darauffolgenden Interregnums bis in die Zeit Rudolfs von Habsburg die königliche Herrschaftsgewalt, die allerdings traditionell ohnehin nur schwach ausgeprägt gewesen war. Gleichzeitig nahm die Macht der Landesherren und Kurfürsten zu. Letztere verfügten seit dem späten 13. Jahrhundert über das ausschließliche Königswahlrecht, sodass die nachfolgenden Könige oft eine übereinstimmende Reichspolitik mit ihnen anstrebten. König Rudolf (1273–1291) gelang es noch einmal, das Königtum zu konsolidieren und das noch vorhandene Reichsgut infolge der sogenannten Revindikationspolitik zu sichern. Rudolfs Plan der Kaiserkrönung scheiterte jedoch ebenso wie sein Versuch, eine dynastische Nachfolge durchzusetzen, wozu die Reichsfürsten nicht bereit waren. Das Haus Habsburg gewann im Südosten des deutschen Reichsteils jedoch bedeutende Besitzungen hinzu. Rudolfs Nachfolger Adolf von Nassau suchte eine Annäherung an das mächtige Königreich Frankreich, doch provozierte er mit seiner Politik in Thüringen den Widerstand der Reichsfürsten, die sich gegen ihn zusammenschlossen. 1298 fiel Adolf von Nassau im Kampf gegen den neuen König Albrecht von Habsburg. Albrecht musste ebenfalls mit dem Widerstand der Kurfürsten kämpfen, denen seine Pläne zur Vergrößerung der habsburgischen Hausmacht missfielen und die befürchteten, er plane eine Erbmonarchie zu errichten. Gegen die Kurfürsten konnte sich Albrecht letztlich zwar noch behaupten, doch unterwarf er sich Papst Bonifatius VIII. in einem Gehorsamseid und gab im Westen Reichsgebiete an Frankreich ab. Am 1. Mai 1308 fiel er einem Verwandtenmord zum Opfer. Die verstärkte französische Expansion im westlichen Grenzgebiet des Imperiums seit dem 13. Jahrhundert hatte zur Folge, dass die Einflussmöglichkeiten des Königtums im ehemaligen Königreich Burgund immer weiter abnahm; eine ähnliche, aber weniger stark ausgeprägte Tendenz zeichnete sich in Reichsitalien (also im Wesentlichen in der Lombardei und der Toskana) ab. Erst mit dem Italienzug Heinrichs VII. (1310–1313) kam es zu einer zaghaften Wiederbelebung der kaiserlichen Italienpolitik. Der 1308 gewählte und 1309 gekrönte König Heinrich VII. erreichte in Deutschland eine weitgehende Einheit der großen Häuser und gewann 1310 für sein Haus das Königreich Böhmen. Das Haus Luxemburg stieg damit zur zweiten bedeutenden spätmittelalterlichen Dynastie neben den Habsburgern auf. 1310 brach Heinrich nach Italien auf. Er war nach Friedrich II. der erste römisch-deutsche König, der auch die Kaiserkrone erlangen konnte (Juni 1312), doch rief seine Politik den Widerstand der Guelfen in Italien, des Papstes in Avignon (siehe Avignonesisches Papsttum) und des französischen Königs hervor, die ein neues, machtbewusstes Kaisertum als Gefahr ansahen. Heinrich starb am 24. August 1313 in Italien, als er zu einem Feldzug gegen das Königreich Neapel aufbrechen wollte. Die Italienpolitik der folgenden spätmittelalterlichen Herrscher verlief in wesentlich engeren Grenzen als die ihrer Vorgänger. 1314 wurden mit dem Wittelsbacher Ludwig IV. und dem Habsburger Friedrich zwei Könige gewählt. 1325 wurde für kurze Zeit ein für das mittelalterliche Reich bislang völlig unbekanntes Doppelkönigtum geschaffen. Nach Friedrichs Tod betrieb Ludwig IV. als Alleinherrscher eine recht selbstbewusste Politik in Italien und vollzog in Rom eine „papstfreie“ Kaiserkrönung. Dadurch geriet er in Konflikt mit dem Papsttum. In dieser intensiven Auseinandersetzung spielte vor allem die Frage des päpstlichen Approbationsanspruches eine große Rolle. Es kam diesbezüglich auch zu polittheoretischen Debatten (siehe Wilhelm von Ockham und Marsilius von Padua) und schließlich zu einer verstärkten Emanzipation der Kurfürsten beziehungsweise des Königs vom Papsttum, was schließlich 1338 im Kurverein von Rhense seinen Ausdruck fand. Ludwig verfolgte seit den 1330er Jahren eine intensive Hausmachtpolitik, indem er zahlreiche Territorien erwarb. Damit missachtete er aber die konsensuale Entscheidungsfindung mit den Fürsten. Dies führte vor allem zu Spannungen mit dem Haus Luxemburg, die ihn 1346 mit der Wahl Karls von Mähren offen herausforderten. Ludwig starb kurz darauf und Karl bestieg als Karl IV. den Thron. Die spätmittelalterlichen Könige konzentrierten sich wesentlich stärker auf den deutschen Reichsteil, wobei sie sich gleichzeitig stärker als zuvor auf ihre jeweilige Hausmacht stützten. Dies resultierte aus dem zunehmenden Verlust des verbliebenen Reichsguts durch eine ausgiebige Verpfändungspolitik vor allem im 14. Jahrhundert. Karl IV. kann als ein Musterbeispiel eines Hausmachtpolitikers angeführt werden. Es gelang ihm, den luxemburgischen Hausmachtkomplex um wichtige Gebiete zu erweitern; er verzichtete dafür aber auf Reichsgüter, die in großem Maßstab verpfändet wurden und schließlich dem Reich verloren gingen, ebenso trat er faktisch Gebiete im Westen an Frankreich ab. Karl erzielte dafür einen weitgehenden Ausgleich mit dem Papsttum und ließ sich 1355 zum Kaiser krönen, verzichtete aber auf eine Wiederaufnahme der alten Italienpolitik im staufischen Stil. Er schuf aber vor allem mit der Goldenen Bulle von 1356 eines der wichtigsten „Reichsgrundgesetze“, in dem die Rechte der Kurfürsten endgültig festgelegt wurden und die maßgeblich die künftige Politik des Reiches mitbestimmten. Die Goldene Bulle blieb bis zur Auflösung des Reiches in Kraft. In Karls Regierungszeit fiel auch der Ausbruch des so genannten Schwarzen Todes – der Pest –, die zu einer schweren Krisenstimmung beitrug und in deren Verlauf es zu einem deutlichen Rückgang der Bevölkerung und zu Judenpogromen kam. Gleichzeitig stellte diese Zeit aber auch die Blütezeit der Hanse dar, die zu einer Großmacht im nordeuropäischen Raum wurde. Mit dem Tod Karls IV. 1378 ging die Machtstellung der Luxemburger im Reich bald verloren, da der von ihm geschaffene Hausmachtskomplex rasch zerfiel. Sein Sohn Wenzel wurde wegen seiner offensichtlichen Unfähigkeit sogar von den vier rheinischen Kurfürsten am 20. August 1400 abgesetzt. Statt seiner wurde der Pfalzgraf bei Rhein, Ruprecht, zum neuen König gewählt. Seine Machtbasis und Ressourcen waren jedoch viel zu gering, um eine wirkungsvolle Regierungstätigkeit entfalten zu können, zumal die Luxemburger sich mit dem Verlust der Königswürde nicht abfanden. Nach Ruprechts Tod 1410 gelangte schließlich mit Sigismund, der bereits seit 1387 König von Ungarn war, der letzte Luxemburger auf den Thron. Sigismund hatte mit erheblichen Problemen zu kämpfen, zumal er im Reich über keine Hausmacht mehr verfügte, erlangte aber 1433 die Kaiserwürde. Der politische Aktionsradius Sigismunds reichte bis weit in den Balkanraum und nach Osteuropa hinein. Hinzu traten in dieser Zeit kirchenpolitische Probleme wie das Abendländische Schisma, das erst unter Sigismund unter Rückgriff auf den Konziliarismus beseitigt werden konnte. Ab 1419 stellten die Hussitenkriege eine große Herausforderung dar. Die zuvor wirtschaftlich blühenden Länder der böhmischen Krone wurden dadurch weithin verwüstet und die angrenzenden Fürstentümer fanden sich in einer stetigen Bedrohung durch hussitische Militärkampagnen. Die Auseinandersetzungen endeten 1436 mit den Basler Kompaktaten, die die utraquistische Kirche im Königreich Böhmen und in der Markgrafschaft Mähren anerkannten. Der Kampf gegen die böhmischen Häresien führte zu einer Verbesserung der Beziehungen zwischen dem Papst und dem Kaiser. Mit dem Tod Sigismunds 1437 erlosch das Haus Luxemburg in direkter Linie. Die Königswürde ging auf Sigismunds Schwiegersohn Albrecht II. und damit auf die Habsburger über, die sie fast durchgehend bis zum Ende des Reiches behaupten konnten. Friedrich III. hielt sich längere Zeit aus den direkten Reichsgeschäften weitgehend heraus und hatte politisch mit einigen Problemen zu kämpfen, wie dem Konflikt mit dem ungarischen König Matthias Corvinus. Friedrich sicherte aber letztlich die habsburgische Machtstellung im Reich, die habsburgischen Ansprüche auf größere Teile des zerfallenen Herrschaftskomplexes des Hauses Burgund und die Königsnachfolge für seinen Sohn Maximilian. Das Reich durchlief in dieser Zeit zudem einen Struktur- und Verfassungswandel, in einem Prozess „gestalteter Verdichtung“ (Peter Moraw) wurden die Beziehungen zwischen den Reichsgliedern und dem Königtum enger. === Frühe Neuzeit === ==== Reichsreform ==== Von Historikern wird das frühneuzeitliche Kaisertum des Reiches als Neuanfang und Neuaufbau angesehen und keinesfalls als Widerschein der staufischen hochmittelalterlichen Herrschaft. Denn der Widerspruch zwischen der beanspruchten Heiligkeit, dem globalen Machtanspruch des Reiches und den realen Möglichkeiten des Kaisertums war in der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts zu deutlich geworden. Dies löste eine publizistisch unterstützte Reichsverfassungsbewegung aus, die zwar die alten „heilen Zustände“ wieder aufleben lassen sollte, letztendlich aber zu durchgreifenden Innovationen führte. Unter den Habsburgern Maximilian I. und Karl V. kam das Kaisertum nach seinem Niedergang wieder zu Anerkennung, das Amt des Kaisers wurde fest mit der neu geschaffenen Reichsorganisation verbunden. Der Reformbewegung entsprechend initiierte Maximilian 1495 eine umfassende Reichsreform, die einen Ewigen Landfrieden, eines der wichtigsten Vorhaben der Reformbefürworter, und eine reichsweite Steuer, den Gemeinen Pfennig, vorsah. Zwar gelang es nicht vollständig, diese Reformen umzusetzen, denn von den Institutionen, die aus ihr hervorgingen, hatten nur die neugebildeten Reichskreise und das Reichskammergericht Bestand. Dennoch war die Reform die Grundlage für das neuzeitliche Reich. Es erhielt mit ihr ein wesentlich präziseres Regelsystem und ein institutionelles Gerüst. So förderte etwa die Möglichkeit, vor dem Reichskammergericht einen Untertanenprozess gegen seine Landesherrschaft anzustrengen, friedliche Konfliktlösungen im Reich. Das nunmehr festgelegte Zusammenspiel zwischen Kaiser und Reichsständen sollte prägend für die Zukunft werden. Der Reichstag bildete sich ebenfalls zu jener Zeit heraus und war bis zu seinem Ende das zentrale politische Forum des Reiches. ==== Reformation und Religionsfrieden ==== Die erste Hälfte des 16. Jahrhunderts war auf der einen Seite geprägt durch eine weitere Verrechtlichung und damit eine weitere Verdichtung des Reiches, so beispielsweise durch Erlasse von Reichspolizeiordnungen 1530 und 1548 und der Constitutio Criminalis Carolina im Jahre 1532. Auf der anderen Seite wirkte die in dieser Zeit durch die Reformation entstandene Glaubensspaltung desintegrierend. Dass sich einzelne Regionen und Territorien von der alten römischen Kirche abwandten, stellte das Reich, nicht zuletzt wegen seines Heiligkeitsanspruches, vor eine Zerreißprobe. Das Wormser Edikt von 1521, in dem die Reichsacht (nach dem päpstlichen Kirchenbann Decet Romanum Pontificem) über Martin Luther quasi obligatorisch verhängt wurde, bot noch keinerlei Spielräume für eine reformationsfreundliche Politik. Da das Edikt nicht im ganzen Reich beachtet wurde, wichen schon die Entscheidungen der nächsten Reichstage davon ab. Die meist ungenauen und zweideutigen Kompromissformeln der Reichstage waren Anlass für neuen juristischen Streit. So erklärte beispielsweise der Nürnberger Reichstag von 1524, alle sollten das Wormser Edikt, so vil inen muglich sei, befolgen. Eine endgültige Friedenslösung konnte allerdings nicht gefunden werden, man hangelte sich von einem meist zeitlich befristeten Kompromiss zum nächsten. Befriedigend war diese Situation für keine der beiden Seiten. Die evangelische Seite besaß keine Rechtssicherheit und lebte mehrere Jahrzehnte in der Angst vor einem Religionskrieg. Die katholische Seite, insbesondere Kaiser Karl V., wollte eine dauerhafte Glaubensspaltung des Reiches nicht hinnehmen. Karl V., der anfangs den Fall Luther nicht richtig ernst nahm und seine Tragweite nicht erkannte, wollte diese Situation nicht akzeptieren, da er sich, wie die mittelalterlichen Herrscher, als Wahrer der einen wahren Kirche ansah. Das universale Kaisertum brauchte die universale Kirche; seine Kaiserkrönung in Bologna 1530 sollte jedoch die letzte sein, die ein Papst vollzog. Nach langem Zögern verhängte Karl im Sommer 1546 über die Anführer des evangelischen Schmalkaldischen Bundes die Reichsacht und leitete die militärische Reichsexekution ein. Diese Auseinandersetzung ging als Schmalkaldischer Krieg von 1547/48 in die Geschichte ein. Nach dem Sieg des Kaisers mussten die protestantischen Fürsten auf dem Geharnischten Augsburger Reichstag von 1548 das so genannte Augsburger Interim annehmen, das ihnen immerhin den Laienkelch und die Priesterehe zugestand. Dieser für die protestantischen Reichsstände recht glimpfliche Ausgang des Krieges war dem Umstand geschuldet, dass Karl neben religionspolitischen Zielen auch verfassungspolitische verfolgte, die zu einem Aushebeln der ständischen Verfassung und einer Quasi-Zentralregierung des Kaisers geführt hätten. Diese zusätzlichen Ziele brachten ihm den Widerstand der katholischen Reichsstände ein, so dass keine für ihn befriedigende Lösung der Religionsfrage möglich wurde. Die religiösen Auseinandersetzungen im Reich waren in die Konzeption Karls V. eines umfassenden habsburgischen Reiches eingebunden, einer monarchia universalis, die Spanien, die österreichischen Erblande und das Heilige Römische Reich umfassen sollte. Es gelang ihm aber weder, das Kaisertum erblich zu machen, noch die Kaiserkrone zwischen der österreichischen und spanischen Linie der Habsburger hin- und herwechseln zu lassen. Gleichzeitig befand sich Karl im Konflikt mit Frankreich, der vor allem in Italien ausgetragen wurde, während die Türken nach 1526 Ungarn eroberten. Die militärischen Konflikte banden erhebliche Ressourcen. Der Fürstenkrieg des sächsischen Kurfürsten Moritz von Sachsen gegen Karl und der daraus resultierende Passauer Vertrag von 1552 zwischen den Kriegsfürsten und dem späteren Kaiser Ferdinand I. waren erste Schritte hin zu einem dauerhaften Religionsfrieden im Reich, was 1555 zum Augsburger Reichs- und Religionsfrieden führte. Der damit zumindest vorerst erfolgte Ausgleich wurde auch durch die dezentralisierte Herrschaftsstruktur des Reichs ermöglicht, wo die Interessen der Landesherren und des Kaisertums immer wieder eine Konsensfindung notwendig machten, wohingegen es in Frankreich mit seiner zentralisierten Königsmacht während des 16. Jahrhunderts zu einem blutigen Kampf zwischen dem katholischen Königtum und einzelnen protestantischen Anführern kam. Der Frieden von Augsburg war aber nicht nur als Religionsfrieden wichtig, er besaß auch eine bedeutsame verfassungspolitische Rolle, indem durch die Schaffung der Reichsexekutionsordnung wichtige verfassungspolitische Weichenstellungen getroffen wurden. Diese Schritte waren durch den im fränkischen Raum von 1552 bis 1554 tobenden Zweiten Markgrafenkrieg des Kulmbacher Markgrafen Albrecht Alcibiades von Brandenburg-Kulmbach notwendig geworden. Albrecht erpresste Geld und sogar Gebiete von verschiedenen fränkischen Reichsgebieten. Kaiser Karl V. verurteilte dies nicht, er nahm Albrecht sogar in seine Dienste und legitimierte damit den Bruch des Ewigen Landfriedens. Da sich die betroffenen Territorien weigerten, den vom Kaiser bestätigten Raub ihrer Gebiete hinzunehmen, verwüstete Albrecht deren Land. Im nördlichen Reich formierten sich derweilen Truppen unter Moritz von Sachsen, um Albrecht zu bekämpfen. Ein Reichsfürst und später König Ferdinand, nicht der Kaiser hatten militärische Gegenmaßnahmen gegen den Friedensbrecher eingeleitet. Am 9. Juli 1553 kam es zur blutigsten Schlacht der Reformationszeit im Reich, der Schlacht bei Sievershausen, bei der Moritz von Sachsen starb. Die auf dem Reichstag zu Augsburg 1555 beschlossene Reichsexekutionsordnung beinhaltete die verfassungsmäßige Schwächung der kaiserlichen Gewalt, die Verankerung des reichsständischen Prinzips und die volle Föderalisierung des Reiches. Die Reichskreise und lokalen Reichsstände erhielten neben ihren bisherigen Aufgaben auch die Zuständigkeit für die Durchsetzung der Urteile und die Besetzung der Beisitzer des Reichskammergerichtes. Außerdem erhielten sie neben dem Münzwesen weitere wichtige, bisher kaiserliche Aufgaben. Da sich der Kaiser als unfähig und zu schwach erwiesen hatte, eine seiner wichtigsten Aufgaben, die Friedenswahrung, wahrzunehmen, wurde dessen Rolle nunmehr durch die in den Reichskreisen verbundenen Reichsstände ausgefüllt. Ebenso wichtig wie die Exekutionsordnung war der am 25. September 1555 verkündete Religionsfrieden, mit dem die Idee eines konfessionell einheitlichen Reiches aufgegeben wurde. Die Landesherren erhielten das Recht, die Konfession ihrer Untertanen zu bestimmen, prägnant zusammengefasst in der Formel wessen Herrschaft, dessen Religion. In protestantischen Gebieten ging die geistliche Gerichtsbarkeit auf die Landesherren über, wodurch diese zu einer Art geistlichen Oberhauptes ihres Territoriums wurden. Weiterhin wurde festgelegt, dass geistliche Reichsstände, also Erzbischöfe, Bischöfe und Reichsprälaten, katholisch bleiben mussten. Diese und einige weitere Festlegungen führten zwar zu einer friedlichen Lösung des Religionsproblems, manifestierten aber auch die zunehmende Spaltung des Reiches und führten mittelfristig zu einer Blockade der Reichsinstitutionen. Nach dem Reichstag von Augsburg trat Kaiser Karl V. von seinem Amt zurück und übergab die Macht an seinen Bruder, den römisch-deutschen König Ferdinand I. Karls Politik innerhalb und außerhalb des Reiches war endgültig gescheitert. Ferdinand beschränkte die Herrschaft des Kaisers wieder auf Deutschland, und es gelang ihm, die Reichsstände wieder in eine engere Verbindung mit dem Kaisertum zu bringen und dieses damit wieder zu stärken. Deshalb wird Ferdinand vielfach als der Gründer des neuzeitlichen deutschen Kaisertums bezeichnet. ==== Konfessionalisierung und Dreißigjähriger Krieg ==== Bis Anfang der 1580er Jahre gab es im Reich eine Phase ohne größere kriegerische Auseinandersetzungen. Der Religionsfrieden wirkte stabilisierend und auch die Reichsinstitutionen wie Reichskreise und Reichskammergericht entwickelten sich zu wirksamen und anerkannten Instrumenten der Friedenssicherung. In dieser Zeit vollzog sich aber die sogenannte Konfessionalisierung, das heißt die Verfestigung und Abgrenzung der drei Konfessionen Protestantismus, Calvinismus und Katholizismus zueinander. Die damit einhergehende Herausbildung frühmoderner Staatsformen in den Territorien brachte dem Reich Verfassungsprobleme. Die Spannungen nahmen derart zu, dass das Reich und seine Institutionen ihre über den Konfessionen stehende Schlichterfunktion nicht mehr wahrnehmen konnten und Ende des 16. Jahrhunderts faktisch blockiert waren. Bereits ab 1588 war das Reichskammergericht nicht mehr handlungsfähig. Da die protestantischen Stände am Beginn des 17. Jahrhunderts auch den ausschließlich durch den katholischen Kaiser besetzten Reichshofrat nicht mehr anerkannten, eskalierte die Situation weiter. Gleichzeitig spalteten sich das Kurfürstenkolleg und die Reichskreise in konfessionelle Gruppierungen. Ein Reichsdeputationstag im Jahr 1601 scheiterte an den Gegensätzen zwischen den Parteien und 1608 wurde ein Reichstag in Regensburg ohne Reichsabschied beendet, da die calvinistische Kurpfalz, deren Bekenntnis vom Kaiser nicht anerkannt wurde, und andere protestantische Stände diesen verlassen hatten. Da das Reichssystem weitestgehend blockiert und der Friedensschutz vermeintlich nicht mehr gegeben war, gründeten sechs protestantische Fürsten am 14. Mai 1608 die Protestantische Union. Weitere Fürsten und Reichsstädte schlossen sich später der Union an, der jedoch Kursachsen und die norddeutschen Fürsten fernblieben. Als Reaktion auf die Union gründeten katholische Fürsten und Städte am 10. Juli 1609 die katholische Liga. Die Liga wollte das bisherige Reichssystem aufrechterhalten und das Übergewicht des Katholizismus im Reich bewahren. Das Reich und seine Institutionen waren damit endgültig blockiert und handlungsunfähig geworden. Der Prager Fenstersturz war dann der Auslöser für den großen Krieg, in dem der Kaiser anfangs große militärische Erfolge erzielte und auch versuchte, diese reichspolitisch für seine Machtstellung gegenüber den Reichsständen auszunutzen. So ächtete Kaiser Ferdinand II. 1621 aus eigenem Machtanspruch den pfälzischen Kurfürsten und böhmischen König Friedrich V. und übertrug die Kurwürde auf Maximilian I. von Bayern. Ferdinand war zuvor von allen, auch den protestantischen, Kurfürsten am 19. August 1619 trotz des beginnenden Krieges zum Kaiser gewählt worden. Der Erlass des Restitutionsediktes am 6. März 1629 war der letzte bedeutende Gesetzesakt eines Kaisers im Reich und entsprang genauso wie die Ächtung Friedrichs V. dem kaiserlichen Machtanspruch. Dieses Edikt verlangte die Umsetzung des Augsburger Reichsfriedens nach katholischer Interpretation. Dementsprechend waren alle seit dem Passauer Vertrag durch die protestantischen Landesherren säkularisierten Erz- und Hochstifte und Bistümer an die Katholiken zurückzugeben. Dies hätte neben der Rekatholisierung großer protestantischer Gebiete eine wesentliche Stärkung der kaiserlichen Machtposition bedeutet, da bisher religionspolitische Fragen vom Kaiser gemeinsam mit den Reichsständen und Kurfürsten entschieden worden waren. Dagegen bildete sich eine konfessionsübergreifende Koalition der Kurfürsten. Sie wollten nicht hinnehmen, dass der Kaiser ohne ihre Zustimmung solch ein einschneidendes Edikt erließ. Die Kurfürsten zwangen den Kaiser auf dem Regensburger Kurfürstentag 1630 unter der Führung des neuen katholischen Kurfürsten Maximilian I. den kaiserlichen Generalissimus Wallenstein zu entlassen und einer Überprüfung des Ediktes zuzustimmen. Ebenfalls 1630 trat Schweden auf Seiten der protestantischen Reichsstände in den Krieg ein. Nachdem die kaiserlichen Truppen Schweden einige Jahre unterlegen gewesen waren, gelang es dem Kaiser durch den Sieg in der Schlacht bei Nördlingen 1634 nochmals die Oberhand zu gewinnen. Im darauffolgenden Prager Frieden zwischen dem Kaiser und Kursachsen von 1635 musste Ferdinand zwar das Restitutionsedikt für vierzig Jahre, vom Stand von 1627 ausgehend, aussetzen. Aber das Reichsoberhaupt ging aus diesem Frieden gestärkt hervor, da bis auf den Kurverein alle reichsständischen Allianzen für aufgelöst erklärt wurden und dem Kaiser der Oberbefehl über die Reichsarmee zugebilligt wurde. Diese Stärkung des Kaisers nahmen aber auch die Protestanten hin. Das religionspolitische Problem des Restitutionsediktes war faktisch um 40 Jahre vertagt worden, da sich der Kaiser und die meisten Reichsstände darin einig waren, dass die politische Einigung des Reiches, die Säuberung des Reichsgebietes von fremden Mächten und die Beendigung des Krieges am vordringlichsten seien. Nach dem offenen Kriegseintritt Frankreichs, der erfolgte, um eine starke kaiserlich-habsburgische Macht in Deutschland zu verhindern, verschoben sich die Gewichte wieder zu Ungunsten des Kaisers. Spätestens hier war aus dem ursprünglichen teutschen Konfessionskrieg innerhalb des Reiches ein europäischer Hegemonialkampf geworden. Der Krieg ging also weiter, da die konfessions- und verfassungspolitischen Probleme, die zumindest provisorisch im Prager Frieden geklärt worden waren, für die sich auf Reichsgebiet befindlichen Mächte Schweden und Frankreich nebenrangig waren. Außerdem wies der Frieden von Prag wie bereits angedeutet schwere Mängel auf, so dass auch die reichsinternen Auseinandersetzungen weitergingen. Ab 1641 begannen einzelne Reichsstände Separatfrieden zu schließen, da sich in dem Gestrüpp aus konfessioneller Solidarität, traditioneller Bündnispolitik und aktueller Kriegslage kaum mehr eine breit angelegte Gegenwehr des Reiches organisieren ließ. Den Anfang machte im Mai 1641 als erster größerer Reichsstand der Kurfürst von Brandenburg. Dieser schloss Frieden mit Schweden und entließ seine Armee, was nach den Bestimmungen des Prager Friedens nicht möglich war, da diese nominell zur Reichsarmee gehörte. Andere Reichsstände folgten; so schloss 1645 Kursachsen Frieden mit Schweden und 1647 Kurmainz mit Frankreich. Gegen den Willen des Kaisers, seit 1637 Ferdinand III., der ursprünglich das Reich bei den sich nun anbahnenden Friedensgesprächen in Münster und Osnabrück entsprechend dem Frieden von Prag allein vertreten wollte, wurden die Reichsstände, die von Frankreich unterstützt auf ihre Libertät pochten, zu den Unterredungen zugelassen. Dieser als Admissionsfrage bezeichnete Streit hebelte das System des Prager Friedens mit der starken Stellung des Kaisers endgültig aus. Ferdinand wollte ursprünglich in den westfälischen Verhandlungen nur die europäischen Fragen klären und Frieden mit Frankreich und Schweden schließen und die deutschen Verfassungsprobleme auf einem anschließenden Reichstag behandeln, auf dem er als glorioser Friedensbringer hätte auftreten können. Auf diesem Reichstag wiederum hätten die fremden Mächte nichts zu suchen gehabt. ==== Westfälischer Frieden ==== Der Kaiser, Schweden und Frankreich verständigten sich 1641 in Hamburg auf Friedensverhandlungen, währenddessen die Kampfhandlungen weitergingen. Die Verhandlungen begannen 1642/43 parallel in Osnabrück zwischen dem Kaiser, den evangelischen Reichsständen und Schweden und in Münster zwischen dem Kaiser, den katholischen Reichsständen und Frankreich. Dass der Kaiser das Reich nicht allein repräsentierte, war eine symbolisch wichtige Niederlage. Die aus dem Frieden von Prag gestärkt hervorgegangene kaiserliche Macht stand wieder zur Disposition. Die Reichsstände gleich welcher Konfession hielten die Prager Ordnung für so gefährlich, dass sie ihre Rechte besser gewahrt sahen, wenn sie nicht allein dem Kaiser gegenübersaßen, sondern die Verhandlungen über die Reichsverfassung unter den Augen des Auslands stattfanden. Dies kam aber auch Frankreich sehr entgegen, das die Macht der Habsburger unbedingt einschränken wollte und sich deshalb für die Beteiligung der Reichsstände starkmachte. Beide Verhandlungsstädte und die Verbindungswege zwischen ihnen waren vorab für entmilitarisiert erklärt worden (was aber nur für Osnabrück vollzogen wurde) und alle Gesandtschaften erhielten freies Geleit. Zur Vermittlung reisten Delegationen der Republik Venedig, des Papstes und aus Dänemark an und Vertreter weiterer europäischer Mächte strömten nach Westfalen. Am Ende waren alle europäischen Mächte, bis auf das Osmanische Reich, Russland und England, an den Verhandlungen beteiligt. Die Verhandlungen in Osnabrück wurden neben den Verhandlungen zwischen dem Reich und Schweden faktisch zu einem Verfassungskonvent, auf dem die verfassungs- und religionspolitischen Probleme behandelt wurden. In Münster verhandelte man über die europäischen Rahmenbedingungen. Weiterhin wurde hier der Friede von Münster zwischen Spanien und der Republik der Niederlande ausgehandelt. Bis zum Ende des 20. Jahrhunderts wurde der Westfälische Frieden als zerstörerisch für das Reich angesehen. Fritz Hartung begründete dies mit dem Argument, der Friedensschluss habe dem Kaiser jegliche Handhabe genommen und den Reichsständen fast unbegrenzte Handlungsfreiheit gewährt, das Reich sei durch diesen „zersplittert“, „zerbröckelt“ – es handle sich mithin um ein „nationales Unglück“. Nur die religionspolitische Frage sei gelöst worden, das Reich aber in eine Erstarrung verfallen, die letztendlich zu dessen Zerfall geführt habe. In der Zeit direkt nach dem Westfälischen Frieden, und auch noch während des 18. Jahrhunderts, wurde der Friedensschluss hingegen ganz anders gesehen. Er wurde mit großer Freude begrüßt und galt als neues Grundgesetz, das überall da gelte, wo der Kaiser mit seinen Vorrechten und als Symbol der Einheit des Reiches anerkannt werde. Der Frieden stellte durch seine Bestimmungen die Territorialherrschaften und die verschiedenen Konfessionen auf eine einheitliche rechtliche Basis und schrieb die nach der Verfassungskrise Anfang des 16. Jahrhunderts geschaffenen und bewährten Mechanismen fest und verwarf diejenigen des Prager Friedens. Georg Schmidt schreibt zusammenfassend: Allen Reichsständen wurden zwar die vollen landeshoheitlichen Rechte zugesprochen und das im Prager Frieden annullierte Bündnisrecht wieder zuerkannt. Damit war aber nicht die volle Souveränität der Territorien gemeint, was sich auch daran erkennen lässt, dass dieses Recht im Vertragstext inmitten anderer schon länger ausgeübter Rechte aufgeführt wird. Das Bündnisrecht – auch dies widerspricht einer vollen Souveränität der Territorien des Reiches – durfte sich nicht gegen Kaiser und Reich, den Landfrieden oder gegen diesen Vertrag richten und war nach Meinung zeitgenössischer Rechtsgelehrter sowieso ein althergebrachtes Gewohnheitsrecht (siehe auch den Abschnitt Herkommen und Gewohnheitsrecht) der Reichsstände, das im Vertrag nur schriftlich fixiert wurde. Im religionspolitischen Teil entzogen sich die Reichsstände praktisch selbst die Befugnis, die Konfession ihrer Untertanen zu bestimmen. Zwar wurde der Augsburger Religionsfrieden als Ganzes bestätigt und für unantastbar erklärt, die strittigen Fragen wurden aber neu geregelt und Rechtsverhältnisse auf den Stand des 1. Januar 1624 fixiert beziehungsweise auf den Stand an diesem Stichtag zurückgesetzt. Alle Reichsstände mussten so beispielsweise die beiden anderen Konfessionen dulden, falls diese bereits 1624 auf ihrem Territorium existierten. Jeglicher Besitz musste an den damaligen Besitzer zurückgegeben werden und alle späteren anderslautenden Bestimmungen des Kaisers, der Reichsstände oder der Besatzungsmächte wurden für null und nichtig erklärt. Der zweite Religionsfrieden hat sicherlich keinerlei Fortschritte für den Toleranzgedanken oder für die individuellen Religionsrechte oder sogar die Menschenrechte gebracht. Das war aber auch nicht dessen Ziel. Er sollte durch die weitere Verrechtlichung friedensstiftend wirken. Frieden und nicht Toleranz oder Säkularisierung war das Ziel. Dass dies trotz aller Rückschläge und gelegentlicher Todesopfer bei späteren religiösen Auseinandersetzungen gelang, ist offensichtlich. Die Verträge von Westfalen haben dem Reich nach dreißig Jahren den langersehnten Frieden gebracht. Das Reich verlor einige Gebiete an Frankreich und entließ faktisch die Niederlande und die Alte Eidgenossenschaft aus dem Reichsverband. Ansonsten änderte sich im Reich nicht viel, das Machtsystem zwischen Kaiser und Reichsständen wurde neu austariert, ohne die Gewichte im Vergleich zur Situation vor dem Krieg stark zu verschieben und die Reichspolitik wurde nicht entkonfessionalisiert, sondern nur der Umgang der Konfessionen neu geregelt. Weder wurde ==== Bis Mitte des 18. Jahrhunderts ==== Nach dem Westfälischen Frieden drängte eine Gruppe von Fürsten, zusammengeschlossen im Fürstenverein, auf radikale Reformen im Reich, die insbesondere die Vorherrschaft der Kurfürsten beschränken und das Königswahlprivileg auch auf andere Reichsfürsten ausdehnen sollten. Auf dem Reichstag von 1653/54, der nach den Bestimmungen des Friedens viel früher hätte stattfinden sollen, konnte sich diese Minderheit aber nicht durchsetzen. Im Reichsabschied dieses Reichstages, genannt der Jüngste – dieser Reichstag war der letzte vor der Permanenz des Gremiums – wurde beschlossen, dass die Untertanen ihren Herren Steuern zahlen müssten, damit diese Truppen unterhalten könnten. Dies führte oft zur Bildung stehender Heere in verschiedenen größeren Territorien. Diese wurden als Armierte Reichsstände bezeichnet. Auch zerfiel das Reich nicht, da zu viele Stände ein Interesse an einem Reich hatten, das ihren Schutz gewährleisten konnte. Diese Gruppe umfasste besonders die kleineren Stände, die praktisch nie zu einem eigenen Staat werden konnten. Auch die aggressive, expansive Politik Frankreichs an der Westgrenze des Reiches und die Türkengefahr im Osten machten nahezu allen Ständen die Notwendigkeit eines hinlänglich geschlossenen Reichsverbandes und einer handlungsfähigen Reichsspitze deutlich. Seit 1658 herrschte Kaiser Leopold I., dessen Wirken erst seit den 1990er Jahren genauer untersucht wird, im Reich. Sein Wirken wird als klug und weitsichtig beschrieben, und gemessen an der Ausgangslage nach dem Krieg und dem Tiefpunkt des kaiserlichen Ansehens war es auch außerordentlich erfolgreich. Leopold gelang es durch die Kombination verschiedener Herrschaftsinstrumente, neben den kleineren auch die größeren Reichsstände wieder an die Reichsverfassung und an das Kaisertum zu binden. Hervorzuheben sind hier insbesondere seine Heiratspolitik, das Mittel der Standeserhöhungen und die Verleihung allerlei wohlklingender Titel. Dennoch verstärkten sich die zentrifugalen Kräfte des Reiches. Hierbei sticht insbesondere die Verleihung der neunten Kurwürde an Ernst August von Hannover 1692 hervor. Ebenso in diese Kategorie fällt das Zugeständnis an den brandenburgischen Kurfürsten Friedrich III., sich 1701 für das nicht zum Reich gehörende Herzogtum Preußen zum König in Preußen krönen zu dürfen. Nach 1648 wurde die Position der Reichskreise weiter gestärkt und ihnen eine entscheidende Rolle in der Reichskriegsverfassung zugesprochen. So beschloss der Reichstag 1681 auf Grund der Bedrohung des Reiches durch die Türken eine neue Reichskriegsverfassung, in der die Truppenstärke der Reichsarmee auf 40.000 Mann festgelegt wurde. Für die Aufstellung der Truppen sollten die Reichskreise zuständig sein. Der Immerwährende Reichstag bot dem Kaiser die Möglichkeit, die kleineren Reichsstände an sich zu binden und für die eigene Politik zu gewinnen. Auch durch die verbesserten Möglichkeiten der Schlichtung gelang es dem Kaiser seinen Einfluss auf das Reich wieder zu vergrößern. Dass sich Leopold I. der Reunionspolitik des französischen Königs Ludwigs XIV. entgegenstemmte und versuchte, die Reichskreise und -stände zum Widerstand gegen die französischen Annexionen von Reichsgebieten zu bewegen, zeigt, dass die Reichspolitik noch nicht, wie unter seinen Nachfolgern im 18. Jahrhundert, zum reinen Anhängsel der habsburgischen Großmachtpolitik geworden war. Auch gelang in dieser Zeit das Zurückdrängen der Großmacht Schweden aus den nördlichen Gebieten des Reiches im Schwedisch-Brandenburgischen Krieg und im Großen Nordischen Krieg. ==== Dualismus zwischen Preußen und Österreich ==== Ab 1740 begannen die beiden größten Territorialkomplexe des Reiches, das Erzherzogtum Österreich und Brandenburg-Preußen, immer mehr aus dem Reichsverband herauszuwachsen. Das Haus Österreich konnte nach dem Sieg über die Türken im Großen Türkenkrieg nach 1683 große Gebiete außerhalb des Reiches erwerben, wodurch sich der Schwerpunkt der habsburgischen Politik nach Südosten verschob. Dies wurde besonders unter den Nachfolgern Kaiser Leopolds I. deutlich. Ähnlich verhielt es sich mit Brandenburg-Preußen, auch hier befand sich ein Teil des Territoriums außerhalb des Reiches. Zur zunehmenden Rivalität, die das Reichsgefüge stark beanspruchte, traten jedoch noch Änderungen im Denken der Zeit hinzu. War es bis zum Dreißigjährigen Krieg für das Ansehen eines Herrschers sehr wichtig, welche Titel er besaß und an welcher Position in der Hierarchie des Reiches und des europäischen Adels er stand, so traten nun andere Faktoren wie die Größe des Territoriums sowie die wirtschaftliche und militärische Macht stärker in den Vordergrund. Es setzte sich die Ansicht durch, dass nur die Macht, die aus diesen quantifizierbaren Angaben resultierte, tatsächlich zähle. Dies ist nach Ansicht von Historikern eine Spätfolge des großen Krieges, in dem altehrwürdige Titel, Ansprüche und Rechtspositionen insbesondere der kleineren Reichsstände fast keine Rolle mehr spielten und fingierten oder tatsächlichen Sachzwängen des Krieges untergeordnet wurden. Diese Denkkategorien waren jedoch nicht mit dem bisherigen System des Reiches vereinbar, das dem Reich und allen seinen Mitgliedern einen rechtlichen Schutz des Status quo gewährleisten und sie vor einem Übergewicht an Macht schützen sollte. Dieser Konflikt zeigt sich unter anderem in der Arbeit des Reichstages. Seine Zusammensetzung unterschied zwar zwischen Kurfürsten und Fürsten, Hocharistokratie und städtischen Magistraten, katholisch und protestantisch, aber beispielsweise nicht zwischen Ständen, die ein stehendes Heer unterhielten, und denen, die schutzlos waren. Diese Diskrepanz zwischen tatsächlicher Macht und althergebrachter Hierarchie führte zum Verlangen der großen, mächtigen Stände nach einer Lockerung des Reichsverbandes. Hinzu kam das Denken der Aufklärung, das den konservativen bewahrenden Charakter, die Komplexität, ja sogar die Idee des Reiches an sich hinterfragte und als „unnatürlich“ darstellte. Die Idee der Gleichheit der Menschen war nicht in Übereinstimmung zu bringen mit der Reichsidee, das Vorhandene zu bewahren und jedem Stand seinen zugewiesenen Platz im Gefüge des Reiches zu sichern. Zusammengefasst lässt sich sagen, dass Brandenburg-Preußen und Österreich nicht mehr in den Reichsverband passten, nicht nur auf Grund der schieren Größe, sondern auch wegen der inneren Verfasstheit der beiden zu Staaten gewordenen Territorien. Beide hatten die ursprünglich auch in ihrem Inneren dezentral und ständisch geprägten Länder reformiert und den Einfluss der Landstände gebrochen. Nur so waren die verschiedenen ererbten und eroberten jeweiligen Länder sinnvoll zu verwalten und zu bewahren sowie ein stehendes Heer zu finanzieren. Den kleineren Territorien war dieser Reformweg verschlossen. Ein Landesherr, der Reformen dieses Ausmaßes unternommen hätte, wäre unweigerlich mit den Reichsgerichten in Konflikt geraten, da diese den Landständen beigestanden hätten, gegen deren Privilegien ein Landesherr hätte verstoßen müssen. Der Kaiser in seiner Rolle als österreichischer Landesherr hatte den von ihm besetzten Reichshofrat natürlich nicht so zu fürchten wie andere Landesherrn und in Berlin scherte man sich um die Reichsinstitutionen sowieso kaum. Eine Exekution der Urteile wäre faktisch nicht möglich gewesen. Auch diese andere innere Verfasstheit der beiden großen Mächte trug zur Entfremdung vom Reich bei. Aus der als Dualismus zwischen Preußen und Österreich bezeichneten Rivalität erwuchsen im 18. Jahrhundert mehrere Kriege. Die zwei Schlesischen Kriege gewann Preußen und erhielt Schlesien, während der Österreichische Erbfolgekrieg zu Gunsten Österreichs endete. Während des Erbfolgekrieges kam mit Karl VII. ein Wittelsbacher auf den Thron, konnte sich aber ohne die Ressourcen einer Großmacht nicht durchsetzen, so dass nach seinem Tod 1745 mit Franz I. Stephan von Lothringen, dem Ehemann Maria Theresias, wieder ein Habsburger(-Lothringer) gewählt wurde. Diese Auseinandersetzungen waren für das Reich verheerend. Preußen wollte das Reich nicht stärken, sondern für seine Zwecke gebrauchen. Auch die Habsburger, die durch das Bündnis vieler Reichsstände mit Preußen und die Wahl eines Nicht-Habsburgers auf den Kaiserthron verstimmt waren, setzten nun viel eindeutiger als bislang auf eine Politik, die sich allein auf Österreich und dessen Macht bezog. Der Kaisertitel wurde fast nur noch wegen dessen Klang und des höheren Rangs gegenüber allen europäischen Herrschern erstrebt. Die Reichsinstitutionen waren zu Nebenschauplätzen der Machtpolitik verkommen und die Verfassung des Reiches hatte mit der Wirklichkeit nicht mehr viel zu tun. Preußen versuchte durch Instrumentalisierung des Reichstages den Kaiser und Österreich zu treffen. Insbesondere Kaiser Joseph II. zog sich fast gänzlich aus der Reichspolitik zurück. Joseph II. hatte anfangs noch versucht eine Reform der Reichsinstitutionen, besonders des Reichskammergerichtes, durchzuführen, scheiterte aber am Widerstand der Reichsstände, die sich aus dem Reichsverband lösen und sich deshalb vom Gericht nicht mehr in ihre „inneren“ Angelegenheiten hereinreden lassen wollten. Joseph gab frustriert auf. Aber auch sonst agierte Joseph II. unglücklich und unsensibel. Die österreichzentrierte Politik Josephs II. während des Bayerischen Erbfolgekriegs 1778/79 und die vom Ausland vermittelte Friedenslösung von Teschen waren ein Desaster für das Kaisertum. Als die bayerische Linie der Wittelsbacher 1777 ausstarb, erschien dies Joseph als willkommene Möglichkeit, Bayern den habsburgischen Landen einzuverleiben. Deshalb erhob Österreich juristisch fragwürdige Ansprüche auf das Erbe. Unter massivem Druck aus Wien willigte der Erbe aus der pfälzischen Linie der Wittelsbacher, Kurfürst Karl Theodor, in einen Vertrag ein, der Teile Bayerns abtrat. Karl Theodor, der ohnehin nur widerwillig das Erbe angenommen hatte, wurde suggeriert, dass später ein Tausch mit den Österreichischen Niederlanden, die in etwa das Gebiet des heutigen Belgiens umfassten, zustande käme. Joseph II. besetzte aber stattdessen die bayerischen Gebiete, um vollendete Tatsachen zu schaffen, und vergriff sich somit als Kaiser an einem Reichsterritorium. Diese Vorgänge erlaubten es dem preußischen König Friedrich II., sich zum Beschützer des Reiches und der kleinen Reichsstände und damit quasi zum „Gegenkaiser“ aufzuschwingen. Preußische und kursächsische Truppen marschierten in Böhmen ein. Im von Russland regelrecht erzwungenen Frieden von Teschen vom 13. Mai 1779 erhielt Österreich zwar das Innviertel zugesprochen. Der Kaiser stand dennoch als Verlierer da. Zum zweiten Mal nach 1648 musste ein innerdeutsches Problem mit Hilfe ausländischer Mächte geregelt werden. Nicht der Kaiser, sondern Russland brachte dem Reich Frieden. Russland wurde neben seiner Rolle als Garantiemacht des Teschener Friedens auch eine Garantiemacht des Westfälischen Friedens und damit einer der „Hüter“ der Reichsverfassung. Das Kaisertum hatte sich selbst demontiert und der preußische König Friedrich stand als Beschützer des Reiches da. Aber nicht Schutz und Konsolidierung des Reiches waren Friedrichs Ziel gewesen, sondern eine weitere Schwächung der Position des Kaisers im Reich und damit des ganzen Reichsverbandes an sich. Dieses Ziel hatte er erreicht. Das Konzept eines Dritten Deutschlands hingegen, geboren aus der Befürchtung der kleineren und mittleren Reichsstände zur reinen Verfügungsmasse der Großen zu verkommen, um mit einer Stimme zu sprechen und damit Reformen durchzusetzen, scheiterte an den Vorurteilen und Gegensätzen zwischen den protestantischen und den katholischen Reichsfürsten, sowie den Eigeninteressen der Kurfürsten und der großen Reichsstädte. Eigentliche Träger des Reichsgedankens waren zuletzt praktisch nur noch die Reichsstädte, die Reichsritterschaften und zu einem gewissen Teil die geistlichen Territorien, wobei auch die Letzteren vielfach durch Angehörige von Reichsfürstendynastien regiert wurden und deren Interessen vertraten (beispielsweise das im Spanischen Erbfolgekrieg unter einem wittelsbacherischen Erzbischof stehende Kurköln). Auch der Kaiser agierte eher wie ein Territorialherr, der auf die Ausweitung seines unmittelbaren Herrschaftsterritoriums zielte und weniger auf die Wahrung eines „Reichsinteresses“. Von vielen Zeitgenossen im Zeitalter der Aufklärung wurde das Reich daher als ein Anachronismus empfunden. Voltaire sprach spöttisch von dem „Reich, das weder römisch noch heilig“ sei. === Ende des Reiches === ==== Erste Koalitionskriege gegen Frankreich ==== Gegen die revolutionären Truppen Frankreichs fanden beide deutschen Großmächte (Österreich und Preußen) im Ersten Koalitionskrieg zu einem Zweckbündnis. Dieses als Pillnitzer Beistandspakt bezeichnete Bündnis vom Februar 1792 hatte freilich nicht den Schutz von Reichsrechten zum Ziel, sondern die Eindämmung der Revolution, vor allem deswegen, weil man deren Übergreifen auf das Reichsgebiet fürchtete. Die Chance, die anderen Reichsstände hinter sich zu bringen, verspielte Kaiser Franz II., der am 5. Juli 1792 in ungewohnter Eile und Einmütigkeit zum Kaiser gewählt wurde, durch den Umstand, dass er das österreichische Staatsgebiet unbedingt vergrößern wollte, notfalls auf Kosten anderer Reichsmitglieder. Und auch Preußen wollte sich für seine Kriegskosten durch die Einverleibung geistlicher Reichsgebiete schadlos halten. Dementsprechend gelang es nicht, eine geschlossene Front gegen die französischen Revolutionstruppen aufzubauen und größere militärische Erfolge zu erringen. Aus Enttäuschung über ausbleibende Erfolge und um sich besser um den Widerstand gegen die erneute Teilung Polens kümmern zu können, schloss Preußen 1795 einen Separatfrieden mit Frankreich, den Frieden von Basel. 1796 schlossen Baden und Württemberg ebenfalls Frieden mit Frankreich. In beiden Vereinbarungen wurden die jeweiligen linksrheinischen Besitzungen an Frankreich abgetreten. Die Besitzer aber sollten auf Kosten rechtsrheinischer geistlicher Gebiete „entschädigt“ werden, diese sollten also säkularisiert werden. Weitere Reichsstände verhandelten über einen Waffenstillstand oder Neutralität. 1797 schloss auch Österreich Frieden und unterschrieb den Frieden von Campo Formio, in dem es verschiedene Besitzungen innerhalb und außerhalb des Reiches abtrat, so insbesondere die österreichischen Niederlande und das Herzogtum Toskana. Als Ausgleich sollte Österreich ebenfalls auf Kosten von zu säkularisierenden geistlichen Gebieten oder anderen Reichsteilen entschädigt werden. Beide Großen des Reiches hielten sich also an anderen kleineren Reichsgliedern schadlos und räumten Frankreich sogar ein Mitspracherecht bei der zukünftigen Gestaltung des Reiches ein. Insbesondere der Kaiser, zwar als König von Ungarn und Böhmen handelnd, aber trotzdem als Kaiser zur Bewahrung der Integrität des Reiches und seiner Mitglieder verpflichtet, hatte zugelassen, dass für die „Entschädigung“ einiger weniger andere Reichsstände geschädigt wurden, und das Kaisertum damit irreparabel demontiert. Die Reichsdeputation von 1797/98 willigte im März 1798 gezwungenermaßen auf dem Friedenskongress von Rastatt in die Abtretung der linksrheinischen Gebiete ein sowie in die Säkularisation mit Ausnahme der drei geistlichen Kurfürstentümer. Der Zweite Koalitionskrieg beendete aber das Geschachere und Gefeilsche um die Gebiete, die man zu erhalten hoffte. Der Krieg wurde 1801 durch den Frieden von Lunéville beendet, in dem Franz II. nun auch als Reichsoberhaupt der Abtretung der linksrheinischen Gebiete zustimmte. In diesem Frieden traf man aber keine genauen Festlegungen für die anstehenden „Entschädigungen“. Der anschließend einberufene Reichstag stimmte dem Frieden zu. ==== Reichsdeputationshauptschluss ==== Die Friedensvereinbarungen von Basel mit Preußen, Campo Formio mit Österreich und Lunéville mit dem Reich verlangten „Entschädigungen“, über die nur ein Reichsgesetz entscheiden konnte. Deshalb wurde eine Reichsdeputation einberufen, die diesen Entschädigungsplan ausarbeiten sollte. Letztendlich nahm die Deputation aber den französisch-russischen Entschädigungsplan vom 3. Juni 1802 mit geringen Änderungen an. Am 24. März 1803 akzeptierte der Reichstag den Reichsdeputationshauptschluss endgültig. Als Entschädigungsmasse für die größeren Reichsstände wurden fast alle Reichsstädte, die kleineren weltlichen Territorien und fast alle geistlichen Hoch- und Erzstifte ausgewählt. Die Zusammensetzung des Reiches veränderte sich schlagartig, die zuvor mehrheitlich katholische Fürstenbank des Reichstages war nunmehr protestantisch geprägt. Zwei von drei geistlichen Kurfürstentümern hatten aufgehört zu existieren, auch der Kurfürst von Mainz verlor sein Hochstift, erhielt aber als neues Kurfürstentum Aschaffenburg-Regensburg. Neben diesem gab es nur noch zwei geistliche Reichsfürsten, den Großprior des Malteserordens und den Hoch- und Deutschmeister des Deutschen Ordens. Insgesamt gab es durch den Reichsdeputationshauptschluss 110 Territorien weniger und rund drei Millionen Menschen bekamen einen neuen Landesherrn. Aus einer Vielzahl kleiner Gebiete entstand eine überschaubare Anzahl von mittelgroßen Ländern. Dies wurde eine bleibende Veränderung, welche die drei Jahre der Gültigkeit weit überdauerte. Der Reichsdeputationshauptschluss führte ferner ein neues Normaljahr ein, also den Ausgangspunkt dafür, wie es bei einem Gebiet mit der Konfession steht und wie um die Vermögensverhältnisse. Das Jahr 1803 wurde nach dem im Westfälischen Frieden bestimmten Normaljahr 1624 das neue Normaljahr. Man sprach in diesem Zusammenhang allgemein von „Entschädigung“, „Säkularisation“ und „Mediatisierung“. Allerdings verbarg man dahinter (beschönigenderweise) auch die Tatsache, dass einige wenige Landesherren viel mehr Land und Geld erhielten, als sie abgetreten hatten. Der badische Markgraf erhielt beispielsweise mehr als neunmal so viele Untertanen als er linksrheinisch verlor. Grund hierfür war, dass Frankreich sich eine Reihe von Satellitenstaaten schuf, die groß genug waren, um dem Kaiser Schwierigkeiten zu machen, aber zu klein, um die Position Frankreichs zu gefährden. Weiterhin hatte die Reichskirche aufgehört zu existieren, die eine Stütze des Kaisers gewesen war. Die Aufklärung hatte dazu längst beigetragen, ebenso die absolutistische Neigung der Landesherren, sich die Macht nicht mit kirchlichen Einrichtungen teilen zu wollen. Das galt für protestantische und katholische Fürsten gleichermaßen und so sah es auch Frankreich. Im Herbst 1803 wurden auch die Reichsritterschaften im sogenannten Rittersturm von den benachbarten Ländern besetzt. Den Gesetzen des Reiches wurde allseits nicht mehr viel Beachtung geschenkt. ==== Niederlegung der Reichskrone ==== Am 18. Mai 1804 wurde Napoleon durch eine Verfassungsänderung zum erblichen Kaiser der Franzosen bestimmt. Damit wollte er sich nicht zuletzt in die Tradition Karls des Großen stellen, der tausend Jahre zuvor die Nachfolge des Römischen Reiches angetreten hatte. Nachdem Napoleon den Kaisertitel angenommen hatte, kam es zu Gesprächen mit Österreich. In einer Geheimnote vom 7. August 1804 forderte Napoleon, dass Österreich den Kaisertitel anerkenne. Im Gegenzug könne der römisch-deutsche Kaiser Franz II. zum Kaiser Österreichs werden. Wenige Tage später wurde aus der Forderung faktisch ein Ultimatum. Dies bedeutete entweder Krieg oder Anerkennung des französischen Kaisertums. Franz lenkte ein und nahm am 11. August 1804 als Konsequenz dieses Schrittes zusätzlich zu seinem Titel als Kaiser des Heiligen Römischen Reiches „für Uns und Unsere Nachfolger […] den Titel und die Würde eines erblichen Kaisers von Österreich“ an. Dies geschah offensichtlich, um die Ranggleichheit mit Napoleon zu wahren. Hierzu schien der Titel des Kaisers des Heiligen Römischen Reiches allein nicht mehr geeignet, auch wenn dies wohl ein Bruch des Reichsrechts war, da er weder die Kurfürsten über diesen Schritt informierte noch den Reichstag um Zustimmung bat. Dieser Schritt war auch vom Rechtsbruch abgesehen umstritten und wurde als übereilt angesehen. Napoleon ließ sich nicht mehr aufhalten. Im Dritten Koalitionskrieg marschierte seine Armee, die durch bayerische, württembergische und badische Truppen verstärkt wurde, auf Wien zu und am 2. Dezember 1805 siegten die napoleonischen Truppen in der Dreikaiserschlacht bei Austerlitz über Russen und Österreicher. Der darauffolgende Frieden von Preßburg, der Franz II. und dem russischen Zaren Alexander I. von Napoleon diktiert wurde, dürfte das Ende des Reiches endgültig besiegelt haben, da Napoleon durchsetzte, dass Bayern, Württemberg und Baden mit voller Souveränität ausgestattet und somit mit Preußen und Österreich gleichgestellt wurden. Diese Länder befanden sich nun faktisch außerhalb der Reichsverfassung. Letzter Anstoß für die Niederlegung der Krone war jedoch eine Handlung von Karl Theodor von Dalberg, dem Erzbischof von Regensburg. Dalberg war Erzkanzler des Reiches und damit Haupt der Reichskanzlei, Aufseher des Reichsgerichtes und Hüter des Reichsarchivs. Er machte den französischen Großalmosenier Joseph Kardinal Fesch 1806 zu seinem Koadjutor mit dem Recht der Nachfolge. Der zu seinem Nachfolger ernannte Kardinal war nicht nur Franzose und sprach kein Wort Deutsch – er war auch der Onkel Napoleons. Wäre also der Kurfürst gestorben oder hätte sonst irgendwie seine Ämter abgegeben, so wäre der Onkel des französischen Kaisers Erzkanzler des Reiches geworden. Am 28. Mai 1806 wurde der Reichstag davon in Kenntnis gesetzt. Der österreichische Außenminister Johann Philipp von Stadion erkannte die möglichen Folgen: entweder die Auflösung des Reiches oder eine Umgestaltung des Reiches unter französischer Herrschaft. Daraufhin entschloss sich Franz am 18. Juni zu einem Protest, der wirkungslos blieb, zumal sich die Ereignisse überschlugen: Am 12. Juli 1806 gründeten Kurmainz, Bayern, Württemberg, Baden, Hessen-Darmstadt, Nassau, Kleve-Berg und weitere Fürstentümer mit Unterzeichnung der Rheinbundakte in Paris den Rheinbund, als dessen Protektor Napoleon fungierte, und erklärten am 1. August den Austritt aus dem Reich. Bereits im Januar hatte der schwedische König die Teilnahme der vorpommerschen Gesandten an den Reichstagssitzungen suspendiert und erklärte als Reaktion auf die Unterzeichnung der Rheinbundakte am 28. Juli, dass in den zum Reich gehörenden Ländern unter schwedischer Herrschaft die Reichsverfassung aufgehoben und die Landstände und Landräte aufgelöst seien. Er führte stattdessen die schwedische Verfassung in Schwedisch-Pommern ein. Damit beendete er auch in diesem Teil des Reiches das Reichsregime. Das Reich hatte faktisch aufgehört zu existieren, denn von ihm blieb nur noch ein Rumpf übrig. Die Entscheidung, ob der Kaiser die Reichskrone niederlegen sollte, wurde durch ein Ultimatum an den österreichischen Gesandten in Paris, General Vincent, praktisch vorweggenommen. Sollte Kaiser Franz bis zum 10. August nicht abdanken, dann würden französische Truppen Österreich angreifen, so wurde diesem am 22. Juli mitgeteilt. In Wien waren jedoch schon seit mehreren Wochen Johann Aloys Josef Freiherr von Hügel und Graf von Stadion mit der Erstellung von Gutachten über die Bewahrung der Kaiserwürde des Reiches befasst. Ihre Analyse kam zu dem Schluss, dass Frankreich versuchen werde, die Reichsverfassung aufzulösen und das Reich in einen von Frankreich beeinflussten föderativen Staat umzuwandeln. Sie folgerten, dass die Bewahrung der Reichsoberhauptlichen Würde unvermeidlich zu Schwierigkeiten mit Frankreich führen würde und deshalb der Verzicht auf die Reichskrone unumgänglich sei. Der genaue Zeitpunkt dieses Schrittes sollte nach den politischen Umständen bestimmt werden, um möglichst vorteilhaft für Österreich zu sein. Am 17. Juni 1806 wurde dem Kaiser das Gutachten vorgelegt. Den Ausschlag für eine Entscheidung des Kaisers gab jedoch wohl das erwähnte Ultimatum Napoleons. Am 30. Juli entschied sich Franz, auf die Krone zu verzichten; am 1. August erschien der französische Gesandte La Rochefoucauld in der österreichischen Staatskanzlei. Erst nachdem der französische Gesandte nach heftigen Auseinandersetzungen mit Graf von Stadion formell bestätigte, dass sich Napoleon niemals die Reichskrone aufsetzen werde und die staatliche Unabhängigkeit Österreichs respektiere, willigte der österreichische Außenminister in die Abdankung ein, die am 6. August verkündet wurde. In der Abdankung heißt es, dass der Kaiser sich nicht mehr in Lage sehe, seine Pflichten als Reichsoberhaupt zu erfüllen, und dementsprechend erklärte er: Und der Kaiser überschritt ein letztes Mal seine Kompetenzen als Reichsoberhaupt. Franz legte nicht nur die Krone nieder, sondern er löste das Reich als Ganzes auf, hierzu wäre aber die Zustimmung des Reichstages nötig gewesen, denn er verkündete auch: Er löste auch die zu seinem eigenen Herrschaftsbereich gehörenden Länder des Reiches aus diesem heraus und unterstellte sie allein dem österreichischen Kaisertum. Damit endete auch die Tätigkeit der wichtigsten Institutionen des Reichs. Der Reichstag trat nicht mehr zusammen und das Reichskammergericht stellte seine Tätigkeit auf die Sammlung und Archivierung der vorhandenen Akten um.Die formelle Auflösung des Reichs setzte einen Schlusspunkt unter einen längeren Niedergang des Reiches durch die Schwächung der Zentralgewalt, den Dualismus der beiden Großmächte Preußen und Österreich, zunehmende Souveränität und Einzelinteressen der mittelgroßen Reichsterritorien und die Missachtung der Reichsverfassung. Am Ende fehlte es am politischen Willen und auch an der außenpolitischen Macht, das Reich zu bewahren. ==== Wiener Kongress und Deutscher Bund 1815 ==== Nach dem Wiener Kongress 1815 schlossen sich die deutschen Einzelstaaten zum Deutschen Bund zusammen. Zuvor, im November 1814, richteten jedoch 29 Souveräne kleinerer und mittlerer Staaten folgenden Wunsch an den Kongress: Grundlage dieser Petition dürfte kaum patriotischer Eifer gewesen sein. Eher kann davon ausgegangen werden, dass diese die Dominanz der durch Napoleon zu voller Souveränität und Königstiteln gelangten Fürsten fürchteten, beispielsweise der Könige von Württemberg, Bayern und Sachsen.Aber auch darüber hinaus wurde die Frage diskutiert, ob ein neuer Kaiser gekürt werden solle. So existierte u. a. der Vorschlag, dass die Kaiserwürde zwischen den mächtigsten Fürsten im südlichen Deutschland und dem mächtigsten Fürsten in Norddeutschland alternieren solle. Im Allgemeinen wurde jedoch von den Befürwortern des Kaisertums eine erneute Übernahme der Kaiserwürde durch Österreich favorisiert, also durch Franz I.Da aber auf Grund der geringen Macht der Befürworter der Wiederherstellung, der kleinen und mittleren deutschen Fürsten, nicht zu erwarten war, dass der Kaiser in Zukunft die Rechte erhielte, die diesen zu einem tatsächlichen Reichsoberhaupt machen würden, lehnte Franz die angebotene Kaiserwürde ab. Dementsprechend betrachteten Franz I. und sein Kanzler Metternich diese in der bisherigen Ausgestaltung nur als eine Bürde. Auf der anderen Seite wollte Österreich aber den Kaisertitel für Preußen oder einen anderen starken Fürsten nicht zulassen.Der Wiener Kongress ging auseinander, ohne das Kaisertum erneuert zu haben. Daraufhin wurde am 8. Juni 1815 der Deutsche Bund gegründet. Er war im Wesentlichen nur ein militärisches Bündnis für die innere und äußere Sicherheit der Mitgliedsstaaten. Das einzige Bundesorgan zu deren Vertretung war der Bundestag. Dort führte der österreichische Gesandte die Geschäfte, weswegen man Österreich die Präsidialmacht nannte. == Verfassungsordnung == Das Heilige Römische Reich hatte kein in einer einzigen Urkunde festgeschriebenes Grundgesetz im heutigen verfassungsrechtlichen Sinne. Seine Verfassungsordnung ergab sich vielmehr aus zahlreichen, durch lange Überlieferung und Ausübung gefestigten und praktizierten Rechtsnormen, die erst seit dem Spätmittelalter und verstärkt seit der Frühen Neuzeit durch schriftlich fixierte Gesetze ergänzt wurden. Diese Ordnung, wie sie seit dem 17. Jahrhundert im Rahmen der später so genannten Reichspublizistik durch Staatsrechtler erörtert und definiert wurde, bestand also aus einem Konglomerat geschriebener und ungeschriebener Rechtsgrundsätze über Idee, Form, Aufbau, Zuständigkeiten und Handeln des Reiches und seiner Glieder. Da sich der stark föderative Charakter des Reiches verbunden mit einer Wahlmonarchie kaum in ein Schema pressen lässt, formulierte bereits der Staatsrechtler Johann Jakob Moser ausweichend über den Charakter der Reichsverfassung: Die Tatsache der föderalistischen Ordnung mit vielen Einzelregelungen wurde schon von Zeitgenossen wie Samuel von Pufendorf kritisch untersucht, der 1667 in seinem unter dem Pseudonym Severinus von Monzambano veröffentlichten Werk De statu imperii Germanici das Reich als systema monstrosum und unglückliches „Mittelding“ zwischen Monarchie und Staatenbund charakterisierte. Zu seiner berühmten Einschätzung der Reichsverfassung als „irregulär“ und „monströs“ gelangte er auf Grund der Erkenntnis, dass das Reich in seiner Form weder einer der aristotelischen Staatsformen zugeordnet werden kann noch den Begrifflichkeiten der Souveränitätsthese gerecht wird.Trotzdem war das Reich ein staatliches Gebilde mit einem Oberhaupt, dem Kaiser, und seinen Mitgliedern, den Reichsständen. Wie beschrieben war der ungewöhnliche Charakter des Reiches und seiner Verfassung den Staatsrechtlern des Reiches bewusst, weshalb versucht wurde, dessen Charakter in der Theorie der „dualen“ Souveränität darzustellen. Nach dieser Theorie wurde das Reich von zwei Majestäten regiert. Auf der einen Seite war die Majestas realis, die von den Reichsständen ausgeübt wurde, und auf der anderen Seite die Majestas personalis, die des Erwählten Kaisers. Dieser verfassungstheoretisch erfasste Dualismus spiegelte sich auch in der häufig anzutreffenden Formulierung Kaiser und Reich wider. Im Gegensatz zu vielen anderen Ländern war dessen Oberhaupt eben nicht das Reich. Die „Reichsverfassung“ stellte somit eine Art Mischverfassungssystem dar, bestehend aus dem Kaiser und den Reichsständen. Gut 100 Jahre nach Pufendorf verteidigte Karl Theodor von Dalberg, der Erzbischof von Mainz, die Ordnung des Reiches mit den Worten: === Grundgesetze === Die niedergeschriebenen Gesetze und Texte, die zur Reichsverfassung gezählt wurden, entstanden in verschiedenen Jahrhunderten und ihre Anerkennung als zur Verfassung gehörig war nicht einheitlich. Dennoch lassen sich einige dieser allgemein akzeptierten Grundgesetze benennen. Die erste quasi-verfassungsrechtliche Regelung lässt sich im Wormser Konkordat von 1122 finden, mit dem der Investiturstreit endgültig beendet wurde. Die Festschreibung des zeitlichen Vorrangs der Einsetzung des Bischofs in das weltliche Amt durch den Kaiser vor der Einsetzung in das geistliche Amt durch den Papst eröffnete der weltlichen Macht eine gewisse Unabhängigkeit von der geistlichen Macht. Dies ist damit ein erster Mosaikstein im Rahmen der jahrhundertelang andauernden Emanzipation des Staates – der hier jedoch noch kaum so genannt werden kann – von der Kirche. Reichsintern entstand der erste verfassungsrechtliche Meilenstein gut 100 Jahre später. Die ursprünglich autonomen Stammesfürstentümer hatten sich im 12. Jahrhundert zu abhängigen Reichsfürstentümern gewandelt. Friedrich II. musste auf dem Reichstag in Worms 1231 im Statut zugunsten der Fürsten Münze, Zoll, Markt und Geleit sowie das Recht zum Burgen- und Städtebau an die Reichsfürsten abtreten. Darüber hinaus erkannte Friedrich II. auf selbigem Reichstag auch das Gesetzgebungsrecht der Fürsten an. Als neben dem Statut zugunsten der Fürsten wichtigste Verfassungsregelung ist sicherlich die Goldene Bulle von 1356 zu nennen, die die Grundsätze der Königswahl erstmals verbindlich regelte und damit Doppelwahlen, wie bereits mehrfach geschehen, vermied. Daneben wurden aber noch die Gruppe der Fürsten zur Wahl des Königs festgelegt und die Kurfürstentümer für unteilbar erklärt, um ein Anwachsen der Zahl der Kurfürsten zu vermeiden. Außerdem schloss sie päpstliche Rechte bei der Wahl aus und beschränkte das Fehderecht. Als drittes Grundgesetz gelten die Deutschen Konkordate von 1447 zwischen Papst Nikolaus V. und Kaiser Friedrich III., in denen die päpstlichen Rechte und die Freiheiten der Kirche und der Bischöfe im Reich geregelt wurden. Dies betraf unter anderem die Wahl der Bischöfe, Äbte und Pröpste und deren Bestätigung durch den Papst, aber auch die Vergabe von kirchlichen Würden und die Eigentumsfragen nach dem Tod eines kirchlichen Würdenträgers. Die Konkordate bildeten eine wichtige Grundlage für die Rolle und Struktur der Kirche als Reichskirche in den nächsten Jahrhunderten. Der vierte dieser wichtigen Rechtsgrundsätze ist der Ewige Reichsfriede, der am 7. August 1495 auf dem Reichstag zu Worms verkündet wurde und mit der Schaffung des Reichskammergerichts gesichert werden sollte. Damit wurde das bis dahin allgemein übliche adlige Recht auf Fehde verboten und versucht das Gewaltmonopol des Staates durchzusetzen. Bewaffnete Auseinandersetzungen und Selbsthilfe des Adels wurden für rechtswidrig erklärt. Vielmehr sollten nun die Gerichte der Territorien beziehungsweise des Reiches, wenn es Reichsstände betraf, die Streitigkeiten regeln und entscheiden. Der Bruch des Landfriedens sollte hart bestraft werden. So waren für die Brechung des Landfriedens die Reichsacht oder hohe Geldstrafen ausgesetzt. Die Wormser Reichsmatrikel von 1521 kann als fünftes dieser „Reichsgrundgesetze“ betrachtet werden. In diesem wurden alle Reichsstände mit der Anzahl der für das Reichsheer zu stellenden Truppen und der Summe, die für den Unterhalt des Heeres gezahlt werden musste, erfasst. Trotz Anpassungen an die aktuellen Verhältnisse und kleinerer Änderungen war es die Grundlage der Reichsheeresverfassung. Hinzu kommen eine Anzahl weiterer Gesetze und Ordnungen, wie der Augsburger Religionsfrieden vom 25. September 1555 mit der Reichsexekutionsordnung und die Ordnung des Reichshofrates sowie die jeweilige Wahlkapitulation, die in ihrer Gesamtheit die Verfassung des Reiches seit dem Beginn der Frühen Neuzeit prägten. Nach dem Ende des Dreißigjährigen Krieges wurden die Bestimmungen des Westfälischen Friedens nach dem Austausch der Ratifikationsurkunden 1649 zum Ewigen Grundgesetz des Reiches erklärt. Neben den territorialen Veränderungen wurde in diesem Vertrag den Reichsterritorien endgültig die Landeshoheit zuerkannt und neben den Katholiken und Protestanten, die bereits im Augsburger Frieden als voll berechtigte Konfessionen anerkannt wurden, den Calvinisten (Reformierten) ebenfalls dieser Status gewährt. Weiterhin wurden Bestimmungen über den Religionsfrieden und die konfessionell paritätische Besetzung von Reichsinstitutionen vereinbart. Damit war die Herausbildung der Reichsverfassung im Wesentlichen abgeschlossen. Von den Staatsrechtsgelehrten wurden aber auch die verschiedenen Reichsfriedensverträge zur Verfassung des Reiches hinzugerechnet. Beispiele hierfür sind der Frieden von Nimwegen 1678/79 und der Frieden von Rijswijk 1697, in denen die Grenzen einiger Reichsteile geändert wurden. Hinzugerechnet wurden aber auch die verschiedenen Reichsabschiede, insbesondere der Jüngste Reichsabschied von 1654, bei dem Sorge dafür getragen wurde, dass die stehenden Heere der Landesfürsten verfassungsrechtlich anerkannt und budgetiert wurden und die Regelung über den Immerwährenden Reichstag von 1663. Von heutigen Historikern wird gelegentlich der Reichsdeputationshauptschluss als letztes Grundgesetz des Reiches bezeichnet, da mit diesem eine vollkommen neue Grundlage der Reichsverfassung geschaffen wurde. Diese Zuordnung des Hauptschlusses wird aber nicht einheitlich verwendet, da dieser häufig als der Anfang vom Ende des Reiches angesehen wird, was eine Einordnung als Reichsgrundgesetz nicht rechtfertige. Trotzdem, so Anton Schindling in seiner Analyse der Entwicklungspotentiale des Hauptschlusses, solle die historische Analyse ihn als Chance eines neuen Reichsgrundgesetz für ein erneuertes Reich ernst nehmen. === Herkommen und Gewohnheitsrecht === Der Staatsrechtler des 18. Jahrhunderts K. A. Beck definierte die auch in anderen Ländern üblichen und anerkannten Gewohnheitsrechte folgendermaßen: Einerseits handelt es sich um Rechte und Gewohnheiten, die niemals schriftlich festgehalten wurden, und auf der anderen Seite um Rechte und Gewohnheiten, die zu einer Änderung von niedergeschriebenen Gesetzen und Verträgen führten. So wurde die Goldene Bulle beispielsweise dahingehend geändert, dass die Krönung des Königs ab 1562 immer in Frankfurt durchgeführt wurde und nicht wie festgelegt in Aachen. Damit solches Handeln zum Gewohnheitsrecht wurde, musste dieses immer wiederkehrend und vor allem unwidersprochen durchgeführt werden. So waren beispielsweise die Säkularisationen der norddeutschen Bistümer durch die protestantisch gewordenen Landesfürsten in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts niemals gültiges Recht, da diesen mehrfach vom Kaiser widersprochen wurde. Aber auch durch Nichtanwendung von Regeln konnte Festgeschriebenes abgeschafft werden. Von den Staatsrechtlern der damaligen Zeit wurde zwischen Herkommen, das die Staatsgeschäfte selbst betraf, dem „Reichsherkommen“, und dem Herkommen, wie man diese durchzuführen hatte, unterschieden. Zur ersten Gruppe gehörte die Vereinbarung, dass seit der Neuzeit nur ein Deutscher zum König gewählt werden konnte und dass der König seit 1519 eine Wahlkapitulation mit den Kurfürsten aushandeln musste. Aus altem Gewohnheitsrecht durften sich die vornehmsten Reichsstände mit dem Titelzusatz „von Gottes Gnaden“ versehen. Ebenso wurden deshalb die geistlichen Reichsstände als höher angesehen als ein weltlicher Reichsstand gleichen Ranges. Zur zweiten Gruppe der Gewohnheitsrechte gehörte unter anderem die Einteilung der Reichsstände in drei Kollegien mit unterschiedlichen Rechten, die Durchführung des Reichstages und die Amtsführung der Erzämter. === Kaiser === Die mittelalterlichen Herrscher des Reiches sahen sich – in Anknüpfung an die spätantike Kaiseridee und die Idee der Renovatio imperii, der Wiederherstellung des römischen Reichs unter Karl dem Großen – in direkter Nachfolge der römischen Cäsaren und der karolingischen Kaiser. Sie propagierten den Gedanken der Translatio imperii, nach dem die höchste weltliche Macht, das Imperium, von den Römern auf die Deutschen übergegangen sei. Aus diesem Grunde verband sich mit der Wahl zum römisch-deutschen König auch der Anspruch des Königs, durch den Papst in Rom zum Kaiser gekrönt zu werden. Für die reichsrechtliche Stellung des Reichsoberhauptes war dies insofern von Belang, als er damit auch zum Oberhaupt der mit dem Reich verbundenen Gebiete, Reichsitaliens und des Königreichs Burgund, wurde. Die Wahl zum König erfolgte zunächst – theoretisch – durch alle Freien des Reiches, dann durch alle Reichsfürsten, schließlich nur noch durch die wichtigsten Fürsten des Reiches. Der genaue Personenkreis war jedoch umstritten und mehrmals kam es zu Doppelwahlen, da sich die Fürsten nicht auf einen gemeinsamen Kandidaten einigen konnten. Erst die Goldene Bulle legte 1356 den Kreis der Wahlberechtigten und das Mehrheitsprinzip verbindlich fest. Seit Maximilian I. (1508) nannte sich der neu gewählte König „Erwählter Römischer Kaiser“, auf eine Krönung durch den Papst in Rom wurde fortan verzichtet. Nur Karl V. ließ sich vom Papst krönen, allerdings in Bologna.Umgangssprachlich und in der älteren Literatur wird die Bezeichnung deutscher Kaiser für die „Kaiser des Heiligen Römischen Reiches deutscher Nation“ verwendet. Im 18. Jahrhundert wurden diese Bezeichnungen auch in offizielle Dokumente übernommen. Die neuere historische Literatur bezeichnet die Kaiser des Heiligen Römischen Reiches hingegen als römisch-deutsche Kaiser, um sie von den römischen Kaisern der Antike einerseits und von den deutschen Kaisern des 19. und frühen 20. Jahrhunderts andererseits zu unterscheiden. Verfassungsrechtliche Rolle des Kaisers Der Kaiser war das Reichsoberhaupt und oberster Lehnsherr. Wenn in frühneuzeitlichen Akten vom Kaiser die Rede ist, ist immer das Reichsoberhaupt gemeint. Ein eventuell zu Lebzeiten des Kaisers gewählter „Römischer König“ bezeichnete nur den Nachfolger und zukünftigen Kaiser. Solange der Kaiser noch lebte, konnte der König keine eigenen Rechte in Bezug auf das Reich aus seinem Titel ableiten. Gelegentlich wurden dem König, wie es Karl V. im Falle seiner Abwesenheit aus dem Reich bei seinem Bruder und römischen König Ferdinand I. tat, die Statthalterschaft und damit zumindest beschränkte Regierungsrechte übertragen. Der König übernahm nach dem Tode des Kaisers oder, wie im Falle Karls V., der Niederlegung der Krone ohne weitere Formalien die Herrschaft im Reich. Der Titel des Kaisers impliziert spätestens seit der Frühen Neuzeit mehr Machtfülle, als tatsächlich in dessen Händen lag, und ist mit dem der antiken römischen Cäsaren und auch den mittelalterlichen Kaisern nicht vergleichbar. Er konnte tatsächlich nur im Zusammenwirken mit den Reichsständen, darunter insbesondere den Kurfürsten, politisch wirksam werden. Rechtsgelehrte des 18. Jahrhunderts teilten die Befugnisse des Kaisers oft in drei Gruppen ein. Die erste Gruppe umfasste die sogenannten Komitialrechte (lateinisch iura comitialia), zu denen der Reichstag seine Zustimmung geben musste. Zu diesen Rechten gehörten alle wesentlichen Regierungshandlungen wie Reichssteuern, Reichsgesetze sowie Kriegserklärungen und Friedensschlüsse, die das ganze Reich betrafen. Die zweite Gruppe umfasste die iura caesarea reservata limitata, die begrenzten kaiserlichen Reservatrechte, für deren Ausübung die Kurfürsten zustimmen mussten oder zumindest deren Billigung eingeholt werden musste. Zu diesen Rechten gehörten die Einberufung des Reichstags und die Erteilung von Münz- und Zollrechten. Die dritte Gruppe umfasste die als iura reservata illimitata oder kurz iura reservata bezeichneten Rechte, die der Kaiser ohne Zustimmung der Kurfürsten im gesamten Reich ausüben konnte und deren Wahrnehmung nur an die Grenzen des geltenden Verfassungsrechts, wie der Wahlkapitulationen und der Rechte der Reichsstände, geknüpft war. Die wichtigsten dieser Rechte waren das Recht, Hofräte zu ernennen, dem Reichstag eine Tagesordnung vorzulegen, Standeserhöhungen vorzunehmen. Daneben gab es einige weitere Rechte, die für die Reichspolitik weniger wichtig waren, wie beispielsweise das Recht akademische Grade zu verleihen und uneheliche Kinder zu legitimieren. Die Zusammensetzung der kaiserlichen Rechte veränderte sich im Laufe der Frühen Neuzeit immer mehr in Richtung der zustimmungspflichtigen Rechte. So war das Recht die Reichsacht zu verhängen ursprünglich ein Reservatrecht, war am Ende aber der Zustimmung des Reichstages unterworfen, wurde also zu einem Komitialrecht. === Reichsstände === Als Reichsstände bezeichnet man diejenigen reichsunmittelbaren Personen oder Korporationen, die Sitz und Stimme im Reichstag hatten. Sie waren keinem Landesherrn untertan und entrichteten ihre Steuern an das Reich. Zu Beginn der Frühen Neuzeit hatte sich der Umfang der Reichsstandschaft endgültig herausgebildet. Neben den Unterschieden der Reichsstände entsprechend ihrem Range unterscheidet man außerdem zwischen geistlichen und weltlichen Reichsständen. Diese Unterscheidung ist insofern wichtig, als im Heiligen Römischen Reich geistliche Würdenträger, wie Erzbischöfe und Bischöfe, auch Landesherren sein konnten. Neben der Diözese, in der der Bischof das Oberhaupt der Kirche bildete, regierte er oft auch über einen Teil des Diözesangebietes und war in diesem gleichzeitig der Landesherr. Dieses Gebiet wurde als Hochstift, bei Erzbischöfen als Erzstift, bezeichnet. Hier erließ er Verordnungen, zog Steuern ein, vergab Privilegien wie ein weltlicher Landesherr auch. Um diese Doppelrolle als geistliches und weltliches Oberhaupt zu verdeutlichen, wird solch ein Bischof auch als Fürstbischof bezeichnet. Erst diese weltliche Rolle der Fürstbischöfe begründete deren Zugehörigkeit zu den Reichsständen. ==== Kurfürsten ==== Die Kurfürsten (principes electores imperii) waren eine durch das Recht der Wahl des römisch-deutschen Königs hervorgehobene Gruppe von Reichsfürsten. Sie galten als die „Säulen des Reiches“. Das Kurfürstenkolleg vertrat gegenüber dem Kaiser das Reich und handelte als des Reiches Stimme. Das Kurkolleg war das cardo imperii, das Scharnier zwischen Kaiser und Reichsverband. Die weltlichen Kurfürsten hatten die Reichsämter inne, die sie während der Krönungsfeierlichkeiten eines neuen Königs beziehungsweise Kaisers ausübten. Das Kurkollegium bildete sich im 13. Jahrhundert heraus und ist erstmals bei der Doppelwahl von 1257 als Wahlkollegium fassbar. Im Jahr 1298 wurde es erstmals ausdrücklich als „collegium“, seine Mitglieder erstmals als „kurfursten“ benannt. Das Gremium wurde durch die Goldene Bulle von Karl IV. 1356 auf sieben Fürsten festgeschrieben. Im Spätmittelalter waren dies die drei geistlichen Kurfürsten von Mainz, Köln und Trier und vier weltliche Kurfürsten, der König von Böhmen, der Markgraf von Brandenburg, der Pfalzgraf bei Rhein und der Herzog von Sachsen. Kaiser Ferdinand II. übertrug 1623 die pfälzische Kur auf das Herzogtum Bayern. Im Westfälischen Frieden wurde die pfälzische Kur als achte erneut eingerichtet und 1692 erhielt das Herzogtum Braunschweig-Lüneburg eine neunte Kur, die aber erst 1708 durch den Reichstag bestätigt wurde. Der König von Böhmen spielte eine besondere Rolle, da er sich seit den Hussitenkriegen nur noch an den Königswahlen, aber nicht mehr an den anderen Tätigkeiten des Kurkollegs beteiligte. Erst seit der „Readmission“ von 1708 änderte sich dies wieder. Durch ihr exklusives Wahlrecht, die von ihnen allein ausgehandelte Wahlkapitulation des Kaisers und durch die von ihnen ausgeübte und verteidigte Vorrangstellung gegenüber den anderen Reichsfürsten bestimmten die Kurfürsten die Reichspolitik besonders bis zum Ende des Dreißigjährigen Krieges entscheidend mit. Sie trugen bis in die 1630er Jahre Verantwortung für das Reich als Ganzes. Dies spiegelte sich insbesondere in den Kurfürstentagen wider. Ab da wurde der exklusive Führungsanspruch durch die anderen Reichsstände bestritten und bekämpft. Seit den 1680er Jahren gelang es, den Reichstag als Ganzes aufzuwerten, so dass der Einfluss des Kurfürstenkollegs zwar stark zurückging, aber trotzdem das erste und wichtigste Gremium des Reichstages blieb. ==== Reichsfürsten ==== Der Stand der Reichsfürsten hatte sich im Hochmittelalter herausgebildet und umfasste alle die Fürsten, die ihr Lehen nur und unmittelbar vom König bzw. Kaiser erhalten hatten. Es bestand also eine lehnsrechtliche Reichsunmittelbarkeit. Hinzu kamen aber auch Fürsten, die durch Standeserhebungen oder schlicht durch Gewohnheitsrecht zu den Reichsfürsten gezählt wurden. Zu den Reichsfürsten zählten Adlige, die über unterschiedlich große Territorien herrschten und unterschiedliche Titel trugen. Die Reichsfürsten gliederten sich genauso wie die Kurfürsten in eine weltliche und eine geistliche Gruppe. Nach der Reichsmatrikel von 1521 zählten zu den geistlichen Reichsfürsten die vier Erzbischöfe von Magdeburg, Salzburg, Besançon und Bremen und 46 Bischöfe. Diese Zahl verringerte sich bis 1792 auf die beiden Erzbischöfe von Salzburg und Besançon und 22 Bischöfe. Entgegen der Anzahl der geistlichen Reichsfürsten, die sich bis zum Ende des Reiches um ein Drittel reduzierte, erhöhte sich die Anzahl der weltlichen Reichsfürsten auf mehr als das Doppelte. Die Wormser Reichsmatrikel von 1521 zählte noch 24 weltliche Reichsfürsten. Ende des 18. Jahrhunderts werden hingegen 61 Reichsfürsten aufgeführt. Auf dem Augsburger Reichstag von 1582 wurde die Erhöhung der Anzahl der Reichsfürsten durch dynastische Zufälle eingeschränkt. Die Reichsstandschaft wurde an das Territorium des Fürsten gebunden. Erlosch eine Dynastie, übernahm der neue Territorialherr die Reichsstandschaft; im Falle von Erbteilungen übernahmen sie die Erben gemeinsam. Die Reichsfürsten bildeten auf dem Reichstag den Reichsfürstenrat, auch Fürstenbank genannt. Diese war entsprechend der Zusammensetzung der Fürstenschaft in eine geistliche und eine weltliche Bank geteilt. Durch die Bindung des Reichsfürstenstandes an die Herrschaft über ein Territorium war die Anzahl der Stimmen nach der Reichsmatrikel bestimmt und bildete die Grundlage für die Stimmberechtigung im Reichstag. War ein weltlicher oder geistlicher Fürst Herr über mehrere Reichsterritorien, so verfügte er auch über die dementsprechende Anzahl von Stimmen. Die größeren der Fürsten waren an Macht und Größe der regierten Territorien zumindest den geistlichen Kurfürsten überlegen und forderten deshalb seit dem zweiten Drittel des 17. Jahrhunderts eine politische und zeremonielle Gleichstellung der Reichsfürsten mit den Kurfürsten. ==== Reichsprälaten ==== Neben den zu den Reichsfürsten gehörenden Erzbischöfen und Bischöfen bildeten die Vorsteher der reichsunmittelbaren Klöster und Kapitel einen eigenen Stand innerhalb des Reiches. Der Stand der Reichsprälaten bestand somit aus den Reichsäbten, Reichspröpsten und Reichsäbtissinnen. Die Reichsmatrikel von 1521 erfasste 83 Reichsprälaten, deren Anzahl sich bis 1792 durch Mediatisierungen, Säkularisationen, Abtretungen an andere europäische Staaten und Erhebungen in den Fürstenstand auf 40 verringerte. Auch der Austritt der Schweizer Eidgenossenschaft trug zur Verringerung der Zahl der Reichsprälaten bei, da unter anderem St. Gallen, Schaffhausen und Einsiedeln und damit deren Klöster nicht mehr zum Reich gehörten. Die Gebiete der Reichsprälaten waren oft sehr klein – manchmal umfassten sie nur wenige Gebäude – und konnten sich nur mit Mühe dem Zugriff der umliegenden Territorien entziehen, was auch nicht immer auf Dauer gelang. Die meisten Reichsprälaturen lagen im Südwesten des Reiches. Durch die geografische Nähe zueinander entwickelte sich ein Zusammenhalt, der sich in der Gründung des Schwäbischen Reichsprälatenkollegiums 1575 abbildete und in der Folge noch stärker wurde. Dieses Kollegium bildete auf den Reichstagen eine geschlossene Gruppe und besaß eine Kuriatsstimme, die einer Stimme eines Reichsfürsten gleichgestellt war. Alle anderen Reichprälaten bildeten das Rheinische Reichsprälatenkollegium, das auch eine eigene Stimme besaß, aber aufgrund der größeren geografischen Verteilung seiner Mitglieder nie den Einfluss des schwäbischen Kollegiums erreichte. ==== Reichsgrafen ==== Diese Gruppe war die zahlenmäßig größte unter den Reichsständen und vereinigte diejenigen Adligen, denen es nicht gelungen war, ihren Besitz in ein Königslehen umzuwandeln, da die Grafen ursprünglich nur Verwalter von Reichseigentum bzw. Stellvertreter des Königs in bestimmten Gebieten waren. Trotzdem verfolgten die Grafen wie die größeren Fürsten das Ziel, ihren Besitz in einen Territorialstaat umzuwandeln. Faktisch waren sie schon seit dem Hochmittelalter Landesherren und wurden auch gelegentlich in den Reichsfürstenstand erhoben, wie man an dem Beispiel der größten Grafschaft Württemberg sieht, die 1495 zum Herzogtum erhoben wurde. Die zahlreichen, zumeist kleinen reichsunmittelbaren Gebiete der Reichsgrafen – die Reichsmatrikel von 1521 zählt 143 Grafen auf – trugen sehr stark zum Eindruck der Zersplitterung des Reichsgebietes bei. In der Liste von 1792 tauchen immerhin noch fast 100 Reichsgrafen auf, was trotz zahlreicher Mediatisierungen und dem Erlöschen von Adelsgeschlechtern auf den Umstand zurückzuführen ist, dass im Laufe der Frühen Neuzeit zahlreiche Personen in den Reichsgrafenstand erhoben wurden, die aber nicht mehr über reichsunmittelbares Gebiet verfügten. ==== Reichsstädte ==== Die Reichsstädte bildeten eine politische und rechtliche Ausnahme, da sich in diesem Fall die Reichsstandschaft nicht auf eine Einzelperson bezog, sondern auf die Stadt als Ganzes, die vom Rat vertreten wurde. Von den anderen Städten des Reiches hoben sie sich dadurch ab, dass sie nur den Kaiser als Herrn hatten. Rechtlich waren sie den anderen Reichsterritorien gleichgestellt. Allerdings besaßen nicht alle reichsunmittelbaren Städte Sitz und Stimme im Reichstag und damit die Reichsstandschaft. Von den 1521 in der Reichsmatrikel erwähnten 86 Reichsstädten konnten sich nur drei Viertel die Mitgliedschaft im Reichstag sichern. Bei den anderen war die Reichsstandschaft umstritten beziehungsweise niemals gegeben. So konnte Hamburg beispielsweise seinen Sitz im Reichstag erst 1770 einnehmen, da Dänemark die gesamte Frühe Neuzeit über diesen Status bestritten hatte und dieser erst 1768 im Gottorper Vertrag endgültig festgestellt wurde. Die Wurzeln der frühneuzeitlichen Reichsstädte lagen einerseits in den mittelalterlichen Stadtgründungen der römisch-deutschen Könige und Kaiser, die dann als des Reichs Städte angesehen wurden und nur dem Kaiser untertan waren. Auf der anderen Seite gab es Städte, die sich im Spätmittelalter, verstärkt seit dem Investiturstreit, aus der Herrschaft eines meist geistlichen Stadtherren befreien konnten. Diese als „Freie Städte“ bezeichneten Städte hatten im Gegensatz zu den Reichsstädten keine Steuern und Heeresleistungen an den Kaiser zu entrichten. Seit 1489 bildeten die Reichsstädte und die Freien Städte das Reichsstädtekollegium und wurden unter dem Begriff „Freie- und Reichsstädte“ zusammengefasst. Im Sprachgebrauch verschmolz diese Formel im Laufe der Zeit zur „Freien Reichsstadt“. Bis 1792 nahm die Zahl der Reichsstädte auf 51 ab. Nach dem Reichsdeputationshauptschluss von 1803 blieben als Reichsstädte sogar nur noch die Städte Hamburg, Lübeck, Bremen, Frankfurt, Augsburg und Nürnberg übrig. Die Rolle und Bedeutung der Städte nahm seit dem Mittelalter ebenfalls immer mehr ab, da viele nur sehr klein waren und sich häufig dem Druck der umliegenden Territorien nur schwer widersetzen konnten. Bei den Beratungen des Reichstages wurde die Meinung der Reichsstädte meist nur pro forma zur Kenntnis genommen, nachdem sich die Kurfürsten und die Reichsfürsten geeinigt hatten. === Weitere unmittelbare Glieder === ==== Reichsritter ==== Der reichsunmittelbare Stand der Reichsritter gehörte nicht den Reichsständen an und fand auch keine Beachtung in der Reichsmatrikel von 1521. Die Reichsritter gehörten dem niederen Adel an und waren zu Beginn der Frühen Neuzeit als eigener Stand erkennbar. Zwar gelang ihnen nicht wie den Reichsgrafen die volle Anerkennung, jedoch konnten sie sich dem Zugriff der diversen Territorialfürsten widersetzen und ihre Reichsunmittelbarkeit bewahren. Sie genossen den besonderen Schutz des Kaisers, blieben aber vom Reichstag ausgeschlossen und wurden auch nicht in die Reichskreisverfassung einbezogen. Ab dem Spätmittelalter schlossen sich die Reichsritter in Ritterbünden zusammen, die es ihnen erlaubten, ihre Rechte und Privilegien zu bewahren und ihre Pflichten gegenüber dem Kaiser zu erfüllen. Deshalb organisierte sich die Reichsritterschaft ab der Mitte des 16. Jahrhunderts in insgesamt 15 Ritterorten, die wiederum, bis auf eine Ausnahme in drei Ritterkreisen zusammengefasst wurden. Die Ritterorte wurden seit dem 17. Jahrhundert nach dem Vorbild der Schweizer Eidgenossenschaft „Kantone“ genannt. Seit 1577 fanden zwar als „Generalkorrespondenztage“ bezeichnete Zusammenkünfte der Reichsritterschaft statt, jedoch blieben die Kreise und besonders die Kantone auf Grund der starken territorialen Verankerung der Ritter wesentlich wichtiger. Die Reichsritter wurden sehr häufig durch den Kaiser zu Kriegsdiensten herangezogen und gewannen dadurch einen sehr großen Einfluss im Militär und der Verwaltung des Reiches, aber auch auf die Territorialfürsten. ==== Reichsdörfer ==== Die Reichsdörfer wurden im Westfälischen Frieden von 1648 neben den anderen Reichsständen und der Reichsritterschaft anerkannt. Diese Überbleibsel der im 15. Jahrhundert aufgelösten Reichsvogteien waren zahlenmäßig gering und bestanden aus auf ehemaligen Krongütern gelegenen Gemeinden, Reichsflecken oder waren sogenannte Freie Leute. Sie besaßen die Selbstverwaltung und hatten die niedere, teilweise sogar die hohe Gerichtsbarkeit und unterstanden nur dem Kaiser. Von den ursprünglich 120 urkundlich bekannten Reichsdörfern existierten 1803 nur noch fünf, die im Rahmen des Reichsdeputationshauptschlusses mediatisiert, also benachbarten großen Fürstentümern zugeschlagen wurden. === Institutionen === ==== Reichstag ==== Der Reichstag war das bedeutendste und dauerhafteste Ergebnis der Reichsreformen des späten 15. und frühen 16. Jahrhunderts. Er entwickelte sich seit der Zeit Maximilians I. zur obersten Rechts- und Verfassungsinstitution, ohne dass es einen formellen Einsetzungsakt oder eine gesetzliche Grundlage gab. Im Kampf um eine stärker zentralistische oder stärker föderalistische Prägung des Reiches zwischen dem Kaiser und den Reichsfürsten entwickelte er sich zu einem der Garanten für den Erhalt des Reiches. Bis 1653/54 trat der Reichstag in verschiedenen Reichsstädten zusammen und bestand seit 1663 als Immerwährender Reichstag in Regensburg. Der Reichstag durfte nur vom Kaiser einberufen werden, der aber seit 1519 verpflichtet war, vor Versendung der „Ausschreiben“ genannten Einladungsschreiben die Kurfürsten um Zustimmung zu bitten. Der Kaiser hatte ebenfalls das Recht die Tagesordnung festzulegen, wobei er aber nur einen geringen Einfluss auf die tatsächlich diskutierten Themen hatte. Die Leitung des Reichstages hatte der Kurfürst von Mainz inne. Der Reichstag konnte einige Wochen bis mehrere Monate dauern. Die Beschlüsse des Reichstages wurden in einem beurkundeten Dokument niedergelegt, dem Reichsabschied. Der letzte dieser Reichsabschiede war der Jüngste Reichsabschied (recessus imperii novissimus) von 1653/54. Die Permanenz des Immerwährenden Reichstags nach 1663 wurde nie formell beschlossen, sondern entwickelte sich aus den Umständen der Beratungen. Der Immerwährende Reichstag entwickelte sich aufgrund seiner Permanenz recht schnell zu einem reinen Gesandtenkongress, auf dem die Reichsstände nur sehr selten erschienen. Da der Immerwährende Reichstag seit 1663 nicht formell beendet wurde, wurden seine Beschlüsse in Form sogenannter Reichsschlüsse niedergelegt. Die Ratifizierung dieser Beschlüsse wurde meist durch den Vertreter des Kaisers beim Reichstag, den Prinzipalkommissar, in Form eines „Kaiserlichen Commissions-Decrets“ durchgeführt. Die Entscheidungen wurden in einem langwierigen und komplizierten Entscheidungs- und Beratungsverfahren getroffen. Wenn durch Mehrheits- oder einstimmigen Beschluss Entscheidungen in den jeweiligen Ständeräten getroffen waren, wurden die Beratungsergebnisse ausgetauscht und versucht, dem Kaiser einen gemeinsamen Beschluss der Reichsstände vorzulegen. Auf Grund der immer schwerer werdenden Entscheidungsprozesse wurde auch versucht, die Entscheidung mittels verschiedener Ausschüsse zu erleichtern. Nach der Reformation und dem Dreißigjährigen Krieg bildeten sich infolge der Glaubensspaltung 1653 das Corpus Evangelicorum und später das Corpus Catholicorum. Diese versammelten die Reichsstände der beiden Konfessionen und berieten getrennt die Reichsangelegenheiten. Der Westfälische Frieden bestimmte nämlich, dass in Religionsangelegenheiten nicht mehr das Mehrheitsprinzip, sondern das Konsensprinzip gelten sollte. ==== Reichskreise ==== Die Reichskreise entstanden infolge der Reichsreform am Ende des 15. Jahrhunderts beziehungsweise zu Beginn des 16. Jahrhunderts und der Verkündung des Ewigen Landfriedens in Worms 1495. Sie dienten hauptsächlich der Aufrechterhaltung und Wiederherstellung des Landfriedens durch den geographischen Zusammenhang seiner Mitglieder. Ausbrechende Konflikte sollten bereits auf dieser Ebene gelöst und über Störer des Landfriedens gerichtet werden. Außerdem verkündeten die Kreise die Reichsgesetze und setzten sie notfalls auch durch. Die ersten sechs Reichskreise wurden auf dem Reichstag von Augsburg 1500 im Zusammenhang mit der Bildung des Reichsregiments eingerichtet. Sie wurden lediglich mit Nummern bezeichnet und setzten sich aus Reichsständen aller Gruppen, mit Ausnahme der Kurfürsten, zusammen. Mit der Schaffung vier weiterer Reichskreise 1512 wurden nun auch die österreichischen Erblande und die Kurfürstentümer mit in die Kreisverfassung eingebunden. Außerhalb der Kreiseinteilung blieben bis zum Ende des Reiches das Kurfürstentum und Königreich Böhmen mit den zugehörigen Gebieten Schlesien, Lausitz und Mähren. Ebenso nicht eingebunden wurden die Schweizerische Eidgenossenschaft, die Reichsritterschaft, die Lehnsgebiete in Reichsitalien und einige Reichsgrafschaften und -herrschaften, wie beispielsweise Jever. ==== Reichskammergericht ==== Das Reichskammergericht wurde im Zuge der Reichsreform und der Errichtung des Ewigen Landfriedens 1495 unter dem römisch-deutschen König Maximilian I. errichtet und hatte bis zum Ende des Reiches 1806 Bestand. Es war neben dem Reichshofrat das oberste Gericht des Reiches und hatte die Aufgabe ein geregeltes Streitverfahren an die Stelle von Fehden, Gewalt und Krieg zu setzen. Es ermöglichte als Appellationsgericht auch Prozesse von Untertanen gegen ihren jeweiligen Landesherrn. Nach seiner Gründung am 31. Oktober 1495 hatte das Gericht seinen Sitz in Frankfurt am Main. Nach Zwischenstationen in Worms, Augsburg, Nürnberg, Regensburg, Speyer und Esslingen war es ab 1527 in Speyer und nach dessen Zerstörung infolge des Pfälzischen Erbfolgekrieges von 1689 bis 1806 in Wetzlar ansässig. Nach den Beschlüssen des Reichstages von Konstanz 1507 entsandten die Kurfürsten je einen von den insgesamt 16 Assessoren, also den Beisitzern des Gerichtes. Der römisch-deutsche König benannte für Burgund und Böhmen je zwei und jeder der 1500 gebildeten Reichskreise durfte einen Beisitzer zum Reichskammergericht entsenden. Außerdem wurden die letzten beiden Sitze auf Vorschlag der Reichskreise durch den Reichstag gewählt, so dass die Assessoren des Reichskammergerichts zur Hälfte aus Vertretern der Reichskreise bestanden. Auch als 1555 die Anzahl der Beisitzer auf 24 erhöht wurde, blieb die Rolle der Reichskreise entsprechend ihrer Wichtigkeit für den Landfrieden erhalten. Seitdem durfte jeder Reichskreis einen ausgebildeten Juristen und einen Vertreter der Reichsritterschaft entsenden, also jetzt zwei Vertreter. Auch nach dem Westfälischen Frieden, in dem die Anzahl auf 50 erhöht wurde, und dem Jüngsten Reichsabschied wurde die Hälfte der Assessoren mit Vertretern der Reichskreise besetzt. Durch die Einrichtung des Gerichtes wurde die oberste Richterfunktion des Königs und Kaisers aufgehoben und dem Einfluss der Reichsstände zugänglich. Dies war bei dem seit Anfang des 15. Jahrhunderts bestehenden königlichen Kammergericht nicht der Fall gewesen. Die erste Reichskammergerichtsordnung vom 7. August 1495 begründete Unser [also des Königs] und des Hailigen Reichs Cammergericht. Vom selben Tag datieren auch die Urkunden zum Ewigen Landfrieden, Handhabung Friedens und Rechts und die Ordnung des Gemeinen Pfennigs, die alle zusammen den Erfolg der Reichsstände gegenüber dem Kaiser zeigen, was sich auch bei den Regelungen für das Gericht bezüglich Tagungsort, eine von der Residenz des Kaisers weit entfernte Reichsstadt, Finanzierung und personeller Zusammensetzung zeigte. Die Partizipation der Stände an der Einrichtung und Organisation des Gerichtes hatte aber zur Folge, dass diese sich an der Finanzierung beteiligen mussten, da dessen Gebühren und sonstige Einnahmen dafür nicht ausreichten. Wie wichtig aber das Gericht den Ständen war, zeigt die Tatsache, dass mit dem Kammerzieler die einzige ständige Reichssteuer durch diese bewilligt wurde, nachdem der Gemeine Pfennig als allgemeine Reichssteuer 1507 im Reichsabschied von Konstanz scheiterte. Trotz festgelegter Höhe und Zahlungstermine kam es aber immer wieder durch Zahlungsverzug beziehungsweise -verweigerung zu finanziellen Schwierigkeiten und auch noch im 18. Jahrhundert zu dadurch verursachten langen Unterbrechungen in der Arbeit des Gerichtes. ==== Reichshofrat ==== Der Reichshofrat war neben dem Reichskammergericht die oberste gerichtliche Instanz. Seine Mitglieder wurden allein vom Kaiser ernannt und standen diesem, zusätzlich zu den gerichtlichen Aufgaben, auch als Beratungsgremium und Regierungsbehörde zur Verfügung. Neben den Rechtsgebieten, die auch durch das Reichskammergericht behandelt werden konnten, gab es einige Streitfälle, die nur vor dem Reichshofrat verhandelt werden konnten. So war der Reichshofrat ausschließlich zuständig für alle Fälle, die Reichslehnsachen, inklusive Reichsitalien, und die kaiserlichen Reservatrechte betrafen. Da sich der Reichshofrat im Gegensatz zum Reichskammergericht nicht streng an die damalige Gerichtsordnung halten musste und sehr oft auch davon abwich, waren Verfahren vor dem Reichshofrat im Allgemeinen zügiger und unbürokratischer. Außerdem beauftragte der Reichshofrat häufig örtliche, nicht am Konflikt beteiligte Reichsstände mit der Bildung einer „Kommission“, die die Vorgänge vor Ort untersuchen sollte. Auf der anderen Seite überlegten sich protestantische Kläger oft, ob sie tatsächlich vor einem Gericht des Kaisers, der stets katholisch war und auch bis ins 18. Jahrhundert nur Katholiken in den Reichshofrat berief, klagen wollten. === Reichsmilitärwesen === Kannte das Reich im Mittelalter vor allem das Heeresaufgebot von Kaisern, Herzögen bzw. Kurfürsten und der Städte, entwickelte sich ab dem 15. Jahrhundert ein Reichsmilitärwesen, das aber niemals mit den im Absolutismus aufkommenden Stehenden Heeren vergleichbar war. Zum einen gab es ein „Kaiserliches Heer“, das sich privilegiert bis zuletzt aus dem ganzen Reich rekrutierte, aber zunehmend den habsburgischen Hausinteressen diente. Zum anderen schuf die sich aus dem ersten Reichsmatrikel von 1422 sich entwickelnde Reichsheeresverfassung zusätzlich eine Reichsarmee, die mit der Reichsgeneralität vom Reichstag entsprechend der Reichsexekutionsordnung von 1555 eingesetzt wurde. In der Reichsdefensionalordnung von 1681, die im Kern bis 1806 gültig war, erfolgte eine neue Aufteilung in die Truppenkontingente der Reichskreise, die Gesamtsumme (Simplum) wurde auf 40.000 Soldaten erhöht. Daneben stellten die besonders gefährdeten vorderen Reichskreise in Zeiten der Gefahr als Kreisassoziationen beträchtliche Truppenkontingente auf. Das im Westfälischen Frieden verankerte Recht der einzelnen Landesherren auf eigene Truppen („jus armorum et foederum“) nutzten die großen Reichsstände zur Aufstellung separater stehender Heere, so bereits ab 1644 Brandenburg, ab 1682 Bayern und Sachsen. Zersplittert in Aufgebote der Reichskreise und darin in Kreisständen leistete die Reichsarmee gemeinsam mit dem Kaiserlichen Heer Dienste in den Reichskriegen gegen die Türken und Frankreich, verlor aber spätestens nach der Niederlage bei der Schlacht bei Roßbach 1757 bei der Reichsexekution gegen Preußen seine Bedeutung. Seine letzten Einsätze hatte das Reichsheer in den Koalitionskriegen. Die Kaiserliche Armee wurde weitgehend in die Kaiserlich-Königliche Armee des Kaisertums Österreich überführt. == Reichsgebiet und Bevölkerung == === Gebiet des Reiches === Zum Zeitpunkt der Entstehung des Reiches umfasste das Reichsgebiet etwa 470.000 Quadratkilometer und wurde nach groben Schätzungen um das Jahr 1000 von zehn und mehr Einwohnern pro Quadratkilometer bewohnt. Dabei ist das in der Antike zum Römischen Reich gehörende Gebiet im Westen dichter besiedelt als die Gebiete im Osten.Vom 11. bis zum 14. Jahrhundert verdreifachte sich die Bevölkerung auf ungefähr 12 Millionen; im Zuge der Pestwellen und der Flucht vieler Juden nach Polen im 14. Jahrhundert verringerte sich nach vorsichtigen Schätzungen die Bevölkerungszahl in Deutschland um ein Drittel. Das Reich bestand seit 1032 aus dem Regnum Francorum (Ostfrankenreich), später auch Regnum Teutonicorum genannt, dem Regnum Langobardorum oder Regnum Italicum im heutigen Nord- und Mittelitalien (Reichsitalien) und dem Königreich Burgund. Der Prozess der Nationalstaatsbildung und dessen Institutionalisierung in den anderen europäischen Ländern wie Frankreich und England im Spätmittelalter und der beginnenden Neuzeit umfasste auch die Notwendigkeit, klar umrissene Außengrenzen zu besitzen, innerhalb derer der Staat präsent war. Im Mittelalter handelte es sich trotz der auf modernen Karten vermeintlich erkennbaren präzise definierten Grenzen um mehr oder minder breite Grenzsäume mit Überlappungen und verdünnter Herrschaftspräsenz der einzelnen Reiche. Seit dem 16. Jahrhundert kann man für die Reichsterritorien und die anderen europäischen Staaten im Prinzip eine fest umrissene Staatsfläche erkennen. Das Heilige Römische Reich umfasste hingegen die ganze Frühe Neuzeit hindurch Gebiete mit einer engen Bindung an das Reich, Zonen mit verdünnter Präsenz des Reiches und Randbereiche, die sich gar nicht am politischen System des Reiches beteiligten, obwohl sie im Allgemeinen zum Reich gerechnet wurden. Die Reichszugehörigkeit definierte sich vielmehr aus der aus dem Mittelalter stammenden lehnsrechtlichen Bindung an den König bzw. Kaiser und den daraus folgenden rechtlichen Konsequenzen. Die Mitgliedschaft zum Lehnsverband und der Umfang der lehnsrechtlichen Bindung an den Herrscher waren selten eindeutig. Ziemlich klar fassbar sind die Grenzen des Reiches im Norden auf Grund der Meeresküsten und entlang der Eider, die die Herzogtümer Holstein, das zum Reich gehörte, und Schleswig, das ein Lehen Dänemarks war, voneinander trennte. Im Südosten, wo die österreichischen Erblande der Habsburger mit Österreich unter der Enns, der Steiermark, Krain, Tirol und dem Hochstift Trient die Grenzen des Reiches markierten, sind die Grenzen auch klar erkennbar. Im Nordosten gehörten Pommern und Brandenburg zum Reich. Das Gebiet des Deutschen Ordens wird hingegen von den meisten heutigen Historikern nicht als zum Reich gehörig betrachtet, obwohl es deutsch geprägt war und schon 1226 vor seiner Gründung in der Goldbulle von Rimini als kaiserliches Lehen betrachtet wurde, das er mit Privilegien ausstattet, was natürlich sinnlos gewesen wäre, wenn er das Gebiet nicht als zum Reich zugehörig betrachtet hätte. Auch erklärte der Augsburger Reichstag von 1530 Livland zum Mitglied des Reiches, und die Umwandlung des Ordensgebietes Preußen in ein polnisches Lehensherzogtum wurde vom Reichstag lange nicht akzeptiert. Das Königreich Böhmen wird im Allgemeinen auf Karten als zum Reich zugehörig dargestellt. Dies ist insofern richtig, als Böhmen kaiserliches Lehnsgebiet war und der böhmische König, den es aber erst seit der Stauferzeit gab, dem Kreis der Kurfürsten angehörte. Im Westen und Südwesten des Reiches lassen sich kaum unstrittige Grenzen angeben. Sehr gut ist dies am Beispiel der Niederlande zu erkennen. Die Gebiete des heutigen Belgiens und der Niederlande wurden bereits in 1473 von dem Haus Burgund vereint und durch den Burgundischen Vertrag von 1548 zu einem Gebiet mit stark verringerter Reichspräsenz gemacht, beispielsweise aus der Gerichtshoheit des Reiches entlassen. Bereits kurz nach Beginn des Niederländischen Aufstands bildeten die Niederlande in der Praxis einen unabhängigen Staat, doch wurden sie erst zum Ende des Achtzigjährigen Krieges im Westfälischen Frieden 1648 auch de jure endgültig als souverän anerkannt. Die Südlichen Niederlande fielen 1714 an Österreich. Als Österreichische Niederlande bildete dieses Gebiet einen nahezu selbständigen Staat, der nur durch Personalunion mit den übrigen österreichischen Gebieten verbunden war. Von Frankreich mehr oder minder allmählich aus dem Reichsverband gelöst wurden im 16. Jahrhundert die Hochstifte Metz, Toul und Verdun und im späten 17. Jahrhundert durch die „Reunionspolitik“ weitere reichsständische Gebiete. Dazu gehörte die Annexion der Reichsstadt Straßburg 1681. Das bereits aufgestellte Heer mit 40.000 Mann zur Befreiung der Stadt konnte nicht eingreifen, da gleichzeitig Truppen zur Türkenabwehr vor Wien gebraucht wurden. Das seit dem Vertrag von Nürnberg 1542 nur noch lose an das Reich gebundene und mehrfach französisch besetzte Lothringen gelangte 1737/38 in einem französisch-habsburgischen Tauschgeschäft im Frieden von Wien an Stanislaus Leszczyński, den entthronten König von Polen und Schwiegervater des französischen Königs. Erst nach Stanislaus’ Tod 1766 fiel das Gebiet direkt an die französische Krone. Die Schweizer Eidgenossenschaft gehört de jure seit 1648 nicht mehr zum Reich, aber bereits seit dem Frieden zu Basel 1499 haben die Eidgenossen keine Reichssteuer bezahlt und kaum mehr an der Reichspolitik teilgenommen. Trotzdem lässt sich die früher vertretene These nicht halten, der Frieden zu Basel habe de facto ein Ausscheiden der Eidgenossenschaft aus dem Reich bedeutet, denn die eidgenössischen Orte verstanden sich weiterhin als ein Teil des Reichs. Das südlich der Schweiz gelegene Savoyen gehörte juristisch gesehen sogar bis 1801 zum Reich, seine faktische Zugehörigkeit zum Reich war aber schon längst gelockert. Die Gebiete Reichsitaliens mit vielen kleinen Lehensgebieten und den großen Territorien des Großherzogtums Toskana, den Herzogtümern Mailand, Mantua, Modena, Parma und Mirandola, gehörten lehensrechtlich zum Reich, waren aber bis auf die gerichtliche Zuständigkeit des Reichshofrats nicht in die Reichsinstitutionen eingebunden. Sie waren nicht in die Kreisordnung integriert und hatten keine Rechte in der Reichsverfassung. Der Kaiser war zwar auch König von Italien, aber einen Einfluss auf die Wahl hatten die Kommunen und Territorien nicht. Während Kaiser und Reich in den großen Territorialstaaten Reichsitaliens nur wenige Durchgriffsmöglichkeiten hatten, waren die kleinen Reichslehen stark abhängig von der Belehnung durch Kaiser oder Reichshofrat und dem kaiserlichen Schutz vor den großen Territorien. Reichsitalien existierte bis zu den Französischen Revolutionskriegen, schwand in seiner Bedeutung aber Ende des 18. Jahrhunderts zunehmend zu einem Anhängsel der österreichischen Besitztümer in Italien. === Bevölkerung === Das Reich hatte eine ethnisch vielfältige Bevölkerung. Diese umschloss neben deutschsprachigen Gebieten auch Bevölkerungsgruppen anderer Sprachen. So wurde es im Osten von Menschen mit slawischen Sprachen sowie im romanischen Westen und in Reichsitalien mit Sprachen, aus denen sich das moderne Französisch bzw. Italienisch entwickelte, bevölkert. Kaiser Heinrichs VII. Muttersprache war Französisch. Kaiser Karl V. wuchs in Gent mit Niederländisch und Französisch als Muttersprachen auf und lernte Deutsch erst, als er für die römisch-deutsche Königswürde kandidierte.Ebenso unterschieden sich die deutschen Sprachgebiete aufgrund unterschiedlicher historischer Voraussetzungen erheblich: Nach der Zeit der Völkerwanderungen waren die östlichen Bereiche des später (im ausgehenden Mittelalter) deutschsprachigen Teils des Reichs hauptsächlich slawisch besiedelt, die westlichen überwiegend germanisch. Im germanisch dominierten westlichen Bereich gab es vor allem im Süden auch noch keltische Einflüsse sowie Einflüsse des antiken Römischen Reiches. Diese Einflüsse waren regional sehr unterschiedlich. Im Laufe der Zeit mischten sich die verschiedenen Bevölkerungsgruppen. Besonders vielfältig war die ethnische Mischung im Bereich, der einst zum Gebiet des antiken Römischen Reiches gehörte (südwestlich des Limes), trotz Völkerwanderung waren hier teilweise ethnische Einflüsse aus unterschiedlichen Regionen des Römischen Reichs vorhanden. Die östlichen Bereiche des deutschen Sprachraums wurden erst nach und nach Teil des Reiches, manche auch nie (z. B. Ostpreußen). Diese ehemals nahezu rein baltisch besiedelten Bereiche wurden infolge der Ostsiedlung durch Siedler aus den westlichen Bereichen in unterschiedlichem Ausmaß germanisiert. In den meisten Bereichen vermischten sich baltische, slawische und germanische Bevölkerungsteile im Laufe der Jahrhunderte. Über die Jahrhunderte veränderte sich die Bevölkerungsmischung im Heiligen Römischen Reich nahezu kontinuierlich größtenteils durch Zu- und Abwanderung aus dem/ins Ausland und durch Wanderungsbewegungen innerhalb der Reichsgrenzen. Nach dem Dreißigjährigen Krieg wurde teils eine gezielte Migrationspolitik betrieben, z. B. in Preußen, die zu erheblicher Zuwanderung in die betreffenden Gebiete führte. == Siehe auch == Ausstellung Heiliges Römisches Reich Deutscher Nation Liste der römisch-deutschen Herrscher Liste der Ehefrauen der römisch-deutschen Herrscher == Quellenausgaben und Übersetzungen == Für das mittelalterliche Reich sind die wichtigsten Quellen in den diversen Ausgaben der Monumenta Germaniae Historica ediert. Ausgewählte Quellen zur deutschen Geschichte des Mittelalters sind mit deutscher Übersetzung in der Freiherr vom Stein-Gedächtnisausgabe gesammelt. Ältere, teils bis heute nicht ersetzte Übersetzungen finden sich in der Reihe Die Geschichtschreiber der deutschen Vorzeit. Zur Stadtgeschichte sind Die Chroniken der deutschen Städte von Bedeutung. Wichtig sind des Weiteren die Regesta Imperii, in denen teilweise weit verstreutes Material verarbeitet ist. Einen Quellenüberblick bieten die Geschichtsquellen des deutschen Mittelalters.Für das frühneuzeitliche Reich fließen die Quellen (offizielle Dokumente, Tagebücher, Briefe, Geschichtswerke etc.) noch wesentlich reichhaltiger. Wichtig für die Reichsgeschichte sind unter anderem die Reichstagsakten (ab dem ausgehenden Spätmittelalter) und die verschiedenen Dokumente in den Archiven (des Reichs, der Städte und der Landesherren).Allgemeine Quellensammlungen in deutscher Übersetzung bieten beispielsweise Deutsche Geschichte in Quellen und Darstellung (epochenübergreifend) und zur Verfassungsgeschichte Arno Buschmann. == Literatur == Eine umfassende und bis Ende 2015 reichende bibliographische Onlinedatenbank bieten unter anderem die Jahresberichte für deutsche Geschichte. === Gesamtdarstellungen === Klaus Herbers, Helmut Neuhaus: Das Heilige Römische Reich – Schauplätze einer tausendjährigen Geschichte (843–1806). Böhlau, Köln [u. a.] 2005, ISBN 3-412-23405-2; Klaus Herbers, Helmut Neuhaus: Das Heilige Römische Reich. Ein Überblick. Böhlau, Köln 2010, ISBN 978-3-8252-3298-6 (leicht modifizierte und weniger bebilderte Studienausgabe). Wilhelm Brauneder, Lothar Höbelt (Hrsg.): Sacrum Imperium. Das Reich und Österreich 996–1806. Amalthea, Wien 1996, ISBN 3-85002-390-7. Ausstellung Heiliges Römisches Reich Deutscher Nation 962–1806. 29. Ausstellung des Europarates in Magdeburg und Berlin 2006, Ausstellung erster Abschnitt: Von Otto dem Großen bis zum Ausgang des Mittelalters. In Magdeburg 2006. Katalog in 2 Bänden von Matthias Puhle, Claus-Peter Hasse (Hrsg.): Band 1: Katalog. Band 2: Essays. Sandstein Verlag Dresden 2006, ISBN 3-937602-68-2. (Gesamtausgabe). Katalog und Essayband im Schuber, ISBN 3-937602-59-3 (Katalog – Museumsausgabe). Ausstellung zweiter Abschnitt: Altes Reich und neue Staaten 1495–1806. Dresden 2006, Katalog hrsg. von Hans Ottomeyer u. a. Band I: Katalog, Band II: Essayband, ISBN 978-3-937602-67-7. Erwin Gatz: Atlas zur Kirche in Geschichte und Gegenwart. Heiliges Römisches Reich – deutschsprachige Länder. Schnell und Steiner, Regensburg 2009, ISBN 978-3-7954-2181-6. Werner Paravicini, Jörg Wettlaufer, Jan Hirschbiegel (Hrsg.): Residenzenforschung. Höfe und Residenzen im spätmittelalterlichen Reich. Grafen und Herren. Thorbecke, Ostfildern 2012, ISBN 978-3-7995-4525-9. Peter H. Wilson: The Holy Roman Empire. A Thousand Years of Europe’s History. Allen Lane, London 2016, ISBN 978-1-84614-318-2. === Mittelalter === Heinz Angermeier: Reichsreform 1410–1555. Beck, München 1984, ISBN 3-406-30278-5. Johannes Fried: Der Weg in die Geschichte. Die Ursprünge Deutschlands bis 1024. Propyläen, Berlin 1994 (ND 1998), ISBN 3-549-05811-X. Hagen Keller: Zwischen regionaler Begrenzung und universalem Horizont. Deutschland im Imperium der Salier und Staufer 1024–1250. Propyläen, Berlin 1986, ISBN 3-549-05812-8. Karl-Friedrich Krieger: König, Reich und Reichsreform im Spätmittelalter (= Enzyklopädie Deutscher Geschichte. Bd. 14). Oldenbourg, München 2005, ISBN 3-486-57670-4. Peter Moraw: Von offener Verfassung zu gestalteter Verdichtung. Das Reich im späten Mittelalter 1250 bis 1490. Propyläen, Berlin 1985, ISBN 3-549-05813-6. Malte Prietzel: Das Heilige Römische Reich im Spätmittelalter. Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 2004, ISBN 3-534-15131-3. Ernst Schubert: König und Reich. Studien zur spätmittelalterlichen deutschen Verfassungsgeschichte (= Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte. Bd. 63). Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 1979. Hans K. Schulze: Grundstrukturen der Verfassung im Mittelalter. Bd. 3 (Kaiser und Reich). Kohlhammer, Stuttgart [u. a.] 1998, ISBN 3-17-013053-6. Hans K. Schulze: Grundstrukturen der Verfassung im Mittelalter. Bd. 4 (Das Königtum). Kohlhammer, Stuttgart [u. a.] 2011, ISBN 978-3-17-014863-5. Bernd Schneidmüller, Stefan Weinfurter (Hrsg.): Die Deutschen Herrscher des Mittelalters. Beck, München 2003, ISBN 3-406-50958-4. Bernd Schneidmüller, Stefan Weinfurter (Hrsg.): Heilig – Römisch – Deutsch. Das Reich im mittelalterlichen Europa. Internationale Tagung zur 29. Ausstellung des Europarates und Landesausstellung Sachsen-Anhalt. Sandstein-Verlag, Dresden 2006. Bernd Schneidmüller: Die Kaiser des Mittelalters. Von Karl dem Großen bis Maximilian I. Beck, München 2006, ISBN 3-406-53598-4. Stefan Weinfurter: Das Reich im Mittelalter. Kleine deutsche Geschichte von 500 bis 1500. Beck, München 2008, ISBN 3-406-56900-5. === Frühe Neuzeit === Karl Otmar von Aretin: Das Alte Reich 1648–1806. 4 Bde. Klett-Cotta, Stuttgart 1993–2000, ISBN 3-608-91043-3. Johannes Burkhardt: Vollendung und Neuorientierung des frühmodernen Reiches (= Gebhardt. Handbuch der deutschen Geschichte. Bd. 11). Klett-Cotta, Stuttgart 2006, ISBN 3-608-60011-6. Axel Gotthard: Das Alte Reich 1495–1806. Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 2003, ISBN 3-534-15118-6. Julia Haas: Die Reichstheorie in Pufendorfs „Severinus de Monzambano“: Monstrositätsthese und Reichsdebatte im Spiegel der politisch-juristischen Literatur von 1667 bis heute. Duncker & Humblot, Berlin 2006, ISBN 978-3-428-12315-5. Peter Claus Hartmann: Das Heilige Römische Reich deutscher Nation in der Neuzeit 1486–1806. Reclam, Stuttgart 2005, ISBN 3-15-017045-1. Peter Claus Hartmann: Kulturgeschichte des Heiligen Römischen Reiches 1648–1806. Verfassung. Religion. Kultur. Böhlau, Wien 2011, ISBN 978-3-205-78684-9. Helmut Neuhaus: Das Reich in der frühen Neuzeit (= Enzyklopädie Deutscher Geschichte. Bd. 42). 2. Auflage, Oldenbourg, München 2003, ISBN 3-486-56729-2. Anton Schindling, Walter Ziegler (Hrsg.): Die Kaiser der Neuzeit 1519–1918. Heiliges Römisches Reich, Österreich, Deutschland. Beck, München 1990, ISBN 3-406-34395-3. Georg Schmidt: Geschichte des Alten Reiches. Staat und Nation in der Frühen Neuzeit 1495–1806. Beck, München 1999, ISBN 3-406-45335-X. Matthias Schnettger: Kaiser und Reich. Eine Verfassungsgeschichte (1500–1806). Kohlhammer, Stuttgart 2020, ISBN 978-3-17-031350-7. Barbara Stollberg-Rilinger: Das Heilige Römische Reich Deutscher Nation. Vom Ende des Mittelalters bis 1806. 5., aktualisierte Auflage, Beck, München 2013, ISBN 978-3-406-53599-4. Joachim Whaley: Das Heilige Römische Reich deutscher Nation und seine Territorien. 2 Bde. WBG bzw. Zabern, Darmstadt 2014, ISBN 978-3-8053-4826-3 (orig. Germany and the Holy Roman Empire. 2 Bde., Oxford 2012; Fachbesprechung). Joachim Whaley: The Holy Roman Empire. A Very Short Introduction (= Very short introductions. Stimulating ways in to new subjects. Bd. 569). Oxford University Press, Oxford 2018, ISBN 978-0-19-874876-2. == Weblinks == === Quellen === Lateinische Texte der Verträge des Westfälischen Friedens und deutsche Übersetzung aus den Jahren 1649, 1720, 1975 und 1984 sowie verschiedene anderssprachige Übersetzungen Hauptschluß der außerordentlichen Reichsdeputation Erklärung Sr. Maj. des Kaisers Franz II., wodurch er die deutsche Kaiserkrone und das Reichsregiment niederlegt, die Churfürsten, Fürsten und übrigen Stände, wie auch alle Angehörige und Dienerschaft des deutschen Reiches, ihrer bisherigen Pflichten entbindet vom 6. August 1806 Quellensammlung zur Geschichte der Deutschen Reichsverfassung in Mittelalter und Neuzeit von 1913 === Weiterführende Informationen === Einführung in die Frühe Neuzeit (Uni Münster): Das Heilige Römische Reich deutscher Nation Wolfgang Burgdorf: „… und die Welt wird neu geordnet“. Kontinuität und Bruch. Vom Beginn der Revolutionskriege zum Deutschen Bund und zur Neuordnung Europas (PDF; 80 kB) Suche nach „Heiliges Römisches Reich“. In: Deutsche Digitale Bibliothek == Anmerkungen ==
https://de.wikipedia.org/wiki/Heiliges_R%C3%B6misches_Reich
Blatt (Pflanze)
= Blatt (Pflanze) = Das Blatt ist neben der Sprossachse und der Wurzel eines der drei Grundorgane der höheren Pflanzen und wird als Organtyp Phyllom genannt. Blätter sind seitliche Auswüchse an den Knoten (Nodi) der Sprossachse. Die ursprünglichen Funktionen der Blätter sind Photosynthese (Aufbau von organischen Stoffen mit Hilfe von Licht) und Transpiration (Wasserverdunstung, ist wichtig für Nährstoffaufnahme und -transport). Blätter treten nur bei Sprosspflanzen auf, das heißt bei farnartigen Pflanzen (Pteridophyta) und Samenpflanzen (Spermatophyta). Dagegen fehlen sie bei Moosen und Algen, an deren Thallus allerdings blattähnliche Gebilde auftreten können, die jedoch nur als Analogien der Blätter zu betrachten sind. Der Reichtum an Blattformen ist enorm. In einigen Fällen entstanden im Laufe der Evolution auch Blattorgane, die mit der ursprünglichen Funktion des Blattes (meist Laubblatt oder Nadelblatt), nämlich der Photosynthese und Transpiration, nichts mehr zu tun haben: zum Beispiel Blütenblätter, Blattdornen und Blattranken, sowie Knospenschuppen (siehe Metamorphosen des Blattes). == Etymologie == Das altgerm. Wort mhd., ahd. blat gehört über germanisch blatha- („Ausgeblühtes, Blatt“) zu idg. bhel- „schwellen, knospen, blühen“ (→ Ball „Geschwollenes, Aufgeblasenes“) und ist verwandt mit blühen. == Anatomie == Der hier beschriebene anatomische Aufbau gilt für ein bifaziales Laubblatt, den häufigsten Laubblatt-Typ. Für alle Blätter charakteristisch sind die Elemente Epidermis, Mesophyll und Leitbündel. === Epidermis === Das Blatt schließt nach außen mit einem Abschlussgewebe, der Epidermis, ab, die aus nur einer Zellschicht besteht. Die Epidermis besitzt nach außen eine wasserundurchlässige Wachsschicht Cuticula, die eine unregulierte Verdunstung verhindert. Die Zellen der Epidermis besitzen in der Regel keine Chloroplasten (die Zellbestandteile, in denen die Photosynthese stattfindet). Ausnahmen davon sind die Epidermis von Hygro-, Helo- und Hydrophyten und teilweise Schattenblätter, besonders aber die Schließzellen der Spaltöffnungen (Stomata), die immer Chloroplasten enthalten. Die Stomata dienen der Regulation des Gasaustausches, primär der Wasserdampfabgabe. Nach der Verteilung der Stomata unterscheidet man hypostomatische (Stomata auf der Blattunterseite, häufigste Form), amphistomatische (Stomata auf beiden Blattseiten) und epistomatische Blätter (Stomata auf der Blattoberseite, z. B. bei Schwimmblättern). Die von der Epidermis gebildeten Anhänge werden Haare (Trichome) genannt. Sind an der Bildung auch subepidermale Zellschichten beteiligt, spricht man von Emergenzen: Beispiele sind Stacheln oder Drüsenzotten. === Mesophyll (Blattparenchym) === Als Mesophyll bezeichnet man das Assimilationsgewebe. Es ist meist in das unter der oberen Epidermis gelegene Palisadenparenchym und das darunter gelegene Schwammparenchym gegliedert. Das Palisadenparenchym besteht aus ein bis drei Lagen langgestreckter, senkrecht zur Blattoberfläche stehender, chloroplastenreicher Zellen. Im Palisadenparenchym, dessen Hauptaufgabe die Photosynthese ist, befinden sich rund 80 Prozent aller Chloroplasten. Das Schwammparenchym besteht aus unregelmäßig geformten Zellen, die aufgrund ihrer Form große Interzellularräume bilden. Die Hauptaufgabe des Schwammparenchyms ist es, die Durchlüftung des parenchymatischen Gewebes zu gewährleisten. Die Zellen sind relativ arm an Chloroplasten. === Leitbündel === Die Leitbündel befinden sich oft an der Grenze zwischen Palisaden- und Schwammparenchym im oberen Schwammparenchym. Der Aufbau gleicht dem der Leitbündel in der Sprossachse und ist meist kollateral. Die Leitbündel zweigen von der Sprossachse ab und gehen durch den Blattstiel ohne Drehung in die Spreite über. Dadurch weist das Xylem zur Blattoberseite, das Phloem zur Blattunterseite. Große Leitbündel sind oft von einer Endodermis umgeben, die hier Bündelscheide genannt wird. Die Bündelscheide kontrolliert den Stoffaustausch zwischen Leitbündel und Mesophyll. Die Leitbündel enden blind im Mesophyll. Dabei wird das Leitbündel immer stärker reduziert, das heißt zunächst werden die Siebröhren weniger und fallen aus, dann verbleiben im Xylem-Teil nur Schraubentracheiden, die schließlich blind enden. Das gesamte Blatt ist in der Regel so dicht mit Leitbündeln durchzogen, dass keine Blattzelle weiter als sieben Zellen von einem Leitbündel entfernt ist. Die sich daraus ergebenden kleinen Felder zwischen den Leitbündeln heißen Areolen oder Interkostalfelder. Die Funktion der Leitbündel ist der Antransport von Wasser und Mineralien ins Blatt (über das Xylem) sowie der Abtransport von Photosyntheseprodukten aus dem Blatt (über das Phloem). === Festigungsgewebe === In der Nähe der Leitbündel oder auch an den Blatträndern befinden sich oft Sklerenchym­stränge, die der Festigung des Blattgewebes dienen. Demselben Zweck dienen bei manchen Arten subepidermale Kollenchym­schichten. === Einteilung nach anatomischen Gesichtspunkten === Nach der Lage des Palisadenparenchyms im Blatt werden verschiedene Blatt-Typen unterschieden. Die meisten Blätter sind bifazial gebaut, d. h., es wird eine Ober- und Unterseite ausgebildet. Bei normal bifazialen (= dorsiventralen) Blättern (A) liegt das Palisadenparenchym oben (= dorsal), das Schwammgewebe unten (= ventral). Bei invers bifazialen Blättern (B) liegt das Palisadenparenchym unten (z. B. beim Bärlauch). Bei äquifazialen Blättern (F, G) sind Ober- und Unterseite gleich mit Palisadenparenchym versehen, dazwischen liegt das Schwammparenchym. Ein typisches Beispiel ist das Nadelblatt der Kieferngewächse (G). Bei unifazialen Blättern (C, D) geht die Ober- und Unterseite nur aus der Unterseite der Blattanlage (Blattprimordium) hervor. Sie leiten sich formal von invers bifazialen Blättern ab, bei denen die Blattoberseite reduziert wird. Bei unifazialen Blättern liegen die Leitbündel im Blattquerschnitt in einem Kreis oder Bogen angeordnet, das Phloem zeigt nach außen. Blattstiele sind oft unifazial, aber auch die Blätter vieler Einkeimblättriger, wie etwa Binsen, deren Blätter oft sprossachsenähnlich sind. Ein Spezialfall sind die Blätter der Schwertlilien (E), deren unifaziales Blatt sekundär wieder flach wurde, aber durch Abflachung in der Achsenrichtung, sodass reitende Blätter, auch Schwertblätter genannt, entstanden. == Morphologische Gliederung == Ein Blatt ist unterteilt in das Unterblatt (Hypophyll), bestehend aus dem Blattgrund und den Nebenblättern (Stipulae), und in das Oberblatt (Epiphyll), das sich wieder in Blattspreite (Lamina) und Blattstiel (Petiolus) gliedert. Nicht bei allen Blättern sind alle Teile ausgebildet, alle Teile unterliegen einer mannigfachen Variation. Zur Beschreibung der Blattform in der botanischen Literatur siehe den === Unterblatt === ==== Blattgrund ==== Der Blattgrund oder die Blattbasis ist der unterste Teil, mit dem das Blatt der Sprossachse ansitzt. Als Blattachsel bezeichnet man den Winkel zwischen Sprossachse und davon abzweigendem Blatt. Er ist meist nur wenig verdickt, nimmt aber manchmal den ganzen Umfang der Sprossachse ein. Im Letzteren Fall spricht man von einem stängelumfassenden Blatt. Bei gegenständiger Blattstellung sind bisweilen die Basen der beiden Blätter vereinigt (wie beispielsweise bei der Heckenkirsche). Bisweilen zieht der Blattgrund beiderseits als ein flügelartiger Streifen weit am Stängel herab; solche Stängel nennt man geflügelt. Bei einigen Pflanzenfamilien, etwa bei Süß- und Sauergräsern und Doldengewächsen, bildet der Blattgrund eine so genannte Blattscheide aus. Es handelt sich dabei um einen mehr oder weniger breiten, meist über der Basis des Blattes zu findenden, scheidenartig die Sprossachse umschließenden Teil. Meistens ist dabei die Scheide gespalten, d. h., die Ränder sind frei, nur übereinander gelegt. Dagegen haben die Blätter der Sauergräser geschlossene Scheiden oder solche, an denen keine freien Ränder vorhanden sind. Bei vielen Blättern aber ist der Scheidenteil nur angedeutet oder fehlt ganz. ==== Nebenblätter ==== Die Nebenblätter (Stipulae oder Stipeln) sind seitliche, zipfel- oder blattartige Auswüchse des Blattgrundes. Sie sind meist klein, bei vielen Pflanzenarten fehlen sie oder werden bereits beim Blattaustrieb abgeworfen. Je nach Bau des Blattstieles treten zwei Arten auf. Bei bifazialem Blattstiel treten Lateralstipeln auf, die stets paarig seitlich am Blattgrund sitzen. Diese Form ist charakteristisch für Zweikeimblättrige. Bei unifazialem Blattstiel treten Median-(Axillar-)Stipeln auf, die nur in Einzahl auftreten und in der Mediane in der Achsel des Blattes liegen. Sie sind häufig kapuzenförmig und treten vor allem bei Einkeimblättrigen auf. Bei einigen Familien sind die Nebenblätter stark entwickelt, so bei den Schmetterlingsblütlern (wie der Erbse), den Rosengewächsen und den Veilchengewächsen. Sie können entweder frei (z. B. Wicken) oder scheinbar dem Blattstiel angewachsen sein (Rosen). Bei etlichen Bäumen, wie Linden, Hainbuchen oder Pappeln sind die Nebenblätter als häutige, nicht grüne Schuppen ausgebildet, die schon während der Entfaltung der Blätter abfallen. Bei den Knöterichgewächsen sind die Nebenblätter zu einer Nebenblattscheide (Ochrea) umgebildet, einer häutigen Scheide, die den Stängel röhrenförmig einschließt. Das Blatthäutchen (Ligula) der Süß- und Sauergräser, das am Übergang von der Blattscheide in die Blattspreite sitzt, ist ebenfalls ein Nebenblatt. === Oberblatt === ==== Blattstiel ==== Der Blattstiel (Petiolus) ist der auf den Blattgrund folgende, durch seine schmale, stielförmige Gestalt vom folgenden Teil des Blattes mehr oder minder scharf abgegrenzte Teil des Blattes. Nach dem anatomischen Aufbau unterscheidet man bifaziale und unifaziale Blattstiele. Bei den meisten Einkeimblättrigen und bei vielen Koniferen fehlt der Blattstiel. Blätter ohne Stiel nennt man sitzend. Es gibt auch Blätter, die nur aus dem Stiel bestehen, der dann flach und breit ist und an welchem die eigentliche Blattfläche ganz fehlt. Es handelt sich dabei um ein so genanntes Blattstielblatt (Phyllodium), z. B. bei manchen Akazien. Der Blattstiel ist meist nur bei Laubblättern ausgebildet. Ist der Blattstiel unterhalb der Blattspreite verdickt, nennt man diese Verdickung Geniculum. ==== Blattspreite ==== Die Blattspreite (Lamina) bildet in den meisten Fällen den Hauptteil des Blattes, den man oft als das eigentliche Blatt bezeichnet. Die Blattspreite ist im Normalfall die Trägerin der Blattfunktionen Photosynthese und Transpiration. An den meisten Blattspreiten fällt die sogenannte Nervatur auf, der Verlauf der Leitbündel. Große Leitbündel werden auch Rippen genannt, viele Blätter besitzen eine Mittelrippe (1) als scheinbare Verlängerung des Blattstieles, von der die Seitenrippen (2) abzweigen. Die Leitbündel werden volkstümlich meist als Nerven oder Adern bezeichnet, beides missverständliche Begriffe, da die Leitbündel weder eine Erregungsleitungs- noch eine Kreislauffunktion besitzen. Es werden drei Formen von Nervatur unterschieden, die auch eine systematische Bedeutung haben. Bei den Einkeimblättrigen tritt hauptsächlich Parallelnervatur auf. Hier verlaufen die Hauptadern längs und parallel zueinander. Daraus ergibt sich der meist glatte Blattrand der Einkeimblättrigen. Besonders deutlich wird dies bei den Gräsern. Die Hauptadern und auch die vielen kleineren Parallel-Leitbündel sind jedoch durch kleine, meist mit freiem Auge sichtbare Leitbündel miteinander verbunden (transversale Anastomosen). Die parallele Anordnung der Leitbündel führt auch zu einer parallelen Anordnung der Spaltöffnungen. Die meisten Zweikeimblättrigen besitzen eine kompliziertere Netznervatur. Daraus ergibt sich auch die fast beliebige Form der Spreite. Bei Farnen und beim Ginkgo tritt die Gabel- oder Fächernervatur auf. Hier sind die Leitbündel dichotom (gabelförmig) verzweigt und enden blind am vorderen Blattende. Besonders bei den Zweikeimblättrigen treten die Laubblätter in einer großen Formenvielfalt auf. Die Form und Beschaffenheit der Blätter sind daher wichtige Bestimmungsmerkmale zum Erkennen der Pflanzenarten. Die Beschaffenheit kann z. B. häutig, ledrig oder sukkulent (=fleischig) sein. Für die Oberfläche sind häufig auch Haare (Trichome) von Bedeutung. Bei der Gestalt sind wichtig: Die Gliederung der Blattspreite: Wenn die Spreite eine einzige zusammenhängende Gewebefläche darstellt, spricht man von einem „einfachen“ Blatt. Im Unterschied dazu gibt es auch so genannte „zusammengesetzte“ Blätter. Bei ihnen ist die Aufteilung der Blattfläche so weit fortgeschritten, dass die einzelnen Abschnitte als vollständig voneinander geschiedene Teile erscheinen. Diese werden – unabhängig von ihrer Größe – als Blättchen bezeichnet. Sie ahmen die Gestalt einfacher Blätter nach und sind häufig sogar mit einem Blattstielchen versehen.Die Anordnung der Abschnitte: Nach ihrer gegenseitigen Anordnung lassen sich grob drei Typen unterscheiden: gefiederte Blätter, handförmige Blätter und fußförmige Blätter.Bei den Ersteren heißt die Mittelrippe, d. h. der gemeinschaftliche Stiel, an welchem die einzelnen Fiederblättchen meist in Paaren sitzen, Blattspindel (Rhachis). Schließt Letztere mit einem Endblättchen (Endfieder) ab, hat man ein unpaarig gefiedertes Blatt vor sich. Das endständige Fiederblättchen kann auch rankenförmig umgebildet sein wie z. B. bei den Erbsen. Dagegen spricht man von einem paarig gefiederten Blatt, wenn ein solches Endblättchen fehlt. Die handförmigen Blätter unterscheidet man nach der Anzahl der Teilblättchen als dreizählig, fünfzählig etc. Es gibt auch Blätter, die mehrfach zusammengesetzt sind; dies ist besonders häufig bei gefiederten Blättern der Fall. Die Abschnitte werden hier Fiedern genannt. Man spricht hier von „doppelt gefiederten“ Blättern. Der Blattrand (3): Die sehr mannigfaltigen Formen des Blattrandes werden in der Botanik durch zahlreiche Begriffe bezeichnet, von denen nachfolgend einige aufgelistet sind: ganzrandig, gezähnt, gesägt, gebuchtet, gekerbt usw. Die Gestalt der Spreite oder Blättchen: Hier wird angegeben, ob das Blatt z. B. rundlich, elliptisch, linealisch, nierenförmig usw. ist. Der Spreitengrund (4), auch Spreitenbasis genannt, beschreibt, wie die Blattspreite in den Blattstiel übergeht: z. B. herzförmig, pfeilförmig. Der Spreiten-Apex (5, die Spitze) kann ausgerandet, abgerundet, spitz, stumpf usw. sein. Von Bedeutung ist auch der Spreitenquerschnitt (umgerollt, gefaltet, gerillt). Auch die dreidimensionale Form kann vom typischen Blatt abweichen (kugelig, röhrenförmig usw.)Eine detaillierte Beschreibung der Blattformen wird im Artikel Blattform aufgezeigt. == Evolution == Man unterscheidet generell zwei Typen von Blättern, die gemäß der Telomtheorie unabhängig voneinander entstanden sind: Mikrophylle sind kleine, oft nadelförmige Blätter mit nur einem Leitbündel. Das Mesophyll ist meist wenig differenziert. Ihre Entstehung in der Evolution deutet man als Reduktion der Telome. Die ältesten Gefäßpflanzen, die ab dem Obersilur bekannten Urfarngewächse wie Cooksonia und Rhynia hatten noch keine Blätter. Die ersten Mikrophylle sind von den Protolepidodendrales aus dem Unterdevon bekannt. Heute kommen die Mikrophylle bei den Bärlapppflanzen, den Schachtelhalmen und den Gabelblattgewächsen vor. Mikrophylle sind in der Regel klein, bei den Schuppenbäumen (Lepidodendron) erreichten sie jedoch eine Länge von rund einem Meter. Die Entstehung der Makro- oder Megaphylle wird durch die Einebnung (Planation) und anschließende Verwachsung der ursprünglich dreidimensional angeordneten Telome erklärt. Megaphylle treten erstmals bei den Farnen (Polypodiophyta) auf und werden hier meist Wedel genannt. Der Grundtyp des Megaphylls ist das gefiederte Laubblatt. Die übrigen Blattformen lassen sich – weitgehend auch fossil belegt – davon ableiten. Bei den fossilen Primofilices (Mitteldevon bis Unterperm) waren die Fiederabschnitte noch räumlich angeordnet (Raumwedel), wie auch heute noch bei den Natternzungengewächsen (Ophioglossaceae). == Wachstum und Lebensdauer == Blätter entstehen aus wenigen Zellen aus den äußeren Zellschichten (Tunica) des Sprossmeristems, also exogen. Unterhalb des Apikalmeristems bilden sich in der Tunica seitliche Auswüchse. Aus einer zunächst schwachen Erhebung entsteht ein kleiner, meist stumpf konischer Zellgewebshöcker, das Blattprimordium oder die Blattanlage genannt. Durch ein Signal des Sprossmeristems erfolgt die dorso-ventrale Organisation des Blattes. Unterbleibt dieses Signal – etwa indem das Blattprimordium vom Sprossmeristem getrennt wird – bildet sich eine radiärsymmetrische Struktur mit ventralen Differenzierungen. Die dorsale Entwicklung wird durch eine Gengruppe gefördert, zu der die Gene PHABULOSA (PHB), PHAVOLUTA (PHV) und REVOLUTA (REV) gehören, die für Transkriptionsfaktoren kodieren. Diese Gene werden schon in der Peripheren Zone des Sprossmeristems gebildet, also noch vor der Bildung des Blattprimordiums. Sobald das Primordium erkennbar ist, ist die Expression der Gene auf die dorsale Seite beschränkt. Auf der ventralen Seite des Blattprimordiums werden Gene der YABBY (YAB) Genfamilie (Transkriptionsfaktoren mit Zinkfinger-Domäne) und Gene der KANADI (KAN) Genfamilie (GARP Transkriptionsfaktoren) exprimiert. Auch diese Gene werden zunächst gleichmäßig im ganzen Blattprimordium exprimiert. Blattanlagen exprimieren also zunächst dorsalisierende (PHB) wie auch ventralisierende (YAB, KAN) Gene. Ein Signal vom Meristem aktiviert PHB Transkriptionsfaktoren, abhängig von der Lage reprimieren diese die YAB und KAN Gene und erhalten die eigene Expression aufrecht. Auf diese Weise entsteht die dorso-ventrale Gliederung. Auch die proximo-distale Blattentwicklung scheint dadurch gefördert zu werden. Aus der Blattanlage entwickelt sich der Blatthöcker, dieser differenziert sich durch eine Einschnürung in einen breiten, proximalen Abschnitt, das Unterblatt, und einen schmalen, distalen Abschnitt, das Oberblatt. Das Wachstum erfolgt nur kurze Zeit mit der Spitze (akroplast). Die Spitze stellt sehr früh ihr Wachstum ein, das Wachstum erfolgt durch basale oder interkalare Meristeme (basiplastes bzw. interkalares Wachstum). Die Blattspreite (Lamina) entsteht meist durch basiplastes Wachstum, der Blattstiel (Petiolus) und die Spreiten der Gräser durch interkalares Wachstum. Eine Ausnahme bilden die Farne, deren Wachstum akroplast mittels einer Scheitelzelle bzw. einer Scheitelkante (aus mehreren Zellen) erfolgt. Im weiteren Wachstumsverlauf passieren Zellteilungs- und Zellstreckungsvorgänge nicht im gesamten Blattkörper gleichmäßig, sondern nur innerhalb meristematisch (bzw. teilungs-) aktiver Zonen. Ob, zu welchem Zeitpunkt, und wie intensiv diese Zonen aktiv sind, ist genetisch festgelegt und führt zu einer charakteristischen Blattform. Blätter haben in der Regel nur eine begrenzte Lebensdauer, nur bei wenigen mehrjährigen Arten bleiben die Blätter während der ganzen Lebensdauer der Pflanze erhalten (z. B. bei der Welwitschie). Nach der Lebensdauer unterscheidet man zwischen immergrünen Blättern (leben mindestens zwei Vegetationsperioden), wintergrünen (überwintern grün), sommergrünen (nur eine Vegetationsperiode lang) und hinfälligen Blättern (fallen sehr bald ab, z. B. Kelchblätter des Mohns). Der Blattfall erfolgt durch Bildung einer eigenen Trennungszone (Abszissionszone) am Übergang von der Sprossachse zum Blatt (siehe Abszission). == Farbe und Farbänderung == Die Absorptionsspektren von in Lösungsmitteln gelösten Chlorophyllen besitzen immer zwei ausgeprägte Absorptionsmaxima, eines zwischen 600 und 800 nm und eines um 400 nm, das Soret-Bande genannt wird. Abbildung 1 zeigt diese Absorptionsmaxima für Chlorophyll a und b. Die Grünlücke ist der Grund dafür, warum Blätter – diese enthalten Chlorophyll a und b – grün sind: Zusammen absorbieren Chlorophyll a und b hauptsächlich im blauen Spektralbereich (400–500 nm) sowie im roten Spektralbereich (600–700 nm). Im grünen Bereich hingegen findet keine Absorption statt, so dass dieser Anteil von Sonnenlicht gestreut wird, was Blätter grün erscheinen lässt. Besonders auffällig ist die Blattverfärbung vor dem herbstlichen Laubfall. Dieser kommt dadurch zustande, dass in den Zellen das grüne Stickstoff-reiche Photosynthese-Pigment Chlorophyll abgebaut und der Stickstoff in die Sprossachse verlagert wird. Im Blatt verbleiben die bis dahin vom Grün überdeckten gelben Carotine und bei manchen Arten die roten Anthocyane, die für die bunte Herbstfärbung verantwortlich sind. Bei manchen Pflanzen dominieren die Anthocyane generell über das grüne Chlorophyll, so z. B. bei der Blutbuche. Andere Blätter sind grün-weiß gefleckt, panaschiert. Diese Formen sind im Zierpflanzenbereich sehr beliebt. == Blattfolge == Als Blattfolge oder heteroblastische Reihe bezeichnet man die Abfolge verschieden gestalteter Blätter an einer Pflanze. Eine typische Blattfolge ist Keimblätter – Primärblätter – Laubblätter – Blütenblätter. Dazwischen können noch Hoch- und Niederblätter zwischengeschaltet sein. Bei den Farnen verändert sich die Gestalt der Blätter am gesamten Spross und an allen Zweigen nur wenig, eine der wenigen Ausnahmen bilden die Geweihfarne mit ihren sterilen Mantelblättern. Im Zuge der Blattfolge treten bei manchen Arten unterschiedlich geformte Laubblätter auf, dieses Phänomen wird in der Literatur als Blattdimorphismus oder Heterophyllie bezeichnet; ein bekanntes Beispiel dafür findet sich beim Efeu. === Keimblätter === Die Keimblätter (Kotyledonen) der Samenpflanzen sind die ersten, im Embryo angelegten Blätter und bereits im Samen erkennbar. Sie sind meist wesentlich einfacher gestaltet als die folgenden Blätter. Die Anzahl der Keimblätter dient auch als ein wichtiges systematisches Merkmal. Die Klasse der Einkeimblättrigen (Liliopsida) wurde nach ihrem einzigen Keimblatt benannt (monokotyl). Ihnen wurde bis vor wenigen Jahren die Klasse der Zweikeimblättrigen (Magnoliopsida) gegenübergestellt (dikotyl), die heute jedoch auf zwei Klassen aufgeteilt ist. Die Nacktsamer besitzen meist mehrere Keimblätter und werden deshalb als polykotyl bezeichnet. Je nachdem, ob die Keimblätter bei der Keimung die Erdoberfläche durchbrechen, spricht man von epigäischer (über der Erdoberfläche, unsere meisten Kulturpflanzen) oder hypogäischer (unterhalb der Erdoberfläche, z. B. bei der Erdnuss) Keimung. === Primärblätter === Bei vielen Pflanzen folgen auf die Keimblätter Laubblätter, die ebenfalls noch einfacher gestaltet sind als die später gebildeten. Dies sind die sogenannten Primärblätter. === Laubblätter === Dies sind die Blätter, die den Großteil der Blattmasse bei den meisten Pflanzen ausmachen und deren Hauptaufgabe die Photosynthese und Transpiration ist. Besonders für sie gilt der oben in den Abschnitten Anatomie und Morphologische Gliederung beschriebene Aufbau. === Vorblätter === Die ersten, oft durch ihre Form oder Stellung von den nachfolgenden Blättern unterschiedenen Blätter an Seitenachsen, z. B. an Blütenstielen. Bei Einkeimblättrigen gewöhnlich 1, bei Zweikeimblättrigen gewöhnlich 2. Siehe auch: Blütendiagramm. === Blütenblätter === Morphologisch betrachtet, ist eine Blüte ein Kurzspross, die an diesem Kurzspross sitzenden Blätter sind zu den Blütenblättern umgebildet: Die Blütenhüllblätter sind entweder unterschiedlich ausgebildet als Kelch- (Sepalen) und Kronblätter (Petalen) oder einheitlich als Perigonblätter (Tepalen); nach innen hin folgen die Staub- und die Fruchtblätter. === Niederblätter === Niederblätter (Cataphylle) sind in der Regel klein und einfach gestaltet, vielfach schuppenförmig. Vielfach ist nur das Unterblatt ausgebildet. Meist sind sie nicht grün. An der Sprossachse stehen sie unterhalb der Laubblätter, daher der Name. Sie stehen entweder am Beginn des Grund- oder des Seitentriebes, bei Holzgewächsen stehen Niederblätter häufig als Knospenschuppen am unteren Ende des Jahrestriebes (nicht bei allen Gehölzen sind die Knospenschuppen jedoch Niederblätter). Hier wechseln sich Laubblatt- und Niederblattregion periodisch miteinander ab. Niederblätter finden sich auch an Rhizomen, unterirdischen Ausläufern. Auch die Zwiebelschuppen der Zwiebeln sind meist Niederblätter. === Hochblätter === Als Hochblätter bezeichnet man bei Pflanzen Tragblätter, die in ihrer Blattachsel eine Einzelblüte, einen Blütenstand oder einen Teilblütenstand tragen. Ein Tragblatt einer einzelnen Blüte nennt man Deckblatt. Als Hüllblätter (Involukralblätter) bezeichnet man Hochblätter, die meist zu mehreren einen Blütenstand umgeben. Ihre Gesamtheit nennt man Hülle (Involukrum). Die am Blütenzweig direkt auf die Braktee folgenden Blätter nennt man Vorblätter (Brakteolen). Häufig unterscheiden sich die Hochblätter von den normalen Laubblättern, z. B. durch eine auffällige Färbung. Von den Niederblättern sind sie nur durch die Stellung im Spross unterschieden. Häufig finden sich zwischen den Laub- und den Hochblättern Übergangsformen (Übergangsblätter). === Deckblätter === Ein Deckblatt, oder auch Braktee genannt, ist ein Hochblatt, das häufig einen Teilblütenstand oder einzelne Blüten in seiner Achsel trägt. Siehe auch: Tragblatt. == Blattstellung == Blätter sind an der Sprossachse in gesetzmäßiger, artspezifischer Weise angeordnet. An jedem Knoten der Sprossachse können ein oder mehrere Blätter sitzen, es gibt vier Grundarten der Blattstellung: Bei der zweizeiligen oder distichen Blattstellung steht an jedem Knoten nur ein Blatt, Blätter aufeinander folgender Knoten sind um 180° verschoben, sodass sich an der Sprossachse zwei Längszeilen von Blättern ergeben. Vertreter sind viele monokotyle Pflanzen und Schmetterlingsblütler. Bei wechselständiger Blattstellung sitzt ebenfalls nur ein Blatt an jedem Knoten, der Winkel zwischen zwei Blättern ist aber von 180° verschieden, die Blätter stehen entlang einer Spirallinie. Diese Anordnung ist für dikotyle Pflanzen charakteristisch. Bei der gegenständigen Blattstellung stehen an jedem Knoten zwei Blätter. Bei der dekussierten oder kreuzgegenständigen Blattstellung sind aufeinander folgende Blattpaare jeweils um 90 Grad gedreht, stehen also im rechten Winkel übereinander. Es entstehen vier Längszeilen. Vertreter sind Lippenblütler, Nelkengewächse und Ölbaumgewächse. Bei quirliger Blattstellung stehen an jedem Knoten drei oder mehr Blätter, wobei die Blätter des nächstjüngeren Knotens auf Lücke stehen. Vertreter sind z. B. die Rötegewächse (Waldmeister). == Metamorphosen der Blätter == Wie bei der Wurzel und der Sprossachse sind auch die Blätter vielfach durch Metamorphosen abgewandelt, um entweder ihre ursprüngliche Funktion an bestimmte Umweltbedingungen angepasst zu erfüllen oder überhaupt andere Funktionen zu übernehmen. === Sonnen- und Schattenblätter === ==== Sonnenblätter ==== Sonnenblätter, d. h. Blätter, die dem vollen Sonnenlicht ausgesetzt sind, bilden häufig ein mehrschichtiges, kleinzelliges Palisadenparenchym aus. Die Interzellularen im Schwammparenchym sind schwach ausgebildet. ==== Schattenblätter ==== Schattenblätter haben oft ein reduziertes Palisadenparenchym, die Blätter bestehen aus wenigen Zellschichten, die Zellen sind groß und besitzen wenige Chloroplasten. Das Interzellularensystem ist weiträumig, die Palisadenzellen sind kegelförmig. Die Wasserleitungsbahnen sind oft reduziert. Besonders bei Bäumen (z. B. Rotbuche) treten Sonnen- und Schattenblätter an einer Pflanze auf. Sonnenblätter leiten aber auch zu den xeromorphen Blättern über, Schattenblätter zu den hygromorphen Blättern. === Xeromorphe Blätter === Viele Pflanzen trockener Standorte reduzieren ihre Blätter vollständig oder wandeln sie in Dornen um, wie z. B. die Kakteengewächse. Dadurch wird die Oberfläche der Pflanze wesentlich reduziert und damit auch die Transpiration. Zahlreiche Xerophyten behalten jedoch ihre Blätter, deren Aufbau aber stark in Richtung Transpirations-Verminderung abgewandelt ist. Xeromorphe Blätter sind meist derb-lederig (Hartlaubgehölze, wie etwa Lorbeer, Myrte und Ölbaum). Die Spaltöffnungen sind tief in die Blattoberfläche eingesenkt, die dadurch entstehenden Vertiefungen (Krypten) sind mit Haaren versehen, welche die Luftkonvektion weiter behindern. Der substomatäre Interzellularraum kann mit Wachs verschlossen sein. Vielfach werden bei Trockenheit die Blätter eingerollt und so die Spaltöffnungen weiter eingeschlossen (z. B. Stipa capillata). Die Epidermis besitzt eine verdickte Cuticula mit starker Wachseinlagerung. Vielfach sind die Blätter dicht mit toten Haaren besetzt. Dies führt zu einem geringeren Luftaustausch und zu einem deutlich feuchteren Mikroklima direkt an der Blattoberfläche. Xeromorphe Blätter sind oft äquifazial aufgebaut. Auch das Nadelblatt weist einen typisch xeromorphen Bau auf, da die Nadelgehölze im Winter oft starker Frosttrocknis ausgesetzt sind. Da eine Verringerung der Transpiration jedoch zu einer Überhitzung führen kann, stellen manche Pflanzen ihre Blätter senkrecht zur Sonneneinstrahlung, wie etwa manche australischen Eukalypten, die „schattenlose Wälder“ bilden. === Hygromorphe Blätter === Hygromorphe Blätter sind eine Anpassung an immerfeuchte Standorte. Zusätzlich zu den Merkmalen der Schattenblätter besitzen sie große, dünnwandige Epidermiszellen, die häufig Chloroplasten führen und nur eine dünne Cuticula besitzen. Die Spaltöffnungen sind oft über die Epidermis emporgehoben, um die Transpiration zu erleichtern. Hygrophyten (Hygromorphe Blätter), die meist in tropischen Gebieten leben, haben nämlich die Schwierigkeit, wegen der hohen Luftfeuchtigkeit Wasser abzugeben, um somit neues (und damit auch Mineralien) aufzunehmen. Im Gegensatz zu Xerophyten die ihre Stoma nach innen gestülpt haben um möglichst wenig Wasser zu transpirieren, haben Hygrophyten ihre Spaltöffnung nach außen vorgestülpt. Manchmal kommt auch aktive Wasserausscheidung (Guttation) über die Stomata vor, dann hängen Wassertropfen an der hervorgestülpten Stoma, die vom Wind weggeweht oder von Tieren durch Berührung zu Boden fallen. Guttation ist die Ausscheidung von Wasser, das nicht mehr in Gasform vorliegt wie bei der Transpiration. === Nadelblatt === Die Nadelblätter der meisten Nadelholzgewächse (Pinophyta) sind großteils eine Anpassung an Trockenheit (Xeromorphie). Die meist immergrünen Bäume sind im Winter der Frosttrocknis ausgesetzt, d. h., durch den gefrorenen Boden kann die Pflanze kein Wasser aufnehmen und muss daher dem Wasserverlust über die Blätter entgegenwirken: Die Nadeln haben eine kleine Oberfläche, eine dicke Cuticula und die Spaltöffnungen sind in die Epidermis eingesenkt. Nadelblätter weisen weitere charakteristische Merkmale auf – die meisten Blätter sind äquifazial aufgebaut, Schwamm- und Palisadenparenchym sind nicht deutlich getrennt. Darüber hinaus gibt es einige bifaziale Nadelblätter, z. B. das der Weißtanne (Abies alba), die eine unterschiedliche Differenzierung nach Oberseite (Palisadenparenchym) und Unterseite (Schwammparenchym sowie weiße Wachsschicht mit Stomata) ähnlich einem Laubblatt aufweisen. Die Oberfläche der Mesophyllzellen einiger Pinusarten ist durch leistenförmige Wandeinstülpungen vergrößert (Armpalisaden-Parenchym). Zwischen diesem Parenchym und der Epidermis liegt ein sklerotisches (totes) Festigungsgewebe, die so genannte Hypodermis, aus extrem dicken Zellwänden. Die Epidermiszellen sind meistens mit sekundären und tertiären Wandverdickungen ebenfalls fast komplett ausgefüllt und weisen lediglich schmale Verbindungskanäle zur Nachbarzelle auf. Im Mesophyll verlaufen in Längsrichtung meist Harzkanäle. Die ein bis zwei unverzweigten Leitbündel sind von einer gemeinsamen Leitbündelscheide, der Endodermis, umgeben. Der Stofftransport zwischen Leitbündel und Mesophyll erfolgt durch ein spezielles Transfusionsgewebe (Strasburger-Zellen) sowie durch kurze tote Tracheiden. Das Leitbündel besteht wie in der Sprossachse und der Wurzel aus Xylem und Phloem. Dazwischen befindet sich eine dünne Kambiumschicht, die zur Neubildung von Siebzellen bei mehrjährigen Nadelblättern dient (Siebzellen sind sehr kurzlebig, siehe auch Bast). Xylem wird kaum neu gebildet. === Weitere Metamorphosen === ==== Dornen ==== Dornen dienen den Pflanzen zur Abwehr von Tieren. Blattdornen sind ein- oder mehrspitzige Umbildungen von Blättern oder Blattteilen aus sklerenchymatischem Gewebe. Die Dornen der Berberitze sind Umwandlungen des gesamten Blattes, sie treten an den Langtrieben auf. Nebenblattdornen (Stipulardornen) treten immer paarig auf und sind z. B. bei der Robinie zu finden. ==== Ranken ==== Ranken dienen der Pflanze zum Halt an Stützen. Sie können von allen Grundorganen des Blattes abgeleitet sein. Bei der Erbse sind beispielsweise die Endfiedern der Fiederblätter umgebildet, während bei der Platterbse die Ranke durch die Blattspreite gebildet wird, während die Nebenblätter die Photosynthese übernehmen. Bei manchen Pflanzen wird der Blattstiel für das Ranken benutzt – diese winden sich um die Stütze (z. B. Kannenpflanzen oder Zaunwinde). ==== Speicherorgane ==== An wasserarmen Standorten sind Blätter häufig zu wasserspeichernden Organen umgewandelt. Solche Blätter sind häufig äquifazial gebaut. An der Wasserspeicherung können entweder die Epidermis und subepidermales Gewebe beteiligt sein, oder es findet im Mesophyll statt. Wasserspeichernde Zellen besitzen immer sehr große Saftvakuolen. Sukkulente Blätter haben ein dickfleischiges, saftiges Aussehen. Pflanzen mit derartigen Blättern bezeichnet man als Blattsukkulenten. Wie auch bei der Sprosssukkulenz geht die Blattsukkulenz häufig mit dem CAM-Mechanismus einher. Typische Blattsukkulenten sind die Agaven oder die Hauswurz-Arten. Auch Zwiebeln bestehen aus Blättern und dienen der Speicherung. Eine Zwiebel ist eine äußerst gestauchte, unterirdische Sprossachse, der schalenförmig übereinander liegende, dickfleischige Schuppenblätter aufsitzen. Diese Schuppenblätter sind Niederblätter oder gehen aus dem Blattgrund abgestorbener Laubblätter hervor und dienen der Speicherung von Reservestoffen. In den ungünstigen Jahreszeiten überdauert die Pflanze als Zwiebel. Zwischen den Schuppenblättern treiben Achselknospen bei Beginn einer neuen Vegetationsperiode zu neuen Vegetationskörpern aus und verbrauchen dabei die gespeicherten Reservestoffe. Neben der Küchenzwiebel sind Tulpen, Lilien und Narzissen weitere Beispiele für Zwiebelpflanzen. Zwiebeln kommen nur bei Monokotylen vor. ==== Phyllodien ==== Wenn der Blattstiel verbreitert ist und die Funktion der Blattspreite übernimmt, so spricht man von Phyllodien. In diesem Fall ist die Blattspreite meistens stark reduziert. Beispiele finden sich bei den Akazien, bei denen sich häufig mehrere Übergangsstadien von den typischen Fiederblättern bis hin zu spreitenlosen Phyllodien an einer Pflanze finden. === Blätter fleischfressender Pflanzen === Bei vielen fleischfressenden Pflanzen sind die Blätter zu Organen umgewandelt worden, mit denen Beute gefangen und absorbiert wird, je nach Gattung werden sie entweder als Klebe-, Klapp- oder Fallgrubenfallen bezeichnet. Dabei sind bei einigen Pflanzengattungen die Blätter auch zu, teils sehr schnellen, Bewegungen fähig (Sonnentaugewächse, Wasserschläuche). Alle fleischfressenden Pflanzen sind in der Lage, mit der Oberfläche ihrer Fallen die gelösten Nährstoffe der Beute zu absorbieren, die im strengen Sinne karnivoren Pflanzen sind zusätzlich noch mit Drüsen auf der Oberfläche der Fallen versehen, durch die sie Enzyme ausscheiden, welche die Beute auflösen. === Blätter der Epiphyten === Epiphyten wachsen auf Bäumen oder anderen Pflanzen und sind daher für ihre Wasser- und Nährstoffversorgung rein auf Niederschläge und Luftfeuchtigkeit (Nebel) angewiesen. Viele Epiphyten bilden mit ihren Blättern trichterförmige Rosetten, in denen sich Regenwasser ansammelt. In den Trichtern der Nestfarne, z. B. (Asplenium nidus), sammelt sich mit der Zeit sogar Humus an, ebenso in den Mantelblättern der Geweihfarne (Platycerium). Die Gattung Dischidia (Asclepiadaceae) bildet schlauchförmige Blätter, in denen sich Ameisenkolonien ansiedeln, die Erde einschleppen. In diese „Blumentöpfe“ wachsen Adventivwurzeln ein. Ähnliches gilt auch für viele Lithophyten. Die meisten (vor allem epiphytische) Bromeliengewächse, zum Beispiel Tillandsia-Arten, bilden spezielle Absorptionshaare (Saugschuppen) aus, mit deren Hilfe sie Wasser über das Blatt aufnehmen können. == Stoffaustausch über die Oberfläche == Die wichtigsten Aufgaben der Blätter sind die Photosynthese, mit der der Austausch von Sauerstoff und Kohlenstoffdioxid mit der Umgebungsluft einhergeht, und die Transpiration, also die Abgabe von Wasser an die Atmosphäre. Diese Vorgänge werden in den jeweiligen Artikeln genauer beschrieben. Daneben gibt es noch eine Reihe weiterer Stoffe, welche die Blätter über die Luft aufnehmen bzw. an die Luft abgeben können. === Austausch über die Spaltöffnungen === Über die Spaltöffnungen werden vor allem gasförmige und sehr flüchtige Substanzen aufgenommen. Die wichtigsten sind Schwefeldioxid, Ammoniak und Stickstoffdioxid. Ammoniak kann in Gebieten mit intensiver Tierhaltung 10 bis 20 Prozent des Pflanzenstickstoffs liefern. Die Aufnahme von Ammoniak durch die Spaltöffnungen steigt linear mit der Außenkonzentration. Dasselbe gilt für Stickstoffdioxid. Schwefeldioxid führt in hohen Konzentrationen zur Schädigung der Photosynthese, geringe Konzentrationen können besonders bei Schwefelmangel im Boden zu besserem Wachstum führen. Pflanzen können aber über ihre Blätter auch Nährstoffe verlieren. So wurde der Verlust an Stickstoff durch die stomatäre Abgabe von Ammoniak für Reis auf 15 kg Stickstoff pro Hektar, für Weizen auf sieben kg Stickstoff pro Hektar berechnet, was in letzterem Fall 20 Prozent der Düngergabe entsprach. Bei hoher Schwefeldioxid-Belastung geben Blätter Schwefelwasserstoff ab. Dies wird als Entgiftungsmechanismus gedeutet. Aber auch Pflanzen ohne Schwefeldioxid-Belastung geben flüchtige Schwefelverbindungen ab, für Hafer und Raps wurden Werte von zwei bis drei Kilogramm Schwefel pro Hektar und Jahr errechnet. Pflanzen mit hohem Selen-Gehalt geben ebenfalls flüchtige Selen-Verbindungen, wie etwa Dimethylselen ab. === Aufnahme von gelösten Stoffen, Blattdüngung === Die Aufnahme gelöster Stoffe über die Blätter ist bei Landpflanzen durch die Cuticula der Epidermis stark eingeschränkt. Niedermolekulare Verbindungen wie Zucker sowie Mineralstoffe und Wasser können durch hydrophile Poren die Cuticula passieren. Diese Poren haben einen Durchmesser von einem Nanometer, dadurch kann z. B. Harnstoff (Durchmesser 0,44 Nanometer) leicht passieren. Die Poren sind negativ geladen, so dass Kationen leichter passieren können als Anionen. Damit wird z. B. Ammonium rascher aufgenommen als Nitrat. Poren treten besonders häufig in der Zellwand der Schließzellen auf, womit die häufig beobachtete positive Korrelation zwischen der Anzahl der Stomata und der Nährstoffaufnahme aus flüssigem appliziertem Dünger erklärt werden kann. Die weitere Aufnahme in die Zelle verläuft gleich wie bei der Nährstoffaufnahme der Wurzeln über den Apoplasten. Die Aufnahmerate ist bei gleicher externer Nährstoffkonzentration jedoch bei Blättern aufgrund des zusätzlichen Engpasses der Cuticula wesentlich geringer als bei der Wurzel. Im Gegensatz zu Wurzeln wird die Ionenaufnahme von Blättern durch Licht gefördert. Die Aufnahmerate ist auch abhängig von der internen Nährstoffkonzentration, d. h., die Aufnahme ist bei Nährstoffmangel rascher. In natürlichen Ökosystemen ist die Aufnahme von Nährstoffen nur bei Stickstoff und Schwefel von Bedeutung. Blattdüngung führt den Pflanzen die Nährstoffe in der Regel rascher zu als herkömmliche Bodendüngung. Daher wird sie trotz mancher Nachteile in vielen Bereichen eingesetzt. Zu den Nachteilen zählen: Abperlen von der hydrophoben Blattoberfläche Abwaschen durch Regen Bestimmte Nährstoffe wie Kalzium können von den Blättern nicht mehr in andere Pflanzenteile transportiert werden. Mit einer Blattdüngung kann nur eine begrenzte Menge an Nährstoffen aufgebracht werden (Ausnahme ist Harnstoff). Es kann zu Schäden am Blatt führen: Nekrosen und Verbrennungen.Unter bestimmten Bedingungen ist die Blattdüngung dennoch von großer praktischer Bedeutung: Nährstoffmangel im Boden: Auf Kalkböden, die Eisen immobilisieren, kann Blattdüngung mit Eisen vor Chlorosen schützen. Dasselbe gilt für Mangan-Mangel. Bei Obstbäumen kann im Herbst eine Blattdüngung mit Bor vor Bormangel schützen. Trockene Oberböden: In semiariden Gebieten ist die Nährstoffverfügbarkeit durch die Austrocknung des Oberbodens oft drastisch reduziert. In solchen Fällen ist Blattdüngung effektiver als Bodendüngung. Während der Samenfüllung ist bei vielen Pflanzen die Wurzelaktivität reduziert. Auch hier kann Blattdüngung zu höheren Nährstoffgehalten und auch Ernteerträgen führen.Bei der Bewässerung mit salzhaltigem Wasser kann es zu stark erhöhter Aufnahme von Chlorid und Natrium kommen. Dieser Effekt ist bei dieser Bewässerungsart stärker als bei der Tröpfchenbewässerung. === Leaching === Der Verlust von organischen und anorganischen Stoffen durch Flüssigkeiten, besonders Regen und Bewässerung, wird meist mit dem englischen Begriff Leaching (Lecken, Auswaschen) bezeichnet. Man unterscheidet vier Arten: Aktive Exkretion von Lösungen, z. B. die Exkretion von Salz durch Salzdrüsen in Halophyten. Exkretion von inorganischen Lösungen an Blattspitzen und -rändern durch Wurzeldruck: Guttation. Leaching aus verletzten Blattbereichen. Leaching aus dem Apoplasten von intakten Blättern.Von wesentlicher ökologischer Bedeutung sind die letzten beiden Arten. Der Verlust ist höher in alten Blättern und unter Stress (Trockenheit, hohe Temperatur, Ozon). Auch ein niedriger pH-Wert des Regens (saurer Regen) erhöht das Leaching. Die Kationen des Blattes werden wie in einem Ionenaustauscher durch Protonen ersetzt. Mit Ausnahme von Stickstoff und Schwefel überwiegt in natürlichen Ökosystemen das Leaching. Besonders hoch ist der Verlust in Gebieten mit starken Regenfällen. Für tropische Regenwälder wurden folgende Jahreswerte berechnet (in Kilogramm pro Hektar): Kalium 100–200, Stickstoff 12–60, Magnesium 18–45, Kalzium 25–29, und Phosphor 4–10. In gemäßigten Breiten fällt – verglichen mit den internen Blattgehalten – die hohe Leaching-Rate von Kalzium und Mangan auf. Diese Elemente sind nicht phloemmobil, d. h., sie sammeln sich in den Blättern an. Das starke Leaching wird als Strategie der Pflanzen gedeutet, zu hohe Konzentrationen zu vermeiden. Neben Mineralstoffen können auch größere Mengen an organischen Verbindungen durch Leaching verloren gehen. Für Wälder der gemäßigten Breiten wurden Werte von 25 bis 60 Kilogramm Kohlenstoff pro Hektar und Jahr errechnet, für tropische Wälder schätzt man die Menge auf mehrere hundert Kilogramm. == Das Blatt als Lebensraum == Blätter enthalten als physiologisch sehr aktive Pflanzenteile (Photosynthese) in der Regel sehr viele Nährstoffe und sind daher eine sehr wichtige Nahrungsquelle für eine Vielzahl von Tierarten. Etliche Tiergruppen benutzen jedoch die Blätter zugleich auch als Lebensraum. Hierzu zählen etwa die Blattminierer wie z. B. die Rosskastanienminiermotte. Dies sind Insekten, deren Larven Gänge im Inneren der Blätter fressen. Weitere Beispiele sind Blattroller (Familie Attelabidae), deren Weibchen Blätter einrollen und darin die Eier ablegen, so dass die Larven geschützt sind und Gallwespen, die mit der Eiablage die Bildung sogenannter Gallen, Wucherungen des Pflanzengewebes, auslösen, von denen sich die Larven ernähren. Blätter werden auch von einer Vielzahl von Pilzen befallen, wie etwa von Mehltau-, Brand- und Rostpilzen, die in landwirtschaftlichen und gartenbaulichen Kulturen große Schäden anrichten können. In Blättern leben auch oft endophytische Pilze, die zu keiner erkennbaren Schädigung der Pflanze führen. Auf Blättern können wiederum andere Pflanzen leben, man nennt diese Lebensform Epiphyllie. Epiphylle Moose und Flechten sind besonders häufig in den tropischen Regen- und Nebelwäldern. Den Lebensraum, den die unmittelbare Blattoberfläche für andere Organismen bietet, bezeichnet man auch als Phyllosphäre. == Literatur == Wolfram Braune, Alfred Leman, Hans Taubert: Pflanzenanatomisches Praktikum. 6. Auflage. Band 1. Zur Einführung in die Anatomie der Vegetationsorgane der Samenpflanzen. Gustav Fischer, Jena 1991, ISBN 3-334-60352-0, S. 176–220. Manfred A. Fischer, Wolfgang Adler, Karl Oswald: Exkursionsflora für Österreich, Liechtenstein und Südtirol. 2., verbesserte und erweiterte Auflage. Land Oberösterreich, Biologiezentrum der Oberösterreichischen Landesmuseen, Linz 2005, ISBN 3-85474-140-5, S. 72–84. Stefan Klotz, Dieter Uhl, Christopher Traiser, Volker Mosbrugger: Physiognomische Anpassungen von Laubblättern an Umweltbedingungen. in: Naturwissenschaftliche Rundschau. Stuttgart 58.2005,11, S. 581–586, ISSN 0028-1050 Ulrich Lüttge, Manfred Kluge, Gabriela Bauer: Botanik. Ein grundlegendes Lehrbuch. VCH, Weinheim u. a. 1988, ISBN 3-527-26119-2. Klaus Napp-Zinn: Anatomie des Blattes. T II. Blattanatomie der Angiospermen. B: Experimentelle und ökologische Anatomie des Angiospermenblattes. in: Handbuch der Pflanzenanatomie. Bd. 8 Teil 2 B. Borntraeger, Stuttgart 1988 (2. Lieferung), ISBN 3-443-14015-7. Schmeil, Fitschen: Flora von Deutschland und angrenzender Länder. Quelle & Meyer, Heidelberg/Wiesbaden 891993, ISBN 3-494-01210-5 Peter Sitte, Elmar Weiler, Joachim W. Kadereit, Andreas Bresinsky, Christian Körner: Lehrbuch der Botanik für Hochschulen. Begründet von Eduard Strasburger. 35. Auflage. Spektrum Akademischer Verlag, Heidelberg 2002, ISBN 3-8274-1010-X. == Weblinks == Aufbau eines typischen Laubblattes Blattquerschnitt (Übersicht) Blatt-Bilder aus dem Bildarchiv der Universität Basel Blattnervatur-Bilder aus dem Bildarchiv der Universität Basel Blattformen und Blattstellungen Beispiele für fossile, pliozäne Blätter == Einzelnachweise ==
https://de.wikipedia.org/wiki/Blatt_(Pflanze)
Arsen
= Arsen = Arsen [aʁˈzeːn] ist ein chemisches Element mit dem Elementsymbol As und der Ordnungszahl 33. Im Periodensystem der Elemente steht es in der 4. Periode und der 5. Hauptgruppe, bzw. 15. IUPAC-Gruppe oder Stickstoffgruppe. Arsen kommt selten gediegen vor, meistens in Form von Sulfiden. Es gehört zu den Halbmetallen, da es je nach Modifikation metallische oder nichtmetallische Eigenschaften zeigt. Umgangssprachlich wird auch das als Mordgift bekannte Arsenik meist einfach „Arsen“ genannt. Arsenverbindungen kennt man schon seit dem Altertum. Als mutagenes Klastogen können Arsenverbindungen als Gift wirken, welches Chromosomenaberrationen hervorrufen und somit karzinogene Wirkung besitzen kann.Arsen wird zur Dotierung von Halbleitern und als Bestandteil von III-V-Halbleitern wie Galliumarsenid genutzt. Die organische Arsenverbindung Arsphenamin (Salvarsan) galt trotz schwerer und schwerster Nebenwirkungen Anfang des 20. Jahrhunderts als Durchbruch in der Behandlung der Syphilis. Heute wird Arsentrioxid als letzte Behandlungsoption in der Therapie der Promyelozytenleukämie angewendet. == Geschichte == Der Name Arsen geht auf altgriechisch ἀρσενικόν arsenikón zurück, der antiken Bezeichnung des Arsenminerals Auripigment. Sie findet sich schon bei Dioskurides im 1. Jahrhundert. Die griechische Bezeichnung scheint ihrerseits ihren Ursprung im Altpersischen (al-)zarnik (goldfarben, Auripigment, „Arsen“) zu haben und gelangte wohl durch semitische Vermittlung ins Griechische. Volksetymologisch wurde der Name fälschlicherweise vom gleichlautenden (alt- und neu-)griechischen Wort αρσενικός arsenikós abgeleitet, das sich etwa mit männlich/stark übersetzen lässt. Erst seit dem 19. Jahrhundert ist die Bezeichnung Arsen gebräuchlich. Das Elementsymbol wurde 1814 von Jöns Jakob Berzelius vorgeschlagen. Der erste Kontakt von Menschen mit Arsen lässt sich aus dem 3. Jahrtausend v. Chr. nachweisen: In den Haaren der im Gletschereis erhaltenen Mumie des volkstümlich Ötzi genannten Alpenbewohners ließen sich größere Mengen Arsen nachweisen, was archäologisch als Hinweis darauf gedeutet wird, dass der betroffene Mann in der Kupferverarbeitung tätig war – Kupfererze sind oft mit Arsen verunreinigt. Im klassischen Altertum war Arsen in Form der Arsen-Sulfide Auripigment (As2S3) und Realgar (As4S4) bekannt, die etwa von dem Griechen Theophrastos, dem Nachfolger Aristoteles, beschrieben wurden. Auch der griechische Philosoph Demokrit hatte im 5. Jahrhundert v. Chr. nachweislich Kenntnisse über Arsenverbindungen. Der Leidener Papyrus X aus dem 3. Jahrhundert nach Chr. lässt darauf schließen, dass sie benutzt wurden, um Silber goldartig und Kupfer weiß zu färben. Der römische Kaiser Caligula hatte angeblich bereits im 1. Jahrhundert nach Chr. ein Projekt zur Herstellung von Gold aus dem (goldgelben) Auripigment in Auftrag gegeben. Die Alchimisten, die Arsen-Verbindungen nachweislich der Erwähnung im antiken Standardwerk Physica et Mystica kannten, vermuteten eine Verwandtschaft mit Schwefel und Quecksilber. Arsen(III)-sulfid kam als Malerfarbe und Enthaarungsmittel zum Einsatz sowie zur äußerlichen als auch inneren Behandlung von Lungenkrankheiten. Im Mittelalter wurde Arsenik (Arsen(III)-oxid) im Hüttenrauch (staubbeladenes Abgas metallurgischer Öfen) gefunden. Albertus Magnus beschrieb um 1250 erstmals die Herstellung von Arsen durch Reduktion von Arsenik mit Kohle. Er gilt daher als Entdecker des Elements, auch wenn es Hinweise darauf gibt, dass das elementare Metall schon früher hergestellt wurde. Paracelsus führte es im 16. Jahrhundert in die Heilkunde ein. Etwa zur gleichen Zeit wurden Arsenpräparate in der chinesischen Enzyklopädie Bencao Gangmu des Apothekers Li Shizhen beschrieben. Dieser Autor hebt insbesondere die Anwendung als Pestizid in Reisfeldern hervor. Im 17. Jahrhundert wurde das gelbe Auripigment bei niederländischen Malern als Königsgelb populär. Da sich das Pigment über längere Zeiträume hinweg in Arsen(III)-oxid umwandelt und von der Leinwand bröckelt, entstehen Schwierigkeiten bei der Restaurierung. Von 1740 bis 1808 wurden Arsenpräparate in Europa mit Erfolg als Beizmittel im Pflanzenschutz eingesetzt. Wegen ihrer hohen Giftigkeit wurde diese Nutzung schließlich verboten. Der Einsatz von Arsenzusätzen für den Bleiguss beruht auf der größeren Härte solcher Bleilegierungen, typische Anwendung sind Schrotkugeln. Obwohl die Giftigkeit und die Verwendung als Mordgift bekannt war, ist Arsen im beginnenden 19. Jahrhundert eines der bedeutendsten Asthmamittel. Grundlage sind anscheinend Berichte, in denen den Chinesen nachgesagt wurde, sie würden Arsen in Kombination mit Tabak rauchen, um Lungen zu bekommen, die stark wie Blasebälge seien. Ebenfalls bis ins 19. Jahrhundert fanden Arsenverbindungen äußerlich und innerliche Anwendungen bei bösartigen Geschwülsten, Hauterkrankungen und (etwa in Form der Fowlerschen Tropfen) bei Fieber.Arsen wurde in Form von Kupferarsenaten in Farbmitteln wie dem Pariser Grün eingesetzt, um Tapeten zu bedrucken. Bei hoher Feuchtigkeit wurden diese Pigmente durch Schimmelpilzbefall in giftige flüchtige Arsenverbindungen umgewandelt, die nicht selten zu chronischen Arsenvergiftungen führten. Im Ersten Weltkrieg wurden Arsenverbindungen in chemischen Kampfstoffen (Blaukreuz) oder Lewisit eingesetzt. Bei den Opfern bewirkten sie durch Angriff auf Haut und Lungen grausame Schmerzen und schwerste körperliche Schädigungen. == Vorkommen == Arsen kommt in geringen Konzentrationen von bis zu 10 ppm praktisch überall im Boden vor. Es ist in der Erdkruste ungefähr so häufig wie Uran oder Germanium. In der kontinentalen Erdkruste kommt Arsen mit durchschnittlich 1,7 ppm vor, wobei es durch seinen lithophilen Charakter (= Silikat liebend) in der oberen Kruste angereichert ist (2 ppm gegenüber 1,3 ppm in der unteren Kruste); damit liegt Arsen in der Tabelle der häufigsten Elemente an 53. Stelle. Arsen (Scherbenkobalt) kommt in der Natur gediegen, das heißt in elementarer Form, vor und ist daher von der International Mineralogical Association (IMA) als eigenständiges Mineral anerkannt. Gemäß der Systematik der Minerale nach Strunz (9. Auflage) wird Arsen unter der System-Nr. 1.CA.05 (Elemente – Halbmetalle (Metalloide) und Nichtmetalle – Arsengruppen-Elemente) (8. Auflage: I/B.01-10) eingeordnet. Die im englischsprachigen Raum ebenfalls geläufige Systematik der Minerale nach Dana führt das Element-Mineral unter der System-Nr. 01.03.01.01. Weltweit sind zurzeit (Stand: 2011) rund 330 Fundorte für gediegenes Arsen bekannt. In Deutschland wurde es an mehreren Fundstätten im Schwarzwald (Baden-Württemberg), im bayerischen Spessart und Oberpfälzer Wald, im hessischen Odenwald, in den Silberlagerstätten des Westerzgebirges (Sachsen), am Hunsrück (Rheinland-Pfalz), im Thüringer Wald sowie in Reichenstein/ Niederschlesien gefunden. In Österreich trat Arsen an mehreren Fundstätten in Kärnten, Salzburg und der Steiermark zutage. In der Schweiz fand sich gediegen Arsen in den Kantonen Aargau und Wallis. Weitere Fundorte sind in Australien, Belgien, Bolivien, Bulgarien, Chile, China, Finnland, Frankreich, Griechenland, Irland, Italien, Japan, Kanada, Kasachstan, Kirgisistan, Madagaskar, Malaysia, Marokko, Mexiko, Mongolei, Neuseeland, Norwegen, Österreich, Peru, Polen, Rumänien, Russland, Schweden, Slowakei, Spanien, Tschechien, Ukraine, Ungarn, im Vereinigten Königreich (Großbritannien) und in den Vereinigten Staaten (USA) bekannt. Weit häufiger kommt das Element in verschiedenen intermetallischen Verbindungen mit Antimon (Allemontit) und Kupfer (Whitneyit) sowie in verschiedenen Mineralen vor, die überwiegend der Klasse der Sulfide und Sulfosalze angehören. Insgesamt sind bisher (Stand: 2011) 565 Arsenminerale bekannt. Die höchsten Konzentrationen an Arsen enthalten dabei unter anderem die Minerale Duranusit (ca. 90 %), Skutterudit und Arsenolith (jeweils ca. 76 %), die allerdings selten zu finden sind. Weit verbreitet sind dagegen Arsenopyrit (Arsenkies), Löllingit, Realgar (Rauschrot) und Auripigment (Orpiment, Rauschgelb). Weitere bekannte Minerale sind Cobaltit (Kobaltglanz), Domeykit (Arsenkupfer), Enargit, Gersdorffit (Nickelarsenkies), Proustit (Lichtes Rotgültigerz, Rubinblende), Rammelsbergit sowie Safflorit und Sperrylith. Arsenate finden sich häufig in phosphathaltigen Gesteinen, da sie eine vergleichbare Löslichkeit aufweisen und das häufigste Sulfidmineral Pyrit kann bis zu einigen Massenprozent Arsen einbauen. Arsen wird heutzutage als Nebenprodukt der Verhüttung von Gold-, Silber-, Zinn-, Kupfer-, Cobalt- und weiteren Buntmetallerzen sowie bei der Verarbeitung von Phosphatrohstoffen gewonnen. Die größten Produzenten im Jahr 2009 waren China, Chile, Marokko und Peru. Arsen ist nur schwer wasserlöslich und findet sich daher nur in geringen Spuren, etwa 1,6 ppb (Milliardstel Massenanteilen) in Meeren und Ozeanen. In der Luft findet man Arsen in Form von partikulärem Arsen(III)-oxid. Als natürliche Ursache dafür hat man Vulkanausbrüche identifiziert, die insgesamt jährlich geschätzte 3000 Tonnen in die Erdatmosphäre eintragen. Bakterien setzen weitere 20.000 Tonnen in Form organischer Arsenverbindungen wie Trimethylarsin frei. Ein großer Teil am freigesetzten Arsen entstammt der Verbrennung fossiler Brennstoffe wie Kohle oder Erdöl. Die geschätzten Emissionen, verursacht durch den Straßenverkehr und stationäre Quellen, betrugen 1990 in der Bundesrepublik Deutschland 120 Tonnen (20 Tonnen in den alten, 100 Tonnen in den neuen Bundesländern). Die Außenluftkonzentration von Arsen liegt zwischen 0,5 und 15 Nanogramm pro Kubikmeter. == Gewinnung und Darstellung == Arsen fällt in größeren Mengen als Nebenprodukt bei der Gewinnung von Kupfer, Blei, Cobalt und Gold an. Dies ist die Hauptquelle für die kommerzielle Nutzung des Elements. Es kann durch thermische Reduktion von Arsen(III)-oxid mit Koks oder Eisen und durch Erhitzen von Arsenkies (FeAsS) oder Arsenikalkies (FeAs2) unter Luftabschluss in liegenden Tonröhren gewonnen werden. Dabei sublimiert elementares Arsen, das an kalten Oberflächen wieder in den festen Aggregatzustand zurückkehrt. FeAsS ( s ) ⟶ FeS ( s ) + As ( g ) {\displaystyle {\ce {FeAsS_{(s)}-> FeS_{(s)}{}+ As_{(g)}}}} Arsenkies zersetzt sich in Eisensulfid und elementares Arsen. FeAs 2 ( s ) ⟶ FeAs ( s ) + As ( g ) {\displaystyle {\ce {FeAs2_{(s)}-> FeAs_{(s)}{}+ As_{(g)}}}} Arsenikalkies zersetzt sich in Eisenarsenid und elementares Arsen.Für die Halbleitertechnik wird Arsen, dessen Reinheit über 99,99999 Prozent betragen muss, durch Reduktion von mehrfach destilliertem Arsen(III)-chlorid im Wasserstoffstrom hergestellt: 2 AsCl 3 + 3 H 2 ⟶ 6 HCl + 2 As {\displaystyle {\ce {2AsCl3 + 3H2 -> 6HCl + 2As}}} Arsentrichlorid reagiert mit Wasserstoff zu Chlorwasserstoff und elementarem Arsen.Früher wurde es auch durch Sublimation aus Lösungen in flüssigem Blei erzeugt. Dabei wird der Schwefel der Arsen-Erze durch das Blei in Form von Blei(II)-sulfid gebunden. Die hierbei erzielten Reinheiten von über 99,999 Prozent waren für Halbleiteranwendungen nicht ausreichend. Eine andere Möglichkeit besteht im Auskristallisieren bei hohen Temperaturen aus geschmolzenem Arsen oder in der Umwandlung in Monoarsan, einer anschließenden Reinigung sowie der Zersetzung bei 600 °C in Arsen und Wasserstoff. == Eigenschaften == Arsen bildet mit Stickstoff, Phosphor, Antimon und Bismut die 5. Hauptgruppe des Periodensystems und nimmt wegen seiner physikalischen und chemischen Eigenschaften den Mittelplatz in dieser Elementgruppe ein. Arsen hat eine relative Atommasse von 74,92159. Der Radius des Arsen-Atoms beträgt 124,5 Pikometer. In kovalent gebundenem Zustand ist er etwas kleiner (121 Pikometer). Aufgrund der Abgabe der äußeren Elektronen (Valenzelektronen) bei der Ionisierung reduziert sich der Radius beträchtlich auf 34 Pikometer (As5+; das äußerste p- und das äußerste s-Atomorbital bleiben unbesetzt) beziehungsweise 58 Pikometer (As3+; nur das p-Orbital ist unbesetzt). In chemischen Komplexverbindungen ist das As5+-Kation von vier Bindungspartnern (Liganden), As3+ von sechs umgeben. Arsen tritt allerdings nur sehr selten in eindeutig ionischer Form auf. Der Wert für die Elektronegativität liegt nach Pauling auf der von 0 (Metalle) bis 4 (Nichtmetall) reichenden Skala bei 2,18 und ist damit mit dem Wert des Gruppennachbarn Phosphor vergleichbar. Der Halbmetall-Charakter des Arsens zeigt sich zudem darin, dass die benötigte Dissoziationsenergie von 302,7 kJ/mol, also die Energie, die aufgebracht werden muss, um ein einzelnes Arsen-Atom aus einem Arsen-Festkörper herauszulösen, zwischen der des Nichtmetalls Stickstoff (473,02 kJ/mol; kovalente Bindung) und des Metalls Bismut (207,2 kJ/mol; metallische Bindung) liegt. Unter Normaldruck sublimiert Arsen bei einer Temperatur von 613 °C, geht also aus dem festen Aggregatzustand direkt in die Gasphase über. Arsendampf ist zitronengelb und setzt sich bis ungefähr 800 °C aus As4-Molekülen zusammen. Oberhalb von 1700 °C liegen As2-Moleküle vor. Arsen zeigt je nach Verbindungspartner Oxidationsstufen zwischen −3 und +5. Mit elektropositiven Elementen wie Wasserstoff oder Metallen bildet es Verbindungen, in denen es eine Oxidationsstufe von −3 einnimmt. Beispiele dafür sind Monoarsan (AsH3) und Arsenkupfer (Cu3As). In Verbindungen mit elektronegativen Elementen wie den Nichtmetallen Sauerstoff, Schwefel und Chlor besitzt es die Oxidationsstufe +3 oder +5; erstere ist dabei gegenüber den in derselben Hauptgruppe stehenden Elementen Stickstoff und Phosphor tendenziell bevorzugt. === Modifikationen === Arsen kommt wie andere Elemente der Stickstoffgruppe in verschiedenen allotropen Modifikationen vor. Anders als beim Stickstoff, der in Form zweiatomiger Moleküle mit kovalenter Dreifachbindung vorkommt, sind die entsprechenden As2-Moleküle instabil und Arsen bildet stattdessen kovalente Netzwerke aus. ==== Graues Arsen ==== Graues oder metallisches Arsen ist die stabilste Form. Es hat eine Dichte von 5,73 g/cm3. Seine Kristalle sind stahlgrau, metallisch glänzend und leiten den elektrischen Strom. Betrachtet man den strukturellen Aufbau des grauen Arsens, dann erkennt man Schichten aus gewellten Arsen-Sechsringen, welche die Sesselkonformation einnehmen. Darin bilden die Arsen-Atome eine Doppelschicht, wenn man sich den Aufbau der Schicht im Querschnitt ansieht. Die Übereinanderlagerung dieser Doppelschichten ist sehr kompakt. Bestimmte Atome der nächsten darüberliegenden oder darunterliegenden Schicht sind von einem Bezugsatom fast ähnlich weit entfernt wie innerhalb der betrachteten Doppelschicht. Dieser Aufbau bewirkt, dass die graue Arsen-Modifikation wie die homologen Elemente Antimon und Bismut sehr spröde ist. Deswegen werden diese drei Elemente häufig auch als Sprödmetalle bezeichnet. ==== Gelbes Arsen ==== Wird Arsen-Dampf, in dem Arsen gewöhnlich als As4-Tetraeder vorliegt, schnell abgekühlt, so bildet sich das metastabile gelbe Arsen mit einer Dichte von 1,97 g/cm3. Es besteht ebenfalls aus tetraedrischen As4-Molekülen. Gelbes Arsen ist ein Nichtmetall und leitet infolgedessen den elektrischen Strom nicht. Es kristallisiert aus Schwefelkohlenstoff und bildet kubische, stark lichtbrechende Kristalle, die nach Knoblauch riechen. Bei Raumtemperatur und besonders schnell unter Lichteinwirkung wandelt sich gelbes Arsen in graues Arsen um. ==== Schwarzes Arsen ==== Schwarzes Arsen selbst kann seinerseits in zwei verschiedenen Formen vorkommen. Amorphes schwarzes Arsen entsteht durch Abkühlung von Arsen-Dampf an 100 bis 200 °C warmen Oberflächen. Es besitzt keine geordnete Struktur, sondern liegt in einer amorphen, glasartigen Form vor, analog zum roten Phosphor. Die Dichte beträgt 4,7 bis 5,1 g/cm3. Oberhalb 270 °C wandelt sich das schwarze Arsen in die graue Modifikation um. Wird glasartiges, amorphes schwarzes Arsen bei Anwesenheit von metallischem Quecksilber auf 100 bis 175 °C erhitzt, so entsteht das metastabile orthorhombische schwarze Arsen, das mit dem schwarzen Phosphor vergleichbar ist. Natürlich gebildetes orthorhombisches schwarzes Arsen ist in der Natur als seltenes Mineral Arsenolamprit bekannt. ==== Braunes Arsen ==== Bei der Reduktion von Arsenverbindungen in wässriger Lösung entstehen ähnlich wie beim Phosphor Mischpolymerisate. Bei diesen bindet ein Teil der freien Valenzen des Arsens Hydroxygruppen (–OH). Man nennt diese Form des Arsens braunes Arsen. === Reaktionen === Arsen reagiert heftig mit Oxidationsmitteln und Halogenen. So verbrennt Arsen an der Luft mit bläulicher Flamme zu einem weißen Rauch von giftigem Arsen(III)-oxid. 4 As + 3 O 2 ⟶ 2 As 2 O 3 {\displaystyle {\ce {4As + 3O2 -> 2As2O3}}} Arsen reagiert mit Sauerstoff zu Arsen(III)-oxid.Ohne äußere Wärmezufuhr findet die Reaktion mit Chlor unter Feuererscheinung zu Arsen(III)-chlorid statt. 2 As + 3 Cl 2 ⟶ 2 AsCl 3 {\displaystyle {\ce {2As + 3Cl2 -> 2AsCl3}}} Arsen reagiert mit Chlor zu Arsentrichlorid.Eine weitere Oxidation ist möglich. AsCl 3 + Cl 2 ⟶ AsCl 5 {\displaystyle {\ce {AsCl3 + Cl2 -> AsCl5}}} Arsentrichlorid reagiert mit Chlor zu Arsenpentachlorid.Analoge Reaktionsgleichungen gelten für die entsprechenden Reaktionen mit Fluor. Stark oxidierende Säuren, wie konzentrierte Salpetersäure oder Königswasser, wandeln Arsen in Arsensäure um. As + 5 HNO 3 ⟶ 5 NO 2 + H 2 O + H 3 AsO 4 {\displaystyle {\ce {As + 5HNO3 -> 5NO2 + H2O + H3AsO4}}} Arsen reagiert mit Salpetersäure zu Stickstoffdioxid, Wasser und Arsensäure.Ist die Oxidationsstärke weniger groß – etwa bei Verwendung von verdünnter Salpetersäure oder Schwefelsäure – entsteht Arsenige Säure. 2 As + 3 H 2 SO 4 ⟶ 3 SO 2 + 2 H 3 AsO 3 {\displaystyle {\ce {2As + 3H2SO4 -> 3SO2 + 2H3AsO3}}} Arsen reagiert mit Schwefelsäure zu Schwefeldioxid und Arseniger Säure.Unter sauren Bedingungen und bei Anwesenheit von nichtpassivierten unedlen Metallen, insbesondere Zink, reagiert Arsen mit dem gebildeten Wasserstoff zu Monoarsan. Zn + 2 H 3 O + ⟶ Zn 2 + + H 2 + 2 H 2 O {\displaystyle {\ce {Zn + 2H3O+ -> Zn^2+ + H2 + 2 H2O}}} Zink reagiert mit Wasserstoffionen zu Zinkionen und neutralem Wasserstoff. 2 As + 3 H 2 ⟶ 2 AsH 3 {\displaystyle {\ce {2As + 3H2 -> 2AsH3}}} Arsen reagiert mit Wasserstoff zu Monoarsan.Mit basischem Natriumhydroxid bildet sich das entsprechende Arsenitsalz. 2 As + 6 NaOH ⟶ 2 Na 3 AsO 3 + 3 H 2 {\displaystyle {\ce {2As + 6NaOH -> 2Na3AsO3 + 3H2}}} Arsen reagiert mit Natriumhydroxid zu Natriumarsenit und elementarem Wasserstoff. == Isotope == Vom Arsen sind künstlich hergestellte, radioaktive Isotope mit Massenzahlen zwischen 65 und 87 bekannt. Die Halbwertszeiten liegen zwischen 96 Millisekunden (66As) und 80,3 Tagen (73As). Natürlich vorkommendes Arsen besteht zu 100 Prozent aus dem Isotop 75As, es ist daher ein anisotopes Element. Der entsprechende Arsen-Kern besteht also aus genau 33 Protonen und 42 Neutronen. Physikalisch zählt man ihn daher zu den ug-Kernen (u steht hier für ungerade, g für gerade). Sein Kernspin beträgt 3/2. Generell sind Kerne mit einer ungeraden Anzahl Kernbausteinen tendenziell instabiler, wobei Kerne mit ungerader Protonen- und Neutronenzahl zumeist zu einem Element benachbarter Ordnungszahl und gerader Anzahl Protonen und Neutronen betazerfallen. Daraus und aus der Stabilität vieler Isotope der benachbarten Elemente Selen und Germanium ergibt sich die Tatsache, dass Arsen nur ein stabiles Isotop besitzt. == Verwendung == Arsen wird Bleilegierungen zugesetzt, um ihre Festigkeit zu verbessern und das Blei gießbarer zu machen. Vor allem die fein strukturierten Platten von Akkumulatoren könnten ohne Arsen nicht gegossen werden. Historisch war Arsen eine wichtige Zutat von Kupferlegierungen, die dadurch besser verarbeitbar wurden. Metallisches Arsen wurde früher gelegentlich zur Erzeugung mattgrauer Oberflächen auf Metallteilen verwendet, um eine Alterung vorzutäuschen. In der Elektronik spielt es als mindestens 99,9999 Prozent reines Element für Gallium-Arsenid-Halbleiter, sogenannte III-V-Halbleiter (aufgrund der Kombination von Elementen aus der 3. und 5. Hauptgruppe des Periodensystems), sowie für Epitaxieschichten auf Wafern in Form von Indiumarsenidphosphid und Galliumarsenidphosphid eine wesentliche Rolle in der Herstellung von Hochfrequenzbauelementen wie Integrierten Schaltkreisen (ICs), Leuchtdioden (LEDs) beziehungsweise Laserdioden (LDs). Es gab Anfang 2004 weltweit nur drei Hersteller von hochreinem Arsen, zwei in Deutschland und einen in Japan. Arsen wird in Form seiner Verbindungen in einigen Ländern als Schädlingsbekämpfungsmittel im Weinbau, als Fungizid (Antipilzmittel) in der Holzwirtschaft, als Holzschutzmittel, als Rattengift und als Entfärbungsmittel in der Glasherstellung verwendet. Der Einsatz ist umstritten, da die eingesetzten Arsenverbindungen (hauptsächlich Arsen(III)-oxid) giftig sind. === Arsen in Arzneimitteln === Die Verwendung arsenhaltiger Mineralien als Heilmittel ist bereits in der Antike durch Hippokrates und Plinius bezeugt. Sie wurden als Fiebermittel, als Stärkungsmittel und zur Therapie von Migräne, Rheumatismus, Malaria, Tuberkulose und Diabetes eingesetzt. Im 18. Jahrhundert wurde eine Mischung aus Kaliumarsenit und Lavendelwasser als Fowler’sche Lösung bekannt, die lange als medizinisches Wundermittel galt und als Fiebersenker, Heilwasser und sogar als Aphrodisiakum Anwendung fand. Kaliumarsenit war als Bestandteil der Fowler’schen Lösung bis in die 1960er Jahre in Deutschland als Mittel zur Behandlung der Psoriasis im Einsatz.Constantinus Africanus (1017–1087) empfahl eine Arsenapplikation zur Bekämpfung von Zahnschmerzen. Bereits um 2700 vor Christus soll die Anwendung von Arsen zur Behandlung eines schmerzenden Zahnes in der chinesischen Heilkunst beschrieben worden sein. In dem Mitte des 10. Jahrhunderts erschienenen Werk „Liber Regius“ empfahl der arabische Arzt Haly Abbas (ʿAli ibn al-ʿAbbās; † 944) ebenfalls den Einsatz von Arsenik zur Devitalisation der Pulpa. Arsen(III)-oxid wurde bis in die Neuzeit zur Devitalisation der Zahnpulpa verwendet und verschwand in den 1970er Jahren wegen der krebserregenden Wirkung, Entzündungen des Zahnhalteapparates, des Verlustes eines oder mehrerer Zähne einschließlich Nekrosen des umliegenden Alveolarknochens, Allergien und Vergiftungserscheinungen aus dem Therapiespektrum.Einen Aufschwung erlebten arsenhaltige bzw. Arsenverbindungen enthaltende Arzneimittel zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Harold Wolferstan Thomas und Anton Breinl konnten 1905 beobachten, dass das arsenhaltige Präparat Atoxyl Trypanosomen, zu denen die Erreger der Schlafkrankheit gehören, abtötet. 1907 behandelte Paul Uhlenhuth die Hühnerspirochaetose und die Syphilis mit organischen Arsenverbindungen. 1920 wurde eine Weiterentwicklung, das Tryparsamid, in der Zeit von 1922 bis 1970 im tropischen Afrika zur Therapie der Schlafkrankheit eingesetzt. Es war bedeutsam für die Eingrenzung dieser Epidemie in der ersten Hälfte des vorigen Jahrhunderts, konnte jedoch zur Erblindung führen. Das in den 1950er Jahren entwickelte Melarsoprol war über mehrere Jahrzehnte das Mittel der Wahl zur Behandlung der Schlafkrankheit und wird heute noch eingesetzt, da keine effektiven Nachfolgepräparate zur Verfügung stehen. Ebenfalls angeregt durch die Trypanosomen-toxische Wirkung von Atoxyl entwickelte Paul Ehrlich das arsenhaltige Arsphenamin (Salvarsan). Das 1910 in die Therapie der Syphilis eingeführte Mittel stellte das erste auf theoretischen Vorüberlegungen beruhende, systematisch entwickelte, spezifisch wirkende Chemotherapeutikum dar und war Vorbild für die Entwicklung der bis heute verwendeten Sulfonamide. Es wurde lange Zeit auch bei der Behandlung von Dysenterie eingesetzt.Im Jahr 2000 wurde ein arsenikhaltiges Präparat unter dem Namen Trisenox in den USA zur Behandlung der akuten Promyelozytenleukämie (APL) zugelassen. Seit 2002 besteht für Trisenox in Europa eine Zulassung zur Behandlung der APL, (Vertrieb in EU und USA: Cephalon). Seine Wirksamkeit bei der Krebstherapie wird auch auf die antiangioneogenetische Wirkung zurückgeführt. Die verschiedenen Arsensulfide sind Bestandteil von Arzneimitteln der Chinesischen Medizin. === Arsenik als Insektizid bei der Taxidermie === Aufgrund der toxischen Eigenschaften von Arsenverbindungen wurde früher überwiegend Arsenik zur Haltbarmachung von Wirbeltieren (Taxidermie) als Insektizid verwendet. Viele andere Stoffe, wie auch Lindan, wurden zum selben Zweck verwendet, wie es die Fachliteratur der Präparatoren aus der Zeit von 1868 bis 1996 beschreibt. Solche Stoffe sind jedoch auch für Menschen giftig und stellen heute an Präparatoren besondere Anforderungen, da diese auch in Kontakt mit derart kontaminierten Präparaten kommen. == Biologische Bedeutung == Die biologische Bedeutung des Arsens für den Menschen ist nicht vollständig geklärt. Es gilt als Spurenelement im Menschen, Mangelerscheinungen wurden bisher aber nur an Tieren nachgewiesen. Der notwendige Bedarf liegt, falls er bestehen sollte, zwischen 5 und 50 µg pro Tag. Eine tägliche Arsenaufnahme von – je nach Wahl der Nahrungsmittel – bis zu einem Milligramm gilt als harmlos. In einer neuen Studie konnte eine erhöhte Arsenbelastung durch hohe Arsengehalte im Grundwasser von Reisanbaugebieten mit der Entstehung von Krebserkrankungen in Verbindung gebracht werden. Die Förderung der Krebsentwicklung ist jedoch dosisabhängig und nur bei Verzehr von belastetem Reis als täglichem Grundnahrungsmittel gegeben. Es gibt bei regelmäßigem Verzehr von Arsenverbindungen, speziell Arsentrioxid eine Gewöhnung, die beim Absetzen der Dosis sogar von Entzugserscheinungen begleitet wird. Menschen, die wegen der stimulierenden Allgemeinwirkung früher häufig Arsenik konsumierten (vor allem in der Steiermark), wobei häufig Gewöhnung und Sucht eintrat, werden Arsenikesser genannt.Meerestiere wie Muscheln oder Garnelen enthalten besonders viel Arsen, letztere bis zu 175 ppm. Vermutlich agiert es durch die Bindung an freie Thiolgruppen in Enzymen als Inhibitor, verhindert also deren Wirkung. Für viele Tiere ist Arsen ein essentielles Spurenelement. So zeigen Hühner oder Ratten bei arsenfreier Ernährung deutliche Wachstumsstörungen; dies hängt wahrscheinlich mit dem Einfluss des Elements auf die Verstoffwechslung der Aminosäure Arginin zusammen. Zahlreiche Algen und Krebstiere enthalten organische Arsen-Verbindungen wie das schon erwähnte Arsenobetain. Arsen führt zur verstärkten Bildung der sauerstofftransportierenden roten Blutkörperchen. Aus diesem Grund wurde es früher dem Futter von Geflügel und Schweinen zugesetzt, um eine schnellere Mästung zu ermöglichen. Trainer von Rennpferden benutzten es zum illegalen Doping ihrer Tiere – heute kann der Zusatz von Arsen zur Nahrung allerdings leicht im Urin nachgewiesen werden. Lösliche Arsenverbindungen werden leicht über den Magen-Darm-Trakt aufgenommen und rasch innerhalb von 24 Stunden im Körper verteilt. Man findet den größten Teil des aufgenommenen Arsens in den Muskeln, Knochen, Nieren und Lungen. Im Menschen wurde es zusammen mit Thallium in fast jedem Organ nachgewiesen. Blut enthält bis zu 8 ppb Arsen, in den anderen Organen des Körpers wie etwa den Knochen hat es einen Anteil von zwischen 0,1 und 1,5 ppm, in Haaren liegt der Anteil bei etwa 1 ppm. Der Gesamtgehalt von Arsen im Körper eines Erwachsenen liegt im Durchschnitt bei etwa 7 Milligramm. Organische Arsenverbindungen wie die aus Fischen und Meeresfrüchten stammende Dimethylarsinsäure, Trimethylarsenoxid, Trimethylarsin sowie Arsenobetain verlassen den menschlichen Körper fast unverändert innerhalb von zwei bis drei Tagen über die Nieren. Anorganische Arsenverbindungen werden in der Leber zu Monomethylarsonsäure (MMAA) und Dimethylarsinsäure (DMAA) umgewandelt und anschließend ebenso über die Nieren ausgeschieden. Bei Pflanzen erhöht das Element den Kohlenhydrat-Umsatz. Der Gebänderte Saumfarn (Pteris vittata) nimmt das Halbmetall bevorzugt aus dem Boden auf und kann bis zu fünf Prozent seines Trockengewichts an Arsen aufnehmen. Aus diesem Grund wird die schnellwachsende Pflanze zur biologischen Säuberung arsenkontaminierter Böden eingesetzt. Die stimulierende Wirkung des Arsens ist vermutlich auch Ursache des früher in einigen Alpengegenden verbreiteten Arsenikessens. Im 17. Jahrhundert verzehrten manche der dortigen Bewohner lebenslang zweimal wöchentlich bis zu 250 Milligramm Arsen – bei Männern, weil es bei der Arbeit in den Höhenlagen half, bei Frauen, da es angeblich zu einer kräftigen Gesichtsfarbe beitrug. In der Wissenschaft lange als Märchen abgetan, nahm ein Bauer aus den Steirischen Alpen 1875 vor der in Graz versammelten deutschen Fachwelt eine Dosis von 400 Milligramm Arsentrioxid zu sich, die sich später auch in seinem Urin nachweisen ließ. Die Dosis lag weit über dem Doppelten der für normale Menschen tödlichen Arsenmenge, zeigte aber keinerlei negative Auswirkungen auf den Bauern. Ähnliches wird von Bewohnern einer Siedlung in der hochgelegenen chilenischen Atacamawüste berichtet, deren Trinkwasser hochgradig mit Arsen belastet ist, die jedoch keinerlei Vergiftungssymptome zeigen. Heute geht man davon aus, dass eine langsame Gewöhnung an das Gift mit sukzessive steigenden Dosen physiologisch möglich ist. Über den Bakterienstamm GFAJ-1 wurde 2010 berichtet, dass er unter bestimmten Bedingungen in arsenathaltigen Nährmedien in der Lage sei, Arsenat anstatt Phosphat in Biomoleküle wie die DNA einzubauen, ohne dabei abzusterben, was bisher eher als unmöglich galt. Der Befund scheint jedoch auf unsauberen Arbeitsmethoden zu basieren, die Befunde konnten nicht repliziert werden. == Sicherheitshinweise == Arsen-Stäube sind leicht entzündlich. === Toxizität === Dreiwertige lösliche Verbindungen des Arsens sind hoch toxisch, weil sie biochemische Prozesse wie die DNA-Reparatur, den zellulären Energiestoffwechsel, rezeptorvermittelte Transportvorgänge und die Signaltransduktion stören. Dabei kommt es mutmaßlich nicht zu einer direkten Einwirkung auf die DNA, sondern zu einer Verdrängung des Zink-Ions aus seiner Bindung zu Metallothioneinen und damit zur Inaktivierung von Tumorsupressorproteinen (siehe auch Zinkfingerprotein). Arsen(III)- und Zink(II)-Ionen haben vergleichbare Ionenradien und damit ähnliche Affinität zu diesen Zinkfingerproteinen, allerdings führt Arsen dann nicht zur Aktivierung der Tumorsupressorproteine. Eine akute Arsenvergiftung führt zu Krämpfen, Übelkeit, Erbrechen, inneren Blutungen, Durchfall und Koliken, bis hin zu Nieren- und Kreislaufversagen. Bei schweren Vergiftungen fühlt sich die Haut feucht und kalt an und der Betroffene kann in ein Koma fallen. Die Einnahme von 60 bis 170 Milligramm Arsenik gilt für Menschen als tödliche Dosis (LD50 = 1,4 mg/kg Körpergewicht); meist tritt der Tod innerhalb von mehreren Stunden bis wenigen Tagen durch Nieren- und Herz-Kreislauf-Versagen ein. Eine chronische Arsenbelastung kann Krankheiten der Haut und Schäden an den Blutgefäßen hervorrufen, was zum Absterben der betroffenen Regionen (Black Foot Disease) sowie zu bösartigen Tumoren der Haut, Lunge, Leber und Harnblase führt. Diese Symptome wurden auch als Reichensteiner Krankheit bezeichnet, nach einem Ort in Schlesien, dessen Trinkwasser durch den Arsenik-Abbau bis zu 0,6 mg Arsen pro Liter enthielt.Die chronische Arsen-Vergiftung führt über die Bindung an Sulfhydryl-Gruppen von Enzymen der Blutbildung (zum Beispiel Delta-Amino-Laevulin-Säure-Synthetase) zu einem initialen Abfall des Hämoglobins im Blut, was zu einer reaktiven Polyglobulie führt. Des Weiteren kommt es bei chronischer Einnahme von Arsen zur Substitution der Phosphor-Atome im Adenosin-Triphosphat (ATP) und damit zu einer Entkopplung der Atmungskette, was zu einer weiteren reaktiven Polyglobulie führt. Klinisch finden sich hier nach Jahren der As-Exposition Trommelschlägelfinger, Uhrglasnägel, Mees-Nagelbänder und Akrozyanose (Raynaud-Syndrom), mit Folge der Black Foot Disease. Metallisches Arsen dagegen zeigt wegen seiner Unlöslichkeit nur eine geringe Giftigkeit, da es vom Körper kaum aufgenommen wird (LD50 = 763 mg/kg Ratte, oral). Es sollte aber, da es sich an der Luft leicht mit seinen sehr giftigen Oxiden wie dem Arsenik überzieht, stets mit größter Vorsicht behandelt werden. Anders verhält es sich mit Arsenik, das in früheren Zeiten als Stimulans von Arsenikessern benutzt wurde, um einer Arsenvergiftung vorzubeugen. Der Mechanismus dieser Immunisierung gegen Arsen ist nicht bekannt. === Grenzwerte === Anionisches Arsen tritt als Arsenit ([AsO3]3−) und Arsenat ([AsO4]3−) in vielen Ländern im Grundwasser in hohen Konzentrationen auf. Durch Auswaschungen aus arsenhaltigen Erzen in Form von drei- und fünfwertigen Ionen trinken weltweit über 100 Millionen Menschen belastetes Wasser. Besonders in Indien, Bangladesh und Thailand, wo im 20. Jahrhundert mit internationaler Unterstützung zahlreiche Brunnen gegraben wurden, um von mit Krankheitserregern kontaminiertem Oberflächenwasser auf Grundwasser ausweichen zu können, führte diese unerkannte Belastung des Trinkwassers zu chronischer Arsenvergiftung bei weiten Teilen der betroffenen Bevölkerung. Das Problem kann, wo es bekannt wird, chemisch durch Oxidation der Arsenverbindungen und nachfolgende Ausfällung mit Eisenionen behoben werden. Von der Rice University wurde eine kostengünstige Filtermöglichkeit mit Nano-Magnetit entwickelt. Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) empfiehlt seit 1992 einen Grenzwert für Arsen im Trinkwasser von 10 Mikrogramm pro Liter. Der Wert wird in einigen Staaten Osteuropas und in den USA immer noch überschritten. In Deutschland wird er dagegen seit 1996 eingehalten. In der EU ist der Gehalt an Arsen im Trinkwasser seit 1998, aktuell durch die Richtlinie (EU) 2020/2184, auf einen Höchstwert von 10 Mikrogramm pro Liter begrenzt. Auch in Mineralwässern ist der Höchstwert an Arsen in der EU durch die Richtlinie 2003/40/EG auf 10 μg/l festgelegt. Die USA verpflichteten sich im Jahre 2001, diesen Grenzwert ab 2006 einzuhalten. === Anreicherung in Nahrungsmitteln === Das im Grundwasser vorkommende Arsen reichert sich in Reis zehnmal so stark an wie in anderen Getreidearten. Auf dem Weltmarkt angebotene Sorten enthalten zwischen 20 und 900 Mikrogramm Arsen pro Kilogramm. Im Jahr 2005 senkte die chinesische Regierung den zulässigen Gehalt anorganischer Arsenverbindungen von 700 auf 150 Mikrogramm pro Kilogramm Lebensmittel, im Juli 2014 beschloss die Codex-Alimentarius-Kommission erstmals einen Höchstwert von 200 Mikrogramm für polierten Reis. In der EU werden die Höchstmengen an Arsen in Lebensmitteln durch die Verordnung (EG) Nr. 1881/2006 geregelt. Der Gehalt an anorganischem Arsen darf in Reis dabei folgende Grenzwerte nicht überschreiten: geschliffener Reis 0,20 mg/kg, geschälter oder Parboiled Reis 0,25 mg/kg, Reiskekse, Reiswaffeln, Reiskräcker und Reiskuchen 0,30 mg/kg und Reis für die Herstellung von Lebensmitteln für Säuglinge und Kleinkinder 0,10 mg/kg. Für andere belastete Lebensmittel wie Bier oder Fruchtsäfte gibt es noch keine Grenzwerte, obwohl sie mehr Arsen enthalten können, als für Trinkwasser zulässig ist. Verbraucherorganisationen fordern für Apfelsaft einen Grenzwert von 3, höchstens aber 4,4 ppb (entspricht Mikrogramm pro kg).Fische und Meeresfrüchte weisen zwar hohe Gehalte an Arsen auf, jedoch nahezu ausschließlich in der als unbedenklich geltenden organisch gebundenen Form. Grenzwerte wie für Quecksilber oder Cadmium gibt es nicht. Das neue Chemikaliengesetz der EU, umgesetzt in der Gefahrstoffverordnung Deutschlands von 2005, verbietet im Anhang 4 die „gewerbliche“ (nicht private) Verarbeitung von arsenhaltigen Mitteln und Zubereitungen, die mehr als 0,3 Gewichtsprozent an Arsen aufweisen. Derartige Grenzwertregelungen sind gegeben, da Arsen in den Verzinkereien der Galvanikindustrie weltweit der Zinkschmelze zugesetzt wird, um die Haftungseigenschaften des Zinks an der Eisenoberfläche des zu verzinkenden Metallstückes zu verbessern. Auf Grund der Temperatur im Zink-Schmelzbad von 460 °C bis 480 °C kommt es zum Verdampfen von Arsen, Cadmium und anderen leicht flüchtigen Metallen und deren Anreicherung in der Luft des Arbeitsplatzes. So können zulässige Grenzwerte kurzfristig um das Tausendfache überschritten werden, mit der Folge der aerogen-alveolaren Aufnahme in den Körper. Messungen ergaben, dass Arsen (und Cadmium) im hochreinen Zink (99,995 Reinheitsgrad, DIN-1179-Reinheitsgrad) mit weniger als 0,0004 Gewichts-% ausgewiesen waren und nach Zugabe von 450 Gramm dieses hochreinen Zinks in die Zinkschmelze zu einem Anstieg der Cd-/As-Konzentration von 3 bis 7 µg/m3 Luft auf über 3000 µg/m3 Luft führten. Für Arsen wurde diese Tatsache überraschend in einer Verzinkerei durch Messung der Arsen-Konzentration in Zinkschmelze, Blut und Urin festgestellt (unveröffentlicht). Bei Galvanik-Arbeitern wird die Urin-Arsen-Konzentration mit 25 bis 68 µg/l Urin gemessen, im Vergleich zu unbelasteter Bevölkerung mit 0,1 µg Arsen/l Urin. === Abreicherung === Für die Entfernung von ionischem Arsen aus dem Trinkwasser gibt es Verfahren, die auf Adsorption an Aktivkohle, aktiviertem Aluminiumoxid oder Eisenhydroxid-Granulat beruhen. Letzteres wird standardmäßig in Festbettreaktoren in der Trinkwasseraufbereitung in Deutschland und international eingesetzt. Daneben werden Ionenaustauscher verwendet. Es ist möglich, Arsen mittels gentechnisch veränderten Pflanzen aus dem Boden zu entfernen, die es in Blättern speichern. Zur Phytosanierung von Trinkwasser bietet sich die Dickstielige Wasserhyazinthe an, die Arsen insbesondere in ihr Wurzelgewebe einlagert und so eine Abreicherung des kontaminierten Wassers bewirkt. Organische Arsenverbindungen in belasteten Böden können enzymatisch mit Hilfe von Pilzen abgebaut werden. In Bangladesh wird nach einem Verfahren der schweizerischen Forschungseinrichtung EAWAG versucht, Arsen mit Hilfe von transparenten PET-Flaschen und Zitronensaft abzureichern. Bei dieser SORAS (Solar Oxidation and Removal of Arsenic) genannten Methode oxidiert Sonnenlicht das Arsen; die Inhaltsstoffe des Zitronensafts helfen bei der Ausfällung. Mit dieser kostengünstigen Methode lässt sich der Arsengehalt um 75 bis 90 Prozent senken. In Gewässern des Yellowstone-Nationalparks, die sich aus Geysiren und anderen Thermalquellen vulkanischen Ursprungs speisen, wurden eukaryontische Algen der Gattung Cyanidioschyzon gefunden, die die hohen Arsenkonzentrationen der Gewässer tolerieren und sie zu biologisch weniger verfügbaren organischen Verbindungen oxidieren können. An einer Nutzung zur Abreicherung in Trinkwasser wurde 2009 gearbeitet. === Antidote === Als Antidote bei akuten Arsenvergiftungen stehen die schwefelhaltigen Komplexbildner Dimercaptopropansulfonsäure (DMPS), Dimercaptobernsteinsäure und das ältere, schlechter verträgliche Dimercaprol zur Verfügung. Sie sind noch bei starken Arsendosen effektiv, wenn die Vergiftung rechtzeitig diagnostiziert wird. Ihr Stellenwert bei der Behandlung chronischer Arsenvergiftungen ist hingegen umstritten. Aktivkohle ein bis mehrere Stunden nach der Einnahme kann das Metall ebenfalls binden und zur Ausscheidung bringen. === Prophylaxe === Indische Forscher haben im Tierversuch herausgefunden, dass die Einnahme von Knoblauch zur Senkung der Arsengehalte im Blut und der Erhöhung der Arsengehalte im Urin führen kann. Erklärt wird dies über eine Ausfällung des Arsens bei Reaktion mit schwefelhaltigen Substanzen wie etwa Allicin, das Bestandteil des Knoblauchs ist. Zur Prophylaxe werden zwei bis drei Knoblauchzehen täglich empfohlen. == Nachweis == === Anorganische Nachweisreaktionen === Arsenverbindungen zeigen beim Verbrennen eine wenig charakteristische fahlblaue Flammenfärbung. Bei der Glühröhrchenprobe erhitzt man Arsenverbindungen, welche teilweise sublimieren und sich an kalten Oberflächen in Form von schwarzem Arsen, weißem Arsen(III)-oxid oder gelbem Arsentrisulfid wieder niederschlagen. Die so genannte Marshsche Probe ist die klassische Nachweisreaktion in der Chemie und Gerichtsmedizin für Arsen: As 2 O 3 + 6 Zn + 12 H 3 O + ⟶ 2 AsH 3 + 6 Zn 2 + + 15 H 2 O {\displaystyle {\ce {As2O3 + 6Zn + 12H3O+ -> 2AsH3 + 6Zn^2+ + 15H2O}}} Bei der Bettendorfschen Probe oxidiert Arsen in konzentrierter Salzsäure unabhängig von der Oxidationsstufe zweiwertige Zinn-Ionen. Dabei fällt elementares Arsen aus: 2 As 3 + + 3 Sn 2 + ⟶ 3 Sn 4 + + 2 As {\displaystyle {\ce {2As^3+ + 3Sn^2+ -> 3Sn^4+ + 2As}}} Gibt man zu einer ammoniakalischen, ammoniumchloridhaltigen Lösung von Arsenat Magnesium-Ionen, so erhält man einen kristallinen Niederschlag von Magnesiumammoniumarsenat-Hexahydrat: AsO 4 3 − + Mg 2 + + NH 4 + + 6 H 2 O ⟶ MgNH 4 AsO 4 ⋅ 6 H 2 O {\displaystyle {\ce {AsO4^3- + Mg^2+ + NH4+ + 6H2O -> MgNH4AsO4.6H2O}}} Arsenat reagiert mit Magnesiumionen, Ammoniumionen und Wasser zu Magnesiumammoniumarsenat-Hexahydrat. Eine weitere Nachweisreaktion von Arsen(at) in wässriger Lösung ist die Fällung mit Ammoniumheptamolybdat. Der gelbe Niederschlag ist schwerlöslich in Säuren, aber gut löslich in Basen: H 2 AsO 4 − + 22 H 3 O + + 3 NH 4 + + 12 MoO 4 2 − ⟶ ( NH 4 ) 3 [ As ( Mo 3 O 10 ) 4 ⋅ aq ] + 34 H 2 O {\displaystyle {\ce {H2AsO4- + 22H3O+ + 3NH4+ + 12MoO4^2- -> (NH4)3[As(Mo3O{10})4.aq] + 34H2O}}} Dihydrogenarsenat reagiert mit Wasserstoffionen, Ammoniumionen und Molybdationen zu Ammoniumarsenomolybdat und Wasser. === Instrumentelle Bestimmungsverfahren für Arsen === ==== Atomabsorptionsspektrometrie (AAS) ==== Bei der Flammen-AAS werden die Arsenverbindungen in einer reduzierenden Luft-Acetylen-Flamme ionisiert. Anschließend wird eine Atomabsorptionsmessung bei 189,0 nm beziehungsweise 193,8 nm durchgeführt. Nachweisgrenzen bis zu 1 µg/ml wurden beschrieben. Häufig wird das Arsen auch mit Hilfe von NaBH4 in das gasförmige Arsin (AsH3) überführt (Hydridtechnik). In der Quarzrohrtechnik wird AsH3 zuerst bei rund 1000 °C in einem elektrisch beheizten Quarzröhrchen thermisch in seine atomaren Bestandteile zersetzt, um anschließend die Absorption bei o. g. Wellenlängen zu bestimmen. Die Nachweisgrenze bei dieser Technik liegt bei 0,01 µg/l. Eine weitere Methode ist die sog. Graphitrohrtechnik, bei der das Arsen einer festen Probe bei 1700 °C und höher verflüchtigt und anschließend die Extinktion bei 193,8 nm gemessen wird. ==== Atomemissionsspektrometrie ==== Die Kopplung von Hydridtechnik mit dem induktiv gekoppelten Plasma/ laserinduzierter Fluoreszenzmessung ist eine sehr nachweisstarke Methode zur Bestimmung von Arsen. Mittels Hydriderzeugung freigesetztes AsH3 wird dabei im Plasma atomisiert und mit einem Laser zur Emission angeregt. Mit dieser Methode wurden Nachweisgrenzen von 0,04 ng/mL erreicht. ==== Massenspektrometrie (MS) ==== Bei der Massenspektrometrie wird die Arsenspezies zunächst durch ein induktiv gekoppeltes Argonplasma (ICP-MS) thermisch ionisiert. Anschließend wird das Plasma in das Massenspektrometer geleitet. Eine Nachweisgrenze von 0,2 µg/l wurde für Arsenit beschrieben. ==== Photometrie ==== Weitverbreitet ist die photometrische Erfassung von As als Arsenomolybdänblau. As(V) reagiert zunächst mit (NH4)2MoO4. Danach folgt eine Reduktion mit SnCl2 oder Hydrazin zu einem blauen Komplex. Die Photometrie erfolgt bei 730 nm und ist somit nahezu störungsfrei. Die Nachweisgrenzen können durch Verwendung von basischen Farbstoffen als Komplexbildner verbessert werden. ==== Neutronenaktivierungsanalyse ==== Eine sehr empfindliche Arsenbestimmung im ppt-Bereich ist mittels Neutronenaktivierungsanalyse möglich. Sie kommt insbesondere dann zur Anwendung, wenn die Probe eine komplexe Zusammensetzung aufweist oder schwierig aufzuschließen ist. Allerdings gibt diese Methode keinen Hinweis auf die chemische Verbindung, in der das Arsen vorliegt. Bei der Wechselwirkung von Neutronen mit der Probe, die das natürliche Isotop Arsen-75 enthält, wird das schwerere Isotop Arsen-76 gebildet, das jedoch instabil ist und sich unter einem β-Zerfall in Selen-76 umwandelt. Gemessen werden dabei die β-Strahlen, über die ein Rückschluss auf die Menge des Arsens möglich ist. As 33 75 + n 0 1 ⟶ As 33 76 ⟶ Se 34 76 + e − {\displaystyle {\ce {^{75}_{33}As + ^{1}_{0}n -> ^{76}_{33}As -> ^{76}_{34}Se + e-}}} ==== Biosensoren ==== Bei Biosensoren wird die Biolumineszenz bei Kontakt von in Wasser gelöstem Arsen mit genetisch modifizierten Bakterien (z. B. Escherichia coli K12) und eines Lichtmessgeräts (Luminometer) detektiert. Die vorhandene Arsenkonzentration korreliert dabei direkt mit der emittierten Lichtmenge. == Verbindungen == === Arsenwasserstoffe === Chemische Verbindungen von Arsen und Wasserstoff (→ Arsane) sind im Vergleich zu den entsprechenden Verbindungen der Hauptgruppennachbarn Stickstoff und Phosphor nicht sehr zahlreich und sehr instabil. Es sind zurzeit drei Arsane bekannt. Arsenwasserstoff (auch Monoarsan oder Arsin genannt) mit der Summenformel AsH3 ist eine wichtige Ausgangssubstanz zur Herstellung von Galliumarsenid in der Halbleiterindustrie. Diarsan (As2H4) Triarsan (As3H5) === Halogenverbindungen === Arsen bildet mit Halogenen binäre Verbindungen vom Typ AsX3, AsX5 und As2X4 (X bezeichnet das entsprechende Halogen). Arsen(III)-fluorid (AsF3) Arsen(V)-fluorid (AsF5) Arsen(III)-chlorid (AsCl3) Arsenpentachlorid (AsCl5) Arsentribromid (AsBr3) Arsentriiodid (AsI3) Diarsentetraiodid (As2I4) === Sauerstoffverbindungen === Wichtige Sauerstoffsäuren sind: Arsensäure (2 H3AsO4 · H2O), deren Salze als Arsenate oder Arsenate(V) bezeichnet werden und den Phosphaten ähneln. Beispiele sind Calciumarsenat (Ca3(AsO4)2·3H2O) und Bleihydrogenarsenat (PbHAsO4), die als Pflanzenschutzmittel verwendet wurden Arsenige Säure (H3AsO3), deren Salze als Arsenite oder Arsenate(III) bezeichnet werden.Das wichtigste Arsenoxid ist Arsen(III)-oxid (Arsentrioxid auch Arsenik oder Weißarsenik, As2O3, das Anhydrid der Arsenigen Säure), das in der Gasphase in Form von Doppelmolekülen mit der Formel As4O6 vorliegt. Es ist amphoter und weist damit auf den Halbmetallcharakter des Arsens hin. Neben As2O3 kennt man As2O5 (Arsenpentaoxid, das Anhydrid der Arsensäure) und das gemischte Anhydrid der Arsenigen Säure und Arsensäure As2O4 (Arsentetraoxid) Ein historisch wichtiges Färbe- und Pflanzenschutzmittel ist ein Kupfer-Arsen-Oxid mit dem Trivialnamen Schweinfurter Grün (Cu(AsO2)2·Cu(CH3COO)2). === Schwefelverbindungen === Es bestehen zwei wichtige Arsensulfide, die beide als Minerale in der Natur vorkommen. Arsenmonosulfid (Realgar, As4S4) Arsen(III)-sulfid (Auripigment, As2S3) === Arsen-Metall-Verbindungen === Wichtige Verbindungen von Arsen mit Metallen sind Galliumarsenid (GaAs), ein wichtiger Halbleiter Indiumarsenid (InAs), ein wichtiger Halbleiter Nickelarsenid (NiAs) Aluminiumgalliumarsenid (AlGaAs) Arsenbronze – (CuAs) in früher Bronzezeit === Organische Verbindungen === In Analogie zu den Aminen und Phosphinen findet man entsprechende Verbindungen mit Arsen anstelle von Stickstoff oder Phosphor. Sie werden als Arsine bezeichnet. Dimethylarsin (AsH(CH3)2) Trimethylarsin (As(CH3)3), eine übelriechende Flüssigkeit, die zur Behandlung bakterieller Infektionen und als Pilzschutzmittel Anwendung fand.Zu den Arsoranen, Verbindungen vom Typ R5As, wobei R5 für fünf – möglicherweise unterschiedliche – organische Gruppen steht, zählt man etwa Pentaphenylarsen oder Pentamethylarsen. Fehlt eine der fünf Gruppen, bleibt ein einfach positiv geladenes Ion zurück (R steht wiederum für – möglicherweise verschiedene – organische Gruppen), das man als Arsoniumion (AsR4)+ bezeichnet. Analog zu den Carbonsäuren lassen sich zwei Klassen arseno-organischer Säuren bilden: Arsinsäuren (RR'AsOOH) Arsonsäuren (RAsO(OH)2)Zudem sind Heteroaromaten mit Arsen als Heteroatom bekannt, wie Arsabenzol, das aus einem Benzolring besteht, in dem ein Kohlenstoffatom durch Arsen ersetzt ist und das somit analog zu Pyridin aufgebaut ist. Auch homocyclische Arsenverbindungen existieren. Beispiele sind Pentamethylcyclopentaarsen (AsCH3)5 Hexamethylcyclohexaarsen (AsCH3)6deren Moleküle einen Fünf- beziehungsweise Sechsring aus Arsenatomen als Rückgrat aufweisen, an den nach außen hin je eine Methylgruppe pro Arsenatom gebunden ist. Eine polycyclische Variante bildet das nebenstehende Molekül, dessen Rückgrat sich aus einem Sechs- und zwei angehefteten Fünfringen zusammensetzt (R steht für jeweils eine tert-Butylgruppe). Schließlich lassen sich Arsenpolymere darstellen, lange Kettenmoleküle, die als Polyarsine bezeichnet werden. Sie bestehen aus einer zentralen „Strickleiter“ der Arsenatome, an die außen auf jeder Seite je „Sprosse“ eine Methylgruppe angeheftet ist, so dass sich die chemische Formel (AsCH3)2n ergibt, wobei die natürliche Zahl n weit über 100 liegen kann. Polyarsine zeigen deutliche Halbleitereigenschaften. === Bioorganische Verbindungen === In der Bioorganik spielen Arsenolipide, Arsenosaccharide und arsenhaltige Glycolipide eine bedeutende Rolle. Wichtige Vertreter dieser Stoffklassen sind zum Beispiel Arsenobetain, Arsenocholin und unterschiedlich substituierte Arsenoribosen. Sie treten vor allem kumuliert in maritimen Lebewesen auf und können auf diesem Weg in die menschliche Nahrungskette gelangen. Arsenhaltige Biomoleküle konnten in Algen, Meeresschwämmen und in Fischgewebe nach erfolgter Extraktion mittels HPLC-ICP-MS nachgewiesen werden. Die Analytik von Organo-Arsenverbindungen (einschließlich ihrer Speziation) ist sehr aufwändig. == Arsen in Kriminalgeschichte, Literatur und Film == Das Element Arsen erreichte zweifelhafte Berühmtheit als Mordgift, belegt durch geschichtliche Aufzeichnungen sowie die Instrumentalisierung in Literatur und Film. Es handelte sich bei dem Mordgift allerdings nie um elementares Arsen, sondern um dessen Verbindungen. In Italien und Frankreich starben Herzöge, Könige und Päpste an vorsätzlich herbeigeführten Arsenvergiftungen. Im Frankreich des 17. Jahrhunderts steht die Marquise de Brinvilliers, die ihren Vater und zwei Brüder mit einer Arsenikmischung vergiftete, im Mittelpunkt eines Giftskandals. In Deutschland brachte die Serienmörderin Gesche Gottfried aus Bremen 15 Menschen zu Tode. Aufsehen erregte auch der Fall der Serienmörderin Anna Margaretha Zwanziger zu Beginn des 19. Jahrhunderts. Die Urheber der Morde blieben jedoch meist unerkannt, da Arsen bis 1836 in kleinen Mengen nicht nachgewiesen werden konnte. Erst die durch James Marsh entwickelte und nach ihm benannte Marshsche Probe machte es möglich, Spuren des Elementes zu identifizieren und somit eine unnatürliche Todesursache nachzuweisen. Im 19. und 20. Jahrhundert fanden weiter vorsätzliche Vergiftungen mit arsenhaltigen Mitteln statt – zum einen, weil sie leicht als Herbizide verfügbar waren, zum anderen ließ sich bei chronischer Gabe kleiner Dosen ein krankheitsbedingter Tod vortäuschen. Im September 1840 fiel im Prozess gegen Marie Lafarge das erste Urteil, das alleine auf den Ergebnissen der Marshschen Probe beruhte. Im Fall der Marie Besnard, die angeblich zwischen 1927 und 1949 für mehrere Todesfälle in ihrem Umfeld in Loudun verantwortlich sein sollte, konnte ein eindeutiger Beweis nicht erbracht werden, weil Untersuchungsergebnisse widersprüchlich waren, und sie musste 1954 letztendlich freigesprochen werden. Jahrelang glaubte die Fachwelt, dass der Tod des ehemaligen französischen Kaisers Napoleon Bonaparte mit 51 Jahren auf der Insel St. Helena einem Giftanschlag mit Arsen zugeschrieben werden muss. Zumindest hatte man in seinen Haaren hochkonzentrierte Spuren des Giftes entdeckt. Heute existieren verschiedene andere Thesen zur Erklärung des Faktenbefunds. Eine Möglichkeit besteht darin, dass das Arsen nach seinem Tod den Haaren beigegeben wurde, um diese zu konservieren, eine damals durchaus übliche Methode. Möglich ist ein Übermaß der Benutzung der arsenhaltigen Fowlerschen Lösung, die zu seiner Zeit bei vielen seiner Zeitgenossen als medizinisches Wundermittel galt. Die dritte und heute als wahrscheinlichste angesehene Möglichkeit ist, dass sich Napoleon durch organische Arsenverbindungen vergiftete, die Schimmelpilze beständig aus seinen mit grünen Arsenpigmenten gefertigten Tapeten freisetzten. Deren hoher Arsengehalt ist durch eine 1980 in einem Notizbuch aufgefundene Materialprobe schlüssig belegt. Der berühmte Philosoph René Descartes starb 1650 wenige Monate nach seiner Ankunft am Hofe der schwedischen Königin Christine. Der Verdacht, er sei von einem der Jesuiten, die sich am Hofe der protestantischen Königin aufhielten, aus religionspolitischen Gründen mit Arsen vergiftet worden, verstärkte sich, als Christine später tatsächlich zum Katholizismus konvertierte, konnte aber nicht erhärtet werden, so dass die offizielle Todesursache, Lungenentzündung, sich in den Biographien etablierte. Erst kürzlich wurde anhand von neu aufgefundenen und neu interpretierten Dokumenten der alte Verdacht erhärtet und behauptet, dass der „Giftmord an Descartes in sehr hohem Maße wahrscheinlich, um nicht zu sagen, fast sicher“ erscheint.Im Jahre 1900 kam es im britischen Manchester zu einer Massenvergiftung, von der mehrere Tausend Menschen betroffen waren. Wie sich herausstellte, hatten alle Bier derselben Brauerei getrunken. In Vorstufen der Bierproduktion wurde anscheinend Schwefelsäure eingesetzt, die ihrerseits aus Schwefel hergestellt wurde, der aus mit Arsenopyrit kontaminierten Sulfidmineralen stammte. Etwa 70 Menschen erlagen ihren Vergiftungen. In den Jahren 2010 und 2011 starben in Österreich zwei Männer an einer Arsenvergiftung. Am 11. April 2013 wurde am Landesgericht Krems eine 52-jährige Polin des Mordes an den beiden für schuldig befunden und von dem Geschworenengericht nicht rechtskräftig zu lebenslanger Haft verurteilt. Noch in den 1950er Jahren auf dem Höhepunkt des Kalten Krieges erkrankte die US-amerikanische Botschafterin, Clare Booth Luce, in Rom durch eine Vergiftung mit dem aus Tapeten freigesetzten Arsen. Die Tatsache, dass die Krankheit auf die schimmelpilzbefallenen Tapeten und nicht auf gegnerische Geheimagenten zurückgeführt werden konnte, trug in diesem Fall nicht nur zur Genesung der Botschafterin, sondern auch zum Erhalt des Friedens bei. In Friedrich Schillers bürgerlichem Trauerspiel Kabale und Liebe vergiftet der junge Major Ferdinand von Walter erst seine Geliebte Luise Millerin und dann sich selbst. Allerdings tritt in Kabale und Liebe der Tod unrealistischerweise binnen Minuten ein. Die Protagonistin des berühmten Romans Madame Bovary von Gustave Flaubert, die unglücklich verheiratete Landarztgattin Emma Bovary, stirbt am Ende des Romans durch Suizid mit Arsen in Form eines weißen Pulvers. Der Spross einer Arztfamilie Flaubert beschreibt die Vergiftungssymptome und den äußerst qualvollen Tod der Bovary sehr detailliert. Im Roman Starkes Gift (Strong Poison) von Dorothy L. Sayers ist das Opfer mit Arsen vergiftet worden. Die Verdächtige, Krimi-Schriftstellerin Harriet Vane, hat sich zur fraglichen Zeit intensiv mit Arsenmorden beschäftigt und sich dazu sogar vom Apotheker beraten lassen. Der berühmte Detektiv „Kalle Blomquist“ aus dem gleichnamigen Kinderbuch von Astrid Lindgren wendete die Marshsche Probe an, um ein mit Arsen vergiftetes Stück Schokolade zu überprüfen. In dem Theaterstück von Joseph Kesselring Arsen und Spitzenhäubchen (englisch: Arsenic and Old Lace) vergiften zwei alte Damen in gutmeinender Absicht ältere einsame Herren mit einer Arsen-, Strychnin- und Zyankali-Mischung. Bekannt wurde das Stück durch die gleichnamige Verfilmung von Frank Capra mit Cary Grant, Peter Lorre und Priscilla Lane in den Hauptrollen. == Literatur == A. F. Holleman, E. Wiberg, N. Wiberg: Lehrbuch der Anorganischen Chemie. 102. Auflage. Walter de Gruyter, Berlin 2007, ISBN 978-3-11-017770-1, S. 829–860. Erwin Riedel: Anorganische Chemie. de Gruyter, Berlin 2002, ISBN 3-11-017439-1. Dietmar Ritter: Charakterisierung und Einsatz alternativer Arsen- und Phosphor-Quellen für die Metallorganische Molekularstrahlepitaxie von InP und GaInAs. Shaker, Aachen 1998, ISBN 3-8265-4489-7. Giulio Morteani, Lorenz Eichinger: Arsen im Trinkwasser und Dearsenierung. Gesetzliche Vorschriften, Toxikologie, Hydrochemie. In: Wasser, Luft und Boden. WLB-Marktspiegel Umwelttechnik. Band 48, Nr. 6, 2004, ZDB-ID 1213429-6, S. 24–26. Nicholas C. Norman: Chemistry of Arsenic, Antimony and Bismuth. Blackie, London 1998, ISBN 0-7514-0389-X. Andrew A Meharg: Venomous Earth: How arsenic caused the world’s worst mass poisoning. Macmillan Science. Georg Süss-Fink: Arsenvergiftungen. In: Chemie in unserer Zeit. Band 46, Nr. 2, 2012, S. 100–109, doi:10.1002/ciuz.201200565. Die bremische Gesina. In: Hans Heinrich: Frau-Geschichten. WM-Literatur-Verlag, Weilheim 2002, ISBN 3-9808439-0-4, S. 62–72. == Weblinks == Mineralienatlas:Arsen Enzymatischer Abbau von Arsenkampfstoffen wissenschaft.de – Arsen im Trinkwasser begünstigt Arteriosklerose Arsenic and Human Health, Environmental Health & Toxicology, Specialized Information Services, National Library of Medicine (englisch) Studienarbeit zum Thema Trinkwasserkontamination mit Arsen (Memento vom 11. Oktober 2012 im Internet Archive) (PDF; 295 KiB) Arsen – Informationen des Bundesamts für Lebensmittelsicherheit und Veterinärwesen == Einzelnachweise ==
https://de.wikipedia.org/wiki/Arsen
Todesstrafe
= Todesstrafe = Die Todesstrafe ist die Tötung eines Menschen als Rechtsfolge einer per Gesetz definierten Straftat, derer er für schuldig befunden wurde. Ihr geht in der Regel ein Todesurteil nach einem Gerichtsverfahren voraus, das mit der Hinrichtung des Verurteilten vollstreckt wird. Seit Jahrtausenden werden Personen hingerichtet, deren Taten nach kodifizierten Strafbestimmungen als besonders schwere Verbrechen gelten. Ab dem 18. Jahrhundert wurde die Rechtmäßigkeit der Todesstrafe in Europa in Frage gestellt. Einige Staaten schafften sie ab, zuerst das Großherzogtum Toskana im Jahre 1786 unter Leopold II. Ihre allgemeine Abschaffung wurde erstmals 1795 in Frankreich gefordert. Die Todesstrafe ist seither in immer mehr Staaten abgeschafft worden, so in Deutschland, Liechtenstein, Österreich und der Schweiz. Heute ist die Todesstrafe ethisch, strafrechtlich und praktisch umstritten; sie gilt vielfach als unvereinbar mit den Menschenrechten. Viele Nichtregierungsorganisationen setzen sich für ihre weltweite Abschaffung ein. Als Schritt zu diesem Ziel fordert die Generalversammlung der Vereinten Nationen seit 2007, Hinrichtungen weltweit auszusetzen (Moratorium). == Definition == Die Todesstrafe setzt durch Strafgesetze definierte Straftatbestände voraus, für die sie vorgesehen ist, sowie die gesetzmäßige Inhaftierung, Überführung und Verurteilung des Täters. Das gesamte Verfahren müssen dazu beauftragte und legitimierte Vertreter eines Staates mit einem dort gültigen und funktionierenden Rechtssystem vollziehen. Das setzt Ordnungs- und Herrschaftsstrukturen voraus, darunter eine Legislative und Exekutive mit einem Gewaltmonopol und einer irgendwie gearteten Verfassung, die die meisten Staaten – unabhängig von ihrer tatsächlichen Verwirklichung von Demokratie – durch Bezug auf den Volkswillen legitimieren. Die meisten Staaten erlauben ihrer Exekutive unter bestimmten gesetzlich definierten Umständen zur akuten Notwehr und in Notstand-Situationen auch gezielte Tötungen ohne vorherige Rechtsverfahren und Todesurteile; so auch völkerrechtlich legitimiertes Töten im Krieg. Private, nicht gesetzlich autorisierte Tötungen mutmaßlicher oder tatsächlicher Straftäter, etwa durch Lynchjustiz, gelten in Rechtsstaaten als Mord. Neben illegalen Hinrichtungen durch nicht autorisierte Personen gibt es auch Hinrichtungen durch Staatsvertreter mit fraglicher oder fehlender Gesetzesgrundlage. So erteilen manche Regierungen illegale Tötungsaufträge, selbst in Staaten, die die Todesstrafe verboten und die Charta der Vereinten Nationen unterzeichnet haben, und lassen vermeintliche oder tatsächliche Regimegegner, Terroristen oder Kriminelle ohne Gerichtsverfahren hinrichten. Militär-, Polizei- oder Geheimdienstvertreter sowie Todesschwadronen handeln dabei unter Umständen eigenmächtig, etwa weil die Regierung bestehende Gesetze nicht durchsetzt, berufen sich auf eine angebliche Notwehrsituation und erhalten nachträglich staatliche Rückendeckung dafür. Solche außerrechtlichen, summarischen und willkürlichen Hinrichtungen werden nach rechtsstaatlichen Maßstäben wie Justizmorde bewertet. Die schwierige Unterscheidung legaler Todesurteile von Tötungen auf ungesicherter Rechtsbasis trägt dazu bei, dass die Todesstrafe insgesamt ethisch und gesellschaftspolitisch in Frage gestellt wird. == Straftatbestände == Die im gewöhnlichen Strafrecht verankerte Todesstrafe wird meist für Mord verhängt. In manchen Staaten werden auch weitere direkte und indirekte Verbrechen gegen Leib und Leben von Personen mit dem Tod bestraft: Bankraub (Saudi-Arabien) Entführung (Saudi-Arabien), Kindesentführung (Indien) Menschenhandel (Volksrepublik China), Raub mit Todesfolge (Vereinigte Staaten) Vergewaltigung (China, Saudi-Arabien) Vergewaltigung mit Todesfolge oder wenn das Opfer dauerhaft ins Koma fällt (Indien), sexueller Missbrauch von Kindern (China und Indonesien), Drogenhandel bzw. Drogenbesitz ab einer bestimmten Menge (Indonesien, Saudi-Arabien, Malaysia, Singapur, Thailand, Republik China (Taiwan)), illegaler Schusswaffengebrauch (Singapur), terroristische Anschläge auf Erdöl- und Gasleitungen (Indien), Terroranschläge (Kamerun, Vereinigte Arabische Emirate).Mit der Todesstrafe geahndete wirtschaftliche Vergehen sind: Korruption (China, Iran), illegale Herstellung und Verkauf von Alkohol (Indien).In manchen islamischen Staaten gelten folgende Tatbestände als todeswürdige Vergehen: Ehebruch (Saudi-Arabien, Iran, Afghanistan, Vereinigte Arabische Emirate, Brunei), Homosexualität (Katar, Iran, Jemen, Nigeria, Saudi-Arabien, Somalia, Vereinigte Arabische Emirate, Brunei), Zuhälterei (Saudi-Arabien), Abkehr vom islamischen Glauben (Afghanistan, Iran, Jemen, Katar, Mauretanien, Pakistan, Saudi-Arabien, Somalia, Vereinigte Arabische Emirate, Malediven, Brunei), Blasphemie (Pakistan) Hexerei (Saudi-Arabien).Viele Staaten bestrafen nach ihrem Kriegsrecht folgende Tatbestände mit dem Tod: Landesverrat, Hochverrat, Spionage, Sabotage, Desertion. == Internationale und europäische Rechtslage == Der Internationale Pakt über bürgerliche und politische Rechte vom 19. Dezember 1966 (Artikel 6 Absatz 2) gestattet die Verhängung der Todesstrafe nur für schwerste Verbrechen, nur aufgrund von Gesetzen, die zur Tatzeit in Kraft waren, und nur, wenn diese den Bestimmungen des Paktes zur Verhütung und Bestrafung von Völkermord nicht widersprechen. Sie darf nur aufgrund eines rechtskräftigen Urteils eines zuständigen Gerichts vollstreckt werden. Das Zweite Fakultativprotokoll zu diesem Pakt vom 15. Dezember 1989 bestimmt in Artikel 1: Die Kinderrechtskonvention der Vereinten Nationen bestimmt in Artikel 37: Fast alle Mitgliedstaaten der Vereinten Nationen (UNO) haben diese Konvention unterzeichnet. Einige lassen dennoch zur Tatzeit Minderjährige hinrichten: Demokratische Republik Kongo, Iran, Jemen, Nigeria, Pakistan, Saudi-Arabien – dort wurde im April 2020 die Abschaffung der Todesstrafe für Minderjährige beschlossen – und der Sudan. In Somalia werden Jugendliche durch nichtstaatliche Schariagerichte hingerichtet. Dem treten die UN-Menschenrechtskommission und Staatengruppen entgegen, die internationale Rechtsnormen auch gegen nationale Souveränität durchzusetzen versuchen. Das 6. Zusatzprotokoll zur Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) aus dem Jahr 1983 enthält die Abschaffung der Todesstrafe im gewöhnlichen Strafrecht, das 13. Zusatzprotokoll aus dem Jahr 2002 enthält auch die Abschaffung im Kriegsrecht. 44 der 47 Mitgliedsstaaten des Europarates haben das 13. Zusatzprotokoll ratifiziert. 2010 entschied der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte im Fall Al-Saadoon und Mudfhi gegen Vereinigtes Königreich, dass die Todesstrafe Art. 3 der EMRK widerspreche. Die Europäische Union (EU) hat die vollständige Abschaffung der Todesstrafe wie auch die Einhaltung der Menschenrechte in den Kopenhagener Kriterien zur Aufnahmebedingung für neue Mitgliedsstaaten gemacht. Artikel 2 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union verbietet die Todesstrafe. Artikel 53 legt ferner fest, dass die Charta keinen verbesserten Schutz der Menschenrechte durch nationale Verfassungen oder die Europäische Menschenrechtskonvention einschränken kann. Gemäß Artikel 52 können Grundrechte nur im Einklang mit dieser Charta aufgehoben werden. Demnach ist das Recht auf Leben in der EU dreifach geschützt: durch nationale Verfassungen, EMRK und Charta, wobei das für Beschuldigte günstigste Recht anzuwenden ist (Meistbegünstigungsklausel). == Aktuelle Verbreitung == === Gesamtzahlen === Der aktuelle Bericht von Amnesty International zur weltweiten Anwendung der Todesstrafe (veröffentlicht im Mai 2023) dokumentiert für das Jahr 2022 mindestens 883 Hinrichtungen in 20 Ländern – die höchste Anzahl von gerichtlichen Hinrichtungen seit 2017. Dazu kommen tausende Hinrichtungen in China, die unter Verschluss gehalten werden. Der Anstieg ist vor allem auf Hinrichtungen in der Region Naher Osten und Nordafrika zurückzuführen. Sechs Länder schafften 2022 die Todesstrafe vollständig oder zum Teil ab (Kasachstan, Papua-Neuguinea, Sierra Leone, Zentralafrikanische Republik, Äquatorialguinea, Sambia). Die meisten Exekutionen gab es 2020 in folgenden Einzelstaaten: Volksrepublik China: mehrere Tausend. Die letzten bekannten Schätzungen für 2009 reichten von mindestens 1700 bis zu über 5000. Amnesty verzichtet seither auf Schätzungen zu China. Iran: 246 (2012: 314, 2011: 360, 2010: 252+) Ägypten: 107 Irak: 45 (129, 68, 1) Saudi-Arabien: 27 (79, 82, 27)1976 hatten 16 Staaten die Todesstrafe abgeschafft. Seit 1990 haben über 60 Staaten die Todesstrafe aus ihrem Gesetz gestrichen, durchschnittlich etwa drei pro Jahr, zuletzt 2022 die Zentralafrikanische Republik, Äquatorialguinea und Sambia. Gambia, Papua-Neuguinea und die Philippinen hatten die dort bereits abgeschaffte Todesstrafe seit 1985 wieder eingeführt. Auf den Philippinen wurde sie seitdem neun Mal angewandt, jedoch 2006 erneut abgeschafft. Seit 2016 läuft der parlamentarische und juristische Prozess zur Wiedereinführung der Todesstrafe (Stand August 2017). Polizisten und andere Vollzugskräfte nehmen auf den Philippinen bei Verdacht auf Rauschgiftdelikte aber Erschießungen ohne Urteil vor. In Papua-Neuguinea wurde die Todesstrafe nach der Wiedereinführung nicht angewandt und 2022 erneut abgeschafft.Pakistan vollstreckt Todesurteile wieder seit dem Massaker von Peschawar 2014. Die international nicht anerkannten Gebiete Volksrepublik Donezk und Volksrepublik Lugansk führten die Todesstrafe 2014 ein. Sie wurden 2022 von Russland annektiert.Amnesty International beurteilt die Gesamtentwicklung als unumkehrbaren Trend zur weltweiten Abschaffung der Todesstrafe. === Staatenliste === In der folgenden Länderliste sind insgesamt 198 Staaten aufgeführt: 115 Staaten, in denen die Todesstrafe vollständig abgeschafft ist. 007 Staaten, in denen die Todesstrafe nur in Sonderstrafverfahren (z. B. Kriegsrecht) existiert. 024 Staaten mit einem Hinrichtungsstopp. 052 Staaten, die die Todesstrafe auch im gewöhnlichen Strafrecht haben und anwenden.In den USA wird die Todesstrafe in 27 Bundesstaaten angewendet, während sie in anderen bereits abgeschafft wurde. (siehe hierzu: Todesstrafe in den Vereinigten Staaten) == Für und Wider == Die Todesstrafe wird oft wie folgt begründet: Sie sei die einzige gerechte Vergeltung für die schwersten Verbrechen. Nur sie schütze die Allgemeinheit wirksam vor dem Täter (Spezialprävention). Sie sei zur Abschreckung möglicher anderer Verbrecher notwendig (Generalprävention). Sie sei kostengünstiger als eine lebenslange Freiheitsstrafe.Häufige Ablehnungsgründe lauten: Vergeltung sei eine Form der Rache. Diese dürfe in Rechtsstaaten keine Rolle spielen. Die Todesstrafe sei staatlich legitimierter Mord, untergrabe das Recht und erhöhe so das Gewaltpotential der Gesellschaft. Sie verfehle den Abschreckungszweck. Sie gebe dem Täter keine Chance zu Einsicht und Besserung. Justizirrtum und Missbrauch seien dabei nie auszuschließen. Sie verletze die unantastbare Menschenwürde. === Vergeltung === Wer Menschen ermordet, soll dafür mit seinem Leben bezahlen: Dies empfinden viele Menschen als die einzig angemessene Vergeltung. Dahinter steht das alte Ius talionis, das eine Gleichwertigkeit von Tat und Strafe fordert und so die wahllose Blutrache auf das Töten des Täters begrenzen sollte. Es war in fast allen Kulturen und Religionen des Altertums mit dem Gedanken einer Sühne verbunden. Auf diese Idee beziehen sich auch neuzeitliche Strafzwecktheorien, die den Strafzweck nicht an Resozialisierung orientieren. Dazu führte Immanuel Kant aus: Nur der Tod des Mörders könne also eine gleichartige, der Tat angemessene Gerechtigkeit wiederherstellen. Dabei fragte Kant ebenso wenig wie frühere Rechtsphilosophen nach Kriterien für seine individuelle Schuld.Solchen Befürwortern gilt die Todesstrafe als objektive Notwendigkeit: Der Staat müsse Gerechtigkeit für alle schützen und durchsetzen, indem er die Todesstrafe am Täter vollziehe, auch wenn Opferangehörige sie nicht verlangten. Denn ein Verbrechen breche nicht nur ein Einzelgesetz, sondern stelle die Rechtsordnung insgesamt in Frage. Um deren Anspruch auf Allgemeingültigkeit zu wahren, müsse die Strafe das Verbrechen sühnen. Daher müsse ein Mörder eben nicht nur mit seiner Freiheit, sondern auch mit seinem Leben für das Zerstören von Leben anderer haften. Dies sei auch für Opferangehörige die einzig angemessene Form einer Genugtuung, da der Lebensverlust unersetzbar sei. Nur so könnten sie mit dem Verbrechen innerlich abschließen. Gegen diese Begründungen wird eingewandt: Das Vergeltungsprinzip – Tötung als Ausgleich für Tötung – lasse sich nicht logisch durchführen, da danach Mörder ermordet, Totschläger totgeschlagen und auch die, die jemand fahrlässig getötet haben, getötet werden müssten. In der Realität wird die Todesstrafe jedoch meist nur bei Mördern verlangt und oft zusätzlich begrenzt auf besonders schwere Fälle wie Kindes-, Sexual-, Raub-, Polizisten- oder Massenmord. Bei Räubern, Vergewaltigern usw. wird keine gleichartige Schadenszufügung gefordert, da diese auch in Staaten mit einer gesetzlichen Todesstrafe als Unrecht gilt. Dies verweise darauf, dass das Strafmaß nach der individuellen Schuld des Täters bemessen werden müsse und nicht die Tat spiegeln könne. Ein Verbrechen lasse sich nicht durch Beseitigen des Täters „sühnen“, sondern nur durch einen Ausgleich für die Tat, also Schadensbegrenzung für die Opfer und die Gesellschaft. Ein schuldfähiger Täter könne zu diesem Ausgleich nur beitragen, wenn er am Leben bleibe. Gerade weil der Tod im Unterschied zu anderen Strafen eine endgültige Qualität habe, scheide er aus den zulässigen Strafarten aus. Weil im Rechtsstaat das Leben und Zusammenleben Aller als höchster Wert gelten und zu schützen seien, dürften seine Vertreter keinen Verbrecher mit dem Tod bestrafen, um sich nicht mit dem auf eine Stufe zu stellen, der diese Werte missachte. Staaten seien von fehlbaren Menschen geschaffen, die sich nicht anmaßen dürften, perfekte „Gerechtigkeit“ herzustellen. Die Todesstrafe sei ein archaisches Relikt vergangener Rechtsauffassungen, das gesellschaftliche Rachebedürfnisse befriedige und sie zugleich verschleiere. Sie stelle die Rechtsstaatlichkeit und ihre Wertgrundlagen insgesamt in Frage.Sowohl Befürworter wie Gegner der Todesstrafe beziehen sich also auf eine Gerechtigkeitsidee und auf sozialpsychologische Aspekte. Befragte Opferangehörige in den USA, die der Hinrichtung des Täters zusahen, bestreiten, dass diese ihr Gerechtigkeitsgefühl befriedigt habe. Manche Angehörige von Mordopfern lehnen die Todesstrafe ab und versuchen den Verlust gemeinsam mit anderen Opferangehörigen zu verarbeiten. === Schutz vor dem Täter === Manche Befürworter der Todesstrafe argumentieren, dass diese die Gesellschaft besonders wirkungsvoll, da unwiderruflich, vor weiteren Verbrechen des Täters schütze. Da bei Haftstrafen Ausbrüche oder verfrühte Haftentlassungen durch Fehlgutachten möglich seien, hindere nur seine Hinrichtung einen Täter wirksam an weiteren Straftaten. Gegner verweisen darauf, dass inhaftierte Todeskandidaten bis zu ihrer Hinrichtung im Prinzip ebenso ausbrechen könnten wie andere inhaftierte Straftäter, bei letzteren deswegen aber keine Todesstrafe gefordert wird. Auch sei der Sicherheitsstandard vieler Haftanstalten inzwischen so hoch, dass eine lebenslange Freiheitsstrafe die Gesellschaft ebenso vor Wiederholungstätern schütze. Sie verweisen auf statistische Untersuchungen, wonach gerade Mörder sehr selten erneut straffällig werden.Oft wird eine schnell ausgeführte Todesstrafe, etwa durch ein Standgericht, als staatliche Notwehr gerechtfertigt und mit polizeilichen Sonderrechten wie dem „finalen Rettungsschuss“ verglichen. Dies gilt heute besonders für Fälle von Terrorismus: Auch bereits inhaftierte Täter bedrohten den Staat, da andere sie freizupressen versuchen könnten und ihre Gewalt dabei eskalieren könne. Erfolgreich freigepresste Täter könnten neue Verbrechen begehen und immer mehr Anhänger dazugewinnen. Dagegen sei ein „kurzer Prozess“ der beste Schutz. Viele Juristen, nicht nur Gegner der Todesstrafe, bestreiten, dass festgenommene Täter die Rechtsordnung noch akut gefährden. Sie bewerten so gerechtfertigte Todesstrafen als Justizmorde: „Todesstrafe als wirksames Mittel gegen Freipresserei müßte dann gleich schon den Rechtsstaat durchs Standrecht ersetzen“. Wer die Gesellschaft durch Beseitigen der Mörder schützen wolle, könne dies dann auch für andere Verbrecher verlangen und hebe damit jeden Unterschied zwischen Recht und Unrecht auf. Bestrafung von möglichen, aber noch nicht eingetretenen Folgen sei eine Abkehr von wesentlichen Rechtsstaatsprinzipien zugunsten eines unerklärten Krieges gegen Kriminelle, in dem nicht mehr zwischen Mördern, Richtern und Henkern unterschieden werden könne. Damit werde der vorgebliche Zweck der Prävention verfehlt, weil die fehlende Aussicht auf ein faires Gerichtsverfahren andere darin bestärke, Mord als zum Selbstschutz mögliches Mittel zu betrachten und so die allgemeine Rechtsunsicherheit vermehre. Wer Todesstrafe, Folter und Standrecht gegen Terroristen verlange, unterstütze deren Methoden und Ziele, da dann die Gesellschaft dem Zerrbild gleiche, das Terroristen von ihr zeichneten. === Abschreckung === Befürworter führen oft an, erst die Hinrichtung überführter Täter wirke mittelbar abschreckend auf mögliche andere Täter und halte sie wirksamer von Straftaten ab als angedrohte Freiheitsstrafen. Einige sehen darin den einzigen Weg, einer allgemeinen Zunahme von Gewaltverbrechen und Gefährdung der öffentlichen Sicherheit zu begegnen. Fehle die schwerstmögliche Strafe in der Palette der Strafandrohungen, stelle dies die Wirkung und Glaubwürdigkeit des staatlichen Rechtsschutzes insgesamt in Frage. Diese Annahmen sind bisher empirisch nirgends nachgewiesen worden. In keinem Staat der Welt belegen Statistiken einen Zusammenhang zwischen Todesstrafe und Zahl der Kapitalverbrechen. In vielen Staaten, die die Todesstrafe abschafften, nahmen Morde danach statistisch nicht merklich zu, sondern oft sogar ab. In Staaten ohne Todesstrafe liegen die Mordraten anteilig vergleichsweise niedriger als in – oft direkt benachbarten – Staaten mit Todesstrafe. Vergleichende empirische Forschung in den USA und Deutschland belegte 1976, 1984 und 1987: Je häufiger ein Staat die Todesstrafe anwendet, desto größer ist der Anteil der Gewaltverbrechen an den Straftaten. Familienangehörige, die öfter Körperstrafen ausübten oder erfuhren, bejahen öfter die Todesstrafe. Die Brutalisierungstheorie deutet dies als verrohende Wirkung der Todesstrafe.Mörder (außer Sexual- und Raubmörder) sind statistisch viel seltener vorbestraft und werden seltener erneut straffällig als andere Straftäter. Noch nicht gefasste Mörder begehen jedoch in Staaten mit Todesstrafe öfter weitere Straftaten, um nicht gefasst und verurteilt zu werden. Die meisten Tötungsdelikte geschehen unter Angehörigen und in Privatbeziehungen, in Extremsituationen und im Zustand eines emotionalen Affektes oder bei anderen irrationalen Geisteszuständen, bei denen ruhiges Überlegen und Bedenken der Tatfolgen ausgeschaltet sind. In diesen Zustand könne grundsätzlich jeder Mensch geraten. Nicht bestimmte Tätereigenschaften, sondern Gewalt fördernde Umstände und ihre Verkettung seien meist dafür verantwortlich. Würden diese im Strafrecht angemessen berücksichtigt, entfiele das Abschreckungsargument, da dann viel eher die Reduktion gesellschaftlicher Gewaltursachen in den Vordergrund rücken müsse. Ein weiterer Einwand lautet: Für einen möglichst wirksamen Abschreckungseffekt müssten Hinrichtungen öffentlich stattfinden und von modernen Massenmedien übertragen werden. Dies verbieten Rechtsstaaten jedoch als Verletzung der Menschenwürde von Tätern und Zuschauern. Diese Verbotsbegründung müsse auch für heimliche oder nur den Opferangehörigen bekanntgegebene Hinrichtungen gelten. Diese Inkonsequenz zeige, dass das Abschreckungsargument großenteils vorgeschoben sei. Der Strafrechtler Rudolf Sieverts verwies auf historische Chroniken, wonach sich kriminelle Tendenzen bei Zuschauern öffentlicher Hinrichtungen verstärkt hätten, so dass zunehmend nichtöffentlich hingerichtet wurde: „Die Annahme einer generalabschreckenden Wirkung der Todesstrafe ist also als eine Illusion erwiesen. Es gibt wenig derartig gesicherte Erkenntnisse in der Kriminologie.“Schon im 19. Jahrhundert argumentierten Gegner der Todesstrafe: Solle diese von Tötungsdelikten abschrecken, dann bedeute jedes weitere Kapitalverbrechen ihr Versagen. Ihr Vollzug bestrafe den Täter dann für die künftigen Taten anderer mit: Wie bei der Sippenhaft werde so der Strafzweck der gerechten Vergeltung am Täter verfehlt. Vergeltung einer Einzeltat und Abschreckung anderer Taten seien somit unvereinbare Strafziele.Der Rechtsphilosoph Robert Spaemann sieht keinen Grund, die Todesstrafe abzulehnen, falls ein Staat nur so künftige Verbrechen verhüten könnte. Doch wer einen Mord vorhabe, pflege nicht das Strafmaß zu bedenken, sondern versuche jeder angedrohten Strafe zu entgehen. Die Abschreckungstheorie könne daher keinen zwingenden Grund dafür angeben, inwiefern die staatliche Tötung eines Menschen das Gemeinwohl besser schütze als die lebenslange Freiheitsstrafe.Ralf Rother verweist darauf, dass das Abschreckungsargument auf einer Nützlichkeitserwägung beruht. Werde die Todesstrafe nur wegen ihrer Wirkungslosigkeit abgeschafft, dann bleibe das vermeintliche Recht des Staates auf gewaltsame Ahndung von Verbrechen, auch mit Urteilen über Leben und Tod, unangetastet. Damit werde indirekt eingeräumt, dass sowohl Beibehaltung wie Abschaffung der Todesstrafe auf politischen und kulturellen, nicht ethischen, philosophischen und juristischen Gründen beruhe. Erst wenn Staaten ausdrücklich das Strafen mit Gewalt und dem Tod aus ihrer Souveränität ausschlössen, sei die Todesstrafe prinzipiell und irreversibel abgelehnt.Diesen prinzipiellen Ausschluss vertritt die Evangelische Kirche in Deutschland (EKD). Ihr früherer Ratsvorsitzender Wolfgang Huber argumentiert: Weil alles Leben von Gott geschaffen sei, bleibe auch der Täter Gottes Ebenbild. Kein Verbrechen könne seine Würde und sein Lebensrecht aufheben. Eine Symmetrie zwischen Tat und Strafe sei daher weder möglich noch erstrebenswert. Auch wenn eine Abschreckungswirkung der Todesstrafe sich beweisen ließe, dürfe ein Rechtsstaat nicht alles tun, um Verbrechen zu verhüten. Er dürfe vor allem niemand töten, um andere vom Morden abzuhalten. Damit würde er die Menschenwürde als Basis allen Rechts verletzen und sich selbst zum Unrechtsstaat machen. Um die Menschenwürde aller zu achten und zu schützen, müsse er das Tötungsverbot als Grenze gewaltsamer Rechtsdurchsetzung anerkennen und auf die Todesstrafe, Folter und Körperstrafen verzichten. Damit stehe und falle er. === Schutz der Rechtsordnung === Rechtsordnungen legitimieren sich stets mit einer übergeordneten Gerechtigkeitsidee, ohne die menschliches Zusammenleben nicht möglich sei. Darauf beziehen sich auch Befürworter und Gegner der Todesstrafe. Sie verlangen in der Regel vom Staat, gerechte Verhältnisse herzustellen, entsprechende Gesetze zu geben, zu schützen und zu vollstrecken. Die Befürworter glauben, dass einem Staatswesen dies im Idealfall fehlerlos gelingen könne. Die Gegner verweisen demgegenüber auf die grundsätzliche Fehlerhaftigkeit aller vom Menschen geschaffenen Rechtssysteme. Staaten seien künstliche Gebilde, die nie fehlerfrei seien, so dass man keine fehlerfreie Durchführung von Strafprozessen erwarten und darum das Töten von Menschen als Strafart nicht verantworten könne. Manche lehnen daher alle Staatsformen ab (siehe Anarchismus), andere streben Strafrechtsreformen auf dem Boden der bestehenden Rechtsordnung an. Staaten, die die Todesstrafe verhängen, nehmen unvermeidbar die Hinrichtung von Unschuldigen in Kauf. Weder Polizei noch Justiz arbeiten fehlerfrei, sodass es auch im Rechtsstaat nachweislich immer wieder zu Justizirrtümern und Fehlurteilen kommt. Da ein vollstrecktes Todesurteil endgültig ist, lässt es sich nicht nachträglich wiedergutmachen. Dies beschädigt zugleich unwiderruflich die Glaubwürdigkeit des Rechtssystems für alle Bürger dieses Staates. Diese Tatsache ist ein Hauptargument gegen die Todesstrafe.Viele Staaten legen zudem unklare Kriterien zur rechtlichen Würdigung von Straftaten fest: Als todeswürdig gilt eine Gewalttat etwa dann, wenn sie aus „niederen Beweggründen“ oder „heimtückisch“ begangen wurde. Kritische Wissenschaft verweist darauf, dass die Definition dieser Kriterien ständig veränderlichen gesellschaftlichen Werturteilen unterliege. Damit werde das Bild, das sich ein Richter oder eine Jury vom Angeklagten macht, oft entscheidend für das Urteil über sein Leben oder Sterben.In Kapitalverfahren geben oft subjektive Eindrücke von Strafverfolgern, Anklägern, Beisitzern, Richtern und Geschworenen den Ausschlag für ein Urteil. Solche Strafprozesse sind zudem oft stark emotionalisiert: Die Angehörigen der Opfer und der oder die Täter und ihre Angehörigen stehen einander gegenüber. Die Öffentlichkeit ist ebenfalls beteiligt und wird durch die Massenmedien zusätzlich beeinflusst. Auf den Entscheidungsträgern, die nicht immer Berufsrichter, sondern oft Laien sind, lastet also ein erheblicher öffentlicher Druck. Das könne dazu führen, dass sie den Wünschen einer Mehrheit nachgeben und diese durch ein hartes oder mildes Vorgehen zu überzeugen suchen. Diese Situation sei eine häufige Ursache für Fehlurteile.Bei allen bisherigen Hinrichtungsmethoden gab es unvorhergesehene Fehler, die Qualen für die Verurteilten verursachten. Diese Tatsache und eine häufig jahrelange Wartezeit nach einem Todesurteil, kurzfristige Terminverschiebungen und staatliche Inszenierung einer Hinrichtung bewerten Todesstrafengegner als unmenschliche Grausamkeit. Manche Todesstrafenbefürworter plädierten deshalb für zeitnahe Exekutionen. Dagegen betonen prinzipielle Todesstrafengegner, dass keine noch so „humane“ Hinrichtungsart die seelische Grausamkeit für den Täter und die ethische Verwerflichkeit dieser Strafe aufhebe.Der Bundesgerichtshof hat seine „unüberwindlichen Bedenken“ gegen die Todesstrafe in einer Urteilsbegründung 1995 wie folgt zusammengefasst: === Kosten === Für die Todesstrafe wurde öfter ins Feld geführt, sie sei kostengünstiger als eine lebenslange Freiheitsstrafe und mute Opferangehörigen nicht zu, die inhaftierten Täter mitzuversorgen. In Rechtsstaaten wie den USA kostet ein Todesstrafenprozess im Durchschnitt jedoch mehr als eine lebenslange Haft. Hauptgrund sind die Anklage- und Verteidigungskosten von oft jahrelangen Kapitalverfahren. Dabei müssen die polizeilichen Ermittlungsergebnisse besonders sorgfältig geprüft werden. Mehrere Revisionsinstanzen und Wiederaufnahmemöglichkeiten sind vorgesehen, um Fehlurteile korrigieren zu können. Todesstrafengegner erklären, dass Staaten, die sich allgemein auf Menschenrechte verpflichten und berufen, das auch Schwerstverbrechern zustehende Lebensrecht nicht als Kostenfaktor betrachten dürfen. Andernfalls setzten sie die Rechtsstaatlichkeit aufs Spiel und zeigten, dass es ihnen um gesellschaftliche Rache gehe. == Geschichte == === Altertum === Die Todesstrafe entwickelte sich aus der „Blutrache“. Dieses ungeschriebene Sippenrecht vorstaatlicher Gesellschaften verlangte von einem Angehörigen des Getöteten, meist dem ältesten Sohn, einen beliebigen Angehörigen der Sippe oder des Stammes, zu dem der Täter gehörte, zu töten. Dies sollte ursprünglich vom Töten einzelner Angehöriger fremder Sippen abschrecken, führte aber in Folgegenerationen oft zu endlosen Fehden und bis zur gegenseitigen Ausrottung ganzer Sippenverbände.Je mehr Nomadengruppen sesshaft wurden, desto mehr wurden verbindliche und einheitliche Schadensregelungen notwendig. Man entwickelte allmählich öffentliche Beweis-, Gerichts- und Strafverfahren, deren Todesurteile weiterhin ein von der Sippe ausgewählter „Bluträcher“ ausführen durfte. Die Todesstrafe war also anfangs nur eine Form der Rache des Kollektivs: Dieses delegierte deren Ausführung an eine allseits anerkannte Zentralgewalt, an der sich niemand rächen durfte und konnte. Die Todesstrafe ist die früheste kodifizierte Strafart. Bereits die älteste bekannte Rechtssammlung, der Codex Ur-Nammu (ca. 2100 v. Chr.), sah sie für Mord und Ehebruch vor. Im Codex Hammurapi (ca. 1700 v. Chr.) wird sie auf weitere Vergehen ausgedehnt, wobei das Talionsprinzip für Körper- und Todesstrafen angewandt wurde. Das begrenzte die Blutrache auf das Töten des Täters, nicht beliebiger anderer Personen. === Bibel === Die Tora spiegelt die Ablösung der privaten Blutrache durch geordnete Rechtsverfahren, die ein Kapitalvergehen nur noch am Einzeltäter ahndeten. Gen 9,6 beschreibt diesen Zustand: „Wer Menschenblut vergießt, dessen Blut wird durch Menschen vergossen. Denn: Als Abbild Gottes hat er den Menschen gemacht.“ Wer eine zum Ebenbild Gottes geschaffene Person töte, greife Gottes Alleinrecht an, Leben zu beenden. Dann erfordere Gottes Gerechtigkeit, auch sein Leben zu nehmen. Der Satz wird auf nomadisches Sippenrecht zurückgeführt, als keine Sicherheitsverwahrung möglich war und das Beseitigen der Täter zum Überleben der Sippe notwendig erschien. Er wurde meist gegen den hebräischen Wortlaut als Imperativ übersetzt („dessen Blut soll […] vergossen werden“) und legitimierte so die Todesstrafe als Vergeltung für Mord und Totschlag.Das Talionsrecht verlangt einen der Tat angemessenen Schadensausgleich (Ex 21,23 ): „Entsteht dauerhafter Schaden, so gib ein Leben für ein Leben […] ein Auge für ein Auge“. Das forderte nicht die Opferangehörigen zur Vergeltung, sondern die Täterangehörigen zum Schadensersatz auf. Dessen Maß wurde von einem Gericht ermittelt und festgelegt. Es wurde denkbar, ein getötetes Leben auf andere Weise als durch Töten des Täters auszugleichen.Zauberei, Zoophilie und Inzest wurden schon in den historischen, nicht-monotheistischen Religionen als Bedrohung der Gemeinschaft tabuisiert. Die Tora fordert die Todesstrafe zudem für Tatbestände, die die kultisch-religiöse Identität der Israeliten bedrohten (Fremdgötter-Verehrung, Blasphemie, Falschprophetie) oder als Merkmal fremder Völker galten (Menschenopfer, Menschenraub, Beschwörung von Geistern, Geschlechtsverkehr zwischen Männern), für bestimmte sexuelle Vergehen (Ehebruch, Geschlechtsverkehr während der Menstruation) und soziale Tatbestände (Schlagen oder Verfluchen der Eltern). Jüngere Rechtskorpora der Tora unterschieden vorsätzliche, fahrlässige und unbeabsichtigte Tötungen, Körperverletzung mit Todesfolge und Notwehr immer genauer. Ein öffentliches Gerichtsverfahren zur Feststellung von Straftat und Strafmaß, zwei unabhängige Augenzeugen und die gründliche Prüfung ihrer Aussagen durch unbestechliche Richter für ein gültiges Todesurteil wurden verlangt. Zu Unrecht als Mördern verfolgten Totschlägern wurde Asylrecht in einer dafür vorgesehenen Asylstadt gewährt.Die im Talmud gesammelte jüdische Rechtstradition arbeitete die Gerichtsverfahren immer genauer aus und erschwerte Todesurteile immer mehr bis zur völligen Aufhebung der Todesstrafe. So wurde ein Tätergeständnis nicht mehr als Urteilsgrund zugelassen.Im Neuen Testament wird die Todesstrafe weder direkt erlaubt noch verboten. Stellen wie Joh 19,10 f. und Röm 13,4 setzen ein durch Gottes Reich befristetes und begrenztes Recht der Staatsvertreter über Leben und Tod voraus. Jesus von Nazaret ordnete das Vergeltungsgebot (Gen 9,6 ) dem Bewahrungswillen Gottes (Gen 8,21f. ) unter und begründete damit sein Gebot der Feindesliebe (Mt 5,44 ): Diese sei die Gottes geduldiger Gnade gemäße Form der Vergeltung. Demgemäß entkräftete er nach Joh 8,7 die in der Tora vorgesehene Todesstrafe für Ehebruch mit dem Hinweis: „Wer von Euch ohne Sünde ist, der werfe den ersten Stein auf sie.“ Der indirekt gebotene Rechtsverzicht (da niemand ohne Sünde ist, führe niemand die Todesstrafe aus) delegitimiert die damaligen Autoritäten, zielt auf Selbsterkenntnis und Vergebung. Daran anknüpfend, fanden die Urchristen in Jesu Kreuzestod das stellvertretende Erleiden der dem Rechtsbrecher zustehenden Todesstrafe (u. a. Gal 3,13 ; Röm 8,3 ). Gott habe seinen Sohn „dahingegeben“ und damit allen Menschen ihre Schuld vergeben, um sie von der Sünde zu befreien. So habe Jesus Versöhnung mit Gott geschaffen und ermöglicht (2 Kor 5,14). Tödliches Vergelten war daher für die Urchristen ein Rückfall in den Unglauben; kultische Vorschriften, für deren Nichteinhaltung die Tora Todesstrafen androht, waren für sie hinfällig. === Antike === Viele antike Reiche kannten neben der Todesstrafe nur Geldstrafen und Versklavung, aber keine Freiheitsstrafen, da sichere Inhaftierung technisch kaum möglich war. Oft wurden Verurteilte öffentlich hingerichtet, um Zuschauer zu unterhalten und zugleich abzuschrecken. Besonders Sklaven wurden bei Verhören vor ihrer Hinrichtung oft durch Folter, etwa eine Geißelung, gequält. Dagegen entstand besonders im antiken Athen seit 600 v. Chr. ein Rechtsverfahren, das allerdings weiter zwischen freien Vollbürgern, Zugezogenen und Sklaven unterschied. Nach dem Rechtswesen im antiken Rom wurden römische Bürger nur für besonders schwere Vergehen wie Verwandtenmord, Verhöhnung der Götter und Landesverrat mit dem Tod bestraft. Statthalter römischer Provinzen besaßen das Ius gladii („Schwertrecht“, d. h. Recht zu Todesstrafen, etwa durch Enthauptung). In der Kaiserzeit wurde die Kreuzigung von Staatsfeinden, Sklaven und Nichtrömern üblich, um das Imperium Romanum in eroberten Gebieten durchzusetzen und Aufstände zu unterdrücken. Zudem konnte, bezeugt etwa bei Galenos, die Todesstrafe durch Aussetzen der Verurteilten in einer Zirkusarena mit wilden Tieren erfolgen. Christen lehnten tötende Gewaltausübung bis zum 4. Jahrhundert wegen Jesu Toraauslegung meist ab. Theologen der Patristik, darunter Athenagoras, Tertullian, Origenes und Laktanz, und die Synode von Elvira verboten jede direkte und indirekte Beteiligung von Christen an Todesurteilen und Hinrichtungen. Implizit stellten sie damit auch das Recht des römischen Staates zur Todesstrafe in Frage. Nur Clemens von Alexandria bejahte diese explizit.Nach der konstantinischen Wende (313) gestand die Kirche dem Staat jedoch ein Vergeltungsrecht zu und legitimierte damit die Todesstrafe. Christen sollten sich jedoch weiterhin daran nicht beteiligen und mäßigend auf Staatsvertreter einwirken; auch Gnadengesuche von Bischöfen für zum Tod Verurteilte, Kritik an besonders grausamen Hinrichtungsarten und Urteilsgründen wurde üblich. Nachdem das Christentum 380 zur Staatsreligion geworden war, nahmen staatliche Exekutionen jedoch nicht ab, sondern eher zu. Die Kirche war nun aktiv daran beteiligt. In Trier wurde 385 mit Bischof Priscillian von Avila, erstmals ein Christ von anderen Christen wegen angeblicher Häresie hingerichtet. Augustinus von Hippo erlaubte getauften Staatsvertretern 420 mit Staatsämtern auch den Kriegsdienst und die Todesstrafe, besonders gegen „Heiden“ und Christen, die er als Häretiker beurteilte. Er begründete dies mit seiner Staatstheorie, wonach der römische Staat als von Gott gestiftete Strafgewalt Menschen mit der Furcht vor Strafe von Verbrechen abzuschrecken und die Existenz der Kirche zu schützen habe, da diese allein das Seelenheil aller, auch der Verbrecher, gewährleisten könne. === Mittelalter === Die römisch-katholische Kirche rechtfertigte die Todesstrafe an „Heiden“ im Zuge gewaltsamer Christianisierung. Die Orthodoxe Kirche dagegen sah sie als Hindernis für die Mission. Das Byzantinische Reich reduzierte Hinrichtungen seit dem 8. Jahrhundert und ersetzte sie durch das Abschneiden von Nasen oder Ohren, um so einen pädagogischen Einfluss auf die Bevölkerung auszuüben. Dort wurde unter dem Kaiser Johannes II. Komnenus (1118–1142) in einer Phase innen- und außenpolitischer Stabilität kein Todesurteil vollstreckt. Im 13. Jahrhundert setzte Papst Innozenz III. Hinrichtungen von „Ketzern“ durch. Bischöfe und Kardinäle verhängten Todesurteile, die von der staatlichen Blutgerichtsbarkeit ausgeführt wurden. Die Regel Ecclesia non sitit sanguinem (‚die Kirche dürstet nicht nach Blut‘) galt nur bedingt, da Kirchenvertreter auch politische Ämter innehatten und im eigenen Herrschaftsbereich hinrichten ließen. Nur christliche Minderheiten wie die Waldenser lehnten die Todesstrafe ab und wurden auch deshalb von der Inquisition verfolgt.Im Spätmittelalter, als das Machtmonopol von Papst- und Kaisertum, Klerus und Adel zunehmend bedroht war, nahmen Zahl und Grausamkeit der Hinrichtungen zu und auch die Zahl der Vergehen, die damit bestraft wurden. Auch im Rahmen kirchlicher Inquisitionen sowie regionaler und staatlicher Hexenverfolgung kam es zu Hinrichtungen sowie zu Lynchjustiz. === Frühe Neuzeit === Die Reformation weckte anfangs große Hoffnungen auf Humanisierung von Kirche und Politik: Martin Luther rückte Gottes ultimatives Gnadenurteil für alle Menschen in das Zentrum des christlichen Glaubens und trennte geistliche und weltliche Macht (siehe Zwei-Reiche-Lehre). Es wurde denkbar, auch das staatliche Strafrecht dem Evangelium gemäß zu reformieren. Doch das Glaubensbekenntnis der lutherischen Reichsstände, die Confessio Augustana von 1530, erlaubte Christen in Ausübung staatlicher Macht in Artikel XVI die Todesstrafe. Das Landesherrliche Kirchenregiment stärkte die Eigenmacht der Fürsten. Diese reagierten auf Bauernaufstände, Raubrittertum – Ausdruck der Verelendung der Bevölkerung – sowie auf das Anwachsen von Städten mit größerer Einwohnerzahl und Kriminalität mit immer mehr Gewalt. In der Frühen Neuzeit zwischen 1525 und 1648 stieg die Zahl der Hinrichtungen stetig, aber regional sehr unterschiedlich, enorm an. Die Landesherren dehnten Leibes- und Todesstrafen auf immer mehr Tatbestände aus und bestraften immer geringere Vergehen, auch kleine Diebstähle, mit dem Tod. Nach der Constitutio Criminalis Carolina von 1532 wurden sieben Vollzugsarten – Enthaupten, Ertränken, Hängen, Lebendigbegraben, Rädern, Verbrennen und Vierteilen – für je bestimmte Tatbestände angewandt. Der Westfälische Friede bestätigte 1648 die bisherige Festlegung der Religion durch die jeweiligen Landesfürsten (cuius regio, eius religio), die schon der Augsburger Religionsfrieden von 1555 provisorisch erlaubt hatte, verbot aber weitere Änderungen und sicherte den noch bestehenden Minderheiten den Schutz ihres Status quo zu. Das begünstigte die Entstehung von Nationalstaaten und deren autonome Definition von Recht und zweckmäßigem Strafvollzug. Der sächsische Schöffensenior und Rechtsgelehrte Benedikt Carpzov der Jüngere formulierte 1662 in seiner Schrift Peinlicher Sächsischer Inquisitions- und Achts-Prozeß die damals weithin gültigen Begründungen von Folterverhören und Todesstrafen durch möglichst qualvolle Hinrichtungsarten. Verbrechen seien Ausfluss eines von Grund auf verdorbenen, bösartigen, vom Satan verführten Wesens. Der Verbrecher schädige nicht nur Einzelne, sondern missachte und verhöhne auch die von Gott gesetzte Ordnung und Obrigkeit, breche also nicht nur weltliche, sondern göttliche Gesetze. Die Regenten seien aufgrund ihrer göttlichen Einsetzung nicht nur berechtigt, sondern verpflichtet, diesen Frevel zu rächen. Durch ihr Strafamt wirke Gott selbst, sodass sie keine Milde walten lassen dürften, um nicht Gottes Rache an Allen als Seuchen, Kriege und Naturkatastrophen zu provozieren. In vielen Fällen könne nur eine körperliche Qual die Schuld des Täters ausgleichen, so Gottes Zorn, der bei ungesühnten Verbrechen allen drohe, besänftigen und die Gesellschaft von einem verdorbenen Mitglied befreien, das sonst alle mit seinem Gift anstecken würde. Nur seine öffentliche, qualvolle Hinrichtung könne den Verbrecher zur Reue führen, so als „armen Sünder“ vor dem ewigen Höllenfeuer retten und alle anderen Sünder von gleichartigen Verbrechen abschrecken. === Aufklärung === Im Zeitalter der Aufklärung entstand um 1740 in einem Teil der damaligen Bildungseliten eine Opposition gegen ein mit dem Sühnegedanken begründetes Strafrecht, so auch gegen die Todesstrafe. 1741 gelobte Kaiserin Elisabeth von Russland bei ihrer Krönung, kein Todesurteil vollstrecken zu lassen. Sie wiederholte dies 1753 mit zwei Erlassen, sodass die Todesstrafe während ihrer Regentschaft bis 1761 ausgesetzt war. Da die Verbrechen entgegen allgemeiner Erwartung in ihrem Reich nicht zunahmen, ließen auch ihre Nachfolger nur selten hinrichten. Katharina II. entwarf 1766 eine Gesetzgebungsreform, die festlegte, dass „im gewöhnlichen Zustand der Gesellschaft der Tod eines Bürgers weder nützlich noch notwendig sei.“1744 schrieb Johann Gottlieb Gonne einen kurzen Zeitungsartikel, der Rache als Endzweck von Strafen als unvereinbar mit einer auf Verträgen basierenden bürgerlichen „Republik“ verwarf und nur Abschreckung und Besserung der Täter nach gleichen Strafmaßen als sinnvolle Strafzwecke gelten ließ. Der Franzose François-Vincent Toussaint (1748), der Sizilianer Tomaso Natale (1759), der Österreicher Joseph von Sonnenfels (1765) und der Sachse Karl Ferdinand Hommel (1765) verfassten ähnliche Kritiken des geltenden Strafrechts in ihren Fürstentümern. Das Recht der Regenten zum Bestrafen von Verbrechern beruhe nicht auf Gottes Gesetz, so Hommel, sondern auf menschlichen und daher an ihrem gesellschaftlichen Nutzen zu messenden Gesetzen.Wie sie ging der Italiener Cesare Beccaria 1764 in seiner an die Fürsten gerichteten Schrift Dei delitti e delle pene („Über Verbrechen und Strafen“) von einer naturrechtlich begründeten fiktiven Vertragstheorie aus und folgerte daraus eine rationale Kritik des Sühnestrafrechts: Beccaria forderte also allgemeingültige eindeutige Gesetze, Rechtsstaatlichkeit und Befreiung von Klassenherrschaft, um Verbrechen zu verringern. Ferner argumentierte er: Er lehnte damit den Sühnegedanken strikt ab zugunsten eines auf Rechtsschutz, Verbrechensbekämpfung und nachhaltige Humanisierung ausgerichteten Strafrechts. Ein vorbildlicher Rechtsstaat und Freiheitsstrafen könnten weit effektiver von Verbrechen abschrecken. Seine Hauptargumente werden bis heute vertreten. Beccarias Schrift wurde in ganz Europa und Nordamerika rezipiert und beeinflusste die Entscheidungen einiger Regenten: Am 30. November 1786 hob Leopold II. im Herzogtum Toskana als erstem Staat der Welt die Todesstrafe auf. 1787 folgte ihm sein Bruder Joseph II. für die Länder der Habsburgermonarchie, nur im Standrecht blieb sie bestehen. Von den deutschen Aufklärern lehnten nur Gotthold Ephraim Lessing, in England nur Samuel Johnson und Samuel Romilly die Todesstrafe ab. Immanuel Kant, John Locke, Charles de Secondat, Baron de Montesquieu, Voltaire, Jean-Jacques Rousseau, später Georg Wilhelm Friedrich Hegel und Arthur Schopenhauer bejahten sie.Die Französische Revolution von 1789 ermöglichte erstmals eine parlamentarische Debatte um die Todesstrafe. Anstelle ihrer Abschaffung nahm der französische Nationalkonvent am 3. Mai 1791 einen Gesetzentwurf von Joseph-Ignace Guillotin an: Todeswürdige Tatbestände wurden reduziert, ein Folterverbot erlassen und gemäß dem Gleichheitsideal die für alle Verurteilten gleichartige Hinrichtungsmethode der Enthauptung eingeführt. Seit der Jakobinerherrschaft stieg die Zahl der Hinrichtungen europaweit erneut an, so führte etwa die Habsburgermonarchie 1795 die Todesstrafe wieder ein. Ein letzter Beschluss des Nationalkonvents am Tag seiner Auflösung, dem 26. Oktober 1795, die Todesstrafe „am Tag des allgemeinen Friedens“ abzuschaffen, blieb unerfüllt. === 1800 bis 1945 === Die europäischen Nationalstaaten ließen die Todesstrafe besonders während Nationalkriegen oft vollstrecken, um Machtinteressen abzusichern. Der europäische Diskurs um die Humanisierung der Strafjustiz war meist auf den Strafvollzug beschränkt. Zugleich wurden die Strafen besonders in den Kolonien verschärft, und es kam zu einem Anstieg der Todesurteile.Im Gefolge der Märzrevolutionen von 1848 forderten die französische Nationalversammlung erneut, die Frankfurter Nationalversammlung, die Preußische Nationalversammlung sowie die walachischen Revolutionäre in der Proklamation von Islaz erstmals die Abschaffung der Todesstrafe und nahmen diese Forderung in ihre Verfassungsentwürfe auf. Nur San Marino erfüllte sie damals. 1865 schaffte Rumänien als erster europäischer Flächenstaat die Todesstrafe bis 1939 ab.Parallel zur politischen Entwicklung diskutierten Akademiker im 19. Jahrhundert intensiv über die Todesstrafe. Gegner wie Befürworter begründeten ihre Haltung in zahlreichen Schriften. Vertreter der Demokratiebewegung und der Arbeiterbewegung forderten zusammen mit Bürger- und Menschenrechten die allgemeine Abschaffung der Todesstrafe. In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts kam es besonders in der Sowjetunion von 1917 bis 1953 und im Nationalsozialismus von 1933 bis 1945 zu massenhaften Justizmorden. In der Zwischenkriegszeit und im Zweiten Weltkrieg führten einige Staaten (Niederlande, Österreich, Rumänien und andere) die Todesstrafe wieder ein, die sie schon einmal abgeschafft hatten. Sie erwies sich damit als von wechselnden historischen Umständen und Machtverhältnissen abhängiges missbrauchbares Herrschaftsinstrument. Darum wurde nach Kriegsende in vielen westlichen Gesellschaften zunehmend die Abschaffung der Todesstrafe gefordert. === Ethische Diskussion seit 1945 === Einige namhafte Autoren engagierten sich seit 1945 besonders stark für die Abschaffung der Todesstrafe: etwa die Dichter Arthur Koestler und Albert Camus, mit Ausnahmen der Philosoph Jean-Paul Sartre und der Arzt und Historiker Albert Schweitzer. Er vertrat mit seinem Leitmotiv „Ehrfurcht vor dem Leben“ eine neue ökologische Ethik, die das Prinzip der mörderischen Selbstbehauptung durch die Einsicht in die Bedingtheit, Vernetzung und Solidarität allen Lebens ersetzen soll.Laut Katechismus der Katholischen Kirche von 1992 schloss die römisch-katholische Kirche sie „in schwerwiegendsten Fällen“ einer Gefährdung der Gemeinschaft nicht aus, betont aber, dass „unblutige Mittel […] der Menschenwürde angemessener“ seien. Papst Johannes Paul II. erklärte 1995, die Todesstrafe sei „heutzutage infolge der immer angepaßteren Organisation des Strafwesens schon sehr selten oder praktisch überhaupt nicht mehr gerechtfertigt“. Im Juni 2016 verurteilte Papst Franziskus die Todesstrafe unter allen Umständen. Im Oktober 2017 setzte er sich für die ausnahmslose Ablehnung der Todesstrafe auch im Rahmen des Katechismus ein. Dieser wurde am 2. August 2018 entsprechend geändert. Ziffer 2267 schloss nun: „Deshalb lehrt die Kirche im Licht des Evangeliums, dass die Todesstrafe unzulässig ist, weil sie gegen die Unantastbarkeit und Würde der Person verstößt, und setzt sich mit Entschiedenheit für deren Abschaffung in der ganzen Welt ein.“ === Abschaffungsprozess in Europa === 1953 trat die Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK) in Kraft, deren Artikel 2 die Todesstrafe unter bestimmten Bedingungen gestattete. Der folgende, jahrzehntelange Gesinnungswandel breiter Gesellschaftsschichten veränderte allmählich die Haltung der meisten europäischen Regierungen. Unter dem Druck der öffentlichen Meinung wurde der Europarat in den 1970er Jahren zu einem entschiedenen Kämpfer gegen die Todesstrafe. 1983 verlangte das 6. Fakultativprotokoll zur EMRK ihre Abschaffung in Friedenszeiten. Alle 46 Mitgliedsstaaten traten diesem Protokoll bis 1997 bei. Seitdem gab es auf dem Gebiet des Europarats keine Hinrichtung mehr. Das 13. Fakultativprotokoll der EMRK erklärte 2002 auch die Todesstrafe in Kriegszeiten als abgeschafft. Deutschland hat es im Juli 2004 ratifiziert. Die am 29. Oktober 2004 unterzeichnete, aber nicht in Kraft getretene EU-Verfassung sah ein Verbot der Todesstrafe vor. Die Europäische Union (EU) hat ihre vollständige Abschaffung zur Aufnahmebedingung für neue Mitgliedsstaaten gemacht und so die Haltung dazu in möglichen Beitrittsländern beeinflusst. Der Kirchenstaat ließ 1870, kurz vor seiner faktischen Auflösung, letztmals jemanden hinrichten. Für den neu gegründeten Vatikanstaat wurde italienisches Strafrecht von 1929 gültig: Darin war die Todesstrafe für Attentate auf Staatsoberhäupter wie den Papst und für Anzettelung zum Aufstand vorgesehen, wurde aber nie vollstreckt. Papst Paul VI. ließ dieses nie angewandte Gesetz 1969 streichen. Zwar trat der Vatikan der Europäischen Menschenrechtskonvention nicht bei; doch im 2001 in Kraft getretenen neuen Grundgesetz des Vatikanstaates entfielen die bisherigen Regelungen zur Todesstrafe. Dennoch wurde lehramtlich die Todesstrafe in schwerwiegendsten Fällen weiterhin nicht ausgeschlossen. Im August 2018 verurteilte der Vatikan schließlich die Todesstrafe und lehnte sie nun „unter allen Umständen“ ab. Jeder Mensch habe ein unantastbares Recht auf Leben.Auch Belarus ist kein Mitgliedstaat des Europarats, weil es der EMRK nicht beitrat und die Todesstrafe weiter anwendet. 1996 befürworteten 80 Prozent der Belarussen, sie beizubehalten. Bis 2003 konnte sie für zwölf Straftatbestände verhängt werden, seither nur noch bei schweren Mordfällen. 134 Belarussen sollen zwischen Dezember 1996 und Mai 2001 gesetzlich erschossen worden sein. Seitdem nehmen die Hinrichtungen ab; genaue Zahlen gibt der Staat nicht bekannt. In einigen EU-Staaten fordern Teile der Bevölkerung öfter die Wiedereinführung der Todesstrafe, etwa im Zusammenhang mit Sexualverbrechen, Terroranschlägen oder politischen Morden. In Polen lehnte das Parlament am 22. Oktober 2004 einen entsprechenden gemeinsamen Gesetzesentwurf einer Gruppe rechtskonservativer und rechtsextremer Parteien nur mit knapper Mehrheit ab. Nach Umfragen von 2006 waren 77 Prozent der Polen für die Todesstrafe für Völkermord und besonders grausamen Mord. Zu den Befürwortern gehörten auch der damalige Präsident Lech Kaczyński sowie sein Bruder Jarosław Kaczyński (2006 bis 2007 Ministerpräsident). Allerdings hindert die Mitgliedschaft in der EU sowie die Polnische Verfassung (Art. 38 u. 40) Polens Regierung daran, die Todesstrafe wiedereinzuführen.In den Niederlanden verlangte der liberale Parteipolitiker Patrick van Schie nach den Morden an Pim Fortuyn und Theo van Gogh, den Grundgesetzartikel 114 aufzuheben, um die Todesstrafe zur Abschreckung islamistischer Terroristen gesetzlich wieder zulassen zu können. Nach Umfragen von 2005 unterstützten rund 50 Prozent der Bevölkerung diesen Vorstoß. Er fände im Parlament aber keine Mehrheit, da er dort als unvereinbar mit europäischen Werten und rechtsstaatlichen Grundsätzen gilt.Das Europaparlament hat am 7. Oktober 2010 mit großer Mehrheit einen Entschließungsantrag gegen die Todesstrafe angenommen. === UNO-Kampagnen === In ihrer Resolution 32/61 vom 8. Dezember 1977 erklärte die UN-Generalversammlung, die Todesstrafe abzuschaffen sei wünschenswert. Dafür setzt sich die UN-Menschenrechtskommission aufgrund ihrer Resolution 2004/67 vom 21. April 2004 ein und entwickelt wirksame Mechanismen, zu deren Durchsetzung und Überprüfung. Sie fordert eine weltweite Aussetzung für Hinrichtungen. Am 1. November 2007 legten 72 Staaten, darunter alle Mitglieder der Europäischen Union, einen neuen Resolutionsentwurf bei der UNO vor. Er fordert zunächst ein Moratorium für die Vollstreckung bereits gefällter Todesurteile mit dem Ziel, die Todesstrafe langfristig abzuschaffen, da sie die Menschenrechte untergrabe. Nach der Billigung durch das Social, Humanitarian and Cultural Affairs Committee (Third Committee) stimmte die UN-Generalversammlung dem Antrag am 18. Dezember 2007 mit 104 Ja-Stimmen zu. Das Hinrichtungsmoratorium ist jedoch für die UN-Mitgliedsstaaten nicht rechtlich bindend. Weiterhin verzichten jedes Jahr einige Staaten unter öffentlichem Druck auf die Todesstrafe und verankern ihre Abschaffung gesetzlich. Andere UN-Mitgliedsstaaten behalten sie bei. Willkürliche Hinrichtungen und tödliche Formen von Staatsgewalt nehmen zu; in Diktaturen fehlen rechtsstaatliche Kontrolle und Aufklärung über Art und Ausmaß von individuellen und staatlichen Verbrechen. Die kulturell verschiedene Auslegung der Menschenrechte und andere Faktoren erschweren die Durchsetzung internationaler Rechtsstandards. Im September 2017 verabschiedete der UN-Menschenrechtsrat eine Resolution, mit der die Verhängung der Todesstrafe wegen Verhaltensweisen wie Apostasie, Blasphemie, Ehebruch oder einvernehmlicher homosexueller Beziehungen verurteilt wurde. === Nichtregierungsorganisationen === Viele Initiativen, Organisationen und gesellschaftliche Verbände weltweit engagieren sich heute für die Abschaffung der Todesstrafe, die sie meist als unerlässlichen Beitrag zur allgemeinen Geltung aller Menschenrechte betrachten. Um deren Achtung unumkehrbar zu machen, bedürfe es eines ständigen zivilisierenden Engagements. Dieses begrüßen auch manche Todesstrafenbefürworter als Beitrag zu mehr Rechtssicherheit. Amnesty International (AI) wurde 1961 mit dem Hauptziel gegründet, die Todesstrafe weltweit abzuschaffen. Dieser weltweit anerkannten Menschenrechtsorganisation sind zahlreiche Gruppen mit ähnlichen Zielsetzungen gefolgt. Mit der Gründung der Weltkoalition gegen die Todesstrafe (World Coalition Against the Death Penalty) im Juni 2001 in Straßburg haben sich zunächst 38 solcher nichtstaatlichen Organisationen (NGOs), Anwaltsverbände, Kommunen und Länder, Gewerkschaften und Kirchen aus der ganzen Welt eine gemeinsame Plattform gegeben. Sie führen seit dem 10. Oktober 2003 jährlich einen „Aktionstag gegen die Todesstrafe“ durch und starten wirksame Initiativen zur Durchsetzung internationaler Rechtsstandards, etwa indem sie prominente Persönlichkeiten und einflussreiche Politiker zu Hinrichtungsterminen oder parlamentarischen Abstimmungen zur Todesstrafe entsenden. Auf Initiative mehrerer Menschenrechtsorganisationen dient das Kolosseum in Rom seit 1999 als Monument gegen die Todesstrafe. Es wird immer, wenn ein Todesurteil ausgesetzt wird oder ein Staat dieser Welt die Todesstrafe abschafft, 48 Stunden lang in bunten Farben angestrahlt. Am 30. November jeden Jahres findet die Aktion Cities for Life („Städte für das Leben“) statt, bei der Städte für die Abschaffung der Todesstrafe werben und dazu etwa indem sie ein Wahrzeichen ihrer Stadt beleuchten. Die Gemeinschaft Sant’Egidio initiierte diese Aktion 2002. Damals beteiligten sich 80 Städte daran; bis 2010 wuchs die Teilnehmerzahl auf über 1300 Städte in 85 Staaten, darunter 64 Hauptstädte; 2012 nahmen über 1600 Städte teil. Das Datum wurde gewählt, weil das Großherzogtum Toskana 1786 an diesem Tag als erstes Land der Welt die Todesstrafe abgeschafft hatte. Im Rahmen der Kampagne „Nein zur Todesstrafe“ haben AI, die Gemeinschaft Sant’Egidio und Moratorium 2000 seit 1998 fünf Millionen Unterschriften gegen die Todesstrafe gesammelt und den Vereinten Nationen übergeben. == Abschaffungsprozesse in Einzelstaaten == === Deutschland === ==== Zeit des Deutschen Bundes ==== Die Paulskirchenverfassung von 1849 schloss die Todesstrafe im Zivilrecht aus und nahm diese Abschaffung in ihren Grundrechtekatalog auf. Dem folgten einige kleinere Länder Bremen, Oldenburg, Nassau, Anhalt, das Königreich Sachsen und das Großherzogtum Baden. Die meisten dieser Länder führten die Todesstrafe ab 1850 jedoch wieder ein, weil die größeren Länder sie beibehielten und den Grundrechtekatalog nicht anerkannten.Damals diskutierten viele deutsche Akademiker das Für und Wider der Todesstrafe und publizierten Traktate dazu. Der Jurist Friedrich Wilhelm Carové hatte 1838 erklärt, die Todesstrafe könne wegen der gesellschaftlich tief verwurzelten Vergeltungsidee nur mit überwältigenden wissenschaftlichen Gründen abgeschafft werden, die noch nicht vorlägen. Der Naturwissenschaftler Emil Adolf Roßmäßler argumentierte in der Frankfurter Nationalversammlung, die Todesstrafe sei Relikt des Feudalismus, weil sie den zum Tod Verurteilten als Leibeigenen der Obrigkeit behandle und sein Leben vom Begnadigungsrecht der Fürsten abhängig mache. Auf diese übergeordnete Instanz setzend könnten Richter Todesurteile fällen, die sie sonst unterlassen hätten.Römisch-katholische und lutherische Theologen legitimierten staatliches Tötungsrecht mit Berufung auf Röm 13,4 f. meist als göttliche Anordnung, so dass man darauf nicht verzichten könne, ohne Gottes Autorität zu untergraben. Im Protestantismus lehnte Friedrich Schleiermacher die Todesstrafe aus sittlichen Gründen ab. Ihrer kirchlichen Legitimation und staatlichen Anwendung traten nur einzelne evangelische Theologen entgegen, etwa Johann Ulrich Wirth und Albert Bitzius. Der Deutsche Juristentag empfahl 1863 die Abschaffung der Todesstrafe, obwohl er ein einheitliches Strafgesetzbuch anstrebte, das die in den meisten Ländern üblichen Strafgesetze übernehmen sollte. ==== Norddeutscher Bund und Kaiserreich ==== 1870 verabschiedete der Norddeutsche Bund ein allgemeines Strafgesetzbuch: Deshalb wurde im Reichstag erstmals über die Todesstrafe debattiert. Vor allem der Sozialdemokrat Wilhelm Liebknecht sprach sich gegen sie aus; nach seiner Rede stimmte in zweiter Lesung eine Mehrheit von 118 zu 81 Abgeordneten der Abschaffung zu. Bundeskanzler Otto von Bismarck erreichte jedoch einen Umschwung, indem er die Einheit der Nation beschwor: Einige deutsche Länder würden dem Strafrechtsentwurf nur zustimmen, wenn die Todesstrafe darin beibehalten werde. Dafür stimmten in dritter Lesung 127 zu 119 Abgeordnete.Weil das norddeutsche und dann das Reichsstrafgesetzbuch von 1871 weitgehend das Preußische Strafgesetzbuch übernahm, wurde damit die Todesstrafe in den Ländern wieder eingeführt, die sie schon abgeschafft hatten. Sie war als Strafe für Mord (§ 211) und für Mordversuch am Kaiser oder dem eigenen Landesherrn (§ 80) vorgesehen. Todesurteile fällte eine Laienjury. Ein einmaliges Berufungsverfahren war möglich. Danach konnte der Verurteilte im Fall des § 211 seinen Landesherrn bzw. den Senat der jeweiligen Freien Stadt um Gnade ersuchen; im Fall des § 80 den Kaiser, sofern das Reich betroffen war. Erst wenn das Gnadengesuch ausdrücklich abgelehnt worden war, durfte das Urteil vollstreckt werden. Enthauptungen führten mehrere Dutzend Scharfrichter an verschiedenen Orten im ganzen Reich aus. Bis 1877 waren dabei Zuschauer erlaubt, danach nur noch die vorgeschriebenen Zeugen. König Wilhelm I. von Preußen unterzeichnete von 1868 bis 1878 keinen Hinrichtungsbefehl. Im Königreich Bayern gab es von 1868 bis 1880 nur sieben Exekutionen. Unter Wilhelm II. stieg die Zahl vollstreckter Todesurteile ab 1892 stark an. Das Erfurter Programm der SPD von 1891 forderte die Abschaffung der Todesstrafe. 1895 fällten die Gerichte in Preußen 68 Todesurteile bei 324 Fällen von Mord und Totschlag; 31 davon wurden vollstreckt. Von 1892 bis 1896 gab es 370 Fälle von Mord und Totschlag. Dafür wurden jährlich durchschnittlich 25 Personen hingerichtet.Am 31. Juli 1914 wurde als amtliche Bekanntmachung der Kriegszustand verhängt. In dieser wurde die Todesstrafe für folgende Verbrechen festgelegt: Hochverrat, Landesverrat, Brandstiftung, vorsätzliches Herbeiführen einer Überschwemmung, vorsätzliche Gefährdung der Schifffahrt sowie die vorsätzliche Brunnenvergiftung. Im Ersten Weltkrieg fällten deutsche Militärgerichte 150 Todesurteile, viele davon wegen Desertion. Der Spartakusbund forderte in seinem Revolutionsaufruf nach der Oktoberreform 1918 die ersatzlose Aufhebung der Todesstrafe im Militärstrafgesetz. Rosa Luxemburg kritisierte die Todesstrafe im Juli 1918 in ihrem Vorwort der von ihr ins Deutsche übersetzten Autobiografie Wladimir Korolenkos mit diesem und Leo Tolstoi als politische Klassenjustiz. Während der Novemberrevolution 1918/1919 drohten die Räteregierung und örtliche Arbeiter- und Soldatenräte Plünderern und Lebensmitteldieben die Todesstrafe an. Rosa Luxemburg forderte am 18. November 1918 in der ersten Ausgabe der Zeitschrift „Die Rote Fahne“: „Doch eine einschneidende Maßnahme kann ohne weiteres durchgeführt werden: Die Todesstrafe, diese größte Schmach des stockreaktionären deutschen Strafkodex, muß sofort verschwinden!“ Sie erinnerte in diesem Zusammenhang unter anderem daran, dass streikende Munitionsarbeiter im Januarstreik 1918 mit der Todesstrafe bedroht worden waren. Deren Abschaffung sei der notwendige Anfang einer grundlegenden Justiz- und Gesellschaftsreform zur Überwindung von Klassenherrschaft. ==== Weimarer Republik ==== Bei der Debatte über die Weimarer Verfassung verfehlten die Gegner der Todesstrafe aus SPD, USPD und einigen Abweichlern anderer Parteien die Mehrheit. Die Todesstrafe für Mord, Spionage und Landesverrat blieb erhalten. Von 1919 bis 1932 wurden nach amtlichen Statistiken 1141 Todesurteile verhängt und 184 davon vollstreckt. Bis 1923 war die Kriminalitätsrate gegenüber der Weltkriegszeit stark angestiegen. Ab 1924 sank die Anzahl der Kapitalvergehen, Todesurteile und Hinrichtungen stetig. Öffentliche Kritik trug dazu bei, dass Mordanklagen häufiger in Totschlaganklagen umgewandelt wurden und Generalstaatsanwälte ihr Begnadigungsrecht wahrnahmen. Jedoch wurden linksgerichtete Mörder weit öfter als rechtsgerichtete mit dem Tod bestraft: Darauf verwies seit 1920 unter anderem Emil Julius Gumbel. Infolge einiger Fememorde rechtsradikaler Täter wurde 1922 das Republikschutzgesetz beschlossen. Es drohte für die Mitgliedschaft in republikfeindlichen Vereinigungen und die Vorbereitung politischer Attentate die Todesstrafe an. Keine Mehrheit fand der SPD-Vorschlag, auf diesen Gesetzentwurf zu verzichten, wenn die Todesstrafe aus dem Reichsstrafgesetzbuch gestrichen werde. Dies strebte auch Justizminister Gustav Radbruch an, erreichte bis 3. November 1923 aber nur eine teilweise Justizreform.Die irrtümliche Hinrichtung von Josef Jakubowski als angeblicher Mörder seines eigenen Kindes 1926 und die weltweit als Justizmord kritisierte Hinrichtung von Sacco und Vanzetti in den USA 1927 bewirkten neue öffentliche Debatten um die Todesstrafe. Persönlichkeiten wie Albert Einstein, George Grosz, Heinrich Mann, Rudolf Olden, Kurt Tucholsky, Erwin Piscator, Max Reinhardt und Arnold Zweig setzten sich für ihre Abschaffung ein.Ein erneuter Abschaffungsantrag der SPD wurde im Reichstag 1927 in zweiter Lesung mehrheitlich abgelehnt: Die Todesstrafe sei wegen der kriegsbedingten Verrohung und Steigerung bei Schwerstverbrechen als starkes Abschreckungsmittel unaufgebbar; nach ihrer Abschaffung würden die Morde wieder zunehmen. Ein statistischer Vergleich von sechs europäischen Staaten ergab bis 1930 jedoch weder einen solchen Anstieg noch überhaupt einen Einfluss der Todesstrafe auf die Mordraten dieser Staaten. Viele deutsche Juristen unterschrieben 1931 eine Resolution für die Internationale Kriminalistische Vereinigung, die feststellte: „Zum Schutze von Staat und Gesellschaft gegen die schärfste Form gemeingefährlicher Kriminalität sind entsprechend den heutigen kriminalpolitischen Forderungen unbestimmte Verurteilung oder Sicherungsverwahrung die gebotenen Maßnahmen. Der Todesstrafe bedarf es nicht.“ ==== Zeit des Nationalsozialismus ==== Die NSDAP strebte die Ausweitung der Todesstrafe auf neue Tatbestände seit 1920 programmatisch an, etwa für Kriegsdienstverweigerung. Adolf Hitler machte in seiner Schrift Mein Kampf (1. Band 1925) die nach seiner Ansicht zu milde Militärgerichtsbarkeit des Kaiserreichs für dessen Niederlage im Ersten Weltkrieg verantwortlich: „Dass man im Kriege aber praktisch die Todesstrafe ausschaltete, die Kriegsartikel also in Wirklichkeit außer Kurs setzte, hat sich entsetzlich gerächt.“Mit dem „Gesetz über Verhängung und Vollzug der Todesstrafe“ vom 29. März 1933 machte das NS-Regime die „Verordnung des Reichspräsidenten zum Schutz von Volk und Staat“ vom 28. Februar 1933 auch rückwirkend für seit dem 31. Januar 1933 begangene Taten geltend und hob somit den Rechtsgrundsatz keine Strafe ohne Gesetz auf. Weil der mutmaßliche Reichstagsbrandstifter Marinus van der Lubbe auf dieser Basis am 10. Januar 1934 hingerichtet wurde, wird das neue Gesetz oft Lex van der Lubbe genannt. Reichskommissar für Justiz Hans Frank stellte auf dem Reichsparteitag im September 1934 den „rücksichtslosen Vollzug der Todesstrafe“ als besondere Errungenschaft des NS-Rechtssystems dar. Danach vermehrten viele Verordnungen wie die Verordnung gegen Volksschädlinge vom 5. September 1939 die Zahl der mit der Todesstrafe zu ahndenden Straftaten. Am 4. September 1941 wurde mit § 1 des Gesetzes zur Änderung des Reichsstrafgesetzbuchs die „Reinigungstodesstrafe“ für „gefährliche Gewohnheitsverbrecher“ und „Sittlichkeitsverbrecher“ eingeführt. Für ihre Verhängung war der „Schutz der Volksgemeinschaft“ oder das Bedürfnis nach gerechter „Sühne“ ausreichend. Als Gesetzeszweck galt schon damals neben Vergeltung und Prävention eine Beseitigung von als „minderwertig“ beurteilten Tätern. Der Strafrechtler Georg Dahm begründete dies mit einem „sittlichen und biologischen Reinigungsbedürfnis der Gemeinschaft“. Hitler sagte 1942 dazu: „Nach 10 Jahren Zuchthaus ist der Mensch sowieso für die Volksgemeinschaft verloren. Solchen Kerl steckt man entweder in ein Konzentrationslager oder tötet ihn. In letzter Zeit ist das letztere wichtiger, um der Abschreckung willen.“Vom 28. Februar 1933 bis zum 16. April 1945 wurde die Todesstrafe die Regelstrafe für 46 weitere Straftatbestände neben Mord, um die NS-Diktatur juristisch abzusichern. Insgesamt führte das NS-Regime die Todesstrafe für 77 neue Tatbestände ein. Ab 1944 konnte sie zudem für jeden beliebigen Verstoß gegen das „gesunde Volksempfinden“ verhängt werden. Nach der amtlichen Statistik wurden zwischen 1933 und 1945 16.560 Todesurteile gefällt, 12.000 vollstreckt. 664 Todesurteile erfolgten vor, 15.896 im Zweiten Weltkrieg. Allein der Volksgerichtshof verhängte 5.243 Todesurteile, meist unter Roland Freisler. Militärgerichte fällten weitere etwa 20.000 Todesurteile. Der Rechtshistoriker Ingo Müller schätzte 1989 die Gesamtzahl der im Zweiten Weltkrieg von der NS-Kriegsgerichten verhängten Todesurteile auf 33.000, von denen 89 % auch vollstreckt worden seien. Eine unbekannte Zahl von Todesurteilen, vermutlich mehr als 5000, wurden seit Frühjahr 1944 durch den zunehmenden Einsatz von „fliegenden Standgerichten“ gefällt, die zunächst als mobile Gerichte sogenannten Feldjäger-Kommandos beigegeben waren, ab Februar 1945 aber auch von Heeresgruppen und dem Ersatzheer aufgestellt wurden und dann selbstständig hinter der Front agierten.Die meisten Todesurteile wurden mit dem Fallbeil vollstreckt. Der bekannteste und meistbeschäftigte Scharfrichter der NS-Zeit war Johann Reichhart. Auch Hängen war üblich, besonders bei Landesverrat und Massenhinrichtungen wie nach dem gescheiterten Attentat vom 20. Juli 1944: Damals wurden im Strafgefängnis Plötzensee bis zu 142 Personen täglich hingerichtet, und zwar auf Befehl Hitlers auf besonders grausame Weise durch Hängen an Fleischerhaken mit Schlingen aus Klaviersaiten. Hitler ließ die Exekutionen filmen und fotografieren. Am 25. Januar 1985 stellte der Deutsche Bundestag fest, der Volksgerichtshof sei ein Terrorinstrument zur Durchsetzung der nationalsozialistischen Willkürherrschaft gewesen. Daher komme seinen Urteilen keine Rechtswirksamkeit zu. Das Gesetz zur Aufhebung nationalsozialistischer Unrechtsurteile in der Strafrechtspflege vom 25. August 1998 hob die Urteile des Volksgerichtshofs und der NS-Standgerichte auch formell auf (siehe Aufhebung von NS-Unrechtsurteilen). ==== Sowjetische Besatzungszone ==== In der SBZ verurteilten deutsche Gerichte von 1945 bis 1949 121 Personen zum Tod, 47 davon wurden hingerichtet. In einem Fall ist die Vollstreckung nicht erwiesen. (siehe auch Liste von in der DDR hingerichteten Personen). Die Militärtribunale der sowjetischen Besatzungstruppen in Deutschland verurteilten von 1945 bis 1947, als die Sowjetunion die Todesstrafe zeitweise abschaffte, insgesamt 1786 deutsche Zivilisten zum Tod durch Erschießung, davon 922 wegen „konterrevolutionärer Verbrechen“ und 529 wegen „Kriegs- und Gewaltverbrechen“. 1232 dieser Urteile wurden vollstreckt. ==== Deutsche Demokratische Republik ==== Nachdem die Deutsche Demokratische Republik (DDR) 1949 gegründet worden war und die Sowjetunion die Todesstrafe 1950 wiedereingeführt hatte, verurteilten sowjetische Militärtribunale bis 1953 insgesamt 1112 deutsche Zivilisten, oft aus sich überschneidenden Gründen, zum Tod. Nach den Urteilsgründen gehörten 1108 Verurteilte zur Deliktgruppe „konterrevolutionäre Verbrechen“, darunter waren 1061 Fälle von „Spionage“, 788 von „Organisationsbildung“, 358 von „Propaganda“ sowie 272 andere. In sechs Fällen wurde die Deliktgruppe „Kriegs- und Gewaltverbrechen“ angegeben. In den meisten dieser Fälle hatte zunächst das dafür zuständige Ministerium für Staatssicherheit (MfS) gegen die Verdächtigten ermittelt, sie verhaftet, erste Geständnisse von ihnen erpresst und sie in eine Verbrechenskategorie „eingruppiert“. Auf dieser Basis setzte die sowjetische Geheimpolizei das Verfahren in der DDR oder der Sowjetunion fort; die Urteile fällte ein sowjetisches Militärgericht. Alle 960 Todesurteile sowie weitere 31, die sich zeitlich keiner der beiden Perioden zuordnen lassen, wurden in Moskau vollstreckt. Sowjetische Organe gaben Angehörigen keine Auskünfte zum weiteren Schicksal eines Verhafteten. Erst nach dem Ende der Sowjetunion 1990 machten russische Behörden Angaben zur Hinrichtung und rehabilitierten mindestens 662 der 960 nach 1950 Verurteilten.Gegen den Aufstand des 17. Juni 1953 verhängte die Sowjetarmee über weite Teile der DDR den Ausnahmezustand. Standgerichte fällten mindestens achtzehn Todesurteile, die sofort vollstreckt wurden.Gerichte der DDR verhängten 227 rechtskräftige Todesurteile, davon wurden 166 vollstreckt. 52 vollstreckte Urteile waren wegen politischer Delikte, 64 wegen Verbrechen in der NS-Zeit und 44 wegen gewöhnlicher Kriminalität, meist Mord, ergangen. Die Verurteilten wurden mit dem Fallbeil enthauptet. Ab 1968 wurden Todesurteile durch einen „unerwarteten Nahschuss ins Hinterhaupt“ vollstreckt. Bis 1956 fanden die meisten Hinrichtungen in der „Zentralen Hinrichtungsstätte“ in Dresden, aber auch im Zuchthaus Brandenburg und in Frankfurt (Oder) statt. Das Dresdner Fallbeil der DDR stammte aus der NS-Zeit. Danach wurden Todesurteile nur noch in der „Zentralen Hinrichtungsstätte“ in Leipzig (Arndtstraße 48) vollstreckt. Die Leichen der Hingerichteten wurden unter Geheimhaltung zum Leipziger Südfriedhof gebracht, anonym verbrannt und ihre Asche verscharrt. In den Krematoriumsbüchern stehen keine Namen, sondern nur der Vermerk „Anatomie“. Seit 1970 wurde die Todesstrafe nur noch selten verhängt. Als letzter Zivilist wurde am 15. September 1972 der Kindermörder Erwin Hagedorn hingerichtet, als letzter Staatsbediensteter am 26. Juni 1981 der MfS-Offizier Werner Teske.Am 17. Juli 1987 verkündete der Staatsrat der DDR die Abschaffung der Todesstrafe im Rahmen einer umfassenden Amnestie, u. a. für Wirtschaftskriminalität und Republikflucht. Im Dezember verabschiedete die Volkskammer ein Gesetz dazu. Diese Maßnahmen entsprachen westlichen Forderungen und hingen mit dem damals bevorstehenden Staatsbesuch von Erich Honecker in Bonn zusammen. Fast alle Hinrichtungen in der DDR wurden geheim gehalten, selbst nach veröffentlichten Todesurteilen in Schauprozessen. Die Angehörigen erhielten zwar eine Nachricht, doch wurden die Leichen nicht ausgehändigt. Oft verzeichnen die Bestattungs- oder Totenscheine fingierte „natürliche“ Todesursachen wie „Herzversagen“. Zahl und Art der Hinrichtungen wurden erst nach der politischen Wende 1989/90 bekannt. ==== Westalliierte Besatzungszonen ==== Zwischen 1945 und 1951 wurden die letzten Todesurteile im Gebiet der späteren Bundesrepublik Deutschland vollstreckt. Die meisten davon wurden im Rahmen der Nürnberger Prozesse gegen Vertreter des NS-Regimes wegen Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit (Holocaust) gefällt. In Gefängnissen der US-Armee auf westdeutschem Boden wurden bis 1951 806 Personen zum Tod verurteilt; etwa 300 davon wurden hingerichtet, davon 284 im Kriegsverbrechergefängnis Landsberg. Als Letzten richteten westdeutsche Behörden am 18. Februar 1949 in Tübingen den 28-jährigen Mörder Richard Schuh hin, dessen Begnadigung der damalige Staatspräsident von Württemberg-Hohenzollern, Gebhard Müller, abgelehnt hatte. Das letzte Todesurteil im Bereich in der späteren Bundesrepublik Deutschland wurde am 7. Mai 1949 in Köln gegen Irmgard Swinka verhängt; die 37-Jährige wurde wegen fünf Morden verurteilt, aufgrund der Verabschiedung des Grundgesetzes durch den Parlamentarischen Rat am folgenden Tag aber nicht mehr hingerichtet und schließlich 1983 begnadigt.In Baden, Bayern, Bremen, Hessen und Württemberg-Baden wurde von deutschen Behörden niemand mehr hingerichtet, obwohl es noch Todesurteile gab. Auch in Rheinland-Pfalz wurden gefällte Todesurteile nicht mehr vollstreckt: Die neu erbaute Guillotine wurde am 11. Mai 1949 einsatzbereit gemeldet. Drei Tage zuvor hatte der Parlamentarische Rat das Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland verabschiedet, das die Todesstrafe bundesweit aufhob. In Bayern wurden die Bestimmungen zur Todesstrafe 1998 formell aus der Verfassung gestrichen, in Hessen 2018 als letztem Bundesland. West-Berlin gehörte wegen des Viermächte-Status bis 1990 nicht zum Geltungsbereich des Grundgesetzes. Dort wurde zuletzt am 11. Mai 1949 der vor der Spaltung der Stadt zum Tod verurteilte 24-jährige Raubmörder Berthold Wehmeyer durch das Fallbeil hingerichtet. Am 20. Januar 1951 trat in West-Berlin das „Gesetz zur Abschaffung der Todesstrafe“ in Kraft. Das Besatzungsstatut sah diese als Höchststrafe für „strafbare Handlungen gegen die Interessen der Besatzungsmächte“ weiterhin vor. Sie wurde deswegen aber nie verhängt. Per Anordnung vom 15. März 1989 (Gesetz- und Verordnungsblatt für Berlin 1989, S. 568) hob die Alliierte Kommandantur die Todesstrafe mit sofortiger Wirkung auf. ==== Bundesrepublik ==== Beim Verfassungskonvent auf Herrenchiemsee im August 1948 sollten die Vertreter der Länder in den Westzonen einen Entwurf für ein deutsches Grundgesetz für den Parlamentarischen Rat erarbeiten. Sie erwogen die Abschaffung der Todesstrafe, nahmen sie aber nicht in den Entwurf auf, sondern empfahlen dem Rat nur, dieser Abschaffung „sein Augenmerk zuzuwenden“. Konsens war somit, die Regelung der Todesstrafe nicht den Ländern zu überlassen.Bei den Beratungen des Rates zum Grundgesetz schlug der Abgeordnete Hans-Christoph Seebohm für die rechtsgerichtete Deutsche Partei am 6. Dezember 1948 überraschend ein Verbot der Todesstrafe vor. Damit wollte seine Partei weitere alliierte Todesurteile für NS-Kriegsverbrecher anprangern, um so ehemalige Nationalsozialisten anzuwerben und den Druck zum Beenden der alliierten Entnazifizierung zu erhöhen. Nach anfänglicher Ablehnung der SPD beantragte Friedrich Wilhelm Wagner für diese am 10. Februar 1949, den Satz „Die Todesstrafe ist abgeschafft“ in das Grundgesetz aufzunehmen. Dies sei notwendig, um ein erneuertes Rechtsbewusstsein der Deutschen und ihre Abkehr von der NS-„Barbarei“ zu beweisen. Obwohl die Fraktion der CDU den Antrag ablehnte, fand dieser am 6. Mai 1949 eine deutliche parteiübergreifende Mehrheit. In der Abstimmung im Hauptausschuss des parlamentarischen Rates stimmte etwa die Hälfte der CDU-Abgeordneten für die Abschaffung der Todesstrafe und wich damit vom Votum der eigenen Fraktion ab. Art. 102 GG trat mit der Gründung der Bundesrepublik 1949 als übergeordnetes Bundesrecht in Kraft. Seitdem darf die Todesstrafe in der Bundesrepublik weder angeordnet noch vollstreckt werden. Sofort danach suchten Konrad Adenauer (CDU) und Kurt Schumacher (SPD) den Hohen Kommissar für Deutschland auf und protestierten mit Hinweis auf die neue bundesdeutsche Rechtslage gegen die Hinrichtung von durch US-Militärgerichte zum Tod verurteilten Kriegsverbrechern. John Jay McCloy setzte daraufhin einige anstehende Hinrichtungen aus. Dennoch wurden in Landsberg am 7. Juni 1951 letztmals sieben deutsche Kriegsverbrecher gehängt. Im Strafgesetzbuch blieb die Todesstrafe etwa für Mord bis 1953 vorgesehen und wurde mit dem Dritten Strafrechtsänderungsgesetz (BGBl. I S. 735) jeweils durch lebenslange Zuchthausstrafe ersetzt. Einzelne Länderverfassungen behielten noch eine Weile Bestimmungen zur Todesstrafe, die das übergeordnete Grundgesetz entkräftet hatte. So wurde Art. 47 Abs. 4 der Bayerischen Verfassung nach einem Volksentscheid vom 8. Februar 1998 gestrichen. In der Verfassung des Saarlandes, das der Bundesrepublik 1957 beitrat, stand bis 1956 eine ähnliche Vorschrift. Bis 2018 erlaubte Art. 21 Abs. 1 der Verfassung des Landes Hessen bei besonders schweren Verbrechen ein richterliches Todesurteil aufgrund eines Strafgesetzes.Unter dem Eindruck einiger schwerer Gewaltverbrechen forderte die rechtskonservative Bayernpartei 1950, die Todesstrafe wiedereinzuführen. Deren Abgeordneter Hermann Etzel begründete das in der Bundestagsdebatte am 27. März 1950 mit Todesstrafengesetzen der Kaiserzeit und der Weimarer Zeit. Er behauptete, das Grundgesetz sei auf undemokratische Weise entstanden und entspreche nicht dem Bevölkerungswillen. Die große Mehrheit sei für die Todesstrafe zur „Ausmerzung“ von mehrfachen Raub-, Sexual-, Eltern- und Kindesmördern. Nur die Deutsche Partei stimmte dem Antrag zu, so dass er bereits die einfache Mehrheit verfehlte.1952 beantragte die damals an der Regierung beteiligte Deutsche Partei erneut, die Todesstrafe wiedereinzuführen. Auch Bundeskanzler Adenauer und der spätere Justizminister Richard Jaeger (CSU) plädierten in einzelnen Wahlkampfreden dafür. Justizminister Thomas Dehler (FDP) nannte im Bundestag das Hauptargument der Gegner: „Hat man sich grundsätzlich für die Todesstrafe entschlossen, dann ist die entscheidende Schwelle überschritten.“ Im Kontext dieser Gesetzesvorstöße wurde die Todesstrafe auch in der EKD diskutiert. Die evangelischen Theologen Paul Althaus, Emil Brunner und Walther Künneth bejahten sie als „Sühne“ aufgrund einer traditionellen Staatsmetaphysik, wonach der Staat (Röm 13,4) Gottes Vergeltungsrecht (Gen 9,6) vollstrecken müsse. Künneth behauptete 1949 in einem Gutachten für den Bundestag, durch die Todesstrafe für Mord stelle der Staat Gottes Heiligkeit wieder her. Für Karl Barth dagegen schließt der Kreuzestod Jesu Christi die Todesstrafe ultimativ aus, weil hier der Sohn Gottes die Versöhnung mit dem Rechtsbrecher (allen Menschen) ein für alle Mal vollzogen, alle Vergeltung auf sich genommen und damit erübrigt habe. Von da aus sei ein Staatsrecht zum Strafen durch den Tod eine mit dem Zentrum des christlichen Glaubens unvereinbare Anmaßung. Ernst Wolf widersprach der traditionellen lutherischen Staatsmetaphysik: Röm 13 legitimiere nicht bedingungslos jede Obrigkeit und überhöhe sie nicht zu Gottes Stellvertreter auf Erden, sondern ordne alle Staatsformen und Regierungen Gottes Recht zur Gnade unter, die Christus ein für alle Mal vollzogen habe. Das „Schwertamt“ (Röm 13,4) impliziere daher kein unbedingtes Recht zur Todesstrafe; diese könne Unrecht nicht sühnen. Diese Position setzte sich in der EKD durch. Nach Umfragen befürworteten Mehrheiten der Befragten die Todesstrafe bis 1967. Die Zahl der Befürworter ging stetig zurück, stieg aber in einzelnen Jahren zum Beispiel wegen Sexualdelikten, etwa 1964 oder 1967, kurzfristig erneut an. Auch für einige Verbrechen der RAF in den 1970er Jahren forderten Umfragemehrheiten und einige CSU-Politiker zeitweise ihre Wiedereinführung. Diese wurde im Bundestag aber nie wieder thematisiert. Sie sei wegen Art. 102 GG verfassungswidrig. Während des Deutschen Herbstes wurden im Jahre 1977 auf Wunsch von Bundeskanzler Helmut Schmidt „exotische Vorschläge“ zur Lösung des Terrorismusproblems diskutiert, die teilweise eine Wiedereinführung der Todesstrafe beinhalteten. Generalbundesanwalt Kurt Rebmann plädierte für das sogenannte „Modell Nr. 6“, in dem es heißt: „Der Bundestag ändert unverzüglich Artikel 102 des Grundgesetzes. Stattdessen können nach Grundgesetzänderung solche Personen erschossen werden, die von Terroristen in menschenerpresserischer Geiselnahme befreit werden sollen. Durch höchstrichterlichen Beschluss wird das Todesurteil gefällt. Keine Rechtsmittel möglich.“ Ein solcher Vorschlag hätte sich jedoch nach Meinung von Gerhart Baum, damals Parlamentarischer Staatssekretär im Innenministerium, niemals umsetzen lassen.Das deutsche Strafrecht unterscheidet den Begriff „Strafe“ als „Repressalie“ bzw. „Übelzufügung“ streng von einer „Maßregel“ zur Sicherung der Gesellschaft, mit der die Tötung von Verbrechern meist begründet wird. Daher wurde der Geltungsbereich von Art. 102 verfassungsrechtlich diskutiert. Er schließt nach herrschender Auffassung auch alle als Reaktionen auf Delikte und alle präventiv begründeten staatlichen Tötungen aus. Umstritten blieb, ob er in Verbindung mit Art. 2 Abs. 2 (Recht auf Leben) alle planmäßigen Tötungen namentlich bekannter Personen durch Staatsorgane ausschließt.Rechtswissenschaftler diskutieren auch, ob Art. 102 gemäß Art. 79 GG mit einer Zweidrittelmehrheit in Bundestag und Bundesrat geändert oder gestrichen werden könnte. Einige Verfassungsrechtler bestreiten die allgemeine Unvereinbarkeit der Todesstrafe mit der Menschenwürde. Das lasse sich rechtshistorisch und zukünftig nicht belegen. Der Verfassungsgeber habe darauf verzichtet, Art. 102 an der Ewigkeitsgarantie teilhaben zu lassen, indem dieser Artikel unter den nach Art. 79 Abs. 3 unveränderlichen Grundrechten nicht genannt wurde. Es blieben also Kapitalverbrechen denkbar, für die nach einer entsprechenden Änderung von Art. 102 die Todesstrafe angedroht werden könne. Nach der heute herrschenden Rechtsmeinung verletzt eine Todesstrafe jedoch in jedem Fall die unantastbare Menschenwürde und verstößt damit gegen Art. 1 Abs. 1 GG. Da dieser durch die Ewigkeitsklausel gegen Änderungen geschützt ist, sei Art. 102 GG streng genommen überflüssig und habe nur klarstellende Funktion. Entsprechend heißt es in einem Urteil des Bundesgerichtshofes vom 16. November 1995: „Aus humanitären Gründen kann keinem Staat das Recht zustehen, durch diese Sanktion über das Leben seiner Bürger zu verfügen. Vielmehr erfordert es der Primat des absoluten Lebensschutzes, daß eine Rechtsgemeinschaft gerade durch den Verzicht auf die Todesstrafe die Unverletzlichkeit menschlichen Lebens als obersten Wert bekräftigt. Darüber hinaus erscheint es unbedingt geboten, der Gefahr eines Mißbrauchs der Todesstrafe durch Annahme ihrer ausnahmslos gegebenen Unzulässigkeit von vornherein zu wehren. Fehlurteile sind niemals auszuschließen. Die staatliche Organisation einer Vollstreckung der Todesstrafe ist schließlich, gemessen am Ideal der Menschenwürde, ein schlechterdings unzumutbares und unerträgliches Unterfangen. Diese Bedenken legen den Befund nahe, daß nach deutschem Verfassungsrecht jegliche Wiedereinführung der Todesstrafe – auch abgesehen von Art. 102 GG – vor Art. 1 Abs. 1 GG und der Wesensgehaltsgarantie des Grundrechts auf Leben (Art. 2 Abs. 2 Satz 1 i. V. m. Art. 19 Abs. 2 GG) keinen Bestand haben könnte…“Nach dem Gesetz über die internationale Rechtshilfe in Strafsachen (§ 8) darf die Bundesrepublik Auslieferungsgesuche anderer Staaten nur dann bewilligen, wenn der Empfängerstaat zusichert, den ausgelieferten Täter nicht zum Tod zu verurteilen oder ein Todesurteil nicht zu vollstrecken. === Frankreich === Im Revolutionsjahr von 1848 forderten Republikaner wie Victor Hugo erneut die Abschaffung der Todesstrafe. Obwohl sie sich nicht durchsetzen konnten, blieb die Forderung fortan in der Diskussion. 1939 fand mit der Enthauptung des Delinquenten Eugen Weidmann die letzte öffentliche Hinrichtung in Versailles statt. Im und nach dem Zweiten Weltkrieg nahmen Hinrichtungen nochmals enorm zu. Nach der Besatzungszeit sollen allein 8348 Personen ohne Gerichtsverfahren hingerichtet worden sein. Im Juni 1972 unterlag der Rechtsanwalt Robert Badinter als Verteidiger in einem Todesstrafenfall vor Gericht und wurde Zeuge der Hinrichtung seines Klienten Roger Bontemps. Dieser wurde gemeinsam mit seinem Komplizen Claude Buffet für die Ermordung von zwei Geiseln anlässlich eines Ausbruchsversuches aus dem Gefängnis verurteilt, obwohl erwiesen war, dass er den Mord nicht verübt hatte. Dies machte Badinter von einem Kritiker zu einem vehementen Gegner der Todesstrafe. Von nun an verteidigte er oft Angeklagte, denen die Todesstrafe drohte, und erhielt deshalb den Spitznamen Monsieur Abolition. Danach gab es drei Jahre lang kein Todesurteil. Am 28. Juli 1976 wurde der Kindesmörder Christian Ranucci hingerichtet. Im Juni 1977 erwirkte Badinter durch ein denkwürdiges Plädoyer gegen die Todesstrafe gegen den öffentlichen Druck die Abwendung der Todesstrafe für den Kindesmörder Patrick Henri, der zu einer lebenslangen Haftstrafe verurteilt wurde. Staatspräsident Valéry Giscard d’Estaing, ein erklärter Gegner der Todesstrafe, setzte deren Abschaffung noch nicht auf die politische Tagesordnung, machte jedoch in Einzelfällen von seinem Begnadigungsrecht Gebrauch. Zwischen dem Fall Patrick Henri und der Abschaffung der Todesstrafe im Jahr 1981 wurden drei Todesurteile vollstreckt. Am 10. September 1977 wurde Hamida Djandoubi in Marseille als letzter Mensch in Frankreich hingerichtet. Letzter Scharfrichter der Französischen Republik war Marcel Chevalier. Noch 1978 kritisierte Amnesty International die Praxis der Todesstrafe in Frankreich, die bis 1981 mit dem Fallbeil vollzogen werden konnte. Das letzte in oberster Gerichtsinstanz bestätigte Todesurteil erging gegen den späteren Historiker Philippe Maurice, das letzte Todesurteil in erster Instanz wurde am 28. September 1981, zwei Tage vor dem endgültigen Abschaffungsbeschluss durch den französischen Senat, in Colmar ausgesprochen. Zur Hinrichtung kam es nicht mehr. François Mitterrand versprach im Wahlkampf 1981 die Abschaffung der Todesstrafe und machte nach seinem Wahlsieg Robert Badinter, der ihn in seinen beiden Wahlkampagnen 1974 und 1981 unterstützt hatte, zum Justizminister. Dieser erreichte im September 1981 mit einer engagierten Rede in der Nationalversammlung eine Dreiviertelmehrheit für die Untersagung der Todesstrafe. Neben den Sozialisten stimmten auch bürgerliche Abgeordnete, darunter Jacques Chirac und Philippe Séguin, für seine Gesetzesvorlage, der der Senat am 30. September 1981 offiziell zustimmte. Am 17. Februar 1986 ratifizierte Frankreich zudem das sechste Zusatzprotokoll zur Europäischen Menschenrechtskonvention. Am 19. Februar 2007 wurde das Verbot der Todesstrafe in die französische Verfassung aufgenommen. Die im Kongress versammelten Abgeordneten von Nationalversammlung und Senat beschlossen die Änderung mit 828 zu 26 Stimmen. Nun heißt es darin: „Niemand darf zum Tode verurteilt werden.“ Heute fordert in Frankreich nur noch der Front National unter Marine Le Pen die Wiedereinführung der Todesstrafe. Zum 25. Jahrestag ihrer Abschaffung erwog die französische Zentralbank die Ausgabe einer Zwei-Euro-Gedächtnismünze, was jedoch nicht realisiert wurde.Nach einer Umfrage vom September 2006 befürworteten 42 Prozent der Franzosen die Wiedereinführung der Todesstrafe, darunter rund 44 Prozent der Männer und 48 Prozent aller Bürger im Alter zwischen 35 und 49 bzw. über 65 Jahren. Bei Franzosen zwischen 25 und 34 Jahren liegt der Anteil bei 32 Prozent. === Italien === Vor der Vereinigung Italiens sah die Gesetzgebung aller Staaten (einschließlich des Königreichs Sardinien, mit Ausnahme des Großherzogtums Toskana) die Todesstrafe vor. Zur Vereinheitlichung wurde 1861 das Strafgesetzbuch des Königreichs Sardinien auf ganz Italien mit Ausnahme der Toskana ausgedehnt.Faktisch abgeschafft war die Todesstrafe seit der Generalamnestie von Umberto I. (Amnestiedekret vom 18. Januar 1878). 1889 wurde die Todesstrafe im gesamten Königreich Italien abgeschafft, mit der fast einstimmigen Billigung des neuen Strafgesetzbuches durch beide Kammern während der Amtszeit von Giuseppe Zanardelli. Einer der letzten verurteilten Gefangenen war Giovanni Passannante, der 1878 ein Attentat auf König Umberto I. verübt hatte; sein Todesurteil wurde nicht vollstreckt, sondern in lebenslange Freiheitsstrafe umgewandelt. Die Todesstrafe wurde 1926 von Benito Mussolini für Mordanschläge auf den König und dessen Familie und für Verbrechen gegen den Staat wieder eingeführt. 1930 wurde der Codice Rocco eingeführt, der die Zahl der mit der Todesstrafe bestraften Verbrechen gegen den Staat erhöhte und auch die Strafe für einige andere schwere Verbrechen wieder einführte. Während der Regierung Mussolini wurden 118 Menschen hingerichtet. Die Todesstrafe wurde von Umberto II. beim Sturz des Faschismus mit dem Gesetzesdekret Nr. 224 vom 10. August 1944 eingeschränkt: Sie wurde nur noch für faschistische Verbrechen und Kollaboration sowie von den Militärgerichten der Alliierten verhängt. Am Ende des Zweiten Weltkriegs blieb die Todesstrafe in Kraft, um damit Verbrechen wie Raub, Erpressung, Entführung zum Zwecke des Raubes oder der Erpressung, die Gründung oder Organisation einer bewaffneten Bande zu bestrafen. Die italienische Verfassung, die am 1. Januar 1948 in Kraft trat, hob die Todesstrafe für alle in Friedenszeiten begangenen Verbrechen endgültig auf: Die letzte Hinrichtung fand am 5. März 1947 statt. Die Todesstrafe blieb bis 1994 im Militärstrafgesetzbuch. Dort war sie im Ersten Weltkrieg für Akte der Desertion, des Ungehorsams und „unehrenhaften Verhaltens“ massiv angewandt worden. === Liechtenstein === Das Fürstentum Liechtenstein war politisch und hinsichtlich des Rechtssystems jahrhundertelang eng mit Österreich verbunden. 1785 wurde letztmals ein Mensch in Liechtenstein hingerichtet (Barbara Erni, verurteilt auf Rofenberg am 26. Februar 1785). Dies hatte sehr wahrscheinlich einen Zusammenhang mit dem „Allgemeinen Gesetzbuch über Verbrechen und deren Bestrafung“ von 1787, das die Constitutio Criminalis Theresiana von 1768 in Österreich ersetzte und in der die Todesstrafe für gewöhnliche Verbrechen (bis 1792/1803) abgeschafft und durch Zwangsarbeit ersetzt wurde.Am 29. November 1977 wurde im Rahmen eines dreifachen Mordes, bei dem ein Familienvater seine Frau und zwei seiner Kinder erschoss, letztmals von einem liechtensteinischen Gericht, konkret dem Fürstlich-liechtensteinischen Kriminalgericht, die Todesstrafe verhängt. Die Juristen hatten auf Grund des veralteten Strafgesetzes keine andere Wahl, als die Todesstrafe auszusprechen, dennoch war zu jenem Zeitpunkt klar, dass diese nicht vollstreckt wird. Man setzte daher folgerichtig, wie bereits zuvor üblich, auf die Begnadigung durch den Landesfürsten, so kam es am 20. November 1979 auch, als Franz Josef II. die Strafe gemäß der Verfassung des Fürstentums Liechtenstein in eine 15-jährige schwere Kerkerstrafe umwandelte. Die Todesstrafe wurde in Liechtenstein 1987 offiziell abgeschafft (Beitritt zum Europarat 1978). === Namibia === === Neuseeland === === Niederlande === In den Niederlanden wurde die Todesstrafe im zivilen Strafrecht 1870 abgeschafft, nicht im Kriegsrecht und Militärstrafrecht. Die letzten zwei Hinrichtungen erfolgten 1860. 1939 wurde debattiert, ob man für Hochverrat und/oder Landesverrat die Todesstrafe einführen sollte. Als vom 10. bis 15. Mai 1940 beim Westfeldzug die deutsche Wehrmacht einmarschierte, wurden drei Soldaten wegen Desertion verurteilt und hingerichtet. Unter der deutschen Besetzung wurden viele Todesurteile gefällt und ausgeführt. Kurz nach der Befreiung kam es vielerorts in den Niederlanden zu Lynchjustiz. Die Todesstrafe wurde wiedereingeführt, um Kollaborateure und andere Menschen hinrichten zu können, die während der Besetzungszeit gemäß dem Rechtsgefühl der Nachkriegszeit schwere Straftaten begangen hatten. 154 Menschen wurden zum Tode verurteilt, 39 davon wurden hingerichtet. Die letzten beiden (der Niederländer Andries Pieters und der Deutsche Artur Albrecht) wurden am 21. März 1952 erschossen. Königin Juliana begnadigte viele der übrigen. Vier begnadigte deutsche SS-Angehörige saßen Jahrzehnte im Gefängnis; sie wurden als Vier von Breda bekannt. Die letzten beiden wurden im Januar 1989 (kurz vor ihrem Tod) entlassen. 1983 wurde mit der Einfügung von Artikel 114 in die Verfassung der Niederlande auch die Todesstrafe im Militärrecht abgeschafft („De doodstraf kan niet worden opgelegd“). === Österreich === In Österreich gab es seit dem 16. Jahrhundert Vorstöße, die Todesstrafe einzuschränken oder abzuschaffen. Im 18. Jahrhundert wurde die „verschärfte“, mit besonders grausamer Folter wie dem Rädern verbundene Form der Todesstrafe abgeschafft. Joseph II. verfügte nach seinem Amtsantritt 1780 nur ein Todesurteil. 1787 schaffte er die Todesstrafe im ordentlichen Strafprozess mit dem Josephinischen Strafgesetz ab; sie blieb nur im Standrecht erhalten. Aus wirtschaftlichen Gründen und weil es abschreckender und empfindlicher sein sollte, setzte man Sträflinge stattdessen zur Zwangsarbeit wie etwa dem Schiffziehen auf der Donau ein, an deren Umständen jedoch viele starben. 1795 wurde die Todesstrafe für Hochverrat und 1803 auch für andere schwere Verbrechen wieder eingeführt. Frauen wurden ab 1809 mehrere Jahrzehnte lang nicht mehr hingerichtet. Erst 1866 wurde mit der Mörderin Katharina Ossoinig wieder eine Frau hingerichtet, danach erst wieder 1900 mit der Kindesmörderin Juliana Hummel. Die Erste Republik schaffte 1919 die Todesstrafe für ordentliche Verfahren ab. Die Vorschriften betreffend das standrechtliche Verfahren blieben davon unberührt. Die Regierung unter Engelbert Dollfuß (CSP) rief im Jahr 1933 das Standrecht aus, wodurch hinsichtlich mehrerer Delikte die Todesstrafe wieder verhängt werden konnte. Per Notverordnung wurde vom 12. bis zum 21. Februar 1934 auch das Verbrechen des „Aufruhrs“ gemäß §§ 73, 74 StG 1852 der Standgerichtsbarkeit unterworfen. Im Juni 1934 führte die Regierung die Todesstrafe auch für das ordentliche Verfahren wieder ein. Zwischen 1933 und 1938 wurden in Österreich über 40 Personen hingerichtet. Insgesamt wurden zwischen Februar 1934 und März 1938 in Österreich 141 Todesurteile ausgesprochen, von denen die meisten in Kerkerstrafen umgewandelt wurden. Nach dem Anschluss Österreichs im März 1938 ähnelte die Rechtslage der des Dritten Reichs. In der Zweiten Republik war die Todesstrafe für schwere Delikte zunächst noch vorgesehen. Durch österreichische Gerichte wurden nach dem Zweiten Weltkrieg noch 101 Todesurteile – davon 30 durch Volksgerichte – verhängt und 46 vollstreckt. Die Volksgerichte bestanden zwischen 1945 und 1955 und waren zuständig für die Bestrafung bestimmter während der NS-Zeit begangener Verbrechen. Die letzte nach österreichischem Recht hingerichtete Person war Johann Trnka, der am 24. März 1950 im Landesgericht für Strafsachen Wien erhängt wurde. Die Todesstrafe in der Republik Österreich wurde 1950 für ordentliche, am 7. Februar 1968 durch die Einfügung des Artikel 85 Bundes-Verfassungsgesetz auch für standrechtliche Verfahren abgeschafft.Von den Veränderungen des österreichischen Rechts unberührt blieb die Rechtsprechung der Besatzungsmächte. Die letzte Hinrichtung nach alliiertem Recht – ebenfalls durch Erhängen – fand im Februar 1955 in der US-amerikanischen Besatzungszone statt. === Osttimor === In Osttimor ist die Todesstrafe nach Section 29 der Verfassung seit der Wiederherstellung der Unabhängigkeit des Landes 2002 abgeschafft. === Russland und Sowjetunion === Im Russischen Kaiserreich wurde die Todesstrafe gegen politische Gegner der Zaren oft verhängt. Dagegen entstand eine bürgerliche Opposition, darunter Leo Tolstoi und seine Anhänger. Nach der Februarrevolution 1917 hob Alexander Kerenski die Todesstrafe im russischen Militärstrafrecht auf, um desertierte Soldaten zu schützen. Nach drei Monaten führte die provisorische Regierung sie jedoch wieder ein. Nach der Oktoberrevolution 1917 hob der II. Allrussische Sowjetkongress auf Initiative von Lew Borissowitsch Kamenew dieses Dekret auf. Lenin war dabei nicht anwesend und ließ die Todesstrafe im Juni 1918 im allgemeinen Strafrecht für die Dauer des Russischen Bürgerkriegs wieder einführen. Im Januar 1920 wurde sie zwar wie öffentlich angekündigt wieder aufgehoben, aber nur für vier Monate und nach einer Massenerschießung von politischen Häftlingen. 1922 verschärfte Lenin den Entwurf für ein neues Strafgesetzbuch, indem er die für sechs Tatbestände vorgesehenen Erschießungen auf 12 Tatbestände erweiterte. Der deutsche Historiker Wolfgang Leonhard meint hingegen, dass Lenin auch bestrebt gewesen war, Tscheka, Terror und Todesstrafe nur als vorübergehende Kampfmaßnahmen und Institutionen während des Bürgerkrieges anzusehen, die nach dessen Beendigung abzuschaffen und einzustellen seien.Das Strafgesetzbuch der Russischen Sozialistischen Föderativen Sowjetrepublik von 1926 bezeichnete die Todesstrafe als „schwerste Maßnahme des sozialen Schutzes – Erschießung“. Sie konnte für „konterrevolutionäre Verbrechen“ und eine Reihe weiterer Delikte verhängt werden, besonders gegen Militärpersonen. Während der „Säuberungen“ von 1937/38 wurden etwa 800.000 Menschen wegen „konterrevolutionärer Verbrechen“ hingerichtet. Seit dem Hitler-Stalin-Pakt 1939 diente die Todesstrafe der SU auch dazu, mögliche Gegner einer kommunistischen Herrschaft in eroberten Gebieten zu beseitigen. Im Dezember 1944 und Januar 1945 ordnete Georgi Dimitrow vom Zentralkomitee der KPdSU eine Null-Toleranz-Politik an und verlangte, dass es keine Freisprüche geben dürfe. Am 1. Februar 1945 verurteilten kommunistische Volksgerichte daraufhin 2730 Angehörige der Eliten Bulgariens zum Tod. Die Todesurteile wurden in der folgenden Nacht vollstreckt.1947 bis 1950 war die Todesstrafe in der SU abgeschafft; jedoch tötete die dem Volkskommissariat für Staatssicherheit unterstellte Geheimpolizei weiterhin ohne Gerichtsverfahren mutmaßliche Regimegegner.Das Strafgesetzbuch von 1996 sieht die Todesstrafe als schwerste Strafe vor. Männer über 65 Jahre, Frauen und Personen, die zur Tatzeit Jugendliche waren, können weder zum Tode noch zu lebenslanger Freiheitsstrafe verurteilt werden. Das Verfassungsgericht der Russischen Föderation setzte 1999 alle Todesurteile aus und verbot weitere. === Schweden === Die letzte Hinrichtung in Schweden wurde in Stockholm am 23. Dezember 1910 an dem Raubmörder Alfred Ander vollzogen. Nach diesem Datum ausgesprochene Todesstrafen wurden nicht mehr ausgeführt. 1921 wurde die Todesstrafe in Friedenszeiten abgeschafft. Im Zuge der Verfassungsreform 1973 wurde die Todesstrafe dann endgültig abgeschafft. === Schweiz === ==== Hinrichtungsmethoden ==== Im zivilen Strafrecht der Schweiz war seit der frühen Neuzeit die Enthauptung durch das Richtschwert die übliche Hinrichtungsmethode für zum Tod Verurteilte. Ab 1798 kam im Zuge des Franzoseneinfalls die Guillotine dazu, wobei einzelne Kantone den Verurteilten die Wahl zwischen ihr und dem Schwert gewährten. Die letzten zum Tod Verurteilten, die mit dem Schwert enthauptet wurden, waren Niklaus Emmenegger (6. Juli 1867 in Luzern) und Héli Freymond (10. Januar 1868 in Moudon). Alle neun Hinrichtungen seit der Wiedereinführung der zivilen Todesstrafe 1879 bis zu ihrer Abschaffung 1942 wurden mit der Guillotine von Luzern vollstreckt. Die im Zweiten Weltkrieg unter Militärstrafrecht wegen Landesverrat verurteilten Personen dagegen wurden durch Erschießung hingerichtet. ==== Todesstrafe im zivilen Recht ==== Bereits 1848 war die Todesstrafe für politische Vergehen in der Bundesverfassung abgeschafft worden. In der Verfassungsrevision von 1874 wurde sie generell verboten (damals Art. 65 BV). Wegen einer deutlichen Zunahme der Kriminalität, die wohl auch auf eine damalige Rezession zurückzuführen war, wurde das Verbot der Todesstrafe aber in der Volksabstimmung vom 18. Mai 1879 mit 52,5 % Ja-Stimmen und 15 zu 7 Ständen wieder aus der Verfassung gestrichen. In der Folge nahmen zehn – mit Ausnahme von Schaffhausen – traditionell katholische Kantone und Halbkantone die Todesstrafe wieder in ihre Strafgesetzbücher auf: Die zivile Todesstrafe wurde in der Schweiz seit 1848 selten vollzogen (zwischen 1851 und 1873 kam es bei 95 Todesurteilen zu 38 Hinrichtungen) und war in den übrigen kantonalen Strafgesetzbüchern auch nach der Wiedereinführung 1879 nicht mehr vorgesehen. Zwischen 1879 und 1892 wurden sämtliche von den Gerichten ausgesprochenen Todesurteile auch in schwersten Mordfällen von den zuständigen Kantonsparlamenten durch ihr Gnadenrecht in lebenslange Haft umgewandelt, so dass der Strafrechtsexperte Carl Stooss Anfang 1892 schrieb, die Todesstrafe sei in der Schweiz de facto abgeschafft. Insgesamt wurden zwischen 1879 und 1942 in der Schweiz von zivilen Gerichten 22 Todesurteile gefällt. Ab 1892 wurden dann noch neun zivile Hinrichtungen vollzogen, acht davon in der Innerschweiz, vier davon im Kanton Luzern: 1898 erhielt der Bund die Kompetenz, das Schweizer Strafrecht zu vereinheitlichen, das bisher kantonal geregelt war. Am 21. Dezember 1937 (also 39 Jahre später) verabschiedete das Parlament nach heftigen Debatten ein eidgenössisches Strafgesetzbuch, das die Todesstrafe definitiv ausschloss. Gegen diese Vereinheitlichung wurde erfolgreich das Referendum ergriffen, sodass es am 3. Juli 1938 zur Volksabstimmung kam. Die Vorlage wurde mit 53,5 % Ja-Stimmen angenommen und trat am 1. Januar 1942 in Kraft, womit die zivile Todesstrafe in der Schweiz abgeschafft war. Als Letzter nach einem zivilen Strafprozess wurde der 32-jährige dreifache Mörder Hans Vollenweider aus Zürich am 18. Oktober 1940 in Sarnen im Kanton Obwalden hingerichtet. Da die Abschaffung der Todesstrafe zu diesem Zeitpunkt bereits beschlossen, aber noch nicht in Kraft war, löste die Ablehnung des Gnadengesuchs durch das Obwaldner Kantonsparlament eine zum Teil heftige Debatte aus. Ebenfalls erst nach der Abstimmung verurteilt und hingerichtet worden war bereits 1939 Paul Irniger im Kanton Zug; Irniger hatte allerdings auf Appellation und Gnadengesuch verzichtet. ==== Todesstrafe im Militärstrafrecht ==== Das Schweizer Militärstrafrecht sah die Todesstrafe weiterhin für Landesverrat in Kriegszeiten vor. Auf dieser Basis wurden im Zweiten Weltkrieg 30 Menschen zum Tod verurteilt; 17 davon wurden bis zum Kriegsende erschossen. Aus Anlass eines Gnadengesuchs für drei als Landesverräter zum Tod Verurteilte diskutierte die evangelisch-reformierte Kirche im Kanton Zürich 1942 über die Legitimität der Todesstrafe. Der Theologe Leonhard Ragaz lehnte sie ab, sein Kollege Emil Brunner bejahte sie in Ausnahmefällen. Er trug damit zur parlamentarischen Ablehnung des Gnadengesuchs bei. Die Spionagetätigkeit des Dritten Reichs in der Schweiz wurde nach dem Vollzug der ersten militärischen Todesurteile 1942 eingestellt. Zum letzten Mal vollzogen wurde die militärische Todesstrafe am 7. Dezember 1944 an den Spionen Walter Laubscher und Hermann Grimm im Eggwald bei Bachs. Am 20. März 1992 wurde die Todesstrafe im Kriegsrecht nach einer parlamentarischen Initiative von Nationalrat Massimo Pini (FDP/TI) von der Bundesversammlung abgeschafft. In der Totalrevision der Bundesverfassung von 1999 wurde die Todesstrafe auch auf Verfassungsebene verboten. Seither lautet Artikel 10 Absatz 1 der Schweizer Bundesverfassung: ==== Diskussionen zur Wiedereinführung ==== Seit der Abschaffung der zivilen Todesstrafe gab es mehrere Versuche, diese wieder einzuführen. 1979 reichte Nationalrat Valentin Oehen (SD/BE) eine parlamentarische Initiative ein, die die Todesstrafe für Mord sowie Terrorismus mit Geiselnahme eingeführt hätte. Der Nationalrat lehnte diese mit 131 gegen 3 Stimmen ab. 1985 scheiterte eine Volksinitiative zur Wiedereinführung der Todesstrafe für Drogenhändler im Sammelstadium. Im August 2010 reichte ein Initiativkomitee bestehend aus sieben Angehörigen einer 2009 in Kriens ermordeten Frau zwecks Vorprüfung und Publikation im Bundesblatt die Unterschriftenliste für eine Volksinitiative ein, die die Einführung der Todesstrafe bei „Mord mit sexuellem Missbrauch“ forderte. Das Initiativkomitee kündigte einen Tag nach Publikation und Beginn der Unterschriftensammlung an, die Initiative zurückzuziehen.Versuche zur Wiedereinführung der militärischen Todesstrafe sind bisher nicht unternommen worden. === Spanien === In Spanien ordnete Joseph Bonaparte (1768–1844) im Jahr 1809 an, Hinrichtungen nur mit der Garrotte durchzuführen. Kurz danach änderte er seine Meinung; ab 1832 wurde (bis zur Abschaffung der Todesstrafe in der Zweiten Republik) nur noch mit der Guillotine hingerichtet. Die Verfassung der Zweiten Republik enthielt keine Todesstrafe (span. pena de muerte oder pena capital). Das Franco-Regime führte sie wieder ein und vergrößerte die Zahl der Delikte, auf die die Todesstrafe stand. Die letzten mit der Garrotte Hingerichteten waren Menschen, die als ETA- oder FRAP-Terroristen verurteilt worden waren (FRAP = Frente Revolucionario Antifascista y Patriota) und ein Deutscher.1978 erhielt Spanien eine neue Verfassung (29. Dezember 1978 in Kraft getreten). Artikel 15 hat die Todesstrafe abgeschafft, enthält aber eine Ausnahme für den Kriegsfall: === Türkei === 2004 schaffte die Türkei die Todesstrafe gesetzlich ab. Hauptgrund war, dass die Türkei Mitglied der EU werden wollte und diese die Abschaffung der Todesstrafe zur Bedingung für die Aufnahme machte. Illegale Tötungen durch Polizei und Militär, sei es bei Festnahmen oder durch Folter in Haft, geschahen in der Türkei weiterhin.Nach dem Putschversuch in der Türkei 2016 ließ Staatspräsident Recep Tayyip Erdoğan die Wiedereinführung der Todesstrafe prüfen. Dazu wäre eine Zweidrittelmehrheit im Parlament erforderlich. Da jedoch Artikel 38 der türkischen Verfassung eine rückwirkende Anwendung der Todesstrafe ausschließt, wären Todesurteile gegen mutmaßliche Putschteilnehmer verfassungswidrig. Auch Artikel 7 der EMRK (Keine Strafe ohne Gesetz) verbietet die rückwirkende Verschärfung einer Strafe. Die Türkei hat die EMRK im Juli 2016 teilweise ausgesetzt. Nach Beobachtern rechtfertigt dies keine Wiedereinführung der Todesstrafe.Nach dem Verfassungsreferendum in der Türkei 2017 bezeichnete Erdogan die Wiedereinführung der Todesstrafe als seine „erste Aufgabe“. Im Juli 2017 erklärte er, Kritik aus der EU werde ihn nicht davon abhalten, sofort ein Gesetz zur Wiedereinführung der Todesstrafe zu unterzeichnen. Er drohte zudem, den mutmaßlichen Initiatoren des Putsches „die Köpfe abzureißen“. Für ein Todesstrafengesetz muss entweder eine parlamentarische Zweidrittelmehrheit eine Verfassungsänderung oder eine parlamentarische Mehrheit von 60 % ein Referendum zur Todesstrafe beschließen. === Vereinigtes Königreich === Im 18. Jahrhundert konnten im Königreich Großbritannien etwa 200 verschiedene Delikte mit dem Tod bestraft werden. Allerdings war die Rechtsanwendung sehr uneinheitlich. Zudem lag es im Ermessen des Richters, ob Gnadengesuche des Verurteilten zugelassen wurden. Ab 1861 wurde die Todesstrafe nur noch für Mord, Hochverrat, Piraterie und schwere Brandstiftung verhängt. Außerdem wurde ab 1868 nicht mehr öffentlich hingerichtet, weil es dabei zuvor häufig zu Gewalt und Diebstählen unter den Zuschauern gekommen war. In England wurden um 1800 mehr Todesstrafen verhängt denn je zuvor. Bis in die 1820er Jahre stand in England die Todesstrafe auf rund 400 Vergehen, u. a. auf Taschendiebstahl, wenn dabei eine Sache im Wert von einem Shilling oder mehr entwendet wurde.1949 setzte die Regierung eine Kommission ein, die 1953 einen Bericht über das Für und Wider der Todesstrafe veröffentlichte. Aufgrund ihrer Empfehlungen wurde die Todesstrafe ab 1957 nur noch für besonders schwere Fälle von Mord verhängt, zum Beispiel an Polizeibeamten in Ausübung des Dienstes. Zu einer Kontroverse über die Todesstrafe führte der Fall des jungen Derek Bentley, der 1953 für einen Mord gehängt wurde, den er nicht begangen hatte. Als letzte Frau wurde 1955 Ruth Ellis hingerichtet; die beiden Raubmörder Peter Anthony Allen und Gwynne Owen Evans wurden als letzte Männer am 13. August 1964 gehängt. Bereits zu Beginn der 1960er Jahre wurde in der britischen Öffentlichkeit, nach den stark umstrittenen Hinrichtungen in den Fällen Evans († 1950), Bentley († 1953), Ellis († 1955) und Hanratty († 1962) eine kontroverse Debatte über die Abschaffung der Todesstrafe geführt. 1965 wurde das Gesetz Murder (Abolition of Death Penalty) Act verabschiedet, das die Todesstrafe für Mord für die nächsten fünf Jahre aussetzte. 1969, also schon ein Jahr vor Fristablauf, wurde beschlossen, das Gesetz unbefristet zu verlängern. Danach war ein Todesurteil nur noch für Hochverrat oder Piraterie möglich, wurde aber dafür nie vollstreckt. In Nordirland war die Todesstrafe formell noch bis 1973 erlaubt. Seit 1962 fanden aber keine Hinrichtungen mehr statt. Im Oktober 1998 wurde die Todesstrafe in Großbritannien und Nordirland auch im Militärbereich abgeschafft (siehe auch: Human Rights Act 1998). Dort war bereits seit 1964 niemand mehr hingerichtet worden. Zwei parlamentarische Initiativen zur Wiedereinführung scheiterten. Im Dezember 1999 ratifizierte das Vereinigte Königreich das Zweite Fakultativprotokoll des Internationalen Paktes über Bürgerliche und Politische Rechte, das die Abschaffung völkerrechtlich verbindlich festschreibt. == Todesstrafenpraxis in Einzelstaaten == Die Todesstrafe der Einzelstaaten. Nicht aufgelistet ist die Todesstrafe in den zwei international nicht anerkannten Separatistengebieten in der Ukraine, wo die Todesstrafe 2014 eingeführt wurde. === Belarus === === Botswana === Botswana ist das einzige Land im südlichen Afrika, welches regelmäßig Hinrichtungen durchführt. Am 31. März 2001 wurde die Südafrikanerin Marietta Bosch als erste weiße Frau in Botswana gehenkt, was ein größeres Medieninteresse erzeugte. Zuletzt wurde die Todesstrafe am 8. Februar 2021 vollstreckt. === Indien === Indiens Rechtssystem enthält die Todesstrafe seit der Staatsgründung 1947 als Erbe der Kolonialzeit von Britisch-Indien. Todesurteile werden selten vollstreckt; zwischen 2004 und 2012 gab es keine Hinrichtungen. Im Sommer 2012 wandelte Präsidentin Pratibha Patil 35 Todesurteile in Haftstrafen um. Im November 2012 wurde der Attentäter von Mumbai Ajmal Kasab, im Februar 2013 wurde Afzal Guru wegen eines Terrorangriffs auf das Parlament in Neu-Delhi im Dezember 2001 hingerichtet. Infolge der Gruppenvergewaltigung in Delhi 2012 verschärfte Indien im Februar 2013 sein Sexualstrafrecht: Für Vergewaltigungen, deren Opfer dauerhaft ins Koma fällt oder stirbt, kann seither die Todesstrafe verhängt werden. Im September 2013 wurden die vier volljährigen Angeklagten in diesem Fall nach dem neuen Gesetz zum Tod verurteilt. Neben ihnen warten aktuell weitere 18 zum Tod Verurteilte in Indien auf ihre Hinrichtung. Ihre Gnadengesuche lehnte der Staatspräsident ab. Im März 2020 wurden die vier erwachsenen Haupttäter der Gruppenvergewaltigung gehängt.Im Juli 2015 wurde Yakub Memon hingerichtet, der im Zusammenhang mit einer Serie von Anschlägen im März 1993 in Bombay zum Tode verurteilt worden war. === Indonesien === Im Januar 2015 richtete Indonesien trotz internationaler Proteste sechs wegen Drogendelikten verurteilte Häftlinge hin, darunter fünf Ausländer (Niederlande, Brasilien, Vietnam, Malawi und Nigeria). Für 2015 sind 20 Hinrichtungen angekündigt (Stand Januar 2015); 2014 gab es keine Hinrichtungen. Im April 2015 folgte die Hinrichtung acht weiterer wegen Drogendelikten verurteilter Häftlinge, darunter vier Nigerianer, zwei Australier und je ein Brasilianer und Indonesier. Ende Juli 2016 wurden vier Männer wegen Drogendelikten hingerichtet; zugleich saßen mindestens 121 Menschen in Todeszellen, fast alle wegen Drogendelikten. === Irak === Im Irak wurde die Todesstrafe nach dem Sturz Saddam Husseins zunächst abgeschafft, jedoch im August 2004 wieder eingeführt. Bis April 2007 wurden dann mindestens 270 Menschen zum Tod verurteilt und 100 hingerichtet. 2009 lag der Irak mit 77, 2012 mit 129 Hinrichtungen an dritter Stelle weltweit.Viele Todesurteile kommen im Irak laut Amnesty International nach unfairen Prozessen zustande. Dem Verdacht, dass Geständnisse durch Folter erzwungen wurden, werde kaum nachgegangen.Im Irak wird die Todesstrafe durch Hängen vollstreckt. === Iran === Iran gehört, vor allem seit der islamischen Revolution im Jahr 1979, zu den Ländern mit den meisten Hinrichtungen pro Jahr; in absoluten Zahlen rangiert es an zweiter Stelle nach China. Sie werden oft öffentlich vollstreckt, zumeist durch Hängen. Besonders bei sexuellen Vergehen (außerehelicher Geschlechtsverkehr, Homosexualität, Prostitution, siehe auch Zinā) ist auch die Steinigung möglich. Mord, Ehebruch und Drogenhandel zählen zu den todeswürdigen Verbrechen; auch ein Todesurteil für wiederholten Alkoholkonsum ist bekannt. Häufig wurden zur Tatzeit Minderjährige zum Tode verurteilt und hingerichtet. Selbst Vergewaltigungsopfer, die ihren Vergewaltiger in Notwehr getötet hatten, wurden bereits zum Tode verurteilt.Während der Amtszeit (2005–2013) von Mahmud Ahmadinedschad als iranischer Präsident nahm die Zahl der Hinrichtungen zu, insbesondere in Folge der Proteste nach den iranischen Präsidentschaftswahlen 2009. Nach dem Amtsantritt Hassan Rohanis am 14. Juni 2013 stiegen die Exekutionszahlen nochmals deutlich an. So wurden zwischen Juli 2013 und Juni 2014 nachweislich insgesamt 852 Personen hingerichtet und im Kalenderjahr 2015 mit 966 Menschen so viele wie seit 1989 nicht mehr.Am 8. Dezember 2022, zweieinhalb Monate nach dem Beginn von Protesten gegen die islamische Sittenpolizei, den Schleierzwang und das theokratische Regime, wurde der erste Demonstrant hingerichtet und am 7. Januar 2023 zwei weitere. Dutzende weitere wurden zum Tode verurteilt. Am 14. Januar 2023 wurde der Ex-Politiker Alireza Akbari hingerichtet. === Israel === Am 16. Februar 1954 schaffte Israel die Todesstrafe im Zivilstrafrecht für gewöhnliche Straftaten und in Friedenszeiten ab. Es gibt seit 1950 jedoch Ausnahmegesetze, die die Todesstrafe in Kriegszeiten, bei Genozid, Verbrechen gegen die Menschlichkeit sowie Verbrechen gegen das jüdische Volk vorsehen. So wurde der NS-Täter Adolf Eichmann am 31. Mai 1962 wegen „Verbrechen gegen das jüdische Volk“ hingerichtet.Am 29. April 1979 führte Israel die Todesstrafe für Terroristen ein, die besonders grausame Anschläge verübt haben. Die Entscheidung in solchen Fällen wird den Staatsanwälten überlassen. Bisher wurde noch niemand als Terrorist zum Tode verurteilt. Israel gehört damit zu den Staaten, die die Todesstrafe nicht anwenden. Im Militärstrafrecht Israels gibt es die Todesstrafe, auch im besetzten Westjordanland. Sie konnte bis Ende 2017 jedoch nur verhängt werden, wenn eine aus drei Militärrichtern bestehende Gruppe das Urteil einstimmig aussprach. Verteidigungsminister Avigdor Lieberman beantragte 2017 eine Gesetzesänderung, wonach eine einfache Mehrheit der Militärrichter ein Todesurteil verhängen darf. Laut diesem Änderungsantrag sollte dies auch für Todesurteile von Strafgerichten gelten. Im Dezember 2017 einigten sich die Chefs der sechs Regierungsparteien auf diesen Gesetzesentwurf. In der Vorablesung im Januar 2018 stimmte eine Mehrheit der Knesset-Abgeordneten dafür.Ende Februar 2023 beschloss die Regierung unter Premierminister Netanjahu einen Gesetzesentwurf, um Terroristen mit dem Tod zu bestrafen, welche „absichtlich oder aus Gleichgültigkeit den Tod eines israelischen Bürgers herbeiführen, wenn die Tat durch ein rassistisches Motiv oder aus Hass gegen eine bestimmte Bevölkerungsgruppe erfolgt“ sofern dies mit dem Zweck „den Staat Israel und die Wiedergeburt des jüdischen Volkes in seinem Heimatland zu verletzen“ geschieht. Dem Beschluss des Entwurfs ging ein Terroranschlag am selben Tag voraus, bei dem zwei israelische Bürger getötet wurden. === Japan === Die Todesstrafe kann in Japan für 18 Delikte verhängt werden. Meist handelt es sich um Verurteilungen wegen Mordes oder Verbrechen mit Todesfolge. Seit 1945 fanden über 600 Hinrichtungen statt, davon 98 im Zeitraum 1979 bis 2009. Im gleichen Zeitraum wurden vier Verurteilte freigelassen, nachdem in Wiederaufnahmeverfahren ihre Unschuld festgestellt worden war. Die Zahl der Verurteilungen ist (Stand 2010) seit Jahren rückläufig. Die Zustimmungsrate zur Todesstrafe lag 2009 bei 85,6 % und die Ablehnungsrate bei 5,7 %.Todesstrafen werden in Japan durch Hängen vollstreckt. In den 1870er-Jahren kam auch die Enthauptung durch das Schwert zum Einsatz, wurde aber später wegen „Grausamkeit“ abgeschafft. Eine Hinrichtung kann erfolgen, sobald der Rechtsweg ausgeschöpft ist und der Justizminister diese schriftlich angeordnet hat. Für das weitere Verfahren gibt es keine gesetzlichen Richtlinien. Oft müssen Todeskandidaten mehrere Jahrzehnte auf die Hinrichtung warten. So starb Tomiyama Tsuneki am 9. September 2003 im Alter von 86 Jahren nach 36 Jahren in der Todeszelle eines natürlichen Todes. Der Kontakt der Verurteilten zur Außenwelt ist weitgehend eingeschränkt. Sie werden in einer wenige Quadratmeter großen Zelle rund um die Uhr überwacht. Todestraktinsassen dürfen keinen Fernseher nutzen und nur drei vorher genehmigte Bücher besitzen. Körperliche Aktivität außerhalb der Zelle ist ihnen für 30 Minuten pro Tag gestattet.Weder ihre Angehörigen noch ihre Rechtsbeistände werden vorher vom Zeitpunkt der Hinrichtung informiert; auch die Verurteilten selbst erfahren erst wenige Minuten vorher davon. Dies wird von Menschenrechtsorganisationen sowie ausländischen Regierungen als besonders grausam kritisiert. Die dadurch ausgelöste permanente Todesangst treibt nach Angaben von Menschenrechtsorganisationen viele Todeskandidaten in den Wahnsinn.Weder ein Gnadengesuch noch ein Antrag auf ein Wiederaufnahmeverfahren garantieren den Aufschub der Vollstreckung. Es ist (Stand 1997) kein System erkennbar, wonach entschieden wird, ob ein Verurteilter hingerichtet oder ihm Aufschub gewährt wird. Gesetzlich vorgesehen ist eine Vollstreckung der Todesstrafe innerhalb von sechs Monaten nach Rechtskraft des Urteils; die Anordnung der Vollstreckung liegt aber im Einzelfall im Ermessen des Justizministers, der sich nicht immer an die Sechsmonatsfrist hält.Die Angehörigen werden auch selten informiert, ob der Verurteilte noch lebt oder bereits exekutiert wurde. Auch die Leichen der Hingerichteten werden ihnen nicht immer übergeben. 1997 verweigerte die Gefängnisverwaltung die Herausgabe des hingerichteten Nagayama Norio und ließ ihn eigenmächtig einäschern. Sein Anwalt vermutete, dass damit Spuren des Todeskampfes vor den Angehörigen verheimlicht werden sollten. Todesurteile können in Japan auch über Personen verhängt werden, die zur Tatzeit noch nicht volljährig (nach japanischem Recht 20 Jahre alt) waren. 2014 kam die Diskussion um die Todesstrafe in Japan erneut in Gang, nachdem das Todesurteil gegen Iwao Hakamada, der wegen vierfachen Mordes verurteilt worden war, nach 48 Jahren Haft in der Todeszelle revidiert werden musste. Die Wiederaufnahme des Prozesses, eine von nur sechs Wiederaufnahmen in der Nachkriegsgeschichte, führte aufgrund zu schwacher Beweislast zur Freilassung des nunmehr 78-Jährigen.Am 25. Juni 2015 wurde ein Raubmörder hingerichtet. Im Dezember 2015 wurden zwei mehrfache Mörder hingerichtet. Damit geschahen seit Ende 2012 unter Ministerpräsident Shinzō Abe 14 Hinrichtungen in Japan. Zwei weitere wegen Mordes verurteilte Männer wurden im März 2016 hingerichtet. Die Juristenvereinigung Japans sprach sich 2016 erstmals für die Abschaffung der Todesstrafe aus. Im Juli 2017 wurden zwei des Mordes verurteilte Männer hingerichtet. Einer von ihnen war am 12. September 1995 zum Tode verurteilt worden.Zum Welttag gegen die Todesstrafe am 10. Oktober 2017 mussten in Japan ca. 130 zum Tode Verurteilte auf ihre Hinrichtung warten.Anfang Juli 2018 wurden Shōkō Asahara und sechs Mitglieder seiner Sekte aufgrund der 1995 begangenen Giftgasanschläge auf die Tokioter U-Bahn sowie wegen weiterer Morde gehängt. Am 26. Juli 2018 wurden sechs weitere Mitglieder seiner Sekte auf gleiche Weise hingerichtet. Der japanische Justizminister Takashi Yamashita gab am 27. Dezember 2018 die Vollstreckung von zwei zum Tode verurteilten Raubmördern im Internierungslager von Osaka bekannt. Die beiden hingerichteten Männer, der 60-jährige Keizo Okamoto (ein ehemaliges Yakuza-Mitglied) und der 67-jährige Hiroya Suemori (ein ehemaliger Investmentberater) waren verurteilt worden, da sie im Januar 1988 zwei Geschäftsleute entführt hatten, um Lösegeld in Höhe von 100 Millionen Yen zu erpressen. Sie erwürgten beide, gossen die Leichen in Beton und begruben sie in den Bergen. Das Oberste Gericht wies alle Berufungen im September 2004 ab und bestätigte die Todesurteile. Damit wurden im Jahr 2018 insgesamt 15 Todesurteile vollstreckt; seit dem Amtsantritt von Shinzō Abe im Dezember 2012 sind einschließlich der Hinrichtungen im Jahr 2018 insgesamt 36 Menschen hingerichtet worden.Im Jahr 2019 gab es drei Hinrichtungen, 2020 keine und Ende 2021 drei. Stand 21. Dezember 2021 warteten 107 Personen in Japan auf die Vollstreckung ihrer Todesurteile. === Libyen === In Libyen unter Diktator Muammar al-Gaddafi war die Todesstrafe für viele Delikte vorgesehen; sie wurde hauptsächlich für Mord, Drogenhandel und Alkoholhandel verhängt. Genaue Zahlen gab die Regierung nicht bekannt. Zum Tod verurteilte Zivilisten wurden durch Hängen hingerichtet, Militärangehörige durch Erschießen. Einige Exekutionen wurden im Fernsehen übertragen, die meisten geheim vollstreckt. Im sogenannten HIV-Prozess in Libyen gefällte Todesurteile vom Mai 2004 gegen fünf bulgarische Krankenschwestern und einen palästinensischen Arzt wurden nach starken internationalen Protesten im Juli 2007 endgültig aufgehoben und in lebenslange Freiheitsstrafen umgewandelt. Der neue französische Staatspräsident Nicolas Sarkozy erreichte, dass die sechs Bulgarinnen eine Woche später freigelassen und nach Bulgarien ausgeflogen wurden.Libyen lehnte das UN-Moratorium für Hinrichtungen von 2008 ab und verweigerte zum Tod Verurteilten vielfach rechtsstaatlichen Beistand. So wurden 2010 18 gefangene Ausländer in Libyen willkürlich exekutiert. Gaddafi hatte mehrfach angekündigt, dass Libyen die Todesstrafe abschaffen wolle. Dies geschah während seiner Regentschaft jedoch nicht. Im Bürgerkrieg in Libyen 2011 dehnte Gaddafi die Todesstrafe auf Tatbestände wie Besitz von Satellitentelefonen aus.Nach Gaddafis Sturz (August 2011) behielten die neuen Machthaber die Todesstrafe im Strafrecht bei und drohten, sie gegen Angehörige der gestürzten Regierung und Verwandte Gaddafis zu verhängen. === Pakistan === Pakistan vollstreckt Todesurteile wieder seit dem Massaker von Peschawar 2014. Ursprünglich sollte die Todesstrafe nur bei aufgrund von Terrordelikten Verurteilten wieder vollstreckt werden. Ohne weitere Begründung wurde sie kurz darauf auch für andere Delikte wieder eingeführt. Pakistan hat seither bis zum Jahresanfang 2016 insgesamt 329 Personen hingerichtet. Pakistan hat auch die weltweit höchste Zahl an zum Tode verurteilten Gefängnisinsassen, die auf ihre Hinrichtung warten. Ende 2015 waren es 6016 Personen. Berichte von pakistanischen Menschenrechtsorganisationen zeigten, dass auch zahlreiche Personen in den Todeszellen warten, die wegen Vergehen verurteilt wurden, die nach dem Strafgesetzbuch nicht notwendig die Todesstrafe nach sich ziehen. Meist handelt es sich um Arme und Ungebildete, die keinen Zugang zu einem fähigen Strafverteidiger haben.Das pakistanische Strafgesetzbuch sieht für insgesamt 27 Delikte die Todesstrafe vor. Dazu gehören neben Mord, Raub mit Todesfolge auch Vergewaltigung, Entführung, Ehebruch, Blasphemie, Drogenhandel, Sabotage des Eisenbahnsystems, Meuterei, Anstachelung zum Aufruhr etc. Die Todesstrafe wird durch Erhängen praktiziert. Von Kritikern im In- und Ausland wird auf zum Teil schockierende Umstände bei der Beweisermittlung hingewiesen, bei der Geständnisse unter Einsatz von Folter erpresst worden seien. Dies habe vermutlich auch schon etliche Unschuldige an den Galgen gebracht. Hingerichtet würden auch Minderjährige oder Personen, die auf den Rollstuhl angewiesen seien. === Saudi-Arabien === Saudi-Arabien ist eine absolute Monarchie; das islamische Recht (Scharia) prägt sein Rechtssystem. In Saudi-Arabien folgen die Richter der konservativen und dogmatischen Richtung der Wahhabiten bzw. Salafisten. Unklar definierte Straftatbestände lassen Richtern großen Ermessensspielraum; es gibt wenig Rechtssicherheit. Todesurteile werden für eine Reihe religiöser Vergehen (hudud) ausgesprochen, die zugleich als Angriff auf die staatliche Ordnung gelten: Koranschändung, Gotteslästerung und Abfall vom Islam. Letzterer wird bei Männern mit dem Tod, bei Frauen mit einer lebenslangen Freiheitsstrafe bestraft. Hinzu kommen eine Reihe sozialer und sexueller Vergehen (qisas): Mord, Ehebruch, Homosexualität, Vergewaltigung fremder Frauen oder der eigenen Ehefrau, sexueller Missbrauch von Frauen oder Kindern und Prostitution. Die Todesstrafe kann auch für Drogenhandel, Raubüberfall in Verbindung mit Schwerverletzten oder Toten sowie Alkoholkonsum, -handel oder -schmuggel verhängt werden. Ein Richterspruch (Fatwa) von 1988 sieht die Todesstrafe für „Sabotage“ und „Verderbtheit (Korruption) auf Erden“ vor. Weil sie „die Korruption im Land gefördert und die Sicherheit gefährdet“ hätten, wurden z. B. am 4. April 2005 sechs Somalier enthauptet, die Autodiebstahl und Bedrohung von Taxifahrern begangen haben sollen.Todesstrafen werden durch Enthauptung mit dem Schwert vollstreckt, üblicherweise vormittags auf einem öffentlichen Platz. Da zum Tode Verurteilte begnadigt werden können, wenn alle Mitglieder einer Opferfamilie ihnen verziehen haben, warten sie oft jahrzehntelang im Gefängnis, bis zur Tatzeit minderjährige Opferangehörige volljährig sind und entscheiden können. Die Verurteilten, ihre Anwälte und Angehörigen erfahren oft den Hinrichtungstermin nicht. Letzte Gnadeninstanz ist der amtierende König der Dynastie der Saud. Laut Amnesty werden unter anderem zur Tatzeit Minderjährige zum Tode verurteilt, Foltergeständnisse in Prozessen verwendet, Prozesse ohne Rechtsbeistand durchgeführt und Gerichtsverfahren gegen Ausländer haben keinen Dolmetscher. Von 1993 bis 2009 wurden folgende Delikte am häufigsten mit dem Tod bestraft: Mord: 1035 Personen Drogenschmuggel, Handel: 540 Vergewaltigung von Frauen: 175 Männer Schwerer Raub: 83 Männer Rebellion: 63 Männer Bombenattentate: 16 Männer2012 und 2013 wurden je 79 Menschen enthauptet. Laut Amnesty International wurden 2014 90 Menschen hingerichtet und 2015 mindestens 157, so viele wie seit 20 Jahren nicht.Am 2. Januar 2016 wurden 47 Menschen hingerichtet, darunter der prominente schiitische Kleriker Nimr al-Nimr. Bei den Hingerichteten, die der saudi-arabische Innenminister kollektiv als „Terroristen“ bezeichnete, handelte es sich neben al-Nimr um Personen, die nach saudi-arabischen Angaben Verbindungen zu al-Qaida hatten oder in Anschläge oder Unruhen in den Jahren 2003 bis 2006 verwickelt waren. Nach den Hinrichtungen kam es zu Protesten der Schiiten in der saudi-arabischen „Ostregion“ asch-Scharqiyya am Persischen Golf. In den folgenden Tagen entwickelte sich eine ernsthafte diplomatische Krise zwischen Saudi-Arabien und dem Iran, der ebenfalls scharf gegen die Hinrichtungen protestierte.Im Zuge von Reformen unter Führung von Kronprinz Mohammed bin Salman schaffte Saudi-Arabien im April 2020 per Dekret das Auspeitschen und die Todesstrafe für Minderjährige ab. Höchststrafe für Verbrechen von Minderjährigen soll nunmehr eine zehnjährige Haft in einem Jugendgefängnis sein. === Sierra Leone === === Singapur === Das Strafrecht Singapurs unterscheidet die zwingende (mandatory) Todesstrafe, bei der der Richter nach Feststellung der Schuld keinen Ermessensspielraum über das Strafmaß hat, von nichtzwingenden Todesstrafen, wo er Strafminderungsgründe wie Tatumstände und Hintergründe des Täters berücksichtigen kann. Zwingend vorgeschrieben ist das Todesurteil bei Mord, Mordauftrag, illegalem Schusswaffengebrauch, Landesverrat. Bis 2012 war sie auch für Drogenhandel zwingend vorgeschrieben, seither kann alternativ auf eine lebenslange Freiheitsstrafe erkannt werden. Als Mörder gilt, wer einen oder mehrere Menschen mit der Absicht tötet, aus dessen oder deren Tod einen Vorteil (z. B. Erbschaft, Raub, Schweigen oder Befriedigung eines Triebes) zu ziehen. Wer ohne Erlaubnis eine Schusswaffe wissentlich so abfeuert, dass ein Projektil aus deren Mündung austritt, ist des illegalen Schusswaffengebrauchs schuldig. Ein Opfer muss es dabei nicht geben. Wer die innere und/oder äußere Sicherheit Singapurs wissentlich gefährdet, ist des Landesverrats schuldig. Als Drogenhändler gelten Personen, die bei ihrer Festnahme mehr als 15 Gramm (g) Heroin oder 30 g Kokain, 30 g Morphin, 200 g Cannabis-Harz (Haschisch), 250 g Methamphetamin, 500 g Cannabiskraut (Marihuana) oder 1200 g Opium besitzen bzw. bei sich tragen. Der Besitzer muss nicht der Eigentümer sein. Singapurs Justiz bedient sich bei Drogenbesitzdelikten oberhalb dieser Grenzen generell der Prima-facie-Regel, des sog. Anscheinsbeweises, der eine Beweislastumkehr zur Folge hat. Wegen Drogenhandels wurden 1994 der Niederländer Johannes van Damme, 2005 der Australier Van Tuong Nguyen und 2007 der Nigerianer Iwuchukwu Amara Tochi hingerichtet. Eine damals 23-jährige Deutsche entging 2002 einer Anklage mit zwingendem Todesurteil, weil die bei ihr gefundene Menge von 687 g Cannabis nach einer Laboranalyse tatsächlich nur 280 g reines Cannabis enthielt. 2022 wurde trotz internationaler Appelle Nagaenthran K. Dharmalingam hingerichtet, ein geistig behinderter Malaysier, von dem seine Unterstützer sagten, er sei zum Schmuggel der bei ihm gefundenen 43 Gramm Heroin gezwungen worden.Wegen Doppelmordes wurde 1995 die Philippinerin Flor Contemplacion exekutiert, was zu einer langjährigen diplomatischen Krise zwischen beiden Ländern führte. 1996 ließ die Justiz in Singapur den als Mörder verurteilten Briten John Martin Scripps hinrichten. Delikte ohne zwingende Todesstrafe sind Meuterei, Piraterie, Entführung, Falschaussage, die zur Hinrichtung eines Unschuldigen führte, Raub, bei dem mindestens ein Opfer verletzt wurde, und Initiative und Verabredung zur Ermordung des Präsidenten. Singapur ist, gemessen an der Bevölkerungszahl, das Land mit der höchsten Hinrichtungsrate der Welt. Seit 1991 wurden mindestens 420 Menschen hingerichtet, im Durchschnitt alle 14 Tage eine Person, 85 bis 90 % davon wegen Drogenhandels. Die Hinrichtungen werden durch Hängen mit dem Strang vollzogen. Dabei wird der „lange Fall“ angewendet, der sicherstellt, dass dem Todeskandidaten das Genick gebrochen wird und ihm somit ein langer Todeskampf erspart bleibt. Hinrichtungen finden jeweils im Changi Prison am Freitagmorgen zum Sonnenaufgang statt. Nur sehr selten wird ein zum Tod Verurteilter begnadigt. Chefhenker in Singapur war bis 2006 Darshan Singh, der rund 1000 Exekutionen durchführte. Obwohl die Todesstrafe in Singapur kaum öffentlich diskutiert wird, entstanden in den letzten Jahren einige von der Regierung tolerierte Menschenrechtsverbände dagegen. Sie kritisieren besonders die zwingende Todesstrafe und argumentieren, dass sie die Autorität der Richterschaft unterminiere. Auch einige ehemalige Richter haben diese Rechtslage kritisiert. Der britische Autor Alan Shadrake warf Singapurs Justiz in seinem Buch Once a Jolly Hangman: Singapore Justice in the Dock unter anderem vor, Todesurteile oder mildere Strafen auch nach der Herkunft und/oder Nationalität der Angeklagten zu verhängen. Am 16. November 2010 verurteilte der Singapore High Court ihn dafür zu sechs Wochen Haft und umgerechnet ca. 11.000 Euro Geldstrafe.Seit November 2012 schreibt das Gesetz Singapurs die Todesstrafe bei Drogenhandel und Tötungsdelikten nicht mehr zwingend vor, sondern gibt den Richtern Ermessensspielraum, für bloße Drogenkuriere und Täter, die mit den Ermittlungsbehörden kooperieren, eine lebenslange Freiheitsstrafe zu verhängen. === Sri Lanka === In Sri Lanka werden die Straftatbestände Vergewaltigung, Drogenhandel und Mord strafrechtlich mit der Todesstrafe bedroht. Die Todesstrafe wurde in der Vergangenheit durch Erhängen praktiziert. Seit 1976 bestand allerdings ein Moratorium und seitdem wurden keine Verurteilten mehr hingerichtet. Am 26. Juni 2019 unterzeichnete Präsident Maithripala Sirisena ein Dekret, mit dem das Moratorium für die Todesstrafe aufgehoben wurde. Er begründete dies mit dem zunehmenden Problem des Drogenhandels. Konkret betraf das Dekret vier inhaftierte verurteilte Drogenhändler. In einer Stellungnahme am 27. Juni 2019 verurteilte die Europäische Union die geplante Wiederaufnahme der Hinrichtungen. Die Todesstrafe sei „grausam, unmenschlich und erniedrigend“ und Studien hätten gezeigt, dass sie keine abschreckende Wirkung habe. === Südkorea === Die letzten Hinrichtungen in Südkorea – 23 an der Zahl – fanden im Dezember 1997 statt (Stand 2017). Seit 1948 wurden 902 Menschen hingerichtet. Im Februar 1998 setzte der damalige Präsident Kim Dae-jung einen Hinrichtungsstopp in Kraft. Kim selbst war 1980 in Südkorea zum Tode verurteilt worden. Auf internationalen Druck hin wurde dieses Urteil nicht vollstreckt. Stand August 2017 waren 61 Menschen zum Tode verurteilt. === Vereinigte Staaten === Seit Gründung der Vereinigten Staaten 1789 wird dort über die Todesstrafe diskutiert. Beccarias Schrift beeinflusste deren Gründerväter Thomas Jefferson, Benjamin Franklin und Benjamin Rush, später auch Strafrechtler wie Edward Livingston und Robert Rantoul sowie Publizisten wie John L. O’Sullivan. Einige Bundesstaaten wie Wisconsin, Michigan, Minnesota schafften die Todesstrafe im 19. Jahrhundert ab. In anderen wie Oklahoma, South Carolina, Texas und Virginia hatten Vorstöße zur Abschaffung oder Aussetzung nie eine Chance. In den letzten 30 Jahren waren 99 % aller in den USA Hingerichteten Männer, 1 % Frauen. Afroamerikaner, die 12 % an der Gesamtbevölkerung ausmachen, werden laut dem Death Penalty Information Center relativ öfter (1976: 38 %) hingerichtet. Sie gehören aber auch anteilsmäßig häufiger zur ärmeren Bevölkerungsschicht, und ihre Kapitalvergehen werden öfter aufgedeckt und strafverfolgt als bei anderen Tätergruppen. Daher ist umstritten, ob fortwirkender Rassismus oder das Armutsgefälle diese Statistiken erklären. Manche Spezialisten sprechen von „Diskriminierung aufgrund der Geografie“: Wer in einem Bundesstaat oder Kreis mit hoher Exekutionsquote verurteilt werde, erhalte für das gleiche Verbrechen doppelt so oft die Todesstrafe wie in liberaleren Gegenden. Der Oberste Gerichtshof erklärte die Todesstrafe 1972 für verfassungswidrig, sodass sie bundesweit ausgesetzt wurde, ließ sie 1976 jedoch erneut zu. Ihm obliegt die letztinstanzliche Prüfung einzelner Kapitalverfahren mit Relevanz für das Bundesrecht. Der US-Präsident kann neue Bundesrichter nominieren, die im Falle ihrer Bestätigung durch den Senat oft lebenslang im Amt bleiben. George W. Bush hatte als Gouverneur von Texas Begnadigungsgesuche fast durchgehend abgelehnt. Nach seiner Wiederwahl zum Präsidenten nominierte er zwei Bundesrichter, die die Todesstrafe befürworten: John Roberts und Samuel Alito. Roberts wollte die Möglichkeiten, in Todesstrafenfällen an den Obersten Gerichtshof zu appellieren, einschränken. Alito ersetzte eine Vorgängerin, deren Stimme früher gelegentlich den Ausschlag gegen Todesstrafen gab. Liberale Juristen fürchten daher Mehrheitsentscheidungen des Gerichts für von ihm zu entscheidende Hinrichtungen in den nächsten Jahrzehnten.Seit 1976 wurden über 1000 Todeskandidaten hingerichtet, über 3000 warten darauf. 176 Verurteilte wurden wegen erwiesener Unschuld oder gravierender Verfahrensfehler entlassen. Man schätzt, dass es seit 1976 bis zu 100 Fehlurteile, Justizirrtümer und Hinrichtungen Unschuldiger gab. Wo begründete Zweifel und Gnadengesuche nicht berücksichtigt wurden, sprechen Kritiker von Justizmorden. Nachdem unabhängige Prüfer in Illinois zahlreiche Fehlurteile und Verfahrensmängel nachgewiesen hatten, setzte Gouverneur George Ryan die Hinrichtungen dort 1999 aus und begnadigte 167 Todeskandidaten am 12. Januar 2003 zu lebenslanger Haft. In den USA sind sowohl Befürworter wie Gegner der Todesstrafe stark organisiert. Auch wegen der Initiativen und Proteste zahlreicher NGOs und Juristenverbände untersagte der Oberste Gerichtshof am 1. März 2005 die Todesstrafe für zur Tatzeit unter 18-Jährige, da sie dem 8. Zusatzartikel zur Verfassung der Vereinigten Staaten widerspreche, der grausame und ungewöhnliche Bestrafungsarten verbietet (vgl. Roper v. Simmons). Daraufhin wurden zunächst 122 Todesurteile in lebenslange Freiheitsstrafen umgewandelt. Manche Freikirchen der USA, besonders im „Bible Belt“, bejahen die Todesstrafe als göttliche Anordnung und unaufgebbares Staatsrecht. Die „Religiöse Rechte“ tritt mit Kampagnen für die Beibehaltung der Todesstrafe ein und beeinflusst damit seit Jahrzehnten die dortige Politik und Rechtsprechung.Kein Präsidentschaftskandidat nahm bisher die Abschaffung der Todesstrafe in sein Programm auf. Nach den Anschlägen vom 11. September 2001 befürworteten über 50 % der US-Bürger die Todesstrafe auch dann, falls es eine lebenslange Freiheitsstrafe ohne Begnadigungsmöglichkeit als Alternative gäbe. 2006 sank diese Zustimmungsrate auf 47 %. 2009 befürworteten 64 % der Befragten die Todesstrafe für Mord. Im Juli 2021 wurde im Rahmen eines Moratoriums die Vollstreckung der Todesstrafe in Bundesgefängnissen vorerst ausgesetzt. === Volksrepublik China === Die Volksrepublik China sieht die Todesstrafe für mindestens 68 verschiedene Delikte vor, darunter Mord, schwerer Raubüberfall, Vergewaltigung, Bestechung, Geld- und Scheckfälschung, Steuerhinterziehung, verschiedene Diebstahlsdelikte, Zuhälterei, absichtliches Verbreiten von Krankheitskeimen, Plünderung archäologischer Ruinen und Gräber, Töten von Tieren besonders geschützter Arten.Seit 2006 dürfen Todesstrafen nur nach Zustimmung des höchsten chinesischen Gerichts vollstreckt werden, seit 2008 nur noch mit einer Giftspritze. Chinas Strafrecht kennt auch eine „bedingte“ Todesstrafe auf Bewährung: Dabei wird die Hinrichtung zwei Jahre lang aufgeschoben. Begeht der Verurteilte in dieser Frist keine weiteren Straftaten, dann wird sein Todesurteil automatisch auf eine lebenslange oder 25-jährige Freiheitsstrafe reduziert. Diese kann bei guter Führung weiter begrenzt werden. Laut einem chinesischen Bericht sollen die zu dieser Strafe Verurteilten nach durchschnittlich 18 Jahren Haft freigekommen sein.China lässt unter allen Staaten der Welt jährlich (in absoluten Zahlen) die meisten Menschen hinrichten. Die Regierung gibt dazu keine Zahlen bekannt und hält die meisten Exekutionen geheim. 2004 registrierte Amnesty International über 3.400 in China hingerichtete Personen, nach inoffiziellen Angaben von Volkskongressabgeordneten waren es knapp 10.000. Darunter war laut Amnesty International wie 2003 auch ein Minderjähriger, obwohl die Todesstrafe für zur Tatzeit Minderjährige seit 1997 verboten ist. Auf die vielfache Kritik wegen der Intransparenz der Justiz richtete die chinesische Regierung eine öffentliche nationale Datenbank zu Gerichtsurteilen ein, in der auch Todesurteile gefunden werden können. Nach Angaben von Amnesty International war diese jedoch äußerst unvollständig. Zwischen 2014 und 2016 seien nach Medienberichten mindestens 931 Personen hingerichtet worden (nur ein Bruchteil der insgesamt in China Hingerichteten), aber in der Datenbank fanden sich nur 85 dieser Fälle.Endgültige Todesurteile werden in der Regel in einer Woche vollstreckt, etwa mit Giftspritzen in „Gerichtsbussen“, bis 2006 auch durch den Schuss eines Polizisten in das Genick des knienden Verurteilten oder bei öffentlichen, im Lokalfernsehen übertragenen Massenhinrichtungen. Mit Teilen Hingerichteter soll vielfach Organhandel betrieben werden, obwohl dieser in China verboten ist.Am 29. Dezember 2009 wurde trotz starker internationaler Proteste mit dem Briten Akmal Shaikh erstmals seit 50 Jahren wieder ein Europäer in China hingerichtet.In den Sonderverwaltungszonen Hongkong und Macau wurde die Todesstrafe bereits von den Kolonialmächten abgeschafft und wird auch weiterhin nicht angewandt. Jedoch können in Festlandchina Verurteilte ausgeliefert werden. == Weiterführende Informationen == === Siehe auch === Todesstrafe bei den Hethitern === Literatur === vor 1945 erschienene Stellungnahmen Hans J. Pieper (Hrsg.): Hat er aber gemordet, so muss er sterben. Klassiker der Philosophie zur Todesstrafe. Günter Seubold, Alfter 2003, ISBN 3-935404-11-5. Wilhelm Gotthelf Schirlitz: Die Todesstrafe in naturrechtlicher und sittlicher Beziehung. 1825. Charles Lucas: Von dem Strafsysteme und der Abhaltungstheorie im Allgemeinen; von der Todesstrafe insbesondere. 1830. Franz Joseph Felsecker: Worte an Bayern, betreffend die Abschaffung der Todesstrafe. Nürnberg/Fürth 1831. Conrad Samhaber: Die Abschaffung der Todesstrafe aus rechtlichen, politischen und religiösen Gründen. 1831. Andreas Neubig: Die rechtswidrige Todesstrafe und die rechtmäßige Hinrichtung. 1833. Christian Leberecht Fritzsche: Über die Todesstrafe. Ein Versuch zur Vertheidigung derselben… Colditz 1835. 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Bernhard Düsing: Die Geschichte der Abschaffung der Todesstrafe in der Bundesrepublik Deutschland. Bollwerk-Verlag, 1952Kriminologische Forschung Christian Tobias Folter: Die Abschreckungswirkung der Todesstrafe: Eine qualitative Metaanalyse. Lit Verlag, Münster 2014, ISBN 978-3-643-12567-5.Erfahrungsberichte Victor Hugo: Der letzte Tag eines Verurteilten. Paris 1829; Reprint: Anakonda, Köln 2005, ISBN 3-938484-52-7. Johann Dachs: Tod durch das Fallbeil. Der deutsche Scharfrichter Johann Reichhart (1893–1972). Mittelbayerische Druck- und Verlags-Gesellschaft, Regensburg 1996, ISBN 3-927529-74-5. Henri Sanson: Tagebücher der Henker von Paris 1685–1847. 2 Bände, Beck, München 1985, ISBN 3-406-09165-2.Aktualität Helmut Ortner: Das Buch vom Töten – Über die Todesstrafe. Zu Klampen Verlag, Springe 2013, ISBN 978-3-86674-227-7. Silke Porath: Auge um Auge – Todesstrafe heute. Gipfelbuch, Waldsolms/Hessen 2006, ISBN 3-937591-31-1. Christian Boulanger (Hrsg.): Zur Aktualität der Todesstrafe, interdisziplinäre und globale Perspektiven. 2. Auflage. Berlin-Verlag, Berlin 2002, ISBN 3-8305-0277-X. === Filme === === Musik === Hallowed Be Thy Name von Iron Maiden Ride the Lightning von Metallica 25 Minutes to Go. von Shel Silverstein; von Johnny Cash und den Brothers Four aufgeführt The Mercy Seat. von Nick Cave and the Bad Seeds; von Johnny Cash gesungen Lethal Injection. von Helmut Oehring; aufgeführt durch das Ensemble Sortisatio Ellis Unit One. von Steve Earle; in dem Film Dead Man Walking Beyond Recall. von Warhead Tom Dooley vom Kingston Trio === Weblinks === Aktuelle Daten und Fakten Gabi Uhl: Todesstrafe-Nachrichten. Abgerufen am 8. August 2018 Begründungen Christians and Capital Punishment. (PDF; 508 kB) Christian Life Commission of the Baptist General Convention of Texas, 10. Januar 2003; abgerufen am 8. August 2018. Pro und Kontra Todesstrafe. Initiative gegen die Todesstrafe; abgerufen am 8. August 2018 Wenn der Staat tötet: Argumente pro & kontra Todesstrafe. (PDF; 643 kB) Amnesty International, Sektion der Bundesrepublik Deutschland, 21. April 2015; abgerufen am 8. August 2018. Argumentationskatalog zur Abschaffung der Todesstrafe. Aktion der Christen für die Abschaffung der Folter (Acat); abgerufen am 8. August 2018 Till Magnus Steiner: Weil Gott es so will? Die Todesstrafe im Alten Testament. In: katholisch.de. 8. August 2018; abgerufen am 8. August 2018. Weniger Morde durch Todesstrafe? Empirische Befunde zur präventiven Wirkung und Diskussion: ein Forschungsbericht … erarbeitet im Hauptseminar Soziologie unter der Leitung von Prof. Dr. Stefan Immerfall. (PDF; 786 kB) (Nicht mehr online verfügbar.) Pädagogische Hochschule Schwäbisch Gmünd, 10. Januar 2012, archiviert vom Original am 26. Juli 2014; abgerufen am 8. August 2018. Hashem Dezhbakhsh, Paul H. Rubin, Joanna M. Shepherd: Does Capital Punishment Have a Deterrent Effect? 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Initiativen (Auswahl) Prodeathpenalty.com (USA) Initiative gegen die Todesstrafe e. V. === Einzelnachweise ===
https://de.wikipedia.org/wiki/Todesstrafe
Evangelium nach Matthäus
= Evangelium nach Matthäus = Das Evangelium nach Matthäus (oder Matthäusevangelium, abgekürzt Mt) ist das erste der vier Evangelien des Neuen Testaments. Der Verfasser nennt seinen Namen im Buch nicht. Der Buchtitel und damit der Verfassername Matthäus wurden erst später hinzugefügt. Durch diesen Titel wird der Verfasser mit einer Person identifiziert, die im Buch als Jünger von Jesus erwähnt wird. Das Matthäusevangelium stammt aus einem judenchristlichen Milieu in Syrien, entstand nach Mehrheitsmeinung etwa 80/90 n. Chr. und beschreibt Jesus von Nazaret als königlichen Messias sowie als Sohn Gottes. In scharfer Abgrenzung gegen jüdische Autoritäten (Pharisäer) schildert Matthäus, wie sich Jesus dem Volk Israel freundlich und hilfreich zugewandt habe. So habe er die Prophetenworte des Alten Testaments erfüllt. Die Lehre Jesu wird in fünf großen Reden entfaltet, von denen die Bergpredigt am bekanntesten ist. Nachfolge Jesu wird für Matthäus konkret im gerechten Handeln. Nach Ostern sah sich die Gemeinde des Matthäus beauftragt, Menschen aus allen Völkern zu missionieren. Sie wurden durch die Taufe der Ekklesia eingegliedert; die Autorität des Simon Petrus garantierte die authentische Jesustradition. Schon sehr früh rezipierte die mehrheitlich heidenchristliche Großkirche das Buch und machte es zu ihrem Hauptevangelium. Da die Evangelien nach Matthäus, Markus und Lukas eine ähnliche Darstellung der Jesustradition bieten (Zusammenschau, Synopsis), die sich vom Evangelium nach Johannes unterscheidet, werden diese drei Schriften die Synoptischen Evangelien genannt. == Buchtitel == Der griechische Buchtitel lautet εὐαγγέλιον κατὰ Μαθθαῖον euangélion katà Matthaĩon, „Evangelium nach Matthäus“. Er wird schon von Papias von Hierapolis vorausgesetzt; damit war das Buch bereits um das Jahr 100 n. Chr. unter diesem Namen bekannt. Die altkirchliche Überlieferung (Papias-Notiz und Ebionitenevangelium als früheste Zeugen) bezeichnet den im Buch genannten Zöllner Matthäus (Mt 9,9 , Mt 10,3 ) als Autor. Nach Ulrich Luz hat die Exegese bei dieser Frage nur die Wahl zwischen Erklärungen, die alle mit Schwierigkeiten behaftet sind: Dass das Buch ursprünglich einen anderen oder gar keinen Titel hatte, sei ebenso unwahrscheinlich wie die Annahme, dass der Verfasser ein sonst unbekannter Christ namens Mattaj gewesen sei – dieser aramäische Name ist relativ selten. Trotzdem ist der Buchtitel nach Luz jünger als das Buch selbst.Es ist nicht genau bekannt, wie die Evangelien zu ihrem jeweiligen Buchtitel (inscriptio) kamen. Die christlichen Ortsgemeinden sammelten wohl schon im 1. Jahrhundert wichtige Schriften, z. B. auch die Paulusbriefe, und tauschten sie untereinander. Martin Hengel vermutet, dass einzelne Gemeinden ihren Bücherschrank hatten, in dem Texte aufbewahrt wurden, die zum Verlesen im Gottesdienst, weniger zur privaten Lektüre, vorgesehen waren. Wahrscheinlich, so Hengel, wurden die Titel von jenen Schreibern hinzugefügt, die Kopien der Werke zur Weitergabe an andere Gemeinden anlegten. Außerdem kam es vor, dass mehrere Evangelien zu einem Kodex vereint wurden. Erst 2012 wurde ein Vorsatzblatt mit dem Titel des Matthäusevangeliums publiziert, das als Fragment zu P {\displaystyle {\mathfrak {P}}} 4 gehört, einem Papyrus, der ansonsten Text aus dem Lukasevangelium enthält. == Altkirchliche Überlieferung == Über den Verfasser des Evangeliums berichtete Papias von Hierapolis mit Berufung auf einen anonymen Presbyter: Diese Information, erhalten als Exzerpt des Eusebius aus dem verlorenen Werk des Papias, steht im Widerspruch zu dem Befund, dass das Matthäusevangelium nicht nur auf griechisch vorliege, sondern auch in dieser Sprache verfasst worden sei. „Stil und Sprachgebrauch sind durch das ganze Buch hindurch von einer Einheitlichkeit, die ein Übersetzer nie erreichen würde.“ Eine hebräische (oder aramäische) Urfassung von Überlieferungskomplexen lasse sich nicht nachweisen. Doch muss die Wendung Ἑβραΐδι διαλέκτῳ Hebraḯdi dialéktō nicht unbedingt als „in hebräischer Sprache“ übersetzt werden; dies sei, wie Josef Kürzinger herausarbeitete, philologisch nicht einmal naheliegend. Gemeint habe Papias „in jüdischer Darstellungsweise“, nämlich eine bestimmte Art, den Stoff zu disponieren. Die altkirchlichen Autoren hätten Papias missverstanden. == Verfasser, Entstehungszeit und -ort == === Mehrheitsmeinung === In der historisch-kritischen Exegese besteht ein weitgehender Konsens, wonach der Verfasser des Evangeliums namentlich nicht bekannt sei. Diese Exegeten sehen hinter der Papias-Notiz von der Abfassung durch den Jünger Matthäus nämlich keine historische Information, sondern den Wunsch, das Werk einem Apostel zuzuschreiben. Allerdings ist auch die Vermutung, mit dem Namen Matthäus solle ein Garant für die kirchliche Tradition benannt werden, rein hypothetisch. Das Standardargument gegen die Abfassung durch den Jünger Matthäus lautet, dass das Matthäusevangelium vom Markusevangelium abhängig sei und ein Augenzeuge sich bei der Abfassung nicht auf das Werk eines Nicht-Augenzeugen gestützt hätte. Der anonyme Autor wird in der Fachliteratur der Einfachheit halber gleichwohl als „Matthäus“ bezeichnet.Während das Markusevangelium in einem volkstümlichen Griechisch geschrieben ist, wählte der Verfasser des Matthäusevangeliums einen gehobeneren Stil. Er schrieb knapper, konzentrierter. Gerne wiederholte er Formeln und arbeitete mit Leitworten, Chiasmen und Inklusionen. Anders als das Evangelium nach Lukas, in dem Formulierungen der Septuaginta bewusst als Stilmittel eingesetzt werden, ist Matthäus zwar stark vom Bibelgriechischen geprägt, ohne aber absichtlich Septuaginta-Stil zu schreiben.Der anonyme Autor wird häufig als judenchristlicher Gemeindeleiter charakterisiert, bzw. mit einer Formulierung von Ernst von Dobschütz als „Rabbi und Katechet.“ Martin Hengel vermutete, er habe eine „palästinisch-jüdische schriftgelehrte ‚Grundausbildung‘ erhalten.“ Er schrieb als „Exponent seiner Gemeinde“ und setzte dabei, wo er konnte, auf Vertrautes. Deshalb verwendete er Formeln, die im Gottesdienst rezitiert wurden (Vaterunser Mt 6,9–13 , Einsetzungsworte beim Abendmahl Mt 26,26–28 , Taufformel Mt 28,19 ).Terminus post quem ist die Zerstörung Jerusalems im Jahr 70 n. Chr. Dies ist weitgehend Konsens der historisch-kritischen Exegese, denn sie erkennt im Matthäusevangelium mehrfach Bezugnahmen auf dieses traumatisierende Ereignis (z. B. Mt 22,7 , Mt 27,25 ). Außerdem folgt aus der Zweiquellentheorie, dass das Markusevangelium Matthäus bereits vorlag, und das Markusevangelium wird weitgehend nach dem Jüdischen Krieg datiert. Bei der Bestimmung des Terminus ante quem ist die Frage entscheidend, wer das Matthäusevangelium zitiert. Die Didache entstand in einer durch das Matthäusevangelium geprägten Gemeinde – aber ihre Datierung ist unsicher. Mehrere altkirchliche Autoren kennen das Evangelium (Ignatius von Antiochien, Polykarp von Smyrna, Barnabasbrief, Erster Clemensbrief, Justin), so dass das Buch um 100/120 offenbar bereits an verschiedenen Orten gelesen wurde: in Rom, in Smyrna, in Ägypten. Am nächsten kommt man der Abfassungszeit wohl, falls der Verfasser des 1. Petrusbriefs das Matthäusevangelium kannte (vgl. 1 Petr 2,12 und Mt 5,16 sowie 1 Petr 3,14 und Mt 5,10 ). Alle Indizien zusammengenommen sprechen für eine Datierung bald nach dem Jahr 80 n. Chr., bzw. um 90 n. Chr., wenn man in Ignatius von Antiochien den ersten Autor sieht, der das Matthäusevangelium kannte.Recht allgemein wird eine Entstehung im syrischen Raum vermutet. Ein textinterner Hinweis ist die Erwähnung von Syrien in Mt 4,24a , eine Notiz, die zeigt, dass diese Region dem Matthäus wichtig war. Die schnelle Verbreitung des Buchs im östlichen Mittelmeergebiet spricht für die Abfassung in einer Stadt. Viele Exegeten denken dabei an Antiochia am Orontes, obwohl z. B. Caesarea Maritima, Caesarea Philippi oder auch Edessa die gleichen Qualifikationen aufweisen: gute Einbindung in das antike Verkehrsnetz und einen größeren jüdischen Bevölkerungsanteil. Man kann sich die Lebenswelt der Matthäusgruppe in Antiochia hypothetisch etwa so vorstellen: In der Stadt wurde griechisch gesprochen, auf dem Land dagegen aramäisch. Eine zentrale Synagoge wie in Alexandria gab es in Antiochia nicht, sondern einzelne jüdische Hausgemeinden. Auch die Matthäusgruppe war eine solche Hausgemeinde. === Minderheitsmeinung === Im Gegensatz zur Mehrheit der heutigen historisch-kritischen Exegeten hält Gerhard Maier es für unbegründet, das einhellige Zeugnis der altkirchlichen Autoren beiseitezuschieben, und sieht daher den Apostel und Zwölferjünger Matthäus als Verfasser an. Aus der Papias-Notiz gehe zwar nicht eindeutig hervor, ob Matthäus das älteste Evangelium verfasst habe, doch sei dies Konsens der gesamten frühen Kirche, und Irenäus von Lyon (um 180) gebe einen deutlichen zeitlichen Hinweis – Matthäus schrieb sein Werk, „als Petrus und Paulus zu Rom das Evangelium verkündeten“, also etwa 55–65 n. Chr. Maier stellt fest: „Der moderne Konsens […] steht in bewusstem Widerspruch zu den Quellen.“ Eine Stelle wie Mt 22,7 verweise nur für diejenigen auf die bereits erfolgte Zerstörung Jerusalems im Jahr 70, die nicht mit echter Prophetie rechneten. Als Ort der Abfassung vermutet er, wiederum nach Irenäus und ebenso wie Theodor Zahn, Palästina bzw. das „Israelland.“ Mit Berufung auf die Papias-Notiz vermutete Theodor Zahn eine ursprünglich aramäische Abfassung des Matthäusevangeliums; hier legt sich Maier aber nicht fest und weist darauf hin, dass die knappe Notiz im Exzerpt des Eusebius unterschiedliche Deutungen erlaube.Craig S. Keener, der ursprünglich in der Verfasserfrage die Mehrheitsposition vertreten hatte, sucht in der Neubearbeitung seines Matthäuskommentars (2009) einen Kompromiss mit konservativen Autoren, die an der Historizität der Papias-Notiz festhalten. Er schlägt ein Szenario vor, bei dem eine Schule Traditionen weitergegeben habe, die bis auf den Jünger Matthäus zurückgehen; das Evangelium sei eventuell schon Ende der 70er Jahre in diesem Schülerkreis verfasst worden, aber keine Gemeinschaftsproduktion, sondern das Werk einer Verfasserpersönlichkeit. John Nolland vertritt in seinem Kommentar (2007) eine Frühdatierung deutlich vor dem Jahr 70 und der Zerstörung Jerusalems, verbindet dies allerdings mit der Zweiquellentheorie, womit er für das Markusevangelium und die Logienquelle zu sehr frühen Datierungen, noch in die Lebenszeit der ersten christlichen Generation kommt. == Vom Autor benutzte Quellen == === Mehrheitsmeinung === Die Zweiquellentheorie wird von historisch-kritischen Exegeten fast konsensual für die Vorgeschichte des Matthäusevangeliums genutzt:Der Autor verwendete demnach zwei ihm griechisch vorliegende Schriften, nämlich das Markusevangelium und die Logienquelle Q. Das Markusevangelium bildet das narrative Rückgrat, die Logienquelle bietet den Stoff für die in die Handlung eingefügten Redeblöcke. Das matthäische Sondergut umfasst 25 Texteinheiten; da ein gemeinsames Leitmotiv nicht erkennbar ist, rechnet man hier nicht mit einer dritten schriftlichen Quelle. Das waren also mündlich umlaufende Stoffe, die der Evangelist verschriftlichte. Etwa 50 % des Textes stammen aus dem Markusevangelium, das damit zu etwa 80 % ins Matthäusevangelium eingearbeitet wurde. Etwas mehr als 25 % des Matthäus-Textes entfallen auf die Logienquelle und etwas weniger als 25 % auf das Sondergut. Außerdem rechnen einige Exegeten mit einer schriftlich ausgearbeiteten Sammlung von Erfüllungszitaten (Zitate aus dem Alten Testament, die auf Jesus Christus bezogen wurden), die Matthäus bei der Abfassung seines Evangeliums vorgelegen haben könnte. Luz vermutet, dass die Logienquelle in verschiedenen Rezensionen umlief, einer kürzeren, die Matthäus benutzte, und einer erweiterten, die Lukas vorlag. Konkret stellt er sich die Logienquelle als eine Materialsammlung, eine Art antikes Notizbuch vor, in das leicht Blätter eingeschoben oder aus ihm entfernt werden konnten; das Markusevangelium sei dagegen als Kodex im Umlauf gewesen. Zur Erklärung der sogenannten Minor Agreements (Übereinstimmungen von Matthäus und Lukas, in denen sie vom Markus-Text abweichen) nimmt er an, dass die beiden Evangelisten eine Version des Markusevangeliums benutzten, die sich etwas von dem heute bekannten Markus-Text unterschied. Dass Texte in einer „religiösen Rand- und Subkultur“ in leicht verschiedenen Fassungen zirkulierten, sei naheliegend. Luz argumentiert hier als ein Vertreter der „Deuteromarkus“-Hypothese. Konradt wendet ein, dass diese Hypothese ein Problem löst, indem sie ein neues schafft: Denn nun muss man erklären, warum die Version des Markusevangeliums, die Matthäus und Lukas an verschiedenen Abfassungsorten vorlag, danach spurlos verschwand.Nach Konradt hatte Matthäus nicht einfach die Absicht, das Markusevangelium mit zusätzlichen Stoffen zu ergänzen, sondern er wollte Markus mit seinem eigenen Werk verdrängen, weil ihm dessen Konzeption missfiel. So habe Matthäus gegen seine Vorlage die Davidsohnschaft des Messias besonders herausgearbeitet, das Toraverständnis korrigiert und auch ein anderes Bild von den Jüngern Jesu gezeichnet. An der Logienquelle hatte Matthäus, soweit erkennbar, weniger Korrekturen anzubringen. === Minderheitsmeinung === Indem er der Datierung des Irenäus von Lyon folgt, ergibt sich für Maier, dass Matthäus, mutmaßlich als Augenzeuge, das älteste Evangelium verfasst und folglich mitnichten das Markusevangelium benutzt habe. Die Ähnlichkeit beider Schriften ist für Maier damit zu erklären, dass Markus sich bei der Abfassung an Matthäus orientierte oder (wie schon Augustinus vermutete) eine Kurzfassung des Matthäusevangeliums anlegte. Augenzeugenschaft heiße allerdings nicht, dass Matthäus wie ein moderner Autor seine persönlichen Erlebnisse mitteilen wollte, vielmehr habe er sich bei der Niederschrift am Alten Testament und auch an schriftlich oder mündlich umlaufenden Traditionen orientiert und diese einbezogen. Mit Berufung auf Karl Jaroš hält Maier die Logienquelle für ein „modernes Schreibtischgebilde“. Plausibler sei, dass mehrere Sammlungen von Jesusworten in Umlauf gewesen seien. Besonderes Gewicht hat für Maier 2 Tim 4,13 , denn bei den dort genannten μεμβράναι membránai könne es sich, wie Rainer Riesner vermutet, um „Pergament-Notizzettel“ handeln; solche Sammlungen von Jesusworten könnten auch schon zu Lebzeiten Jesu angelegt worden sein. Daraus schließt Maier, dass Jesustraditionen mündlich und schriftlich im Umlauf waren. Matthäus konnte seine Augenzeugenschaft und seine Erfahrungen als Apostel nutzen, um das Geeignete darunter auszuwählen.Keener hält anders als Maier an der Markuspriorität fest und identifiziert den Evangelisten Markus, im Einklang mit der altkirchlichen Tradition, als einen Autor, der Mitte der 60er Jahre für Christen in Rom schrieb. Durch das Netzwerk reisender Christen sei das Werk des Markus schon bald dem Verfasser des Matthäusevangeliums bekannt geworden, aber der habe jahrelang daran gearbeitet, das Markusevangelium mit seinem eigenen Material zu einer Komposition zu vereinen, so dass sich für Keener wieder die späten 70er Jahre als Zeitraum der Fertigstellung nahelegen. == Textüberlieferung == Als ständige Zeugen erster Ordnung liegen dem Text des Matthäusevangeliums im Novum Testamentum Graece zugrunde: Sämtliche Papyri, die Text dieses Evangeliums enthalten, nämlich: P {\displaystyle {\mathfrak {P}}} 1, P {\displaystyle {\mathfrak {P}}} 19, P {\displaystyle {\mathfrak {P}}} 21, P {\displaystyle {\mathfrak {P}}} 25, P {\displaystyle {\mathfrak {P}}} 35, P {\displaystyle {\mathfrak {P}}} 37, P {\displaystyle {\mathfrak {P}}} 44, P {\displaystyle {\mathfrak {P}}} 45, P {\displaystyle {\mathfrak {P}}} 53, P {\displaystyle {\mathfrak {P}}} 62, P {\displaystyle {\mathfrak {P}}} 64, P {\displaystyle {\mathfrak {P}}} 67, P {\displaystyle {\mathfrak {P}}} 70, P {\displaystyle {\mathfrak {P}}} 71, P {\displaystyle {\mathfrak {P}}} 73, P {\displaystyle {\mathfrak {P}}} 77, P {\displaystyle {\mathfrak {P}}} 83, P {\displaystyle {\mathfrak {P}}} 86 und P {\displaystyle {\mathfrak {P}}} 96; Majuskelhandschriften: Codex Sinaiticus, Codex Alexandrinus, Codex Vaticanus Graecus 1209, Codex Ephraemi Rescriptus, Codex Bezae Cantabrigiensis, Codex Regius (Neues Testament), Codex Washingtonianus, Codex Dublinensis, Codex Koridethi, Unzial 058, Unzial 067, Unzial 071, Unzial 073, Unzial 078, Unzial 085, Unzial 087, Unzial 089, Unzial 094, Unzial 0102, Unzial 0106, Unzial 0107, Unzial 0118, Unzial 0128, Unzial 0148, Unzial 0160, Unzial 0161, Unzial 0164, Unzial 0170, Unzial 0171, Unzial 0200, Unzial 0200, Unzial 0204, Unzial 0231, Unzial 0234, Unzial 0237, Unzial 0242, Unzial 0249, Unzial 0271, Unzial 0275, Unzial 0277, Unzial 0281, Unzial 0293 und Unzial 0298; Minuskelhandschriften: die Minuskelfamilien f {\displaystyle f} 1 (= Lake Group, mit der Leithandschrift Codex Basiliensis A.N.IV.2) und f {\displaystyle f} 13 (= Ferrar Group) sowie die Minuskel 33. == Gattung == Das Matthäusevangelium konnte dem antiken Leser auf den ersten Blick als eine Lebensbeschreibung einer bedeutenden Persönlichkeit erscheinen. Einen grundsätzlichen Unterschied sieht Luz allerdings darin, dass hier nicht die typische Biografie eines vorbildlichen Menschen, sondern eine strikt einmalige Lebensgeschichte erzählt werde. Ältere Bestimmungen des Werks als Handbuch (Krister Stendahl, The School of St. Matthew, 1954) oder als „kerygmatisches Geschichtswerk“ (Hubert Frankemölle, Jahwe-Bund und Kirche Christi, 1984) haben sich nicht durchsetzen können, während eine Bezeichnung als „Biografie“ (Graham N. Stanton) bzw. „Enkomion-Biografie“ (Peter L. Shuler: A Genre for the Gospels, 1982) häufig vertreten wird. == Gliederung == Das Matthäusevangelium entzieht sich einer klaren Gliederung, wie sie bei den anderen Evangelien möglich ist. Das liegt am Evangelisten selbst, der auf eine zusammenhängende Erzählung Wert legte. Hinzu kommt, dass in den Kapiteln 3 bis 11 die nichtmarkinischen Stoffe dominieren, während ab Kapitel 12 der Aufriss des Markusevangeliums, bis auf die eingeschobenen Jesusreden, übernommen wird. „Es ist, als ob der Evangelist Matthäus von Kapitel 12 an in seiner redaktionellen Aktivität erlahmte.“ Die verschiedenen Gliederungsvorschläge lassen sich drei Grundtypen zuordnen: Modell der fünf Bücher. Matthäus hat fünf Jesusreden gestaltet: Bergpredigt (Kapitel 5 bis 7), Aussendungsrede (Kapitel 10), Gleichnisrede (Mt 13,1–52 ), Gemeinderede (Kapitel 18) sowie Pharisäer- und Endzeitrede (Kapitel 23 bis 25). Diesen fünf Redeblöcken wird in diesem Modell je ein vorhergehender erzählender Abschnitt zugeordnet. Erzählerische Partien und Reden bilden zusammen den Hauptteil des Textes. Er wird gerahmt von einer Einleitung (Kapitel 1 und 2) und dem Schlussteil mit Passion, Kreuzigung und Auferstehung (Kapitel 26 bis 28). Manche Vertreter dieses Gliederungsmodells stellen die fünf Jesusreden den fünf Büchern des Pentateuch gegenüber: Jesus werde im Matthäusevangelium als neuer Mose porträtiert. Das Modell überzeugt nicht, weil die erzählerischen Abschnitte mit den nachfolgenden Reden thematisch kaum verbunden sind. Ringkomposition. Das Evangelium besitze eine Mitte, die meist in der dritten Jesusrede (Mt 13,1–52 ) gefunden wird, und sei um diese herum chiastisch aufgebaut. Manche dieser chiastischen Bezüge sind frappant: Die erste und die letzte der fünf Reden Jesu sind fast gleich lang, die zweite und die vierte Rede sind auffällig kurz. Matthäus habe den Aufriss des Markusevangeliums übernommen. Dadurch ergeben sich zwei Hauptteile: Wirksamkeit in Galiläa (ab Mt 4,17 ) und Weg nach Jerusalem als Weg in Leiden, Tod und Auferstehung (ab Mt 16,21 ). Im Unterschied zu den beiden anderen Gliederungstypen ist es hier der Fortschritt der Handlung, der den Aufbau des Evangeliums vorgibt, und nicht die in den Reden enthaltene Lehre Jesu.Heute wird das Evangelium überwiegend als Erzählung verstanden (Grundtyp 3), in die die Reden an passender Stelle eingefügt wurden. Sie unterbrechen den Fortgang der Handlung und wenden sich direkt an den Leser in der Gegenwart, sie sind „gleichsam zu ihrem ‚Fenster‘ hinausgesprochen.“ Das Proömium hat eine doppelte Funktion. Es erzählt einerseits, wie die Geschichte von Jesus begann; es antizipiert aber auch den Verlauf der ganzen Jesusgeschichte, wodurch dem Leser bereits am Anfang „wichtige Lesegesichtspunkte“ vermittelt werden.Die folgende Inhaltsübersicht entspricht der Gliederung des Matthäuskommentars von Ulrich Luz (Spalten 1 und 2). In der dritten Spalte werden bekannte Texte des Matthäusevangeliums dieser Gliederung zugeordnet. == Theologische Grundaussagen == === Deutung der Person Jesus von Nazaret === Matthäus interpretiert Jesus als „Gott-mit-uns“ (Immanuel, vgl. Mt 1,23 ). So wird er im Proömium dem Leser vorgestellt. Der Evangelist entfaltet aber nicht argumentativ, wie er dieses Prophetenwort aus dem Alten Testament auf den Nazarener bezieht, sondern erzählt Geschichten über Jesus. Diese erhalten dadurch eine Doppeldeutigkeit: Vordergründig werden Begebenheiten aus dem Leben des Jesus von Nazaret mitgeteilt, diese werden aber transparent für Glaubenserfahrungen von Christen nach Ostern. Beispiele hierfür sind die Sturmstillung (Mt 8,23–27 ) oder die Blindenheilung (Mt 20,29–34 ).Die mit Kapitel 26 beginnende Passionsgeschichte vertieft das, was der Leser bis dahin über Jesus erfahren hat. Matthäus folgt dabei dem Ablauf des Markusevangeliums, bringt aber Korrekturen und Ergänzungen an. Jesus weiß im Voraus, dass man ihn verhaften, verurteilen und hinrichten wird (Mt 26,2 ); als Gottes Sohn könnte er Engelsheere zu seiner Verteidigung aufbieten (Mt 26,52–54 ). Aber er verzichtet darauf und geht bis zum Tod den Weg des Leidens und der Gewaltlosigkeit. Die jüdischen und römischen Akteure gebärden sich zwar, als könnten sie nach Belieben mit Jesus, ihrem Gefangenen, verfahren, doch sind sie nach Darstellung des Matthäus im Irrtum. Wie im Markusevangelium und anders, als es die Evangelisten Lukas und Johannes darstellen, sind Jesu letzte Worte ein Zitat aus Psalm 22 (Mt 27,46 = Mk 15,34 = Ps 22,2 ). „Jesus stirbt als Beter, der sich an seinen Gott wendet.“ Gott reagiert darauf und beglaubigt Jesus durch außerordentliche Phänomene, die zugleich die Entwertung des Tempels und der Stadt Jerusalem andeuten (Mt 27,51–53 ). Die römischen Soldaten unter dem Kreuz erschrecken (da sie dem Göttlichen begegnet sind) und bekennen Jesus, den sie zuvor verspottet hatten, als Gottes Sohn. Ein besonderes Element der matthäischen Ostererzählung ist, dass die Jünger nicht in Jerusalem, sondern in Galiläa dem Auferstandenen begegnen; „das theologische Programm des Gegensatzes zwischen Galiläa und Jerusalem wird nachösterlich fortgeschrieben.“ === Jüngerschaft und Gemeinde === Was Matthäus unter Gemeinde versteht (Ekklesiologie), macht er mit den beiden Zentralbegriffen „Jünger“ (altgriechisch μαθητής mathētḗs) und „nachfolgen“ (altgriechisch ἀκολουθέω akolouthéō) deutlich; „die Gestalten der Jünger sind die wichtigste Konfiguration des ‚impliziten Lesers‘“. Sie sind zum Beispiel „kleingläubig“, Schüler des „einzigen Lehrers“ (Mt 23,8 ), der sie beschützt (Mt 28,20 ). Ihre eigenen Lebenserfahrungen lassen sich im Licht seiner Biografie deuten. Indem sie seine Gebote befolgen, sind sie auf dem Weg zu ethischer Vollkommenheit (Mt 5,48 , Mt 19,16–21 ).Bei Matthäus ist außerdem das Vaterunser von Bedeutung für das Gemeindeleben: es tritt als Erkennungsmerkmal der Christen als das „durch den Kyrios persönlich eingesetzte Vatergebet“ (Karl-Heinrich Ostmeyer) in Kraft. Es geht dem Evangelisten nicht um den genauen Wortlaut, sondern das Gebet als ganzes galt als eine Besonderheit der Christen. Von diesem Gebet wurden also diejenigen Beter ausgeschlossen, die in Jesus nicht den Kyrios sahen.Man könnte Simon Petrus als die wichtigste Nebenrolle im Matthäusevangelium bezeichnen. Die Figur wird vom Evangelisten auf verschiedene Weise eingesetzt: Petrus ist Sprecher für die anderen Jünger. Er spricht aus, was alle denken. Er fragt nach und wird von Jesus unterrichtet und korrigiert. Er ist der typische Christ, mal mutig, mal schwach. Er ist aber auch eine einmalige historische Person. Für das Matthäusevangelium ist Petrus eine Gründergestalt, vergleichbar mit dem „Lieblingsjünger“ im Evangelium nach Johannes. Petrus als Garant der Jesustradition war in Syrien besonders wichtig (z. B. Pseudo-Klementinen).Matthäus lässt Jesus nach einigen Wanderungen einen festen Wohnsitz beziehen (Mt 4,13 ). Er schreibt für eine sesshafte Gemeinde. Aber die Ekklesia wird als ein Gemeindeboot imaginiert, in das man einsteigen kann und von dem man nach Stürmen auf der Überfahrt an ein neues Ufer getragen wird. === Ethik – die bessere Gerechtigkeit === Die Bergpredigt ist der Kerntext des „Evangeliums vom Reich“ (Mt 4,23 ), das Jesus im Matthäusevangelium verkündigt. Matthäus hat kein Problem damit, in der Bildrede vom Weltgericht auszumalen, wie Menschen aufgrund ihres ethischen Verhaltens ihr Urteil empfangen und dementsprechend ins Reich Gottes oder aber ins ewige Feuer eingehen (Mt 25,46 ). Dahinter steht die Überzeugung, „daß der Mensch gerade in seinen Taten von Gott als Person ernst genommen wird.“ In polemischer Abgrenzung von Pharisäern und jüdischen Schriftgelehrten fordere das Matthäusevangelium von seinen Lesern eine „bessere Gerechtigkeit“, die sich durch Taten auszuweisen habe (Mt 5,20 ). Für Reinhard Feldmeier ist das eine doppelt problematische Begründung der Ethik: Einerseits impliziere sie eine moralische Minderwertigkeit des pharisäischen Judentums, andererseits ende jede ethische Mahnung mit dem Blick auf das Gericht, bei dem kein Christ sicher sein könne, den Ansprüchen zu genügen: Diesen Schattenseiten der matthäischen Ethik stehen positive Seiten gegenüber, mit denen Matthäus ethische Entwürfe im Christentum inspirierte:Doppelgebot der Liebe (Mt 22,37–40 ); Barmherzigkeit als Inbegriff der Tora (Mt 23,23 ); Jesus identifiziert sich mit den Geringsten und Verachtetsten (Mt 25,40 ); Jesus wendet sich den schwachen Menschen freundlich zu (Mt 11,28–30 ) und spricht von Gott als dem himmlischen Vater. == Stellung zum Judentum == Hat sich der Evangelist Matthäus von der Synagoge getrennt? Edwin K. Broadhead bezeichnet diese Frage (2017) als das umstrittenste Thema der aktuellen Matthäusexegese. „Im Kern geht es darum, ob die harsche Kritik an Pharisäern und anderen Juden in ihrer Abwesenheit vorgebracht wird oder in einer persönlichen Konfrontation.“ Daran entscheidet sich auch, ob das Matthäusevangelium antijudaistisch ist oder „nur“ die Art und Weise, wie es in der Großkirche, nach Marginalisierung des Judenchristentums, rezipiert wurde. Begriffsklärung: Synagoge im 1. Jahrhundert n. Chr. Der Wortbedeutung nach kann das eine Versammlung von Menschen sein; epigraphisch gesichert ist aber auch die Synagoge als Gebäude, bzw. Gebäudekomplex. Wie insbesondere die Theodotos-Inschrift zeigt, dienten ihre Räume nicht exklusiv religiösen Zwecken (Gebet, Toralesung und -studium, rituelle Waschungen), sondern auch zur Beherbergung von Gästen und verschiedenen kommunalen Aufgaben. Es war eine Art Gemeindehaus, eine „vorwiegend sozial-kommunale Institution […], in der auch religiöse Veranstaltungen ihren Raum hatten.“ Weitgehender Konsens besteht darüber, dass Pharisäer in Synagogen nicht mehr Einfluss hatten als andere Gruppen und jüdische Priester nicht selten Führungsaufgaben wahrnahmen. Die Leitung von Synagogen war hierarchisch organisiert, es gab Ämter und Titel. Unsicher ist, ob Synagogen eher öffentliche Gebäude waren oder halböffentlich, entsprechend römischen collegia; und wenn Synagogen aus der Außenperspektive wie collegia erschienen, ist nicht sicher, ob sich das aus der Perspektive von Mitgliedern auch so darstellte. === Bleibende Erwählung oder Verwerfung Israels === Das Matthäusevangelium betont so stark wie keine andere Schrift des Neuen Testaments die bleibende Bedeutung der religiösen Traditionen Israels für seine christlichen Leser. Der Evangelist erzählt die Jesusgeschichte mit ständigem Bezug auf Israels heilige Schriften neu. Jesus ist ganz seinem Volk zugewandt, indem er es belehrt, die Nähe der Gottesherrschaft verkündet und Krankheiten heilt (Mt 4,23 ). Dementsprechend strömen Menschen aus ganz Israel bei Jesus zusammen und folgen ihm nach (Mt 4,25 ). Dazu passt auch der Titel „Sohn Davids“, der Jesus im Matthäusevangelium immer wieder zugesprochen wird.„Es sind die Pharisäer und Schriftgelehrten, die der sich etablierenden Jesusschule – und insbesondere ihrem Gründer – ablehnend gegenüberstehen. Die Volksmengen dagegen zeigen neugieriges Interesse.“ (Martin Ebner) Der Evangelist unterscheidet zwischen dem einfachen Volk (der „Herde“), das er positiver sieht als seine Vorlage, und den jüdischen Autoritäten (den „Hirten“), die er umso negativer zeichnet. Beide Gruppen werden kontrastiert (z. B. Mt 9,33–34 ). Die Hirten/Herde-Metaphorik lag bereits in der Tradition bereit (Jer 23,1–6 ). Für Ulrich Luz ist die positive Charakterisierung des einfachen Volkes freilich nur ein Zwischenstand: Die Unterscheidung zwischen dem einfachen Volk und den Autoritäten werde in der Passionsgeschichte aufgehoben, indem sich das Volk an die Seite seiner Führer begebe, mit weitreichenden Konsequenzen: „[Das] heilige Volk, das sich mit seinen Führern in der Passion identifiziert, [wird] seine Israelschaft verlieren; es wird zu den ‚Juden‘ (vgl. zu Mt 28,15).“Als Ertrag seines vierbändigen Kommentarwerks fasste Luz zusammen, dass Antijudaismus nicht nur die Wirkungsgeschichte des Matthäusevangeliums prägte (als Missverständnis der späteren Leser), sondern im Buch selbst enthalten sei. Problematisch seien nicht einzelne Formulierungen oder Textabschnitte, sondern die ganze Buchkomposition. Das Buch habe nämlich ein doppeltes Ende: eine ausweglose Situation für „die Juden“, die nach der Auferstehung Jesu quasi in eine Sackgasse geraten seien (Mt 28,11–15 ), und einen Auftrag für die Jüngergemeinde zur weltweiten Mission (Mt 28,16–20 ). Sie lasse Israel hinter sich und breche zu neuen Ufern auf. Luz rät als christlicher Theologe zu einem kritischen Umgang mit dem Matthäusevangelium: Matthias Konradt betont dagegen, dass Matthäus nirgends eine Verwerfung Israels behaupte, auch keine Ablösung Israels durch die Kirche, sondern die Ersetzung der alten, bösen und heuchlerischen Autoritäten durch die Jesusjünger. Die ständigen intertextuellen Bezugnahmen auf das Alte Testament seien bei Matthäus Teil einer kommunikativen Strategie. So bestärke der Autor seine Leser darin, dass sie selbst die legitimen Sachwalter der Traditionen Israels seien.Als Beispiel für die Konsequenzen, die sich aus den unterschiedlichen Ansätzen von Luz und Konradt ergeben, kann die Interpretation von Mt 8,5–13 dienen, die Perikope vom Hauptmann von Kafarnaum. Es ist ein Stoff der Logienquelle Q, den Matthäus deutlich anders erzählt als Lukas. Solche Änderungen sind für Exegeten Hinweise auf das Profil des jeweiligen Evangeliums. Matthäus fügte die Verse 11 und 12 ein, Worte, mit denen sich Jesus an seine Jünger wendet: „Viele werden von Osten und Westen kommen und mit Abraham, Isaak und Jakob im Himmelreich zu Tisch sitzen; aber die Söhne des Reiches werden hinausgeworfen in die äußerste Finsternis; dort wird Heulen und Zähneknirschen sein.“ Für Luz enthalten diese Sätze die Verwerfung Israels und die Begründung der Heidenmission. Die Schwierigkeit dabei ist, dass der matthäische Jesus in Kapitel 8 noch gar keine negativen Erfahrungen mit Israel gemacht hat, die dessen Verwerfung begründen könnten. Luz bezeichnet diese Sätze deshalb als „Wetterleuchten“, womit für den Leser schon einmal angedeutet werde, wie sich diese Konfrontation im Evangelium verschärfen wird. Konradt weist darauf hin, dass die Formulierung „von Osten und Westen kommen“ in der hebräischen Bibel (Tanach) für die sogenannte „Völkerwallfahrt zum Zion“ nicht üblich sei, aber gut belegt als Bezeichnung für die erhoffte Rückkehr der Diasporajuden nach Israel. Das legt er seiner Textinterpretation zugrunde: die palästinischen Juden, denen Jesus von Nazaret persönlich begegnete, hätten ihre Vorzugsstellung verspielt und würden durch Juden aus der Diaspora ersetzt. === Zerstörung von Jerusalem === Matthäus ordnet die Stadt Jerusalem den negativ bewerteten jüdischen Autoritäten zu. Sie haben dort quasi ihr Zentrum. In Mt 27,25 übernehmen die Jerusalemer mitsamt ihren Kindern die Verantwortung für Jesu Tod. Diese beiden Generationen erlebten mit, wie römische Truppen Jerusalem belagerten und im Jahr 70 einnahmen und zerstörten. Der Evangelist konstruiert einen Zusammenhang zwischen dem Tod Jesu und dem Fall Jerusalems und deutet die Zerstörung der Stadt als sichtbaren Beweis dafür, dass die Jerusalemer sich den falschen Autoritäten anvertraut hätten.In die Parabel vom Hochzeitsmahl des Königssohns (Mt 22,1–14 ) trägt der Evangelist in Vers 7 die Zerstörung Jerusalems ein, was den Zusammenhang der Parabel stört, weil das vorbereitete Festmahl nun so lange warten muss, bis der König seine militärische Strafaktion beendet hat. Luz kommentiert: Jerusalem sei für Matthäus die „Stadt der Mörder.“ Die Katastrophe des Jahres 70 beende die lange geschichtliche Periode göttlicher Zuwendung zu Israel „definitiv“; diese Epoche werde „durch die der Heidenmission abgelöst.“ Peter Fiedler dagegen schreibt dem Evangelisten die Auffassung zu, dass Gottes Zorngericht über die schlechten Autoritäten in Gestalt der Zerstörung Jerusalems „zwangsläufig“ auch das Leiden vieler Unschuldiger aus der einfachen Bevölkerung bedeutet habe. Aber Gottes Geschichte mit Israel sei deswegen nicht zu Ende, sondern „weiter offen“, Jerusalem bleibe bis zum Schluss des Evangeliums die „heilige Stadt“ (Mt 27,53 ). === Ein jüdisches Buch? === Extra Muros („vor den Mauern“) oder intra muros („innerhalb der Mauern“): Mit diesen Metaphern wird in der Exegese die Frage diskutiert, ob sich Matthäus und die Gruppe, für die er schreibt, innerhalb des Judentums befanden oder außerhalb. Diese traditionelle Begrifflichkeit ist aber wenig geeignet, die komplexe soziale Realität zu beschreiben. Im Evangelium werden innerjüdische Differenzierungen erkennbar: es finden eigene Versammlungen außerhalb der Synagogen statt. Das Judentum bildete aber weiterhin den primären Lebenskontext der matthäischen Gemeinde. Knut Backhaus schlug deshalb eine Gegenmetapher vor: die vermeintlichen Mauern seien „kognitive Wanderdünen“, ob draußen oder drinnen also eine Frage der Perspektive des modernen Betrachters. Doch für die damals Beteiligten – die Matthäusgruppe einerseits, ihre pharisäischen Gegner andererseits – habe sich der Streit durchaus als Kampf um die Mauern, also um Grenzziehungen, dargestellt. Beide Streitparteien seien durch ihr jüdisches Bezugssystem (heilige Schriften, Kultsymbole, Geschichtsdeutungen, Bilderreservoirs usw.) im Konflikt verbunden gewesen, während ein paganes Bezugssystem im Matthäusevangelium nicht existiert: „Die Heiden, die in der erzählten Welt des Mt in den Raum des Evangeliums treten, weisen sich dadurch aus, dass sie den jüdischen Sinnkosmos für ihr eigenes Fragen und Finden grundsätzlich anerkennen.“Zweimal ist im Evangelium von den Synagogen der Gegner die Rede, in denen die Jesusjünger auf Misshandlungen gefasst sein müssten (Mt 10,17 , Mt 23,34 ). Eine solche Warnung setzt für Konradt voraus, dass Jesusjünger diese Synagogen trotzdem aufsuchten, mutmaßlich um für ihre Sache zu werben. Hier hat Luz Interpretationsschwierigkeiten, denn er vertritt an sich den Grundsatz, dass der matthäische Jesus in den Redekompositionen direkt in die Gegenwart der Gemeinde hineinspreche. Nun sieht es so aus, dass diese christlichen Leser Synagogen besuchen und das für sie gefährlich ist. Das kann aber gar nicht sein, wenn man sich längst von der Synagoge getrennt hat. Luz hilft sich mit folgender Hypothese: „Der matthäische Jesus blickt in die Zukunft. Er spricht aber nicht von der Gegenwart der Leser/innen, sondern von der vergangenen Zeit, als sie noch unter der Jurisdiktion der Synagoge standen und ausgepeitscht wurden.“ Die Verfolgungserfahrungen, in denen man auch den leidenden Jesus vor der Kreuzigung wiedererkennen könne, seien etwas Typisches: früher, vor dem Synagogenausschluss, bei der Israelmission – in der Gegenwart bei der Mission in der Völkerwelt. === Mission unter Nichtjuden === Mit dem Missionsbefehl des auferstandenen Christus endet das Matthäusevangelium (Mt 28,16–20 ). Damit öffnet sich die Gemeinde des Matthäus programmatisch für Nichtjuden. Eine christliche Auslegungstradition las das Evangelium so, dass sich Jesus von Nazaret mit seiner Botschaft an Israel gewandt habe, von seinem Volk aber abgelehnt worden sei (gipfelnd im „Blutruf“), und an die Stelle Israels trete nach Ostern die universale Kirche. Konradt schlägt eine andere Lektüre vor, ausgehend von den beiden christologischen Hoheitstiteln Sohn Davids und Sohn Gottes. Beide fand Matthäus bereits im Markusevangelium vor und entfaltete sie in einer für ihn charakteristischen Weise: Sohn Davids: Als davidischer Messias wende sich Jesus seinem Volk freundlich und hilfreich zu, das wegen des Versagens der alten Autoritäten darniederliege. So bringe er die biblischen Verheißungen an Israel zur Erfüllung. Sohn Gottes: Die Verheißung an Abraham, zum Segen für alle Völker zu werden, sei von Anfang an (Mt 1,1 ) im Blick des Evangelisten. Die Gottessohnschaft Jesu werde aber zunächst nur den Jüngern enthüllt. In diesem Zusammenhang hat das Petrusbekenntnis und die Zusage an ihn kompositorisch zentrale Bedeutung: Petrus bekennt Jesus als „Sohn des lebendigen Gottes“ – so ergänzt Matthäus den Markus-Text, der Petrus Jesus als Messias bekennen lässt (vgl. Mt 16,16 und Mk 8,29 ). Ein besonderes Lob von Jesus, Petrus spreche so durch eine Offenbarung Gottes, zeigt, wie wichtig dem Matthäus gerade dieser Hoheitstitel an dieser Stelle ist (Mt 16,17 ). Jesus will auf Petrus, den „Felsen“, seine Ekklesia bauen (was konfessionell verschieden als Kirche oder als Gemeinde übersetzt wird). Realisiert werde diese Ekklesia aber erst durch die Mission nach Ostern: Leiden, Tod und Auferstehung des Gottessohnes bezögen Menschen aus allen Nationen in den Abrahamssegen mit ein.Die ältere Forschung nahm selbstverständlich an, dass von den Neuchristen nicht das Einhalten der Tora erwartet wurde, insbesondere nicht die Beschneidung. Dieser Konsens gilt nicht mehr, wenn das Matthäusevangelium als ein jüdisches Buch gesehen wird. David Sim vertritt unter anderem mit Verweis auf Mt 5,18 die These, dass die Matthäusgruppe die Neuchristen durch Beschneidung zu Proselyten machte. Nirgends signalisiere der matthäische Jesus, dass für gebürtige Juden und gebürtige Nichtjuden eine je verschiedene Tora gelte. Sim kommt in Erklärungsschwierigkeiten bei Mt 28,18 : Menschen aus allen Völkern (altgriechisch πάντα τὰ ἔθνη pánta tà éthnē) werden durch die Taufe in die Gemeinde aufgenommen. Er hilft sich mit der Vermutung, Selbstverständliches (wie die Beschneidung) müsse nicht genannt werden. Und dann sei die Anweisung ohne große Praxisrelevanz – welcher Syrer hätte nach dem Jahr 70 Interesse gehabt, einer allgemein verachteten Bevölkerungsgruppe wie den Juden beizutreten? Von einem nennenswerten Missionserfolg der Matthäusgemeinde unter Nichtjuden könne keine Rede sein; die wenigen Ausnahmen hätte die Gemeinde leicht integrieren können, ohne dass dadurch ihre jüdische Identität in Frage gestellt wurde.Konradt macht sich diese Argumentation nicht zu eigen. Er zeigt am Beispiel der Konversion des Izates II. von Adiabene auf, dass im Judentum verschiedene Ansichten über die Notwendigkeit der Beschneidung existierten. Zwar sei dieses Ritual zur Zeit des Matthäus wahrscheinlich obligatorisch gewesen, doch habe das Diasporajudentum zahlreichen „Gottesfürchtigen“ auch ohne Beschneidung weitgehende Teilnahmemöglichkeiten am synagogalen Leben gegeben. Hier ordnet er auch Matthäus und seine Gemeinde ein. Peter Fiedler hält es für „nicht ganz eindeutig“, ob die von der Matthäusgemeinde bekehrten Neuchristen zum Judentum übertraten, was für Männer die Beschneidung implizierte, oder den Status von „Gottesfürchtigen“ wählten und die jüdische Lebensweise, wie sie in der Gemeinde des Matthäus praktiziert wurde, weitestgehend übernahmen. Udo Schnelle hält diese Vorschläge für unplausibel: „[Dem] Judenchristen Matthäus kann nicht entgangen sein, dass es ohne Beschneidung kein Judentum und auch keinen ernsthaften innerjüdischen Dialog gibt!“ == Forschungsgeschichte == Die Unterschiede und Gemeinsamkeiten der vier kanonischen Evangelien wurden in der vorkritischen Zeit (also bevor die Historisch-kritische Methode Verbreitung fand) durch Erstellen von Evangelienharmonien erklärt. Dabei nahm man an, dass die Anordnung der Evangelien auch ihre zeitliche Reihenfolge sei, Matthäus mithin das älteste Evangelium geschrieben habe. Noch innerhalb dieses traditionellen Rahmens vertrat Gottlob Christian Storr 1786 erstmals die Markuspriorität und erläuterte, der Zöllner Matthäus habe als Augenzeuge die „Nachrichten des Marcus“ nicht bloß aus dem Griechischen ins Aramäische übersetzt (so versuchte Storr, die Angaben des Papias einzubeziehen), sondern auch „die älteren Stoffe mit neuen Zugaben bereichern“ können. Er berief sich auf die allgemeine Überlegung, dass bei zwei ähnlichen Schriften, wie Mt und Mk, die kürzere in der Regel auch die ältere sei und im umgekehrten Fall kein plausibler Grund für die Kürzungen des Markus am Matthäusevangelium erkennbar sei. Nun verlangten die Gemeinsamkeiten von Matthäus und Lukas nach einer Erklärung. Die Zweiquellentheorie erlangte in der Fassung von Heinrich Holtzmann breite Anerkennung, der sie in verschiedenen Schriften seit 1863 darlegte. Diese Breitenwirkung verdankt das Modell dem Umstand, dass es von der Leben-Jesu-Theologie genutzt wurde, „die bis weit in das 20. Jh. hinein zur bestimmenden theologischen Richtung des ‚gebildeten‘ Christentums wurde.“ Indessen hätte die Leben-Jesu-Forschung auch mit einer Matthäuspriorität arbeiten können, so Walter Schmithals. Seit etwa 1900 setzte sich die Zweiquellentheorie auch im angelsächsischen und, etwas später, im frankophonen Raum durch, bei römisch-katholischen Exegeten oft mit der Variante, dass die Logienquelle die in der Papias-Notiz erwähnte Schrift des Apostels Matthäus sei.Die Zweiquellentheorie löste sich von der historischen Rückfrage nach dem Leben Jesu und wurde Mitte des 20. Jahrhunderts von der redaktionsgeschichtlichen Schule weiterentwickelt. Ein Zwischenschritt auf diesem Wege war die von Martin Dibelius und Rudolf Bultmann begründete formgeschichtliche Methode, die nach der mündlichen Tradition vor Abfassung des Markusevangeliums und der Logienquelle zurückfragte. Die Formgeschichte interessiert sich allerdings für die „kleinen Einheiten“ und kaum für den gestaltenden Anteil der synoptischen Evangelisten. So waren es eher Außenseiter des wissenschaftlichen Diskurses, die in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts an Kommentaren zum Matthäusevangelium arbeiteten: Ernst Lohmeyer (Das Evangelium des Matthäus, aus dem Nachlass herausgegeben von Werner Schmauch, 2. Auflage 1958) und Walter Grundmann (Das Evangelium nach Matthäus, fertiggestellt erst 1968).Römisch-katholische Exegeten wurden am Anfang des 20. Jahrhunderts in ihrer Forschungsarbeit durch die Päpstliche Bibelkommission erheblich eingeschränkt. Sie veröffentlichte zu strittigen Themen (Dubia) kaum argumentativ begründete Antworten (Responsa), die den Rang von Dekreten päpstlicher Kongregationen hatten. 1911 wurde auf diese Weise über das Matthäusevangelium verbindlich gelehrt: Ob der Apostel Matthäus gewiss der Verfasser des nach ihm benannten Evangeliums sei? Ja. Ob Matthäus sein Werk als erster der Evangelisten und in der Muttersprache der Juden Palästinas verfasst habe? Ja. Ob das Werk nach der Zerstörung Jerusalems veröffentlicht worden sein könnte, so dass die darin enthaltene Prophezeiung ein vaticinium ex eventu sein könnte? Nein. Ob die Meinung moderner Autoren als Möglichkeit zugelassen werden könnte, dass Matthäus nicht direkt das vorliegende Evangelium verfasst habe, sondern eine Sammlung von Worten und Reden Christi anlegte, aus denen ein anonymer Redaktor das Evangelium herstellte? Nein. Da ja der griechische Text des Matthäusevangeliums seit der Zeit der Kirchenväter als kanonisch anerkannt sei, ob es gewiss sei, dass dieser griechische Text in seiner Substanz identisch sei mit dem vom Apostel in seiner Muttersprache verfassten Text? Ja. Da ja die Absicht des Autors vor allem dogmatisch und apologetisch sei und die chronologische Reihenfolge nicht stets eingehalten werde, ob unter dem Einfluss der Formulierungen des Alten Testaments und der sich entwickelnden Lehre der Kirche der Bericht über die Worte und Taten Jesu verändert worden sein könnte und also nicht im historischen Sinn wahr sei? Nein. Ob die Infragestellung der historischen Wahrheit nicht nur der ersten beiden Kapitel (Stammbaum und Kindheit Christi), sondern auch anderer bedeutsamer Texte, die nur im Matthäusevangelium enthalten sind, die nämlich den Primat des Petrus (Mt 16,17–19) betreffen, die Taufformel und den universalen Missionsauftrag der Apostel (Mt 28, 19 f.), das Glaubensbekenntnis der Apostel zur Gottheit Christi (Mt 14,33), und ähnlicher Texte, explizit als unbegründet abgewiesen werden sollte? Ja.1912 wurde außerdem die Hypothese einer Logienquelle und die Zweiquellentheorie verworfen.Bis zum Zweiten Weltkrieg kontrollierte laut Franz Annen „die Bibelkommission die katholische Exegese weiterhin sehr wirkungsvoll und verhinderte jede offene wissenschaftliche Debatte.“ Friedrich Wilhelm Maier vertrat in seinem Kommentar Die drei älteren Evangelien 1912 die Zweiquellentheorie und widersprach dem damaligen Konsens der katholischen Exegese, das Markusevangelium sei abhängig von einem aramäischen Matthäusevangelium. Das insgesamt konservative Werk wurde deshalb auf den Index librorum prohibitorum gesetzt. Maier erhielt keine Lehrerlaubnis (recedat a cathedra) und verzichtete 17 Jahre lang auf jede Publikation, gelangte aber schließlich doch zu einer neutestamentlichen Professur in Breslau, später in München.Mit der Enzyklika Divino afflante spiritu ermutigte Papst Pius XII. die katholischen Exegeten 1943, alle Hilfsmittel zu gebrauchen, um „die Absicht der alten Schriftsteller und ihre Form und Kunst zu denken, zu erzählen und zu schreiben besser kennen zu lernen.“ Das Päpstliche Bibelinstitut, gegründet zur Abwehr der historisch-kritischen Methode, wandelte sich unter Kardinal Augustin Bea „zu einer der profiliertesten Stätten historisch-kritischer Forschung im Raum der katholischen Bibelwissenschaft.“ Das Verdienst, die Zweiquellentheorie in der katholischen Exegese durchgesetzt zu haben, wird Josef Schmid zugeschrieben. Bereits 1930 hatte er über dieses Thema promoviert; in der Reihe Regensburger Neues Testament betreute er mehrere Auflagen von Kommentaren zu den synoptischen Evangelien und wirkte darauf hin, dass Fragestellungen der Literar-, Form- und Traditionskritik von der Zensur zunehmend akzeptiert wurden.Um die Mitte der 1950er Jahre setzte die redaktionsgeschichtliche Arbeit an den Synoptikern ein. Der Sammelband von Günther Bornkamm, Gerhard Barth und Heinz Joachim Held Überlieferung und Auslegung im Matthäusevangelium (1960) enthält einen Aufsatz und eine Interpretation der Sturmstillungs-Perikope aus der Hand Bornkamms; der größte Teil des forschungsgeschichtlich bedeutenden Bandes entfällt auf die Studien seiner Heidelberger Doktoranden Barth (zum Thema Gesetz) und Held (zum Thema Wunder). Die Autoren verstanden Matthäus übereinstimmend als Judenchristen, der „antijudaistisch, aber nicht antisynagogal“ eingestellt sei. Mit Gerhard Barth nahmen viele Exegeten an, dass Matthäus einen Zweifrontenkrieg kämpfe: gegen pharisäischen Legalismus außerhalb und gegen antinomistische Tendenzen innerhalb der eigenen Gemeinde. Reinhart Hummel, ein akademischer Schüler von Eduard Lohse, führte die Linie der judenchristlichen Interpretation weiter (Die Auseinandersetzung zwischen Kirche und Judentum im Matthäusevangelium, 1963). Die Redaktionskritik fragte, auf welche Leserschaft und welche Situation hin Matthäus den Stoff in der für ihn charakteristischen Weise bearbeitet hatte. William D. Davies, The Setting of the Sermon on the Mount (1964), datierte wie viele Exegeten das Matthäusevangelium in die Jahre nach dem Ende des Jüdischen Krieges. Aber er stellte zusätzlich eine Verbindung zur Synode von Jabne her, einer hypothetischen Zusammenkunft rabbinischer Autoritäten, bei der nach damaliger Forschermeinung die Judenchristen aus der Synagoge ausgeschlossen wurden. Das Matthäusevangelium und besonders die Bergpredigt seien „eine christliche Antwort auf Jamnia.“ Davies bot damit mehr als ein interessantes Szenario für die Abfassungssituation an: Durch seinen Beitrag wurde aus dem Sammler und Kompilator der Theologe Matthäus. Indes brachte Georg Strecker bereits bei seiner Rezension dieser Studie 1966/67 kritische Anfragen vor, die Ulrich Luz rückblickend bestätigte: die konstruierten Verbindungen zwischen Matthäus und Jamnia seien schwach, aber „vor allem bedürfte m. E. ‚Jamnia‘ selbst einiger Entmythologisierung: In Wirklichkeit ‚verdichtet‘ D[avies] mit diesem Wort eine mehrere Jahrzehnte dauernde, komplexe Entwicklung im Judentum.“Georg Strecker vertrat die Gegenposition zur Bornkamm-Schule (Der Weg der Gerechtigkeit, 1962): Zwar seien im Buch judenchristliche Traditionen verarbeitet, aber die Endredaktion des Matthäusevangeliums sei in einer heidenchristlichen Gemeinde erfolgt; auch Matthäus (der Endredaktor) sei Heidenchrist. Wolfgang Trilling (Das wahre Israel, 1959) kam zu einer ähnlichen These, die er so formulierte: „Matthäus als der Endredaktor denkt entschieden heidenchristlich-universal.“ Trilling war ein akademischer Schüler von Friedrich Wilhelm Maier. Er las das Matthäusevangelium von seinem Ende (dem Missionsbefehl) her und verstand es als ein eminent kirchliches Buch: die Kirche sei das wahre Israel. Mt 21,43 war der Schlüsseltext für Trillings These, Matthäus lehre, dass „das alte Israel, welches schuldig geworden sei, abgetan ist.“ Forschungsgeschichtlich bedeutend war, dass Trilling mit diesem mehrfach aufgelegten Werk die Redaktionskritik in der nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil aufblühenden katholischen Exegese etablierte. Die Entgegensetzung von Tradition und Redaktion, mit der Strecker und Trilling Matthäus zu einem Heidenchristen machten, wird heute so nicht mehr vertreten.In den 1970er Jahren traten Exegeten mit Monographien zu Matthäus hervor, die später größere Kommentare vorlegten: Alexander Sand, Hubert Frankemölle und Eduard Schweizer. Ulrich Luz, ein akademischer Schüler Schweizers, veröffentlichte Arbeiten zu Jüngerschaft (1971) und Gesetzeserfüllung (1978) bei Matthäus. Unterdessen wirkte der christlich-jüdische Dialog auf die neutestamentliche Exegese ein: „Im Unterschied zu den früheren Auslegungen ist in den großen Kommentaren der achtziger und neunziger Jahre bei U. Luz, J. Gnilka, A. Sand und H. Frankemölle der Bezug auf Israel ständig präsent.“1982 erschien der Matthäuskommentar des evangelikalen Exegeten Robert H. Gundry, eines Unterzeichners der Chicago-Erklärung zur Unfehlbarkeit der Bibel. Gundry nahm an, dass einzelne Erzählungen in diesem Evangelium als Midrasch zu verstehen seien und nicht als historische Berichte. Douglas Moo wollte eine solche Interpretation nicht a priori ausschließen, aber Norman Geisler setzte sich an die Spitze einer Kampagne, die den Rücktritt Gundrys aus der Evangelical Theological Society (ETS) forderte. Beim Jahrestreffen der ETS Ende 1983 stimmten mehr als zwei Drittel der Mitglieder für Geislers Antrag. Dass Gundrys Synthese von Evangelikalismus und moderner Bibelwissenschaft (besonders der Redaktionskritik) von zahlreichen anderen evangelikalen Theologen abgelehnt wurde, fand große Aufmerksamkeit.War zum Beispiel für Ulrich Luz das Matthäusevangelium der Versuch einer judenchristlichen Gemeinde, den kürzlich erfolgten Bruch mit der Synagoge zu verarbeiten und sich danach neu zu orientieren, so gewannen in den 1990er Jahren Stimmen Gewicht, die das Evangelium einer devianten jüdischen Gruppe zuordneten, die um eine Neuausrichtung nach der politischen Katastrophe des Jahres 70 gerungen habe. Anknüpfend an Studien von Andrew Overman und Anthony Saldarini, wird das Matthäusevangelium als ein jüdisches, nicht judenchristliches Buch bezeichnet. Manche Autoren sprechen schon von einem neuen oder entstehenden Konsens (emerging consensus), das Matthäusevangelium als jüdisches Buch zu sehen. Doch wird die Gegenposition mit Nachdruck vertreten. Roland Deines kritisiert, dass bei Saldarini dessen „apologetische[s] Interesse erkenntnisleitende Funktion einnimmt.“ Luz vermittelte zwischen den Positionen, indem er von einem Prozess ausging, der die Matthäusgemeinde aus dem Judentum herausführte. Umstritten sei nur, ob diese Trennung noch im Gange sei (so z. B. Overman, Saldarini) oder ob die matthäische Gemeinde darauf bereits zurückblicke (so z. B. Stanton, Luz). Gerhard Maier sieht Matthäus und seine Gemeinde „noch innerhalb der jüdischen Glaubens- und Rechtsgemeinschaft“, wobei sich aufgrund der von ihm vertretenen Frühdatierung allerdings ein anderer zeitgeschichtlicher Kontext ergibt. John Nolland versteht, ebenfalls in Kombination mit einer Frühdatierung, das Matthäusevangelium als „ein jüdisches Buch einer Gemeinde, die noch ganz ins Judentum hineingehöre.“ == Wirkungsgeschichte == Das Matthäusevangelium hatte sowohl im Judenchristentum als auch in der heidenchristlich dominierten Großkirche eine Vorzugsstellung. === Judenchristentum === In judenchristlichen Gruppen der Spätantike galt das Matthäusevangelium als normatives Evangelium. Nach Ulrich Luz sind folgende judenchristliche Schriften maßgeblich vom Matthäusevangelium beeinflusst: Nazaräerevangelium als erweiterte Paraphrase des Matthäus-Textes; Ebionitenevangelium, es galt zeitweise als Matthäusevangelium und führte matthäische Themen weiter; Pseudo-Klementinen; Offenbarung des Petrus von Nag Hammadi (gnostisch), Didascalia Apostolorum.Hieronymus schrieb im 4. Jahrhundert, ein Manuskript des hebräischen Matthäusevangeliums sei zu seiner Zeit in der Bibliothek von Caesarea Maritima vorhanden gewesen. Eusebius und Origenes hatten zuvor beide in dieser Bibliothek gearbeitet, ohne ein solches Buch, das sie stark interessiert hätte, nutzen zu können. Zweifel sind daher angebracht. Außerdem hat Hieronymus bei der Gruppe der Nazaräer im syrischen Beroia deren Evangelium einsehen und nutzen können, das dort als das hebräische (vielleicht eher aramäische) Originalmanuskript des Matthäusevangeliums galt. Die Nazaräer waren allerdings eine Gruppe, die im 4. Jahrhundert neu auftauchte. Nur wenige erhaltene Zitate zeigen die Eigenart dieses Werks. Im folgenden Zusammenhang geht es um eine Heilung eines Mannes mit einer gelähmten Hand am Sabbat: Das Urteil der Exegese zu dieser Textfassung ist eindeutig: eine späte narrative Entfaltung des ursprünglich knapperen Textes. Dieter Lührmann schließt aus den Fragmenten des Nazaräerevangeliums, dieses mache „eher den Eindruck einer Rezension des Matthäusevangelium[s] als den eines selbständig erzählten Werks.“ === Großkirche === Ab Mitte des 2. Jahrhunderts wurde das Matthäusevangelium in der Großkirche zum wichtigsten der vier Evangelien. Das Matthäusevangelium diente als „Lehr- und Lesebuch“, das dabei half, den Alltag zu bestehen mit Blick auf das für die nahe Zukunft erwartete Weltende. Die Erstplatzierung im Neuen Testament stellte insbesondere das Markusevangelium in den Schatten, aber auch, mit Ausnahme einiger bekannter Texte, das Lukasevangelium. „Matthäus wurde von der Zeit der Kirchenväter an gleichsam Stimmführer des synoptischen Trios.“ Erzählungen, die auch von Markus und Lukas überliefert wurden, erlangten meist in der Fassung des Matthäusevangeliums die größte Bekanntheit; das wirkt in der Rezeptionsgeschichte bis heute nach. ==== Einzelmotive ==== Allerdings wirkte das Matthäusevangelium nicht durch seine Gesamtkonzeption oder bestimmte Grundgedanken, sondern einzelne Texte – Perikopen, Verse, Formulierungen – entfalteten ihre je eigene Wirkungsgeschichte.Ein Beispiel ist der Glaube an individuelle Schutzengel, der in Mt 18,10 (Sondergut Matthäus) seinen biblischen Bezugspunkt hat. Die Schutzengel-Vorstellung hat wegen ihrer Verwurzelung in Frömmigkeit und Liturgie und wegen ihres mit Mt 18,10 gegebenen biblischen Anhalts in der römisch-katholischen Kirche „den Charakter einer durch das ordentl[iche] Lehramt vorgelegten Wahrheit“, so Leo Scheffczyk. Im 19. Jahrhundert förderte eine bürgerlich beeinflusste Pädagogik Schutzengelfiguren als kindgerechte Trostspender, himmlische Gabenbringer und Beobachter des moralisch richtigen Verhaltens. Im Ersten Weltkrieg wurden Schutzengel gern ins Bild gesetzt als Beistand der Frontsoldaten, der Verwundeten und Sterbenden. Die heutige katholische Religionspädagogik würdigt Schutzengel als kindgemäßen Ausdruck des Gedankens „Gott-mit-uns“, insbesondere in Lebenskrisen.Ein weiteres bekanntes Motiv aus dem matthäischen Sondergut sind die Sterndeuter aus dem Orient (Mt 2,1–12 ), interpretiert als Heilige Drei Könige. Mit der Übertragung ihrer Reliquien von Mailand nach Köln im Jahr 1164 nahm die Verehrung dieser Heiligen einen Aufschwung. Aus dem Mysterienspiel entwickelte sich vermutlich das Sternsingerbrauchtum. Es ist schon aus dem Mittelalter als Heischebrauch mit mitgeführtem Stern bekannt und hielt sich trotz obrigkeitlicher Verbote in verschiedenen Varianten besonders im Alpenraum. Das Kindermissionswerk „Die Sternsinger“ griff diese Tradition 1958 auf und gab ihr, ab 1961 zusammen mit dem BDKJ, als „Aktion Dreikönigssingen“ eine katechetische, missionarische und entwicklungspolitische Neuausrichtung. In Österreich wurde die Sternsinger-Tradition schon 1955 neu belebt und wird dort von der Katholischen Jungschar Österreich organisiert. ==== Kirchenjahr ==== Das Messlektionar erhielt in der Karolingerzeit seine feste Gestalt. Sowohl die Wittenberger Reformation als auch die tridentinische Ordnung der Messperikopen führten diese Tradition weiter, die dem Matthäusevangelium ein deutliches Übergewicht gibt: Von 50 Evangelienperikopen für die Sonn- und Feiertage, die den Synoptikern entnommen sind, entfallen 24 auf Matthäus. Zum Beispiel wurde die Perikope vom Einzug Jesu in Jerusalem seit dem 7. Jahrhundert zur Lesung an einem, schließlich am 1. Sonntag im Advent. Dies prägte die Adventsfrömmigkeit im evangelischen Raum, mit der Betonung des „sanftmütigen“ Königs Mt 21,5 , was sich auch in der Kirchenmusik spiegelt.Die aktuelle Leseordnung der katholischen Kirche wurde nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil neu geschaffen. Sie hat die traditionelle Perikopenordnung aufgegeben und folgt stattdessen stärker dem Prinzip der Bahnlesung. Sie ordnet den drei synoptischen Evangelien je ein Lesejahr zu. Im Lesejahr A werden Texte aus dem Matthäusevangelium im Sonntagsgottesdienst gelesen; es kann daher als „Matthäusjahr“ bezeichnet werden. In der Perikopenordnung 2018 der evangelischen Kirchen in Deutschland sind 24 der 78 ausdrücklich als Evangelienlesungen ausgewiesenen Texte dem Matthäusevangelium entnommen. Die Lesung des Matthäusevangeliums im orthodoxen Gottesdienst fasst Konstantinos Nikolakopoulos so zusammen: „Im liturgischen Kreis des orthodoxen Kirchenjahres und im Rahmen der ‚lectio continua‘ aller Sonntage stammt fast die Hälfte der vorgesehenen Perikopen aus dem Mt.-Ev. Im Kreis der beweglichen und unbeweglichen Feste herrscht der matthäische Text ungefähr von Juni bis September jedes Jahres.“ ==== Bergpredigt ==== Ulrich Luz zufolge waren es in der Kirchengeschichte immer wieder kleine, marginalisierte Gruppen, die die Bergpredigt wörtlich, bzw. „perfektionistisch“ verstanden: zunächst die Kirche in der vorkonstantinischen Zeit selbst, dann, nachdem sie zur Reichskirche geworden war, das frühe Mönchtum und Autoren, die ihm nahestanden, wie Johannes Chrysostomos. Im Mittelalter vertraten Waldenser, Franziskaner und Katharer ein wörtliches Verständnis der Bergpredigt. In der Reformationszeit war es die Täuferbewegung, später das Quäkertum und der frühe Methodismus. „Für sie alle war das Gebot Gottes ein grundlegendes und unverrückbares Moment ihrer Frömmigkeit und ihres Lebens. Es ist erstaunlich, in welchem Maße man in solchen Gruppen auf Analogien zum matthäischen Entwurf stößt.“ Die mittelalterliche Auslegung der Bergpredigt wird oft pauschal als Zwei-Stufen-Ethik verstanden, so erläutert Martin Honecker: Praecepta sind Gebote, die für alle Christen verbindlich sind (Naturrecht, Zehn Gebote). Consilia sind die Gebote der Bergpredigt, die nur von den Vollkommenen erfüllt werden können, insbesondere die drei evangelischen Räte Armut, Keuschheit und Gehorsam. Als Christus diese Gebote lehren wollte, „stieg er auf den Berg hinauf und sprach nicht die unvollkommene Menge, sondern seine Jünger an, die er zum Gipfel der Vollkommenheit zu erheben beschlossen hatte.“ (Bonaventura)Die Zwei-Stufen-Ethik diente dazu, radikale Auslegungen der Bergpredigt, etwa in den Bettelorden, in die kirchliche Ethik zu integrieren, war also, nach Luz, ein Zugeständnis an diese Kreise. Die mittelalterliche Kirche habe im großen Ganzen den Auslegungstyp der Alten Kirche bewahrt und damit „gleichsam ein Stück Salz der Minderheitskirche in der Volkskirche.“ Thomas von Aquin betonte, dass die Bergpredigt grundsätzlich für jeden Christen gelte und nur peripher in den drei evangelischen Räten an besondere Gruppen gerichtet sei. Martin Luther und Johannes Calvin waren durch die Bergpredigtauslegung der Täufer herausgefordert, denn hier stand auch der eigene Anspruch einer Orientierung an der Bibel (Sola scriptura) auf dem Spiel. „In Protokollen von Verhören und Disputationen mit meist ganz einfachen, theologisch ungebildeten Täufern entdeckt man immer wieder Grundmomente matthäischer Theologie: den Vorrang der Praxis vor der Lehre, den Willen zum Gehorsam, das Ernstnehmen des Einzelgebots, das nicht einfach im Liebesgebot aufgeht, den Willen zur Gestaltung bruderschaftlicher Gemeinschaft.“ Die Reformatoren betonten dagegen, die Bergpredigt sei eigentlich unerfüllbar (die bisherige Exegese hatte das nicht so gesehen). Der für Matthäus wichtige Aspekt der Gemeinde trat bei Luther ganz zurück, der die Bergpredigt in seiner Auslegung immer an den einzelnen Christen gerichtet sein ließ. Dieser Christ hatte nun zu bedenken, wo er für seine eigene Person handelte und wo auch die Interessen des Nächsten durch sein Handeln mit auf dem Spiel standen (Handeln in relatione, z. B. als Eltern oder Amtsträger). Wenn die Konsequenzen des Handelns nur die eigene Person betrafen, galt die Bergpredigt; nur kommt diese Situation im Alltag selten vor. Die Zwei-Reiche-Lehre war nach Luz ein Domestizierungsversuch der Bergpredigt. Daraus folgte für die altlutherische Orthodoxie: „Die Bergpredigt ist kein Weltgestaltungsprogramm, sondern Anleitung zur Gewissenserforschung (lex accusans) …, ein Sündenspiegel, der dem Menschen die totale Verderbnis vorhält.“ Aufklärung und Liberalismus sahen Jesus Christus vor allem als Verkünder einer neuen Ethik, in diesem Zusammenhang konnte das Christentum geradezu als „Religion der Bergpredigt“ interpretiert werden. Für die Rezeption der Bergpredigt im Kulturprotestantismus ist Friedrich Naumann paradigmatisch: Als junger Pfarrer hatte er die Bergpredigt für ein Programm der Sozialreform beansprucht. 1898 unternahm er eine Palästinareise. Die Straßen waren in schlechtem Zustand, und er malte sich aus, dass das zu biblischen Zeiten wohl auch so gewesen war. „Jesus ging und ritt auf solchen Wegen, ohne etwas für ihre Besserung zu tun! … Das ganze Land hängt von seinen Wegen ab. Wer sozial denken gelernt hat, muß diese Wege als Gegenstand christlichen Handelns ansehen.“ Daraus folgte für Naumann: „Grundlegende Staatsfragen“ können nicht mit der Bergpredigt angegangen werden.Die liberale Theologie hatte es sich zur Aufgabe gemacht, die ethische Lehre des Nazareners, die dieser „als reines Feuer auf den Altar gebracht“ habe (so Holtzmann 1897), von zeitbedingten Ausdrucksformen wie Messianismus und Eschatologie abzulösen. Albert Schweitzer provozierte die Fachkollegen 1901 durch die Behauptung, dass Jesus von Nazareth die apokalyptischen Erwartungen seiner Zeitgenossen teilte und nur in diesem Horizont verstanden werden könne. Schweitzer stellte in der Bergpredigt eine „Interimsethik“ fest, die er so nicht für sein eigenes Handeln zum Maßstab machte. Er meinte, die Bergpredigt propagiere einen ethischen Heroismus vor dem Hintergrund des nahen Weltendes, sie sei erfüllt vom „Brandgeruch der kosmischen Katastrophe.“ Sowie diese apokalyptische Naherwartung schwinde, sei auch der ethische Heroismus nicht mehr durchzuhalten. Anders Rudolf Bultmann, der eine existentiale Deutung der Bergpredigt vorlegte: sie sei ein Entscheidungsruf, die den einzelnen Christen in das „Jetzt“ weise, wo er dem Nächsten begegne und vor Gott verantwortlich sei. „Nicht was der Christ zu tun hat, sondern daß er sich entscheiden muß, ist ihre Botschaft.“Lew Nikolajewitsch Tolstoi wagte es, die Bergpredigt als „anarcho-pazifistisches“ Programm mit Gegenwartsbezug zu lesen. Allerdings ging er mit den Evangelien insgesamt und auch mit dem Text der Bergpredigt in künstlerischer Freiheit um. Tolstoi stellte das Gebot des Nicht-Widerstehens in den Mittelpunkt, und indem er es auf die staatliche Rechtsprechung bezog, brachte er eigene negative Erfahrungen mit der russischen Justiz ein, die er z. B. als Friedensrichter gemacht hatte. Tolstoi meinte, durch Nicht-Widerstehen werde sich das Böse letztlich totlaufen. Er bezog diesen Grundsatz nicht nur auf das Privatleben, bzw. auf die Gruppe, die auf seinem Landgut in Gleichheit und Gütergemeinschaft wohnte, sondern hatte die gesamte Menschheit und den Weltfrieden im Blick. Dabei lehnte er staatliche Strukturen ebenso ab wie die hierarchisch organisierte Russisch-Orthodoxe Kirche, die ihn 1901 exkommunizierte. Seine sozialethischen Schriften waren in Russland verboten; trotzdem beeinflusste er die pazifistischen religiösen Gemeinschaften der Duchoborzen und Molokanen.Als Mahatma Gandhi sich für das Neue Testament interessierte, wurde sein Textverständnis stark durch die Lektüre Tolstois geformt, mit dem er auch persönlich Kontakt aufnahm. Von Tolstoi übernahm Gandhi drei Grundgedanken: 1. Selbstkontrolle, 2. Gewaltlosigkeit, 3. Brot-Arbeit; Punkt 2 entstammt Tolstois Bergpredigt-Auslegung.Dietrich Bonhoeffer polemisierte 1937 in seiner Programmschrift Nachfolge gegen das zeitgenössische Luthertum, dem er eine „billige Gnade“ und „verschleuderte Vergebung“ vorwarf. Sein Gegenentwurf war wesentlich eine Auslegung der Bergpredigt und der matthäischen Aussendungsrede. Ebenso wie Vertreter der Dialektischen Theologie (Eduard Thurneysen, Karl Barth), verstand Bonhoeffer die Bergpredigt christologisch. Sie mache nicht aus sich heraus Sinn als moralische oder mystische Lehre, sondern im Blick auf den, der sie spricht. Sie sei ein Ruf in die Nachfolge. Barth präzisierte 1942 in der Kirchlichen Dogmatik: Die Bergpredigt gebe keine Anweisungen, wie sich ein Christ in einzelnen Situationen des Alltags zu verhalten habe, sondern sie setze einen „Rahmen.“Autoren der Friedensbewegung lasen die Bergpredigt im 20. Jahrhundert als Beitrag zur politischen Ethik. Martin Honecker sieht im biblischen Text zwar keine Handlungsanweisung, aber eine Beunruhigung des politischen Betriebs: „Sie enthält zwar nicht das Programm einer von allen Menschen gemeinsam zu verantwortenden rationalen Politik des Friedens. Dennoch stellen die Antithesen mit der Infragestellung der Ordnung dieser Welt […] eine Provokation, einen Protest gegen deren faktische Verfaßtheit und Ordnung dar.“ ==== Päpstlicher Primat ==== Kirchenpolitisch wirksam wurde das Matthäusevangelium vor allem durch das „Felsenwort“ Mt 16,18 .Einen Führungsanspruch erhob die Ortskirche von Rom schon sehr früh. Aber erst im 3. Jahrhundert berief sie sich auf Mt 16,18 zur Begründung dieses Anspruchs. Im 5. Jahrhundert entfaltete Leo der Große dann den Gedanken, dass der lebendige Petrus (Petrus vivus) in seinen Amtsnachfolgern gegenwärtig sei. Im Decretum Gelasianum dient Mt 16,18 als Begründung dafür, dass der Primat nicht menschlichen, sondern göttlichen Ursprungs sei.Dagegen stellt Luz einen weitgehenden und konfessionsübergreifenden exegetischen Konsens fest, dass „vom Petrus der Bibel zum Papst in der Ewigen Stadt nur ein qualitativer Sprung führt“; Nachfolger des Petrus habe Matthäus nicht vorgesehen, da Petrus für ihn gerade in seiner Einmaligkeit wichtig sei. Als römisch-katholischer Dogmatiker formuliert Wolfgang Beinert: „Der P[rimat] kann im strengen Sinn historisch-kritisch kaum begründet werden, da da eine hist[orische] Nachf[olge]-Kontinuität zw[ischen] dem bibl[ischen] Petrus u[nd] dem röm[ischen] B[ischo]f nicht nachweisbar ist. Wohl aber läßt er sich in ein Kirchenverständnis integrieren, das aus der Dynamik der Entwicklung auf strukturelle Identität zw[ischen] dem Petrusamt und der Wesensgestalt seiner Verwirklichung im hist[orischen] Papsttum schließt.“ ==== Weltgericht ==== Für die Perikope vom Weltgericht (Mt 25,31–46 ) existieren drei Deutungstypen. Das klassische, bis um 1800 vorherrschende Interpretationsmodell ging davon aus, dass alle Menschen nach den Werken der Barmherzigkeit beurteilt würden, die sie getan oder unterlassen hatten. Seit 1800 wurde die Formulierung altgriechisch πάντα τὰ ἔθνη pánta tà éthnē auf „alle Heiden“, bzw. alle Nichtchristen gedeutet. Sie, nicht die Christen, würden nach ihren Taten beurteilt, was dann auch so gewendet werden konnte, dass die Nichtchristen durch gute Werke eine Chance auf das ewige Heil erhielten. Ein dritter, ebenfalls erst im 19. Jahrhundert auftretender Interpretationstyp ist heute vorherrschend: Die Brüder und Schwestern von Jesus seien alle notleidenden Menschen, unabhängig von ihrer Religion oder Nationalität.Eine besondere Pointe dieser Bildrede ist, dass die Menschen bei der Hilfeleistung nicht ahnen, dass sie in ihren notleidenden Mitmenschen Jesus begegnen. Immanuel Kant sah darin eine „Wohltätigkeit an Dürftigen aus bloßen Bewegungsgründen der Pflicht“; die himmlische Belohnung sei nicht Triebfeder des ethischen Handelns, sondern nur „seelenerhebende Vorstellung“. Die liberale Theologie rezipierte diese Argumentation Kants. Die Perikope vom Weltgericht spielt in der Befreiungstheologie eine wichtige Rolle, und zwar nicht nur für die Ethik, sondern vor allem für die Christologie und die Ekklesiologie. Gustavo Gutiérrez bezeichnet die Perikope als Haupttext der christlichen Spiritualität, der eine zentrale Stellung in den Theologien von lateinamerikanischen und karibischen Autoren habe, und zitiert Óscar Romero: „Es gibt ein Kriterium, das uns wissen läßt, ob Gott uns nahe oder fern ist: Wer immer sich um den Hungernden, Nackten, Armen, Verschwundenen, Gefolterten, Gefangenen, Leidenden kümmert, der ist Gott nahe.“ Für Gutiérrez tritt Christus, indem er sich mit dem Armen identifiziert, in die menschliche Geschichte ein; damit sei die Geschichte aufgewertet als Bewegung auf ein Ziel hin, eine geschwisterliche Gesellschaft. Die Anwesenheit von Christus im Armen interpretiert Gutiérrez als „Gott-mit-uns“ (Immanuel) und Grundmotiv des Matthäusevangeliums. Sie findet sich auch in Dokumenten des lateinamerikanischen Bischofsrates der Generalkonferenzen von Puebla (1979) und von Santo Domingo (1992).Anhand der Perikope vom Weltgericht wird auch das Versagen der christlichen Kirchen angesichts des Antisemitismus thematisiert: die „geringsten Brüder und Schwestern“ des Nazareners sind Jüdinnen und Juden. ==== Christlicher Antijudaismus ==== Als dunkle Seite gehört die Abwertung des Judentums in die Wirkungsgeschichte des Matthäusevangeliums. Insbesondere seine negativen Pauschalurteile über Schriftgelehrte und Pharisäer und seine Darstellung der Passionsgeschichte ließen sich für einen christlichen Antijudaismus benutzen.Ein Beispiel dafür, wie das Matthäusevangelium jüdische Glaubenspraxis ironisch-karikierend darstellt, ist Mt 6,2 : „Wenn du Almosen gibst, posaune es nicht vor dir her, wie es die Heuchler in den Synagogen und auf den Gassen tun, um von den Leuten gelobt zu werden! Amen, ich sage euch: Sie haben ihren Lohn bereits erhalten.“ Matthäus gebrauchte, so Ulrich Luz, mit dem „Posaunen“ eine gängige Metapher. Aber in der christlichen Exegese sei dieser Satz wortwörtlich aufgefasst worden und habe sich zu der Vorstellung verfestigt, in der Synagoge sei beim Eingang von größeren Geldspenden die Posaune geblasen worden, um die Armen anzulocken. Ohne einen Beleg in der rabbinischen Literatur hielt sich diese Legende ein Jahrtausend lang und findet sich beispielsweise bei Thomas von Aquin, Nikolaus von Lyra, Johannes Calvin und Johann Albrecht Bengel.Bei Mt 27,25 , der wohl folgenreichsten antijüdischen Aussage im Neuen Testament überhaupt, ist ein Unterschied der Intention des Matthäus und der Rezeption im Lauf der Kirchengeschichte zu konstatieren. Denn Matthäus rechnete mit dem nahen Weltende. Die zurückliegende Zerstörung Jerusalems im Jahr 70 sei für den Evangelisten die Konsequenz des Blutrufs, und er sei damit, laut Luz, auch abgegolten und wirke sich nicht auf eine Verurteilung Israels im Endgericht aus. „Matthäus rechnet nicht mit einem über Jahrhunderte fortbestehenden geschichtlichen ‚Fluch‘“ – weil überhaupt nur noch wenig Zeit bis zum Ende bleibe; in dieser Frist sei aber für Israel auch nichts Positives mehr zu erwarten. Für die Wirkungsgeschichte war aber das jahrhundertelange Fortwirken des Fluchs konstitutiv, wie z. B. ein Klassiker pietistischer Bibelauslegung aus dem 18. Jahrhundert erläutert: Das Zweite Vatikanische Konzil distanzierte sich in der Erklärung Nostra aetate 1965 von dieser Geschichtskonzeption: „Obgleich die jüdischen Obrigkeiten mit ihren Anhängern auf den Tod Christi gedrungen haben, kann man dennoch die Ereignisse seines Leidens weder allen damals lebenden Juden ohne Unterschied noch den heutigen Juden zur Last legen.“ Unter den Stellungnahmen aus protestantischen Kirchen, die sich mit dem Blutruf befassten, ist der Bericht der Konsultation der Studienabteilung des Lutherischen Weltbundes Die Bedeutung des Judentums für Leben und Mission der Kirche (1982) zu nennen: „Wir müssen vermeiden, der gottlosen Meinung Glauben zu schenken, das jüdische Volk sei verstoßen, verflucht und für ein Schicksal voller Leiden bestimmt.“Eine praktische Konsequenz aus Nostra Aetate war, dass Julius Döpfner, Erzbischof von München und Freising, 1970 dem Passionsspiel von Oberammergau die missio canonica verweigerte, weil der Passionsausschuss an dem Blutruf festhielt, der dramatischer Höhepunkt des von Pfarrer Joseph Alois Daisenberger 1860 verfassten traditionellen Spieltextes war. Die Passage wurde für die Aufführung 1980 umgeschrieben, aber erst bei der Jubiläumsaufführung 1984 ganz entfernt. Seit 2000 liegt dem Passionsspiel ein neuer Text zugrunde, der Jesus als jüdischen Rabbi darstellt, das letzte Abendmahl als Pessachfeier. Bei der Verurteilungsszene wird die Menge in ein „Volk A, B, C, D“ geteilt, wobei die letztgenannte Gruppe sich um Nikodemus schart und versucht, die Verurteilung zu verhindern. == Literatur == === Textausgabe === Institut für Neutestamentliche Textforschung Münster (Hrsg.): Novum Testamentum Graece (Nestle-Aland). 28., revidierte Ausgabe, Deutsche Bibelgesellschaft, Stuttgart 2012. ISBN 978-3-438-05160-8. === Hilfsmittel === Walter Bauer, Kurt Aland: Griechisch-deutsches Wörterbuch zu den Schriften des Neuen Testaments und der frühchristlichen Literatur. Walter de Gruyter, 6., völlig neu bearbeitete Auflage, Berlin u. a. 1988. ISBN 978-3-11-010647-3. Kurt Aland (Hrsg.): Synopsis quattuor evangeliorum. Locis parallelis evangeliorum apocryphorum et patrum adhibitis. Deutsche Bibelgesellschaft, 15. Auflage Stuttgart 1996, ISBN 978-3-438-05130-1. === Überblicksdarstellungen === Martin Ebner: Das Matthäusevangelium. In: Martin Ebner, Stefan Schreiber (Hrsg.): Einleitung in das Neue Testament. Kohlhammer, Stuttgart 2008, S. 125–153. Ulrich Luz: Matthäusevangelium. In: Religion in Geschichte und Gegenwart (RGG). 4. Auflage. Band 5, Mohr-Siebeck, Tübingen 2002, Sp. 916–920. Serge Ruzer: Art. Matthäus-Evangelium. In: Reallexikon für Antike und Christentum, Band 24, Hiersemann, Stuttgart 2012, Sp. 410–433. Alexander Sand: Matthäusevangelium. In: Walter Kasper (Hrsg.): Lexikon für Theologie und Kirche. 3. Auflage. Band 6. Herder, Freiburg im Breisgau 1997, Sp. 1479–1482. Udo Schnelle: Einleitung in das Neue Testament. UTB 1830. Vandenhoeck & Ruprecht, 8., neubearbeitete Auflage Göttingen 2013, ISBN 978-3-8252-1830-0, S. 287–309. === Kommentare === Dale C. Allison, Jr., William David Davies: A Critical and Exegetical Commentary on the Gospel According to Saint Matthew. 3 Teilbände. International Critical Commentary. T. & T. Clark, Edinburgh 1988–1997 (neben Luz der herausragende Matthäuskommentar). Band 1: Introduction and Commentary on Matthew I – VII. 1988, ISBN 978-0-567-09481-0. Band 2: Commentary on Matthew VIII–XVIII. 1991. ISBN 978-0-567-08365-4. Band 3: Commentary on Matthew XIX–XXVIII. 1997. 2. Aufl. 2001, ISBN 0-567-08518-X. Margaret Davies: Matthew (= Readings: A New Biblical Commentary). Sheffield Phoenix Press, Sheffield 1993 (Reprint 2009), ISBN 978-1-906055-04-2 (narrative Exegese). Peter Fiedler: Das Matthäusevangelium (= Theologischer Kommentar zum Neuen Testament. Band 1). Kohlhammer, Stuttgart 2006, ISBN 3-17-018792-9. Hubert Frankemölle: Matthäus. Kommentar. 2 Bände. Patmos, Düsseldorf 1994. 1997 (rezeptionsästhetisch orientiert). Band 1: ISBN 3-491-77948-0. Band 2: ISBN 3-491-77026-2. 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https://de.wikipedia.org/wiki/Evangelium_nach_Matth%C3%A4us
Roger Federer
= Roger Federer = Roger Federer [ˈrɔdʒər ˈfɛdərər] (* 8. August 1981 in Basel; heimatberechtigt in Berneck) ist ein ehemaliger Schweizer Tennisspieler. Er stand insgesamt 310 Wochen an der Spitze der Weltrangliste, davon die Rekordzahl von 237 Wochen in Serie. Auch stand er als bisher ältester Spieler an deren Spitze. Die Jahre 2004 bis 2007 und 2009 beendete Federer zudem als Weltranglistenerster. Er liegt in der Statistik der gewonnenen Grand-Slam-Titel im Einzel bei den Herren mit 20 gewonnenen Titeln auf dem dritten Platz, hinter Novak Đoković (23) und Rafael Nadal (22). Federer gewann in seiner 25 Jahre langen Karriere 103 Einzel- und acht Doppeltitel. Federer ist der erste Spieler, der dreimal drei Grand-Slam-Titel in einer Saison gewann (2004, 2006 und 2007). Er ist einer von acht Spielern, die im Laufe ihrer Karriere alle vier Grand-Slam-Turniere mindestens einmal gewonnen haben. Mit acht Einzeltiteln ist er der Rekordsieger der Wimbledon Championships. Er gewann sechsmal die Australian Open und fünfmal die US Open sowie einmal die French Open. Mit sechs Siegen ist er gemeinsam mit Đoković Rekordhalter bei den ATP Finals, gewann 28 Masters-Turniere und ist mit 24 Titeln Rekordsieger der ATP-Tour-500-Serie. Federer wurde fünfmal (von 2005 bis 2008 sowie 2018) zum Weltsportler des Jahres gewählt und damit so häufig wie kein anderer Sportler. == Persönliches == Roger Federer, der Sohn eines Schweizers (Robert Federer) und einer Südafrikanerin (Lynette), wuchs zusammen mit seiner zwei Jahre älteren Schwester Diana in den Basler Vororten Riehen und Wasserhaus in Münchenstein auf. Mit der Herkunft seiner Mutter hängt laut Federer auch die englische Aussprache seines Vornamens zusammen, die damit nicht der in der Schweiz sonst üblichen französischen Aussprachsvariante [rɔˈʒeː] entspricht. Federer spricht neben Deutsch auch fliessend Englisch und Französisch und kann deshalb in Pressekonferenzen oder Interviews problemlos zwischen diesen Sprachen wechseln. Er besitzt neben dem Schweizer auch den südafrikanischen Pass.Seine Ehefrau Mirka Federer-Vavrinec, eine ehemalige Schweizer Tennisspielerin, musste ihre Karriere 2002 wegen einer Fussverletzung beenden. Die beiden lernten sich am Rande der Olympischen Spiele 2000 in Sydney kennen. Am 11. April 2009 heirateten sie in Riehen bei Basel im engsten Familien- und Freundeskreis, am 23. Juli 2009 wurden sie Eltern von Zwillingstöchtern. Am 6. Mai 2014 wurden die Zwillingssöhne der beiden geboren. Vavrinec wird in mentaler Hinsicht beachtlicher Einfluss auf Federer zugeschrieben.Roger Federer liess sich aus medizinischen Gründen militärdienstuntauglich erklären, weil er Rückenbeschwerden hatte. Dies führte zu Diskussionen in der Schweizer Öffentlichkeit, da seit Jahren immer mehr Männer eines Jahrgangs für untauglich erklärt wurden. (2006 waren in der Schweiz gerade noch 65 % diensttauglich.)Im Dezember 2003 gründete der Tennisprofi die Stiftung Roger Federer Foundation, die Hilfsprojekte für Kinder finanziell unterstützt, hauptsächlich im südlichen Afrika und der Schweiz. Zweck der Stiftung ist die Förderung von Bildungsprojekten und des Jugendsports, insbesondere für Kinder aus finanziell benachteiligten Verhältnissen. Seit der Gründung wurden rund 68 Millionen Franken investiert, wodurch über 2 Millionen Kinder erreicht werden konnten.Federer war zudem nach dem Erdbeben im Indischen Ozean 2004 in Tsunami-Hilfsprojekte involviert und spielte einige Benefiz-Turniere zur Unterstützung von Betroffenen. Im April 2006 wurde Roger Federer als erster Schweizer zum internationalen UNICEF-Botschafter ernannt. Wegen dieses ehrenamtlichen Engagements wurde er 2006 von dem Verein Kinderlachen mit dem Kind-Award ausgezeichnet.Federer lebt seit 2015 in Valbella, wohin er von Bäch gezogen ist. Einen weiteren Wohnsitz hat er in Dubai. == Tenniskarriere == === Kindheit und Jugend (1984–1998) === Im Unterschied zu anderen Grössen der Tennisgeschichte machte Roger Federer in jungen Jahren keine internationalen Schlagzeilen. Seine Eltern waren nicht die typischen Tenniseltern, er hat sich diesen Weg selbst ausgewählt. Wie auch in seiner späteren Profikarriere zeichnete er sich eher durch eine kontinuierliche Weiterentwicklung aus. Spektakuläre Erfolge stellten sich erst in der späten Jugend ein. So gab es keine grossangelegten Reportagen wie bei Tennistalenten wie Andre Agassi, Martina Hingis oder Steffi Graf. Der Schweizer begann im Alter von drei Jahren mit dem Tennisspielen und trat mit acht Jahren dem Tennisclub TC Old Boys bei. Dort wurde seine Entwicklung durch die Trainer Adolf Kacovský und Peter Carter massgeblich vorangetrieben.Nach ersten nationalen Erfolgen entschied Federer mit zwölf Jahren, sich ganz auf den Tennissport zu konzentrieren und sein ebenfalls ausgeprägtes Talent im Fussball – er war Junior beim FC Concordia Basel – nicht weiter zu fördern. 1995 wechselte er ins nationale Trainingscenter der Schweiz in Ecublens. Von nun an förderte der Schweizer Verband Federer, der in den Jahren 1995 bis 1997 sieben Schweizer Juniorenmeistertitel gewann. 1995 erreichte er in Miami beim Orange Bowl, dem letzten grossen internationalen Juniorenturnier des Jahres, zwar nur das Achtelfinale. Dennoch betrachtete er sein Abschneiden als bis dahin grössten internationalen Erfolg. Ab 1997 nahm Federer vermehrt an internationalen Turnieren teil und gewann im Mai in Prato seinen ersten grösseren internationalen Juniorentitel. In dieser Zeit fiel auch die Entscheidung, im Alter von 16 Jahren die Schule zugunsten der Tenniskarriere zu verlassen. Das Risiko ging Federer ein und schon 1998 folgte der Durchbruch auf der Juniorentour; im Januar erreichte er das Halbfinale der Australian Open und in Wimbledon folgten Titelgewinne im Einzel und im Doppel. Diese Erfolge ermöglichten ihm erste Turnierteilnahmen auf der Profitour. Sein Debüt auf der ATP Tour gab er im Juli 1998 in Gstaad; im September erreichte er in Toulouse bereits sein erstes Viertelfinale bei den Profis. Mit dem Gewinn des Orange Bowl im Dezember, seinem letzten Juniorenturnier, sicherte sich Federer zum Jahresende Platz 1 der Juniorenrangliste. Dies war für ihn nicht nur ein grosser Prestigeerfolg, sondern auch das Sprungbrett für den endgültigen Einstieg in die Profitour. === Beginn der Profikarriere (1999–2000) === Das Renommee als Junioren-Weltmeister half dem mittlerweile 17-Jährigen, auf der Profitour Fuss zu fassen. Er erhielt im Laufe seiner ersten Profisaison insgesamt acht Wildcards für Turniere der ATP Tour. Dadurch konnte er sein Ziel, am Ende der Saison unter den 200 besten Spielern der Welt geführt zu werden, bereits im Frühjahr übertreffen. Bei seinem Davis-Cup-Debüt gelang Federer ein Sieg im Einzel, womit er Anteil am Weiterkommen seines Landes ins Viertelfinale des Wettbewerbs hatte. Im Sommer nahm er in Roland Garros und Wimbledon erstmals bei den Profis teil, wobei er jeweils in der ersten Runde ausschied. Später im Jahr spielte er seine Stärke bei Hallenturnieren aus. Er erreichte in Wien sein erstes Halbfinale auf der ATP Tour und schaffte damit den Sprung unter die besten 100 Spieler der Weltrangliste; die Saison beendete er auf Platz 64. Für die Saison 2000 setzte sich Federer zum Ziel, sich unter den besten 50 Spielern der Welt zu etablieren. Weiterhin zeigte er sich als Hallenspezialist, auch wenn ihm erstmals Erfolge bei Freiluftturnieren gelangen. In Marseille erreichte er zu Beginn des Jahres sein erstes Finale auf der Profitour, das er gegen seinen älteren Landsmann Marc Rosset verlor. Nachdem der Sprung unter die Top 50 der Welt damit bereits vollzogen war, wurden das Saisonziel auf Platz 25 nach oben korrigiert. Im April erklärte Federer die Trennung vom Schweizer Verband und damit auch von seinem Coach Peter Carter. Er begründete den Schritt damit, dass er mittlerweile in der Lage sei, auf eigenen Füssen zu stehen, und sich deshalb für diesen Weg entschieden habe. Als neuen Trainer verpflichtete er den Schweden Peter Lundgren, der das Talent erkannte, aber noch Entwicklungspotenzial bei seinem 18-jährigen Schützling sah.Im Sommer kassierte Federer einige Erstrundenniederlagen und seine Bilanz bei wichtigen Turnieren blieb bescheiden. Dennoch nominierte ihn sein Verband für die Olympischen Spiele in Sydney, wo er das Halbfinale erreichte. In beiden Partien um eine Medaille musste er allerdings eine Niederlage hinnehmen. Bei seinem Heimturnier in Basel erreichte er sein zweites Finale auf der ATP Tour. Dort unterlag er dem Schweden Thomas Enqvist. Mit Platz 29 am Jahresende verpasste er sein Saisonziel knapp. Im Winter verpflichtete er Pierre Paganini als Fitnesscoach, um den Anforderungen der Weltspitze auch körperlich gerecht zu werden. === Vom ersten Titel zum Wimbledonerfolg (2001–2003) === Mit der Zielsetzung, in seiner dritten Profisaison seinen ersten Turniersieg zu erzielen und eine Platzierung unter den besten 15 Spielern der Welt einzunehmen, startete Federer in die Saison 2001. Nachdem er den Hopman Cup 2001 mit Martina Hingis im Januar gewonnen hatte, erfüllte sich im Februar das erste Ziel. Im dritten Anlauf gewann Federer erstmals ein Turnierfinale in Mailand gegen Julien Boutter. Im Davis Cup hatte er mit zwei Einzelsiegen entscheidenden Anteil am Erstrundensieg der Schweiz gegen die USA. Im Viertelfinale des Wettbewerbs gegen Frankreich erklärte er, dass er unter Davis-Cup-Coach Jakob Hlasek zukünftig nicht mehr am Davis Cup teilnehmen werde. Wenige Wochen später wurde der Vertrag mit Hlasek gelöst, was von Federers gestiegener Bedeutung im Schweizer Tennis zeugte. In der folgenden Sandplatzsaison erreichte er seinen ersten Viertelfinaleinzug bei einem Grand-Slam-Turnier. Als Nummer 15 der Welt startete er in Wimbledon. Dort traf er im Achtelfinale auf den siebenmaligen Titelträger Pete Sampras. Nach fünf Sätzen stand der 19-jährige Schweizer als Sieger fest und beendete damit Sampras' Serie von 31 Siegen in Folge in Wimbledon. Die folgende Viertelfinalbegegnung gegen den Briten Tim Henman verlor er jedoch. Im Turnierverlauf hatte sich Federer eine Leistenverletzung zugezogen, die ihn im Anschluss zu einer siebenwöchigen Pause zwang. Erst zu den US Open im Spätsommer war er wieder fit, verlor aber im Achtelfinale gegen Andre Agassi. Ein Finaleinzug in Basel während der folgenden Hallensaison reichte nicht aus, um den nach den Ergebnissen der ersten Saisonhälfte möglichen Einzug beim Tennis Masters Cup der besten acht Saisonspieler zu realisieren. Federer beendete die Saison auf Platz 13 der Weltrangliste. Zu Beginn der Saison 2002 holte er in Sydney seinen zweiten Karrieretitel. Bei den Australian Open unterlag er dagegen im Achtelfinale, genauso wie im Finale von Mailand. Im März erreichte er in Miami sein erstes Finale bei einem Masters-Series-Turnier, verlor das Spiel gegen Andre Agassi aber in vier Sätzen. Wenige Wochen später folgte die zweite Finalteilnahme bei einem Turnier dieser Kategorie in Hamburg. Diesmal entschied Federer das Finale gegen den Russen Marat Safin für sich. Als zweitplatzierter Spieler im Champions Race reiste der 20-jährige Federer nach Paris an. Hier scheiterte er überraschend in der ersten Runde an Hicham Arazi. Auch in Wimbledon schied er in der Auftaktrunde aus. Der von den Buchmachern als fünftbester Spieler des Turniers eingestufte Schweizer unterlag in drei Sätzen dem Kroaten Mario Ančić. Mittlerweile wurde offen von einer Grand-Slam-Blockade bei Federer gesprochen. Der Schweizer (der bereits als zukünftiger mehrfacher Grand-Slam-Sieger gehandelt wurde) schien bei den vier Turnieren der höchsten Kategorie selten in der Lage zu sein, sein bestes Tennis abzurufen. Bis zu den US Open gewann Federer bei vier Turnieren nur ein Match. Sein Spiel litt unter den Gedanken an den Unfalltod seines ehemaligen Trainers Peter Carter in Südafrika Anfang August 2002. In New York schied Federer erneut im Achtelfinale aus. Dennoch gelang ihm die Qualifikation für den Tennis Masters Cup, da er in der Hallensaison bei fünf Turnieren immer mindestens das Viertelfinale erreichte und in Wien seinen vierten Turniersieg errang. Ihm gelang die Qualifikation für das Turnier als einzigem Spieler neben Carlos Moyá ohne Grand-Slam-Viertelfinalteilnahme im Saisonverlauf. Federer gewann seine drei Gruppenspiele und erreichte damit das Halbfinale gegen den Weltranglistenersten Lleyton Hewitt. In einer engen Partie gab er einige Möglichkeiten aus der Hand und verlor sie am Ende im dritten Satz mit 5:7. Er beendete die Saison auf Platz 6 der Weltrangliste. Als Ziel für die Saison 2003 setzte Trainer Lundgren den Sprung unter die ersten Vier der Weltrangliste an. Zudem gab Federer weiterhin den Sieg bei einem Grand-Slam-Turnier als erklärtes Ziel aus. Bei der ersten Chance darauf verlor er im Achtelfinale der Australian Open gegen David Nalbandian; nach fünf Sätzen war er dem Argentinier unterlegen. In den nächsten Monaten erreichte er vier Endspiele auf der Tour und gewann in Marseille, Dubai und München seine ersten Saisontitel. In Rom konnte er auch die Chance auf einen zweiten Masters-Series-Titel nicht nutzen. Im Davis Cup gewann Federer fünf seiner ersten sechs Begegnungen und erreichte damit erstmals in seiner Karriere mit der Schweiz das Halbfinale in diesem Wettbewerb. So zählte der Weltranglistenfünfte vor den French Open wie im Vorjahr zu den Turnierfavoriten. Nach einer erneuten Erstrundenniederlage (gegen Luis Horna) bei einem Grand-Slam-Turnier sah er sich allerdings dem Spott der Presse ausgesetzt. Die Ursache von Federers Erfolglosigkeit bei grossen Turnieren wurde auf eine mentale Schwäche zurückgeführt.Nach den French Open begann der Schweizer die Vorbereitung auf das Turnier in Wimbledon bei den Gerry Weber Open in Halle. Dort gewann er seinen vierten Saisontitel und stellte damit eine neue persönliche Saisonbestleistung auf. In Wimbledon wurde er von den Buchmachern in diesem Jahr auf Platz 3 gesetzt und erreichte erstmals seit acht Auftritten wieder die Viertelfinalphase bei einem Grand-Slam-Turnier. Nachdem er durch längere Regenunterbrechungen zu Beginn der zweiten Turnierwoche eine Rückenverletzung hatte auskurieren können, traf er im Halbfinale auf Andy Roddick. In drei Sätzen gelangen Federer 61 Gewinnschläge bei lediglich zwölf unerzwungenen Fehlern, wodurch er ins erste Grand-Slam-Finale seiner Karriere einzog. Der Australier Mark Philippoussis zwang ihn im Finale zwar zweimal in einen Tie-Break, war am Ende aber dennoch unterlegen und Federer gewann seinen ersten Grand-Slam-Titel. Damit hatte er sein Saisonziel erreicht und die spöttischen Stimmen verstummten.Nach dem Sieg in Wimbledon griff Federer auch in den Kampf um Platz 1 in der Weltrangliste ein. In den nächsten Wochen vergab er mehrere Möglichkeiten, diese Position zu erreichen. So unterlag er Roddick in Kanada im Halbfinale nach 4:2-Führung im entscheidenden Satz. In Cincinnati und bei den US Open unterlag er dagegen David Nalbandian. Auch im Davis-Cup-Halbfinale gegen Australien musste Federer in der vorentscheidenden Partie gegen Lleyton Hewitt die Partie noch nach einer 2:0-Satzführung beim Stande von 5:3 im dritten Satz abgeben. Damit verpasste die Schweiz den zweiten Finaleinzug im Davis Cup nach 1992. Trotz des sechsten Saisonsieges während der Hallensaison in Wien war die Weltranglistenspitze für Federer in dieser Saison nun nicht mehr erreichbar. Doch beim Masters Cup in Houston schloss er seine Saison mit einem Erfolg ab. Er gewann wie im Vorjahr seine drei Gruppenspiele und schlug den bereits als Weltranglistenersten feststehenden Roddick im Halbfinale. Im Finale besiegte er Andre Agassi in drei Sätzen und gewann seinen ersten Weltmeistertitel. Federer beendete die Saison 2003 auf Platz 2 der Weltrangliste. Für Verblüffung sorgte im Dezember 2003 die Trennung von Trainer Lundgren, die Federer mit Abnutzungserscheinungen und dem Gefühl, etwas Neues zu brauchen, begründete. === Auf dem ersten Platz der Weltrangliste (2004–2008) === In der Öffentlichkeit wurde Federer für die Trennung von seinem Erfolgstrainer kritisiert. Doch trotz Zweifel an seiner Form und keiner überstürzten Suche nach einem neuen Trainer spielte er sich bei den Australian Open 2004 ohne Satzverlust bis ins Achtelfinale vor. In jeweils vier Sätzen schlug er mit Hewitt und Nalbandian nacheinander zwei Spieler, die beide noch positive Spielbilanzen gegen ihn vorzuweisen hatten. Nach einem Sieg gegen den Weltranglistenzweiten Juan Carlos Ferrero erreichte er das Turnierfinale. Gegner Marat Safin schlug er im Finale in drei Sätzen und erreichte damit den zweiten Grand-Slam-Titel seiner Karriere. Gleichzeitig eroberte er auch die Weltranglistenspitze und blieb dort bis zum 17. August 2008. Bis zu den French Open im Mai gewann er drei weitere Titel, darunter auch die Masters-Series-Turniere in Indian Wells und Hamburg. In Paris unterlag er in der dritten Runde allerdings dem dreifachen Titelträger Gustavo Kuerten. Auf den Rasenplätzen von Halle und Wimbledon gewann Federer dann das erneute Double. Im Finale von Wimbledon nahm Andy Roddick ihm, anders als bei der Halbfinalbegegnung im Vorjahr, zwar einen Satz ab, schlussendlich verteidigte Federer aber seinen Titel. In Gstaad und Toronto baute er seine Siegesserie auf 23 Spiele aus, bis er in Cincinnati sein Auftaktmatch verlor. Eine grössere Enttäuschung für Federer war aber die Zweitrundenniederlage bei den Olympischen Spielen in Athen gegen den Tschechen Tomáš Berdych. Der Schweizer war in Athen nicht nur als klarer Medaillenkandidat, sondern auch als Fahnenträger seines Landes bei der Eröffnungsfeier angetreten. Andererseits bildete diese Niederlage aber auch den Startpunkt für eine weitere Siegesserie. Bei den US Open in New York wurde er nur im Viertelfinale von Andre Agassi über die volle Distanz von fünf Sätzen gezwungen. Im Finale überliess er Lleyton Hewitt in drei Sätzen lediglich sechs Spiele auf dem Weg zu seinem dritten Grand-Slam-Titel der Saison. Er war damit der erste Spieler seit dem Schweden Mats Wilander 1988, dem dieser Erfolg gelungen war. Die anschliessende Hallensaison musste Federer wegen eines Muskelfaserrisses fast komplett absagen. Rechtzeitig zum Masters Cup war er allerdings wieder fit. Dort erreichte er ungeschlagen das Finale und traf erneut auf Hewitt. Den ehemaligen Weltranglistenersten bezwang er zum sechsten Mal in dieser Saison und baute damit seine Position an der Weltspitze weiter aus. In der Saison 2004 verlor er keines seiner elf Endspiele und gewann alle 18 Spiele gegen Gegner aus den Top 10. Zur neuen Saison 2005 verpflichtete Federer den Australier Tony Roche als neuen Trainer. Roche, der bereits als Coach von Ivan Lendl und Patrick Rafter Spieler zu mehreren Grand-Slam-Erfolgen geführt hatte, sollte Federer insbesondere bei den wichtigen Turnieren zur Seite stehen. So lag das besondere Augenmerk für diese Saison auf den French Open, die Federer in seiner bisherigen Karriere noch nicht gewann. Die Siegesserie, die Federer aus der alten Saison mitbrachte, riss im Halbfinale bei den Australian Open gegen Marat Safin nach mehr als vier Stunden Spielzeit. Es folgten vier Turniersiege in Serie, unter anderem gewann der Schweizer auch erstmals das Double aus den Masters-Turnieren von Indian Wells und Miami. Dabei drehte er im Finale von Miami einen 0:2-Satzrückstand gegen Rafael Nadal. Dieser nahm durch regelmässige Erfolge auf Sandplätzen den zweiten Platz in der Weltrangliste ein und verkürzte zunehmend den Abstand auf Federer. Nach dessen sechstem Saisontitel in Hamburg kam es in Paris im Halbfinale erneut zur Begegnung mit Nadal. Diesmal unterlag der Schweizer nach vier Sätzen. Zwar hatte Federer sein bisher bestes Resultat bei den French Open erreicht, doch er blieb im Saisonverlauf weiter ohne Grand-Slam-Titel. Indes war die Niederlage in Frankreich der Auftakt zu der zu diesem Zeitpunkt längsten Siegesserie seiner Karriere. In Wimbledon gab er auf dem Weg zum Titelhattrick nur einen Satz ab, bei den US Open schlug er Andre Agassi in dessen letztem Grand-Slam-Finale in vier Sätzen. Zum Masters Cup am Ende des Jahres brachte er eine Siegesserie von 31 Spielen in Folge mit, die er durch das Erreichen des Turnierfinals auf 35 ausbaute. Hier traf er auf David Nalbandian, gegen den er die letzten vier Begegnungen gewonnen hatte, nachdem die ersten fünf Duelle alle an den Argentinier gegangen waren. Nach zwei Tie-Breaks führte der Weltranglistenerste mit 2:0 in den Sätzen. Doch je länger das Match andauerte, desto stärker baute Federer körperlich ab. Obwohl er im letzten Satz einen 0:4-Rückstand noch in eine 6:5-Führung umdrehen konnte, beendete Federer die Partie als Verlierer. Damit brach nicht nur die fünftlängste Siegesserie im Profitennis ab, sondern auch sein Rekord von 24 Endspielsiegen in Folge. Zudem verpasste der Schweizer mit 81 Siegen und 4 Niederlagen die Chance, die statistisch beste Profisaison von John McEnroe aus dem Jahr 1984 (82 Siege bei 3 Niederlagen) zu egalisieren. Dennoch beendete Federer die Saison nach der vergebenen Chance auf seinen dritten Masters-Cup-Titel in Serie auf Platz 1 der Weltrangliste. Er begann die Saison 2006 mit zwei Turniersiegen, darunter seinem siebten Grand-Slam-Titel bei den Australian Open. In Dubai unterlag er dagegen im Finale erneut Nadal, womit die Rekordserie von 56 Siegen in Folge auf Hartplätzen endete, die im Vorjahr in Rotterdam begann. Dies war das Startsignal für die zahlreichen Duelle, die sie sich in den nächsten Wochen und Monaten liefern sollten. Vor Beginn der Sandplatzsaison gewann Federer erneut die Turniere von Indian Wells und Miami. Auf Sand erreichte er bei den Masters-Turnieren von Monte Carlo und Rom jeweils das Finale. In beiden Spielen unterlag er Nadal, obwohl er in Rom zu Matchbällen kam. In Paris kam es ebenfalls zum Finale zwischen Federer und Nadal. Federer vergab nach gewonnenem ersten Satz weitere Chancen und verlor so zum fünften Mal in Folge gegen Nadal, es war die erste Niederlage in seinem achten Grand-Slam-Finale. Dennoch hatte er sich im Laufe der Saison als zweitbester Sandplatzspieler der Welt etabliert. In Wimbledon spielte er sich auf dem Weg zum vierten Titel in Folge ohne Satzverlust ins Finale. Dort traf er erneut auf den Weltranglistenzweiten Nadal. Der Spanier konnte Federer zwar einen Satz abzunehmen, aber am Ende feierte der Schweizer seinen insgesamt achten Grand-Slam-Titel. Bei den US Open begann für ihn eine erneute Siegesserie. Zum dritten Mal besiegte er Andy Roddick in einem Grand-Slam-Finale und zum zweiten Mal nach 2004 gewann er damit drei Grand-Slam-Titel in einer Saison. Erstmals seit drei Jahren nahm Federer im Anschluss auch verletzungsfrei an der Hallensaison teil. Mit seinem Turniersieg in Madrid brach er den Rekord von Jimmy Connors, der in den 1970er-Jahren die Weltrangliste 160 Wochen lang ununterbrochen angeführt hatte. Im Anschluss an das Turnier von Madrid entschied Federer nach mehreren vergeblichen Anläufen mit einem Finalerfolg über den Chilenen Fernando González auch erstmals sein Heimturnier in Basel für sich, bei dem er in Jugendjahren als Balljunge tätig war. Anschliessend reiste er zum Masters Cup nach Schanghai. Dort erreichte er erneut ohne Niederlage in der Gruppenphase das Finale, in dem er gegen den Amerikaner James Blake auf dem Weg zu seinem dritten Titel beim Jahresabschlussturnier nur sieben Spiele in drei Sätzen abgab. Federer beendete damit seine dritte Saison in Folge an der Spitze der Weltrangliste, was zuvor nur Jimmy Connors, John McEnroe, Ivan Lendl und Pete Sampras gelungen war. Die Saison 2006 war die beste Saison in der Karriere von Federer und einer der erfolgreichsten in der Geschichte. Er gewann zwölf Turniere und erreichte bei 17 gespielten Turnieren 16 Mal das Finale, was bis heute unübertroffen ist. In der Saison 2006 fehlte Federer nur der Sieg bei den French Open zum Erreichen des grössten Erfolges im Tennissport, dem Grand Slam. Bisher ist dieser neben dem Amerikaner Don Budge (1938) nur dem Australier Rod Laver (1962 und 1969) gelungen. Laver selbst erklärte im Januar 2006, dass er den Grand-Slam-Gewinn durch Federer für möglich halte. Den ersten Schritt in diese Richtung machte Federer bei den Australian Open, wo er als erster Spieler seit Björn Borg 1980 ein Grand-Slam-Turnier ohne Satzverlust gewann. Im Laufe der folgenden Sandplatzsaison trennte sich der Schweizer von seinem Trainer Tony Roche, bezwang seinen Rivalen Nadal in Hamburg erstmals auf Sand und beendete dessen Serie von 81 Siegen auf diesem Belag. Doch endete die Jagd auf den Grand-Slam-Gewinn erneut bei den French Open, wo Federer zwar wieder ins Finale einzog, aber den Erfolg von Hamburg gegen Nadal nicht wiederholen konnte. Zu Beginn der Saison verteidigte Federer seinen Titel bei den Australian Open und gewann das Turnier zum dritten Mal. In Indian Wells verlor er zum Auftakt gegen Guillermo Cañas, das beendete seine Serie von sieben Turniersiegen und 41 Siegen nacheinander. Auch im Wimbledonfinale kam es wie im Vorjahr zum Duell Federer gegen Nadal. In seinem fünften Endspiel dort wurde der Schweizer erstmals über die volle Distanz von fünf Sätzen gezwungen; doch nach dem Match nahm er seinen fünften Siegerpokal in Folge in Empfang. Damit stellte er den Open-Era-Rekord des Schweden Björn Borg ein. In Cincinnati gewann er gegen James Blake den 50. Titel seiner Karriere. Auch bei den US Open gewann Federer zum wiederholten Male, in drei Sätzen behielt er dort gegen Novak Đoković die Oberhand. Damit gewann er seit 2004 im vierten Jahr in Folge sowohl Wimbledon als auch die US Open. Somit hatte Federer erneut nur im Finale der French Open eine Grand-Slam-Niederlage hinnehmen müssen. Bei anderen Turnieren zeigte sich Federer indes schlagbar. So triumphierte er erstmals seit 2003 bei weniger als drei Masters-Series-Turnieren. Einzig in Hamburg und Cincinnati stand er am Ende als Turniersieger fest; in Monte Carlo, Montreal und Madrid unterlag er im Finale, während er bei den anderen vier Masters-Turnieren das Viertelfinale nicht erreichte. Dennoch verteidigte Federer die Ranglistenspitze über den gesamten Saisonverlauf und beendete nach seinem vierten Triumph beim Tennis Masters Cup die Saison zum vierten Mal in Folge auf dieser Position. Dies war bis dahin nur den Amerikanern Pete Sampras (6×), Jimmy Connors (5×) und John McEnroe (4×) gelungen. Bereits zu Beginn der Saison 2008 endete die nächste Chance auf den Gewinn des Grand Slam. Federer schied im Halbfinale der Australian Open gegen Novak Đoković aus. Damit riss auch seine Serie von zehn aufeinanderfolgenden Finalteilnahmen bei Grand-Slam-Turnieren. Nach der Niederlage in Melbourne konnte Federer bis Ende März keinen Titel einfahren. Damit absolvierte er erstmals seit dem Jahr 2000 die ersten drei Monate einer Saison ohne Turniererfolg. Am 7. März 2008 gab Federer bekannt, dass er seit Dezember des Vorjahres am Pfeiffer-Drüsenfieber erkrankt sei. Anfang April gelang ihm in Estoril der erste Titelgewinn im Jahr 2008. Während der Sandplatzsaison erreichte er die Endspiele der Masters-Series-Turniere in Monte Carlo und Hamburg, wo er jeweils Rafael Nadal unterlag. Auch bei den French Open schaffte Federer den dritten Finaleinzug in Folge, musste aber die dritte Niederlage in Serie gegen Nadal hinnehmen. Ihm gelangen bei der Dreisatzniederlage lediglich vier Spielgewinne. Im Anschluss an die Finalniederlage in Paris sicherte er sich seinen zweiten Turniersieg des Jahres durch seinen bereits fünften Erfolg in Halle. In Wimbledon kam es zur insgesamt sechsten Finalbegegnung zwischen Federer und Nadal bei einem Turnier dieser Kategorie. Von 2006 bis 2008 standen sie sich in jedem French Open- und Wimbledon-Finale gegenüber, das gelang bisher keiner anderen Spielerpaarung. Nach fast fünf Stunden Spielzeit im längsten Wimbledon-Finale der Geschichte endete die Serie von 65 Siegen auf Rasen sowie fünf Titeln und 40 Siegen in Folge in Wimbledon. Mit 7:9 im fünften Satz musste sich Federer geschlagen geben, der damit erstmals seit sechs Jahren ohne Erfolg bei den ersten drei Grand-Slam-Turnieren des Jahres geblieben war. === Verlust und Rückeroberung der Weltranglistenführung (2008–2010) === Beim Masters-Turnier in Cincinnati schied er im Achtelfinale aus, womit feststand, dass er nach 237 Wochen an der Weltranglistenspitze durch Nadal abgelöst wurde. Bei den Olympischen Spielen 2008 in Peking, bei denen er wie vier Jahre zuvor Fahnenträger bei der Eröffnungsfeier war, trat er im Einzel sowie im Doppel an der Seite von Stan Wawrinka an. Während er im Einzel im Viertelfinale gegen James Blake ausschied, gewannen er und Wawrinka das Doppelfinale gegen die Schweden Simon Aspelin und Thomas Johansson und damit die Goldmedaille. Bei den US Open gelang Federer nach drei sieglosen Teilnahmen in Folge wieder der Titelgewinn bei einem Grand-Slam-Turnier. Im Finale schlug er Andy Murray in drei Sätzen. Mit seinem fünften Sieg in Folge bei den US Open stellte er den Open-Era-Rekord von Pete Sampras und Jimmy Connors ein und wurde damit zum ersten Spieler der zwei Grand-Slam-Turniere fünfmal in Serie gewann. Während der Hallensaison gewann er seinen vierten Saisontitel beim Turnier in Basel. Beim Masters-Series-Turnier von Madrid unterlag er dagegen im Halbfinale Andy Murray. Dieser fügte Federer auch seine zweite Niederlage beim Tennis Masters Cup zu, so dass der Schweizer dort bei seiner siebten Teilnahme erstmals in der Gruppenphase scheiterte. Dennoch reichte ihm der eine Sieg, um sich zum Saisonende Platz 2 der Weltrangliste zu sichern. Bei den Australian Open erreichte Federer 2009 das Finale und damit die Möglichkeit, in der Partie gegen Rafael Nadal den Grand-Slam-Rekord von Pete Sampras einzustellen. Doch wie schon im Wimbledonfinale unterlag Federer dem Spanier in fünf Sätzen und mehr als vier Stunden Spielzeit. Im Matchverlauf nutzte er nur sechs seiner 19 Breakmöglichkeiten. Auch bei den ersten beiden Masters-Turnieren der Saison 2009 blieb er titellos. Während er in Indian Wells im Halbfinale Murray in drei Sätzen unterlag, scheiterte er in Miami ebenfalls in der Vorschlussrunde an Đoković. Zu Beginn der Sandplatzsaison in Monte Carlo erlebte Federer einen weiteren Rückschlag, als er seinem Doppelpartner und Freund Stan Wawrinka bereits im Achtelfinale in zwei Sätzen unterlag. Nach einem weiteren Halbfinalaus gegen Đoković in Rom gelang ihm in Madrid sein erster Turniersieg seit sieben Monaten. Er bezwang im Finale den Weltranglistenersten Nadal in zwei Sätzen, zum ersten Mal nach fünf sieglosen Partien in den Jahren 2008 und 2009, und errang seinen ersten Masters-Titel seit August 2007. Bei den French Open 2009 erreichte Federer zum vierten Mal in Folge das Finale, wobei er auf dem Weg ins Endspiel sowohl im Achtelfinale gegen Tommy Haas als auch im Halbfinale gegen Juan Martín del Potro über die volle Distanz von fünf Sätzen gehen musste. Im Finale traf er auf den Schweden Robin Söderling, der zuvor dem vierfachen Titelträger Nadal dessen erste Niederlage in Roland Garros zugefügt hatte. Das Finale gewann Federer mit 6:1, 7:6 und 6:4, wodurch er den Rekord von Pete Sampras mit insgesamt 14 Grand-Slam-Titeln einstellte. Zudem war Federer durch den Erfolg der sechste Spieler in der Geschichte (nach Fred Perry, Don Budge, Rod Laver, Roy Emerson und Andre Agassi), der alle vier Turniere der höchsten Kategorie mindestens einmal für sich entscheiden konnte. In Wimbledon zog Federer 2009 bei nur einem Satzverlust im Turnierverlauf ins Finale ein. Die siebte Finalteilnahme in Folge bedeutete zugleich einen neuen Turnierrekord. Er traf zum dritten Mal nach 2004 und 2005 auf Andy Roddick. Wie schon in den Endspielen von 2007 und 2008 wurde Federer über die volle Distanz gezwungen, ging aber am Ende mit 5:7, 7:6, 7:6, 3:6 und 16:14, dem längsten fünften Satz in einem Grand-Slam-Finale, als Sieger vom Platz. Mit seinem 15. Grand-Slam-Titel stellte er einen neuen Rekord auf. Da Titelverteidiger Nadal seine Teilnahme aufgrund einer Verletzung abgesagt hatte, eroberte Federer durch seinen sechsten Wimbledon-Erfolg nach 46 Wochen zudem Platz 1 der Weltrangliste zurück.Bei der anschliessenden nordamerikanischen Hartplatzsaison endete Federers Serie nach 21 Siegen im Viertelfinale von Montreal gegen Jo-Wilfried Tsonga. Eine Woche später bezwang er Đoković im Finale von Cincinnati und feierte seinen vierten Saisonerfolg, wobei er im Halbfinale auch erstmals seit vier Partien wieder Andy Murray bezwingen konnte. Damit startete Federer erneut als Topfavorit und nach einer Unterbrechung von zwei Grand-Slam-Turnieren auch wieder als topgesetzter Spieler in die US Open. In Flushing Meadows erreichte er sein sechstes US-Open-Finale in Folge. Damit stand er nach 2006 und 2007 zum dritten Mal innerhalb einer Saison in allen vier Grand-Slam-Endspielen, was einen neuen Rekord bedeutete. Wie bereits in Melbourne und Wimbledon wurde das Match erst im fünften Satz entschieden. Nach über vier Stunden Spielzeit unterlag Federer dem Argentinier Juan Martín del Potro im entscheidenden Satz mit 2:6, damit riss die Rekordserie von 40 Siegen in Folge bei diesem Turnier. Bei den World Tour Finals zum Abschluss der Saison verlor er im Halbfinale gegen den späteren Turniersieger Nikolai Dawydenko. Dennoch reichte das Resultat, um zum fünften Mal eine Saison auf Platz 1 der Weltrangliste zu beenden, womit zu diesem Zeitpunkt in dieser Statistik nur noch Pete Sampras vor ihm liegt, dem dies in seiner Karriere sechsmal gelungen ist. Das Jahr 2010 begann für Federer mit einem Halbfinalaus gegen den späteren Turniersieger Dawydenko in Doha. Bei den anschliessenden Australian Open erreichte er u. a. durch eine geglückte Revanche gegen Dawydenko sein 23. Grand-Slam-Halbfinale in Folge sowie das achte Grand-Slam-Finale in Serie. Im Endspiel von Melbourne schlug er Andy Murray in drei Sätzen. Durch seinen 16. Grand-Slam-Titel stellte Federer Andre Agassis Open-Era-Rekord mit vier Australian-Open-Siegen ein und entschied zudem in der achten Saison in Folge mindestens ein Grand-Slam-Turnier für sich, dies war zuvor nur Pete Sampras und Björn Borg gelungen. Nach diesem Turnier endete die seit 2004 anhaltende Dominanz Federers bei Grand-Slam-Turnieren. Im Anschluss litt Federer unter einer Lungenentzündung und schied bei den Masters-Turnieren in den USA sowie zu Beginn der Sandplatzsaison jeweils früh aus. Erst beim Turnier von Madrid gelang ihm wieder eine Endspielteilnahme. In der Wiederauflage des Vorjahresfinales unterlag er jedoch Nadal in zwei Sätzen. === Erneuter Verlust der Spitzenposition (2010–2011) === Bei den French Open kam es im Viertelfinale zum Duell mit Söderling, den Federer im Vorjahresfinale besiegt hatte. Dabei gelang dem Schweden die Revanche, und Federers Serie für ununterbrochene Halbfinalteilnahmen bei Grand-Slam-Turnieren endete. Aufgrund des Turniersiegs von Nadal in Roland Garros verlor er zudem die Weltranglistenführung erneut an den Spanier. Mit insgesamt 285 Wochen an der Spitze der Rangliste fehlte ihm dabei nur eine Woche zur Egalisierung des Rekords von Pete Sampras. Damit endete seine Serie von acht Grand-Slam-Finals in Folge. Zwischen Wimbledon 2005 und den Australian Open 2010 stand er bei neunzehn Turnieren 18-mal im Finale, nur in Melbourne wurde er 2008 im Halbfinale von Đoković besiegt. Beim Turnier von Wimbledon scheiterte er als Titelverteidiger im Viertelfinale in vier Sätzen an Tomáš Berdych. Durch die Niederlage büsste Federer einen weiteren Platz in der Weltrangliste ein und fand sich zum ersten Mal seit über sechs Jahren auf Rang 3 wieder. Bereits bei seinem nächsten Turnier nach Wimbledon eroberte er sich durch einen Finaleinzug jedoch Position 2 zurück. Während er das Endspiel gegen Murray verlor, gewann er eine Woche später durch einen Dreisatzsieg über den Amerikaner Mardy Fish in Cincinnati seinen 17. Titel bei einem Masters-Turnier. Bei den US Open 2010 erreichte Federer nach zuletzt zwei Viertelfinalniederlagen wieder ein Grand-Slam-Halbfinale, das er jedoch gegen Novak Đoković verlor. Dadurch musste er den Serben auch in der Weltrangliste an sich vorbeiziehen lassen. Anschliessend gelangen Federer drei Finalteilnahmen in Folge, wobei er Turniersiege in Stockholm und bei seinem Heimturnier in Basel feierte, während er sich in Schanghai Andy Murray geschlagen geben musste. Damit erreichte er abermals Platz 2 der Weltrangliste und zog mit dem Sieg in Stockholm, seinem insgesamt 64. Turniersieg, in dieser Kategorie mit Sampras gleich. Zum Abschluss der Saison konnte Federer zum fünften Mal die ATP World Tour Finals gewinnen. Dabei setzte er sich im Turnierverlauf gegen Đoković, Murray und Nadal durch, die die Plätze 4, 3 und 1 der Weltrangliste belegten. Mit seinem fünften Triumph beim Saisonabschlussturnier zog er mit den Rekordsiegern Lendl und Sampras gleich. Nach einem erfolgreichen Start ins Jahr 2011 mit einem Sieg in Doha scheiterte Federer bei den Australian Open wie bereits bei den US Open 2010 im Halbfinale an Đoković. Zum ersten Mal seit Wimbledon 2003 hielt Federer nun keinen Grand-Slam-Titel mehr. Anschliessend erreichte er das Endspiel in Dubai, wo er wiederum Đoković unterlag, wie auch kurze Zeit später im Halbfinale von Indian Wells, wodurch der Serbe Federer in der Weltrangliste überholte. Nach einer weiteren Halbfinalniederlage in Miami gegen Nadal begann für Federer die Sandplatzsaison. Bei seinen Auftritten in Monte Carlo, Madrid und Rom erreichte er lediglich in der spanischen Hauptstadt ein Halbfinale, das er gegen Nadal in drei Sätzen verlor. Bei den French Open bezwang er im Halbfinale Đoković nach zuletzt drei Niederlagen und beendete damit die Siegesserie des Serben von 43 Matches. Das Endspiel verlor er gegen Nadal in vier Sätzen. In Wimbledon scheiterte Federer wie bereits im Vorjahr im Viertelfinale. Bei der Fünfsatzniederlage gegen den Franzosen Jo-Wilfried Tsonga verspielte er erstmals in seiner Grand-Slam-Karriere eine 2:0-Satzführung. Bei den US Open erreichte er durch einen Dreisatzsieg im Achtelfinale gegen den Argentinier Juan Monaco zum 30. Mal in Folge das Viertelfinale eines Grand-Slam-Turniers. Gegen Tsonga machte Federer in drei Sätzen seinen Halbfinaleinzug perfekt. Dort unterlag er trotz zweier Matchbälle und einer 2:0-Satzführung dem späteren Turniersieger und Weltranglistenersten Đoković. Es war das fünfte Duell in Serie in New York seit 2007, das ist Rekord bei den Grand-Slams. Damit konnte Federer erstmals seit 2002 kein Grand-Slam-Turnier in einer Saison gewinnen. Den Start beim folgenden Masters-Turnier von Schanghai sagte Federer aufgrund kleinerer Verletzungen ab. Dadurch fiel er in der Weltrangliste hinter Murray auf Rang 4 zurück. Den zweiten Turniererfolg des Jahres feierte Federer dann bei den Swiss Indoors in Basel; er besiegte im Finale den Japaner Kei Nishikori, der zuvor den Weltranglistenersten Đoković bezwungen hatte. Eine Woche darauf siegte Federer mit einem Endspielsieg über Jo-Wilfried Tsonga auch erstmals in seiner Karriere beim Masters-Turnier in Paris-Bercy. Bei den ATP World Tour Finals 2011 zog Federer ohne Matchverlust in der Gruppenphase, in der er unter anderem Nadal besiegte, in sein insgesamt 100. Karrierefinale im Einzel ein. Durch das Erreichen des Endspiels konnte er zudem zum Saisonende wieder Position 3 der Weltrangliste einnehmen. Im Finale traf er wie zwei Wochen zuvor in Paris auf Jo-Wilfried Tsonga, den er in drei Sätzen besiegte. Mit seinem sechsten Erfolg beim Saisonabschlussturnier, zugleich sein 70. Einzeltitel insgesamt, überholte Federer Pete Sampras und Ivan Lendl und ist nun alleiniger Rekordsieger des Turniers. === Siebter Sieg in Wimbledon und vorübergehende Weltranglistenführung (2012) === Zu Beginn des Jahres 2012 zog Federer ins Halbfinale des Turniers von Doha ein, wodurch er seine Siegesserie auf 20 Erfolge ausbaute; das Halbfinalmatch gegen Tsonga sagte er aufgrund von Rückenproblemen jedoch ab. Bei den Australian Open erreichte der Schweizer das Halbfinale, musste sich dort jedoch Nadal in vier Sätzen geschlagen geben. Sein nächstes Turnier bestritt er im Februar in Rotterdam, wo er sein erstes Finale des Jahres erreichte, das er gegen Juan Martín del Potro klar in zwei Sätzen gewann. Bereits zwei Wochen später feierte er mit einem Zweisatzerfolg über Andy Murray im Finale von Dubai seinen nächsten Titel. Beim ersten Masters-Turnier der Saison in Indian Wells erreichte Federer durch einen Halbfinalsieg über Nadal sein drittes Endspiel in Folge. Mit seinem 19. Erfolg bei einem Masters-Turnier in zwei Sätzen gegen John Isner egalisierte er dabei den Rekord für die meisten Turniersiege dieser Kategorie. Bei den Sony Ericsson Open schied er in der dritten Runde gegen Andy Roddick aus. Die Sandplatzsaison begann Federer beim Masters-Turnier von Madrid. Bei diesem erstmals auf blauem Sand ausgetragenen Wettbewerb feierte er mit einem Dreisatzerfolg über Tomáš Berdych seinen 20. Masters-Turniersieg, womit er den Rekord für die meisten Masterstitel erneut egalisierte, den Nadal durch einen Sieg in Monte Carlo zwischenzeitlich verbessert hatte. Mit seinem insgesamt dritten Sieg in Madrid überholte Federer zudem Nadal in der Weltrangliste und nahm erstmals seit März 2011 wieder Position 2 ein. Eine Woche später schied er in Rom im Halbfinale in zwei Sätzen gegen Novak Đoković aus und fiel in der Weltrangliste wieder hinter Nadal, der das Turnier gewann, zurück. Bei den French Open erreichte Federer das Halbfinale, musste sich dort jedoch abermals Đoković geschlagen geben. Im Turnierverlauf stellte er die von Jimmy Connors gehaltenen Rekorde für die meisten Matchgewinne bei Grand-Slam-Turnieren sowie die meisten Halbfinalteilnahmen bei Turnieren dieser Kategorie ein und überbot die zuerst genannte Bestmarke. Die Rasensaison begann Federer in Halle, wo er das Endspiel erreichte, das er allerdings gegen den Deutschen Tommy Haas in zwei Sätzen verlor. Im Anschluss startete Federer beim Turnier von Wimbledon. Hier holte er in der dritten Runde einen 0:2-Satzrückstand gegen den Franzosen Julien Benneteau auf und zog schliesslich in sein insgesamt 32. Grand-Slam-Halbfinale ein, womit Federer zum alleinigen Rekordhalter wurde. In der Vorschlussrunde traf er wie zuvor in Paris auf Đoković, den er diesmal in vier Sätzen bezwang. Damit erreichte Federer sein achtes Finale in Wimbledon, was einen weiteren Rekord bedeutete. Im Finale rang er Andy Murray, der als erster Brite seit 1938 das Finale in Wimbledon erreicht hatte, nach Satzrückstand mit 4:6, 7:5, 6:3 und 6:4 nieder. Mit seinem Sieg egalisierte Federer den Rekord von Pete Sampras und William Renshaw mit sieben Siegen in Wimbledon; es war sein 17. Grand-Slam-Titel. Zudem übernahm er erstmals seit Mai 2010 die Führung in der Weltrangliste, stellte damit den von Sampras gehaltenen Rekord von 286 Wochen an der Weltranglistenspitze ein und wurde eine Woche später alleiniger Rekordhalter. Bei den Olympischen Spielen in London gewann Federer mit der Silbermedaille seine erste Einzelmedaille bei Olympischen Spielen. Dabei war er nach Athen und Peking zum dritten Mal als Schweizer Fahnenträger vorgesehen, verzichtete jedoch zu Gunsten von Stan Wawrinka auf diese Ehre. Im olympischen Tennisturnier, das auf der Anlage von Wimbledon ausgetragen wurde, traf er im Halbfinale auf Juan Martín del Potro, den er nach knapp viereinhalb Stunden Spielzeit im längsten Dreisatzmatch der Open Era mit 19:17 im dritten Satz bezwang. Im Finale kam es zu einer Neuauflage des Wimbledonendspiels gegen Andy Murray, die der Brite nach Sätzen mit 3:0 für sich entschied. Die amerikanische Hartplatzsaison begann Federer, nachdem er seinen Auftritt beim Turnier von Toronto abgesagt hatte, beim Masters-Turnier von Cincinnati. Dort gewann er das Endspiel in zwei Sätzen gegen Đoković und stellte mit seinem 21. Turniersieg in dieser Kategorie zum dritten Mal den Rekord von Nadal für die meisten Turniererfolge bei Masters-Turnieren ein. Federer gab während des gesamten Turnierverlaufs kein einziges Mal seinen Aufschlag ab, was ihm zuletzt 2008 in Halle gelungen war.Bei den anschliessenden US Open unterlag Federer im Viertelfinale Tomáš Berdych in vier Sätzen und erreichte damit erstmals seit 2003 nicht das Halbfinale in Flushing Meadows. Nach einem Davis-Cup-Einsatz für die Schweiz gegen die Niederlande spielte Federer sein nächstes Turnier erst wieder im Oktober in Schanghai. Dort erreichte er die Runde der letzten Vier, in der er sich Murray in zwei Sätzen geschlagen geben musste. Beim folgenden Heimturnier in Basel zog er in sein insgesamt neuntes Endspiel bei diesem Turnier ein, unterlag jedoch del Potro in drei Sätzen. Für das eine Woche später stattfindende Turnier von Paris-Bercy sagte Federer als Titelverteidiger ab. Damit stand fest, dass er nach insgesamt 302 Wochen an der Spitze der Weltrangliste von Đoković abgelöst werden und das Jahr 2012 auf Platz zwei der Wertung beenden würde. Beim Saisonabschlussturnier in London erreichte Federer trotz einer erneuten Niederlage gegen del Potro in der Gruppenphase das Halbfinale. Hier behielt er gegen Murray in zwei Sätzen die Oberhand und zog damit in das achte Endspiel insgesamt und das dritte in Folge bei Turnieren dieser Kategorie ein. Im Finale traf er auf den neuen Weltranglistenersten Đoković, dem er mit 6:7 und 5:7 unterlag. === Zwischenzeitlicher Sturz aus den Top 5 der Weltrangliste (2013–2016) === 2013 kam Federer bei den Australian Open bis ins Halbfinale, wo er Andy Murray in fünf Sätzen unterlag. Bei den folgenden Turnieren in Rotterdam und Indian Wells erreichte er jeweils das Viertelfinale, in Dubai das Halbfinale und in Madrid das Achtelfinale. In Rom stand er erstmals in der Saison in einem Endspiel, das er jedoch mit 1:6 und 3:6 gegen Nadal klar verlor. Bei den French Open schied er im Viertelfinale durch eine glatte Niederlage in drei Sätzen gegen Jo-Wilfried Tsonga aus. Bei den Gerry Weber Open in Halle sicherte sich Federer mit seinem sechsten Sieg bei diesem Turnier seinen einzigen Saisontitel; er gewann das Endspiel gegen Michail Juschny in drei Sätzen. In Wimbledon schied Federer überraschend früh aus. Er unterlag in der zweiten Runde dem ungesetzten Serhij Stachowskyj mit 7:6, 6:7, 5:7 und 6:7. Damit endete seine Serie von 36 Viertelfinalteilnahmen bei Grand-Slam-Turnieren in Folge. Er fiel in der Weltrangliste auf Platz 5 zurück und stand somit erstmals seit zehn Jahren nicht in den Top 4. Danach trat er am Hamburger Rothenbaum an. Dort unterlag er im Halbfinale der Nummer 114 der Welt, Federico Delbonis, mit 6:7 und 6:7. In Gstaad verlor er gegen Daniel Brands bereits seine Auftaktpartie. Bedingt durch Rückenbeschwerden konnte Federer bei beiden Turnieren nicht in Bestform antreten. Seine Teilnahme am Kanada Masters sagte er daraufhin ab; in Cincinnati trat er allerdings zur Titelverteidigung an. Im Viertelfinale unterlag er Nadal mit 7:5, 4:6 und 3:6, wodurch er in der Weltrangliste hinter Juan Martín del Potro und Tomáš Berdych auf Rang 7 abrutschte, die schlechteste Platzierung seit Oktober 2002. Bei den US Open verlor Federer im Achtelfinale gegen Tommy Robredo. So früh war er zuletzt 2003 beim vierten Major-Turnier der Saison ausgeschieden. In den letzten Saisonwochen verbesserten sich seine Ergebnisse wieder etwas. So erreichte er bei seinem Heimturnier in Basel das Finale, musste sich dort aber, wie schon im Vorjahr, del Potro in drei Sätzen geschlagen geben. Bei seinen letzten beiden Turnierauftritten in Paris und bei den Tour Finals in London erreichte Federer jeweils das Halbfinale und beendete die Saison auf Platz 6 der Weltrangliste. Ausserhalb der Top 5 hatte Federer eine Saison letztmals im Jahr 2002 beendet. Die Saison 2014 begann er mit einem Finaleinzug in Brisbane. Im Endspiel unterlag er Lleyton Hewitt in drei Sätzen. Bei den Australian Open besiegte er im Viertelfinale Murray, im Halbfinale unterlag er anschliessend Nadal in drei Sätzen. In Dubai besiegte er im Halbfinale Đoković und im Finale Tomáš Berdych, was den ersten Turniersieg seit Halle im Jahr zuvor bedeutete und ihm gleichzeitig Platz 4 im Ranking bescherte. Beim nächsten Aufeinandertreffen von Federer und Đoković im Finale von Indian Wells unterlag Federer in drei Sätzen. Beim anschliessenden Masters in Miami unterlag er im Viertelfinale Kei Nishikori. In Monte Carlo erreichte er nach einem Halbfinalsieg über Đoković das Endspiel, das er gegen seinen Landsmann Stan Wawrinka verlor. Bei den French Open scheiterte er im Achtelfinale an Ernests Gulbis. Beim Vorbereitungsturnier für Wimbledon in Halle wiederholte er mit einem Sieg über Alejandro Falla seinen Triumph aus dem Vorjahr. In Wimbledon erreichte er das Finale und unterlag Đoković in einem fast vier Stunden dauernden Fünfsatzmatch. Beim Masters in Toronto erreichte er das Finale, das er gegen Tsonga mit 5:7 und 6:7 verlor. In Cincinnati gewann er mit seinem Finalsieg über David Ferrer seinen 80. Einzeltitel. Bei den US Open erreichte er das Halbfinale, das er überraschend in drei Sätzen gegen Marin Čilić verlor. Davor drehte er gegen Gaël Monfils zum neunten Mal in seiner Karriere einen 0:2-Satzrückstand; er gewann das Viertelfinale mit 4:6, 3:6, 6:4, 7:5 und 6:2. Beim Shanghai Masters erreichte Federer das neunte Endspiel im Jahr 2014 und besiegte Gilles Simon in zwei Sätzen jeweils im Tie-Break, nachdem er bereits im Halbfinale Đoković besiegt hatte. Es war sein erster Titelgewinn dort und liess ihn in der Weltrangliste auf Rang 2 vorrücken. Anschliessend gewann Federer auch die Swiss Indoors durch einen souveränen Finalsieg über David Goffin. Zum Ende des Jahres 2014 nahm er an den World Tour Finals in London teil. Nach Siegen über Milos Raonic, Kei Nishikori, Andy Murray und Stan Wawrinka zog er zwar ins Finale ein, musste dieses aber aufgrund von Rückenschmerzen absagen.Das Jahr 2015 begann für Federer mit einem Turniersieg in Brisbane. Der Finalsieg gegen Milos Raonic war zugleich sein 1000. Sieg auf der ATP World Tour. Vor ihm hatten dies nur Ivan Lendl (1071) und Jimmy Connors (1253) geschafft. Bei den Australian Open schied Federer bereits in Runde drei gegen Andreas Seppi aus. Im Februar feierte er in Dubai seinen zweiten Turniererfolg der Saison und seinen siebten Sieg bei diesem Turnier, als er im Finale Novak Đoković bezwang. In Indian Wells gelang ihm der Einzug ins Endspiel, das er in drei Sätzen gegen Đoković verlor. Die Sandplatzsaison begann für Federer mit dem Masters in Monte Carlo, wo er die dritte Runde nicht überstand; er verlor gegen Gaël Monfils in zwei Sätzen. Danach gewann er mit einem Finalsieg gegen Pablo Cuevas das Turnier in Istanbul. Es war sein 85. Karrieretitel und sein erster Turniersieg auf Sand seit dem Triumph in Madrid 2012. Bei ebendiesem Turnier scheiterte er, an Position 1 gesetzt, bereits in seiner Auftaktpartie gegen Nick Kyrgios. In Rom erreichte er wie in Indian Wells das Finale gegen Đoković und blieb erneut sieglos. Die French Open endeten für Federer im Viertelfinale. Gegen seinen Landsmann und späteren Turniersieger Stan Wawrinka verlor er die Partie in drei Sätzen. Die Rasensaison eröffnete Federer mit dem Start bei den Gerry Weber Open in Halle. Mit einem Finalsieg über Andreas Seppi hatte er als erst dritter Spieler der Open Era (nach Guillermo Vilas und Rafael Nadal) ein Turnier achtmal gewonnen. Auch in Wimbledon erreichte Federer das Endspiel, seine zehnte Finalteilnahme bei diesem Turnier. In vier Sätzen unterlag er, zum wiederholten Male in dieser Saison, Novak Đoković. Im Finale von Cincinnati revanchierte er sich für diese Niederlage, ehe der Serbe bei den US Open im Finale wieder den Sieg davontrug. Seinen Titel beim Shanghai Masters konnte Federer nicht verteidigen, da er bereits in seiner ersten Partie überraschend dem Spanier Albert Ramos unterlag. Den Titel bei den Swiss Indoors Basel gewann er allerdings erneut, diesmal gegen seinen langjährigen Rivalen Nadal. Es war sein erster Sieg über Nadal seit mehr als drei Jahren. Beim letzten Masters-Turnier 2015 in Paris schied Federer im Achtelfinale gegen John Isner aus. Bei den ATP World Tour Finals 2015 erreichte er das Finale, in dem er erneut Đoković unterlag, den er in der Gruppenphase noch geschlagen hatte. Im Jahr 2016 hatte Federer mit Verletzungen zu kämpfen. Er spielte nur sieben Turniere und blieb dabei erstmals seit 2000 ohne Titelgewinn. Zu Saisonbeginn unterlag er Milos Raonic im Finale von Brisbane, bei den Australian Open wurde er wieder einmal von Đoković geschlagen. Verletzungen zwangen ihn, bis zum Monte-Carlo Masters zu pausieren. Dort spielte er sich bis ins Viertelfinale vor, ehe er von Jo-Wilfried Tsonga geschlagen wurde. Bei seinen nächsten beiden Turnierauftritten in Rom und Stuttgart wurde Federer jeweils vom jungen Österreicher Dominic Thiem bezwungen. Bei den French Open konnte er nicht auftreten, womit er erstmals seit den US Open 1999 ein Grand-Slam-Turnier verpasste. In Halle unterlag er Alexander Zverev im Halbfinale. In Wimbledon scheiterte Federer im Halbfinale an Milos Raonic, nachdem er in der Runde zuvor gegen Marin Čilić einen Zweisatz-Rückstand aufgeholt hatte. Danach sagte er wegen anhaltender Knieprobleme alle weiteren Turniere für 2016 ab. Dies führte dazu, dass er bis zum Jahresende auf Position 16 der Weltrangliste zurückfiel. === Comeback – erster Grand-Slam-Titel seit fünf Jahren und achter Wimbledon-Triumph (2017) === In Australien nutzte Federer lediglich den Hopman Cup als Vorbereitung für das erste Grand-Slam-Turnier des Jahres, wo er mit Belinda Bencic zwei von drei Begegnungen gewann. Bei den Australian Open holte er seinen 18. Grand-Slam-Titel. Nur an Position 17 gesetzt, erreichte er zunächst das Viertelfinale, in dem er Mischa Zverev in drei Sätzen besiegte. Im Halbfinale bezwang er in fünf Sätzen seinen Landsmann Wawrinka, der sich nach den verlorenen ersten beiden Sätzen noch zum Satzausgleich durchgekämpft hatte. Im Finale kam es zu einer erneuten Begegnung mit Dauerrivale Nadal, dem er in Melbourne zuletzt im Finale von 2009 gegenüber gestanden hatte. Für die damalige Niederlage in fünf Sätzen konnte sich Federer, wiederum in fünf Sätzen (6:4, 3:6, 6:1, 3:6, 6:3), revanchieren. Nach einer frühen Niederlage im Achtelfinale der Dubai Championships gegen den Qualifikanten Jewgeni Donskoi gelang Federer bei seinem vierten Turnierstart des Jahres der Sieg bei den Paribas Open in Indian Wells, wo er im Finale Wawrinka in zwei Sätzen bezwang. Damit stand Federer wieder an Position 6 der Weltrangliste. Nach einem engen Halbfinale gegen Nick Kyrgios in drei jeweils im Tiebreak entschiedenen Sätzen holte sich Federer mit dem glatten Zweisatzsieg über Nadal im Finale von Miami diesen Titel und das sogenannte Sunshine-Double bestehend aus Indian Wells und Miami jeweils zum dritten Mal. Dadurch verbesserte sich Federer in der Weltrangliste auf Rang 4. Federer verzichtete auf die Sandplatzsaison und stieg erst zur Rasensaison wieder in den Turnierbetrieb ein. Beim MercedesCup in Stuttgart schied er im Achtelfinale gegen Tommy Haas aus, gewann danach jedoch seinen neunten Titel beim Turnier in Halle im Finale gegen Alexander Zverev, gegen den er im Vorjahr noch im Halbfinale ausgeschieden war. In Wimbledon gewann Federer seinen 19. Grand-Slam-Titel und erreichte zum dritten Mal nach 2006 und 2008 ohne Satzverlust und zum elften Mal insgesamt das Finale, wobei er u. a. fünf Tie-Breaks für sich entscheiden konnte, ohne dabei einen Breakball abwehren zu müssen. Im Finale besiegte er Marin Čilić klar in drei Sätzen (6:3, 6:1, 6:4) und gewann damit das Rasenturnier erstmals ohne Satzverlust. Er überholte damit den Briten William Renshaw und den US-Amerikaner Pete Sampras, die je siebenmal das Einzel-Finale von Wimbledon gewonnen hatten. Mit 35 Jahren und 342 Tagen war Federer der älteste Wimbledon-Finalist seit Ken Rosewall 1974. Mit seinem Finalerfolg ist er ältester Sieger des Turniers in der Open Era.Danach legte er bis zum Masters von Montreal eine kurze Turnierpause ein. Dort verpasste er seinen sechsten Titel im sechsten Finale des Jahres gegen Alexander Zverev in zwei Sätzen. In der Folgewoche hätte er in Cincinnati die Chance gehabt, mit einem Turniersieg an die Spitze der Weltrangliste zurückzukehren, musste aber die Teilnahme wegen Rückenschmerzen absagen. Bei den US Open schied er im Viertelfinale gegen Juan Martín del Potro aus. Dafür gewann er zwei Wochen danach als Mitglied der Europa-Auswahl den 2017 erstmals ausgetragenen Laver Cup und spielte erstmals an der Seite von Rafael Nadal ein Doppel, das die beiden gegen Sam Querrey und Jack Sock mit 6:4, 1:6, [10:5] gewannen; seine Einzelsiege gegen Querrey (6:4, 6:2) und Nick Kyrgios (4:6, 7:6, [11:9]) waren zusätzlich entscheidende Beiträge zum 15:9-Erfolg der Europa-Auswahl. Danach gewann er nacheinander die Turniere von Shanghai und Basel. Zum Saisonabschluss erreichte Federer bei den ATP Finals das Semifinale, wo er sich etwas überraschend David Goffin geschlagen geben musste. Mit insgesamt sieben Turniersiegen aus elf Turnieren war 2017 für Federer das erfolgreichste der letzten zehn Jahre – mehr Titel gewann er nur in den Saisons von 2004 bis 2007. Für Platz Eins der Weltrangliste reichte es aber nicht, da auch Rafael Nadal in diesem Jahr zwei Grand-Slam-Turniere gewann und bei den beiden anderen in Summe mehr Punkte als Federer, der Paris ausgelassen hatte, sammeln konnte. Mehrmals hatte Federer die Chance auf die Nummer Eins, blieb jedoch bei seiner Strategie, nach Turnieren längere Pausen einzulegen und insgesamt weniger Turniere zu spielen. === 20. Grand-Slam-Titel und Rückkehr an die Weltranglistenspitze (2018) === Anfang 2018 konnte Federer bei den Australian Open seinen Titel erfolgreich verteidigen und gewann damit seinen 20. Grand-Slam-Titel, mit seinem sechsten Sieg in Melbourne stellte er den Rekord von Roy Emerson und Novak Đoković ein. Entgegen seiner ursprünglichen Saisonplanung meldete er sich kurz entschlossen bei dem Mitte Februar stattfindenden Turnier von Rotterdam an, da sich ihm die Gelegenheit bot, den zwischenzeitlich verletzten Rafael Nadal von der Weltranglistenspitze zu verdrängen. Dieses Vorhaben gelang mit dem Sieg im Viertelfinale gegen Robin Haase. Im Finale des Turniers schlug er den Weltranglistendritten Grigor Dimitrow glatt in zwei Sätzen 6:2, 6:2. Am 19. Februar 2018, nach einer Unterbrechung von mehr als fünf Jahren, wurde Federer die älteste Nummer 1 der Geschichte. Nachdem er infolge der Finalniederlage gegen Juan Martin del Potro beim Turnier von Indian Wells (4:6, 7:6, 6:7) und der anschliessenden Zweitrundenniederlage gegen Thanasi Kokkinakis beim Turnier von Miami (6:3, 3:6, 6:7) seine Punkte als Vorjahressieger nicht hatte verteidigen können und daher zwischenzeitlich die Weltranglistenführung an Rafael Nadal verloren hatte, schuf er durch den Finaleinzug und den anschliessend gegen Milos Raonic (6:4, 7:6) errungenen ersten Finalsieg beim Turnier von Stuttgart die Voraussetzungen für seine Rückkehr auf den ersten Platz. Davor hatte Federer zum dritten Mal in Folge die Sandplatzsaison ausgelassen. In Halle erreichte er zum zwölften Mal das Finale, dieses verlor er jedoch gegen Borna Ćorić in drei Sätzen mit 6:7, 6:3, 2:6. Bei Wimbledon trat Federer als Titelverteidiger an, unterlag jedoch überraschend im Viertelfinale Kevin Anderson nach über vier Stunden Spielzeit in fünf Sätzen mit 6:2, 7:6, 5:7, 4:6, 11:13. Damit verlor er zum dritten Mal bei einem Grand-Slam-Turnier ein Match nach einer 2:0-Satzführung. In Cincinnati erreichte er das 150. Finale seiner Karriere, verlor dieses aber in zwei Sätzen gegen Novak Đoković, es bedeutete für ihn die erste Finalniederlage in Ohio. Bei den US Open verlor er bereits im Achtelfinale gegen John Millman in vier Sätzen, Federer hatte in diesem Match erhebliche Probleme mit den hohen Temperaturen und der hohen Luftfeuchtigkeit, Millman kam damit besser zurecht. In Shanghai unterlag Federer im Halbfinale Borna Ćorić mit 4:6, 4:6. Da Novak Đoković das Turnier gewann, fiel Federer auf den dritten Rang der Weltrangliste zurück. Bei seinem Heimturnier in Basel gewann er den Titel zum neunten Mal, als er im Finale Marius Copil mit 7:6, 6:4 schlug, dieser Sieg war der 99. Titel seiner Karriere. Beim Masters in Paris verlor er im Halbfinale gegen Novak Đoković knapp in drei Sätzen mit 6:7, 7:5, 6:7. Danach nahm er zum insgesamt 16. Mal an den ATP Finals teil. Zu Beginn verlor er das erste Match gegen Kei Nishikori, gewann aber die nächsten beiden Spiele gegen Dominic Thiem und Kevin Anderson glatt in zwei Sätzen und traf anschliessend im Halbfinale auf Alexander Zverev, dem er 5:7 und 6:7 unterlag. So beendete Federer die Saison auf dem dritten Weltranglistenplatz. === 100. Titel der Karriere (2019) === Zu Beginn der Saison 2019 gewann er mit Belinda Bencic zum dritten Mal den Hopman Cup in Perth. Bei den Australian Open konnte Federer den Titel nicht verteidigen, er scheiterte im Achtelfinale an Stefanos Tsitsipas in vier engen Sätzen, damit riss auch seine Serie von 17 Siegen in Folge in Melbourne. Mit seinem achten Titel in Dubai erreichte er nach Jimmy Connors als zweiter Spieler in der Open Era 100 Turniersiege im Einzel. Im Finale besiegte er Stefanos Tsitsipas in zwei Sätzen. Beim Indian Wells Masters erreichte er zum neunten Mal das Finale, verlor es jedoch in drei Sätzen gegen Dominic Thiem, der seinen ersten Masters-Titel gewann. Am Miami Masters gewann er seinen 101. Titel mit einem Sieg in zwei Sätzen gegen John Isner. Es war sein vierter Titel in Miami sowie in seinem fünfzigsten Finale der 28. Masters-Triumph. Beim Masters in Madrid bestritt er erstmals seit 2016 wieder ein Turnier auf Sand, wo er nach zwei Siegen im Viertelfinale an Dominic Thiem in drei Sätzen scheiterte. Beim anschliessenden Turnier in Rom zog er ebenfalls ins Viertelfinale ein, wo Federer jedoch aufgrund einer Beinverletzung zum Match gegen Stefanos Tsitsipas nicht antrat. Danach trat er erstmals seit 2015 wieder bei den French Open an, er erreichte dort nach sieben Jahren wieder das Halbfinale, das Federer klar in drei Sätzen gegen den späteren Sieger Rafael Nadal verlor. Das Turnier in Halle gewann er nach einem Zweisatzsieg gegen David Goffin zum zehnten Mal, damit ist er nach Nadal der zweite Spieler in der Open Era, der die Anzahl von jeweils zehn Siegen bei einem Turnier erreicht. In Wimbledon erreichte Federer zum zwölften Mal das Finale, er verlor es jedoch bereits zum dritten Mal gegen Novak Đoković in fünf Sätzen mit 6:7, 6:1, 6:7, 6:4, 12:13. Mit einer Spielzeit von 4 Stunden und 57 Minuten war es das längste Wimbledon-Finale der Geschichte, zudem wurde zum ersten Mal der Tiebreak im Entscheidungssatz in einem Einzel ausgespielt. Zuvor erreichte er mit dem Erfolg im Viertelfinale gegen Kei Nishikori seinen 100. Sieg in Wimbledon, was davor noch keinem anderen Spieler gelungen war. Bei den US Open scheiterte er im Viertelfinale in fünf Sätzen an Grigor Dimitrow. In Basel gewann er ohne Satzverlust seinen zehnten Titel bei diesem Turnier, er siegte dort zum dritten Mal in Serie. Bei den ATP Finals erreichte er zum insgesamt 16. Mal das Halbfinale, unterlag dort aber Stefanos Tsitsipas in zwei Sätzen. Zuvor konnte er in der Gruppenphase Novak Đoković erstmals seit 2015 wieder besiegen. Er beendete die Saison erneut auf dem dritten Platz der Rangliste. === Verletzungsprobleme am Knie und Karriereende (2020–2022) === 2020 erreichte Federer sein 15. Halbfinale bei den Australian Open, wo er Đoković klar in drei Sätzen unterlag. In der dritten Runde gewann er zuvor gegen John Millman sein 100. Match bei diesem Turnier. Am 20. Februar 2020 gab Federer bekannt, dass er sich einen Tag zuvor einer Operation im rechten Knie unterzogen hatte. Er sagte daraufhin seine Teilnahme an allen Turnieren bis inklusive der French Open ab und plante sein Comeback für die Rasensaison im Juni. Im Sommer musste er sich jedoch erneut am gleichen Knie operieren lassen, was das Saisonende bedeutete. In Abwesenheit von Federer egalisierte Rafael Nadal mit seinem 20. Grand-Slam-Sieg bei den durch die COVID-19-Pandemie verschobenen French Open 2020 dessen Rekordmarke. Im März 2021 gab Federer in Doha nach 14 Monaten Pause sein Comeback. Nach einem Sieg im ersten Match über Daniel Evans scheiterte er in der nächsten Runde an Nikolos Bassilaschwili. Bei den French Open zog er ins Achtelfinale ein, trat dort jedoch gegen Matteo Berrettini nicht an, um sich für die bevorstehende Rasensaison zu schonen. In Wimbledon konnte Federer sein 18. Viertelfinale bei diesem Turnier erreichen, das er gegen Hubert Hurkacz überraschend klar mit 4:6, 6:7, 0:6 verlor. Es war seine erste Dreisatzniederlage in London seit 2002. Nach diesem Turnier unterzog er sich einer weiteren Knieoperation, damit beendete er die Saison vorzeitig.Am 23. September 2022 bestritt Federer das letzte offizielle Spiel seiner Karriere: Beim Laver Cup in London trat er im Doppel für Team Europe zusammen mit Rafael Nadal gegen die US-Amerikaner Jack Sock und Frances Tiafoe an. Federer und Nadal unterlagen 6:4, 6:7 (2:7), [9:11]. === Davis Cup === Roger Federer kann eine Bilanz von 52 Siegen und 20 Niederlagen bei 26 Davis-Cup-Partien vorweisen (40:8 im Einzel und 12:10 im Doppel). Dabei ist er seit 1999 regelmässiges Mitglied der Schweizer Mannschaft und führte sein Land 2014 zum Titelgewinn sowie 2003 ins Halbfinale des Wettbewerbs. In den Jahren 1999, 2001 und 2004 erreichte Federer mit dem Schweizer Team das Viertelfinale des Wettbewerbs. Seit der Saison 2005 konzentrierte sich Federer massgeblich auf seine Einzelkarriere und nahm an den Erstrundenpartien seines Landes in den Jahren 2005 bis 2007 nicht teil, worauf die Schweiz jeweils in der ersten Runde scheiterte. Anschliessend nahm Federer allerdings an der Qualifikationsrunde teil, um den Abstieg seines Landes aus der Weltgruppe zu verhindern. Während dies 2005 und 2006 gelang, unterlag die Schweiz 2007 in der Relegation, trotz zweier Erfolge Federers im Einzel, gegen die Tschechische Republik mit 2:3 und war damit 2008 erstmals seit 16 Jahren nicht mehr in der Weltgruppe vertreten. Im September 2008 schaffte das Schweizer Team mit Federer und Wawrinka mit einem Sieg gegen Belgien den sofortigen Wiederaufstieg in die Weltgruppe. Nachdem Federer 2009 erneut die Erstrundenpartie der Schweiz ausgelassen hatte, in der das Team den USA unterlag, war er im September in der Relegation gegen Italien wieder Teil der Mannschaft. Mit zwei Einzelsiegen trug Federer dazu bei, den erneuten Abstieg aus der Weltgruppe zu verhindern. 2010 spielte Federer keine Davis-Cup-Partie, worauf die Schweizer Mannschaft nach 2007 erneut in die Europagruppe abstieg. 2011 nahm Federer an der Partie der Schweiz gegen Portugal in der Europagruppe teil und trug mit zwei Siegen im Einzel dazu bei, dass sich die Eidgenossen für die Aufstiegsrunde in die Weltgruppe qualifizierten. Hier siegte die Schweiz mit 3:2 gegen Australien, wozu Federer erneut zwei Einzelsiege beisteuerte, und stieg dadurch in die Weltgruppe auf. Im Februar 2012 nahm Federer mit der Begegnung gegen die USA erstmals seit 2004 wieder an einer Erstrundenpartie der Schweiz teil. Dabei unterlag er sowohl in seinem Auftakteinzel als auch im Doppel an der Seite von Wawrinka seinen Konkurrenten, wodurch die Schweiz bereits nach dem Doppel als Verlierer der Begegnung feststand. Mit zwei Einzelsiegen verhalf Federer dem Team im September 2012 in der Relegationspartie gegen die Niederlande jedoch zum Verbleib in der Weltgruppe. 2014 war Federer nach einjähriger Pause wieder Teil der Schweizer Mannschaft und verhalf ihr in der ersten Runde gegen Serbien mit einem sowie im Viertelfinale gegen Kasachstan mit zwei Einzelsiegen jeweils zum Erreichen der nächsten Runde. Im Halbfinale gegen Italien steuerte er zwei Einzelerfolge zum Sieg der Mannschaft bei, womit die Schweiz nach 1992 zum zweiten Mal in ihrer Davis-Cup-Geschichte das Finale des Wettbewerbs erreichte. Im Endspiel gegen Frankreich verlor Federer zunächst sein Auftakteinzel gegen Gaël Monfils in drei Sätzen, gewann aber anschliessend sowohl das Doppel an der Seite von Wawrinka, der sein Auftaktmatch im Einzel zuvor gewonnen hatte, als auch sein zweites Einzel gegen Richard Gasquet, womit die Schweizer Mannschaft vorzeitig als Davis-Cup-Sieger feststand. Mit 52 Siegen liegt Federer in der Ewigen Rangliste seines Landes auf dem ersten Platz. Dabei ist seine Gewinnquote die mit Abstand erfolgreichste der Spieler mit mehr als 20 Einsätzen. === International Premier Tennis League (IPTL) === Roger Federer spielte als einer der Top-Stars bei der neu gegründeten International Premier Tennis League mit und trat bei diesem neuen Format in Asien im Team der Indian Aces an. Mit seinen Teamkollegen Gaël Monfils, Ana Ivanović, Sania Mirza, Rohan Bopanna und den ehemaligen Spielern Fabrice Santoro und Pete Sampras gewann er am 13. Dezember 2014 den erstmals vergebenen Titel. === Schaukämpfe === Unmittelbar nach dem Tennis Masters Cup trat Federer am 21. November 2006 in einem Schaukampf in Seoul gegen Rafael Nadal an. Dabei setzte sich Federer mit 6:3, 3:6 und 6:3 gegen den Mallorquiner durch. Im Mai 2007 traf Federer in Palma im «Battle of Surfaces» erneut auf Rafael Nadal. Vor 7000 Zuschauern duellierten sich die beiden auf einem Platz mit unterschiedlichen Belägen. Auf einer Netzseite der Lieblingscourt des Schweizers, Rasen, auf der anderen der von Nadal bevorzugte Sand. In der ausverkauften Palma-Arena siegte Nadal mit 7:5, 4:6 und 7:6 (12:10). Eine viel beachtete Schaukampfserie bestritt Federer im November 2007, als er in drei Exhibitions gegen Pete Sampras antrat. Gewann der Schweizer die Auftaktpartie in Seoul noch mühelos mit 6:3 und 6:4, leistete Sampras bei Aufeinandertreffen Nummer zwei in Kuala Lumpur mehr Widerstand und zwang Federer zwei Mal in den Tie-Break. Federer setzte sich dabei mit 7:6 (8:6) und 7:6 (7:5) durch. Erst im letzten Duell in Macau verlor Federer gegen den zehn Jahre älteren Amerikaner mit 6:7 (8:10) und 4:6. Am 10. März 2008 bezwang Federer bei einem erneuten Aufeinandertreffen mit Sampras den Amerikaner in drei Sätzen mit 6:3, 6:7 (4:7) und 7:6 (8:6). Die Partie wurde vor 19'000 Zuschauern im New Yorker Madison Square Garden ausgetragen. Federer nahm am 18. November 2008 an dem Showdown of Champions teil. Im ersten Spiel besiegte er James Blake 7:6. Im anschliessenden Doppel verlor er mit Björn Borg gegen John McEnroe und James Blake 5:7. Im März 2010 bestritt Federer gemeinsam mit Sampras ein Schaudoppel in Indian Wells gegen Rafael Nadal und Andre Agassi zugunsten der Erdbebenopfer von Haiti. Federer/Sampras entschieden das «Hit for Haiti» getaufte Event 8:6 für sich. Am 21. bzw. 22. Dezember 2010 trugen Federer und Nadal zwei Schauduelle aus, das erste in Zürich, das zweite in Madrid. Gespielt wurde auf je zwei gewonnene Sätze. Die Einnahmen flossen an die jeweiligen Wohltätigkeitsfonds der beiden Rivalen. Bei seinem «Match for Africa» nutzte Federer den Heimvorteil und bezwang Nadal in Zürich mit 4:6, 6:3 und 6:3, unterlag Nadal in Madrid jedoch mit 7:6 (7:3), 3:6 und 1:6. Vier Jahre später, am 21. Dezember 2014, kam es im Zürcher Hallenstadion zu einer Neuauflage des «Match for Africa», diesmal gegen Stan Wawrinka. Federer gewann das Duell gegen seinen Davis-Cup-Partner mit 7:6, 6:4.Am 12. Januar 2015 bestritt Federer gegen Lleyton Hewitt in Sydney das erste grosse öffentliche Spiel im Fast4-Format. Federer gewann 4:3 (5:3), 2:4, 3:4 (3:5) 4:0, 4:2.Im November 2019 reiste Federer innerhalb von sieben Tagen in fünf Länder Lateinamerikas (Argentinien, Chile, Kolumbien, Mexiko und Ecuador), wo er jeweils ein Match gegen den Deutschen Alexander Zverev bestritt – die Spieler teilen ihre Managementfirma. Wegen sozialer Unruhen und einer Ausgangssperre wurde das Spiel in Kolumbiens Hauptstadt Bogotà abgesagt. Für die fünf Spiele erhielt Federer geschätzte 10 Millionen Dollar Gage. In Mexiko-Stadt spielten Federer und Zverev vor 41'157 in der «Plaza de Toros», einer Stierkampfarena. Sie stellten damit einen neuen Zuschauerweltrekord für eine Tennispartie auf. Für seine Reise in von sozialen Unruhen geplagte Länder wurde Federer zum Teil stark kritisiert. === Trainer === 1989–1994: Adolf Kacovský (Schweiz, heute Tschechien) hatte in Federers Kindheit massgeblichen Einfluss auf dessen Spiel. Als Trainer des Tennisclubs TC Old Boys Basel arbeitete Kacovský bis zu Federers Wechsel nach Ecublens 1995 mit ihm zusammen. 1991–1995, 1997–2000: Peter Carter (Australien) betreute Federer ebenfalls während seiner Zeit bei den Old Boys Basel. Nach Federers Wechsel auf die internationale Tour wurde Carter sein Verbandstrainer. Auch nach der Trennung vom Verband blieb Carter weiterhin ein enger Berater von Federer. 1995–1997: Die Jahre 1995–1997 verbrachte Federer im nationalen Schweizer Trainingszentrum von Ecublens, wo er vom Verband für den Einstieg auf die internationale Juniorentour gefördert wurde. 2000–2003: Peter Lundgren (Schweden) betreute Federer teilweise schon vor 2000 als Verbandstrainer und wurde nach der Trennung vom Verband der private Trainer des Schweizers. Nach der Saison 2003 folgte die Trennung. 2004: Das Jahr 2004 bestritt Federer ohne Trainer. 2005–2007: Tony Roche (Australien) betreute Federer als Teilzeitcoach bei wichtigen Turnieren von 2005 bis 2007. Im Mai 2007 erfolgte die Trennung. Den Rest des Jahres absolvierte Federer trainerlos. 2008: Im April verpflichtete Roger Federer zur Vorbereitung auf die Sandplatzsaison vorübergehend den damals 55-jährigen Spanier José Higueras. Die Zusammenarbeit wurde bis zu den US Open 2008 fortgesetzt. Ab Herbst 2008 arbeitete Federer wieder ohne Trainer. 2010–2013: Federer beschäftigte im August Paul Annacone (USA) als Trainer. Nach Federers Ausscheiden beim Shanghai Masters 2013 wurde die Zusammenarbeit beendet. 2014–2015: Federers «Kindheitsidol» Stefan Edberg (Schweden) war neben Severin Lüthi, der ihn seit 2007 auf der Tour begleitet, Co-Trainer. Anfang Dezember 2015 gab Federer die Trennung von Edberg bekannt. 2016–2022: Von Januar 2016 bis zu seinem Karriereende im September 2022 wurde Federer neben Lüthi von Ivan Ljubičić (Kroatien) als Co-Trainer unterstützt, der von 2013 bis 2015 schon den kanadischen Tennisprofi Milos Raonic betreut hatte. === Ausrüster === Federer hatte den grössten Teil seiner Karriere für seine Schuhe und die Bekleidung einen Vertrag mit Nike. Nach dem Turnier von Wimbledon 2008 machte Nike ihn zu einem personalisierten Werbeträger mit eigenem Logo. Zum Juli 2018 spielte Federer erstmals in Kleidern seines neuen japanischen Sponsors Uniqlo. == Spielstil == Roger Federer gilt als der vielseitigste Spieler im heutigen Tennis und auch als einer der besten Allrounder in der Geschichte des Profitennis. So wurde der Schweizer vom amerikanischen Tennis Magazine 2007 anlässlich einer Auflistung der besten Spieler in bestimmten Bereichen des Tennisspiels in insgesamt sieben von elf Kategorien zu den besten Spielern der heutigen Tennisgeneration gezählt. In vier Bereichen wurde er darüber hinaus zu den besten Spielern in der Tennisgeschichte gezählt. Dieses vielseitige und variantenreiche Spiel ermöglichte es Federer nicht nur, auf den unterschiedlichen Platzbelägen erfolgreich zu sein, sondern machte ihn auch zum dominierenden Spieler seiner Generation. So setzte sich sein Allroundspiel gegen eher einseitig veranlagte Spielertypen seiner Generation wie Andy Roddick (Aufschlag) oder auch Lleyton Hewitt (Beinarbeit und Returnspiel) durch. Zu erwähnen ist allerdings auch, dass die kontinuierliche Vereinheitlichung der Platzbeläge einen entscheidenden Vorteil für die Spielweise von Allroundspielern bietet. In der Grundanlage gehört Federer zum im heutigen Profitennis vorherrschenden Spielertyp, der im Wesentlichen von der Grundlinie des Platzes agiert. Zwar hat Federer gerade in den Jahren unter seinem Trainer Tony Roche auch an seinem Netzspiel gearbeitet, dennoch erzielt er den Grossteil seiner Punktgewinne durch Schläge von der Grundlinie. Als spektakulärster und dabei auch erfolgreichster Schlag in Federers Spiel gilt die Vorhand, die vom Tennis Magazine als beste Vorhand in der Geschichte des Sportes bezeichnet wird. Das Geheimnis seiner Vorhand liegt laut Experte Skidelsky in seiner Schlägerhaltung, dem modifizierten Easterngriff, der ihm erlaubt, jeden Ball zu spielen. Wegen ihrer Schnelligkeit, Genauigkeit und Zuverlässigkeit setzt Federer seine Vorhand meist ein, um einen Ballwechsel direkt zu beenden oder den Gegner zu einem entscheidenden Fehler zu zwingen. Im Vergleich zum Vorhandschlag wird die Rückhand von Federer als schwächere Seite angesehen. Seine Rückhand setzt Federer massgeblich zur Vorbereitung eines Gewinnschlages ein. So arbeitet Federer speziell bei Returnspielen häufig mit dem Rückhandslice, um den Gegner in eine defensive Situation zu zwingen. Federer zum Spiel mit der Rückhand zu zwingen, gilt als eine der bewährtesten Taktiken, um den Schweizer in Bedrängnis zu bringen. Hochabspringende Schläge auf die Rückhand waren dementsprechend auch einer von fünf möglichen Wegen, um Federer zu schlagen, die das Time Magazine im Jahr 2007 nach Interviews mit diversen Tennisexperten und Spielern vorschlug.Obwohl die starke Vorhand von Federer in Beschreibungen seines Spielstils meist den grössten Raum einnimmt, gelten auch sein Defensivspiel und speziell seine Beinarbeit und Bewegung auf dem Platz als wichtiger Faktor für seinen Erfolg. So bezeichnete das Tennis Magazine ebenfalls die Beinarbeit von Federer als beste in der Geschichte des Sportes. Als entscheidende Person für die Entwicklung der Bewegungsabläufe von Federer auf dem Tennisplatz gilt der Konditionstrainer Pierre Paganini, mit dem der Schweizer seit Ende der Saison 2000 zusammenarbeitet. Paganini trainiert mit Federer massgeblich in den Bereichen Athletik, Beinarbeit und Krafttraining. Die gezielte Arbeit in diesen Bereichen ermöglicht Federer besondere Schnelligkeit auf kurzen Laufwegen, so dass er gegnerische Schläge schneller als die meisten anderen Spieler erlaufen und mit wesentlich überlegteren Rückschlägen erwidern kann. Dies öffnet dem Schweizer die Möglichkeit, aus teilweise sehr starker Bedrängnis wieder selbst die Offensive zu ergreifen oder auch direkte Punktgewinne zu erzielen. Andere Bereiche im Spiel von Roger Federer werden in den meisten Analysen eher nebensächlich erwähnt. So gilt der Aufschlag des Schweizers nicht als eine seiner grössten Stärken, jedoch besitzt Federer einen der variabelsten Aufschläge auf der ATP Tour. Tatsächlich schlägt Federer deutlich weniger Asse und Service Winners als die besten Aufschläger im heutigen Tennis. Dennoch erreichte Federer gerade in diesem Bereich eine deutliche Verbesserung in den letzten Jahren. So steigerte er seine durchschnittliche Anzahl an Assen pro Spiel in den letzten Jahren kontinuierlich. Zudem liegt Federer seit dem Jahr 2002 mit rund 77 % an gewonnenen Punkten bei ersten Aufschlägen unter den besten zehn Spielern in dieser Statistik für das jeweilige Jahr.Wenngleich das Netzspiel im Welttennis in den letzten Jahren an Bedeutung verloren hat, nutzt Federer das Spiel am Netz nicht nur regelmässig auf schnellen Belägen, um gute Aufschläge direkt zu verwerten, sondern öfters auch auf langsamen Belägen wie Sand, um laufintensive Grundlinienduelle abzukürzen. Gerade im historischen Vergleich gilt Federer aber nicht als einer der besten Volleyspieler. Das Tennis Magazine nannte Federer zwar bei den besten aktuellen Spielern in diesem Bereich, gerade bei seinen zahlreichen Sandplatzduellen gegen Rafael Nadal wurde Federer am Netz aber regelmässig vom Spanier passiert. Auch die typischen Sandplatzschläge wie Stopp- oder Lobbälle gehörten lange nicht zum häufig frequentierten Schlagrepertoire des Schweizers. Jedoch steigerte sich Federer auch bei diesen Schlägen stetig. So band er auf dem Weg zu seinem French-Open-Sieg 2009 und im weiteren Saisonverlauf vor allem den Stoppball regelmässig und effektiv in sein Spiel ein.Neben der reinen Ebene der Spielfähigkeiten ist auch der mentale Bereich, gerade bei Grand-Slam-Turnieren, ein entscheidender Faktor im Tennissport. Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang, dass Federer, der in jungen Jahren als sehr lautstarker und hitzköpfiger Spieler galt, sein Auftreten auf dem Platz schon früh in seiner Profikarriere stark gewandelt hat. Selbst in engen Spielsituationen zeigt Federer selten Emotionen und erlaubt seinen Kontrahenten so kaum eine Einschätzung seiner tatsächlichen Verfassung. Zudem ist Federer dafür bekannt, in entscheidenden Situationen sein bestes Tennis abzurufen. Belege dafür sind seine starke Tie-Break-Bilanz (Federer liegt mit rund 66 % gewonnener Tie-Breaks auf Platz 1 der Statistik der Spieler mit mehr als 100 absolvierten Tie-Breaks) und die Prozentzahl an abgewehrten Breakchancen (hier lag Federer in der Saison 2006 mit 70 % auf Platz 1 der ATP-Spieler).Alle diese Spielfähigkeiten von Federer, gepaart mit seiner nahezu beispiellosen Erfolgsquote in den letzten Jahren, haben dazu geführt, dass zahlreiche Spieler ihre Partien gegen Federer schon vor der eigentlichen Austragung als verloren abhaken. Dies ist eine Beobachtung, die auch das Time Magazine im Artikel über die Wege, Federer zu schlagen, thematisierte. So meint David Nalbandian, der insgesamt acht Duelle gegen Federer für sich entschied, dass viele Spieler bessere Chancen gegen Federer hätten, wenn sie mit einer anderen Motivation in die Spiele gegen den Schweizer gehen würden. 2015 erregte Federer mit einer neuen Rückschlagtechnik Aufmerksamkeit in der Tenniswelt, bei der er den Ball nach dem gegnerischen Aufschlag möglichst früh retourniert, um dem Gegenspieler damit weniger Zeit für dessen nächsten Schlag zu gewähren. Der Schlag wurde unter dem Begriff Sabr (Sneak Attack by Roger) bekannt. == Ehrungen & Auszeichnungen == Federer wurde vom Welttennisverband ITF zum Spieler der Jahre 2004, 2005, 2006, 2007 und 2009 ernannt. Zudem wurde er fünfmal zum Laureus-Weltsportler des Jahres (2005, 2006, 2007, 2008 und 2018) gewählt und gewann fünfmal die PAP-Wahl zu Europas Sportler des Jahres sowie sechsmal den gleichnamigen Titel der Vereinigung der europäischen Sportjournalisten (UEPS), was vor ihm noch keinem Sportler gelungen ist. Viermal wurde er von der französischen Sportzeitung L’Équipe zum internationalen «Champion des champions» (2005, 2006, 2007, 2017) gekürt. In den gleichen Jahren setzte er sich bei der Wahl der italienischen Sportzeitung La Gazzetta dello Sport zum Weltsportler des Jahres durch. Zudem wurde Federer viermal zur BBC Overseas Sports Personality of the Year gewählt (2004, 2006, 2007, 2017) und erhielt insgesamt zehn ESPY Awards, wovon er neunmal zum besten Tennisspieler gewählt wurde (2005–2010, 2017–2019). 2018 erhielt er bei den Laureus Awards die Auszeichnung für das Comeback des Jahres, damit ist er mit insgesamt sechs Auszeichnungen Rekordhalter bei den Laureus World Sports Awards. Bei den ATP Awards wurde Federer zwischen 2003 und 2021 jeweils bei einer Internetwahl als Fans’ Favourite gewählt. Zudem wurde Federer insgesamt 13-mal der Stefan Edberg Sportsmanship Award zugesprochen, eine Auszeichnung für Fairness und vorbildliches Auftreten sowohl auf als auch neben dem Platz. Am Ende des Jahres 2017 wurde Federer bei den ATP Awards mit der Auszeichnung Comeback Player of the Year geehrt.In seinem Heimatland wurde Federer siebenmal zum Schweizer Sportler des Jahres (2003, 2004, 2006, 2007, 2012, 2014, 2017) gewählt. Darüber hinaus gewann er 2008 mit Stan Wawrinka und 2014 mit dem Davis-Cup-Team (gemeinsam mit Wawrinka, Michael Lammer und Marco Chiudinelli) in der Wertung Team des Jahres. 2003 wurde er Schweizer des Jahres. 2020 wurde er zum besten Schweizer Sportler der letzten 70 Jahre gewählt. Im Jahr 2022 wurde Federer an den Schweizer «Sports Awards» der Ehrenpreis für seine Karriere zugesprochen, welcher letztmals 2009 vergeben wurde.Im Jahr 2009 wurde Federer in Basel zum «Ehrespalebärglemer» ernannt.Die Schweizerische Post widmete Federer 2007 als erster lebender Persönlichkeit eine Sonderbriefmarke. Die Österreichische Post gab im September 2009 bekannt, Federer im Jahr 2010 ebenfalls durch die Veröffentlichung einer Sonderbriefmarke ehren zu wollen.Auf Vorschlag des Direktors des Turniers von Halle, Ralf Weber, wurde anlässlich der Gerry Weber Open 2012 ein Teil der Haller Weststraße in Roger-Federer-Allee umbenannt. Am 21. April 2016 wurde in Biel eine neue Strasse nach ihm als Roger-Federer-Allee benannt.Am 24. November 2017 wurde bekannt, dass die Universität Basel Roger Federer die Ehrendoktorwürde verliehen hat. Die Medizinische Fakultät würdigt damit seinen Beitrag, den Ruf von Basel und der Schweiz international zu mehren. Der gebürtige Basler habe eine Vorbildfunktion als Sportler, «in der er viele Menschen weltweit zu mehr Bewegung animiert und so einen wichtigen Beitrag zur Gesundheitsförderung leistet»Die Patrouille Suisse, die Kunstflugstaffel der Schweizer Luftwaffe, fliegt bei Vorführungen eine Formationsfigur «Roger Federer», bei der die sechs F5-Tiger im Vorbeiflug in der Form eines Tennisrackets positioniert sind.Die Basler Verkehrs-Betriebe widmeten Roger Federer im Jahr 2021 ein Tram namens Federer-Express, mit Fotos von ihm geschmückt, das er persönlich einweihte. == Rekorde == === Grand-Slam-Turniere === Roger Federer hält die Rekorde für die meisten erreichten Grand-Slam-Halbfinals (46) und -Viertelfinals (58). Mit 20 Grand-Slam-Titeln liegt er derzeit auf dem dritten Platz hinter Novak Đoković und Rafael Nadal (je 22). Zwischen 2009 und 2022 hielt er den Rekord für die meisten gewonnenen Titel im Einzel. Federer ist einer von acht Spielern, die in ihrer Karriere bei allen vier Grand-Slam-Turnieren siegreich waren. Neben Andre Agassi, Rafael Nadal und Novak Đoković ist er dabei der einzige Spieler, der diese Turniere auf drei verschiedenen Platzbelägen gewann. Er gewann dreimal in seiner Karriere drei Grand-Slam-Turniere in einer Saison (2004, 2006, 2007), genauso wie Đoković, allerdings schaffte dies Federer als Einziger in zwei aufeinanderfolgenden Jahren. 2007 gelang es ihm als Erstem, die drei Titel aus dem Vorjahr zu verteidigen (Australian Open, Wimbledon & US Open). Federer ist der erste Spieler, der drei verschiedene Grand-Slam-Turniere mindestens fünfmal gewann (Australian Open sechsmal, US Open fünfmal und Wimbledon achtmal). Zudem ist der Schweizer der einzige Spieler, der zwei unterschiedliche Grand-Slam-Turniere jeweils fünfmal in Serie gewann (Wimbledon 2003–2007, US Open 2004–2008). Federer hält den Rekord für die meisten Jahre (6) mit mindestens zwei Grand-Slam-Siegen im Saisonverlauf (2004–2007, 2009, 2017). Đoković und Nadal konnten diesen Rekord egalisieren, doch Federer erreichte das in vier Saisons in Serie. Federer stand in 15 Saisons mindestens an einem Grand-Slam-Turnier im Finale (2003–2012, 2014, 2015, 2017–2019), was ebenfalls einen Rekord bedeutet. Der Schweizer hält die Rekorde für die meisten aufeinanderfolgenden Viertelfinal- (36, Wimbledon 2004 bis French Open 2013) und Halbfinalteilnahmen (23, Wimbledon 2004 bis Australian Open 2010) bei Turnieren dieser Kategorie. Dabei zog er zehnmal in Folge (Wimbledon 2005 bis US Open 2007) auch ins jeweilige Finale ein, womit Federer der einzige Spieler ist, dem es gelang, in zwei aufeinanderfolgenden Jahren (2006 und 2007) alle vier Grand-Slam-Finals zu erreichen. Dazu stand er zwischen Wimbledon 2005 und den Australian Open 2010 in 18 von 19 möglichen Endspielen, nur bei den Australian Open 2008 verpasste er den Finaleinzug. Zwischen Wimbledon 2003 und den Australian Open 2010 konnte er 25 Viertelfinals hintereinander für sich entscheiden. Federer ist der einzige Spieler, der in drei Saisons alle vier Grand-Slam-Finals erreichte (2006, 2007, 2009). Bei den Australian Open 2007 wurde Federer zum ersten Spieler seit Björn Borg in Paris 1980, der ein Grand-Slam-Turnier ohne Satzverlust gewann. Durch den Gewinn der ersten vier Runden bei den darauffolgenden French Open ohne Satzverlust stellte er John McEnroes Rekord aus dem Jahr 1984 für elf gewonnene Partien in Folge ohne Satzverlust bei Grand-Slam-Turnieren ein. Dabei stellte er mit 36 gewonnenen Grand-Slam-Sätzen in Folge einen weiteren Rekord auf. Im Jahr 2017 gelang ihm in Wimbledon erneut ein Turniersieg ohne Satzverlust bei einem Grand-Slam-Turnier. Mit seinem Erstrundensieg über Tobias Kamke bei den French Open 2012 stellte Federer den von Jimmy Connors gehaltenen Rekord für die meisten Matchgewinne bei Grand-Slam-Turnieren ein (233). Mit dem anschliessenden Zweitrundensieg über Adrian Ungur wurde er mit 234 Siegen zum alleinigen Rekordhalter. Anschließend baute Federer den Rekord auf 369 Siege aus. Im Finale von Wimbledon 2009 (5:7, 7:6, 7:6, 3:6, 16:14) stellten Federer und Roddick gleich mehrere weitere Rekorde auf: grösste Anzahl von Spielen in einem Grand-Slam-Finale (77) und die grösste Anzahl von Spielen im Schlusssatz eines Grand-Slam-Finales (30). Zudem erzielte Federer mehr Asse als je ein Spieler in einem Grand-Slam-Finale zuvor (50). Seit Januar 2020 ist Roger Federer der einzige Spieler, der bei zwei unterschiedlichen Turnieren (Wimbledon & Australian Open) mindestens 100 Matches gewann. Federer ist auch der einzige Tennisspieler, der bei seinen ersten sieben Finalteilnahmen an Grand-Slam-Turnieren jedes Mal den Titel gewann. Federer war zwischen Paris 2004 und Wimbledon 2008 18 Mal in Folge an einem Grand-Slam-Turnier als Nummer 1 gesetzt. Federer ist seit 2017 ältester Sieger des Grand-Slam-Turniers von Wimbledon in der Open Era. Er ist damit der zweitälteste Sieger eines Grand-Slam-Turniers in der Open Era nach Ken Rosewall, der 1972 die Australian Open im Alter von 37 Jahren gewann. Er war 2017 mit 35 Jahren der älteste Spieler, der mehr als ein Grand-Slam-Turnier im Jahr gewonnen hat. Mit acht Einzeltiteln in Wimbledon (2003–2007, 2009, 2012, 2017) ist er bei diesem Turnier alleiniger Rekordhalter. === ATP Finals und Vorgängerveranstaltungen === Federer hält gemeinsam mit Đoković mit sechs Erfolgen den Rekord für die meisten Turniersiege beim Saisonabschlussturnier. Er ist zudem Rekordhalter für die meisten erreichten Finals (10) und Halbfinals (16). Federer qualifizierte sich 14 Mal hintereinander für das Saisonabschlussturnier (2002–2015), was ebenfalls ein Rekord bedeutet. Zudem hält er den Rekord für die meisten Teilnahmen insgesamt (17). Am 6. November 2012 gewann Federer sein 40. Match bei Saisonabschlussturnieren und übertraf damit die bisherige Bestmarke von Ivan Lendl. Federer baute diesen Rekord mittlerweile auf 59 Siege aus. 2005 war er der erste Spieler, der in einem Spiel beim Tennis Masters Cup seinen Gegner mit dem Resultat von 6:0 und 6:0 bezwang. Der Gegner war Gastón Gaudio im Halbfinale des Turniers. Federer gewann das Turnier als Einziger fünfmal ohne Niederlage im Round-Robin-Modus. === ATP Tour Masters 1000 === In der 1990 eingeführten Turnierserie hielt Federer ebenfalls wichtige Rekorde. In den Jahren 2012 und 2013 hatte er kurzzeitig gemeinsam mit Nadal den Rekord für die meisten Turniersiege bei Turnieren der Masters-Serie; inzwischen liegt er mit 28 Turniersiegen hinter Novak Đoković (38 Siege) und Nadal (36) an dritter Stelle in dieser Wertung. Federer gewann 2005 als erster Spieler überhaupt vier Turniere dieser Kategorie in einer Saison. Dies gelang ihm in der darauffolgenden Saison erneut. Diese Marke wurde später im Jahr 2005 von Rafael Nadal ebenfalls erreicht und 2011 von Novak Đoković und 2013 von Rafael Nadal mit fünf Erfolgen und 2015 von Đoković gar mit sechs Erfolgen in einem Jahr überboten. Federer hielt den Rekord für die meisten Finalteilnahmen in einer Saison (6; 2006). Diesen Rekord hielt der Schweizer gemeinsam mit Novak Đoković, dem dies in der Saison 2011 ebenfalls gelang, sowie Rafael Nadal (2013). In der Saison 2015 verbesserte Đoković den Rekord auf acht Finalteilnahmen. Neben den acht verschiedenen Turnieren, die Federer gewann, gelang es ihm zudem, bei zwei weiteren Turnieren dieser Kategorie (Monte Carlo, Rom) das Finale zu erreichen. Diese Teilnahme an den Endspielen von zehn unterschiedlichen Masters-Turnieren, darunter allen neun des aktuellen Tour-Kalenders, stellt ebenfalls einen Rekord dar. Diesen Rekord hält Federer gemeinsam mit Rafael Nadal. Beide haben in allen Turnieren der Masters-Serie das Finale erreicht mit Ausnahme des Stuttgart Masters, das nur bis 2001 ausgetragen wurde. Das Double aus den Turnieren in Indian Wells und Miami gewann Federer als erster Spieler zweimal hintereinander (2005 und 2006). Novak Đoković gelang dies in den Jahren 2014, 2015 und 2016 sogar dreimal. Bei den vier nordamerikanischen Turnieren (Indian Wells, Miami, Kanada und Cincinnati) trug sich Federer als dritter Spieler nach Andre Agassi und Michael Chang in jede der vier Siegerlisten mindestens einmal ein. Er und Đoković gewannen als Einzige jedes dieser Turniere mehr als einmal. 2005 gewann er als bislang Einziger die Turniere von Indian Wells, Miami und Cincinnati in einer Saison. Beim Turnier von Cincinnati 2012 wurde Federer zum ersten Spieler in der Geschichte der Turnierserie, der ein Turnier ohne Satz- und eigenen Aufschlagverlust gewann, in Cincinnati 2015 gelang es ihm als bisher Einzigem ein zweites Mal. Beim Turnier in Cincinnati 2014 überbot Federer als erster Spieler die Marke von 300 Siegen bei Turnieren dieser Kategorie. Roger Federer gewann 2019 mit 37 Jahren und 7 Monaten das Miami Masters. Damit war er der älteste Spieler, der ein Turnier der Masters-Turnierserie gewann. === Weltrangliste === Sowohl in der Weltrangliste als auch im ATP Champions Race hielt bzw. hält Federer zahlreiche Rekorde. So erzielte er die Bestmarke für die meisten Punkte am Saisonende in beiden Wertungssystemen. Im Champions Race kam er 2006 auf 1'674 Punkte, in der Weltrangliste auf 8'370 (entspricht 15'745 im seit 2009 überarbeiteten Ranking). Diese Punktzahl war zudem der Rekord für die höchste Punktzahl, die je von einem Spieler in der Weltrangliste während eines Jahres erreicht wurde. Im September 2015 überbot Novak Đoković mit 16'145 Punkten diese Marke. Federer hatte zudem als erster Spieler seit Einführung des Wertungssystems die Marken von 7'000 und 8'000 Punkten überschritten. Am 26. Februar 2007 brach Federer den bisherigen Rekord von Jimmy Connors nach der Zahl der ununterbrochenen Wochen an der Spitze der Weltrangliste (160 Wochen, 1974–1977) sowie am 27. August 2007 ebenfalls Steffi Grafs Rekord von 186 ununterbrochenen Wochen. Federer baute diesen Rekord bis zum 18. August 2008 auf 237 Wochen aus. Federer (2005–2007) und Connors (1975, 1976, 1978) sind die einzigen Spieler, die drei komplette Kalenderjahre an der Spitze standen, wobei Federer es als Einzigem drei Jahre in Folge gelang. Im Anschluss an seinen Wimbledonsieg 2012 stellte Federer am 9. Juli 2012 mit 286 Wochen Pete Sampras' Rekord für die meisten Wochen an der Weltranglistenspitze insgesamt ein. Eine Woche später wurde er zum alleinigen Rekordhalter. In den folgenden vier Monaten baute er diesen Rekord zunächst auf 302 Wochen, fünfeinhalb Jahre später, nach seiner Rückkehr auf den Tennisthron am 20. Februar, auf 310 Wochen aus. Dieser Rekord wurde von Novak Đoković am 1. März 2021 zunächst eingestellt und in der anschliessenden Woche überboten. Neben Ivan Lendl (1989), Rafael Nadal (2010, 2013, 2017, 2019) und Novak Đoković (2014, 2018, 2020) ist Federer einer von vier Spielern, die nach dem Verlust der Nummer 1 am Jahresende wieder eine Saison als Erstplatzierter abschliessen konnten. Nach den Jahren 2004–2007 auf Platz 1 beendete Federer das Jahr 2008 als Zweitplatzierter, kehrte aber 2009 wieder auf die Spitzenposition zurück. Mit dem Sieg beim Turnier in Rotterdam wurde Federer am 19. Februar 2018 mit 36 Jahren und 195 Tagen die älteste Nummer 1 seit Einführung der Weltrangliste. Diesen Rekord hatte davor Andre Agassi mit 33 Jahren und 131 Tagen gehalten. Federer baute seinen Rekord nochmals auf 36 Jahre und 314 Tage aus, als er nach zweimaligem vorübergehendem Verlust der Spitzenposition am 18. Juni 2018 erneut an die Spitze der Weltrangliste zurückkehrte. Mit 14 Jahren und 136 Tagen (2. Februar 2004 bis 18. Juni 2018) hält er den Rekord für die längste Zeitspanne zwischen der ersten und letzten Periode als Nummer 1. Auch der Abstand von 5 Jahren und 106 Tagen (4. November 2012 bis 19. Februar 2018) zwischen den letzten zwei Perioden an der Spitze ist Rekord. Federer hält diverse Langzeitrekorde in der Weltrangliste. Zwischen dem 17. November 2003 und dem 4. Juli 2010 war er 346 Wochen in Folge in den Top 2 der Rangliste gelistet. Er ist der Spieler mit den insgesamt meisten Wochen in den Top 3 (750), Top 5 (859) und Top 10 (968). Ausserdem schloss er die meisten Jahre in den Top 3 (15), Top 5 (16) und in den Top 10 (18) ab. Er stand 1147 Wochen in Folge in den Top 50 (12. Juni 2000 bis 6. Juni 2022) sowie 1187 Wochen ohne Unterbrechung in den Top 100 (11. Oktober 1999 bis 20. Juni 2022) – beide sind Rekordserien. === Siegesserien === In seiner Karriere erzielte Federer bisher eine Reihe von Siegesserien in verschiedenen Bereichen. So feierte Federer 24 Siege in Folge gegen Gegner aus den Top 10 der Weltrangliste (2003–2005). Federer hält ebenso den Open-Era-Rekord für die meisten Finalsiege in Folge (24, die Serie endete 2005). Auf Rasen und auf Hartplatz hält der Schweizer die Rekorde für die längsten Siegesserien, auf Hartplatz mit 56 Siegen (2005–2006), auf Rasen mit 65 Siegen in Folge (2003–2008). === Sonstige Rekorde === Am 30. Oktober 2017 überholte Federer mit 109'853'682 US-Dollar gewonnenen Preisgelder den bisherigen Rekordhalter Novak Đoković, der als erster Tennisprofi die Marke von 100 Millionen Dollar überschritten hatte. Bereits im Oktober 2008 hatte Federer in dieser Wertung die Führung übernommen, war jedoch im April 2016 von Đoković für eineinhalb Jahre überholt worden. Mit zwei Siegen an den ersten beiden Gruppenspielen an ATP Finals in London im November 2017 erreichte er ein Total von 110'235'682 Dollar, womit er auch den sportartenübergeifenden Rekord von Golfprofi Tiger Woods (110'061'012 Dollar) brechen konnte. 2018 wurde jedoch Federer wieder vom wiedererstarkten Đoković überholt. Von 2006 bis 2010 hielt Federer zudem den Rekord für den höchsten Preisgeldbetrag in einer Saison. Roger Federer ist neben Rod Laver einer von zwei Spielern, die in drei Jahren hintereinander zehn oder mehr Turniere gewonnen haben. Diese in den Jahren 2004–2006 gewonnenen 34 Einzeltitel sind ein weiterer Rekord. Mit einer Siegquote von 94,3 % und einer Turniersiegquote von 69,4 % kann Federer zudem zwei historische Höchstquoten für eine Zeitspanne von drei Jahren vorweisen. Bei 16 von 17 gespielten Turnieren das Finale zu erreichen (94,1 %, Saison 2006), stellte ebenfalls eine neue Bestmarke dar. Federer hält den Rekord für die meisten Turniersiege auf Hartplätzen (71) und auf Rasen (19) in der Open Era, dazu weist er die meisten gewonnenen Partien auf beiden Belägen auf. Mit insgesamt 103 Turniersiegen auf allen Belägen liegt er an zweiter Stelle hinter Jimmy Connors (109 Siege). Mit seinen insgesamt 157 erreichten Endspielen liegt er ebenfalls hinter Jimmy Connors (164). Seine 1251 Siege und 1526 gespielten Matches werden nur von Connors überboten. Die Siegquote von 86,88 % auf Rasen ist Rekord in der Open Era. Das olympische Halbfinale von London 2012, das Federer gegen Juan Martín del Potro mit 3:6, 7:6 (7:5) und 19:17 gewann, war mit 4:26 Stunden das längste Dreisatzmatch der Open Era. Allein der dritte Satz dauerte 2:43 Stunden. Federer hält den Open-Era-Rekord für die meisten Finalteilnahmen bei einem Turnier: 15 in Basel, die zehn Finals in Serie in Basel (2006–2015) sind ebenfalls Rekord. Federer ist der Einzige in der Tennisgeschichte, der sieben Turniere mindestens sechsmal gewann: Halle (10×), Basel (10×), Wimbledon (8×), Dubai (8×), Cincinnati (7×), Australian Open (6×), ATP Finals (6×). Er ist der einzige Spieler, der zwei Turniere auf zwei unterschiedlichen Belägen jeweils zehnmal gewonnen hat, nämlich die Gerry Weber Open in Halle auf Rasen (2003–2006, 2008, 2013–2015, 2017, 2019) und die Swiss Indoors in Basel auf Hartplatz (2006–2008, 2010, 2011, 2014, 2015, 2017–2019). Mit 24 Turniersiegen ist er der erfolgreichste Spieler bei ATP-Tour-500-Turnieren. Im Laufe seiner Profikarriere spielte er 1750 Matches im Einzel und Doppel, in keinem dieser Spiele gab er vorzeitig auf. == Finalteilnahmen == Einzel (*) Bezeichnungen der Turnierkategorien bis 2008: ATP World Tour Finals = Tennis Masters Cup ATP World Tour Masters 1000 = ATP Masters Series (2004–2008), Tennis Masters Series (2000–2003) ATP World Tour 500 = International Series Gold ATP World Tour 250 = International Series Doppel (*) Bezeichnungen der Turnierkategorien bis 2008: ATP World Tour Masters 1000 = ATP Masters Series (2004–2008), Tennis Masters Series (2000–2003) ATP World Tour 500 = International Series Gold ATP World Tour 250 = International Series Team-Wettbewerbe == Statistik == == Siehe auch == Liste der Sieger der Grand-Slam-Turniere (Herreneinzel) Liste der Sieger der Masters-Turniere im Tennis (Einzel) Liste der Sieger der Masters-Turniere im Tennis (Doppel) Liste der Weltranglistenersten im Herrentennis (Einzel) Liste der längsten Siegesserien im Herrentennis == Literatur == Markus Alexander: Roger Federer – Tennis für die Ewigkeit. Baltic Sea Press, Rostock 2010, ISBN 978-3-942129-08-4. Dominique Eigenmann: Faszination Federer – Die Anatomie der Perfektion. Kein & Aber, Zürich/Berlin 2011, ISBN 978-3-0369-5623-7. (Vorabdruck) Roger Jaunin: Roger Federer. Neptun, Kreuzlingen 2006; 2. Ausgabe 2009, ISBN 978-3-85820-244-4 (Bildband). Mikael Krogerus: Das Geheimnis seiner Vorhand. Interview/Gespräch. Das Magazin, Tamedia, Zürich 5. September 2015 (S. 8–14). William Skidelsky: Federer and Me: A Story of Obsession. Yellow Jersey 2015, ISBN 978-0-224-09235-7. René Stauffer: Das Tennisgenie. Die Roger-Federer-Story. Pendo, Zürich 2006; 8., aktualisierte Ausgabe 2011, ISBN 978-3-85842-651-2. Christian Uetz: Federer für alle. Echtzeit Verlag, Zürich 2011, ISBN 978-3-905800-53-1. David Foster Wallace: Federer as Religious Experience. In: The New York Times, 20. August 2006. Simon Graf: Roger Federer – Weltsportler. Ballverliebter. Wohltäter. kurz & bündig, Basel 2018, ISBN 978-3-907126-00-4. Roger Federer im Munzinger-Archiv (Artikelanfang frei abrufbar) René Stauffer: Roger Federer. Die Biografie. Piper, München 2019, ISBN 978-3-492-05763-9. == Weblinks == Offizielle Website von Roger Federer Publikationen von und über Roger Federer im Katalog Helveticat der Schweizerischen Nationalbibliothek Literatur von und über Roger Federer im Katalog der Deutschen Nationalbibliothek ATP-Profil von Roger Federer (englisch)Vorlage:ATP/Wartung/unnötige Verwendung von Parameter 2 ITF-Profil von Roger Federer (englisch) Davis-Cup-Statistik von Roger Federer (englisch) Dokumentation über Roger Federer anlässlich seines 20-jährigen Jubiläums auf der ATP Tour. In: SRF 1, 23. Dezember 2018, 58 min, teilweise Schweizerdeutsch. Interview in der Aargauer Zeitung vom 22. Oktober 2018. == Einzelnachweise ==
https://de.wikipedia.org/wiki/Roger_Federer
Osterinsel
= Osterinsel = Die Osterinsel (spanisch Isla de Pascua, rapanui Rapa Nui) ist eine isoliert gelegene Insel im Südostpazifik, die politisch zu Chile gehört, geographisch jedoch zu Polynesien. Sie liegt südlich des südlichen Wendekreises. Der Hauptort Hanga Roa ist 3526 km von der chilenischen Küste (oder 3833 km in genauer Ostrichtung bis zur Küste) und 4251 km von Tahiti entfernt. Das nächstgelegene bewohnte Eiland ist Pitcairn im Westen, in einer Entfernung von 2078 Kilometern. 2017 lebten laut Volkszählung 7750 Menschen auf der Osterinsel.Bekannt ist die Insel vor allem wegen der monumentalen Steinskulpturen, der Moai. Seit 1995 ist die Osterinsel als Nationalpark Rapa Nui Teil des UNESCO-Welterbes. == Geographie == === Geologie === Die Osterinsel ist ein vulkanischer Gipfel, der dem Salas-y-Gómez-Rücken aufsitzt, einem 2500 km langen, submarinen Höhenzug im Südostpazifik. Sie ist, neben der Insel Salas y Gómez, der einzige Berg dieser unter dem Ozean liegenden, aus zahlreichen Vulkanen bestehenden Kette, der über die Meeresoberfläche hinausragt. Das für viele pazifische Inseln charakteristische Korallenriff fehlt, die Küste fällt steil bis zu einer Meerestiefe von 3000 Metern ab. Der Küstensaum ist steinig und zerklüftet, kleine Sandstrände sind nur an zwei Stellen zu finden: in der Anakena-Bucht und in der Bucht von Ovahe an der Nordküste. An der Südwestspitze sowie im Osten, an der Halbinsel Poike, ragen steile, bis zu 300 m hohe Kliffe empor. Die Osterinsel hat etwa die Form eines gleichschenklig rechtwinkligen Dreiecks mit einer maximalen Länge von 24 km, einer maximalen Breite von 13 km und einer Fläche von 162,5 km². Die Landschaft ist durch ihren vulkanischen Ursprung geprägt und besteht im Wesentlichen aus den drei Vulkanen Rano Kao im Südwesten, dem Poike mit seinem Hauptgipfel Maunga Puakatiki im Osten und Maunga Terevaka im Norden sowie deren über 70, teils bis zur Unkenntlichkeit erodierten Nebenkratern. Der Maunga Terevaka ist mit 507,41 Metern die höchste Erhebung der Osterinsel. Die Vulkane sind erloschen, es sind weder Aktivitäten in jüngerer Zeit beobachtet worden, noch sind solche in den Sagen und Mythen überliefert. Im Südwesten sind der Osterinsel die kleinen, unbewohnten Nebeninseln Motu Nui (3,9 ha), Motu Iti (1,6 ha) und Motu Kau Kau (0,1 ha) vorgelagert, im Westen Motu Ko Hepoko (0,1 ha) und Motu Tautara (0,1 ha), und vor der Halbinsel Poike Motu Marotiri (0,2 ha). === Klima === Das Klima ist subtropisch warm, die Jahreszeiten sind nur gering ausgeprägt. Starke Passatwinde herrschen vor. Die Niederschläge betragen etwa 1150 mm im Jahr. Die Jahresdurchschnittstemperatur liegt bei 21 °C. Die kältesten Monate sind Juli und August, die wärmsten Januar und Februar. Die regenreichsten Monate sind der April und Mai, die regenärmsten Oktober, November und Februar. Die durchschnittliche Wassertemperatur beträgt 18 °C. === Klimawandel === Wie die meisten pazifischen Inseln ist auch die Osterinsel von den Auswirkungen des weltweiten Klimawandels betroffen. So zeigt eine Studie von Karnauskas et al. (2016) in der Fachzeitschrift Nature Climate Change auf, dass ein fortschreitender Klimawandel bis zum Jahr 2090 zu einer bedrohlichen Dürre auf der Insel führen könnte.Einschneidende Klimaänderungen im Südostpazifik sind jedoch kein neues Phänomen. In den letzten 35 000 Jahren war das Klima der Osterinsel, wie man aus palynologischen Untersuchungen schließen kann, nicht immer so wie heute. Das hatte entscheidende Auswirkungen auf die Vegetation. Das Klima vor rund 35 000 Jahren war warm und trocken und förderte den Bewuchs mit krautigen Pflanzen. Von 35 000 bis 26 000 vor unserer Zeitrechnung gab es eine feuchtere und deutlich wärmere Periode, die dichte Palmenwälder und buschige Vegetation gedeihen ließ. Anschließend, bis etwa 12 000 v. Chr., kühlte es ab und es wurde wieder trockener, was das Wachstum der Wälder reduzierte und die Entwicklung von Grasland begünstigte. Von 12 000 v. Chr. bis zur Ankunft der ersten polynesischen Siedler erholten sich die Palmenwälder und bildeten wieder dichte Bestände. Um 4500 v. Chr., noch vor der menschlichen Besiedlung, scheint es eine mehrjährige Trockenperiode gegeben zu haben, Sedimentproben zeigen, dass der Kratersee des Rano Raraku um diese Zeit ausgetrocknet war.Für die Menschen der Osterinsel blieben die klimatischen Veränderungen nicht ohne Folgen. Der Anthropologe Grant McCall von der University of New South Wales ist der Meinung, dass anhaltende Dürren in der Kleinen Eiszeit wesentlich häufiger waren als heute. Für die Zeit um 1466 n. Chr. haben Sedimentproben aus dem Krater des Rano Kao eine Trockenperiode bestätigt. McCall nimmt an, dass der Klimawandel in der Kleinen Eiszeit mitverantwortlich für die Destabilisation und den Umbruch der Gesellschaft im 17. Jahrhundert war. Die schwieriger werdenden Lebensbedingungen könnten zu Unzufriedenheit, Unruhen und damit zum gesellschaftlichen Wandel beigetragen haben. == Flora == Die Osterinsel gehört zu den artenärmsten Inseln des Südpazifiks. Es sind weniger als 30 indigene Samenpflanzen (Spermatophytina) bekannt. Die Flora wird von vier spezifischen Faktoren geprägt, die sie von den übrigen, weiter westlich gelegenen Inseln Polynesiens unterscheidet: der isolierten Lage am äußersten östlichen Ende der biogeografischen Region Indo-Pazifik der relativen Nähe zum südamerikanischen Kontinent dem erdgeschichtlich sehr geringen Alter der Osterinsel und der für das Pflanzenwachstum nicht besonders günstigen klimatischen und topografischen Beschaffenheit.Die Osterinsel gehört zum subtropischen Klimabereich. Ständig wehende Winde bei relativ kühlen Temperaturen und das Fehlen schützender Waldflächen verhindern das Wachstum empfindlicher Pflanzen, deshalb ist die Biodiversität beschränkt. Vögel, Wind und ozeanische Strömungen konnten nur in weit geringerem Maße als bei anderen Inseln Samen eintragen. Der erfolgreichste Überträger von Pflanzenmaterial dürfte daher der Mensch gewesen sein. Die ersten Siedler haben Nutzpflanzen auf die Insel gebracht, wie die Legende von Hotu Matua berichtet. Roggeveen, Forster und andere frühe Entdecker berichteten unter anderem von Papiermaulbeerbaum, Süßkartoffel, Yams, Taro und dem Flaschenkürbis. Auch die Europäer trugen in umfangreichem Maße Pflanzen ein, zum Beispiel verschiedene Grasarten als Weidepflanzen für die Schafe und Rinder. Die heute vorherrschende Vegetation entspricht nicht der ursprünglichen. Sie ist das Ergebnis massiver menschlicher Eingriffe in das Ökosystem. Archäobotanische Befunde belegen, dass die Insel einst dicht mit Palmwäldern einer Art bedeckt war, die eng mit der Honigpalme (Jubaea chilensis) verwandt ist. In Proben von Rano Kao wurde nachgewiesen, dass eine Entwaldung über einen längeren Zeitraum ab dem Jahr 1010 (± 70 Jahre) stattfand. Man schätzt, dass mehr als zehn Millionen Palmen auf der Insel gefällt wurden. Der Verlust des Palmenwaldes, der die Kulturpflanzen vor dem ständig wehenden Wind und vor Austrocknung geschützt hatte, führte zu einer umfangreichen Bodenerosion, die entscheidende Auswirkung auf die Nahrungsmittelversorgung und damit auf den rapiden Rückgang der Bevölkerung gehabt haben dürfte.Das Totora-Schilf (Scirpus californicus) ist als Rest der ursprünglichen Vegetation in den Kraterseen des Rano-Kao und des Rano Raraku erhalten. In der Osterinsel-Kultur wurde Totora-Schilf vielfältig genutzt. Nach einem Bericht von William Thomson waren die runden, an umgedrehte Boote erinnernden Paenga-Häuser mit gebündelten Totora-Stängeln eingedeckt. Man verflocht sie zu Sitzmatten, Körben, wasserabweisenden Capes und kleinen, dreieckigen Hüten für die Frauen. Die von Luftkammern durchzogenen Halme sind schwimmfähig. Aus den Berichten von James Cook und Reinhold Forster ist bekannt, dass getrocknetes und gebündeltes Totora-Schilf als Schwimmhilfe (pora) diente. Von großer ritueller Bedeutung war der Toromiro (Sophora toromiro), ein in der freien Natur ausgestorbener Schmetterlingsblütler. Das harte und feinporige Holz wurde vielfältig genutzt, insbesondere für kultische Schnitzereien. Exemplare dieser endemischen Baumart haben lediglich in botanischen Gärten (u. a.: Göteborg, Bonn, London, Viña del Mar) überlebt. Auffallend ist der geringe Bestand an Farnen. Lediglich 15 Arten wurden entdeckt, davon sind vier – Diplazium fuenzalidae, Doodia paschalis, Elaphoglossum skottsbergii und Polystichum fuentesii – endemisch. Letztere wurde nur einmal im Jahr 1911 gesammelt und gilt als vermutlich ausgestorben. Im Vergleich zu anderen Inseln des Südpazifiks (beispielsweise Marquesas mit 27 Familien, 55 Gattungen und 117 Arten von Farnen) ist das sehr wenig.Eine weitere indigene Pflanze, die auf der Osterinsel nur noch in wenigen Exemplaren als kleinwüchsiger Busch vorkommt, ist die zu den Lindengewächsen (Tiliaceae) gehörende Triumfetta semitriloba. Pollenanalysen haben ergeben, dass die Pflanze bereits seit 35.000 Jahren auf der Insel wächst. Aus den Fasern der Rinde knüpften die Rapanui Fischernetze und möglicherweise die Transportseile für die Moai.Heute ist die Landschaft der Osterinsel von ausgedehnten Grasflächen geprägt. Die häufigsten Pflanzenfamilien sind Süßgräser (Poaceae), von denen nur vier Spezies indigen sind, und Sauergrasgewächse (Cyperaceae). Eine weitere häufige Pflanzenfamilie ist die der Korbblütler (Asteraceae) mit ausschließlich anthropochoren Pflanzen. Über größere Bereiche im Südwesten haben sich eingeführte Guavenbüsche ausgebreitet. In den letzten Jahren hat es Aufforstungen mit schnell wachsendem Eukalyptus und der Monterey-Kiefer gegeben. Die Maßnahmen sind problematisch, da beide Arten ursprünglich nicht auf der Insel vorkamen. Eukalyptuswälder sind anfällig für Großfeuer, außerdem verrotten die abgefallenen Blätter schlecht. Bei Anakena ist 1961 aus importierten Pflanzen ein Hain mit der nicht autochthonen Kokospalme entstanden.Als Nutzpflanzen werden heute für den Eigenbedarf Süßkartoffeln, Taro, Yams, Zuckerrohr sowie subtropische Früchte angebaut. Eine sehr wichtige Nahrungspflanze, oft in einem Erdofen (umu) zubereitet, ist die ursprünglich aus Mittelamerika stammende Süßkartoffel. Sie ist bereits seit Jahrhunderten in der gesamten Südsee und im südasiatischen Raum verbreitet. Der Anbau von Kulturpflanzen in historischer Zeit erfolgte nach Berichten der europäischen Entdecker in sorgfältig bearbeiteten und abgegrenzten Feldern. La Pérouse schätzte 1787, dass etwa ein Zehntel der Insel, insbesondere die tiefer gelegenen Bereiche der Küstenregion, mit Nutzpflanzen bebaut war. Diese etwa 20 km² Anbaufläche würden ausreichen, um eine Bevölkerung von mehreren Tausend Menschen zu ernähren. Der Ackerbau erfolgte mit dem Grabstock bzw. aus Mangel an Holz mit einem entsprechend hergerichteten Stein. Den vulkanischen Boden der Osterinsel durchziehen zahlreiche Lavaröhren. Durch Erosion stürzte an manchen Stellen die Decke ein, sodass sich dolinenartige Spalten bildeten, die sich allmählich mit Humus füllten. Da der ständige Wind den Anbau von Nahrungspflanzen erschwert, nutzte man die Bodensenken als ertragreiche Tiefbeete (manavai) für die Kultivierung größerer Pflanzen, insbesondere von Bananen. Einige werden heute noch genutzt, so beispielsweise in der Nähe der Anlage Vinapu. == Fauna == Archäologische Grabungen belegen, dass auf der Osterinsel vor der polynesischen Besiedlung 25 Spezies von See- und sechs Spezies von Landvögeln heimisch waren. Davon sind heute auf der Insel selbst (ohne vorgelagerte Motus) nur drei Seevogelarten (darunter der Rotschwanz-Tropikvogel) und vier Landvogelarten verblieben (darunter das Chilesteißhuhn, der Chimangokarakara, der Diuca Fink aus der Familie der Neuweltammern), keine davon indigen oder endemisch.An Säugetieren kommen heute lediglich eingeführte Haustiere – Pferde, Schafe, Rinder, Schweine – und Ratten vor. Die ausgewilderten Pferde haben sich mittlerweile zu einem Problem entwickelt. Sie verbreiten die Guavenbüsche, indem sie die Früchte fressen und die Samen an anderer Stelle ausscheiden. Außerdem reiben sie sich an den Statuen und leisten so der Erosion Vorschub. Die Pazifische Ratte (Rattus exulans), die vermutlich als Nahrung von den ersten Siedlern mitgeführt wurde, ist inzwischen ausgestorben bzw. von Haus- (Rattus rattus) und Wanderratte (Rattus norvegicus) verdrängt worden. Auf der Osterinsel gibt es keine für den Menschen unmittelbar gefährlichen Tiere oder Überträger von Infektionskrankheiten. Unter den Reptilien ist der Skink Cryptoblepharus poecilopleurus erwähnenswert. Sein Name auf Rapanui ist moko uri uri. Das etwa 12 cm lange Tier von goldbrauner Farbe genoss offenbar religiöse Verehrung, denn es sind mehrere, sorgfältig aus Toromiro-Holz geschnitzte, anthropomorphe Figuren als Zeremonialobjekte erhalten (beispielsweise Musées royaux d’art et d’histoire in Brüssel). Auf den vorgelagerten Motus nisten zahlreiche Seevögel, darunter Fregattvögel, Sturmtaucher, Tölpel sowie Ruß- und Feenseeschwalben. Ebenso wie das Land wirkt das die Insel umgebende Meer kahl und lebensfeindlich. Die Sicht unter Wasser ist außergewöhnlich gut, ein Zeichen für den relativ geringen Gehalt an Nährstoffen. Große Basaltblöcke, auf denen nur wenige Korallen wachsen, bedecken den zerklüfteten Meeresboden. An dem steil abfallenden Lavasockel der Insel konnte sich kein Korallensaum bilden. Das vielfältige Ökosystem eines tropischen Korallenmeeres mit seiner artenreichen Population von Meereslebewesen hat sich nicht entwickelt. In der Umgebung der Osterinsel wurden 164 Fischarten gezählt, davon 107 Spezies von Küstenfischen. Das ist vergleichsweise wenig, in den Gewässern rund um die Fidschi-Inseln gibt es mehr als 1000 Fischarten. James Cook schrieb dazu in seinem Logbuch: Nicht selten sind Pottwale zu beobachten. Man vermutet, dass in den Tiefen auch der Riesenkalmar vorkommt. Die Tiefsee weist die bisher dichteste bekannte Konzentration von Schwarzen Rauchern auf, aktive Vulkanschlote, aus denen heißes, mineralreiches Wasser aus dem Erdinneren sprudelt und um die sich bizarre Lebensgemeinschaften gebildet haben. Im Jahr 2005 wurde 1500 km südlich der Osterinsel eine neue Spezies entdeckt, die sogenannte Yeti-Krabbe (Kiwa hirsuta). Von besonderem Interesse ist eine endemische Kaurischnecken-Art, die nach Pater Englert benannte Erosaria englerti, die nur vor der Osterinsel und der unbewohnten Insel Salas y Gómez, 400 km östlich, vorkommt. == Geschichte == === Besiedlung === Die Frühgeschichte der Osterinsel ist schwierig zu rekonstruieren, da schriftliche Aufzeichnungen völlig fehlen. Bereits die Besiedlungsgeschichte ist umstritten. Sowohl eine Mono- als auch eine Multibesiedlungsthese wurden vertreten. Thor Heyerdahl teilte die Inselgeschichte in eine frühe Periode im 1. Jahrtausend n. Chr. und eine mittlere Periode zwischen 1100 und 1600 n. Chr. In beiden Perioden gab es seiner Ansicht nach Einwanderungen aus Südamerika. Eine weitere Besiedlung soll in der Spätperiode ab 1680 von Polynesien aus erfolgt sein. Diese Theorie war so nicht haltbar und ist mit modernen Untersuchungsmethoden, insbesondere aus der Genetik, widerlegt worden. Ausgehend von der Legende von Hotu Matua und gestützt auf archäologische, genealogische und sprachwissenschaftliche Befunde war lange Zeit die Annahme einer Besiedlung im Rahmen der Polynesischen Expansion von Westen populär. Sie soll relativ spät in zwei Wellen erfolgt sein: Die Erstbesiedlung im 5. oder 6. Jahrhundert, die zweite Besiedlungswelle im 14. Jahrhundert. Heute ist in der Anthropologie allgemein akzeptiert, dass die Osterinsel von Westen besiedelt wurde, im Rahmen der Polynesischen Völkerwanderung und zwar mit nur einer Siedlungswelle aus dem Großraum Mangareva, Henderson, Pitcairn. Den Beweis lieferte die moderne Genforschung in den 1990er Jahren. Erika Hagelberg von der University of Cambridge untersuchte die mitochondriale DNA (mtDNA) von zwölf Schädeln, die aus Gräbern im Ahu Vinapu und Ahu Tepeu stammten und sich im Depot des Naturhistorischen Museums in Santiago de Chile befanden. Der Vergleich mit der mtDNA von historischen Knochenfunden anderer polynesisch besiedelter Inseln einerseits sowie mit der südamerikanischer Völker andererseits bewies unzweifelhaft die polynesische Abstammung der Rapanui. Es ergaben sich auch keinerlei Hinweise auf einen weiteren Gentransfer, etwa verursacht von einer zweiten Siedlungswelle aus Südamerika und die Vermischung mit der Urbevölkerung, wie Thor Heyerdahl in späteren Jahren vermutet hatte. Wann die Initialbesiedlung erfolgte, ist umstritten, doch da die Osterinsel am äußersten Rand des Polynesischen Dreiecks liegt, darf man unterstellen, dass sie erst relativ spät besiedelt wurde. Linguistische Vergleiche haben ergeben, dass sich das Rapanui von der östlichen Untergruppe der protopolynesischen Sprachfamilie abgespalten hat. Nach dem Zeitpunkt der Abspaltung ist eine Besiedlung im ersten Jahrtausend n. Chr. anzunehmen. Basierend auf palynologischen Untersuchungen am Rano Kao darf man annehmen, dass Eingriffe in die Ökologie der Insel, die von Menschen verursacht sein könnten, keinesfalls früher als 500 n. Chr. anzusetzen sind. Das bislang früheste mit der Radiokarbonmethode ermittelte Datum, das mit einer Bautätigkeit und damit einer bereits etablierten Zivilisation in Verbindung zu bringen sein könnte, ist das Jahr 690 n. Chr. (± 130 Jahre). Weitaus häufiger sind Radiokohlenstoffdatierungen in einem Zeitfenster von 800 bis 1000 n. Chr., sie sind außerdem breiter gestreut und fallen sowohl in Zeremonialkomplexen als auch in Siedlungsresten an. Der Anthropologe Terry L. Hunt von der University of Hawaii nimmt – gestützt auf stratigraphische Grabungen bei Anakena – an, die Initialbesiedlung der Osterinsel habe erst um 1200 n. Chr. stattgefunden.Inzwischen gibt es weitere genetische Studien, die die Herkunft der Rapanui aus dem polynesischen Siedlungsraum bestätigten. Allerdings weisen sie bei einem sehr geringen Prozentsatz der untersuchten Proben auch DNA amerikanischen (oder europäischen) Ursprunges auf. Diese Untersuchungen beruhen auf Blutentnahmen lebender Rapanui. Selbst bei sorgfältiger Auswahl der Probanden belegen sie daher nur den Ist-Zustand und nicht die Verhältnisse in voreuropäischer Zeit. Doch erhärtet auch dieses Ergebnis letztlich die bisherigen Erkenntnisse über den polynesischen Ursprung der Rapanui, denn in jeder der Proben ließen sich die für Polynesier typischen Y-Chromosom-Marker nachweisen. Die Theorie, dass Völker des amerikanischen Kontinentes die Osterinsel besiedelt haben, ist mit den Mitteln moderner genetischer Forschung unzweifelhaft zu widerlegen. Der Nachweis genetischer Spuren amerikanischen Ursprunges lässt jedoch die Möglichkeit zu, dass ein Kontakt in voreuropäischer Zeit zwischen dem Kontinent und der Osterinsel bestanden haben könnte, doch wahrscheinlich nur als gelegentliches oder sogar einmaliges Ereignis.Auch die Verbreitung der Süßkartoffel (Kumara) als Hauptnahrungsmittel auf der Osterinsel lässt Kontakte zwischen Polynesien und dem Kontinent möglich erscheinen. Die Süßkartoffel stammt ursprünglich aus Südamerika. Sie war (und ist) eine häufige Nahrungspflanze in den Trockenregionen Südamerikas vom Golf von Guayaquil bis Zentralchile. Die Knolle überlebt keinen längeren Aufenthalt im Meerwasser, sodass der natürliche Transport durch Wind und Wellen zu den pazifischen Inseln ausscheidet. Sie kann nur mithilfe des Menschen dorthin gelangt sein. Der Anbau der Kumara auf der Osterinsel wurde lange Zeit als Beweis für die Erstbesiedlung vom Kontinent angesehen. Dem steht entgegen, dass sie auch auf anderen polynesischen Inseln vorkommt, die weit von Südamerika entfernt liegen und ohne Zweifel nicht von dort besiedelt wurden. Vermutlich wurde die Süßkartoffel zuerst im Großraum der Cookinseln, der Gesellschaftsinseln und der Marquesas eingeführt. Sie taucht in dieser Region schon vor dem Jahr 1000 n. Chr. auf. Zwischen 1000 und 1200 n. Chr. ist die Süßkartoffel auch in den Randregionen des Polynesischen Dreiecks, in Neuseeland und Hawaii, verbreitet. Bemerkenswert ist, dass zwar die Pflanze, nicht jedoch die Anbaumethode importiert wurde. Südamerikanische Völker bauten die Batate ursprünglich in künstlich bewässerten Feldern oder in angehäuften, mit Humus versetzten Hügeln an, einer Art Hochbeet, die Polynesier jedoch in Gruben. Es ist nicht ausgeschlossen, dass die Süßkartoffel schon von den ersten Siedlern von einer anderen polynesischen Insel mitgebracht worden ist. Aber auch der spätere Import ist möglich, denn die Polynesier waren exzellente Seefahrer und verfügten über hochseetüchtige Boote sowie ausgeklügelte Navigationskenntnisse. Eine Fahrt zwischen den polynesischen Inseln über hunderte, ja tausende von Kilometern offenen Ozeans war keine Seltenheit. Ein florierendes, über Jahrhunderte bestehendes Handelsnetz über weit auseinanderliegende Inseln im Pazifik ist nachgewiesen. Bei Te Niu an der Nordwestküste der Osterinsel entdeckte Pflanzgruben für Süßkartoffeln datieren auf das 13. Jahrhundert n. Chr. === Frühgeschichte === Es entwickelte sich eine streng stratifizierte Gesellschaft mit zehn unabhängigen Stämmen (máta), die mit verschiedenen Teilen der Insel assoziiert waren, obwohl es keine definierten Grenzen gab. Nachdem sich die Neusiedlung konsolidiert hatte, nahm die Bevölkerungszahl rasch zu. Besiedelt wurde zunächst nur die Küstenregion. Das Nahrungsangebot der Rapanui stellte sich grundlegend um, weg von der Nutzung der allmählich sich erschöpfenden, natürlichen Ressourcen und hin zur intensiven Produktion von Nahrungsmitteln. Das lässt sich archäologisch durch Analyse des Inhaltes von ausgegrabenen Abfallgruben beweisen. Brandrodung war das geeignete Mittel zur Erschließung neuer Anbauflächen, die zudem die Bodenfruchtbarkeit mit der gewonnenen Asche und Holzkohle steigerte, wenn auch nur vorübergehend. Intensivanbau von Nahrungsmitteln setzt mit der Zeit einen Überschuss frei. Das verschaffte die Mittel, privilegierte Personen – Adel, Priester und Spezialisten für Kunst und Handwerk – von der täglichen Nahrungsproduktion freizusetzen. Die statistische Auswertung der Radiokarbondaten aus den Osterinsel-Ahu zeigt, dass ab dem 11. bis 12. Jahrhundert n. Chr. eine rege Bautätigkeit einsetzte, die bis zur Mitte des 17. Jahrhunderts andauerte. Das Volk der Rapanui errichtete in diesem halben Jahrtausend mehr als 300 Zeremonialplattformen entlang der gesamten Küste und (schätzungsweise) rund 1000 große Steinfiguren. Mit der Zeit wurden die Bauwerke anspruchsvoller und die Statuen größer.Ihren Zenit erreichte die inselweite Bautätigkeit in der Zeit vom 15. bis zur ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts n. Chr. In diesen 250 Jahren entstanden die meisten und auch die größten und aufwändigsten Zeremonialbauten. Ältere und kleinere Ahu wurden überbaut und vergrößert, oft mehrfach, sowie kleinere Statuen profaniert, als Füllmaterial in den neuen Bauten verwendet und durch größere Moai ersetzt. Diese das gesamte Inselleben umfassenden Aktivitäten gingen einher mit der höchsten Produktivität in der Landwirtschaft und der größten Bevölkerungszahl. Die Religion war von der Ahnenverehrung dominiert. Macht und Einfluss der Vorfahren durchdrang jeden einzelnen Aspekt der Kultur und das gesamte Alltagsleben. Die Ariki, die Stammesführer, legitimierten sich durch ihre lange, nicht unterbrochene Ahnenreihe. Deren Vorfahren manifestierten sich in den steinernen Moai, die mit Blick auf die vor dem Ahu liegende Ansiedlung eine permanente Wächterfunktion ausübten. Die Autorität der Ariki war absolut und umfassend und wurde nicht infrage gestellt. Doch gegen Ende dieser Periode kam es zu radikalen gesellschaftlichen Veränderungen, die mit einem religiösen Wandel einhergingen. Es etablierte sich eine neue Kaste, die der Krieger (matatoa), die mehr und mehr auch politische Macht anstrebte. Die Autorität der Ariki schwand und damit einhergehend der allgegenwärtige Einfluss der Ahnen. Eine andere Religion, der Vogelmannkult und damit verbunden die Verehrung von Makemake als einziger Gottheit, gewann immer mehr an Bedeutung. Gegen Ende der Periode sind zunehmend Anzeichen der Degeneration erkennbar: Nachdem der Boden bis zum Ende des 13. Jahrhunderts oberflächenschonend bearbeitet wurde, ist spätestens ab 1300 n. Chr. eine radikale Entwaldung mit zunehmender Bodenerosion nachgewiesen. Dies führte zur Aufgabe von Siedlungen. Ab dem 13. Jahrhundert wird vermehrt auch das Inselinnere besiedelt, ohne Zugang zu der wichtigen Nahrungsquelle Meer. Nach 1425 ist ein höchst intensivierter Landbau unter Nutzung innovativer Möglichkeiten (mit Mauern geschützte Kleinstanbauflächen, Steinmulch) feststellbar, der aber mit dem Zusammenbruch der Stammesgesellschaft in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts wieder aufgegeben wird. Ab etwa 1500 bis zum Eintreffen der Europäer kommt es zu vermehrten Überfällen und Stammeskriegen unter Anwendung neuartiger Waffen (mata’a = mit scharfen Obsidianspitzen versehene Kurzspeere). Wahrscheinlich breitet sich auch Kannibalismus aus. Die Kriegerkaste gewinnt an Einfluss. Wie aus archäo-biologischen Untersuchungen von Abfallhaufen der Siedlungen erkennbar ist, nimmt die Zahl und Artenvielfalt der Seevögel nach 1650 n. Chr. als Nahrungsquelle rapide ab. Stattdessen werden vermehrt steinerne Hühnerställe gebaut. Ab Mitte des 17. Jahrhunderts kommt der Bau monumentaler Bildwerke zum Erliegen. Ab dem Ende des 17., spätestens in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts, werden die Kultplattformen durch die Insulaner systematisch zerstört und die Statuen umgeworfen. Es kommt zu einem völligen Verfall der tradierten, auf der Ahnenverehrung fußenden Kultur.Es ist heftig umstritten, wo die Wurzeln für diesen Kulturverfall zu suchen sind. Die Mehrzahl der Forscher geht heute davon aus, dass die Probleme von den Insulanern selbst verursacht wurden. Populär ist die von Jared Diamond publizierte These des Raubbaus an den natürlichen Ressourcen, der zur Störung des ökologischen Gleichgewichtes auf der isolierten Insel geführt hat.Es ist unstrittig, dass es in der Osterinselgeschichte blutige Stammeskonflikte gab, die zu tiefgreifenden gesellschaftlichen, religiösen und ökonomischen Veränderungen führten. Zahlreiche archäologische Grabungsergebnisse weisen darauf hin: Einführung und Verbreitung von Obsidian-Speerspitzen, Zerstörung von Häusern der Stammeselite, Zuflucht in Wohnhöhlen, Simplifizierung der Begräbnisriten und ein Wechsel in der Religion mit der Abkehr von der Ahnenverehrung und Hinwendung zum Vogelmannkult. Hinsichtlich des Zeitpunktes herrscht in der Forschung Uneinigkeit. Es wird kontrovers diskutiert, ob dieser Umbruch schon in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts eingesetzt hat (häufig genannt wird das Jahr 1680), demzufolge von den Rapanui selbst verursacht wurde, oder ob erst das Eintreffen der Europäer zu Beginn des 18. Jahrhunderts den Anstoß gegeben hat.Andere Theorien gehen davon aus, dass eine mehrjährige Dürre und die Kleine Eiszeit die Ursache für den Niedergang waren oder die von den ersten Siedlern eingeschleppte Polynesische Ratte, die die für die Ökologie der Insel wichtigen Palmenwälder vernichtete. === Einfluss der Europäer === Der erste Europäer, der vermutlich die Osterinsel sah, war der Pirat Edward Davis, der mit seinem Schiff Bachelors Delight 1687 von den Galápagos-Inseln kommend Kap Hoorn umsegeln wollte. Er sichtete die Insel eher zufällig und glaubte, den sagenhaften Südkontinent gefunden zu haben, landete jedoch nicht. Ihren heutigen Namen erhielt die Osterinsel von dem Niederländer Jakob Roggeveen, der im Auftrag der Westindischen Handelskompanie am Ostersonntag, dem 5. April 1722, mit drei Schiffen dort landete. Er nannte sie Paasch-Eyland (Osterinsel), nach dem Tag ihrer Entdeckung. An der Expedition nahm der Mecklenburger Carl Friedrich Behrens teil, dessen in Leipzig verlegter Bericht die Aufmerksamkeit Europas auf die bis dahin unbekannte Insel lenkte.Der Katalane Manuel d’Amat i de Junyent, Gouverneur von Chile und Vizekönig von Peru, hatte die Bestrebung, den Einfluss Spaniens in Südamerika (gegen England) zu festigen und nach Ozeanien zu erweitern. Er beauftragte Don Felipe González, bis zur Magellanstraße zu segeln und dabei u. a. die „Erde Davis“ für die spanische Krone zu annektieren. González landete am 15. November 1770 mit dem Linienschiff San Lorenzo und der Fregatte Santa Rosalia auf der Osterinsel, errichtete als Zeichen des spanischen Anspruches mehrere Kreuze an markanten Punkten und gab ihr den Namen San Carlos. Spanien verlor allerdings in den Folgejahren das Interesse an den ozeanischen Visionen Amats und erneuerte seinen Anspruch auf die Osterinsel nicht. Während seiner zweiten Südseeexpedition besuchte James Cook vom 13. bis 17. März 1774 die Osterinsel. Er war von der Insel nicht begeistert und schrieb in sein Logbuch: Dennoch brachte der Aufenthalt wesentliche Erkenntnisse über die geologische Beschaffenheit, die Vegetation, die Bevölkerung und die Statuen (die in der Mehrzahl bereits umgeworfen waren). Wir verdanken sie dem deutschen Naturforscher Johann Reinhold Forster und seinem Sohn Johann Georg Adam Forster, die an der Cook-Expedition teilnahmen. Reinhold Forster fertigte auch erste Skizzen der Moais, die, als Kupferstiche in damals typischer romantischer Überhöhung veröffentlicht, in den Salons Aufsehen erregten. Im Jahr 1786 landete der Franzose Graf Jean-François de La Pérouse auf der Osterinsel. Er hatte im Rahmen seiner Weltumsegelung von Ludwig XVI. den Auftrag, genaue Karten zu zeichnen und mit der Erforschung der Völker der Südsee zur Bildung des französischen Thronfolgers (Dauphin) Louis Joseph Xavier François de Bourbon beizutragen. Weitere europäische Besucher in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts waren: Otto von Kotzebue am 28. März 1816, Frederick William Beechey am 16. und 17. November 1825 und Abel Aubert Dupetit-Thouars am 25. Februar 1838, der die Insel jedoch nicht betrat, sowie mehrere Walfänger. Die von den europäischen Entdeckern eingeschleppten Krankheiten wie Grippe und Syphilis bewirkten einen stetigen Bevölkerungsrückgang auf der Osterinsel. Ab 1862 überfielen peruanische Blackbirder auf der Suche nach billigen Arbeitskräften die Insel in mehreren Wellen. Die vorwiegend jüngeren Insulaner beiderlei Geschlechts wurden nach Peru verschleppt, dort mussten sie auf den großen Haziendas unter sklavenähnlichen Bedingungen auf den Feldern und in den Haushalten arbeiten. Die meisten starben an Infektionskrankheiten, gegen die sie auf ihrer isolierten Insel keine Abwehrkräfte entwickelt hatten. Die seriösen Schätzungen über die Gesamtzahl der Personen, die von der Osterinsel entführt wurden, differieren. Sie reichen von 900 bis zu 1400.Da die Blackbirder auch Mangareva sowie einige Inseln der Marquesas und des Tuamotu-Archipels heimgesucht hatten, die zum Protektorat Frankreichs gehörten, sah sich die französische diplomatische Vertretung in Peru zum Handeln genötigt und insistierte auf ein Ende des Menschenhandels und eine Rückführung der Polynesier in ihre Heimat. Hinzu kam, dass sich inzwischen die öffentliche Empörung in Europa und Peru artikuliert hatte. Außerdem erwies sich die Zwangsarbeit als unwirtschaftlich, da die polynesischen Arbeitskräfte sehr bald erkrankten und starben. So hörten die Anwerbungen schließlich auf, und im Herbst 1863 wurden die noch lebenden Polynesier auf Weisung der peruanischen Regierung in ihre Heimat zurückgebracht. Die wenigen Rückkehrer zur Osterinsel, etwa ein Dutzend Personen, schleppten die Pocken ein, und an den nachfolgenden Epidemien – etwa zeitgleich grassierte auch die Tuberkulose – starb ein großer Teil der Bevölkerung. Der französische Ethnologe Alphonse Pinard (1852–1911) zählte 1877 nur noch 111 lebende Rapanui. === Mission === Als Gegengewicht zur anglikanischen London Missionary Society hatte sich mit französischer Unterstützung die katholische Ordensgemeinschaft Congrégation des Sacrés-Cœurs de Jésus et de Marie (Ordenskürzel: SS.CC.) in der Südseemission etabliert. Der erste Missionar, der am 2. Januar 1864 mit dem chilenischen Schiff La Suerte auf der Osterinsel eintraf, war Bruder Eugène Eyraud SS.CC. (* 5. Februar 1820; † 19. August 1868). Er baute aus mitgebrachten Materialien eine Holzhütte an der Stelle, an der später der Ort Hanga Roa entstehen sollte. Eyraud hatte unter den Belästigungen der Einwohner zu leiden und blieb nur bis zum 10. Oktober 1864. Dennoch schrieb er einen enthusiastischen Bericht an die Ordensleitung, der den Orden ermutigte, die Missionsarbeit auf der Osterinsel erneut aufzunehmen. Als Leiter bestimmte man Pater Hippolyte Roussel SS.CC., einen energischen und erfahrenen Priester, der zuvor auf dem Tuamotu-Archipel und auf Mangareva lange Jahre erfolgreich als Missionar tätig gewesen war. Am 23. März 1866 kamen Roussel und Eyraud mit vier einheimischen Helfern aus Mangareva auf der Osterinsel an. Ein halbes Jahr später, am 6. November 1866, erhielten sie Verstärkung von dem deutschstämmigen Pater Kasper (Gaspard) Zumbohm SS.CC. und von Bruder Théodule Escolan, die auf dem Schoner Tampico, Kapitän war der Franzose Jean-Baptiste Dutrou-Bornier, ankamen. Trotz anfänglicher Widerstände war ihre Arbeit erfolgreich, denn 1866 oder 1867 fand die letzte Vogelmannzeremonie an der Kultstätte Orongo statt. Alle der rund 650 Rapanui wurden zwischen Februar und August 1868 getauft. An Mariä Himmelfahrt, dem 15. August 1868, fand eine letzte große Taufzeremonie statt. Fünf Tage später starb Bruder Eyraud an Tuberkulose. Pater Roussel blieb bis zum Jahr 1871.Der ehemalige französische Offizier Jean Baptiste Dutrou-Bornier, ein Nachfahre von Jean-Félix Dutrou de Bornier (1741–1816), einem Abgeordneten der französischen Generalstände von 1789, hatte 1866 auf seinem Schoner Tampico die Missionare Zumbohm und Escolan auf die Osterinsel gebracht. Bei dieser Gelegenheit lernte er die dortigen Verhältnisse kennen und plante auf diesem dünn besiedelten, grasbedeckten Eiland, fernab der europäischen Verwaltung und Jurisdiktion, eine Viehzucht anzusiedeln. Als solventen Partner hatte er den Schotten John Brander gewonnen, einen Großgrundbesitzer auf Tahiti, der mit der Herrscherfamilie Pomaré verschwägert war. Im April 1868 kehrte Dutrou-Bornier zur Osterinsel zurück. In seiner Begleitung war ein Deutscher namens Christian Schmidt und sie brachten zwei Kisten mit Feuerwaffen mit. Zunächst bemühte sich Dutrou-Bornier um gute Beziehungen zu den Missionaren und den Häuptlingen und baute sich ein Haus auf den Grundmauern einer mit der Christianisierung bedeutungslos gewordenen Zeremonialstätte bei Mataveri. Mit 450 aus Australien importierten Schafen sowie Kühen, Ziegen und Pferden begründete er seine Viehzucht. Parallel dazu warb er Arbeitskräfte für die Firma von John Brander auf Tahiti an. Geschätzte 200 Rapa Nui folgten seinen Versprechungen und die Auswanderer bewog er dazu, ihm ihr Land zu verkaufen. Auf diese Weise plante er, nach und nach die gesamte Insel in seinen Besitz zu bringen. Einige der nach Tahiti ausgewanderten Rapanui konnten 1880 bei Pamatai, in den Hügeln oberhalb des heutigen Flughafens Tahiti-Faa, einige Stücke Land erwerben und gründeten dort eine Kolonie, die bis Ende der 1960er Jahre bestand. Dutrou-Bornier heuerte den Rapanui Torometi an, der mit weiteren Gehilfen eine bewaffnete „Schutztruppe“ organisierte und die übrigen Inselbewohner einschüchterte und terrorisierte. Es kam zu Überfällen, es fielen Schüsse, Hütten wurden in Brand gesetzt und auch die Missionare bedroht. Ob und wie viele Tote und Verwundete es während dieser Unruhen gab, in die sicherlich auch alte Stammesrivalitäten einflossen, ist nicht bekannt. Die Rapanui wurden aus ihren Siedlungen vertrieben und in ein kleines Gebiet an der Westküste (im Bereich des heutigen Hangaroa) verbannt, das sie unter Strafandrohung nicht verlassen durften. Der Rest der Insel war unbewohntes Weideland für Schafe und Rinder. Als die Verhältnisse schließlich unerträglich wurden, ermordeten die Insulaner 1876 den Despoten Dutroux-Bornier, ein Jahr später starb John Brander eines natürlichen Todes. Die Osterinsel blieb nach einem längeren Rechtsstreit der Erben vor französischen Gerichten im Besitz der Familie Brander.Vom 20. bis 25. September 1882 besuchte das deutsche Kanonenboot SMS Hyäne im Rahmen einer ausgedehnten Südseeexpedition die Osterinsel. Kapitänleutnant Wilhelm Geiseler hatte den Auftrag der Kaiserlichen Admiralität, wissenschaftliche Untersuchungen für die ethnologische Abteilung der königlich preußischen Museen in Berlin vorzunehmen. Die Expedition lieferte u. a. detailgenaue Beschreibungen der Sitten und Gebräuche, Sprache und Schrift der Osterinsel, außerdem exakte Zeichnungen verschiedener kultischer Objekte, von Moais, von Hausgrundrissen sowie einen detaillierten Lageplan der Kultstätte Orongo.Am 1. November 1868 kam die H.M.S. Topaze unter Kommodore Richard Ashmore Powel vor der Osterinsel an und blieb bis zum 6. November 1868. Landungsgruppen unter Führung der Schiffsoffiziere und unter Teilnahme des Schiffsarztes John Linton Palmer unternahmen in den nächsten Tagen Ausflüge in verschiedene Regionen der Insel, begleitet von Einheimischen. Sie gelangten nach Vinapu, zum Rano Raraku, zum Ahu Tongariki und zur Kultstätte Orongo. In Orongo brachen sie eines der Steinhäuser auf und entfernten mit der Hilfe von Insulanern den Moai mit dem Namen Hoa Hakananaia, eine der bedeutendsten Kultstatuen der Osterinsel. Sie befindet sich heute im British Museum in London. Palmer legte der Royal Geographical Society einen Bericht über seine Erkenntnisse vor.Im Jahr 1886 besuchte die erst ein Jahr zuvor in Dienst gestellte USS Mohican, ein Dampfschiff der U.S. Pacific Squadron unter dem Befehl von Commander Benjamin F. Day, die Osterinsel mit einem Forschungsauftrag der Smithsonian Institution. Die Mohican traf am 18. Dezember 1886 vor der Osterinsel ein und ankerte in der Bucht von Hanga Roa. Sie blieb bis zum 30. Dezember 1886, und vor allem der Zahlmeister William J. Thomson und der Schiffsarzt George Cooke erkundeten die Insel. Thomsons ausführlichen Bericht kann man durchaus als wissenschaftliche Dokumentation bezeichnen. Er erschien im Jahre 1891 und ist illustriert mit zahlreichen, detailgenauen Zeichnungen und den ersten Fotos von der Insel. Zudem enthält er im Anhang ein mehrseitiges Vokabularium Rapanui-Englisch. Die Mohican brachte zahlreiche Relikte in die Vereinigten Staaten. Das Verzeichnis umfasst 44 Positionen mit z. T. mehreren Einzelstücken. Sie befinden sich heute im National Museum of Natural History, Washington, D.C. Die spektakulärsten Mitbringsel dürften zwei Rongorongo-Schrifttafeln, ein kleiner Moai aus Basalt und ein Moai-Kopf vom Ahu O Pepe sein. === Chilenische Annexion und Verwaltung === Vor dem Hintergrund ihrer territorialen, ökonomischen und militärischen Expansion in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts annektierte die Republik Chile die Insel am 9. September 1888. Die chilenische Regierung war dem Vorschlag des Korvettenkapitäns Policarpo Toro (1856–1921) gefolgt, der aus den Erfahrungen des Salpeterkrieges glaubte, sie sei als Marinestützpunkt und Versorgungsbasis von strategischem Wert. Es wurde ein Vertrag in Spanisch und in Rapanui geschlossen, den Toro und 20 Stammeshäuptlinge an Bord des Kriegsschiffes Angamos unterzeichneten. Die Textversionen des Vertrages in beiden Sprachen differieren und werden heute unterschiedlich interpretiert. Aus Sicht der Rapanui lag die Absicht der Häuptlinge darin, die Souveränität über die Insel zu behalten, gleichwohl aber den Chilenen zu erlauben, das Land für die Viehzucht und –haltung zu nutzen. Als Gegenleistung erwarteten sie, dass die Chilenen sich um die Insel kümmern, Wohlstand bringen und das Land und seine Menschen gegen Übergriffe schützen. Es war nicht gewollt, die Souveränität oder den Besitz über das Land aufzugeben. Allerdings gab es keinerlei amtliche Registrierung des Landbesitzes, lediglich Überlieferungen und mündliche Absprachen. 1895 verpachtete die chilenische Regierung die Insel an den Geschäftsmann Enrique Merlet, der die Viehzucht weiter betrieb. 1903 verkaufte er seine Besitzansprüche an das britische Handelshaus Balfour Williamson. 1911 erreichte eine wissenschaftliche Kommission unter der Leitung des Deutsch-Chilenen Walter Knoche die Insel, um dort eine meteorologische und seismische Station zu errichten und erstmals fächerübergreifend biologische, ethnologische und archäologische Forschungen zu betreiben. Die verschiedenen europäischen Besucher, aber insbesondere die Rückkehrer aus peruanischer Sklaverei, brachten Infektionskrankheiten auf die Insel, die sich rasch verbreiteten und die Bevölkerung dezimierten. Ab etwa 1900 breitete sich auch die Lepra, vermutlich von Tahiti eingeschleppt, auf der Osterinsel aus. Abseits von Hangaroa wurde daher eine Leprakolonie errichtet, in der – nach Erzählungen der Einwohner – die Firma auch missliebige Personen isolierte, die sich dort erst mit der Krankheit ansteckten. Im Ersten Weltkrieg spielte die Insel eine nicht unbedeutende Rolle im Seekrieg. Von Tahiti kommend traf sich ein Geschwader mit den Panzerkreuzern SMS Scharnhorst und SMS Gneisenau, dem Kleinen Kreuzer SMS Leipzig sowie Begleitschiffen mit aus dem Atlantik kommenden Transportschiffen, um Brennstoff und Lebensmittel zu übernehmen. Der Aufenthalt vor der Insel dauerte vom 12. bis 19. Oktober 1914. Am 23. Dezember 1914 versenkte der deutsche Hilfskreuzer SMS Prinz Eitel Friedrich das französische Handelsschiff Jean unmittelbar vor der Bucht von Hangaroa. Die Mannschaft des versenkten Schiffes wurde auf der Insel zurückgelassen. Als der deutsche Hilfskreuzer SMS Seeadler des „Seeteufels“ Felix Graf von Luckner 1917 vor Mopelia (Gesellschaftsinseln) sank, segelte die Mannschaft mit dem gekaperten britischen Schiff Fortuna zur Osterinsel. Das Schiff trieb beim Versuch des Anlandens auf die Klippen und sank. Die Besatzung rettete sich auf die Insel und lebte dort vier Monate, bis sie schließlich im neutralen Chile interniert wurde. Als die angeblich seherisch begabte, betagte Insulanerin Angata, die dem führenden Miru-Clan entstammte, 1914 träumte, Gott habe die gesamte Insel wieder den Rapanui zugesprochen, brach ein Aufstand aus. Die Insulaner wollten nicht länger hinnehmen, dass ihnen das Betreten des größten Teils der Insel untersagt war. Als Angata zudem behauptete, dass Gott die Aufständischen kugelfest gemacht habe und ihnen daher nichts geschehen könne, eskalierte der Konflikt. Der Aufstand wurde mit dem Eintreffen der chilenischen Korvette General Baquedano am 5. August 1914 beendet und vier führende Aufständische vorübergehend in Gewahrsam genommen, aber bald wieder freigelassen. Nur Daniera Teave Korohua, Angatas Sohn, wurde nach Chile deportiert. Comandante Almanzor Hernández erkannte die unerträglichen Verhältnisse und übte Kritik an der Verwaltung der Schaffarm. An den räumlichen Beschränkungen für die Rapanui änderte sich nichts, die Regierung setzte aber einen von der Firma unabhängigen Verwalter ein.Bis zum Jahr 1967 herrschte auf der Insel das chilenische Kriegsrecht. Die Bewohner der Insel unterstanden einer restriktiven militärischen Verwaltung mit einem von Chile eingesetzten Militärgouverneur an der Spitze. Obwohl chilenische Staatsbürger, hatten die Insulaner kein Anrecht auf einen chilenischen Pass und durften die Osterinsel nicht verlassen. Ihr Aufenthalt war auf ein umzäuntes und bewachtes Gebiet um Hangaroa beschränkt, der übrige Teil der Insel durfte nur mit Erlaubnis des Gouverneurs betreten werden. Eigenständige, demokratische Strukturen in der lokalen Verwaltung wurden erst Ende der 1960er Jahre zugelassen. Im Rahmen eines Forschungsprojektes der Universität Chile kam 1935 der deutschstämmige Kapuzinerpater Sebastian Englert auf die Osterinsel. Er blieb dort als Seelsorger bis zu seinem Tod auf einer Vortragsreise im Jahr 1969. Pater Englert sah seine Aufgabe nicht ausschließlich in der Missionierung, er kümmerte sich auch um soziale Belange, Gesundheitsvorsorge und Bildung der Insulaner. Auf den vielseitig Interessierten gehen bedeutende Aufzeichnungen archäologischer, linguistischer, kulturgeschichtlicher und botanischer Erkenntnisse zurück. Seine systematische Sammlung von Artefakten bildet heute den Grundstock des nach ihm benannten Museums in Hanga Roa. In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts gab es mehrere Forschungsexpeditionen zur Osterinsel. Erwähnenswerte Forscher sind die Engländerin Katherine Routledge, der Franzose Alfred Métraux und der Deutsche Thomas Barthel von der Eberhard-Karls-Universität Tübingen, der die wesentlichen Ansätze zur Entschlüsselung der geheimnisvollen Osterinsel-Schrift fand. Thor Heyerdahl hielt sich von 1955 bis 1956 auf der Osterinsel auf. Er führte Ausgrabungen und praktische Experimente durch und richtete den ersten Moai wieder auf. Am 22. Mai 1960 verwüstete das Erdbeben von Valdivia, das eine Stärke von 9,5 hatte, die Stadt Valdivia auf dem chilenischen Festland. Das Beben löste einen Tsunami aus, der auf die Südostküste der Osterinsel traf, die dem Kontinent zugewandt ist. Da die Bevölkerung sich bei Hangaroa auf der Westseite konzentriert, kam es zu keinen Personenschäden. Die sechs Meter hohe Flutwelle drang stellenweise bis zu 500 Meter in das Land ein und zerstörte den erst einige Jahre zuvor restaurierten Ahu Tongariki völlig. Die tonnenschweren Moai wurden 50 bis 150 Meter ins Landesinnere geschleudert. Mit technischer, logistischer und finanzieller Unterstützung aus Japan konnte der Ahu in den Folgejahren restauriert werden, sodass sich die Anlage heute wieder im ursprünglichen Zustand präsentiert. 1967/68 errichtete das US-Militär am Rano Kao eine geheime Station, die angeblich den Zustand der Ionosphäre aufzeichnen und, wie einige auf der Insel vermuteten, französische Atomtests im Pazifik überwachen sollte. Die amerikanischen Militärangehörigen, 45 Offiziere und Mannschaften, sorgten für einen kleinen wirtschaftlichen Aufschwung und es entstanden Arbeits- und Ausbildungsplätze für die Rapanui. Der von dem Kraftwerk des US-Militärs produzierte Strom stand den damals 1600 Inselbewohnern kostenlos zur Verfügung. Unter dem sozialistischen Präsidenten Allende musste die Basis 1970 aufgegeben werden, was nicht von vielen Insulanern begrüßt wurde.Die stufenweise Entwicklung zur Eigenständigkeit der Osterinsel begann mit dem chilenischen Diktator Augusto Pinochet. Pinochet zeigte ein besonderes Wohlwollen für die Osterinsel. Er war 1974 der erste chilenische Präsident, der die Insel besuchte, und er kehrte zweimal, 1980 und 1987, zurück. Unter seiner Regierungszeit wurden erhebliche Mittel in die Verbesserung der Infrastruktur investiert, und er ernannte 1984 den ersten ethnischen Rapanui, den in den USA ausgebildeten Archäologen Sergio Rapu, zum Gouverneur der Osterinsel.Als Interessenvertretung des indigenen Volkes der Osterinsel gründete sich 2001 das „Rapa Nui Parlament“, eine nichtstaatliche Organisation ohne offiziellen Status, die sich in den Folgejahren zunehmend radikalisierte. Am 29. Dezember 2010 vertrieben aus Chile eingeflogene Polizisten Mitglieder des Rapanui-Parlaments gewaltsam aus deren Hauptquartier im Zentrum von Hanga Roa sowie mehrere Hausbesetzer aus einem seit Monaten besetzten Hotel. Mitglieder des Hito-Clans hatten das neu erbaute Luxushotel „Hangaroa Eco Village & Spa“ besetzt, weil sie behaupteten, das Land gehöre ihnen und der Verkauf seitens der Regierung an die chilenische Investorenfamilie sei illegal. Ein von der Verfassunggebenden Versammlung ausgearbeiteter Vorschlag zu einer neuen Verfassung für die Republik Chile (siehe Plebiszit in Chile 2022) sollte u. a. zur Anerkennung des Selbstbestimmungsrechtes der indigenen Gemeinschaften, darunter auch der Rapanui, führen. Bei der Volksabstimmung am 4. September 2022 wurde die Verfassungsänderung bei hoher Wahlbeteiligung mit deutlicher Mehrheit abgelehnt. Die weltweite COVID-19-Pandemie hat im März 2020 auch die abgelegene Osterinsel erreicht. Der erste Fall trat am 24. März 2020 auf. Die Insel wurde abgeriegelt und LANTAM-Airlines angewiesen, alle Touristen zu evakuieren. Die Quarantäne dauerte bis zu August 2022. Erst am 5. August 2022 durften die ersten Touristen wieder einreisen. == Kunst und Kultur == Die Bewohner der Osterinsel haben Kultobjekte sowohl aus Stein als auch aus Holz hergestellt. Die erhaltenen Holzschnitzereien gelangten durch Kauf oder Tausch mit den europäischen Expeditionen in den Bestand der Sammlungen. === Die Moai === Die weltbekannten, kolossalen Steinstatuen der Osterinsel werden Moai genannt. Pater Sebastian Englert nummerierte und katalogisierte 638 Statuen, das Archaeological Survey and Statue Projekt von 1969 bis 1976 ermittelte 887, vermutlich waren es jedoch ursprünglich über 1000.Trotz umfangreicher Forschungen sind ihr eigentlicher Zweck und die genaue Zeit ihrer Errichtung unter den Experten immer noch umstritten. Man geht heute davon aus, dass sie berühmte Häuptlinge oder allseits verehrte Ahnen darstellen, die als Bindeglied zwischen diesseitiger und jenseitiger Welt fungierten. Im Oktober 2022 entstand nach einer längeren Trockenperiode ein Großfeuer am Rano Raraku, das einige der am Berghang stehenden Moai beschädigte. Das Feuer brachte aber auch einen 1,60 m großen Moai zutage, der im Schilf des Kratersees verborgen und zuvor nicht bekannt war. === Rongorongo-Schrift === Die Osterinselkultur verfügt als einzige im Pazifik über eine eigene Schrift, die Rongorongo-Schrift. Es ist eine mit Lautzeichen durchsetzte Bilderschrift. Geschrieben wird in Zeilen in einer Variante des Bustrophedon: Jede Zeile steht gegenüber der vorhergehenden auf dem Kopf und ist gegenläufig geschrieben. Es wird von links nach rechts gelesen und am Ende der Zeile wird die Tafel um 180 Grad gedreht. Der Beginn ist links unten. Die durchschnittlich einen Zentimeter hohen Schriftzeichen zeigen grafische Symbole, Vogelmänner, Menschen, Tiere, Körperteile, astronomische Symbole und Geräte des täglichen Gebrauchs (Boot, Haus, Speer, Steinbeil, Paddel). Die Bilderschrift setzt sich jedoch nicht aus Piktogrammen, die unmittelbar reale Objekte abbilden, zusammen. Thomas Barthel, der wohl profundeste Kenner der Osterinsel-Schrift, hält sie lediglich für eine Gedächtnisstütze, d. h., es sind Kernbegriffe abgebildet, um die herum Wörter und Sätze aus dem Gedächtnis zu ergänzen sind. Der Archäologe Kenneth P. Emory vom Bishop Museum in Hawaii vertritt eine völlig andere Auffassung. Aus der Tatsache, dass die wenigen erhaltenen Rongorongo-Tafeln nachweislich zwischen 1722 und 1868 aufgefunden wurden, zieht er den Schluss, bei der Schrift handele es sich lediglich um eine Nachahmung europäischer Schriftzeugnisse. Die vollständige Entzifferung der Osterinsel-Schrift galt lange als ungelöstes Problem, insbesondere, da die Schriftkultur im Südseeraum keine Parallelen hat. Erst der systematische Vergleich mit Kalenderwissen und die Einbeziehung mündlicher Überlieferungen brachte erste Ansätze zur inhaltlichen Deutung. Bereits Thomas Barthel vermutete zumindest in Teilen in einer Schrifttafel, genannt Tablet Mamari (heute im Archiv der Congregazione dei SS Cuori in Grottaferrata bei Rom), einen Mondkalender, da die Zeilen 6 bis 9 der Vorderseite auffallend viele astronomische Zeichen und Mondsymbole zeigen. Diese Ansicht wurde inzwischen bestätigt. Weltweit sind nur 25 als authentisch geltende Schriftzeugnisse auf Holztafeln, den Rongorongo-Tafeln, aber auch auf anderen Kultgegenständen (Rei-Miro in London, Vogelmann in New York und Zeremonialstab in Santiago de Chile) bekannt. Die erhaltenen Rongorongo-Tafeln sind überwiegend aus Toromiro-Holz geschnitzt. Die Schriftzeichen wurden vermutlich mit Obsidiansplittern oder Haifischzähnen eingraviert, Kenneth P. Emory behauptet, mit eisernen Werkzeugen europäischen Ursprunges. Die Schrifttafeln sind heute über Museen und Sammlungen der ganzen Welt verstreut. Die Deutungsversuche sind zahllos, insbesondere seit sich Laienforscher daran versuchen. Die seriösen Erklärungen für die aufgezeichneten Texte reichen von Genealogien bis zu rituellen Gesängen. Bislang ist es jedoch immer noch nicht gelungen, die Texte Zeile für Zeile zu übersetzen. === Orongo und der Vogelmann-Kult === Am Hang des Rano Kao, gefährlich nah an einer 300 Meter abfallenden Klippe, befinden sich die bekannten Orongo-Petroglyphen. Das Hauptmotiv ist das des Vogelmannes (polynesisch: Tangata Manu), ein Mischwesen aus Mensch und Fregattvogel. Der Kult um den Vogelmann erlangte ab etwa 1500 n. Chr. zunehmende Bedeutung. Die Gründe für die Abkehr von der alten Religion der Ahnenverehrung, die letztendlich auch das spätere Umstürzen der Moais zur Folge hatte, sind unbekannt. Die Archäologin Georgia Lee, Herausgeberin des Rapa-Nui-Journals, vertritt die Auffassung, dass dies mit der Machtübernahme durch eine Kriegerkaste als Folge der ökologischen Zerstörung in Zusammenhang zu bringen ist. Andere, zum Beispiel Alfred Métraux, nehmen an, dass Ahnenverehrung und Vogelmann-Kult zumindest eine Zeitlang parallel bestanden haben. In jedem Frühjahr schwammen junge Männer von Orongo aus zum vorgelagerten Motu Nui, um das erste Ei der Rußseeschwalbe (Sterna fuscata) zu finden. Wer als erster ein unbeschädigtes Ei zurückbrachte, wurde zum Vogelmann erklärt, stand rituellen Opfern vor und erfreute sich besonderer Privilegien. Vogelmannfiguren sind in der gesamten Südsee (Samoa, Sepik-Region in Neuguinea) verbreitet. Ein weiteres Motiv der Felsritzungen bei Orongo ist Makemake, ein maskenhaftes Gesicht mit großen, eulenartigen Augen, das den Schöpfergott darstellt. Es sind auch Tierdarstellungen zu finden (Vögel, Wale, Haie, Schildkröten) sowie grafische Motive. Zur Kultstätte Orongo gehören sorgfältig errichtete steinerne Hütten, mit einem Dach aus Grassoden, die nicht ständig bewohnt, sondern nur zu kultischen Zwecken genutzt wurden. === Rei-Miro === Rei Miro ist ein nur in der Kultur der Osterinsel bekanntes hölzernes Pektoral, vorwiegend aus Toromiro-Holz geschnitzt. Es hat eine mondsichelartige Form, die aber auch als Bootskörper gedeutet werden kann. Die beiden Enden sind häufig als menschliche oder tierische Köpfe mit feinen Gesichtszügen ausgebildet. An den oberen Enden befinden sich Löcher für eine Umhängeschnur. Einige Pektorale sind mit Schriftzeichen versehen. Rei Miro von der Osterinsel finden sich in den verschiedensten Museen der Welt. Ihre Bedeutung (Kultgegenstand, Schmuck oder Rangabzeichen) ist unbekannt. === Ao und Rapa === Ao und Rapa sind paddelförmige, aus Holz geschnitzte Ritualobjekte, die als Rangabzeichen hoher Würdenträger, aber auch bei rituellen Tänzen verwendet wurden. === Kulthöhlen === Der vulkanische Ursprung der Insel hat zur Folge, dass sich im Gestein zahlreiche Höhlen und Klüfte gebildet haben. Die Höhlen wurden als Kultstätten genutzt, wie zahlreiche Felsmalereien beweisen. Die Motive haben ihren Ursprung überwiegend im Vogelmann-Kult. Thor Heyerdahl fand in den Höhlen noch zahlreiche steinerne Kleinplastiken mit den unterschiedlichsten Motiven: Vogelmanndarstellungen, Moais, Kopfplastiken, anthropomorphe und zoomorphe Figuren bis hin zu Darstellungen von Segelschiffen. Die geheimen Höhlen sind einzelnen Familien zugeordnet. Das Wissen darüber wurde mündlich an besonders ausgesuchte Mitglieder der Nachfolgegeneration vermittelt. Knochenfunde beweisen, dass die Höhlen auch als Begräbnisstätten genutzt wurden, jedoch vermutlich nur in der Spätperiode. Der Überlieferung der Inselbewohner nach dienten die Höhlen in der Zeit des Kulturverfalls und der nachfolgenden Bürgerkriege auch als Zufluchtsstätten. Eine von Touristen häufig besuchte Kulthöhle mit zahlreichen Felsbildern ist Ana Kai Tangata, die sogenannte „Menschenfresserhöhle“, bei Mataveri an der Westküste. == Die Osterinsel heute == === Verwaltung === Die Osterinsel ist eine von acht Provinzen der chilenischen Región de Valparaíso (spanisch Provincia de Isla de Pascua). Sie wird nicht wie die meisten übrigen Departamentos Chiles weiter in Gemeinden untergliedert, sondern entspricht einer Gemeinde. === Infrastruktur === Den Mataveri International Airport (IATA-Flughafencode IPC) gibt es seit den 1950er Jahren, ursprünglich nur als unbefestigte Graspiste. Am 19. Januar 1951 flog der chilenische Militärpilot Roberto Parragué Singer mit einem Catalina-Flugboot vom Flughafen La Florida in 19 Stunden und 20 Minuten zur Osterinsel und landete auf einem notdürftig hergerichteten Landestreifen bei Mataveri. In den 1960er Jahren erkannte Chile die Bedeutung der Insel als Zwischenstation in einem transpazifischen Luftnetzwerk, nicht zuletzt unter militärischen Gesichtspunkten. Nachdem Pläne für einen Neubau bei Anakena als zu teuer verworfen wurden, erweiterte und asphaltierte man den vorhandenen Landestreifen. Am 5. April 1967 landete die erste Passagiermaschine, eine Douglas DC-6, mit vierzig US-amerikanischen Touristen auf dem Flughafen Mataveri. Doch der Hauptzweck des von der chilenischen Luftwaffe betriebenen Flugplatzes war die Versorgung der amerikanischen Basis. Als der Mataveri International Airport 1984 von der NASA als Notlandeplatz für die Raumfähren ausgebaut wurde, konnten dort Großraumflugzeuge landen. Das hat zu einem deutlichen Anstieg des Tourismus geführt, heute die Haupteinnahmequelle der Insel. Vor der Corona-Pandemie führte LATAM Airlines täglich Flüge von und nach Santiago de Chile durch, die Flugzeit beträgt rund viereinhalb Stunden. Zweimal pro Woche gab es eine Flugverbindung von und nach Papeete auf Tahiti, die Flugzeit beträgt rund sechs Stunden. Seit 1967 gibt es ein zentrales Wasserleitungssystem mit Tiefbrunnen; bis dahin war die Bevölkerung auf die Vorräte in den Kraterseen bzw. an der Küste aussickerndes Grundwasser angewiesen. An das mit Dieselgeneratoren betriebene Stromversorgungsnetz sind auch im Außenbereich liegende Anwesen angeschlossen. Befestigte Straßen findet man im unmittelbaren Bereich von Hanga Roa und Mataveri. Auch die Strecken von Hanga Roa zum Strand von Anakena und entlang der Südküste zur Halbinsel Poike sind inzwischen asphaltiert. Alle Straßen in Hangaroa haben einen Namen, doch sind sie nicht auf Straßenschildern angegeben. In der Nähe des Flughafens befindet sich die einzige Tankstelle, es gibt jedoch keinen Autohändler. Öffentliche Verkehrsmittel gibt es ebenfalls nicht. Einige Taxis, Mietwagen und Mietfahrräder stehen zur Verfügung. Manche der einheimischen Familien halten Pferde, die als alltägliches Fortbewegungsmittel dienen, oder fahren mit dem Motorrad. An den fünf Schulen in Hangaroa können alle Bildungsabschlüsse bis zur Hochschulreife (Enseñanza Media, entspricht dem deutschen Abitur und der österreichischen/schweizerischen Matura) erworben werden. Ein Fach- oder Hochschulstudium ist jedoch nur auf dem Festland möglich. In einer der Grundschulen gibt es einen von der UNESCO unterstützten Schulversuch bilingualen Unterrichts mit Rapa Nui und Spanisch. Problematisch ist, dass es auf Rapa Nui keine Druckerei gibt – alle Druckerzeugnisse auf Rapa Nui müssen auf dem chilenischen Festland gedruckt werden, was die Herstellung erheblich verteuert. Die Gesundheitsversorgung ist weitaus besser als in anderen abgelegenen Regionen von Chile. 1964 kam eine kanadische wissenschaftliche Kommission (Medical Expedition to Easter Island – METEI) im Auftrag der UN auf die Osterinsel, um in einem Pilotprojekt den Zusammenhang zwischen Vererbung, Umwelt und Krankheiten zu untersuchen. Als sie 1964 die Insel verließ, blieben die in einigen Containern untergebrachten modernen medizinischen Einrichtungen zurück. Sie bildeten den Grundstock für die Gesundheitsversorgung der Insel nach neuzeitlichem Standard. 1975 wurde das kleine Krankenhausgebäude errichtet, das heute einen Arzt, einen Zahnarzt, eine Hebamme sowie einen Pflegedienst beherbergt. Dort ist auch ein Ambulanzwagen stationiert. Ein Augenarzt kommt regelmäßig vom chilenischen Festland und hält Sprechstunden ab. Die weitere Infrastruktur mit Kirche, Post, Bank, Apotheke, kleinen Geschäften, einigen kleinen Supermärkten, Snack-Bars und Restaurants hat sich seit den 1960er Jahren erheblich verbessert, nicht zuletzt zur Befriedigung der Bedürfnisse des Tourismus. Die meisten Geschäfte befinden sich in der Avenida Atamu Tekena, der Hauptstraße des Dorfes. Am Hafen wird morgens frischer Fisch verkauft, doch sind Auswahl und angebotene Menge gering. Vor einigen Häusern sind Stände aufgebaut, an denen Einheimische selbstgezogenes Obst und Gemüse feilbieten. Satellitentelefon, Internet und E-Mails sind selbstverständlich. Mobiltelefone funktionieren derzeit nur in Hangaroa und Umgebung (mehr oder weniger störungsfrei), das Netz wird aber kontinuierlich erweitert. Inzwischen gibt es auch eine Diskothek für die jüngeren Inselbewohner. === Bevölkerungsentwicklung === Der erste amtliche Zensus auf der Osterinsel fand im Jahr 1922 statt. Die Insel hatte damals 298 Einwohner, sechs davon waren keine Rapanui. Alle veröffentlichten Einwohnerzahlen vor dieser Zeit sind nur bedingt zuverlässig, die Angaben in den Berichten der europäischen Entdecker sind nichts weiter als grobe Schätzungen. Um die tatsächliche Anzahl der Bewohner in der Blütezeit der Osterinselkultur – d. h. vor Ankunft der Europäer – zu ermitteln, sind wir auf indirekte Methoden angewiesen. Einen hinreichenden Anhaltswert kann die Multiplikation der Gebäudeüberreste mit der mutmaßlichen Anzahl der jeweiligen Hausbewohner ergeben. Eine erste Berechnung auf dieser Basis veröffentlichte der Archäologe Patrick McCoy im Jahr 1976 in seiner Dissertation. Er ermittelte eine Einwohnerzahl von rund 7000 Personen um das Jahr 1600 n. Chr.Die Archäologin Jo Anne Van Tilburg kommt anhand ähnlicher Daten auf eine Gesamtzahl von 7000 bis 9000 Inselbewohnern zur Zeit der Kulturblüte. Das entspräche einer Bevölkerungsdichte von etwa 50 Einwohnern pro km², kein besonders hoher Wert. Die zur Verfügung stehende landwirtschaftliche Nutzfläche dürfte mehr als ausreichend gewesen sein, um alle Menschen zu ernähren.Als Folge der von politischen und religiösen Umwälzungen verursachten Unruhen und Konflikte des 17. Jahrhunderts nahm die Bevölkerung beträchtlich ab, einige Forscher vermuten auf etwa 3000 Personen vor Ankunft der Europäer. Die Deportation als Zwangsarbeiter nach Peru und die von den Rückkehrern eingeschleppten Krankheiten führten zu einem weiteren Bevölkerungsrückgang. Der Interessenkonflikt zwischen den Ureinwohnern und der Schafzucht führte dazu, dass 168 Bewohner im Jahr 1871 mit Hilfe der Missionare auswanderten, vorwiegend nach Mangareva. 1877 betrug die Einwohnerzahl nur noch 111. Danach erholte sich die Bevölkerung langsam. 1882 ermittelte Wilhelm Geiseler in einer nichtamtlichen, aber wahrscheinlich zuverlässigen Zählung insgesamt 159 Einwohner, davon 67 Männer, 39 Frauen und 44 Kinder.Zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts gab es insbesondere unter der jungen Bevölkerung den verbreiteten Wunsch auszuwandern. Entsprechende Bestrebungen wurden jedoch von der chilenischen Militärverwaltung unterbunden. 1934 zählte der argentinisch-israelische Arzt und Anthropologe Israel Drapkin (1906–1990) 469 Einwohner, davon 456 ethnische Rapanui, und erfasste deren Namen und Familienzugehörigkeit.Ab der Mitte des 20. Jahrhunderts stieg die Einwohnerzahl deutlich an. Thor Heyerdahl registrierte 1955 insgesamt 842 Rapanui.Vorwiegend durch Zuwanderung nahm die Bevölkerung von 3952 im Jahr 2002 auf 8601 im Jahr 2022 erheblich zu. Der Zuwachs ist der höchste der chilenischen Provinzen. Viele Aussteiger vom chilenischen Festland erhofften sich größere Freiheiten auf der Osterinsel. In der Folge veränderte sich die demografische Zusammensetzung der Bevölkerung zu Ungunsten der polynesischen Ureinwohner. 1982 waren 70 % der Bewohner ethnische Rapanui, im Jahr 2002 betrug ihr Anteil nur noch 60 Prozent. Im Jahr 2012 waren die Rapanui mit weniger als 50 Prozent schon eine Minderheit. Nach Protesten der Rapanui, die sich zunehmend von den Zuwanderern „überrannt“ fühlten, wurde daher mit Verordnung des Innen- und Sicherheitsministeriums vom 7. März 2018 der Zuzug in das „Sondergebiet Osterinsel“ beschränkt und strengen Regeln unterzogen. Touristen dürfen nur noch mit Reisepass für maximal 30 Tage einreisen, müssen ein Rückflugticket vorweisen sowie die persönliche Einladung eines Residenten oder eine Hotelbuchung. Aber es gab nicht nur Zuwanderungen. Rapanui sind auch zum Festland emigriert. Bei der Volkszählung 2002 wurde festgestellt, dass 2269 Rapanui außerhalb der Osterinsel in Chile lebten. == Tourismus == Tourismus in nennenswertem Umfang gibt es erst seit 1967, als die erste Passagiermaschine auf der Insel landete. Auch heute noch ist die Osterinsel per Flugzeug ausschließlich mit der Fluggesellschaft LATAM Airlines von Santiago de Chile oder von Tahiti aus zu erreichen. Die Zahl der Touristen war vor der Covid-19-Pandemie erheblich angestiegen, blieb allerdings im Vergleich zu anderen Urlaubsinseln immer noch gering. Die chilenische Regierung senkte 2018 die maximale Aufenthaltsdauer von Touristen und Nicht-Einheimischen von 90 auf 30 Tage und begründete dies mit dem Schutz der Insel und deren begrenzten Ressourcen.Die Osterinsel verfügt nur über einen Hafen für kleine Boote. Eine regelmäßige Schiffsverbindung gibt es nicht. Kreuzfahrtschiffe liegen vor Hanga Roa auf Reede. Die Passagiere werden ausgebootet, was bei der häufig rauen See unangenehm sein kann. Das Angebot für Touristen reicht von Privatquartieren bis hin zu Luxushotels. Eines der Häuser gehört zu den „Leading Hotels of the World“. Die Mehrzahl der Touristen bleibt im Rahmen von Rundreisen nur zwei oder drei Tage auf der Insel. Das hohe Preisniveau ist darauf zurückzuführen, dass alles – einige landwirtschaftliche Produkte ausgenommen – zu hohen Preisen vom Festland importiert werden muss. Da die Bevölkerung heute überwiegend vom Tourismus lebt, gibt es kundige einheimische Reiseführer für alle gängigen Sprachen, auch für Deutsch. Die Sehenswürdigkeiten sind mit dem Geländewagen, zu Pferd und für geübte Wanderer auch zu Fuß erreichbar. Der Rano Raraku, die „Geburtsstätte“ der Moai, ist der für den Touristen wohl interessanteste Punkt der Insel. An den Hängen des Vulkanes und rund um den Kratersee stehen oder liegen über 300 Statuen in unterschiedlicher Größe und verschiedenen Stadien der Fertigung. Unweit davon steht an einer Meeresbucht der Ahu Tongariki, die größte Zeremonialplattform Polynesiens mit 15 wieder aufgerichteten Statuen von imponierender Größe. Bei Anakena befindet sich der einzige nennenswerte Strand der Insel aus feinem, weißen Korallensand. Hier ist Baden möglich. In dem Kokoswäldchen werden Picknicks für Touristen veranstaltet. Bei Anakena liegen zwei interessante Zeremonialplattformen, der Ahu Naunau und der Ahu Ature Huki. In den Ahu Naunau ist ein kleinerer Moai eingebaut, sozusagen recycelt. Te Pito o Te Henua (Der Nabel der Welt) (gelegentlich auch: Te Pito Kura) ist eine zeremonielle Anlage rund um einen kugelförmigen Stein, der vermutlich natürlichen Ursprungs ist. Von Esoterikern werden dem Ort ungewöhnliche Eigenschaften zugesprochen. Vom Kraterrand des Rano Kao bietet sich ein spektakulärer Ausblick auf die drei der Südwestküste vorgelagerten Motus. Unmittelbar dort liegt auch die Zeremonialanlage Orongo. Puna Pau im Westen ist der Steinbruch am Hang eines Nebenvulkans des Rano Kao, in dem die Kopfaufsätze der Moai aus roter Vulkanschlacke hergestellt wurden. Das Museo Antropologico Padre Sebastian Englert, etwas außerhalb von Mataveri gelegen, ist im Vergleich zu manch anderem Völkerkundemuseum in Europa oder Amerika bescheiden ausgestattet. Dennoch ist der Besuch wegen des 1978 bei Anakena gefundenen Original-Auges eines Moai empfehlenswert. == Rezeption == 1989 veranstaltete das Senckenbergmuseum in Frankfurt am Main eine richtungweisende Ausstellung, in der erstmals einige der über die ganze Welt verstreuten Relikte der Osterinsel-Kultur zusammengeführt wurden. Die Insel war Handlungsort einer Reihe von Filmen. 1994 rückte die Osterinsel mit dem Kinofilm Rapa Nui – Rebellion im Paradies, produziert u. a. von Hollywood-Star Kevin Costner, in die weltweite Aufmerksamkeit. Der Film zeigt, eingebettet in viele Landschaftsaufnahmen, in spielfilmtypisch dramatischer Zuspitzung den Transport und die Aufrichtung der Moai, die Eingriffe der Menschen in die Natur und die damit verbundenen negativen Folgen. Die Folge 42: Chile und die Osterinsel (Erstausstrahlung am 1. Januar 2002), der Fernsehserie des ZDF Das Traumschiff, die seit 1981 nach einer Idee von Wolfgang Rademann produziert wird, hat die Osterinsel zum Thema. Ein weiteres Filmprojekt, eine Seifenoper von Chiles nationaler Fernsehstation Televisión Nacional de Chile mit dem Titel: „Iorana, Bienvenido al Amor“, machte die Osterinsel in Chile bekannt. Seit der Ausstrahlung 1997/98 (mit mehreren Wiederholungen) hat sich die Zahl der chilenischen Touristen vervielfacht. Der deutsche Komponist Valentin Ruckebier schrieb eine Ballettsuite mit dem Titel Osterinsel, die Worte aus dem Rapanui vertont. == Siehe auch == Rapa Iti (pazifische Insel mit einer ähnlich hohen Abgeschiedenheit und ähnlicher Besiedlungsgeschichte) == Literatur == William Churchill: Easter Island: The Rapanui Speech and the Peopling of Southeast Polynesia. Washington 1912 (online). Karlo Huke Atán: Mündliche Überlieferungen der Osterinsel. Eine Botschaft der Maoris von Rapa Nui. Freiburg/ Köln 1999, ISBN 3-932248-08-2 (Sagen und Mythen der Osterinsel). Thomas Barthel: Grundlagen zur Entzifferung der Osterinselschrift. Cram/ de Gruyter, Hamburg 1958 (Grundlagenwerk zur Osterinselschrift). Sebastian Englert: Das erste christliche Jahrhundert der Osterinsel (1864–1964). Neu herausgegeben von Karl Kohut. Mit einer ethnologischen Einführung von Horst Cain, einer Lebensskizze Sebastian Englerts von Ludwig B. Riedl und einem missionstheologischen Nachwort von Johannes Meier. Frankfurt am Main 1996, ISBN 3-89354-973-0 (Missionsgeschichte). Heide-Margaret Esen-Baur: Untersuchungen über den Vogelmann-Kult auf der Osterinsel. Wiesbaden 1983, ISBN 3-515-04062-5 (Dissertation über den Vogelmannkult und die Kultstätte Orongo). Heide-Margaret Esen-Baur: 1500 Jahre Kultur der Osterinsel – Schätze aus dem Land des Hotu Matua. Ausstellung veranstaltet von der Deutsch-Ibero-Amerikanischen Gesellschaft Frankfurt am Main, 5. April bis 3. September 1989. Mainz am Rhein 1989, ISBN 3-8053-1079-X (Katalog zur Ausstellung im Naturmuseum Senckenberg mit wissenschaftlichen Informationen). Fritz Felbermayer: Sagen und Überlieferungen der Osterinsel. Carl, Nürnberg 1971 (Sagen und Mythen der Osterinsel). Hermann Fischer: Schatten auf der Osterinsel – Plädoyer für ein vergessenes Volk. Oldenburg 1998, ISBN 3-8142-0588-X (Neuere Geschichte). Thor Heyerdahl: Aku-Aku. Das Geheimnis der Osterinsel. Ullstein, 1957; Frankfurt am Main/ Berlin/ Wien 1974, ISBN 3-550-06863-8 (populärwissenschaftliches Werk, veraltet). Walter Knoche: Die Osterinsel. Die chilenische Osterinsel-Expedition von 1911. Harrassowitz, Wiesbaden 2015, ISBN 978-3-447-10478-4 (Kommentierte Neuausgabe). Henri Lavachery: Île de Pâques. Une expédition belge en 1934. Grasset, 1935, OCLC 9053933 (Bericht der belgisch-französischen Osterinsel-Expedition von 1934). Alfred Métraux: Ethnologie de l’île de Pâques. 1935 (Grundlagenwerk zur Ethnologie). Alfred Métraux: Die Oster-Insel. Stuttgart 1957 (deutschsprachige, gekürzte Version des Grundlagenwerkes von Alfred Métraux: L’île de Pâques). Anne Reichardt, Ingo Reichardt: Die Osterinsel. Heidelberg 2000, ISBN 3-925064-27-3 (Ein Reiseführer). Anne Reichardt, Ingo Reichardt: Die Osterinsel – Destination IPC – Impressionen und Reiseführer, Bildband. Verlagspräsentation auf Frankfurter Buchmesse 2016, Berlin 2017, ISBN 978-3-7418-3369-4. Peter Burghardt: Der Nabel der Welt. Abgelegener als auf der Osterinsel kann man kaum leben. Dennoch wären ihre Bewohner, die Rapa Nui, gerne unabhängiger. Über eine kleine Revolte im Pazifischen Ozean.. In: Süddeutsche Zeitung. Nr. 299, 30. Dezember 2014, Die Seite Drei. Robert W. Williamson: The social and political systems of central Polynesia. Band 1, S. 384–409, Cambridge University Press 1924 (online/commons). The Voyage of Captain Don Felipe Gonzalez to Easter Island 1770-1. 1903 (Volltext als PDF; 6,5 MB). == Dokumentationen == Aufgedeckt: Geheimnisse des Altertums - Die Steinskulpturen der Osterinsel. TV-Dokumentation in HD von Anna Thomson; CDN/ GB 2014 (BBC); deutsche Synchronfassung: ZDFinfo 2015; mitwirkend: Patricia Vargas Casanova (Archäologin), Edmundo Edwards (Ärchäologe), Alexandra Edwards (Archäologin), Paul Bahn (Ärchäologe), Claudio Christino (Anthropologe), Mike Pitts (Journalist/ Archäologe), Jan j. Boersema (Umweltwissenschaftler), Candace Gossen (Umweltarchäologin), James Miles (Computerarchäologe). == Weblinks == Schätze der Welt: Osterinsel. In: swr.de, mit RealVideo (14 Min.) Das Eiland am Ende der Welt. In: Die Zeit. Warnung an die Welt. In: Die Zeit. Video Terra X: Heiße Spur auf Rapa Nui (13. September 2013, 5:45 Uhr, 43:30 Min.) in der ZDFmediathek, abgerufen am 5. Februar 2014. Nicht kommerzielle Wissenssammlung von Freunden der Osterinsel == Einzelnachweise ==
https://de.wikipedia.org/wiki/Osterinsel
Hermann Hesse
= Hermann Hesse = Hermann Karl Hesse, Pseudonym: Emil Sinclair (* 2. Juli 1877 in Calw; † 9. August 1962 in Montagnola, Schweiz; heimatberechtigt in Basel und Bern), war ein deutsch-schweizerischer Schriftsteller, Dichter und Maler. Bekanntheit erlangte er mit Prosawerken wie Siddhartha, Der Steppenwolf, Demian, Das Glasperlenspiel sowie Narziß und Goldmund und mit seinen Gedichten (z. B. Stufen). 1946 wurde ihm der Nobelpreis für Literatur verliehen, 1954 wurde er in den Orden Pour le Mérite für Wissenschaften und Künste aufgenommen. Die meisten seiner Werke haben die Suche eines Menschen nach Authentizität, Selbsterkenntnis und Spiritualität zum Thema. == Leben == === Kindheit und Jugend (1877–1895) === ==== Elternhaus ==== Hermann Hesse stammte aus einer evangelischen Missionarsfamilie und wuchs in einer behüteten und intellektuellen Familienatmosphäre auf. Beide Eltern waren im Auftrag der Basler Mission in Indien tätig, wo Hesses Mutter, die württembergische Marie Gundert, auch geboren worden war. Sein Vater Johannes Hesse, Sohn des Kreisarztes und Staatsrates Carl Hermann Hesse sowie Enkel eines von Lübeck nach Estland ausgewanderten Kaufmanns, lebte in Weißenstein, Gouvernement Estland, im damaligen Russischen Kaiserreich; damit war auch Hermann von Geburt an russischer Staatsangehöriger. In Calw war Johannes Hesse ab 1873 Mitarbeiter des Calwer Verlagsvereins. Dessen Vorstand war sein Schwiegervater Hermann Gundert, dem er 1893 als Vorstand und Verlagsleiter folgte (bis 1905). Hermann Hesse hatte acht Geschwister, von denen drei im Kleinkindalter starben. Er wuchs mit den beiden mehrere Jahre älteren Halbbrüdern Theodore und Karl Isenberg auf, Kinder seiner Mutter mit ihrem verstorbenen ersten Ehemann Charles Isenberg. Die weiteren drei Vollgeschwister waren Adele, Marie „Marulla“ und Johannes „Hans“. Hermann Hesse war ein fantasievolles Kind mit ausdrucksstarkem Temperament. Schon früh machte sich sein Talent bemerkbar: Ihm mangelte es nicht an Gedicht-Ideen, und er zeichnete wunderbare Bilder. So schrieb seine Mutter am 2. August 1881 in einem Brief an seinen Vater Johannes Hesse: Die Welt, in der Hermann Hesse seine ersten Lebensjahre verbrachte, war einerseits vom Geist des schwäbischen Pietismus geprägt. Andererseits wurde seine Kindheit und Jugend begleitet durch das Baltentum seines Vaters, was Hermann Hesse als „eine wichtige und wirksame Tatsache“ bezeichnete. So war der Vater sowohl in Württemberg als auch in der Schweiz ein unangepasster Fremder, der nirgendwo Wurzeln schlug und „immer wie ein sehr höflicher, sehr fremder und einsamer, wenig verstandener Gast“ wirkte. Hinzu kam, dass die Familie auch mütterlicherseits der weitgehend internationalen Gemeinschaft der Missionsleute angehörte und dass seine aus dieser Linie stammende Großmutter Julie Gundert, geb. Dubois (1809–1885) als französischsprachige Schweizerin ebenfalls zeitlebens eine Fremde in der schwäbisch-kleinbürgerlichen Welt blieb. Erlebnisse und Begebenheiten aus seiner Kindheit und Jugend in Calw, die Atmosphäre und Abenteuer am Fluss, die Brücke, die Kapelle, die eng aneinander liegenden Häuser, versteckte Winkel und Ecken sowie die Bewohner mit all ihren liebenswerten Eigenarten oder Schrullen hat Hesse in seinen frühen Gerbersau-Erzählungen beschrieben und zum Leben erweckt. In Hesses Jugendzeit wurde diese Atmosphäre unter anderem noch stark von der alteingesessenen Zunft der Gerber geprägt. Auf der Nikolausbrücke, seinem Lieblingsort in Calw, hielt Hesse sich oft und gern auf. Daher ist 2002 dort die oben abgebildete, von Tassotti geschaffene lebensgroße Hesse-Skulptur aufgestellt worden.Ein mehr von innen her wirkendes Gegengewicht zum Pietismus war die immer wieder in den Erzählungen des Vaters Johannes Hesse aufleuchtende Welt Estlands. „Eine überaus heitere, bei aller Christlichkeit sehr lebensfrohe Welt […] nichts wünschten wir sehnlicher, als auch einmal dieses Estland […] zu sehen, wo das Leben so paradiesisch, so bunt und lustig war.“ Zudem stand Hermann Hesse die umfassende Bibliothek seines gelehrten Großvaters Hermann Gundert mit Werken der Weltliteratur zur Verfügung, die er sich intensiv erschloss. All diese Komponenten eines Weltbürgertums „waren die Grundlagen für eine Isolierung und für ein Gefeitsein gegen jeden Nationalismus, die in meinem Leben bestimmend gewesen sind“. ==== Schulische Ausbildung ==== 1881 zog die Familie für fünf Jahre nach Basel. Der Vater Johannes erwarb 1882 das Basler Bürgerrecht, wodurch die gesamte Familie zu Schweizer Staatsbürgern wurde. Wohnhaft waren sie in der Nähe der Schützenmatte; Hesse sprach später von den „Herrlichkeiten jener Wiese“ in seiner Kindheit. Ab 1885 war Hesse Schüler in der Internatsschule der Mission, genannt Knabenhaus. In der „Basler Mission“ unterrichtete Hermann Hesses Vater. Im Juli 1886 zog die Familie wieder nach Calw, wo Hesse zunächst in die zweite Klasse der Calwer Lateinschule (Reallyzeum) eintrat. Er wechselte 1890 auf die Lateinschule in Göppingen zur Vorbereitung auf das württembergische Landexamen, das Württembergern eine kostenlose Ausbildung zum Landesbeamten oder Pfarrer erlaubte. Deshalb erwarb der Vater im November 1890 für ihn als einziges Mitglied der Familie die württembergische Staatsangehörigkeit, wodurch er das Schweizer Bürgerrecht verlor. Nachdem er 1891 in Stuttgart das Landexamen bestanden hatte, besuchte er, für die Theologenlaufbahn bestimmt, das evangelisch-theologische Seminar im Kloster Maulbronn. In Maulbronn zeigte sich im März 1892 der „rebellische“ Charakter des Schülers: Er entwich aus dem Seminar, weil er „entweder ein Dichter oder gar nichts“ werden wollte, und wurde erst einen Tag später auf freiem Feld aufgegriffen. Nun begann, begleitet von heftigen Konflikten mit den Eltern, eine Odyssee durch verschiedene Anstalten und Schulen. Im Alter von 14 Jahren befand sich Hermann Hesse vermutlich in einer depressiven Phase und äußerte in einem Brief vom 20. März 1892 Suizidgedanken („Ich möchte hingehen wie das Abendrot“). Im Mai 1892 versuchte der Jugendliche einen Suizid mit einem Revolver in der vom Theologen und Seelsorger Christoph Friedrich Blumhardt geleiteten Anstalt Bad Boll. Im Anschluss daran wurde Hesse von seinen Eltern in die Nervenheilanstalt im damaligen Stetten im Remstal (der heutigen Diakonie Stetten e. V. in Kernen im Remstal) bei Stuttgart gebracht, wo er im Garten arbeiten und beim Unterrichten geistig behinderter Kinder helfen musste. Hier kulminierten pubertärer Trotz, Einsamkeit und das Gefühl, von seiner Familie unverstanden verstoßen zu sein. In dem berühmten anklagenden Brief vom 14. September 1892 an seinen Vater titulierte er diesen, nunmehr deutlich Abstand einnehmend, mit „Sehr geehrter Herr!“ – dies im Gegensatz zu früheren, zum Teil offenen, sehr mitteilsamen Briefen. Zudem versah er den Brieftext mit aggressiv-ironisierenden und sarkastischen Formulierungen. So wies er (zusätzlich zur eigenen Person) auch seinem Vater bereits im Vorfeld die Schuld an möglichen zukünftigen „Verbrechen“ zu, die er, Hermann, infolge seines Aufenthaltes in Stetten als „Welthasser“ begehen könnte. Schließlich unterzeichnete er als „H. Hesse, Gefangener im Zuchthaus zu Stetten“. Im Nachsatz fügte er hinzu: „Ich beginne mir Gedanken zu machen, wer in dieser Affaire schwachsinnig ist.“ Er fühlte sich von Gott, den Eltern und der Welt verlassen und sah hinter den starren pietistisch-religiösen Traditionen der Familie nur noch Scheinheiligkeit. Ab Ende 1892 konnte er das Gymnasium in Cannstatt besuchen. 1893 bestand er dort zwar das Einjährigen-Examen, brach aber die Schule ab. ==== Lehre ==== Nachdem er seiner ersten Buchhändlerlehre in Esslingen am Neckar nach drei Tagen entlaufen war, begann Hesse im Frühsommer 1894 für 14 Monate eine Mechanikerlehre in der Turmuhrenfabrik Perrot in Calw. Die monotone Arbeit des Lötens und Feilens bestärkte in ihm alsbald den Wunsch, sich wieder der Literatur und geistiger Auseinandersetzung zuzuwenden. Im Oktober 1895 war er bereit, eine neue Buchhändlerlehre in Tübingen zu beginnen und ernsthaft zu betreiben. Die Erfahrungen seiner Jugend hat er später in seinem Roman Unterm Rad verarbeitet. === Der Weg zum Schriftsteller (1895–1904) === Bereits als Zehnjähriger hatte sich Hesse mit einem Märchen versucht: Die beiden Brüder. Es wurde 1951 publiziert. ==== Tübingen ==== Hesse arbeitete ab dem 17. Oktober 1895 in der Buchhandlung und dem Antiquariat Heckenhauer in Tübingen. Der Schwerpunkt des Sortiments bestand aus Theologie, Philologie und Rechtswissenschaften. Seine Aufgaben als Lehrling umfassten das Überprüfen (Kollationieren), Verpacken, Sortieren und Archivieren der Bücher. Nach Ende der jeweils 12-stündigen Arbeitstage bildete Hesse sich privat weiter, Bücher kompensierten auch mangelnde soziale Kontakte an den langen, arbeitsfreien Sonntagen. Neben theologischen Schriften las Hesse insbesondere Goethe, später Lessing, Schiller und Texte zur griechischen Mythologie. 1896 wurde sein Gedicht Madonna in einer in Wien erschienenen Zeitschrift gedruckt, in späteren Ausgaben des Deutschen Dichterheims (Organ für Dichtkunst und Kritik) folgten weitere. Der Buchhändlerlehrling Hesse befreundete sich 1897 mit dem damaligen Jurastudenten und späteren Arzt und Schriftsteller Ludwig Finckh aus Reutlingen, der nach seinem Doktorexamen 1905 Hesse nach Gaienhofen folgen sollte. Nach Abschluss seiner Lehrzeit im Oktober 1898 blieb Hesse zunächst als Sortimentsgehilfe in der Buchhandlung Heckenhauer mit einem Einkommen, das ihm finanzielle Unabhängigkeit von den Eltern sicherte. Zu dieser Zeit las er insbesondere Werke der deutschen Romantik, allen voran Novalis, Clemens Brentano, Joseph von Eichendorff und Ludwig Tieck. In Briefen an die Eltern bekundete er seine Überzeugung, dass „die Moral für Künstler durch die Ästhetik ersetzt wird“. Noch als Buchhändler veröffentlichte Hesse im Herbst 1898 sein erstes Buch, den kleinen Gedichtband Romantische Lieder, und im Sommer 1899 die Prosasammlung Eine Stunde hinter Mitternacht. Beide Werke wurden ein geschäftlicher Misserfolg. Von den Romantischen Liedern wurden innerhalb von zwei Jahren nur 54 Exemplare der Gesamtauflage von 600 verkauft, auch Eine Stunde hinter Mitternacht wurde nur in einer Auflage von 600 Exemplaren gedruckt und verkaufte sich schleppend. Der Leipziger Verleger Eugen Diederichs war jedoch von der literarischen Qualität der Werke überzeugt und sah die Veröffentlichung schon von Anbeginn mehr als Förderung des jungen Autors denn als lohnendes Geschäft. ==== Basel ==== Ab Herbst 1899 arbeitete Hesse in der Reich’schen Buchhandlung, einem angesehenen Antiquariat in Basel. Da seine Eltern engen Kontakt zu Basler Gelehrtenfamilien pflegten, öffnete sich ihm hier ein geistig-künstlerischer Kosmos mit den reichsten Anregungen. Gleichzeitig bot Basel dem Einzelgänger auch viele Rückzugsmöglichkeiten in privates Erleben bei größeren Fahrten und Wanderungen, die der künstlerischen Selbsterforschung dienten und auf denen er die Fähigkeit, sinnliches Erleben schriftlich niederzulegen, stets neu erprobte. 1900 wurde Hesse wegen seiner Sehschwäche vom Militärdienst befreit. Das Augenleiden hielt zeitlebens an, ebenso wie Nerven- und Kopfschmerzen. Im selben Jahr erschien sein Buch Hermann Lauscher – zunächst unter einem Pseudonym. Hesse verband eine herzliche Beziehung zu dem in Riehen wohnenden Rudolf Wackernagel und dessen Frau.Nachdem Hesse Ende Januar 1901 seine Stellung in der Buchhandlung R. Reich gekündigt hatte, konnte er sich einen großen Traum erfüllen und erstmals nach Italien reisen, wo er sich vom März bis Mai in den Städten Mailand, Genua, Florenz, Bologna, Ravenna, Padua und Venedig aufhielt. Im August desselben Jahres wechselte er zu einem neuen Arbeitgeber, dem Antiquar Wattenwyl in Basel. Zugleich boten sich ihm immer mehr Gelegenheiten, Gedichte und kleine literarische Texte in Zeitschriften zu veröffentlichen. Nun trugen auch Honorare aus diesen Veröffentlichungen zu seinem Einkommen bei. Richard von Schaukal machte 1902 Hesse als Autor des Lauscher publik. 1902 lernte Hesse die neun Jahre ältere Basler Fotografin Maria Bernoulli, genannt „Mia“, kennen. Gemeinsam reisten sie nach Italien (zweite Italienreise) und heirateten 1904. Zu den ersten Veröffentlichungen gehören die Romane Peter Camenzind (1904) und Unterm Rad (1906), in denen Hesse jenen Konflikt von Geist und Natur thematisierte, der später sein gesamtes Werk durchziehen sollte. Mit dem zivilisationskritischen Entwicklungsroman Peter Camenzind, der erstmals 1903 als Vorabdruck und 1904 regulär beim Verlag S. Fischer erschien, gelang ihm der literarische Durchbruch. Dieser Erfolg erlaubte es ihm zu heiraten und sich als freier Schriftsteller am Bodensee niederzulassen. 1930 hielt sich Hesse zum letzten Mal in Basel auf. === Zwischen Bodensee, Indien und Bern (1904–1914) === Im August 1904 heiratete Hesse die selbstständige Basler Fotografin Maria Bernoulli (1868–1963), die aus der weitverzweigten Familie der Bernoulli stammte. Aus dieser Ehe gingen die drei Söhne Bruno (1905–1999, Kunstmaler, Grafiker), Hans Heinrich (genannt Heiner, 1909–2003, Dekorateur) und Martin (1911–1968, Fotograf) hervor. Ganz im Sinne der Lebensreform zogen er und Maria in das damals sehr abgelegene badische Dörfchen Gaienhofen am Bodensee und mieteten ein einfaches Bauernhaus ohne fließendes Wasser und Strom, in dem sie drei Jahre lebten. 1907 ließen sie sich von dem befreundeten Basler Architekten Hans Hindermann im Ort ein Landhaus im Reformstil bauen, das noch im selben Jahr bezogen werden konnte. Dort legten sie einen großen Garten zur Selbstversorgung an. Hesse ging häufig allein auf Reisen, derweil Maria mit den Kindern weiter das große Haus mit Garten bewohnte.In Gaienhofen lernte Hesse durch den Konstanzer Zahnarzt und Komponisten Alfred Schlenker (1876–1950) dessen Freunde Othmar Schoeck, Volkmar Andreae und Fritz Brun kennen. 1906 schuf Eduard Zimmermann für Hesse eine Büste. 1906 wurde er zum Mitherausgeber der bei Albert Langen erscheinenden Zeitschrift März, bei der er bis 1912 blieb. Ebenfalls 1906 erschien Hesses zweiter Roman Unterm Rad. Hesse verarbeitete darin seine Erfahrungen aus der Schul- und Ausbildungszeit. Im April 1907 hielt Hesse sich zur Kur in Locarno und als Gast in der Lebensreform-Kolonie auf dem Monte Verità bei Ascona auf. Von seinem Einsiedlerdasein in der Felsgrotte seines Freundes Gusto Gräser im Wald von Arcegno berichten die Erzählungen In den Felsen, Freunde und die Legenden aus der Thebais. Nach seiner Rückkehr aus Ascona versuchte er sich dem bürgerlichen Leben wieder anzupassen. Sein nächster Roman Gertrud von 1910 zeigte Hesse jedoch in einer Schaffenskrise – er hatte schwer mit diesem Werk zu kämpfen, in späteren Jahren hat er es als misslungen betrachtet. Mit Fritz Brun und einigen anderen Schweizer Freunden unternahm Hesse im April/Mai 1911 eine Umbrienreise. Hesse war auch mit Ernst Morgenthaler befreundet, der ihn porträtierte, sowie mit Wilhelm Schäfer, der ihm 1912 das Buch Karl Stauffers Lebensgang – Eine Chronik der Leidenschaft widmete.In Hesses Ehe hatten sich seit 1910 die Dissonanzen vermehrt. Um in seiner Schaffenskrise Abstand zu gewinnen, brach Hesse mit Hans Sturzenegger 1911 zu einer großen Reise nach Ceylon und Indien auf. Die erhoffte spirituell-religiöse Inspiration fand er dort nicht, dennoch beeinflusste die Reise sein weiteres literarisches Werk stark und schlug sich 1913 zunächst in der Veröffentlichung Aus Indien nieder. Dabei war er auf seiner Reise nie in Indien. Er besuchte im von Großbritannien kolonialisierten Ceylon Colombo, Kandy, naheliegende Tempel sowie den Berg Pidurutalagala und Indonesien, das von den Niederlanden kolonialisiert war. Nach Hesses Rückkehr aus Asien verkaufte er 1912 sein Haus in Gaienhofen. Die Familie zog im Spätsommer in ein altes Landhaus am Stadtrand von Bern um; vor Hesse hatte sein Freund Albert Welti es gemietet. Doch auch dieser Ortswechsel konnte die Eheprobleme nicht lösen, wie Hesse 1914 in seinem Roman Roßhalde schilderte. Psychische Krisen bei beiden – Maria Bernoulli wurde 1919 im Sanatorium von Theodor Brunner in Küsnacht behandelt – führten später zu einem endgültigen Auseinanderleben und 1923 zur Scheidung. Nach der Trennung der Eltern (1919) wurden die Kinder verteilt. Bruno wurde, als 15-Jähriger, von seinem Vater bei der Malerfamilie Cuno Amiet in Pflege gegeben. Heiner blieb bei seiner Mutter, während Martin als Pflegekind zur Familie Ringier in Kirchdorf kam. Als seinen „besten und treuesten Freund“ während seiner Berner Jahre bezeichnete Hesse den Forstwissenschaftler Walter Schädelin. === Umbruch durch den Ersten Weltkrieg (1914–1919) === ==== Kriegsgefangenenfürsorge ==== Beim Ausbruch des Ersten Weltkrieges 1914 meldete sich Hesse, zu diesem Zeitpunkt noch ein Verfechter der sogenannten „Ideen von 1914“, als Kriegsfreiwilliger bei der deutschen Botschaft. Er wurde jedoch für untauglich befunden und der deutschen Botschaft in Bern zugeteilt, wo er die „Bücherzentrale für deutsche Kriegsgefangene“ aufbaute, welche in ausländischen Lagern internierte Soldaten über die deutsche Kriegsgefangenenfürsorge bis 1919 mit Lektüre versorgte. In diesem Rahmen war Hesse fortan damit beschäftigt, für deutsche Kriegsgefangene Bücher zu sammeln und zu verschicken. In dieser Zeit war er Mitherausgeber der Deutschen Interniertenzeitung (1916/17), Herausgeber des Sonntagsboten für die deutschen Kriegsgefangenen (1916–1919) und zuständig für die „Bücherei für deutsche Kriegsgefangene“. ==== Politische Auseinandersetzungen ==== Am 3. November 1914 veröffentlichte er in der Neuen Zürcher Zeitung den Aufsatz O Freunde, nicht diese Töne, in dem er an die deutschen Intellektuellen appellierte, nicht in nationalistische Polemik zu verfallen. Was darauf folgte, bezeichnete Hesse später als eine große Wende in seinem Leben: Erstmals fand er sich inmitten einer heftigen politischen Auseinandersetzung wieder, die deutsche Presse attackierte ihn, Hassbriefe gingen bei ihm ein, und alte Freunde sagten sich von ihm los. Zustimmung erhielt er weiterhin von seinem Freund Theodor Heuss, dem späteren ersten Bundespräsidenten der Bundesrepublik Deutschland, aber auch von dem französischen Schriftsteller Romain Rolland, der Hesse im August 1915 besuchte. ==== Familiäre Schicksalsschläge ==== Diese Konflikte mit der deutschen Öffentlichkeit waren noch nicht abgeklungen, als Hesse durch eine Folge von Schicksalsschlägen in eine noch tiefere Lebenskrise gestürzt wurde: Tod seines Vaters am 8. März 1916, die schwere Erkrankung (Hirnhautentzündung) seines zu jener Zeit dreijährigen Sohnes Martin und die zerbrechende Ehe mit Maria Bernoulli. Hesse musste seinen Dienst bei der Gefangenenfürsorge unterbrechen und sich in psychiatrische Behandlung begeben, während derer er auch erste Erfahrungen mit der Psychoanalyse machte. Er erwog ernsthaft, den „Bruch mit Heimat, Stellung, Familie“ zu riskieren und nach Ascona zu ziehen, wo er sich von Gustav Gamper ein Häuschen besorgen ließ. ==== Kriegsgegner und Aussteiger ==== Durch die Erfahrung des Weltkriegs war Hesse zum entschiedenen Kriegsgegner und Befürworter der Verweigerung geworden. Im September/Oktober 1917 verfasste Hesse in einem dreiwöchigen Arbeitsrausch seinen Roman Demian, im zweiten Teil ein Niederschlag seiner Zeit auf dem Monte Verità. Das Buch wurde nach Kriegsende 1919 unter dem Pseudonym Emil Sinclair veröffentlicht, „um die Jugend nicht durch den bekannten Namen eines alten Onkels abzuschrecken“. Aber auch, wie Hesse in einem Brief an Eduard Korrodi schrieb, weil „der diese Dichtung schrieb, […] nicht Hesse“ war, „der Autor soundsovieler Bücher, sondern ein anderer Mensch, der Neues erlebt hatte und Neuem entgegenging“. Als Zeitzeuge äußerte sich Thomas Mann: „Unvergesslich ist die elektrisierende Wirkung“ des Demian, „eine Dichtung, die mit unheimlicher Genauigkeit den Nerv der Zeit traf und eine Jugend, die wähnte, aus ihrer Mitte sei ihr ein Künder ihres tiefsten Lebens entstanden (während es ein schon Zweiundvierzigjähriger war, der ihnen gab, was sie brauchte), zu dankbarem Entzücken hinriß“. 1918 wurde Hermann Hesses Vetter, der Pastor Carl Immanuel Philipp Hesse, als ziviles Opfer des Estnischen Freiheitskrieges getötet. Hesse engagierte sich für die Emigranten, die er großzügig unterstützte. Durch seine und Albert Ehrensteins Interventionen wurde während des Zweiten Weltkrieges die Ausweisung von Eduard Claudius verhindert. === Neue Heimat im Tessin (1919–1962) === ==== Casa Camuzzi ==== Als Hesse 1919 sein ziviles Leben wieder aufnehmen konnte, war seine Ehe zerrüttet. Seine Frau Mia (Maria) war im Herbst 1918 nach Ascona geflüchtet, wo ihre Depression voll zum Ausbruch kam. Aber auch nach ihrer Heilung sah Hesse keine gemeinsame Zukunft mit ihr. Die Wohnung in Bern wurde aufgelöst, und die drei Jungen wurden zwischenzeitlich bei Freunden untergebracht, der älteste Sohn Bruno bei seinem Malerfreund Cuno Amiet. Die Erfahrung und bedrückende Last, seine Familie verlassen zu haben, verarbeitete Hesse in seiner 1919 erschienenen Erzählung Klein und Wagner über den Beamten Klein, der aus Furcht, wahnsinnig zu werden und ebenso wie der Lehrer Wagner seine Familie umzubringen, aus seinem bürgerlichen Leben ausbricht und nach Italien flieht. Hesse siedelte Mitte April 1919 allein ins Tessin um. Er bewohnte zunächst ein kleines Bauernhaus am Ortseingang von Minusio bei Locarno und zog dann am 25. April nach Sorengo oberhalb des Muzzaner Sees in eine einfache Unterkunft weiter, die ihm von seinem Musikerfreund Volkmar Andreae, mit dem er seit etwa 1905 befreundet war, vermittelt worden war. Doch anschließend mietete er am 11. Mai 1919 in Montagnola, einem höher gelegenen Dorf südwestlich und nur unweit von Lugano, vier kleine Räume in einem schlossartigen Gebäude, der „Casa Camuzzi“, die sich im 19. Jahrhundert einer der Tessiner Baumeister in Gestalt eines neobarocken Palazzos errichtet hatte. Von dieser Hanglage aus („Klingsors Balkon“) und oberhalb des dichtbewachsenen Waldgrundstückes überblickte Hesse nach Osten den Luganersee mit den gegenüberliegenden Hängen und Bergen auf italienischer Seite. Die neue Lebenssituation und die Lage des Gebäudes inspirierten Hesse nicht nur zu neuer schriftstellerischer Tätigkeit, sondern als Ausgleich und Ergänzung auch zu weiteren Zeichenskizzen und Aquarellen, was sich in seiner nächsten großen Erzählung Klingsors letzter Sommer von 1920 deutlich niederschlug. Im Dezember 1920 lernte Hesse, ebenfalls im Tessin, Hugo Ball und dessen Gattin Emmy Hennings kennen.1922 erschien Hesses Indien-Roman Siddhartha. Hierin kam seine Liebe zur indischen Kultur und zu asiatischen Weisheitslehren zum Ausdruck, die er schon in seinem Elternhaus kennengelernt hatte. Hesse gab der Hauptfigur seiner „indischen Dichtung“ den Vornamen des historischen Buddhas, Siddhartha. Seine damalige Geliebte Ruth Wenger (1897–1994) inspirierte ihn zu der Romanfigur der Kamala, die in dieser indischen Dichtung den Siddhartha die Liebe lehrt. Henry Miller urteilte: „Ein Buch, dessen Tiefe in der kunstvoll einfachen und klaren Sprache verborgen liegt, einer Klarheit, die vermutlich die geistige Erstarrung jener literarischen Philister aus dem Konzept bringt, die immer so genau wissen, was gute und was schlechte Literatur ist. Einen Buddha zu schaffen, der den allgemein anerkannten Buddha übertrifft, das ist eine unerhörte Tat, gerade für einen Deutschen. Siddhartha ist für mich eine wirksamere Medizin als das Neue Testament.“Hesse erhielt im Mai 1924 das Bürgerrecht der Stadt Bern und damit zum zweiten Mal die Schweizer Staatsbürgerschaft. Dabei gab er die deutsche Staatsbürgerschaft wieder ab, die er 1890 im Hinblick auf das bevorstehende Landexamen in Göppingen erworben hatte. Nach der Scheidung von seiner ersten Frau Maria heiratete Hesse am 11. Januar 1924 schließlich Ruth Wenger, die Tochter der Schweizer Schriftstellerin Lisa Wenger. Diese zweite Ehe Hesses war jedoch trotz erotischer Anziehung und ähnlicher kultureller Interessen von Anfang an aufgrund vollständig unterschiedlicher Lebensbedürfnisse und Zielrichtungen zum Scheitern verurteilt und wurde auf Wunsch seiner Frau, die im Sommer 1926 ein kurzes Liebesverhältnis mit dem Maler Karl Hofer eingegangen war, am 24. April 1927 geschieden. Ruth Wengers Enkel, der Regisseur Leander Haußmann, äußert sich in einem Interview 2022 dazu folgendermaßen: „Die Ehe blieb kinderlos - falls sie überhaupt je vollzogen wurde. Meine Oma ließ sich jedenfalls scheiden, weil Hesse nie mit ihr schlief.“Seine nächsten größeren Werke, Kurgast von 1925 und Die Nürnberger Reise von 1927, sind autobiografische Erzählungen mit ironischem Unterton. In ihnen kündigt sich bereits der erfolgreichste Roman Hesses an, Der Steppenwolf von 1927, der sich für ihn als „ein angstvoller Warnruf“ vor dem kommenden Weltkrieg darstellte und in der damaligen deutschen Öffentlichkeit entsprechend geschulmeistert oder belächelt wurde. Zu seinem 50. Geburtstag, den er in demselben Jahr feierte, wurde auch die erste Hesse-Biografie von seinem Freund Hugo Ball veröffentlicht. Schon kurz nach dem neuen Erfolgsroman erlebte Hesse eine Wende durch die Beziehung zu Ninon Dolbin geb. Ausländer (1895–1966), seiner späteren – dritten – Ehefrau, die aus Czernowitz in der Bukowina stammte. Sie war Kunsthistorikerin und hatte bereits als 14-jährige Schülerin eine konstante briefliche Verbindung mit ihm aufgenommen. Mit Dolbin verbrachte er 1928 und 1929 ausgedehnte Winterferien in Arosa, wo er auch Hans Roelli kennenlernte. 1928 unternahm Hesse Reisen nach Ulm, Heilbronn, Würzburg (22. März), Darmstadt und Berlin. 1930 erschien die Erzählung Narziß und Goldmund. Hermann Hesse hat zudem jeder seiner drei Ehefrauen ein Märchen gewidmet: seiner ersten Frau Mia das Märchen Iris (1916), Piktors Verwandlungen (1922) Ruth Wenger, und kurz nach der Heirat mit Ninon Dolbin entstand im März 1933 sein letztes und sehr autobiografisches Märchen Vogel, gleichlautend mit dem Namen, mit dem er private Zettel und Briefe an Ninon unterschrieb und mit dem sie ihn oft anredete. ==== Casa Hesse (Casa Rossa) ==== Im Jahre 1931 verließ Hesse die Mietwohnung in der Casa Camuzzi und zog mit seiner neuen Lebensgefährtin, mit der er am 14. November seine dritte Ehe einging, in ein größeres Haus, die Casa Hesse, wegen des rötlichen Außenanstrichs auch Casa Rossa genannt. Das Gebäude war nach Hesses Wünschen erbaut worden, finanziert von seinem Freund Hans Conrad Bodmer. Das Grundstück lag oberhalb und am Südende von Montagnola, in Sichtweite der Casa Camuzzi und nur zehn Fußminuten von dieser entfernt. Das Grundstück und das Gebäude wurden Hesse dauerhaft von Bodmer zur Verfügung gestellt, nach seinem Tod auch Ninon auf Lebenszeit. Vom Schulzentrum am zentralen Ortsparkplatz von Montagnola führt der Weg vorbei am hinter der Schule gelegenen Spielplatz zu dem darüber liegenden schmiedeeisernen Gartenportal des Hauses an der Via Hermann Hesse. Der Weg führt in leichtem Anstieg parallel zum Hang ins Grundstück, auf dessen exponiertester Stelle eine Art Doppelhaus zweigeschossig errichtet wurde. Jeder der beiden Teile verfügt über einen separaten Zugang mit eigenem Treppenhaus; im Erd- und Obergeschoss sind beide Teile sowohl über die Flure als auch über aneinanderliegende Räume miteinander verbunden. Aus Gründen des Tagesrhythmus, aber auch aus arbeitsorganisatorischen Gründen und Gründen der unterschiedlichen Nutzung legten Hesse und seine Frau Wert auf eine gewisse Trennung der Räume: Den größeren, südwestlichen Teil mit Küche, Essraum, Bibliothek, Gastraum, Schlafraum (N.), Bad (N.) und Nebenräumen nutzte vorwiegend Ninon; der nordöstliche Abschnitt war Hermann Hesses Wirkungsbereich mit Atelier, Arbeitsraum, Schlafraum (H.), Bad (H.) und Nebenbereichen. Die Bibliothek im Erdgeschoss diente beiden als Empfangsraum für eine Vielzahl von Gästen, zugleich als Wohn-, Lesungs- und Musikraum mit weitem Ausblick auf den südöstlich gelegenen Monte Generoso, und hatte eine direkte Verbindung zum Atelier. Das nordöstlich an die Bibliothek anschließende Atelier war der Multifunktionsraum des Hauses, in dem Hesse seine umfangreiche Korrespondenz mit Schreibmaschine führte, sodann fungierte es als Lager für Verpackungsmaterial für zahlreichen Post- und Büchersendungen, die Hesse selbst versandfertig machte. In diesem Raum ging er aber auch seinem Hobby nach, der Aquarellmalerei, wenn er nicht vor der Natur malte, was meist geschah. Er bewahrte dort Mal- und Kunstutensilien wie auch weitere Buchbestände auf. Seinen Arbeitsbereich im Obergeschoss mit besonderen Büchern hielt Hesse allerdings im Allgemeinen vor Gästen verborgen und wollte dort auch nicht durch Familienangehörige gestört werden. Ähnlich wie in der Casa Camuzzi hatte Hesse von hier den nach Nordosten gerichteten, weiten Blick über den Luganersee in das östliche Seetal bis auf italienische Hänge und Gebirgszüge. Viele seiner Aquarelle legen Zeugnis ab von diesem Haus, seinem Garten, der näheren und weiteren Umgebung und den umfassenden Ausblicken in die Tessiner und lombardische Landschaft. Hesse empfing hier zahlreiche Gäste, so seine Verleger Samuel Fischer, Gottfried Bermann Fischer, Peter Suhrkamp und Siegfried Unseld. Nicht nur Thomas Mann, sondern auch die Familie Mann war mehrfach zu Besuch. Freundschaften wie die mit Romain Rolland wurden hier vertieft, und Schriftstellerkollegen wie Bertolt Brecht, Max Brod, Martin Buber, Hans Carossa, André Gide, Annette Kolb, Jakob Wassermann und Stefan Zweig fanden ihren Weg nach Montagnola. Darüber hinaus hatte Hermann Hesse zeitweise einen intensiveren Bezug zu Musikern wie Adolf Busch, Edwin Fischer, Eugen d’Albert, zu dem mit ihm befreundeten Theodor W. Adorno und besonders freundschaftlich zu dem von ihm verehrten Komponisten Othmar Schoeck, von dem (als einzigem) Hesse das Gefühl hatte, dass dieser seine Gedichte wirklich adäquat vertonte. Hesse selbst hatte ein intensives Verhältnis zur Musik, das unter anderem in seinen Gedichten ersichtlich ist, aber auch in Prosawerken wie Das Glasperlenspiel, Steppenwolf und Gertrud thematisiert ist.Zwei Jahre später, nachdem Hesse aus der Casa Camuzzi in die Casa Rossa gezogen war, besuchte im April 1933 der junge Gunter Böhmer Hermann Hesse und richtete sich in der Casa Camuzzi ein. Zehn Jahre später, 1943, siedelte der Maler Hans Purrmann, Schüler von Henri Matisse, nach Montagnola über und zog einige Zeit später ebenfalls in die Casa Camuzzi. Mit beiden Malern und Zeichnern verband Hesse eine ihn beglückende Künstlerfreundschaft. Böhmer unterstützte Hesse bei dessen Bemühungen, sich künstlerische Techniken und die Gesetze unterschiedlicher Perspektivdarstellungen anzueignen. Die ehemalige Casa Hesse fiel nach Hesses und Ninons Tod an die Bodmer-Familie zurück. Sie wurde veräußert, farblich und auf der rückwärtigen Terrassenseite durch den neuen Eigner auch baulich umgestaltet. Sie befindet sich heute (Stand 2006) in Privatbesitz und kann nicht besichtigt werden. Ein Weg, in Verlängerung der Via Hermann Hesse unterhalb des Grundstückes, gestattet einen Blick auf die Südseite des Wohnhauses und des Hanges, der Hesse zu einer Reihe von Schilderungen über seine gärtnerischen Tätigkeiten anregte. ==== Der Glasperlenspieler ==== Im Jahr 1931 begann er mit den Entwürfen zu seinem letzten großen Werk, welches den Titel Das Glasperlenspiel tragen sollte. 1932 veröffentlichte er als Vorstufe dazu die Erzählung Die Morgenlandfahrt. Beider Grundthema ist die Jüngerschaft zu einem Freund und Meister – genannt Leo oder Musikmeister, Regenmacher, Yogin oder Beichtvater –, den der Ich-Erzähler verlässt und zu dem er reumütig, als „Knecht“, zurückkehren möchte. Hesses politische Haltung in dieser Zeit war stark von einem zivilisationskritischen Kulturpessimismus geprägt: Die Machtübernahme der Nationalsozialisten in Deutschland beobachtete Hesse mit großer Sorge. Bertolt Brecht und Thomas Mann machten 1933 auf ihren Reisen ins Exil jeweils bei Hesse Station. In der Ablehnung des Nationalsozialismus waren Mann und Hesse geeint und fühlten sich trotz sehr unterschiedlicher Ausprägung ihrer Persönlichkeiten in bestimmten Grundlinien ihrer freundschaftlichen Beziehung bis zum Schluss verbunden. Zwischen Hesse und Brecht, die über die Bücherverbrennungen jenes Jahres in Deutschland sprachen, bestand diese Art der Verbindung nicht. Hesse versuchte auf seine Weise, der Entwicklung in Deutschland gegenzusteuern: Er hatte schon seit Jahrzehnten in der deutschen Presse Buchrezensionen publiziert – nun sprach er sich darin verstärkt für jüdische und andere von den Nationalsozialisten verfolgte Autoren aus. Ab Mitte der 1930er Jahre wagte keine deutsche Zeitung mehr, Artikel von Hesse zu veröffentlichen. Hesse trat nicht offen gegen das NS-Regime auf, sein Werk wurde auch nicht offiziell verboten oder „verbrannt“, dennoch war es seit 1936 „unerwünscht“. Trotz Einschränkungen gab es aber immer wieder Neuauflagen. Die Suhrkamp Verlag KG Berlin konnte noch 1943 den Knulp neu auflegen. Hesses geistige Zuflucht vor den politischen Auseinandersetzungen und später vor den Schreckensmeldungen des Zweiten Weltkriegs war die Arbeit an seinem Roman Das Glasperlenspiel, der 1943 in der Schweiz gedruckt wurde. Nicht zuletzt für dieses Spätwerk wurde ihm 1946 der Nobelpreis für Literatur verliehen: „für seine inspirierten Werke, die mit zunehmender Kühnheit und Tiefe die klassischen Ideale des Humanismus und hohe Stilkunst verkörpern“ (Begründung der Schwedischen Akademie, Stockholm). ==== Korrespondenz ==== Nach dem Zweiten Weltkrieg ging Hesses literarische Produktivität zurück: Er schrieb noch Erzählungen und Gedichte, aber keinen Roman mehr. Der Schwerpunkt seiner Tätigkeit verlagerte sich zunehmend auf seine immer umfangreicher werdende Korrespondenz. Schon seit den 1920er Jahren pflegte Hesse in seiner Korrespondenz ein sich ständig vergrößerndes Netzwerk aus Freunden, Briefpartnern und Gönnern, die ihn und seine Kriegsgefangenenfürsorge während der schwierigen Kriegsjahre immer wieder durch finanzielle und materielle Zuwendungen im Tausch gegen handgeschriebene und illustrierte Gedichte, Aquarelle oder Sonderdrucke materiell unterstützten. Dazu kamen außerdem noch die Briefe seiner Bewunderer.Nach Untersuchungen seiner Söhne Bruno und Heiner Hesse sowie des Hesse-Editionsarchives in Offenbach hat Hesse ca. 35.000 Briefe erhalten. Da er absichtlich ohne Sekretariat arbeitete, beantwortete er einen sehr großen Teil dieser Post persönlich; 17.000 dieser Antwortbriefe sind ermittelt. Als ausgeprägter Individualist empfand er diese Vorgehensweise als moralische Verpflichtung. Diese tägliche Inanspruchnahme durch einen stetigen Strom von Briefen war der Preis dafür, dass er seinen wiedererwachten Ruhm bei einer neuen Generation deutscher Leser miterleben konnte, die sich von dem „weisen Alten“ in Montagnola Lebenshilfe und Orientierung, aber auch finanzielle Unterstützung erhofften. Zu ähnlichen Anfragen nach seinem Befinden, seinem Tagesablauf oder seinen Beobachtungen bei Ereignissen, die von allgemeinerem Interesse waren, arbeitete er allerdings längere Betrachtungen aus, die er als Rundbriefe versandte (s. u. Literaturübersicht). ==== Tod ==== Im Dezember 1961 erkrankte Hermann Hesse an einer Grippe, von der er sich nur schwer erholte. Er hatte schon seit Längerem, ohne es zu wissen, Leukämie; im Spital von Bellinzona wurde er mit Bluttransfusionen behandelt. Hesse verstarb in der Nacht zum 9. August 1962 im Schlaf an einem Schlaganfall. Seine Frau, die erst wartete, dass er zum Frühstück komme, fand ihn schließlich leblos in seiner üblichen Schlafstellung. Der alarmierte Hausarzt konnte nur noch den Tod feststellen. Zwei Tage später wurde er im Kreis seiner Familie und Freunde auf dem Friedhof Sant’Abbondio in Gentilino beigesetzt, auf dem sich auch die Gräber von Emmy und Hugo Ball befinden. Den Grabstein hat Hans Jakob Meyer gestaltet.In seinem letzten Gedicht Knarren eines geknickten Astes, niedergeschrieben in der letzten Lebenswoche in drei Fassungen, schuf er ein Sinnbild für den nahenden Tod. === Staatsbürgerschaft === Als Sohn einer württembergischen Missionarstochter und eines deutsch-baltischen Missionars war Hesse durch Geburt Staatsbürger des Russischen Kaiserreichs. Von 1883 bis 1890 und erneut ab 1924 besaß er das Bürgerrecht der Schweiz, dazwischen war er württembergischer Staatsbürger. == Weitere Darstellungen Hesses in der bildenden Kunst == Hanfried Schulz: Porträt Hermann Hesse (Holzschnitt, 1960, 56 × 35 cm) == Literarische Bedeutung == Hesses frühe Werke standen noch in der Tradition des 19. Jahrhunderts: Seine Lyrik ist ganz der Romantik verpflichtet, ebenso Sprache und Stil des Peter Camenzind, eines Buches, das vom Autor als Bildungsroman in der Nachfolge des Kellerschen Grünen Heinrich verstanden wurde. Inhaltlich wandte sich Hesse gegen die wachsende Industrialisierung und Verstädterung, womit er eine Tendenz der Lebensreform und der Jugendbewegung aufgriff. Diese neoromantische Haltung in Form und Inhalt wurde von Hesse später aufgegeben. Die antithetische Struktur des Peter Camenzind, die sich an der Gegenüberstellung von Stadt und Land und an dem Gegensatz männlich–weiblich zeigt, ist hingegen auch in den späteren Hauptwerken Hesses (z. B. im Demian und im Steppenwolf) noch zu finden. Die Bekanntschaft mit der Archetypenlehre des Psychologen Carl Gustav Jung hatte einen entscheidenden Einfluss auf Hesses Werk, der sich zuerst in der Erzählung Demian zeigte. Der ältere Freund oder Meister, der einem jungen Menschen den Weg zu sich selbst öffnet, wurde eines seiner zentralen Themen. Die Tradition des Bildungsromans ist auch im Demian noch zu finden, aber in diesem Werk (wie auch im Steppenwolf) spielt sich die Handlung nicht mehr auf der realen Ebene ab, sondern in einer inneren „Seelen-Landschaft“. Ein weiterer wesentlicher Aspekt in Hesses Werk ist die Spiritualität, die sich vor allem (aber nicht nur) in der Erzählung Siddhartha finden lässt. Indische Weisheitslehren, der Taoismus und christliche Mystik bilden seinen Hintergrund. Die Haupttendenz, wonach der Weg zur Weisheit über das Individuum führt, ist jedoch ein typisch westlicher Ansatz, der keiner asiatischen Lehre direkt entspricht, auch wenn durchaus Parallelen im Theravada-Buddhismus zu finden sind. Hesse hat sich auch kritisch mit dem eigenen Werk auseinandergesetzt. So meinte er im Zusammenhang mit dem Siddhartha mit Blick auf seine esoterischen Perspektiven: „Ich machte damals – nicht zum ersten Mal natürlich, aber härter als jemals – die Erfahrung, dass es unsinnig ist, etwas schreiben zu wollen, was man nicht gelebt hat [...].“Alle Werke Hesses enthalten eine stark autobiografische Komponente. Besonders offensichtlich ist sie im Demian, in der Morgenlandfahrt, aber auch in Klein und Wagner und nicht zuletzt im Steppenwolf, der geradezu exemplarisch für den „Roman der Lebenskrise“ stehen kann. Im Spätwerk tritt diese Komponente noch deutlicher hervor – in den zusammengehörigen Werken Die Morgenlandfahrt und Das Glasperlenspiel verdichtete Hesse in mehrfachen Variationen sein Grundthema: die Beziehung zwischen einem Jüngeren und seinem älteren Freund oder Meister. Vor dem historischen Hintergrund der nationalsozialistischen Diktatur in Deutschland zeichnete Hesse im Glasperlenspiel eine Utopie der Humanität und des Geistes, zugleich schrieb er aber auch wieder einen Bildungsroman. Beide Elemente halten sich in einem dialektischen Wechselspiel die Waage. Nicht zuletzt setzte Hesse mit etwa 3000 Buchrezensionen, die er im Laufe seines Lebens für 60 verschiedene Zeitungen und Zeitschriften verfasste, in jener Zeit Qualitätsmaßstäbe, die im Bereich der Vermittlung, Förderung und behutsamer Kritik ihresgleichen suchten. Grundsätzlich rezensierte er keine Literatur, die ihm nach seinen Maßstäben als schlecht erschien. Wie Thomas Mann, so hat sich auch Hesse intensiv mit dem Werk Goethes auseinandergesetzt. Die Bandbreite seiner Rezensionen erstreckte sich von kleineren Erzählbänden bislang unbekannter Autoren bis hin zu philosophischen Kernwerken aus dem asiatischen Kulturraum. Diese asiatischen Zentralwerke haben in der Gegenwart immer noch Bestand, doch wurden sie bereits von Hesse etliche Jahrzehnte früher entdeckt und erschlossen, bevor sie in den 1970er Jahren zum literarisch-philosophischen und geistigen Allgemeingut auch der westlichen Hemisphäre wurden. Homoerotische Elemente in seinem Werk wurden in der Literaturwissenschaft verschiedentlich thematisiert. == Rezeption == Hesses Frühwerk wurde von der zeitgenössischen Literaturkritik überwiegend positiv beurteilt. Die Hesse-Rezeption im Deutschland der beiden Weltkriege war infolge seiner Antikriegs- und antinationalistischen Äußerungen stark durch die Pressekampagnen gegen den Autor geprägt. Nach beiden Weltkriegen deckte Hesse bei einem Teil der Bevölkerung, insbesondere der jeweils herangewachsenen jüngeren Generation, das Bedürfnis nach geistiger und zum Teil moralischer Neuorientierung ab. „Wiederentdeckt“ wurde er zu einem überwiegenden Teil daher erst weit nach 1945. Gut zehn Jahre nachdem Hesse der Nobelpreis für Literatur verliehen worden war, schrieb Karlheinz Deschner 1957 in seiner Streitschrift Kitsch, Konvention und Kunst: „Daß Hesse so vernichtend viele völlig niveaulose Verse veröffentlicht hat, ist eine bedauerliche Disziplinlosigkeit, eine literarische Barbarei“; auch in Bezug auf Hesses Prosa kam Deschner zu keinem günstigeren Urteil. In den folgenden Jahrzehnten schlossen sich Teile der deutschen Literaturkritik dieser Beurteilung an, Hesse wurde von manchen als Produzent epigonaler und kitschiger Literatur qualifiziert. So ähnelt die Hesse-Rezeption einer Pendelbewegung: Kaum war sie in den 1960er Jahren in Deutschland auf einem Tiefpunkt angelangt, brach unter den Jugendlichen in den USA ein „Hesse-Boom“ ohnegleichen aus, der dann auch wieder nach Deutschland übergriff; insbesondere Der Steppenwolf (nach dem sich die gleichnamige Rockband benannte) wurde international zum Bestseller und Hesse zu einem der meistübersetzten und -gelesenen deutschen Autoren. Weltweit wurden über 120 Millionen seiner Bücher verkauft (Stand Anfang 2007). In den 1970er Jahren veröffentlichte der Suhrkamp-Verlag einige Tonbänder mit dem am Ende seines Lebens aus seinen Werken rezitierenden Hesse als Sprechplatten. Schon zu Beginn seiner Laufbahn widmete sich Hesse der Autorenlesung und verarbeitete seine eigentümlichen Erlebnisse in diesem Zusammenhang in dem ungewöhnlich heiteren Text „Autorenabend“. === Rezeption der Hippies === Der Schriftsteller Ken Kesey hatte Hesses mystische Erzählung Die Morgenlandfahrt, in der ein Geheimbund von Träumern, Dichtern und Fantasten nicht der Vernunft, sondern dem Herzen folgt, mit Begeisterung gelesen. In Anlehnung an die Erzählung betrachtete er sich und die Merry Pranksters als dem Geheimbund Zugehörige und den großen Bustrip von 1964 quer durch die USA als seine Variante der „Morgenlandfahrt“.Der deutschstämmige Musiker Joachim Fritz Krauledat alias John Kay hatte 1968, nach der Lektüre eines Hesse-Romans, seine damalige Bluesband Sparrow neu formiert und in Kalifornien in Steppenwolf umbenannt. Santana, eine andere Rockband aus San Francisco, benannte ihr zweites und höchst erfolgreiches Album von 1970 nach einem Begriff aus dem Hesse-Roman Demian, der damals in der Band zirkulierte. Carlos Santana: „Der Titel Abraxas stammt aus einem Buch von Hermann Hesse, das Gregg, Stan und Carabello lasen.“ Die betreffende Stelle aus dem Buch ist auch auf dem Plattencover wiedergegeben, allerdings in der englischen Übersetzung. In Kathmandu, der am sogenannten Hippie trail gelegenen Hauptstadt Nepals, hat sich eine Hermann Hesse Gesellschaft gegründet. === Hermann Hesse und die Gegenwart === Calw, Hesses Geburtsstadt im Schwarzwald, bezeichnet sich selbst als die Hermann-Hesse-Stadt und nutzt dieses Attribut zugleich als Claim zur Eigenwerbung. In Calw informiert das Hermann-Hesse-Museum über Leben und Werk des berühmtesten Sohnes der Stadt. Die Schwarzwaldbahn aus Stuttgart soll 2023 als Hermann-Hesse-Bahn über den derzeitigen Endpunkt Weil der Stadt hinaus bis Calw verkehren.Seit 1977 findet in unregelmäßigen, mehrjährigen Abständen jeweils unter wechselndem Hauptthema das Internationale Hermann-Hesse-Kolloquium in Calw statt. Hierzu referieren renommierte Hesse-Fachleute aus dem In- und Ausland aus ihrem Fachgebiet über zwei bis drei Tage. Die Tagungsteilnahme steht jedem Bürger nach Anmeldung offen. Das Programm wird meist wechselnd durch Vertonungen von Gedichten Hesses, weitere musikalische Darbietungen, Tanz und Schauspiel mit Themen zu oder aus Hesses Literatur und/oder durch eine Dokumentar- oder Literaturverfilmung begleitet. Vergleichbar den Calwer Kolloquien finden seit 2000 in Sils-Maria im Schweizer Engadin in jährlichem Rhythmus die Silser Hesse-Tage statt, drei bis vier Tage im Sommerhalbjahr. Die Vorträge und Diskussionen stehen jeweils unter einem Schwerpunktthema. Im Gedenken an Hesse wurden drei Literaturpreise nach ihm benannt: der seit 1957 verliehene Karlsruher Hermann-Hesse-Literaturpreis, der von der Calwer Hermann-Hesse-Stiftung seit 1990 verliehene Calwer Hermann-Hesse-Preis und der seit 2017 von der Internationalen Hermann-Hesse-Gesellschaft in Calw verliehene Preis der Internationalen Hermann Hesse Gesellschaft. == Nachlass, Archivalien und Editionsarchiv == Hermann Hesses Nachlass wird in folgenden Bibliotheken und Archiven aufbewahrt: Deutschland Berlin: Stiftung Archiv der Akademie der Künste Darmstadt: Hessisches Staatsarchiv Düsseldorf: Heinrich-Heine-Institut Frankfurt am Main: Universitätsbibliothek Johann Christian Senckenberg Marbach: Deutsches Literaturarchiv Marbach (archiviert den Großteil des Hesse-Nachlasses)Schweiz Basel: Öffentliche Bibliothek der Universität Bern: Schweizerisches Literaturarchiv (im Wesentlichen Briefe von und an Hesse) St. Gallen: Kantonsbibliothek St. Gallen (Vadiana) Solothurn: Zentralbibliothek Solothurn: Hermann-Hesse-Sammlung Rosa Muggli-Isler, Kilchberg (enthält Widmungsexemplare von Büchern, Privatdrucke, Bildmaterial und Korrespondenz) Zürich: ETH-Bibliothek Zürich (Hauptbibliothek der ETHZ)Österreich Wien: Literaturarchiv der Österreichischen Nationalbibliothek, Hermann-Hesse-Sammlung Eleonore VondenhoffDas Hermann-Hesse-Editionsarchiv in Offenbach am Main wurde von dem Lektor und international renommierten Hesse-Herausgeber Volker Michels über mehrere Jahrzehnte aufgebaut, unter anderem mit Unterstützung des Sohnes Heiner Hesse. Wenngleich die Hesse-Bestände in den Literaturarchiven in Bern und Marbach größer sind, verfügt das Hermann-Hesse-Editionsarchiv über die am weitesten erschlossene und funktionell umfassendste Dokumentation zu Leben und Werk Hermann Hesses. Im Deutschen Literaturarchiv Marbach sind zudem Teile des Hesse Nachlasses im Literaturmuseum der Moderne in einer Dauerausstellung zu sehen. Zum Beispiel liegen dort die Manuskripte bzw. Typoskripte zu Demian, Der Steppenwolf, Narziß und Goldmund und Gertrud. Im Nachlass Hesses findet sich auch das unveröffentlichte, von ihm 1915 geschriebene Opernlibretto Romeo für seinen Freund Volkmar Andreae, das auf der Übertragung des Shakespeare-Dramas Romeo und Julia durch Schlegel beruht. == Auszeichnungen und Ehrungen == Hermann Hesse literarisches Werk wurde mit einer Reihe von literarischen Auszeichnungen, internationalen Preisen und einem Ehrendoktortitel gewürdigt. 1904: Bauernfeld-Preis 1928: Mejstrik-Preis der Wiener Schiller-Stiftung 1936: Gottfried-Keller-Preis 1946: Goethepreis der Stadt Frankfurt am Main 1946: Nobelpreis für Literatur für sein Gesamtwerk 1947: Ehrendoktor der Universität Bern 1947: Ernennung zum Ehrenbürger seiner Heimatstadt Calw 1950: Wilhelm-Raabe-Preis 1954: Pour le mérite für Wissenschaften und Künste 1955: Friedenspreis des Deutschen Buchhandels für seine Werke und Rezensionen während der NS-Zeit 1962: Ehrenbürgerrecht der Gemeinde Collina d’Oro, in der Hesses langjähriger Wohnort Montagnola liegt, am 1. Juli 1962, wenige Wochen vor seinem TodDie Stadt Calw, in der sich auch das Hermann-Hesse-Museum befindet, benannte ihr Gymnasium und einen Platz in der Fußgängerzone nach ihm. Auch die Bahnstrecke nach Weil der Stadt soll nach ihrer geplanten Reaktivierung Hermann-Hesse-Bahn heißen. In Hermann Hesses Roman Unterm Rad gibt es mehrere Textstellen mit Bezug auf die alte Bahnstrecke. Zudem gibt es einen Hermann-Hesse-Platz in Bad Mingolsheim sowie viele nach ihm benannte Straßen im ganzen Bundesgebiet. Auch mehrere Schulen wurden nach ihm benannt. 2021 benannte die Stadt Basel einen bislang namenlosen Platz in „Hermann Hesse-Platz“ um; er befindet sich in unmittelbarer Nähe des Kleinbasler Hotels Krafft, wo Hesse den Roman „Der Steppenwolf“ schrieb.Am 8. Dezember 1998 wurde der Asteroid (9762) Hermannhesse nach ihm benannt. Anlässlich seines 125. Geburtstages gab die Deutsche Post im Jahre 2002 eine Sonder-Briefmarke heraus. == Hesse-Museen == Hesse Museum Gaienhofen (Landkreis Konstanz), Deutschland Mia- und Hermann-Hesse-Haus, Gaienhofen, Deutschland Museo Hermann Hesse, Montagnola, Torre Camuzzi, Schweiz Hermann-Hesse-Museum im historischen Stadtpalais „Haus Schüz“ in Hesses Geburtsstadt Calw Hermann-Hesse-Kabinett in Tübingen == Werke (Auswahl) == === Schriften === In Kandy. 1912. Robert Aghion Teil 1. Teil 2.Teil 3. 1913. Der Inseltraum. 1917. Der Schlossergeselle. 1918. Wanderung übers Gebirg. 1919. Eine Sonate. 1919. Die Nacht. 1920. Gedanken zu Dostojewskis “Idiot”. 1920. === Einzelausgaben === Romantische Lieder. Pierson, Dresden 1899. Eine Stunde hinter Mitternacht. Neun Prosastudien. Diederichs, Leipzig 1899, München 2019, ISBN 978-3-424-35097-5 Hinterlassene Schriften und Gedichte von Hermann Lauscher. Reich, Basel 1900. Gedichte. Hrsg. und eingeleitet von Carl Busse. Grote, Berlin 1902; Neuausgabe als Jugendgedichte: Grote, Halle 1950. Boccaccio. Schuster & Loeffler, Berlin 1904. Franz von Assisi. Schuster & Loeffler, Berlin 1904. Peter Camenzind. Roman. Fischer, Berlin 1904. Unterm Rad. Roman. Fischer, Berlin 1906. Diesseits. Erzählungen (Aus Kinderzeiten, Die Marmorsäge, Heumond, Der Lateinschüler, Eine Fußreise im Herbst). Fischer, Berlin 1907; umgearbeitete und ergänzte Neuausgabe ebd. 1930. Nachbarn. Erzählungen (Die Verlobung, Karl Eugen Eiselein, Garibaldi, Walter Kömpff, In der alten Sonne). Fischer, Berlin 1908. Gertrud. Roman. Langen, München 1910; Neudruck: Suhrkamp, Frankfurt am Main 1955. Umwege. Erzählungen (Ladidel, Die Heimkehr, Der Weltverbesserer, Emil Kolb, Pater Matthias). Fischer, Berlin 1912; ergänzte Neuausgabe als Kleine Welt: ebd. 1933. Aus Indien. Aufzeichnungen von einer indischen Reise. Fischer, Berlin 1913. Roßhalde. Roman. Fischer, Berlin 1914. Am Weg. Erzählungen (Juninacht, Der Wolf, Märchen, Der Brunnen im Maulbronner Kreuzgang, Eine Gestalt aus der Kinderzeit, Hinrichtung, Vor einer Sennhütte). Reuß & Itta, Konstanz 1915; Neuausgabe, illustriert von Louis Moilliet: Büchergilde Gutenberg, Zürich 1943. Knulp. Drei Geschichten aus dem Leben Knulps. Erzählung. Fischer, Berlin 1915. Musik des Einsamen. Neue Gedichte. Salzer, Heilbronn 1915. Schön ist die Jugend. Zwei Erzählungen. Fischer, Berlin 1916. Demian. Fischer, Berlin 1919. Märchen. Fischer, Berlin 1919. Klingsors letzter Sommer. Erzählungen. Fischer, Berlin 1920 (enthält: Kinderseele, Klein und Wagner und Klingsors letzter Sommer). Wanderung. Aufzeichnungen. Mit farbigen Bildern vom Verfasser. Fischer, Berlin 1920. Ausgewählte Gedichte S.Fischer, Berlin 1921. Siddhartha. Eine indische Dichtung. Fischer, Berlin 1922. Kurgast. Aufzeichnungen von einer Badener Kur. Fischer, Berlin 1925. Bilderbuch. Schilderungen. Fischer, Berlin 1926. Der Steppenwolf. Roman. Fischer, Berlin 1927. Die Nürnberger Reise. Fischer, Berlin 1927. Betrachtungen. Fischer, Berlin 1928 (enthält u. a. Wenn der Krieg noch zwei Jahre dauert). Trost der Nacht. Neue Gedichte. Fischer, Berlin 1929. Narziß und Goldmund. Erzählung. Fischer, Berlin 1930. Die Morgenlandfahrt. Erzählung. Fischer, Berlin 1932. Fabulierbuch. Erzählungen. Fischer, Berlin 1935. Stunden im Garten. Eine Idylle. Bermann-Fischer, Wien 1936. Gedenkblätter. Fischer, Berlin 1937. Neue Gedichte. Fischer, Berlin 1937. Die Gedichte. Fretz & Wasmuth, Zürich 1942; ergänzte Neuausgabe: Suhrkamp, Frankfurt am Main 1953. Das Glasperlenspiel. Roman. 2 Bände. Fretz & Wasmuth, Zürich 1943 (darin: Stufen). Berthold. Ein Romanfragment. Fretz & Wasmuth, Zürich 1945. Traumfährte. Neue Erzählungen und Märchen. Fretz & Wasmuth, Zürich 1945. Traumfährte: Erzählungen und Märchen., 2. Auflage, Manesse Verlag, Zürich 1994, ISBN 3-7175-8152-X. Spaziergang in Würzburg. Hrsg. von Franz Xaver Münzel, Privatdruck (Tschudy & Co), St. Gallen (1945). Krieg und Frieden. Betrachtungen zu Krieg und Politik seit dem Jahr 1914. Fretz & Wasmuth, Zürich 1946. Späte Prosa. Suhrkamp, Berlin 1951, darin: Der gestohlene Koffer; Der Pfirsichbaum; Rigi-Tagebuch; Traumgeschenk; Beschreibung einer Landschaft; Der Bettler; Unterbrochene Schulstunde; Glück; Schulkamerad Martin; Aufzeichnung bei einer Kur in Baden; Weihnacht mit zwei Kindergeschichten. Briefe. Suhrkamp, Berlin 1951; v. Ninon Hesse erweiterte Ausgabe ebd. 1964. Beschwörungen. Späte Prosa – Neue Folge. Suhrkamp Verlag Berlin, 1955, darin: Erzählungen (Bericht aus Normalien, Die Dohle, Kaminfegerchen und Ein Maulbronner Seminarist), Rundbriefe (Geheimnisse, Nächtliche Spiele, Allerlei Post, Aprilbrief, Grossväterliches, Herbstliche Erlebnisse, Engadiner Erlebnisse, Begegnungen mit Vergangenem, Über das Alter, Beschwörungen, Notizblätter um Ostern, Rundbrief aus Sils-Maria) und Tagebuchblätter (Erlebnis auf einer Alp, Für Marulla, Tagebuchblätter 1955, 13. März, 14. Mai, 15. Mai, 1. Juli) Die späten Gedichte. Insel, Frankfurt am Main 1963 (Insel-Bücherei, Band 803). Prosa aus dem Nachlass. Suhrkamp, Frankfurt am Main 1965 (darin: Freunde). Der Vierte Lebenslauf Josef Knechts. Zwei Fassungen. Suhrkamp, Frankfurt am Main 1966 (Bibliothek Suhrkamp, Band 181). Die Kunst des Müßiggangs. Kurze Prosa aus dem Nachlass. Suhrkamp, Frankfurt am Main 1973, ISBN 3-518-36600-9. === Sammelausgaben === Gesammelte Schriften in sieben Bänden. Suhrkamp, Frankfurt am Main 1957; Neuausgabe ebd. 1978, ISBN 3-518-03108-2. Gesammelte Werke in zwölf Bänden. Zusammengestellt von Volker Michels. Suhrkamp, Frankfurt am Main 1970 (= Werkausgabe edition suhrkamp); ebd. 1987, ISBN 3-518-38100-8. Gesammelte Briefe in vier Bänden. In: Zusammenarbeit mit Heiner Hesse hrsg. v. Ursula und Volker Michels. Suhrkamp, Frankfurt am Main 1973–1986; ebd. 1990, ISBN 3-518-09813-6. Die Kunst des Müßiggangs. Kurze Prosa aus dem Nachlaß. Hrsg. von Volker Michels, Suhrkamp, Frankfurt am Main 1973. Die Märchen. Zusammengestellt von Volker Michels. Suhrkamp, Frankfurt am Main 1975; ebd. 2006, ISBN 3-518-45812-4. Volker Michels (Hrsg.): Hermann Hesse: Bäume. Betrachtungen und Gedichte. Mit Fotografien von Imme Techentin. Suhrkamp, Frankfurt am Main 1952; Taschenbuchausgabe: Insel, Frankfurt am Main 1984, ISBN 3-458-32155-1. Volker Michels (Hrsg.): Hermann Hesse: Musik. Betrachtungen, Gedichte, Rezensionen und Briefe. Mit einem Essay von Hermann Kasack (Hermann Hesses Verhältnis zur Musik). Suhrkamp, Frankfurt am Main 1976. (erweiterte Auflage. Suhrkamp, Frankfurt am Main 1986, ISBN 3-518-37717-5) Die Gedichte 1892–1962. 2 Bände. Neu eingerichtet und um Gedichte aus dem Nachlass erweitert von Volker Michels. Suhrkamp, Frankfurt am Main 1977, ISBN 3-518-36881-8 (= st 381). Neuausgabe in einem Band: Suhrkamp, Frankfurt am Main 1992, ISBN 3-518-40455-5. Auch als: Die Gedichte. Insel, Frankfurt am Main 2001, ISBN 3-458-34462-4 (= it 2762). Gesammelte Erzählungen. 4 Bände. Zusammengestellt von Volker Michels. Suhrkamp, Frankfurt 1977. (Suhrkamp, Frankfurt 1982, ISBN 3-518-03134-1) Sämtliche Werke. 20 Bände und 1 Registerband. Hrsg. v. Volker Michels. Suhrkamp, Frankfurt 2001–2007, ISBN 978-3-518-41100-1. Chris Walton, Martin Germann (Hrsg.): Hermann Hesse und Othmar Schoeck, der Briefwechsel. (= Schwyzer Hefte. Band 105). Kulturkommission Kanton Schwyz, Schwyz 2016, ISBN 978-3-909102-67-9. Die Briefe. 10 Bände (geplant). Hrsg. v. Volker Michels. Suhrkamp, Berlin 2012 ff. Band 1: 1881–1904. ISBN 978-3-518-42309-7. Band 2: 1905–1915. ISBN 978-3-518-42408-7. Band 3: 1916–1923. ISBN 978-3-518-42458-2. Band 4: 1924–1932. ISBN 978-3-518-42566-4. Band 5: 1933–1939. ISBN 978-3-518-42810-8. Band 6: 1940–1946. ISBN 978-3-518-42953-2. Band 7: 1947–1951. ISBN 978-3-518-43001-9. „Mit dem Vertrauen, daß wir einander nicht verloren gehen können“. Briefwechsel mit seinen Söhnen Bruno und Heiner. Hrsg. v. Michael Limberg. Suhrkamp, Berlin 2019, ISBN 978-3-518-42905-1. Justus Hermann Wetzel, Briefe und Schriften, hrsg. von Klaus Martin Kopitz und Nancy Tanneberger, Würzburg 2019 (S. 79–143 Korrespondenz mit Hermann Hesse); ISBN 978-3-8260-7013-6 === Tondokumente === Hermann Hesse: Über das Glück, gelesen von Hermann Hesse, 1949. Hörprobe, in: Schweizerische Nationalphonothek Lugano, Der Hörverlag (CD46721) Übergabe des Nobelpreises in Stockholm an Hermann Hesse, Radio DRS 20.12.1946, Tondokument in: Schweizerische Nationalphonothek Lugano (DAT2614) == Adaptionen == === Literarische Verfilmungen === Der Steppenwolf (1974), Spielfilm USA/Frankreich/Schweiz, basierend auf dem gleichnamigen Roman. Kinderseele (1977), deutscher Fernsehfilm, basierend auf der gleichnamigen Erzählung. Die Heimkehr (2012), deutsch-österreichischer Fernsehfilm, basierend auf der gleichnamigen Erzählung. Narziss und Goldmund (2020), deutscher Kinofilm, basierend auf dem gleichnamigen Roman. Siddhartha (1972), Spielfilm USA, basierend auf der gleichnamigen Erzählung. === Textvertonungen nach Gedichten (Auswahl) === Walther Aeschbacher: Die Nacht. Kantate für Sopran und Alt-Solo, Frauenchor und Streichorchester, unter teilweiser Benutzung eines Gedichtes von HH. Selbstverlag, Basel 1953. Volkmar Andreae: Vier Gedichte von HH. für eine (m.) St. mit Kl.begleitung. Op. 23. Hug, Zürich 1912 (Uraufgeführt 1913 von Ilona Durigo in Zürich). Lydia Barblan-Opieńska: Bitte. Für männliche Stimme und Klavier. E. Barblan, Lausanne o. J. Waldemar von Baußnern: Der Pilger. Für vierstimmigen Männerchor und Orgel. Westdeutscher Chorverlag, Heidelberg 1927. Alfred Böckmann: Mondaufgang. Für vierstg. Männerchor. Thüringer Volksverlag, Weimar 1953 (= Neues Chorlied. 35 M.). Gerhard Bohner: Herbst. Für vierstimmigen (gem.) Chor. Möseler, Wolffenbüttel 1958 (= Chorblatt-Reihe. Lose Blätter. Nr. 602). Matthias Bonitz: Stufen (2016) Cesar Bresgen: Wanderschaft für 3-stimmigen Chor (1959). Gottfried von Einem: Liederzyklus op. 43. Jürg Hanselmann: Liederkreis für Tenor und Klavier (2011), In Sand geschrieben, Kantate für Soli, Chor und Orchester (2011). Bertold Hummel: 6 Lieder nach Gedichten von Hermann Hesse für mittlere Stimme und Klavier op. 71a (1978) bertoldhummel.de. Kopflos Ein Liederzyklus nach skurrilen Gedichten von Hermann Hesse für mittlere Stimme und Klavier, op. 108 (2002) bertoldhummel.de. Theophil Laitenberger: Sechs Lieder zu Gedichten von Hermann Hesse für Tenor/Bariton und Klavier (1922–1924): Frühlingstag / Enzianblüte / Wie der stöhnende Wind / Weiße Rose in der Dämmerung / Elegie im September / Assistono diversi santi. Jan-Martin Mächler: Neues Erleben. Hermann-Hesse-Vertonungen (2006). Casimir von Pászthory: 6 Lieder nach Hesse für hohe oder mittlere Stimme und Klavier. Günter Raphael: 8 Gedichte op. 72 für hohe Stimme und Orchester. Philippine Schick: Der Einsame an Gott. Op. 17. Kantate für dramatischen Sopran, lyrischen Bariton, dreistimmigen Frauenchor, Streichorchester und Klavier. Kahut, Leipzig 1929. Othmar Schoeck: Vertonung von 2 Dutzend Gedichten, darunter Vier Gedichte op. 8 und Zehn Lieder op. 44. Richard Strauss: Vier letzte Lieder (davon drei Lieder nach Gedichten von Hesse) (1948) Sándor Veress: Das Glasklängespiel für gemischten Chor und Kammerorchester (1978) Werner Wehrli: Fünf Gesänge op. 23 Justus Hermann Wetzel: Fünfzehn Gedichte op. 11 == Literatur == Nachschlagewerke Ursula Apel (Hrsg.): Hermann Hesse: Personen und Schlüsselfiguren in seinem Leben. Ein alphabetisches annotiertes Namensverzeichnis mit sämtlichen Fundstellen in seinen Werken und Briefen. 3 Bände. Saur, München 1989/93, ISBN 3-598-10841-9. Gunnar Decker: Der Zauber des Anfangs. Das kleine Hesse-Lexikon. Aufbau, Berlin 2007, ISBN 978-3-7466-2346-7.Zu Leben und Werk Fritz Böttger: Hermann Hesse. Leben, Werk, Zeit. Verlag der Nation, Berlin 1990, ISBN 3-373-00349-0. Albert M. Debrunner: Hermann Hesse in Basel. Literarische Spaziergänge durch Basel. Orell Füssli Verlag 2011, ISBN 978-3-7193-1571-9 Gunnar Decker: Hermann Hesse. Der Wanderer und sein Schatten. Biographie. Carl Hanser, München 2012, ISBN 978-3-446-23879-4. Eva Eberwein, Ferdinand Graf von Luckner (Fotografien): Der Garten von Hermann Hesse. Von der Wiederentdeckung einer verlorenen Welt. DVA, Stuttgart 2016, ISBN 978-3-421-04034-3. Helga Esselborn-Krumbiegel: Hermann Hesse. Reihe: Literaturwissen für Schule und Studium, Reclam Universalbibliothek Nr. 15208, Stuttgart 1996, ISBN 3-15-015208-9. Thomas Feitknecht: Hermann Hesse. In: Historisches Lexikon der Schweiz. 13. Dezember 2007. Ralph Freedman: Hermann Hesse – Autor der Krisis. Eine Biographie. Suhrkamp, Frankfurt am Main 1982 bzw. 1991, ISBN 3-518-38327-2. Detlef Haberland, Géza Horváth (Hrsg.): Hermann Hesse und die Moderne. Diskurse zwischen Ästhetik, Ethik und Politik. Praesens, Wien 2013, ISBN 978-3-7069-0760-6. Silver Hesse/Jürgen Wertheimer (Hrsg.): Erlebte Orte. Volker Michels zum 80. Geburtstag. Suhrkamp, Berlin 2023, ISBN 978-3-518-00177-6. Reso Karalaschwili: Hermann Hesse – Charakter und Weltbild. Studien. Suhrkamp, Frankfurt am Main 1993, ISBN 3-518-38656-5. Thomas Lang: Immer nach Hause. Roman [über Hesses Ehe mit Mia Bernoulli]. Berlin Verlag, München/Berlin 2016, ISBN 978-3-8270-1333-0. Michael Limberg: Hermann Hesse. Leben, Werk, Wirkung. Suhrkamp, Frankfurt am Main 2005, ISBN 3-518-18201-3. Volker Michels (Hrsg.): Über Hermann Hesse. 2 Bände. Suhrkamp, Frankfurt am Main 1976/77, ISBN 3-518-06831-8 und ISBN 3-518-06832-6. Eike Middell: Hermann Hesse. Die Bilderwelt seines Lebens. Reclam, Leipzig 1972; 5. A. ebd. 1990, ISBN 3-379-00603-3. Joseph Mileck: Hermann Hesse – Dichter, Sucher, Bekenner. Eine Biographie. Bertelsmann, München 1979; Suhrkamp, Frankfurt am Main 1987, ISBN 3-518-37857-0. Jürgen Nelles: Kunst und Künstler im Erzählwerk Hermann Hesses. In: Hermann-Hesse-Jahrbuch. Bd. 6. Königshausen & Neumann, Würzburg 2014, S. 79–99, ISBN 978-3-8260-5460-0. Helmut Oberst: Hermann Hesse kennen lernen. Leben und Werk. Schulwerkstatt-Verlag, Karlsruhe 2019, ISBN 978-3-940257-26-0. Martin Pfeifer: Hermann Hesse. In: Hartmut Steinecke (Hrsg.): Deutsche Dichter des 20. Jahrhunderts. Erich Schmidt Verlag, 1994, ISBN 3-503-03073-5, S. 175 ff. (books.google.de) Alois Prinz: „Und jedem Anfang wohnt ein Zauber inne“. Die Lebensgeschichte des Hermann Hesse. Suhrkamp, Frankfurt am Main 2006, ISBN 3-518-45742-X. Bärbel Reetz: Hesses Frauen. Insel, Berlin 2012, ISBN 978-3-458-35824-4. Ernst Rose: Hesse, Hermann. In: Neue Deutsche Biographie (NDB). Band 9, Duncker & Humblot, Berlin 1972, ISBN 3-428-00190-7, S. 17–20 (Digitalisat). Hans-Jürgen Schmelzer: Auf der Fährte des Steppenwolfs. Hermann Hesses Herkunft, Leben und Werk. Hohenheim, Stuttgart 2002, ISBN 3-89850-070-5. Johann-Karl Schmidt: Hermann Hesse malt. Villingen-Schwenningen 2020, ISBN 978-3-939423-81-2. Christian Immo Schneider: Hermann Hesse. Beck, München 1991, ISBN 3-406-33167-X. Herbert Schnierle-Lutz: Auf den Spuren von Hermann Hesse. Calw, Maulbronn, Tübingen, Basel, Gaienhofen, Bern und Montagnola. 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Filmdokumentation von Hardy Seer. Seerose Filmproduktion, Füssen 2012, ISBN 978-3-929371-24-6.Eine Dokumentation über Hesses erstes eigenes Haus in Gaienhofen am Bodensee und seine Zeit von 1904 bis 1912. Mitwirkende und Interviewpartner: Simon Hesse (Enkel des Schriftstellers), Alois Prinz (Schriftsteller und Hesse-Biograph), Eva Eberwein (Dipl.-Biologin und Eigentümerin des Hermann-Hesse-Hauses), Ruediger Dahlke (Psychotherapeut, Arzt und Autor), Ute Hübner (Leiterin des Hermann-Hesse-Höri-Museums Gaienhofen), Volker Michels (Leiter des Hesse-Editionsarchivs). Hermann Hesse – Der Weg nach innen. Filmdokumentation von Andreas Christoph Schmidt. Schmidt und Paetzel, Berlin 2012. Filmporträt zum 50. Todestag. Interviewpartner sind in diesem Film Volker Michels (Herausgeber des Hesse-Editionsarchivs), Schriftsteller Adolf Muschg, Silver Hesse (Enkel von Hermann Hesse), Heimo Schwilk (Hesse-Biograf) und der amerikanische Literaturprofessor Theodore Ziolkowski. Hermann Hesse Superstar – Dokumentation. Filmdokumentation, Andreas Ammer, ARD, 3. Mai 2012 Hermann Hesse. Brennender Sommer, Filmessay von Heinz Bütler, Zürich, 2020. Mit Daniel Behle, Silver Hesse, Sibylle Lewitscharoff, Michael Limberg, Oliver Schnyder, Peter Simonischek und Alain Claude Sulzer. Hermann Hesse – Die Reise in den Süden. Filmdokumentation von Werner Weick. 3sat == Weblinks == Literatur von und über Hermann Hesse im Katalog der Deutschen Nationalbibliothek Publikationen von und über Hermann Hesse im Katalog Helveticat der Schweizerischen Nationalbibliothek Werke von und über Hermann Hesse in der Deutschen Digitalen Bibliothek Werke von Hermann Hesse im Suhrkamp und Insel Verlag Rebekka von Mallinckrodt: Hermann Hesse. Tabellarischer Lebenslauf im LeMO (DHM und HdG) Werke von Hermann Hesse im Project Gutenberg Werke von Hermann Hesse im Projekt Gutenberg-DE Eintrag über Hermann Hesse im Lexikon des Vereins Autorinnen und Autoren der Schweiz Hesse-Archiv in der Datenbank Helveticarchives bzw. als Online-Inventar (EAD) des Schweizerischen Literaturarchivs Hermann Hesse im Literaturarchiv der Österreichischen Nationalbibliothek Thomas Feitknecht: Hermann Hesse. In: Historisches Lexikon der Schweiz. 13. Dezember 2007. Linksammlung (Memento vom 27. April 2016 im Internet Archive) der Universitätsbibliothek der Freien Universität Berlin Internationale Hermann-Hesse-Gesellschaft e. V. Regina Bucher: Hermann, Hesse. In: Sikart Hermann-Hesse-Page (HHP), University of California, Santa Barbara, Prof. Gunther Gottschalk (englisch und deutsch) Hermann-Hesse-Sammlung im Archiv der Akademie der Künste, Berlin Fondazione Hermann Hesse Montagnola Mia- und Hermann-Hesse-Haus in Gaienhofen Schwerpunkt: 50. Todestag von Hermann Hesse. literaturkritik.de 8/2012 (13 Artikel) Hermann Hesse im Auszug Stamm Bernoulli auf stroux.org Familienbilder von Adele Gundert-Hesse (Hermann Hesse Editionsarchiv, Offenbach am Main) == Einzelnachweise ==
https://de.wikipedia.org/wiki/Hermann_Hesse
Max Weber
= Max Weber = Maximilian „Max“ Carl Emil Weber (* 21. April 1864 in Erfurt; † 14. Juni 1920 in München) war ein deutscher Soziologe und Nationalökonom. Obwohl seiner Ausbildung nach Jurist, gilt er als einer der Klassiker der Soziologie sowie der gesamten Kultur-, Sozial- und Geschichtswissenschaften. Er lehrte als Privatdozent und außerordentlicher Professor an der Friedrich-Wilhelms-Universität Berlin (1892–1894) und als ordentlicher Professor an den Universitäten Freiburg (1894–1896), Heidelberg (1897–1903), Wien (1918) und München (1919–1920). Krankheitsbedingt unterbrach er die universitäre Lehre in Heidelberg für viele Jahre, entfaltete aber in dieser Zeit eine außerordentlich produktive publizistische und journalistische Tätigkeit. Zudem versammelte er zum sonntäglichen Jour fixe namhafte Wissenschaftler, Politiker und Intellektuelle, deren Zusammentreffen den sogenannten „Mythos von Heidelberg“ als intellektuelles Zentrum begründeten. Mit seinen Theorien und Begriffsprägungen hatte er insbesondere auf die Wirtschafts-, Herrschafts-, Rechts- und Religionssoziologie großen Einfluss. Auch wenn sein Werk fragmentarischen Charakter hat, wurde es dennoch aus der Einheit eines Leitmotivs entwickelt: des okzidentalen Rationalismus und der damit bewirkten Entzauberung der Welt. Eine Schlüsselstellung in diesem historischen Prozess wies er dem modernen Kapitalismus als der „schicksalsvollsten Macht unseres modernen Lebens“ zu. In der Wahl dieses Forschungsschwerpunktes zeigte sich eine Nähe zu seinem Antipoden Karl Marx, die ihm auch die Bezeichnung „der bürgerliche Marx“ eintrug. Mit Webers Namen sind die Protestantismus-Kapitalismus-These, das Prinzip der Werturteilsfreiheit, der Begriff Charisma, das Gewaltmonopol des Staates sowie die Unterscheidung von Gesinnungs- und Verantwortungsethik verknüpft. Aus seiner Beschäftigung mit dem „Erlösungsmedium Kunst“ ging eine gelehrte Abhandlung zur Musiksoziologie hervor. Politik war nicht nur sein Forschungsgebiet, sondern er äußerte sich auch als klassenbewusster Bürger und aus liberaler Überzeugung engagiert zu aktuellen politischen Streitfragen des Kaiserreichs und der Weimarer Republik. Als früher Theoretiker der Bürokratie wurde er über den Umweg US-amerikanischer Rezeption zu einem der Gründungsväter der Organisationssoziologie gekürt. Max Webers Ehefrau Marianne Weber engagierte sich politisch als Frauenrechtlerin, verfasste nach seinem Tod die erste und jahrzehntelang einzige Biographie ihres Mannes und gab einige seiner wichtigen Werke postum heraus. == Leben == Max Weber war ein selbstbewusstes Mitglied der bürgerlichen Klasse. In seiner Freiburger Antrittsrede 1895 stellte er sich seinen Zuhörern wie folgt vor: „Ich bin ein Mitglied der bürgerlichen Klassen, fühle mich als solches und bin erzogen in ihren Anschauungen und Idealen“. Das war er nach Jürgen Kaube im Hinblick auf „Besitz, politischer Stellung, Gelehrtentum, Bildung und Lebensstil“. Wolfgang J. Mommsen bezeichnete ihn als „klassenbewußten Bourgeois“ und den „bürgerlichen Marx“, der wie kaum jemand anderes mit solcher Konsequenz bürgerliche Lebensideale verfochten habe „als dieser Nachfahre französischer Hugenotten“. Als Wissenschaftler konnte er sich laut Werner Gephart mit gutem Grund Jurist, Nationalökonom, Historiker, Soziologe und Kunstwissenschaftler nennen. === Jugendzeit und Studium === Max Weber wurde am 21. April 1864 in Erfurt als erstes von acht Kindern geboren, von denen sechs (vier Söhne und zwei Töchter) das Erwachsenenalter erreichten. Seine Eltern waren der Jurist und spätere Reichstagsabgeordnete der Nationalliberalen Partei Max Weber sen. (1836–1897) und Helene Weber, geb. Fallenstein (1844–1919), beide Protestanten mit hugenottischen Vorfahren; Helene Fallenstein war eine Enkelin des Kaufmanns Cornelius Carl Souchay. Sein 1868 geborener Bruder Alfred wurde ebenfalls Nationalökonom und Universitätsprofessor im Fach Soziologie, der 1870 geborene Bruder Karl wurde Architekt. Max Weber war über die mütterliche Linie Neffe von Hermann Baumgarten und Vetter von Fritz und Otto Baumgarten; sein Onkel väterlicherseits war der Textilfabrikant Carl David Weber. Max Weber wuchs in einer relativ intakten Familie auf, „deren Zusammenhalt sich nicht zuletzt in Streitigkeiten manifestierte“. Er galt als Sorgenkind, das bereits im Alter von zwei Jahren an Meningitis erkrankt war. Das Recht des Erstgeborenen machte er früh geltend und fühlte sich in der Familie als Vermittler von Streitigkeiten zwischen Eltern und Kindern. Die schulischen Anforderungen bewältigte er „mühelos und mit Bravour“. Mit dreizehn las er Werke der Philosophen Arthur Schopenhauer, Baruch de Spinoza und Immanuel Kant, aber auch Belletristik wie Werke von Goethe. Nach dem Abitur am Königlichen Kaiserin-Augusta-Gymnasium in Charlottenburg studierte Weber von 1882 bis 1886 Jura, Nationalökonomie, Philosophie, Theologie und Geschichte in Heidelberg, Straßburg, Göttingen und Berlin. In seinem Hauptfach Jura war einer seiner Studienschwerpunkte römisches Recht und die für die damalige Juristenausbildung in Deutschland vorgeschriebene Pandektenwissenschaft, eine auf der Sammlung von römischen Rechtstexten systematisierten Rechtswissenschaft, die auch die Grundlage für das 1900 verabschiedete Bürgerliche Gesetzbuch bildete. Nur teilweise war sein Studium von seinem Wehrdienst 1883/1884 als Einjährig-Freiwilliger in Straßburg unterbrochen, wo er die historischen Seminare seines Onkels Hermann Baumgarten besuchen konnte. Die Militärzeit erlebte er anfangs als „stumpfsinnig“ und beendete sie als Reserveoffizier. Während des Straßburger Militärdienstes verbrachte er viel Zeit in der Familie seines Onkels, „ein alter 48-er Liberaler“, der für ihn zu einer Art Ersatzvater und Mentor wurde. Sein studentischer Alltag war einerseits von harter Arbeit, ausgiebiger Lektüre und intellektuellen Kontakten, andererseits vom damaligen Studentenleben zwischen Mensuren und exzessiven Trinkgewohnheiten geprägt. Weber war Mitglied der Studentenverbindung Burschenschaft Allemannia (SK), aus der er per Brief vom 17. Oktober 1918 seinen Austritt erklärte. In seinem Austrittsbrief an den Vorsitzenden der Philisterkommission hob er die Verdienste der Verbindung für die „Pflege der Männlichkeit“ hervor, kritisierte aber die „geistige Inzucht“ und „Beschränkung des persönlichen Verkehrs“ des Verbindungswesens, die ihn zu dieser Entscheidung bewogen habe.Nach bestandenem Ersten Juristischen Staatsexamen am 15. Mai 1886 am Oberlandesgericht Celle begann Max Weber ein vierjähriges Referendariat in Berlin, das er am 18. Oktober 1890 mit dem Zweiten Juristischen Staatsexamen abschloss. 1886 war er auch aus finanziellen Gründen in sein Berliner Elternhaus zurückgekehrt, wo er bis zu seiner Hochzeit 1893 wohnte. Noch während des Referendariats wurde Weber mit der Dissertation Die Entwickelung des Solidarhaftprinzips und des Sondervermögens der offenen Handelsgesellschaft aus den Haushalts- und Gewerbegemeinschaften in den italienischen Städten am 1. August 1889 an der Friedrich-Wilhelms-Universität zu Berlin zum Dr. jur. (mit der Note magna cum laude) promoviert. Sein Doktorvater war der Jurist und Handelsrechtler Levin Goldschmidt. Bei der öffentlichen Disputation kam es zur berühmten Intervention von Theodor Mommsen: „Sohn, da hast Du meinen Speer, meinem Arm wird er zu schwer.“ Schon in dieser Erstlingsschrift entdeckt der Rechtshistoriker Gerhard Dilcher „spätere Grundfiguren des Weberschen soziologischen Denkens“, wie „Gemeinschaft“ und „Gesellschaft“ sowie das „Erklärungsparadigma der Rationalisierung“. === Universitätslaufbahn und politische Positionen === Im Februar 1892 erfolgte die Habilitation für Handelsrecht und Römisches Recht bei August Meitzen in Berlin mit der unmittelbar anschließenden Ernennung zum Privatdozenten. Webers Habilitationsschrift trug den Titel Die römische Agrargeschichte in ihrer Bedeutung für das Staats- und Privatrecht. Nach dieser „glänzenden Juristenkarriere“ wurde er im Oktober 1893, im Alter von 29 Jahren, zum außerordentlichen Professor für Handelsrecht und deutsches Recht an der juristischen Fakultät der Friedrich-Wilhelms-Universität ernannt und weiterhin mit der Vertretung seines erkrankten Lehrers Levin Goldschmidt beauftragt. Im gleichen Jahr heiratete er in Oerlinghausen seine Cousine Marianne Schnitger, die später als Frauenrechtlerin, Schriftstellerin und Politikerin aktiv wurde. Die Ehe blieb kinderlos. Ebenfalls 1893 wurde Max Weber erstmals in den Ausschuss des Vereins für Socialpolitik kooptiert. Vorangegangen war die große empirische Studie Die Lage der Landarbeiter im ostelbischen Deutschland, die 1892 in der Schriftenreihe des Vereins erschienen war. Dem Verein war Weber bereits 1888 beigetreten und gehörte ihm bis zu seinem Lebensende an. Zusammen mit seinem jüngeren Bruder Alfred, der mit ihm an der Enquete des Vereins über Auslese und Anpassung der Arbeiterschaft der geschlossenen Großindustrie beteiligt war, gehörte er zur jüngeren linksliberalen Generation des Vereins, nicht zur älteren Generation der sogenannten Kathedersozialisten um Gustav Schmoller und Adolph Wagner. In den Debatten des Vereins traten sie beide „eloquent als streitbare Dioskuren“ auf.Im Jahr 1893 trat Weber in den Alldeutschen Verband ein, der eine nationalistische Politik vertrat. In seiner Freiburger Antrittsvorlesung 1895 versuchte er die Verdrängung der seiner Ansicht nach rassisch höherwertigen deutschen Bevölkerung durch die slawisch-polnische im ostelbischen Preußen zu belegen Weber ging davon aus, dass „das Vordringen der Polen auf Kosten der Deutschen im Osten sich vollzog [...] infolge der größeren Kulturarmut der ersteren, die sich ausdrückte in geringeren Lohnforderungen der polnischen Arbeiter und geringerem Mindestbodenbedarf der polnischen Bauern“.Als er sich 1899 in der sogenannten „Polenfrage“ mit der Forderung nach Schließung der Grenzen für polnische Wanderarbeiter nicht durchsetzen konnte, verließ er den Alldeutschen Verband. In seinem Austrittsschreiben vom 22. April 1899 gibt Max Weber ausdrücklich die Polenfrage als Grund seines Austritts an und beschwert sich, dass der Alldeutsche Verband den völligen Ausschluss der Polen nicht mit der gleichen Vehemenz gefordert habe, mit der er sich für die Ausweisung der Tschechen und Dänen eingesetzt hatte. Insofern scheiterte er daran, dass im Alldeutschen Verband die bäuerlichen Mitglieder, die die Überwindung des Landarbeitermangels in den Vordergrund stellten, ihre Interessen zunächst durchsetzen konnten, auch wenn der Verband später offen rassistische Positionen vertrat.Bereits 1894 war Max Weber auf einen Lehrstuhl für Nationalökonomie an die Albert-Ludwigs-Universität Freiburg berufen worden. Dort hielt er am 13. Mai 1895 die akademische Antrittsrede Der Nationalstaat und die Volkswirtschaftspolitik, die im selben Jahr veröffentlicht wurde. 1896 erhielt er den Ruf als Nachfolger seines akademischen Lehrers Karl Knies, eines der renommiertesten Wirtschaftswissenschaftler, auf den Lehrstuhl für Nationalökonomie und Finanzwissenschaften an der Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg. Im Sommersemester 1897 nahm er die Lehre in Heidelberg auf. Beim Besuch seiner Mutter im Juni 1897 kam es zum Eklat mit dem Vater, der mitgereist war, weil er seine Frau nicht allein reisen ließ. Im Beisein der Mutter und Mariannes entlud der Sohn seinen lange aufgestauten Grimm über das autoritär-patriarchalische Verhalten des Vaters gegenüber der Mutter und erklärte, dass er mit dem Vater nichts mehr zu tun haben wolle. „Ein Sohn hält Gerichtstag über den Vater“, resümierte Marianne Weber die Auseinandersetzung. Nur wenige Wochen später starb der Vater, ohne dass es zu einer Versöhnung gekommen war.In den 1890er Jahren war Max Weber Teilnehmer mehrerer Tagungen des Evangelisch-sozialen Kongresses und unterstützte Friedrich Naumann und den von ihm gegründeten Nationalsozialen Verein, dem er 1896 als Mitglied beigetreten war. === Aufgabe der Lehrtätigkeit und wissenschaftlichen Arbeit === Seine Lehrtätigkeit musste Weber 1898 wegen eines Nervenleidens einschränken, das der in Heidelberg lehrende Psychiater Emil Kraepelin als „Neurasthenie aus jahrelanger Überarbeitung“ diagnostiziert hatte. Zwischen 1898 und 1900 verbrachte er mehrere Monate in Heilstätten, doch blieben die Kuren ohne Erfolg. Seit 1900 unterrichtete er nicht mehr, 1903 gab er die Professur ganz auf. Bis 1918 lebte er als Privatgelehrter von den Zinserträgen des familiären Vermögens. Erst mit der Begründung des Archivs für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik, dessen Redaktion er 1904 zusammen mit Edgar Jaffé und Werner Sombart übernahm, begann für ihn eine neue Tätigkeit, mit der er seine publizistische Arbeit mit großen Abhandlungen wieder aufnahm. Gleich in den ersten Heften erschienen Die „Objektivität“ sozialwissenschaftlicher und sozialpolitischer Erkenntnis (1904) und Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus (1904 und 1905). Zuvor hatte er im Herbst 1904 mit seiner Frau eine dreimonatige Reise in die USA unternommen, wo er protestantische Gemeinden, die Schlachthöfe von Chicago, Indianerschulen und das Tuskegee Institute besuchte und an Landauktionen und Gottesdiensten teilnahm. Auch traf er den von ihm sehr geschätzten schwarzen Wissenschaftler W. E. B. Du Bois, den er bereits in Berlin kennengelernt hatte. Kaum einen Aspekt der amerikanischen Gesellschaft ließ er unbesichtigt. Die Eindrücke führten bei Weber zu einer zunehmenden Ablehnung rassisch orientierter Erklärungsmuster für historische und gesellschaftliche Zusammenhänge. Sechs Jahre später erinnerte sich Weber öffentlich an die Begegnung mit dem „Gentleman“ Du Bois, um auf dem Frankfurter Soziologentag 1910 Ideologen des Rassebegriffs zu widersprechen. Darin spiegelt sich auch Webers Abwendung von den Werten einer rassisch definierten deutschen Nation hin zur europäisch-amerikanischen Kultur mit ihrem Prinzip der rationalen Lebensführung, an deren Siegeszug er seit seinen Protestantismusstudien glaubte, deren soziale und menschliche Kosten er aber nicht ignorierte, sondern in verschiedenen Werken immer wieder benannte („Versachlichung“, „Disziplinierung“, „Entzauberung“, „Säkularisierung“, „Entmenschlichung“ usw.). Seit 1909 widmete sich Weber intensiv der Konzeption eines großangelegten neuen Handbuchs, des Grundriß der Sozialökonomik. Als sein eigener Beitrag dazu erschien 1922 postum Wirtschaft und Gesellschaft. 1909 gründete er zusammen mit Rudolf Goldscheid sowie Ferdinand Tönnies, Georg Simmel und Werner Sombart die Deutsche Gesellschaft für Soziologie (DGS), deren erster Präsident Ferdinand Tönnies wurde. Im Gegensatz zum Verein für Socialpolitik, der in die soziale Wirklichkeit eingreifen wollte, war mit der Neugründung eine entschiedene Hinwendung zu theoretischen Fragestellungen beabsichtigt. Marianne Weber vermerkte zur Gründung der Gesellschaft: „Die Soziologie war noch keine Spezialwissenschaft, sondern auf ein Ganzes der Erkenntnis gerichtet, deshalb mit fast allen Wissenschaften in Fühlung.“ Weber bezeichnete sich von da an endgültig als Soziologe. Doch die erbitterten Debatten über das Wertfreiheitspostulat auf den Soziologentagen 1910 und 1912 führten zu Enttäuschung und Resignation und seinem Ausscheiden aus der Gesellschaft.Von großer Bedeutung für die Gestaltung Max Webers sozialen Umfeldes war der sogenannte „Sonntagskreis“ (Marianne Weber), ein Gesprächszirkel, der nach Webers Umzug nach Heidelberg 1910 in die großelterliche „Fallensteinvilla“ in der Ziegelhäuser Landstraße 17 stattfand. Am sonntäglichen Jour fixe waren Wissenschaftler, Politiker und Intellektuelle aus Heidelberg und von außerhalb beteiligt, unter ihnen: Ernst Troeltsch, Georg Jellinek, Friedrich Naumann, Emil Lask, Karl Jaspers, Friedrich Gundolf, Georg Simmel, Georg Lukács, Ernst Bloch, Gustav Radbruch, Theodor Heuss. Auch gebildete Frauen wie Gertrud Jaspers, Gertrud Simmel, die Frauenrechtlerin Camilla Jellinek und die erste Generation der Heidelberger Studentinnen (unter ihnen Else Jaffé) gehörten zu den regelmäßigen Gästen. Der sogenannte „Mythos von Heidelberg“ wurde nicht zuletzt durch diese Zusammentreffen als ein intellektuelles Zentrum begründet. Im Frühjahr 1913 und 1914 verbrachte Weber jeweils einen Monat in Ascona am Monte Verità, um zu kuren, abzunehmen und zugleich als Anwalt einer Bekannten (Frieda Gross) in einem komplizierten und über Jahre erstreckenden Prozess beizustehen. Die bunte Welt der Lebensreformer, „Zauberweiber“ und Anarchisten, die sich am Monte Verità versammelten, empfand er als eine „Oase der Reinheit“, und als in „sonderbare Fabelwelten verschlagener Max“ grüßte er von dort seine Frau.Im Jahre 1909 wurde Max Weber außerordentliches Mitglied der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, ab 1918 auswärtiges Mitglied. === Erster Weltkrieg === Zu Beginn des Ersten Weltkrieges war Max Weber ein Jahr lang Disziplinaroffizier der Lazarettkommission in Heidelberg. Er teilte die nationale Aufbruchstimmung des Spätsommers 1914 mit vollem Herzen („dieser Krieg ist groß und wunderbar“, schrieb er an Karl Oldenberg und Ferdinand Tönnies). Ende 1915 setzte Webers rege publizistische Tätigkeit ein, vornehmlich für die Frankfurter Zeitung, mit der er sich im weiteren Kriegsverlauf für einen Verständigungsfrieden ohne Annexionen sowie für eine Parlamentarisierung und Demokratisierung des Deutschen Reiches aussprach. 1917 nahm er an zwei Kulturtagungen auf Burg Lauenstein teil, die der Verleger Eugen Diederichs zur geistigen Neuorientierung nach dem Krieg organisiert hatte. Zur Pfingsttagung über „Sinn und Aufgabe unserer Zeit“ (29.–31. Mai 1917) ist sein heftiger Disput mit dem konservativen Publizisten Max Maurenbrecher überliefert. Zur Herbsttagung über das „Führerproblem im Staate und in der Kultur“ (29. September – 3. Oktober) hielt er den Eröffnungsvortrag Die Persönlichkeit und die Lebensordnungen.Zum Sommersemester 1918 nahm Weber seine Lehrtätigkeit mit der probeweisen Annahme eines Rufes der Wiener Universität auf den Lehrstuhl für Politische Ökonomie wieder auf – „zur Erprobung meiner wiedererlangten Gesundheit“, wie er dem zuständigen Kultusministerium mitteilte. Schon Mitte des Semesters gab er zu erkennen, dass er seine Wiener Lehrtätigkeit auf drei Monate beschränken wollte. Seine Vorlesung trug den Titel Positive Kritik der materialistischen Geschichtsauffassung. Während dieser Zeit hielt er auf Einladung der Feindespropaganda-Abwehrstelle im Rahmen eines „vaterländischen Bildungsprogramms“ im Juni des letzten Kriegsjahres vor k.u.k.-Offizieren einen Vortrag über den Sozialismus. Im Mai 1918 erschien Parlament und Regierung im neugeordneten Deutschland, eine politische „Streitschrift akademischen Charakters und Tonfalls“ als zeitdiagnostische Anwendung seiner politischen Soziologie. === Nach Kriegsende === Nach Kriegsende gehörte Weber zum Gründungskreis der links-liberalen Deutschen Demokratischen Partei (DDP), für die er zur Verfassunggebenden Nationalversammlung kandidieren wollte. Im Dezember 1918 war er sachverständiger Berater bei den Verfassungsberatungen im Reichsamt des Innern unter Leitung von Hugo Preuß und im Mai 1919 bei den Friedensverhandlungen von Versailles unter Leitung von Graf Brockdorff-Rantzau. Zum 1. April 1919 wurde er als Nachfolger auf den Münchner Lehrstuhl von Lujo Brentano für die Professur für Gesellschaftswissenschaft, Wirtschaftsgeschichte und Nationalökonomie berufen. Seine Lehrtätigkeit nahm er im Sommersemester wegen der politischen Verpflichtungen erst verspätet auf. Im Wintersemester 1919/1920 hielt er die Vorlesung Abriß der universalen Sozial- und Wirtschaftsgeschichte. Es sollte sein letztes Kolleg sein, das abzuschließen ihm vergönnt war. Im Juli 1919 wurde er zum ordentlichen Mitglied der Historischen Klasse der Bayerischen Akademie der Wissenschaften gewählt. Webers Münchner Vorlesungen wurden als „universitäres Ereignis“ gehandelt; sogar Kollegen, unter ihnen Lujo Brentano und Carl Schmitt, nahmen daran teil.Im Juli 1919 wurde Max Weber als Zeuge in den Prozessen gegen den Schriftsteller Ernst Toller und den Nationalökonomen Otto Neurath vernommen, die er beide von den Lauensteiner Kulturtagungen her kannte, und die führend an der Münchner Räterepublik beteiligt gewesen waren. Toller hatte schon in Heidelberg als Student bei Weber gehört. Webers positive Aussagen zur ethischen Grundhaltung der beiden Angeklagten trugen zu ihrer gemäßigten Verurteilung bei. Er attestierte Toller die „absolute Lauterkeit eines radikalen Gesinnungsethikers“.Auf die nach Kriegsende weiter fortschreitende Radikalisierung der deutschen Rechten, die die Niederlage nicht akzeptieren wollte, reagierte Max Weber mit zunehmendem Befremden. Dabei wirkte sich auch der Umstand aus, dass nationalistische Studentengruppen seine Vorlesung störten. Grund war Webers Haltung im Fall des Anton Graf von Arco auf Valley, des Mörders von Kurt Eisner, dem bayerischen Ministerpräsidenten. Weber verteidigte zwar die „tapfere“ Tat des Grafen, meinte aber, „man hätte ihn erschießen sollen“, damit er und nicht Eisner als Märtyrer in der Erinnerung fortleben würde. Weber verabscheute, Joachim Radkau zufolge, die „Literaten“ an der Spitze der Münchner Räteregierung „aus ganzem Herzen“. === Erkrankung und Tod === Noch Ende Mai 1920 arbeitete Weber intensiv an den Korrekturen zu den Gesammelten Aufsätzen zur Religionssoziologie. Nachdem er schon längere Zeit mit gesundheitlichen Problemen zu kämpfen hatte, erkrankte er Anfang Juni an einer Lungenentzündung, möglicherweise ausgelöst durch die Spanische Grippe, und musste die gerade begonnenen Vorlesungen über Staatssoziologie und Sozialismus absagen. Er starb an deren Folgen am 14. Juni 1920 in München-Schwabing, Seestraße 3c (heute 16). Die Trauerfeier, bei der Marianne Weber eine Trauerrede hielt, fand auf dem Münchner Ostfriedhof statt, die spätere Urnenbeisetzung auf dem Heidelberger Bergfriedhof unter Teilnahme von etwa tausend Menschen. Die Grabstätte von Weber und seiner Frau befindet sich in der Abteilung E. Zum Tod von Weber wurden in verschiedenen Organen eine große Anzahl an geradezu hymnischen Nachrufen veröffentlicht, die der eindrucksvollen Persönlichkeit, dem patriotischen Deutschen und dem großen Intellektuellen nachtrauerten.Sein Bruder Alfred, der mit dem älteren Bruder lebenslang gerungen hatte, überlebte ihn um 38 Jahre; wie er war er ein überzeugter Liberaler und Vertreter der Kultursoziologie, doch ihrer beider wissenschaftlichen Wege konnten kaum unterschiedlicher sein – der eine (Max) methodisch streng an einem asketischen und aufklärerischen Rationalismus orientiert, der andere (Alfred) für eine vitalistisch fundierte Kultursoziologie mit dem Verlangen nach Ganzheit und erschauter Synthese streitend. Schon in ihrer Jugendzeit hatte Weber 1887 seinem jüngeren Bruder einen Hang zur „künstlerischen und poetischen“ Verklärung seiner Doktrinen bescheinigt, während er aus den gleichen Philosophemen mit „schauderhafter Nüchternheit“ seine Konsequenzen bezog. == Politiker == Weber hatte nie ein politisches Amt inne. Gleichwohl engagierte er sich in politischen Organisationen wie dem Alldeutschen Verband und in den von Friedrich Naumann gegründeten liberalen Parteien (Nationalsozialer Verein, Deutsche Demokratische Partei). Mit seinen politischen Essays und Reden suchte Weber die politisch Verantwortlichen wie die öffentliche Meinung im späten Kaiserreich, im Ersten Weltkrieg und in der revolutionären Gründungsphase der Weimarer Republik zu beeinflussen. In einem Brief an Mina Tobler gestand er, dass Politik seine „Heimliche Liebe“ sei. In dieser Hinsicht befand der jüngere Philosoph und ehemals an Webers Heidelberger Gesprächskreis beteiligte Karl Jaspers: „Sein Denken war die Wirklichkeit eines in jeder Faser politischen Menschen, war ein dem geschichtlichen Augenblick dienender politischer Wirkungswille“.Mit Wahlkampfreden, journalistischen Aufsätzen in der Tagespresse (unter anderem der Frankfurter Zeitung) und Vorträgen auf sozialpolitischen und evangelischen Kongressen nahm Weber als selbstbewusstes Mitglied der bürgerlichen Klasse Stellung zu wichtigen politischen Streitfragen seiner Epoche. Wolfgang Mommsen hat in seinem Buch Max Weber und die deutsche Politik 1890–1920 dessen Wirken, Reden und Schriften als Politiker ausführlich nachverfolgt, aufgezeichnet und kritisch kommentiert. Bezugnehmend auf die Freiburger Antrittsrede 1895 folgert Mommsen, dass der „nationale Machtstaat“ Webers politisches Ideal gewesen sei. Die Rede diente als Initialzündung für das Entstehen eines liberalen Imperialismus im wilhelminischen Deutschland, und erst die liberalen Imperialisten machten in Deutschland den Imperialismus „gesellschaftsfähig“. Als „entschiedener Anhänger imperialistischer Ideale“ verteidigte er die expansive Flottenpolitik und befürwortete eine überseeische Kolonialpolitik.Die Ethik der Bergpredigt hielt er nicht nur für unvereinbar mit politischem Handeln, sondern auch für eine „Ethik der Würdelosigkeit“. Vereint mit Nietzsche in der Ablehnung der christlichen Ethik, stellt er dieser „das Evangelium des Kampfes […] als einer Pflicht der Nation […], des einzigen Weges zur Größe“, entgegen. In seiner Rede Politik als Beruf postulierte er: „[...] man hat zu wählen zwischen der religiösen Würde, die diese Ethik bringt, und der Manneswürde, die etwas ganz anderes predigt: ‚Widerstehe dem Uebel, – sonst bist du für seine Uebergewalt mitverantwortlich‘.“ Dass eine Nation „vor allem Macht“ wollen müsse, empfand Weber als eine geschichtliche Notwendigkeit. Insbesondere vom deutschen Bürgertum, das beim Übergang von der feudalen Agrargesellschaft zur kapitalistischen Industriegesellschaft ins Zentrum des gesellschaftlichen Lebens gedrängt worden sei, sah er „die Zukunft Deutschlands als eines machtvollen Staates“ abhängig. === Im Kaiserreich und während des Ersten Weltkrieges === Während des Kaiserreichs war Weber 1893 dem nationalistischen Alldeutschen Verband beigetreten, dem er bis 1899 angehörte. Er sympathisierte mit dessen Bestreben, eine „aktive imperialistische Weltpolitik“ zu propagieren. In mehreren Ortsgruppen des Verbands hielt er Vorträge über die „Polenfrage“. Mit Vorbehalten trat er 1896 in den von Friedrich Naumann gegründeten Nationalsozialen Verein ein, eine politische Partei, die nationalistische, sozialreformerische und liberale Ziele verfolgte; 1903 fusionierte der Verein mit der Freisinnigen Vereinigung. Weber unterstützte Naumann, wo immer er konnte. Von dem Verein forderte er eine „konsequent bürgerliche Politik, den industriellen Fortschritt und den nationalen Machtstaat bejahende Ausrichtung“. Scharf ging er mit der „feudalen Reaktion“ ins Gericht („Ich gelte als ‚Feind der Junker‘“, bekannte er in einem Brief an den Vorsitzenden des Alldeutschen Verbands). Mit Naumann schwebte ihm – nach englischem Vorbild – ein politisches Bündnis des Bürgertums mit den aufsteigenden Schichten der Arbeiterklasse vor. Äußerst kritisch betrachtete er Otto von Bismarcks Rolle in der deutschen Innen- und Außenpolitik. Als „entschiedener Anhänger imperialistischer Ideale“ erstrebte Weber weltpolitische Gleichberechtigung und ein angemessenes Kolonialreich. Bismarck habe die Möglichkeiten einer überseeischen Kolonialpolitik weitgehend übergangen und Deutschland in die fatale Lage gebracht, „die letzte in der Schlange der nach Kolonien strebenden Weltmächte zu sein“. In der 1918 erschienenen Schrift Parlament und Regierung im neugeordneten Deutschland rechnet er rigoros mit Bismarcks Erbe ab. Seine „cäsarische Herrschaft“ habe das Aufkommen politischer Führernaturen im Keim erstickt. Er habe die „politische Nichtigkeit des Parlaments und der Parteipolitiker […] gewollt und absichtsvoll herbeigeführt“. Sein Abgang habe ein Machtvakuum hinterlassen, das durch einen „theatralischen Kaiser“ und die preußische Beamtenschaft gefüllt wurde. Am Beispiel des britischen Premierministers William Ewart Gladstone wünschte er sich für die deutsche Politik ebenfalls eine „Führerdemokratie mit Maschine“ herbei, das heißt mit jener „lebenden Maschine, welche die bürokratische Organisation mit ihrer Spezialisierung der geschulten Facharbeit, ihrer Abgrenzung der Kompetenzen, ihren Reglements und hierarchisch abgestuften Gehorsamsverhältnissen darstellt“.Während des Krieges stand Webers publizistische Tätigkeit unter dem „selbstgewählten Primat des deutschen nationalen Interesses“; so war er zwar anfänglich keineswegs prinzipiell gegen Annexionen, jedoch gegen die maßlosen Kriegszielprogramme der Rechten. In einer in der Frankfurter Zeitung im Sommer 1916 veröffentlichten Zuschrift wandte er sich gegen die „Quertreibereien einer kleinen Klique“ gegen den gemäßigten Reichskanzler Theobald von Bethmann Hollweg mit den Worten: „[...] dass dieser Krieg nicht um abenteuerlicher Ziele willen geführt wird, sondern nur, weil und nur solange er für unsere Existenz notwendig ist“. === Während der Novemberrevolution und in der Weimarer Republik === Für Wolfgang Mommsen zählten die Jahre 1918 bis 1920 zu Webers „intensivsten unmittelbaren Engagement in der Tagespolitik“; doch zu einer von ihm „sehnlich erhofften amtlichen Verwendung“ bei der politischen Neuordnung Deutschlands ist es nicht gekommen.Mommsen zufolge hatte Weber die Revolution kommen sehen und war darauf vorbereitet, dennoch erbitterte ihn der Ausbruch und er nahm trotz der Einsicht in die Zwangsläufigkeit des Geschehens „gesinnungspolitisch in maßlos scharfer Form dagegen Stellung“. So polemisierte er im Januar 1919 in einer Rede in Karlsruhe wie folgt: „Liebknecht gehört ins Irrenhaus und Rosa Luxemburg in den Zoologischen Garten“. Die wenige Tage später erfolgte Ermordung Liebknechts und Luxemburgs missbilligte er nach Marianne Webers Zeugnis mit den Worten: „Die Diktatur der Straße hat ein Ende gefunden, wie ich es nicht gewünscht habe. Liebknecht war zweifellos ein ehrlicher Mann. Er hat die Straße zum Kampf aufgerufen – die Straße hat ihn erschlagen“. Dass er andererseits „den zahlreichen, ökonomisch geschulten Mitgliedern der Sozialdemokratie, ohne Unterschied ob Mehrheits- oder unabhängige Sozialisten, bis zur Ununterscheidbarkeit“ nahestand, hatte er in einem Vortrag im Dezember 1918 öffentlich bekundet. Seine diversen Stellungnahmen zum Sozialismus blieben von einer Ambivalenz gekennzeichnet: Einerseits erwartete (und befürchtete) er von ihm die Fortführung, wenn nicht Beschleunigung der seine Zeit beherrschenden Tendenzen zur Spezialisierung und Bürokratisierung des politischen und wirtschaftlichen Betriebs, andererseits erhoffte er von den Sozialisten, dass sie diese Entwicklung umkehrten.Als Mitglied des Preußischen Verfassungsausschusses, der vom 9. bis 12. Dezember 1918 in Berlin tagte, wirkte er am Entwurf der künftigen Weimarer Verfassung mit. Er wurde zur Teilnahme an der Versailler Friedensdelegation als Sachverständiger für die Kriegsschuldfrage eingeladen. Öffentliche Schuldbekenntnisse hielt er für „schlechthin würdelos und politisch verhängnisvoll“. Einen Tag vor Beginn der Friedenskonferenz veröffentlichte die Frankfurter Zeitung am 17. Januar 1919 von ihm den Artikel Zum Thema der „Kriegsschuld“, in dem er dem zaristischen Russland die Hauptschuld am Ersten Weltkrieg zuwies. An seine Frau schrieb er aus Versailles: „Jedenfalls mache ich bei der Schuld-Note nicht mit, wenn da Würdelosigkeiten beabsichtigt oder zugelassen werden“. Seiner Schwester Klara Mommsen schrieb er „Der Politiker muss Kompromisse machen […] – der Gelehrte darf sie nicht decken“.Der 1918 von Friedrich Naumann mitgegründeten linksliberalen Deutschen Demokratischen Partei (DDP) trat Weber auf Drängen von Naumann und Alfred Weber bei und hielt für sie in großem Umfang Wahlkampfreden. Weber trat in nicht weniger als elf Wahlveranstaltungen als Hauptredner auf. Dabei trat er für eine politische Zusammenarbeit mit der Sozialdemokratie ein. Zeitweilig gehörte er dem Vorstand der DDP an. Von ihrer Frankfurter Untergliederung wurde er als Kandidat für die Nationalversammlung vorgeschlagen; der Vorschlag scheiterte indessen an parteiinternen Widerständen. Als die Partei ihn als Vertreter in die damals gebildete Sozialisierungskommission entsenden wollte, lehnte er, als Gegner der Sozialisierungspläne, das Angebot ab. Mit der Übernahme des Lehrstuhls von Lujo Brentano in München beendete er seine parteipolitische Tätigkeit. == Frauen == In ihrer biographischen Einleitung zum Max Weber-Handbuch skizzieren die Herausgeber Hans-Peter Müller und Steffen Sigmund vier Frauen, die für Webers Entwicklung maßgeblich waren: 1. seine Mutter, die er „als Heilige verehrt und geliebt“ habe, 2. seine Frau Marianne, mit der er eine „lebenslange unverbrüchliche Beziehung auf der Basis einer Gefährtenschaft einging“, 3. die Schweizer Pianistin Mina Tobler, zu der er sich erotisch sinnlich hingezogen fühlte, 4. Else Richthofen-Jaffé, mit der er 1917 ein leidenschaftliches Verhältnis begann, das in der berühmten Zwischenbemerkung zu den Gesammelten Aufsätzen zur Religionssoziologie in Form einer geradezu hymnischen Eloge auf die körperliche Liebe ihren Niederschlag fand. Den drei Letztgenannten widmete er jeweils einen der drei Bände zur Religionssoziologie. Die Publikation Wirtschaft und Gesellschaft sollte nach seinem Willen die Widmung tragen: „Dem Andenken meiner Mutter Helene Weber, geb. Fallenstein 1844–1919“. == Werk == Nach eigenem Bekunden stand Webers wissenschaftliche Arbeit unter den Herausforderungen, die von den Schriften von Karl Marx und Friedrich Nietzsche ausgingen: Bedeutsam für Weber war, wie von Marianne Weber zu erfahren ist, dass beide Denker, obwohl Gegenpole, in einem doch darin übereinstimmten: in dem Bestreben, die aus dem vielfältigen und widerspruchsvollen Gemisch „christlicher Kultur“ stammenden Wertungen aufzulösen.Die Einflüsse von Nietzsche und Marx auf das Werk Webers sind zwar schwer fassbar, weil Weber selten Quellenhinweise zu ihnen gab, aber dennoch erheblich. Der Philosoph Wilhelm Hennis befand, dass „Nietzsches Genius im Werk Max Webers“ (so der Titel seines Aufsatzes) essentielle Spuren hinterlassen habe. Als elementare Berührungspunkte identifizierte er zum einen Webers Akzeptanz von Nietzsches Nihilismus-Diagnose („Gott ist tot“), aus der er die radikalsten wissenschaftlichen Konsequenzen gezogen habe, und zum anderen dessen Übernahme von Nietzsches Stilisierung des Christentums auf die Liebes- und Brüderlichkeitsreligion der Bergpredigt, die er im Widerspruch zu seinem Verständnis vom Leben als Kampf und als Wille zur Macht verstand. – Mit Marx teilte Weber als gemeinsames Forschungsgebiet „die ‚kapitalistische‘ Verfassung der modernen Wirtschaft und Gesellschaft“ und verarbeitete dabei, wie er, „ungeheure wissenschaftliche Stoffmassen“. Den Unterschied in der Interpretation des Kapitalismus sieht Karl Löwith darin, dass Weber ihn unter dem Gesichtspunkt einer universellen und unentrinnbaren Rationalisierung analysierte, Marx dagegen unter dem Gesichtspunkt einer universellen, aber umwälzbaren Selbstentfremdung. Nach Marianne Webers Aussage zollte Weber „Karl Marx' genialen Konstruktionen hohe Bewunderung“. So erklärte er Marx zum „weitaus wichtigsten Fall idealtypischer Konstruktionen“, seine „‚Gesetze‘ und Entwicklungskonstruktionen“ seien von einzigartiger heuristischer Bedeutung. In einem Vortrag über den Sozialismus vor k.u.k.-Offizieren im letzten Kriegsjahr 1918 nannte er das Kommunistische Manifest eine „wissenschaftliche Leistung ersten Ranges“, ein „prophetisches Dokument“, das „für die Wissenschaft sehr befruchtende Folgen gebracht hat“. Er übernahm von ihm (wie von anderen Autoren, deren Werke ihn beeindruckten) bestimmte Teile und Begriffe, die er für seine Zwecke bearbeitete, wie zum Beispiel den Begriff der Klasse. In anderer Hinsicht wird Weber als Antipode zu Marx wahrgenommen. Er kritisierte die materialistische Geschichtsauffassung aufs entschiedenste, da er grundsätzlich „jede Art von eindeutiger Deduktion“ an Stelle konkreter historischer Analyse ablehnte. === Universales Gesamtwerk === Max Weber ist der jüngste der drei Gründerväter der deutschen Soziologie (neben Tönnies und Simmel). Er wird als Begründer der Herrschaftssoziologie und neben Émile Durkheim als Begründer der Religionssoziologie betrachtet. Neben Karl Marx zählt er zu den bedeutenden Klassikern der Wirtschaftssoziologie. Für zahlreiche andere Teilgebiete der Soziologie, etwa die Rechts-, Organisations- und Musiksoziologie gab Weber ebenfalls wesentliche Anregungen. Obwohl er als habilitierter Jurist später in Forschung und Lehre zur Nationalökonomie und schließlich zur Verstehenden Soziologie als Kulturwissenschaft mit universalgeschichtlichem Anspruch wechselte, blieb sein Werk von der Jurisprudenz, insbesondere der Staatsrechtslehre stark geprägt. Neben seinen materialen historischen Analysen trug er Wesentliches zur Methodologie und Theorie einer modernen Geschichtswissenschaft bei. In seinem Vortrag Wissenschaft als Beruf nennt er als die ihm „nächstliegenden Disziplinen“: Soziologie, Geschichte, Nationalökonomie und Staatslehre und jene Arten von Kulturphilosophie, welche sich ihre Deutung zur Aufgabe machen. Für Wolfgang Schluchter besitzt das Werk Max Webers fragmentarischen Charakter, dennoch seien seine Texte aus der Einheit eines Leitmotivs entwickelt worden: der Besonderheit des okzidentalen Rationalismus mit der Konsequenz der „Entzauberung der Welt“ durch Berechenbarkeit. Thomas Schwinn verweist auf ein „dreigliedriges Forschungsprogramm“ Webers: Methodologie, Theorie, historisch-materiale Analyse.Zu seinen bekanntesten und den weltweit verbreitetsten Werken der Soziologie zählt die 1904 und 1905 unter dem Titel Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus veröffentlichte Abhandlung sowie sein Monumentalwerk Wirtschaft und Gesellschaft. Die Abhandlung über die „protestantische Ethik“ ist in die Gesammelten Aufsätze zur Religionssoziologie eingegangen, die 1920/21 in drei Bänden erschienen. Wirtschaft und Gesellschaft wurde erst 1921/22 nach seinem Tod von seiner Frau als 3. Abteilung des Grundrisses der Sozialökonomik veröffentlicht und enthält eine umfassende Darstellung seines Begriffs- und Denkhorizontes. In der Fachliteratur finden sich unterschiedliche Gliederungsvorschläge für das vielseitige und umfangreiche Gesamtwerk. Raymond Aron gruppiert es nach vier Kategorien: Wissenschaftslehre, Wirtschaftsgeschichte, Religionssoziologie und Wirtschaft und Gesellschaft. Dirk Kaesler trennt die Darstellung der materialen Analysen von der „Methode“ (d. i. im engeren Sinn die Wissenschaftslehre). Keinen rechten Platz finden in dieser Gliederung zum einen seine beiden berühmten Vorträge (Wissenschaft als Beruf und Politik als Beruf) und zum anderen seine Abhandlung zur Musiksoziologie. === Wissenschaftslehre === Über den Status der Weberschen Wissenschaftslehre herrscht unter Weber-Experten kein Konsens. Was für das gesamte Webersche Werk charakteristisch ist, Vielschichtigkeit und „schillernde Vielfalt“, gilt auch für diese. Während der Philosoph Dieter Henrich von einer „Einheit der Wissenschaftslehre“ ausgeht, erkennt der Herausgeber mehrerer Weberscher Schriften, Johannes Winckelmann, darin lediglich eine methodologische „Sonntagsreiterei“. Die Methodologie sei „sowenig Voraussetzung fruchtbarer Arbeit wie die Kenntnis der Anatomie Voraussetzung richtigen Gehens“, schrieb Weber in einer seiner methodologischen Arbeiten.Das Erscheinen eines von Weber seinem Verleger Paul Siebeck avisierten Sammelwerks seiner „methodologisch-logischen Aufsätze“ erlebte er nicht mehr. Erst 1922 brachte Marianne Weber einen diesem Gegenstandsbereich gewidmeten Band mit dem Titel Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre heraus. 1968 erschien eine von Johannes Winckelmann herausgegebene, textkritische und um einige Textteile erweiterte 3. Auflage, die bis zur Veröffentlichung der Bände I/7: Zur Logik und Methodik der Sozialwissenschaften und I/12: Verstehende Soziologie und Werturteilsfreiheit in der Max Weber-Gesamtausgabe als zentrales Referenzwerk für Webers wissenschaftstheoretische Schriften galt. ==== Kulturwissenschaften, Sozialökonomik ==== Die Verwendung von disziplinübergreifenden Begriffen wie „Kulturwissenschaft“ und „Sozialökonomik“ markieren Webers universales Erkenntnisinteresse. Mit dem Begriff „Kulturwissenschaften“ bezog er sich in gleicher Weise auf die Geschichts- wie auf die Sozialwissenschaften. Mit dem Begriff „Sozialökonomik“ bezeichnet er ein sozialwissenschaftliches Konzept, das Geschichte und Theorie, historische und theoretische Schule der Nationalökonomie mittels der „verstehenden Soziologie“ miteinander verknüpft. Der Begriff „Sozialökonomik“ wird heute auch als Sozialökonomie verwendet. ==== Methodischer Individualismus ==== Weber gilt als Begründer des methodischen Individualismus in den Sozialwissenschaften. Zwar hatte der Weber-Schüler Joseph Schumpeter den Begriff zuvor für die Nationalökonomie geprägt, aber theoretisch elaboriert wurde er von Weber, der ihn zum Grundprinzip der Soziologie erklärte. In seiner Arbeit Ueber einige Kategorien der verstehenden Soziologie formuliert er: „Begriffe wie ‚Staat‘, ‚Genossenschaft‘ ‚Feudalismus‘ und ähnliche bezeichnen für die Soziologie, allgemein gesagt, Kategorien für bestimmte Arten menschlichen Zusammenhandelns und es ist also ihre Aufgabe, sie auf ‚verständliches‘ Handeln, und das heißt ausnahmslos: auf Handeln der beteiligten Einzelmenschen, zu reduzieren.“ Darin unterscheide sich die Soziologie von der Jurisprudenz, die unter Umständen den Staat als „Rechtspersönlichkeit“ ebenso wie den Einzelmenschen behandle. ==== Begriffsbildung und Idealtypus ==== Webers Begriffsbildungen werden bis heute vornehmlich in Soziologie und Politikwissenschaft als Grundlage weiterer Forschungen genutzt, beispielsweise seine Definitionen von Macht und Herrschaft oder Charisma. Auch der Idealtypus gehört dazu. Bernhard Quensel hat akribisch nachverfolgt und aufgezeigt, wie Weber für die soziologische Begriffsbildung bewusst auf die Art und Weise juristischer Begrifflichkeit zurückgreift. Von der Jurisprudenz zur Rechtsgeschichte und zur Soziologie fortschreitend, sei er bei jener Begriffsbildung angelangt und übernahm, ausgehend von Carl Mengers Forderung nach Realtypen, den von Georg Jellinek in seiner allgemeinen Staatslehre als „empirischen Typus“ beschriebenen, den Jellinek in demselben Sinn wie nach ihm Weber verwandte. Idealtypus ist ein theoretisches Konstrukt, das bestimmte, für relevant gehaltene Aspekte der sozialen Realität bewusst überzeichnet und in einen Zusammenhang bringt. Er ist stets auf logisch-gedankliche Schlüssigkeit hin angelegt und wird über Beobachtung sozialer Phänomene und Abstraktion auf der Grundlage von allgemeinen Erfahrungsregeln gewonnen. Ziel der idealtypischen Konstruktion sind trennscharfe Begriffe, mit denen empirische Phänomene unter dem Gesichtspunkt ihrer Kulturbedeutung verstanden werden können. Weber spricht sich eindeutig gegen eine normative Betrachtung des Idealtypus aus, die Inbezugsetzung von Wirklichkeit und Idealtypus mit dem Ziel des Vergleichs dürfe nicht mit deren Bewertung verwechselt werden. Nach Dirk Kaesler ist der Idealtypus ein „heuristisches Mittel“ zur Anleitung empirischer Forschung, eine Konstruktion, die der „Systematisierung empirisch-historischer Wirklichkeit“ dient; er ist „keine Hypothese“, sondern will der Hypothesenbildung die Richtung weisen. ==== Postulat der Werturteilsfreiheit ==== In der Geschichte der Soziologie nimmt der „Werturteilsstreit“ vor dem Ersten Weltkrieg und namentlich zwischen Max Weber und Gustav Schmoller einen prominenten Platz ein, obwohl es sich dabei nicht allein um die Problematik einer bestimmten Disziplin, Soziologie oder Ökonomie, handelt, sondern um Fragen der „Grundbestimmung jedes wissenschaftlichen Erkennens“. Ausschlaggebende Bezugspunkte dieser Kontroverse waren nach Dirk Kaesler Webers Aufsätze Die Objektivität sozialwissenschaftlicher und sozialpolitischer Erkenntnis (1904) und Der Sinn der ‚Wertfreiheit‘ der soziologischen und ökonomischen Wissenschaften (1917) sowie seine Rede Wissenschaft als Beruf. Webers Postulat der Wert(urteils)freiheit ist nach Meinung vieler Autoren nur ein „methodisches Prinzip“, das auf Grundlage der Unterscheidung zwischen Seinsaussagen und Sollensaussagen (deskriptiven und normativen Aussagen) beruht. Die von Weber geforderte Werturteilsfreiheit ist jedoch nicht durch eine ausgearbeitete Theorie der Werte begründet. In seinem Werk selbst findet sich ein bunter Strauß von Wertbegriffen. Seine scharfe Kritik an Werturteilen in der Wissenschaft ist letztlich nicht nur methodologisch begründet, sondern hat einen normativen Fluchtpunkt: Wissenschaft solle „urteilskräftige Persönlichkeiten mit einer methodisch-rationalen Lebensführung begünstigen [...] Diese Auffassung, an der er zeit seines Lebens unbeirrt festhalten sollte, vermag sein Verständnis von Werten, Werturteilen, Wertfreiheit und Wertdiskussion zu erhellen.“ === Sozial- und Wirtschaftsgeschichte === Im Wintersemester 1919/20 hielt Weber an der Universität München die Vorlesung Abriß der universalen Sozial- und Wirtschaftsgeschichte, die nur in Mit- und Nachschriften überliefert ist. Weber versteht die Wirtschaftsgeschichte als einen „Unterbau [...], ohne deren Kenntnis allerdings die fruchtbare Erforschung irgendeines der großen Gebiete der Kultur nicht denkbar ist“. Sie enthält nach Stefan Breuer eine verdichtete Summe von Webers Studien über das Altertum, die Wirtschaftsethik der Weltreligionen, die Entwicklung der Stadt sowie über die Herrschafts- und Rechtssoziologie und über den modernen Kapitalismus. ==== Agrarverfassung ==== Intensiv befasste sich Weber mit den „Agrarverhältnissen“ und der „Agrarverfassung“ in der Antike und im Mittelalter. Bereits seine frühen Aufsätze – Die römische Agrargeschichte in ihrer Bedeutung für das Staats- und Privatrecht (1891) und Agrarverhältnisse im Altertum (1897, 3. Auflage 1909) – greifen diese Thematik auf. Den inhaltlichen Teil seiner Wirtschaftsgeschichte eröffnet er mit einem umfangreichen Kapitel über Haushalt, Sippe, Dorf und Grundherrschaft (Agrarverfassung). Webers wissenschaftliche Beschäftigung mit der Antike ist seit seinen frühesten Arbeiten für die meisten seiner Schaffensjahre von besonderer Bedeutung. ==== Okzidentaler Rationalismus ==== Webers zentrales Thema waren die Gründe und Erscheinungen des sich in der westlichen Welt als kulturelle Basis von Wirtschaft und Gesellschaft spätestens mit dem ausgehenden Mittelalter etablierenden „okzidentalen Rationalismus“. Man kann Webers ersten soziologischen Aufsatz, Die sozialen Gründe des Untergangs der antiken Kultur von 1896, als Grundlegung für seine späteren Arbeiten ansehen. Die besondere Entwicklung des Okzidents zeigt sich in einer großen Zahl von gesellschaftlichen Bereichen. Er nennt die Entwicklung der okzidentalen Stadt, das rationale Recht, die rationale Betriebsgestaltung und Verwaltungsorganisation („Bürokratie“), nicht zuletzt auch die „methodische“ Gestaltung des Alltags der Gesellschaftsmitglieder („Lebensführung“). Weber spricht von „Wertsphären“, die jeweils einer Eigendynamik von Rationalitätsstandards und Werten folgen. ==== Rationaler Kapitalismus ==== Die im 19. Jahrhundert unter den Wirtschafts- und Althistorikern rege geführte Diskussion um den historischen Kapitalismus führte Weber zur Spezifizierung seines Kapitalismusbegriffs. Gegen Marx, der die Sklavenwirtschaft der Antike als wesentlichstes Unterscheidungsmerkmal zur feudal-kapitalistischen Moderne identifizierte, behaupteten Theodor Mommsen und Eduard Meyer eine Kontinuität von der Antike bis in die Moderne; immer habe es sich um Kapitalismus, das heißt Geldwirtschaft und Wettbewerb im Markt, gehandelt, Weber hingegen folgerte, dass die antike Wirtschaft in die politischen Institutionen eingebunden gewesen sei, während in der Neuzeit die politischen Institutionen von der Wirtschaft bestimmt würden. Die Wirtschaft habe sich in der Moderne erst aus der Politik heraus verselbständigt und sei autonom geworden. Sämtliche charakteristischen Institute des modernen Kapitalismus (Rentenbriefe, Schuldverschreibungen, Aktien, Wechsel, Hypotheken, Pfandbriefe) stammen nicht aus dem römischen Recht. England als Stammland des Kapitalismus hat das römische Recht niemals rezipiert.Dem Soziologen Johannes Berger zufolge habe wahrscheinlich keine „Kulturerscheinung“ Weber mehr fasziniert als der moderne Kapitalismus; er war sein „Lebensthema“. In der Vormerkung zu den Gesammelten Aufsätzen zur Religionssoziologie charakterisiert Weber den Kapitalismus „als schicksalsvollste Macht unseres modernen Lebens“. Am gleichen Ort beschreibt er den „spezifisch modernen okzidentalen Kapitalismus“ auch als „bürgerlichen Betriebskapitalismus“. Wie Berger vermerkt, finden sich an mehreren Stellen des Weberschen Werkes variierende Merkmals-Aufzählungen, aber im Zentrum stehe immer die „moderne kapitalistische Unternehmung“, die „rationale Organisation formell freier Arbeit“. Demnach sind es zwei Bestimmungen, die in der Definition der kapitalistischen Unternehmung zusammenfließen: (1) „Arbeit kraft formal beiderseits freiwilligen Kontraktes“ (Wirtschaft und Gesellschaft § 19), (2) Rationale Organisation vertraglicher Arbeit. Die Arbeit in einer kapitalistischen Unternehmung ist nur formell, aber nicht materiell frei, da die Ausführung der Arbeit dem Kommando des Kapitals untersteht. Wo Weber zwischen Unternehmung und Betrieb unterscheidet (nicht immer geschieht das trennscharf), versteht er den Betrieb „als eine technische Kategorie, die Unternehmung als eine in Kapitalrechnung gebundene“. „Erwerbsbetrieb“ verwendet er „für den Fall des Zusammenfallens der technischen Betriebseinheit mit der Unternehmungseinheit“ beziehungsweise wo „technische und ökonomische (Unternehmungs-)Einheit identisch sind“. ==== Gesellschaftlicher Wandel ==== Aus universalgeschichtlicher Perspektive erklärt Weber gesellschaftlichen Wandel, der gleichbedeutend ist mit geschichtlichem Wandel, nach einem „bi-polaren Modell“. Demnach beherrschen Interessen das Handeln der Menschen, aber Ideen, die sich zu Weltbildern kristallisieren, fungieren als „Weichensteller“ der Bahnen, in denen sich das Handeln bewegt. Weber unterscheidet dabei materielle und ideelle Interessen, korrespondierend mit seiner in Wirtschaft und Gesellschaft (Erstes Kapitel § 2) definierten Unterscheidung zwischen „zweckrationalem“ und „wertrationalem“ Handeln. === Reden: Wissenschaft als Beruf und Politik als Beruf === Im November 1917 hielt Weber auf Einladung des Freistudentischen Bundes im Rahmen einer Reihe „Geistige Arbeit als Beruf“ den Vortrag Wissenschaft als Beruf. Hier legte er in völlig freier Rede dar, was die „Wissenschaft“ für die „zunehmende Intellektualisierung und Rationalisierung“ der „okzidentalen Kultur“ gegenüber Religion, Ethik oder Politik zu einer eigenständigen „Wertsphäre“ machte. Neben den mit Leidenschaft gestellten Fragen mache systematische Arbeit und der auf dem Boden harter Arbeit vorbereitete Einfall die wissenschaftliche Tätigkeit aus. Zu ihr befähige nicht nur die notwendige „innere Berufung“, auch eine „strenge Spezialisierung“ werde dem (angehenden) Wissenschaftler abgefordert; in geradezu krasser Weise schilderte Weber das akademische Karrierewesen als ein „Glücksspiel“. Im Januar 1919 hielt er im selben Rahmen den Vortrag über Politik als Beruf mit der abschließenden, vielzitierten Wendung: „Die Politik bedeutet ein starkes langsames Bohren von harten Brettern mit Leidenschaft und Augenmaß zugleich“ und formulierte damit zwei der drei Grundanforderungen an den Politiker: Leidenschaft im Sinne von Sachlichkeit, Verantwortlichkeit im Interesse des Sachanliegens, „Augenmaß“ als notwendige persönliche Distanz zu Dingen und Menschen. In diesem Vortrag diskutierte Weber überdies das Verhältnis von Gesinnungsethik und Verantwortungsethik. Wolfgang Schluchter charakterisiert die beiden Reden als „Schlüsseltexte für seine Antworten auf zentrale Fragen der modernen Kultur“, gerichtet an die „akademische und demokratische Jugend“. Sie waren ihm zufolge Reden über „individuelle und politische Selbstbestimmung unter den Bedingungen der modernen Kultur“. === Soziologie (Wirtschaft und Gesellschaft) === Seit langem gilt Wirtschaft und Gesellschaft in der Zusammenstellung der Manuskripte durch Marianne Weber und Johannes Winckelmann als Webers soziologisches Hauptwerk. Die Herausgeber der Gesamtausgabe haben die ursprünglich in zwei Teile gegliederte Publikation wieder entflochten und den ersten aus vier Kapiteln bestehenden Teil als gesonderten Band (I/23) mit dem Titel Wirtschaft und Gesellschaft. Soziologie. Unvollendet 1919–1920 herausgegeben. Er enthält die Kapitel „I. Soziologische Grundbegriffe“, „II. Soziologische Grundkategorien des Wirtschaftens“, „III. Die Typen der Herrschaft“ und „IV. Stände und Klassen“. Diese Kapitel hat Weber noch kurz vor seinem Tod für den Grundriß der Sozialökonomik in Satz gegeben. Sie enthalten die Kernstruktur seiner Soziologie, wenngleich das vierte Kapitel unvollendet blieb. Die ursprünglich den zweiten Teil bildenden Kapitel bestanden aus Webers Vorkriegsmanuskripten, die Marianne Weber hinzugefügt hatte, wobei sie den ersten Teil als „abstrakte Soziologie“, den zweiten Teil als „konkrete Soziologie“ bezeichnete. Der zweite Teil wurde in der Gesamtausgabe in gesonderten (Teil-)Bänden herausgegeben. ==== Soziales Handeln als soziologische Grundkategorie ==== Weber beschreibt die Soziologie als „Wissenschaft, welche soziales Handeln deutend verstehen und dadurch in seinem Ablauf und seinen Wirkungen ursächlich erklären will“. Der Begriff des sozialen Handelns markiert in dieser Definition den zentralen (wenngleich nicht einzigen) Tatbestand, welcher für die Soziologie als Wissenschaft konstitutiv ist. Soziales Handeln wird von Weber dadurch definiert, dass es nach dem subjektiven Sinn der Handlung und faktisch, in dessen Ablauf, am Verhalten anderer orientiert ist. Er unterscheidet zudem vier Idealtypen sozialen Handelns, je nach Art der Gründe, die dafür geltend gemacht werden können: zweckrationales, wertrationales, affektuelles und traditionales Handeln. Für die beiden rationalen Handlungstypen gilt, dass die Gründe auch als Ursachen des Handelns aufgefasst werden können. Die Handlungstypen dienen schließlich der empirischen Forschung als kausale Hypothesen und als Kontrastfolien für die Beschreibung tatsächlichen Verhaltens. ==== Vergemeinschaftung und Vergesellschaftung ==== Die Kategorien Vergemeinschaftung und Vergesellschaftung sind, bei aller Differenz, von Ferdinand Tönnies’ erstmals 1897 erschienener Publikation Gemeinschaft und Gesellschaft beeinflusst, worauf Weber in Wirtschaft und Gesellschaft selbst hinweist. An anderer Stelle spricht er von „Tönnies' dauernd wichtigem Werk“.Während Tönnies die Begriffe für eine realgeschichtliche Stufenfolge von der mittelalterlichen „organischen Gemeinschaft“ zur modernen „mechanischen Gesellschaft“ verwendet, bezieht Weber die Kategorien hauptsächlich auf das soziale Handeln; so spricht er von „Gemeinschaftshandeln“ bzw. „Vergemeinschaftung“ und von „Gesellschaftshandeln“ bzw. „Vergesellschaftung“, doch ohne diese immer trennscharf auseinanderzuhalten. Deutlich zeigen dies seine Abhandlungen über Gemeinschaften, etwa wenn er formuliert: In der Marktgemeinschaft trete uns „als der Typus alles rationalen Gesellschaftshandelns die Vergesellschaftung durch Tausch auf dem Markt gegenüber“. Weber versteht Gemeinschaft als Synonym für gesellschaftliche Einheiten von Menschen unter jeweils unterschiedlichen Aspekten und differenziert zwischen verschiedenen „Gemeinschaftsarten nach Struktur, Inhalt und Mitteln des Gemeinschaftshandelns“: Hausgemeinschaften (Oikos), ethnischen Gemeinschaften, Marktgemeinschaften, politischen Gemeinschaften und religiösen Gemeinschaften. Intensiv erforscht hat er insbesondere die letzteren. Auf das „Fehlen eines Gesellschaftsbegriffs – im Singular wie im Plural“, hat Hartmann Tyrell hingewiesen; das soziale Ganze sei in der Weberschen Soziologie kein Thema. ==== Herrschaftssoziologie ==== In Webers letztes Lebensjahrzehnt fällt die Ausarbeitung seiner Herrschaftssoziologie. Er unterscheidet zwischen Macht und Herrschaft. Macht definiert er als „Chance, innerhalb einer sozialen Beziehung den eigenen Willen auch gegen Widerstreben durchzusetzen, gleichviel worauf diese Chance beruht“, und Herrschaft als „die Chance, für einen Befehl bestimmten Inhalts bei angebbaren Personen Gehorsam zu finden“.Webers Herrschaftssoziologie wurde vornehmlich für das Konstruktionsprinzip des Geltungsgrundes, das heißt das Bestehen einer legitimen Ordnung berühmt. Mit seiner Herrschaftstypologie differenziert er zwischen drei reinen (Ideal-)Typen: traditionale, charismatische und legale Herrschaft. Sie unterscheiden sich nach zwei Kriterien: 1. Legitimitätsgrundlage und 2. Art des Verwaltungsstabes. Die legale Herrschaft beruht auf dem Glauben an die Legalität gesatzter Ordnungen; den Verwaltungsstab bildet die Bürokratie mit ihren Beamten. Die traditionale Herrschaft beruht auf dem Glauben an die Heiligkeit jeher geltender Traditionen; ihr Verwaltungsstab besteht aus der Dienerschaft. Die charismatische Herrschaft basiert auf der „außeralltäglichen Hingabe an die Heiligkeit oder die Heldenkraft oder die Verbindlichkeit einer Person und der durch sie offenbarten oder geschaffenen Ordnungen“; als ihr Verwaltungsstab ist die Gefolgschaft anzusehen.Staatssoziologische Überlegungen Webers werden zumeist als Teil der Herrschaftssoziologie abgehandelt. Den Staat sieht er als eine neuzeitliche Form politischer Herrschaft. Den soziologischen Handlungsbegriff Staat unterscheidet er vom Rechtsbegriff Staat. Die Juristen verstünden ihn als handelnde Kollektivpersönlichkeit, er als Soziologe verstehe darunter „einen bestimmt gearteten Ablauf tatsächlichen, oder als möglich konstruierten sozialen Handelns Einzelner“. Schulbildend für die Politikwissenschaft wurde Webers Zentrierung des Gewaltmonopols auf den Staat. In Wirtschaft und Gesellschaft definiert er: „Staat soll ein politischer Anstaltsbetrieb heißen, wenn und insoweit sein Verwaltungsstab erfolgreich das Monopol legitimen physischen Zwanges für die Durchführung der Ordnungen in Anspruch nimmt.“ Konsequenzen hatte die Forderung für das Recht gleichwohl, denn mit der von Weber formulierten Zwangstheorie schuf er einen Rechtsbegriff. Mittels der – für industrielle Massengesellschaften entwickelten – Begrifflichkeit, ließen sich gewaltmonopolistischer Anspruch und dessen Vollzug durch Staatskräfte vereinen, soweit der Staat eine allgemein anerkannte Instanz in der Gesellschaft war. Als Keimzelle des Staates sieht er die Bürokratie, auf die der moderne Großstaat „technisch […] schlechthin angewiesen ist“.Die Bürokratie nimmt in Webers Werk einen zentralen Stellenwert ein. Sie spielt für ihn, nach einem Wort von Talcott Parsons, die gleiche Rolle wie der Klassenkampf für Karl Marx. Jede Herrschaft äußert sich als Verwaltungsapparat. Die bürokratische Verwaltung ist als das rationalste Herrschaftsmittel auch die charakteristische Verwaltungsform der legalen Herrschaft. In der Bürokratisierung erkennt er „das spezifische Mittel, ‚Gemeinschaftshandeln‘ in rational geordnetes ‚Gesellschaftshandeln‘ zu überführen.“ Sie birgt indessen die Gefahr der Verselbständigung: Die Herrschaft mittels eines bürokratischen Verwaltungsstabes kann in eine Herrschaft des Verwaltungsstabes umschlagen. Ihre technische Effizienz mache sie zum Moloch, der in der modernen Staatsanstalt wie im kapitalistischen Unternehmen einen Sog ihrer „Unentrinnbarkeit“ und „Unzerbrechlichkeit“ entstehen ließe, durch den sie sich letztlich – in der vielzitierten Formulierung – zum „stahlharten Gehäuse der Hörigkeit“ verselbständigt. ==== Soziologie der Ungleichheit (Klassen und Stände) ==== Als „Spielarten sozialer Ungleichheit“ erschließt Hans-Peter Müller das letzte und kürzeste (als unvollendet geltende) Kapitel Stände und Klassen im ersten Teil der ursprünglich zusammengestellten Fassung von Wirtschaft und Gesellschaft. In der sozialen Ungleichheitsforschung habe es nur zwei große Ansätze zur Klassentheorie gegeben: die von Marx und Weber. Trotz mancher Ähnlichkeiten mit dem Marxschen, verwendet Weber ein „pluralistisches Klassenkonzept“. Demnach unterscheidet er zwischen „Besitzklassen“ und „Erwerbsklassen“: nach der Art des zum Erwerb verwertbaren Besitzes einerseits, der auf dem Markt anzubietenden Leistungen andererseits. Er unterteilt die „positiv privilegierten“ Klassenangehörigen somit in „Rentier“ und „Unternehmer“. Zwischen ihnen und den „negativ privilegierten“ Klassen platziert er noch die „Mittelstandsklassen“ (beispielsweise selbständige Bauern und Handwerker), die eine „Pufferrolle“ einnehmen und dadurch die konfliktuelle Gesellschaftsdynamik (von der Revolution zur Reform) dämpft. Nicht nur vermeidet er damit die Marxsche „antagonistische Klassenzweiteilung“ von Kapitalisten und Proletariat, er stellt auch dessen Annahme in Frage, dass eine gemeinsame Klassenlage zu gemeinsamem Klassenhandeln führt. Klassen seien normalerweise keine Gemeinschaften, im Gegensatz zu Ständen, die sich nicht aus der Marktlage ergeben, sondern aus der „sozialen Schätzung“ und der spezifisch gearteten, geburts- oder berufsständischen „Lebensführung“. Klassen gehörten der Wirtschaftsordnung beziehungsweise der Sphäre der Produktion an, Stände der sozialen Ordnung und der Sphäre des Konsums. ==== Rechtssoziologie ==== Weber befasste sich durchgängig mit dem wechselvollen Verhältnis von Recht und Sozialordnung. Mit ihrer „überbordenden Materialfülle“ und ihrer „Mischung von Generalisierungen und historischen Konkretismen“ haben seine Rechtstexte bei namhaften Juristen (wie Jean Carbonnier und Anthony T. Kronman) große Irritationen hinterlassen.Weber unterscheidet zwischen der Rechtswissenschaft im normativen Sinn und der empirischen Rechtssoziologie. Eine „Soziologisierung der Jurisprudenz“ ist ihm zufolge wegen des „logischen Hiatus von Sein und Sollen“ zum Scheitern verurteilt. Die Herausgeber des Teilbandes Recht betonen in ihrem Nachwort, dass Weber „die hochselektive Sortierung des unendlichen Rechtsstoffes“ für die Fragestellung nach den rationalen Grundlagen des modernen Rechts im Okzident vornahm. Er spricht von theoretischen Rationalitätsstufen in der Entwicklung des Rechts: „von der charismatischen Rechtsoffenbarung durch Rechtspropheten zur empirischen Rechtsschöpfung und Rechtsfindung durch Rechtshonoratioren […] weiter zur Rechtsoktroyierung durch weltliches Imperium und theokratische Gewalten und endlich zur systematischen Rechtssatzung und zur fachmäßigen, auf Grund literarischer und formallogischer Schulung sich vollziehenden ‚Rechtspflege‘ durch Rechtsgebildete (Fachjuristen)“. Exemplarisch arbeitet er die relative Selbständigkeit der Rechtstechnik gegenüber den politischen Herrschaftsstrukturen durch den Vergleich des angelsächsischen mit dem kontinentalen Recht heraus. Er sieht Wahlverwandtschaften des Kapitalismus sowohl mit dem Common Law wie mit der kontinentalen Rechtskultur. Die dem Kapitalismus dienliche Berechenbarkeit des Rechts sei in England durch aus der Anwaltschaft rekrutierte Richter gewährt. Das auf praktische Bedürfnisse abgestellte „Fallrecht“ sei zudem anpassungsfähiger als ein „logischen Bedürfnissen unterworfenes systematisches Recht“.Für Weber besteht Recht aus zwangsgarantierten Normen, die von einem Durchsetzungsstab zur Geltung gebracht werden. Es ist nicht an den „politischen Verband“, den Staat, gebunden, sondern kann vor Erscheinen des Staats in zahlreichen „Rechtsgemeinschaften“ der „anstaltsmäßigen Vergesellschaftung“ (beispielsweise Stadtgemeinde, Kirche) auftreten. ==== Geschichte und Soziologie der Stadt ==== Über die 1921 im Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik postum veröffentlichte Abhandlung Die Stadt. Eine soziologische Untersuchung lässt sich nicht mit Gewissheit sagen, für welchen Kontext Weber sie vorgesehen hatte, wie der Herausgeber des entsprechenden Teilbandes der Gesamtausgabe anmerkt. In der von Johannes Winckelmann herausgegebenen Ausgabe von Wirtschaft und Gesellschaft wurde sie unter dem Titel Die nichtlegitime Herrschaft (Typologie der Städte) als Unterkapitel der Soziologie der Herrschaft (9. Kapitel, 7. Abschnitt) publiziert. Die Abhandlung besteht aus vier Teilen: I. Begriff und Kategorien der Stadt, II. Die Stadt des Okzidents, III. Die Geschlechterstadt im Mittelalter und in der Antike, IV. Die Plebejerstadt. Das Kapitel Das Bürgertum in Webers Wirtschaftgeschichte. Abriß der universalen Sozial- und Wirtschaftsgeschichte liest sich nach Hinnerk Bruhns wie eine gedrängte Zusammenfassung. Inhaltlicher Fokus ist die Entstehung des „modernen Erwerbsbürgertums“. Bei der Ubiquität des Phänomens Stadt zeigt der Vergleich mit Städten des Orients (Ägypten, Vorderasien, China, Japan, Indien), dass sich nur im Okzident ein sich selbst verwaltendes Bürgertum herausgebildet hat. Zum innerokzidentalen Vergleich zieht Weber italienische Städte sowie englische und solche jenseits der Alpen heran. Beim zeitlichen Vergleich zwischen Altertum und Mittelalter zeigt sich, dass erst im Mittelalter wesentliche Voraussetzungen für die Entstehung des modernen Kapitalismus geschaffen wurden. ==== Organisationssoziologie ==== Die meisten Lehrbücher zur Organisationssoziologie behandeln Max Weber als einen ihrer Gründungsväter. Dies verdankt sich nach Renate Mayntz Missverständnissen der US-amerikanischen Rezeption seines Idealtypus Bürokratie, Veronika Tacke nennt es ein „produktives Missverständnis“. Der Begriff Organisation im modernen Sinne, als Gebildetyp, findet sich im Weberschen Werk kaum; meist ist bei ihm von Organisation im Sinne von „Organisieren“ die Rede (beispielsweise „Organisation der Produktion und des Absatzes“). Der von ihm verwendete Begriff des Verbands kommt dem modernen Begriff der Organisation nahe, ohne mit ihm deckungsgleich zu sein. Bürokratie ist für Weber die formal rationalste Form der Herrschaftsausübung, weil sie in ihrer Stetigkeit, Präzision, Straffheit und Verlässlichkeit allen anderen Verwaltungsformen „rein technisch überlegen ist“. Die kritische Rezeption missverstand Webers idealtypische Methode als „eine Art normatives Konzept des Organisationsdesigns“ und verwies auf bürokratische Dysfunktionen und nichtrationale Abweichungen. ==== Arbeits- und industriesoziologische Studien ==== Neben Marx zählt Weber zu den frühen Verfassern arbeitssoziologischer Studien. Seine erste diesbezügliche Arbeit trägt den Titel Die Lage der Landarbeiter im ostelbischen Deutschland (1892). Sie erschien als Teil einer auf das gesamte Deutsche Reich ausgelegten Landarbeiter-Enquete des Vereins für Socialpolitik. Fachlich ausgewiesen hatte ihn für diese Aufgabe seine Habilitationsschrift über die Römische Agrargeschichte, mit der er sich die historischen Grundlagen für die Agrarverfassung erarbeitet hatte. Als säkulare Entwicklungstendenz konstatiert Weber die Auflösung der traditionell patriarchalischen Arbeitsverfassung in eine kapitalistische und damit eine „Proletarisierung der Landarbeiterschaft“. Die Beziehung zwischen Gutsherr und Arbeiter wandelte sich in der Tendenz von einem persönlichen Herrschaftsverhältnis, welches auf traditionaler Interessengemeinschaft beruhte, zu einem versachlichten Klassenverhältnis, das den Austausch auf Geldzahlungen reduziere. Die Untersuchung bildet eine weithin unterschätzte Grundlage für Webers späteres Werk, weil sie viele seiner Begriffe und Konzepte, wie Idealtypus, Herrschaftstypologie und kapitalistisches Unternehmertum, in ersten Ausformungen enthält.Die spätere Studie Zur Psychophysik der industriellen Arbeit (1908/09) verfasste Weber im Zusammenhang mit der vom Verein für Socialpolitik initiierten Erhebung über Auslese und Anpassung der Arbeiterschaft der Großindustrie, für die Weber auch um eine methodologische Einleitung gebeten worden war, die den an der Erhebung beteiligten Sozialforschern als Anleitung dienen sollte. Die Psychophysik enthält die Ergebnisse einer von Weber selbst durchgeführten empirischen Erhebung in einem familieneigenen Betrieb der westfälischen Textilindustrie. Zu einer seiner wichtigsten Untersuchungsvariablen gehörte die Produktivität des individuellen Arbeiters. Daher diskutierte und überprüfte er viele Faktoren, die die Arbeitsleistung beeinflussen konnten, unter ihnen: Lohnhöhe, Feuchtigkeit und Lärm in der Arbeitsumgebung, Alkoholkonsum, sexuelle Aktivität, regionale Herkunft, religiöse Konfession, gewerkschaftliche Mitgliedschaft, Leistungsrestriktion ("Bremsen"). Der Industriesoziologe Gert Schmidt wertet diese Schrift und die methodologische Einleitung als Dokumente von Webers Bedeutung als Vorläufer und Mitbegründer der Industrie- und Betriebssoziologie. Als ergänzende und teilweise erweiternde Studie zu Webers Kapitalismusverständnis findet er sie auch heute noch lesenswert. === Religionssoziologische Werke === Einen erheblichen Teil seiner wissenschaftlichen Arbeit widmete Weber den Religionen; Zeugnis davon legen die drei Bände Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie (1920–1921) ab, an denen er noch in seinem Todesjahr gearbeitet hat und zu denen er seine berühmte Vorbemerkung schrieb, eine „systematische Skizze seines gesamten Forschungsprogramms“ (Hans-Peter Müller). Dem Religionswissenschaftler Hans G. Kippenberg zufolge verwendet Weber einen „relationalen Religionsbegriff“; demnach lebt Religion aus der Übereinstimmung bzw. der Differenz mit den anderen Ordnungsmächten. Einen durchschlagenden Erfolg erzielte Weber mit der Erforschung der Kulturbedeutung des Protestantismus. ==== Protestantismus und Kapitalismus ==== Den Kern der Weberschen Analyse (Die protestantische Ethik und der ‚Geist‘ des Kapitalismus, 1904/05; überarbeitet 1920) bildet sein Nachweis, dass eine erhöhte Wahrscheinlichkeit für die Entstehung des modernen, „bürgerlichen Betriebskapitalismus“ besteht, wenn bestimmte ökonomische Komponenten mit einem religiös „fundamentierten“, innerweltlich-asketischen Berufsethos zusammentreffen. Eine direkte Ableitbarkeit kapitalistischen Wirtschaftshandelns aus protestantischen Mentalitätsursprüngen behauptet Weber nicht. Das besondere „Wahlverwandtschaftsverhältnis“ zwischen Protestantismus und Kapitalismus wird durch den Gedanken der Berufsethik vermittelt. Weber konstatiert, dass „durch die Kultursprachen hindurch […] die vorwiegend katholischen Völker für das, was wir ‚Beruf‘ (im Sinne von Lebensstellung, umgrenztes Arbeitsgebiet) nennen, einen Ausdruck ähnlicher Färbung ebensowenig kennen wie das klassische Altertum, während es bei allen vorwiegend protestantischen Völkern existiert“. Eine „prinzipielle und systematische ungebrochene Einheit von innerweltlicher Berufsethik und religiöser Heilsgewißheit hat in der ganzen Welt nur die Berufsethik des asketischen Protestantismus gebracht. […] Der rationale, nüchterne, nicht an die Welt hingegebene Zweckcharakter des Handelns und sein Erfolg ist das Merkmal dafür, dass Gottes Segen darauf ruht.“ Die Entwicklung des „Berufsmenschentums“, als einer Komponente des „kapitalistischen Geistes“ unter mehreren, war nach Weber durch einzelne, im 17., 18. und auch noch im 19. Jahrhundert hochwirksame religiöse Motive – Beruf als „Berufung“ und das daraus sich bildende Ethos „rationaler“, innerweltlich-asketischer Lebensführung – bedingt. Im von der Prädestinationslehre geprägten Calvinismus sowie bei weiteren protestantischen Richtungen, dem Methodismus, dem Quäkertum und dem täuferischen Sektenprotestantismus, daneben zum Teil auch im Pietismus, findet Weber eine Fassung des Motivs der Bewährung, die er für die Entstehung einer das ganze Leben strukturierenden Methodik verantwortlich macht. Angesichts der Ungewissheit über den eigenen religiösen Status wurde hier der Gedanke von der Notwendigkeit einer dauerhaften und konsequenten Bewährung im Leben und speziell im Berufsleben zum wichtigsten Anhaltspunkt für die eigene Bestimmung zur Seligkeit. Es handelt sich dabei, wie Weber immer wieder gegen diverse Missverständnisse betont hat, nicht um einen „Realgrund“, sondern um einen „Erkenntnisgrund“, also um eine rein subjektive Verbürgung der Heilsgewissheit. Der Gläubige verdient sich seine „Seligkeit“ also nicht durch die Befolgung der Berufspflicht (und den sich dadurch einstellenden Erfolg), sondern er versichert sich ihrer für sich selbst durch sie. Das dadurch entstehende Konzept der rationalen Lebensführung ist nach Weber ein wesentlicher Faktor in der Entstehungsgeschichte des modernen okzidentalen Kapitalismus wie überhaupt der westlichen Kultur.Die begrenzte Reichweite seiner Erörterungen hat Weber gleichfalls mehrfach hervorgehoben. Dass „der ‚kapitalistische Geist‘ […] nur als Ausfluss bestimmter Einflüsse der Reformation habe entstehen können oder wohl gar: daß der Kapitalismus als Wirtschaftssystem ein Erzeugnis der Reformation sei“, bezeichnete er als eine „töricht-doktrinäre These“. Der Unterstellung, er wolle eine konsequent „idealistische“ Gegenposition zum marxistischen Materialismus formulieren, entgegnete er: „[...] so kann es dennoch natürlich nicht die Absicht sein, an Stelle einer einseitig ‚materialistischen‘ eine ebenso einseitig spiritualistische kausale Kultur- und Geschichtsdeutung zu setzen. Beide sind gleich möglich, aber mit beiden ist, wenn sie nicht Vorarbeit, sondern Abschluss der Untersuchung zu sein beanspruchen, der historischen Wahrheit gleich wenig gedient.“Der von Weber aufgewiesene Zusammenhang ist Gegenstand einer äußerst intensiv geführten Diskussion. Wahrscheinlich handelt es sich um die am meisten erörterte wissenschaftliche Einzelleistung im Bereich von Soziologie, Geschichts- und Kulturwissenschaft. Dabei lassen sich methodische, faktisch-historische und biographisch-zeitgeschichtliche Zugangsweisen unterscheiden. Einige Kritiker werfen Weber vor, seine These so formuliert zu haben, dass sie methodisch „unwiderlegbar“ sei. Eine umfangreiche Forschungsliteratur widmet sich der empirischen Überprüfung von Webers Befunden und den daraus gezogenen Schlussfolgerungen. Doch auch als Ausdruck des Selbstverständnisses, wie es im deutschen Bürgertum um 1900 bestanden hat, wird Webers Text gedeutet und problematisiert. Jenseits der Kritik im Einzelnen ist der außerordentliche wissenschaftliche Rang der Schrift unbestritten: Webers Analyse der mentalitäts- (bzw. religions-)geschichtlichen Prägung der Moderne bietet einen substantiell fundierten Verstehensrahmen für wesentliche Aspekte der politischen, ökonomischen und kulturellen Gegenwart („Rationalisierung“, „Bürokratisierung“, Massengesellschaft unter anderem). Für viele soziologische, kulturwissenschaftliche, theologiegeschichtliche oder philosophische Ansätze der neuesten Zeit (etwa für Habermas’ Theorie des kommunikativen Handelns) bilden Webers „Protestantismus-Kapitalismus-These“ und die mit ihr verknüpfte Theorie des Rationalisierungsprozesses einen wichtigen Orientierungspunkt. ==== Wirtschaftsethik der Weltreligionen ==== Weber dehnte seine Religionssoziologie später erheblich weiter aus. Unter dem Obertitel Die Wirtschaftsethik der Weltreligionen enthielt bereits der erste Band der Gesammelten Aufsätze zur Religionssoziologie das Kapitel über Konfuzianismus und Taoismus, der zweite Band dann Hinduismus und Buddhismus und schließlich der dritte Band Das antike Judentum. Nachtrag. Die Pharisäer. Die für die Sonderentwicklung im Okzident exemplarische Studie über die Protestantische Ethik wird in diesen Aufsätzen systematisch mit anderen Weltreligionen und -regionen verglichen. Auch in ihnen thematisierte er nicht nur den Einfluss religiöser Ideen auf das außerreligiöse Handeln, sondern auch den entgegengesetzten Einfluss. Zusammenfassend kommt Weber zum Schluss, dass die asiatischen Religionen eine Lebensführung beeinflussten, die „eine Entwicklung in Richtung Kapitalismus unmöglich machten“. ==== Typen religiöser Vergemeinschaftung ==== Im Kapitel Religionssoziologie (Typen religiöser Vergemeinschaftung) in Wirtschaft und Gesellschaft (1921/22) beschäftigte sich Weber nunmehr systematisch mit den Haltungen der Religionen gegenüber der „Welt“. Die Religionssystematik überschneidet sich inhaltlich teilweise mit der Einleitung zur Wirtschaftsethik der Weltreligionen, doch ist erstere eine „komplexe, komprimierte, abstrakte wie elaborierte begriffliche Klassifikation von Webers religionssoziologischem Ansatz“. Auch hier lautet sein Resümee, dass von den asiatischen Religionen kein Weg zur „rationalen Lebensmethodik“ führte, vor allem keine Entwicklung zu einem „‚kapitalistischen Geist‘, wie er dem asketischen Protestantismus eignete“. Axel Michaels wertete Webers Ausweitung seiner religionssoziologischen Forschungen primär aus dem Bestreben, seine ursprüngliche These zu fundieren: „Indien, China, Israel und der Vordere Orient waren für ihn das Experiment, das den Beweis seiner Protestantismus-These bringen sollte, nicht aber stand am Anfang die Beschäftigung mit den Weltreligionen, aus der diese Theorie erwuchs.“ === Musiksoziologie === Aus Webers später Werkphase stammt die musiksoziologische Schrift Die rationalen und soziologischen Grundlagen der Musik. Vermutlich in einem Zeitraum ab 1910 geschrieben, wurde sie als unabgeschlossene Arbeit aus dem Nachlass erstmals 1921 als eigenständige Publikation veröffentlicht. Ihre Abfassung erfolgte in einer Werkphase, als sich Weber intensiv für eine „Soziologie der Cultur-Inhalte“ interessierte. In diesen Jahren führte er lange Gespräche mit dem jungen Georg Lukács über die erlösende Kraft der Kunst. Biographisch sensibilisierte ihn für die Musik zudem seine intime Freundschaft mit der Pianistin Mina Tobler.Bemerkenswert und für Weber erregend war die Entdeckung, dass sogar die Musik Teil des okzidentalen Rationalisierungsprozesses war, was ihn zu der Schlussfolgerung führte, dass „die rationale harmonische Musik ebenso wie den bürgerlichen Betriebskapitalismus […] nur die okzidentale Kultur hervorgebracht“ hat. Walther Müller-Jentsch vermutet mit Dirk Kaesler indessen, dass es sich hier um unterschiedliche Rationalitätsbegriffe handelt. Steffen Sigmund wertet die Schrift als „Gründungsdokument der (deutschen) Musiksoziologie“. Für Theodor W. Adorno ist sie der „bislang umfassendste und anspruchsvollste Entwurf einer Musiksoziologie“. == Rezeption == Die internationale Weber-Rezeption ist kaum noch überschaubar. Sie setzte schon kurz nach seinem Tod ein. 1923 erschien eine vom gebürtigen Ungarn Melchior Palyi herausgegebene Erinnerungsgabe für Max Weber. Marianne Weber veröffentlichte 1926 eine erste ausführliche Biographie. Von Alexander von Schelting erschien die wichtigste Arbeit über Webers Wissenschaftslehre vor dem Zweiten Weltkrieg. Zusammen mit Karl Löwith setzte er im Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik Akzente zu Webers wissenschaftlichem Denkstil. Befördert durch die emigrierten deutschen Sozialwissenschaftler, entwickelte sich eine nahezu kontinuierliche internationale Rezeption. Nach dem Zweiten Weltkrieg büßte Max Weber als Soziologe, anders als Ferdinand Tönnies und Werner Sombart, nicht an Bedeutung ein. Seine Werke fanden weiterhin große Beachtung, wenngleich in den frühen Nachkriegsjahren Deutschlands im Fokus sozialwissenschaftlicher Forschung zunächst Untersuchungen zur nivellierten Mittelstandsgesellschaft Schelskys, die Konfliktsoziologie von Dahrendorf und das Gruppenexperiment des Frankfurter Instituts für Sozialforschung standen. Explizit auf Weber bezog sich damals als einer von Wenigen der neben Martin Heidegger bekannteste Philosoph Karl Jaspers, dem die längste Zeit seines Lebens Weber als Gelehrter und Forscher zentrales Vorbild war; unter seinem Einfluss habe er seit 1909 gestanden und sein Philosophieren sei „all die Jahre nicht ohne Denken an Max Weber“ geschehen. Im Manuskript einer Vorlesung, die er über „Philosophie der Gegenwart“ im Wintersemester 1960/61 hielt, bezeichnete er Weber zusammen mit Albert Einstein als bedeutendsten Philosophen der Gegenwart. Als angehender Philosoph von Rang postulierte Dieter Henrich bereits 1952 mit dem Titel seiner Dissertation die Einheit der Wissenschaftslehre Max Webers. Von dem Emigranten Reinhard Bendix erschien 1960 in den USA eine erste umfassende Werkbiographie, fokussiert auf die Soziologie, die 1964 ins Deutsche übersetzt wurde. In seinem Vorwort bezeichnete René König, ähnlich wie Jaspers, Weber sowohl als Philosophen wie als Politiker und Soziologen.Eine erneute fachspezifische Beschäftigung mit dem Weberschen Werk begann in Deutschland mit dem Heidelberger Soziologentag 1964, auf dem den deutschen Soziologen zu Webers 100. Geburtstag durch Talcott Parsons, Herbert Marcuse, Reinhard Bendix, Raymond Aron, Ernst Topitsch und Pietro Rossi der Stand der internationalen Weber-Rezeption vor Augen geführt wurde. Danach wuchs die Sekundärliteratur zu Werk und Bedeutung Webers kontinuierlich an. Vornehmlich Friedrich Tenbruck und Johannes Weiß trugen in den 1970er Jahren zur Rezeption des Weberschen soziologischen Werkes bei. Die von der Heidelberger Universität seit 1981 veranstalteten Max-Weber-Vorlesungen wurden mit der Gastprofessur für Reinhard Bendix eröffnet. Seit 1984 wird von der Kommission für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte der Bayerischen Akademie der Wissenschaften die Max Weber-Gesamtausgabe herausgegeben. Sie umfasst insgesamt 47 Bände in drei Abteilungen (I. Schriften und Reden, 24 Bände und 5 Teilbände; II. Briefe, 11 Bände; III. Vorlesungen und Vorlesungsnachschriften, 7 Bände). Abgeschlossen wurde die eminente editorische Arbeit zu seinem 100. Todestag. Zwei ihrer Herausgeber, M. Rainer Lepsius und Wolfgang Schluchter, wurden für die deutsche Rezeption schon früh zu Fixpunkten einer beständigen Auseinandersetzung mit dem Weberschen Werk. Die Aktualität des Weberschen Werkes zeigt sich in seiner Anschlussfähigkeit für die gesamten Kultur- und Sozialwissenschaften. Als wichtigstes soziologisches Lehrbuch gilt weltweit Wirtschaft und Gesellschaft (Economy and Society). In der politikwissenschaftlichen Weber-Rezeption wird er als Klassiker des politischen Denkens geführt. Dazu beigetragen hat insbesondere die in seinem Vortrag Politik als Beruf formulierte Definition vom Staat als dem „Monopol legitimer physischer Gewaltsamkeit“, dem Politikwissenschaftler Andreas Anter zufolge die „wirkungsmächtigste der letzten hundert Jahre“. In den Geschichtswissenschaften wurde vornehmlich Webers Konzeption der „Universalgeschichte“ rezipiert, wobei Wolfgang Mommsen zufolge Webers Frage nach den Antriebskräften des gesellschaftlichen Wandels keineswegs auf eine Gesellschaftsgeschichte des Okzidents beschränkt blieb. Eine bewusst „weberianische Schule der Geschichtsschreibung in Abgrenzung von einer marxistischen“ führt Eric Hobsbawm auf den Gesellschaftshistoriker Hans-Ulrich Wehler zurück. In der marxistischen Rezeption wird die Komplementarität der Weberschen Kapitalismusanalysen hervorgehoben: Mit der Bedeutung religiöser Ideen für die Entstehung des Kapitalismus habe Weber die „subjektive Seite“ der historischen Entwicklung erforscht, ohne die „materialistische“ zu leugnen. Auch habe er den im (dogmatisch) marxistischen Denken nachgeordneten Stellenwert der Kultur im geschichtlichen Prozess zurechtgerückt. George Lichtheim betonte, dass „der ganze Inhalt der Weberschen Religionssoziologie ohne Schwierigkeit in das marxistische Schema passt.“ Kritik fanden indes seine Konzeption vom Nationalstaat, dem er eine unabhängige (und teils imperiale) Rolle zuwies, und sein voluntaristischer Charismabegriff. Als marxistischer Historiker hält Eric Hobsbawm bei aller Hochschätzung von Webers nötiger Ergänzung zu und Berichtigung von Marx dessen „politische und ideologische Haltung“ für unakzeptabel.In den USA wurde die Verbreitung der Ideen Webers durch den nach 1945 in der Soziologie vorherrschenden Strukturfunktionalismus Talcott Parsons’ und durch dessen Übersetzungen der Weberschen Werke Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus sowie Wirtschaft und Gesellschaft ins Englische maßgeblich vorangetrieben. Insbesondere Webers Schrift zur Bedeutung der protestantischen Ethik für die Entwicklung des modernen Kapitalismus wurde dort, aber auch in Deutschland, ausgesprochen häufig und kontrovers diskutiert. Webers Analyse der modernen Bürokratie, insbesondere sein Typus der „legalen Herrschaft mit bürokratischem Verwaltungsstab“ als die formal rationalste Herrschaftsform, benutzten amerikanische Organisationssoziologen in ihren Analysen der Verwaltung von staatlichen und wirtschaftlichen Organisationen. Für den Organisationstheoretiker Alfred Kieser haben Webers Analysen zur Bürokratie ihn zum „Wegbereiter der modernen Organisationstheorie“ gemacht. Obwohl Weber kein genuiner Organisationsforscher war, hat sein Bürokratiemodell „seine enorme Wirkung hauptsächlich in der Organisationsforschung gehabt und hat sie dort immer noch“. Seit Jahrzehnten gehört Webers Bürokratieansatz, neben Taylors und Fayols Managementlehren zum Kanon organisationssoziologischer Lehrbücher. Der schrittweisen Demontage seines „Maschinenmodells“ der bürokratischen Organisation verdankt die Organisationsforschung wichtige Erkenntnisfortschritte.Die japanische Weber-Rezeption ging andere Wege als die westliche. Bereits zu Lebzeiten Webers wurden japanische Sozialwissenschaftler auf ihn aufmerksam. Ihnen verdankt sich eine außerordentlich umfangreiche Sekundärliteratur mit einer thematischen Spannweite, die sämtliche materialen Forschungsbereiche Webers abdeckte. Arnold Zingerle führt die intensive Rezeption auf eine vermutete Affinität der Weberschen Fragestellungen mit der geistig-kulturellen Lage Japans zurück, wie sie seine Sozialwissenschaftler interpretierten. Webers Werk trug zum Verständnis des japanischen Modernisierungsprozesses und des japanischen Kapitalismus bei.Bis in die jüngste Zeit zählt Weber zu den am häufigsten zitierten Soziologen. In dieser Hinsicht stellt Klaus Feldmann fest: „Von den Klassikern erweist sich Weber als der dauerhafteste.“ Hans-Peter Müller will in ihm gar den „Klassiker der Klassiker“ sehen. So sind auch in den jüngeren Theorieangeboten der Soziologie vielfältige Bezüge zum Weberschen Werk enthalten. Der französische Soziologe Pierre Bourdieu griff beispielsweise bei der Formulierung seiner Theorie der Praxis auf Max Weber zurück. Selbst die frühe Systemtheorie von Niklas Luhmann und nicht zuletzt die Theorie kommunikativen Handelns von Jürgen Habermas grenzen sich zwar in zentralen Punkten von Weber ab, dennoch tritt gerade darin dessen anhaltende Bedeutung für die deutsche Soziologie zu Tage. Habermas zufolge begegnet das Abendland „anderen Kulturen heute in Gestalt der überwältigenden Infrastruktur einer durch Wissenschaft und Technik bestimmten kapitalistischen Weltzivilisation“. Umgekehrt begegneten den Menschen des Abendlands „andere Kulturen vor allem in der Eigenschaft ihres religiösen Kerns. In unseren Augen ist die fremde Religion die Quelle der Inspiration der anderen Kultur.“ Das erkläre „die Aktualität Max Webers“.Die nach dem US-amerikanischen Soziologen Robert K. Merton benannte Merton-These besagt, dass die naturwissenschaftlich-technologische Revolution des 17. und 18. Jahrhunderts hauptsächlich von englischen Puritanern und deutschen Pietisten getragen worden sei. Den Grund sah Merton vor allem in der von Max Weber beschriebenen asketischen Einstellung von Protestanten. Der Soziologe Gerhard Lenski fand 1958 in einer breit angelegten empirischen Untersuchung im Großraum Detroit (US-Bundesstaat Michigan) eine Reihe von Webers Thesen zu konfessionellen Prägungen bestätigt. Gleichwohl wurde Webers These unzählige Male angefochten, viele historische und empirische Fehler wurden nachgewiesen, weswegen sie in der ursprünglichen Form kaum mehr vertreten wird. Beispielsweise wird zu Recht moniert, dass sich der „Geist des Kapitalismus“ bereits lange vor der Reformation in den italienischen Städten des Hochmittelalters manifestiert habe.Im deutschen Sprachraum haben die Soziologen Wolfgang Schluchter und Stefan Breuer bedeutsame Interpretationsschriften über Webers Werk publiziert. Beispiele für „Max Webers Soziologie im Lichte aktueller Problemstellungen“ finden sich in den Beiträgen einer Tagung, die anlässlich des 150. Geburtstags Webers vom Max-Weber-Institut für Soziologie der Universität Heidelberg im April 2014 mit namhaften Weber-Experten veranstaltet wurde.Die Biographien von Joachim Radkau (2005), Dirk Kaesler (2014) und Jürgen Kaube (2014) stützen sich auf das in der Max Weber-Gesamtausgabe zugänglich gemachte breite Dokumentenmaterial. Sie tragen zu Entmystifizierung der frühen Biographie von Marianne Weber bei. Aus unterschiedlichen Blickwinkeln beschreiben sie das Zusammenspiel von Leben und Werk eines Universalgelehrten in jener ereignisreichen politischen Zeit an der Schwelle vom 19. zum 20. Jahrhundert. Radkaus Biographie fokussiert auf Webers psychische Konstitution, deren Erlebens- und Leidensstadien – in den drei Hauptteilen mit „Vergewaltigung der Natur“, „Rache der Natur“, „Erlösung und Erleuchtung“ überschrieben – ausführlich zu seinem Werk in Beziehung gesetzt werden. Kaeslers Biographie thematisiert die kollektiven Traumata (fin de siècle, Erster Weltkrieg, Russische Revolutionen, Novemberrevolution und Gegenrevolution in Deutschland, Gründungsphase der Weimarer Republik), die auf Lebenslauf und Werk prägend eingewirkt hätten. Nach Kaubes Biographie habe Webers „Leben zwischen den Epochen“ (Untertitel) ihn zum politisch involvierten Chronisten der Zeitenwende vom preußisch-deutschen Traditionalismus zur imperialen Industrienation Deutschland gemacht. == Ehrungen == Die Universität Heidelberg übernahm die Fallensteinvilla, die ab 1910 der Wohnsitz Webers und Ernst Troeltschs war, in der die Sonntagsgespräche stattgefunden haben und in der seine Frau seit 1922 wieder lebte. Sie erhielt den Namen Max-Weber-Haus. Darin befindet sich heute das Internationale Studienzentrum der Universität Heidelberg (ISZ). Der Salon ist erhalten geblieben.Der Max-Weber-Platz im Münchner Stadtteil Haidhausen war seit 1905 nach einem gleichnamigen Magistratsrat der bayerischen Hauptstadt benannt. Auf Initiative von Ulrich Beck wurde er 1998 zusätzlich auch dem Soziologen Max Weber gewidmet. Das Max-Weber-Kolleg in seinem Geburtsort Erfurt, das eine Einrichtung der Universität Erfurt für kultur- und sozialwissenschaftliche Studien ist, wurde ebenso nach ihm benannt, ferner das Max-Weber-Institut für Soziologie an der Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg. 2012 wurde die Stiftung Deutsche Geisteswissenschaftliche Institute im Ausland in Max Weber Stiftung umbenannt. Mehrere Schulen in Deutschland sind nach Max Weber benannt sowie Straßen in Erfurt, Pforzheim und Quickborn.Am Münchner Wohnhaus in der Seestraße 3c (heute: 16), seinem letzten Wohnort, befindet sich seit 1976 eine Gedenktafel. Zu Webers hundertstem Todestag wurde an seinem Charlottenburger Wohnort in der Leibnizstraße 19, der ehemaligen „Villa Helene“ (heute: 21), eine „Berliner Gedenktafel“ angebracht. == Schriften == === Werkausgaben === Es liegen zwei Werkausgaben vor: Die 47 Bände umfassende Max Weber-Gesamtausgabe (MWG) im Verlag Mohr Siebeck, herausgegeben von Horst Baier, Gangolf Hübinger, M. Rainer Lepsius, Wolfgang J. Mommsen, Wolfgang Schluchter und Johannes Winckelmann, Sie gliedert sich in drei Abteilungen: I. Schriften und Reden, II. Briefe, III. Vorlesungen und Vorlesungsnachschriften. Die älteren Werkausgaben: Wirtschaft und Gesellschaft (WuG) sowie 7 Bände der Gesammelten Aufsätze: Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie I–III (GARS), Gesammelte Aufsätze zur Soziologie und Sozialpolitik (GASS), Gesammelte Aufsätze zur Sozial- und Wirtschaftsgeschichte (GASW), Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre (GAWL), Gesammelte Politische Schriften. (GPS). Mohr Siebeck, Tübingen . === Einzelschriften (Auswahl) === 1889: Zur Geschichte der Handelsgesellschaften im Mittelalter. Stuttgart 1889 (MWG I/1; GASW 312–443). 1891: Die römische Agrargeschichte in ihrer Bedeutung für das Staats- und Privatrecht. Stuttgart 1891 (MWG I/2). 1891–1892: Die Verhältnisse der Landarbeiter im ostelbischen Deutschland. Die Verhältnisse der Landarbeiter in Deutschland, geschildert auf Grund der vom Verein für Socialpolitik veranstalteten Erhebungen. Band 3, Leipzig 1892 (MWG I/3). 1895: Freiburger Antrittsvorlesung Der Nationalstaat und die Volkswirtschaftspolitik. Akademische Verlagsbuchhandlung J.C.B Mohr, Freiburg i. Br. und Leipzig 1895 (MWG I/4, 535-574; GPS 1–25; Wikisource). 1896: Die sozialen Gründe des Untergangs der antiken Kultur. In: Die Wahrheit. Band 3, H. 63, Fr. Frommanns Verlag, Stuttgart 1896, S. 57–77 (MWG I/6, 82-127; GASW 289–311). 1904: Die ‚Objektivität‘ sozialwissenschaftlicher und sozialpolitischer Erkenntnis. In: Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik. 19 1904, S. 22–87 (MWG I/7, 135-234; GAWL 146–214). 1904/05: Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus. In: Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik. 20 1904, S. 1–54 und 21, 1905, S. 1–110 (MWG I/9 und MWG I/18; überarbeitet in GARS I 1–206). 1908/09: Zur Psychophysik der industriellen Arbeit. In: Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik. Band 28 (1908), Heft 1 und 3, Band 29 (1909), Heft 2 (MWG I/11). 1909: Agrarverhältnisse im Altertum. [3. Fassung], in: Handwörterbuch der Staatswissenschaften. Band 1, Jena 1909 3. Auflage. 52–188 (MWG I/6, 128-227; GASW 1–288). 1910: Enquete über das Zeitungswesen (Rede auf dem 1. Deutschen Soziologentag vor der neugegründeten Deutschen Gesellschaft für Soziologie, 20. Oktober 1910 (MWG I/13, 256-286)). 1915–1919: Die Wirtschaftsethik der Weltreligionen, 11 Aufsätze zu Konfuzianismus und Taoismus, Hinduismus und Buddhismus, antikes Judentum, in: Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik, Jg. 41 (1915) – Jg. 46 (1919) (MWG I/19-21; GARS I-III). 1918: Parlament und Regierung im neugeordneten Deutschland. Zur politischen Kritik des Beamtentums und Parteiwesens. München/Leipzig 1918 (MWG I/15, 421-596; GPS 306–443). 1918: Der Sozialismus, Wien 1918 (MWG I/15, 597-633; GASS 492-518). 1919: Wissenschaft als Beruf. München/Leipzig 1919 (MWG I/17, 49-111; GAWL 582-613), Digitalisat und Volltext im Deutschen Textarchiv; Separatveröffentlichungen: Stuttgart 1995, ISBN 3-15-009388-0, Schutterwald/Baden 1994, ISBN 3-928640-05-4; textlog.de; Matthes & Seitz, Berlin 2017, ISBN 978-3-95757-518-0. 1919: Politik als Beruf. München/Leipzig 1919 (MWG I/17, 113-252; GPS 505–560), Digitalisat und Volltext im Deutschen Textarchiv; Separatveröffentlichungen: Stuttgart 1992, ISBN 3-15-008833-X und Schutterwald/Baden 1994, ISBN 3-928640-06-2; textlog.de. 1920/1921: Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie I–III. Mohr (Siebeck), Tübingen. 1921 (postum): Die rationalen und soziologischen Grundlagen der Musik. München 1921 (MWG I/14). 1921/1922 (postum): Wirtschaft und Gesellschaft (in 4 Lieferungen). Tübingen 1921/22; 5. revidierte Auflage, hrsg. von Johannes Winckelmann, Tübingen 1976 (MWG I/22-1 – I/22-5; MWG I/23). 1923 (postum): Wirtschaftsgeschichte. Abriß der universalen Sozial- und Wirtschaftsgeschichte. Aus den nachgelassenen Vorlesungen hrsg. von Siegmund Hellmann und Melchior Palyi. München/Leipzig 1923 (MWG III/6). 1924 (postum): Gesammelte Aufsätze zur Sozial- und Wirtschaftsgeschichte. [Hrsg. Marianne Weber] Tübingen, J.C.B.Mohr (Paul Siebeck), Tübingen 1924. === Weitere Ausgaben === Max Weber. Werk und Person. Dokumente. Dokumente ausgewählt und kommentiert von Eduard Baumgarten. Mohr, Tübingen 1964. Max Weber: Jugendbriefe. Mit einer Einführung von Marianne Weber. Mohr, Tübingen ohne Jahr [1936]. Max Weber: Schriften 1894–1922 (= Kröners Taschenausgabe. Band 233). Herausgegeben von Dirk Kaesler. Kröner, Stuttgart 2002, ISBN 3-520-23301-0 (Auswahlausgabe mit zum Teil gekürzten Texten). Max Weber, gesammelte Werke [Elektronische Ressource, CD-ROM]: mit einem Lebensbild von Marianne Weber. Directmedia Publishing, Berlin 2004, ISBN 3-89853-458-8. == Sekundärliteratur == Philosophiebibliographie: Max Weber – Zusätzliche Literaturhinweise zum Thema === Biographien === Reinhard Bendix: Max Weber. An intellectual portrait. Doubleday, Garden City 1960 (4. Auflage mit einer Einleitung von Bryan S. Turner), Routledge, London/New York 1998, ISBN 0-415-17453-8. Reinhard Bendix: Max Weber – Das Werk. Darstellung. Analyse. Ergebnisse. Mit einem Vorwort von René König. Aus dem Amerikanischen von Renate Rausch. Piper, München 1964. Hans Norbert Fügen: Max Weber. Mit Selbstzeugnissen und Bilddokumenten. Rowohlt, Reinbek 2000, ISBN 3-499-50216-X. Gangolf Hübinger: Max Weber. Stationen und Impulse einer intellektuellen Biographie, Mohr Siebeck 2019, ISBN 978-3-16-155724-8. (Rezension von Dirk Kaesler) Dirk Kaesler: Max Weber (= C. H. Beck Wissen. Band 2726). C.H. Beck Verlag, München 2011, ISBN 978-3-406-62249-6. Dirk Kaesler: Max Weber: Preuße, Denker, Muttersohn. C.H. Beck Verlag, München 2014, ISBN 978-3-406-66075-7. Jürgen Kaube: Max Weber. Ein Leben zwischen den Epochen. Rowohlt, Berlin 2014, ISBN 978-3-87134-575-3. Christa Krüger: Max und Marianne Weber. Tag- und Nachtansichten einer Ehe. Pendo, München/Zürich 2001, ISBN 978-3-85842-423-5. M. Rainer Lepsius: Max Weber und seine Kreise. Essays. Mohr Siebeck, Tübingen 2016, ISBN 978-3-16-154738-6. (Rezension von Dirk Kaesler) Joachim Radkau: Max Weber. Die Leidenschaft des Denkens. Hanser, München 2005, ISBN 3-446-20675-2. Fritz K. Ringer: Max Weber. An intellectual biography. University of Chicago Press, Chicago 2004, ISBN 0-226-72004-7. Guenther Roth: Max Webers deutsch-englische Familiengeschichte 1800–1950, mit Briefen und Dokumenten. Mohr Siebeck, Tübingen 2001, ISBN 3-16-147557-7. (Rezension von Wilfried Nippel, Rezension von Rolf Löchel) Marianne Weber: Max Weber. Ein Lebensbild. Piper, München 1989, ISBN 3-492-10984-5. (Erstausgabe 1926) === Einführungen und Gesamtbetrachtungen === Karl-Ludwig Ay, Knut Borchardt (Hrsg.): Das Faszinosum Max Weber. Die Geschichte seiner Geltung. UVK, Konstanz 2006, ISBN 3-89669-605-X. Michael Bayer und Gabriele Mordt: Einführung in das Werk Max Webers. Verlag für Sozialwissenschaften, Wiesbaden 2008, ISBN 978-3-531-15392-6. Gregor Fitzi: Max Weber. Campus-Verlag, Frankfurt am Main/New York 2008, ISBN 978-3-593-38124-4. Edith Hanke, Lawrence Scaff, Sam Whimster (Hrsg.): The Oxford Handbook of Max Weber. Oxford University Press, New York 2019, ISBN 978-0-19-067954-5. Volker Heins: Max Weber zur Einführung. 3., vollständig überarbeitete Auflage, Junius, Hamburg 2004, ISBN 3-88506-390-5. Wolfgang Hellmich: Aufklärende Rationalisierung. Ein Versuch, Max Weber neu zu interpretieren (= Erfahrung und Denken. Bd. 107). Duncker & Humblot, Berlin 2013, ISBN 978-3-428-13906-4. Wilhelm Hennis: Max Webers Fragestellung: Studien zur Biographie des Werks. Tübingen 1987, ISBN 978-3-16-345150-6. Karl Jaspers: Max Weber. Gesammelte Schriften. Piper Verlag, München 1988, ISBN 3-492-10799-0. Dirk Kaesler: Max Weber. Eine Einführung in Leben, Werk und Wirkung. 4., aktualisierte Auflage. Campus Verlag, Frankfurt am Main 2014, ISBN 978-3-593-50114-7. Michael Kaiser (Hrsg.): Max Weber in der Welt. Rezeption und Wirkung, Mohr Siebeck, Tübingen 2014, ISBN 978-3-16-152469-1. Stephen Kalberg: Einführung in die historisch-vergleichende Soziologie Max Webers. Aus dem Amerikanischen übertragen von Thomas Schwietring. Westdeutscher Verlag, Wiesbaden 2001, ISBN 978-3-531-13308-9. Stephen Kalberg: Max Weber lesen. Übersetzt von Ursel Schäfer. transcript Verlag, Bielefeld 2015, ISBN 978-3-89942-445-4. Volker Kruse, Uwe Barrelmeyer: Max Weber. Eine Einführung. UVK/UTB, Stuttgart 2012, ISBN 978-3-8252-3637-3. (Rezension) Klaus Lichtblau: Max Webers Grundbegriffe. VS Verlag für Sozialwissenschaften, Wiesbaden 2006, ISBN 3-531-14810-9. 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Stefan Breuer: Bürokratie und Charisma. Zur politischen Soziologie Max Webers. Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 1994, ISBN 3-534-12336-0. Rogers Brubaker: The limits of rationality. An essay on the social and moral thought of Max Weber (= Controversies in sociology. Bd. 16). George Allen & Unwin, Boston/London 1984, ISBN 0-04-301172-1. Hinnerk Bruhns: Max Weber und der Erste Weltkrieg. Mohr Siebeck, Tübingen 2017, ISBN 978-3-16-152542-1. Catherine Colliot-Thélène: La sociologie de Max Weber. Paris, Éditions La Découverte 2014, ISBN 978-2-7071-7825-1. Gregor Fitzi: Max Webers politisches Denken. UVK, Konstanz 2004, ISBN 978-3-8252-2570-4. Benedikt Giesing: Religion und Gemeinschaftsbildung. Max Webers kulturvergleichende Theorie. Leske und Budrich, Opladen 2002, ISBN 3-8100-3673-0. Peter Ghosh: Max Weber and the Protestant Ethic. Twin Histories. Oxford University Press, Oxford u. a. 2014, ISBN 978-0-19-870252-8. Edith Hanke, Wolfgang J. 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Constans Seyfarth, Gert Schmidt: Max Weber Bibliographie. Eine Dokumentation der Sekundärliteratur. 2. Auflage. Enke, Stuttgart 1982, ISBN 3-432-89192-X. Arnold Zingerle: Max Webers historische Soziologie. Aspekte und Materialien zur Wirkungsgeschichte. Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 1981, ISBN 3-534-06520-4. == Zeitschrift == Max Weber Studies, hrsg. von Sam Whimster, London 2000 ff. == Film == Max Weber – Die Entzauberung der Welt. Dokumentarfilm, Deutschland, 2006, 29 Min., Buch und Regie: Anette Kolb, Produktion: BR-alpha, Reihe: München leuchtet für die Wissenschaft – Berühmte Forscher und Gelehrte, Erstsendung: 10. Februar 2006 bei BR-alpha, Inhaltsangabe und online-Video von BR-alpha, mit M. Rainer Lepsius. == Weblinks == Literatur von und über Max Weber im Katalog der Deutschen Nationalbibliothek Werke von und über Max Weber in der Deutschen Digitalen Bibliothek Max Weber im Katalog der ZBW – Leibniz-Informationszentrum Wirtschaft (ZBW) Zeitungsartikel über Max Weber in den Historischen Pressearchiven der ZBW Sung Ho Kim: Eintrag in Edward N. Zalta (Hrsg.): Stanford Encyclopedia of Philosophy.Vorlage:SEP/Wartung/Parameter 1 und Parameter 3 und nicht Parameter 2 Max-Weber-Kolleg für kultur- und sozialwissenschaftliche Studien der Universität Erfurt Werke von Max Weber im Projekt Gutenberg-DE Gangolf Hübinger: Max Weber und die Zeitgeschichte, Version: 1.0, in: Docupedia-Zeitgeschichte, 4. Dezember 2019Biographien Dagmar Otto/Levke Harders: Max Weber. Tabellarischer Lebenslauf im LeMO (DHM und HdG) Bildergalerie von Dirk Kaesler Max Weber in der Welt. Internationale Konferenz veranstaltet von der Max Weber Stiftung – Deutsche Geisteswissenschaftliche Institute im Ausland (4./5. Juli 2012, Bonn, Universitätsclub) – Audiobeiträge der KonferenzSchriften Website der Kritischen Gesamtausgabe aller Werke (MWG) Übersicht zur Max Weber-Gesamtausgabe bei Mohr Siebeck Werke von Max Weber bei Zeno.org. Max Weber – Ausgewählte Schriften, Potsdamer Internet-Ausgabe (PIA) Weber, Max, 1864–1920. auf archive.orgVorlesungsmitschnitt Dirk Kaesler: Max Weber an der Universität München. Vorlesung vom 13. Juni 2007 (Teil I) auf YouTube Dirk Kaesler: Max Weber an der Universität München. Vorlesung vom 13. Juni 2007 (Teil II) auf YouTube == Anmerkungen ==
https://de.wikipedia.org/wiki/Max_Weber
Salzburg
= Salzburg = Salzburg (in der Antike lateinisch Iuvavum, heutige lateinische Bezeichnung Salisburgum, im bairisch-österreichischen Dialekt Soizbuag) ist die Landeshauptstadt des gleichnamigen Landes der Republik Österreich. Mit 156.619 Einwohnern (Stand 1. Jänner 2023) ist sie nach Wien, Graz und Linz die viertgrößte Stadt Österreichs. Sie liegt im Salzburger Becken. Prägend für die Stadt sind die Stadtberge, die durch das Stadtgebiet fließende Salzach und die von weitem sichtbare Festung Hohensalzburg. Der Nordwesten der Statutarstadt Salzburg grenzt an Freilassing in der Bundesrepublik Deutschland (Freistaat Bayern, Landkreis Berchtesgadener Land), das übrige Stadtgebiet an den Bezirk Salzburg-Umgebung, landläufig „Flachgau“ genannt. Im Jahr 488 begann der Niedergang der an dieser Stelle liegenden römischen Stadt Iuvavum. Salzburg wurde 696 als Bischofssitz neu gegründet und 798 Sitz des Erzbischofs. Die Haupteinnahmequellen Salzburgs bildeten Salzgewinnung, der Handel damit sowie der Handel mit Gold, das seit 1300 in den Tauern abgebaut wurde. Die Festung Hohensalzburg, das Wahrzeichen der Stadt und unverkennbarer, weltberühmter Teil ihrer Silhouette, stammt aus dem 11. Jahrhundert. Sie ist eine der größten mittelalterlichen Burganlagen Europas und diente während kriegerischen Belagerungen dem jeweiligen Erzbischof und den Salzburgern als Wehrburg und als Zufluchts- und Überlebensort mit eigener Zisterne. Fürsterzbischof Wolf Dietrich von Raitenau und seine Nachfolger bauten Salzburg im 17. Jahrhundert zur Residenzstadt aus. In Folge der barocken Baulust entstanden prunkvolle Schlösser und Kirchen, die bis heute das Stadtbild prägen. Im Süden der Stadt wurde Schloss Hellbrunn mit dem ihn umgebenden Schlosspark und den Alleen gebaut und die Wasserspiele eingerichtet. Als bekanntester Salzburger gilt der 1756 hier geborene Komponist Wolfgang Amadeus Mozart, weshalb die Stadt den Beinamen Mozartstadt und der Flughafen den Namen Salzburg Airport W. A. Mozart trägt. Das historische Zentrum der Stadt steht seit 1996 auf der Liste des Weltkulturerbes der UNESCO. Heute ist Salzburg international für die Sommerfestspiele bekannt, die der Regisseur Max Reinhardt gemeinsam mit dem Schriftsteller Hugo von Hofmannsthal, dem Komponisten Richard Strauss und anderen 1920 ins Leben gerufen hat. Sie wurden mittlerweile um die von Herbert von Karajan gegründeten Oster- und Pfingstfestspiele sowie um die Mozartwoche im Januar erweitert, sodass die Stadt, die auch über bedeutende mittelalterliche, Renaissance- und Barock-Architektur und Mozart-Gedenkstätten verfügt, das ganze Jahr über von Touristen und Kunstliebhabern überflutet wird. Von wirtschaftlicher Bedeutung sind auch Messen und Kongresse sowie die Handels-, Tourismus- und Dienstleistungsbetriebe. Aufgrund ihrer verkehrsgünstigen Lage bildet die Stadt Salzburg den Kern der grenzüberschreitenden „EuRegio Salzburg – Berchtesgadener Land – Traunstein“. Zudem ist sie Knotenpunkt für wichtige Straßen- und Schienenrouten im West-Ost-Verkehr (Innsbruck–Salzburg–Wien) sowie transalpin bzw. von Norden nach Süden verlaufend (München–Salzburg–Villach). == Geographie == === Lage === Die Stadt Salzburg liegt am Nordrand der Alpen, in der Mitte des Salzburger Beckens. Der historische Altstadtkern befindet sich an der Salzach und wird von Festungs- und Mönchsberg sowie dessen westlichem Ausläufer, dem Rainberg, begrenzt. Östlich des Altstadtkerns erheben sich am rechten Salzachufer der Kapuzinerberg und der kleine Bürglstein, im Süden der Stadt der Hellbrunner Berg und der Morzger Hügel, westlich des Stadtteils Altliefering der kleine Lieferinger Hügel. Im Südwesten befindet sich, ein wenig außerhalb der Stadtgrenze, der von einer Seilbahn erschlossene 1973 m hohe Untersberg, der weit in das nördliche Umland die Silhouette prägt. Landschaftlich sind weiters der im Westen liegende Hohe Stauffen und im Süden die Salzburger Kalkhochalpen mit Göll, Hagengebirge und Tennengebirge dominant. Im Osten bilden der 1288 m hohe Stadtberg Gaisberg und die Osterhorngruppe die Grenze des Salzburger Beckens. Nördlich der Stadt erreicht der Fuß des Plainberges mit der Wallfahrtsbasilika Maria Plain das Stadtgebiet. Nordöstlich schließt sich die Hügellandschaft des Flachgaus zum Alpenvorland an, mit dem Haunsberg als letztem Alpenausläufer. Ein geschlossener Auwaldgürtel entlang von Salzach und Saalach reicht im Norden bis in das Stadtgebiet hinein. Der Auwald westlich der Saalach und das dahinter liegende Hügelland, der Högl, gehören bereits zum Landkreis Berchtesgadener Land in Bayern. Im Nordwesten grenzt das bayerische Freilassing, nur durch die Saalach getrennt, an den Salzburger Stadtteil Liefering. Die Salzburger Altstadt liegt auf 420 bis 426 m Seehöhe. Der höchste Punkt des Stadtgebietes ist die Gaisbergspitze mit 1288 m, die Saalachmündung am Böschungsfuß ist mit 404 m der tiefste Punkt des Salzburger Beckens. Das Gemeindegebiet umfasst 65,65 km², davon fallen 2238 Hektar auf Bauland (34,0 %), 503 ha auf Verkehrsfläche (7,7 %), 1080 ha auf Wald (16,5 %) und 342 ha auf Gewässer (5,2 %). === Stadtteile === Die Stadt gliedert sich – unabhängig der historischen Katastralgemeinden – in 24 Stadtteile und drei angrenzende Landschaftsräume. Den historischen Kern bildet die Altstadt links und rechts der Salzach (Stadtteil Salzburger Altstadt), an die die alten, seit dem Mittelalter bestehenden Vorstädte Mülln und Nonntal anschließen. Um 1900 entstand westlich der Altstadt der Stadtteil Riedenburg. Auf dem Gebiet der geschliffenen rechtsufrigen Bastionen und Kasernen entstand im Gebiet um die Andräkirche die sogenannte Neustadt, die von den Salzburgern meist Andräviertel genannt wird, westlich des Hauptbahnhofs der Stadtteil Elisabeth-Vorstadt und nördlich von Mülln der Stadtteil Lehen. Die meiste Architektur der Stadtteile Aigen, Parsch, Itzling und Gneis wurde nach 1900 gebaut. Die einst selbständigen Dörfer, späteren Vororte Maxglan im Westen, Liefering im Nordwesten, Gnigl im Osten und Morzg im Süden wurden in der Zwischenkriegszeit eingemeindet und gehören heute zu den Stadtteilen Salzburgs. In dieser Zeit bildete sich allmählich der durchgehend bebaute Siedlungsstreifen entlang der Moosstraße in Leopoldskron-Moos heraus. Nach 1950 entstand als jüngster Siedlungskern Salzburg-Süd mit den Teilen Josefiau, Herrnau und Alpensiedlung. Als ausgebaute alte Umstadtdörfer stammen auch die Stadtteile Langwied, Kasern, Taxham und Schallmoos aus der Mitte des 20. Jahrhunderts, ebenso im Norden der Stadtteil Itzling Nord als junger Siedlungssplitter, der sich nahtlos an den Siedlungsraum der Gemeinde Bergheim anschließt. Südlich von Gneis liegen die ebenfalls jungen Siedlungen Eichethofsiedlung und Birkensiedlung. Sie wurden unter der Stadtteilbezeichnung Gneis Süd zusammengefasst. Westlich des Flughafens erstreckt sich als schmaler Streifen in Nord-Süd-Richtung der Stadtteil Maxglan-West, zu dem die Kendlersiedlung und die kleinen ehemaligen Weiler Pointing und Loig gehören. Die Kendlersiedlung setzt sich in den schon zur Gemeinde Wals-Siezenheim gehörenden Häusern der Glansiedlung fort. Die Häusergruppen Pointing und Loig schließen an das Walser Siedlungsgebiet Himmelreich an. Außerhalb der Siedlungsräume liegen im Stadtgebiet von Salzburg die geschlossenen Landschaftsräume Hellbrunn sowie Gaisberg am Fuß des Stadtbergs Gaisberg und Heuberg, das die im Stadtgebiet liegenden, teils besiedelten Anhöhen des gleichnamigen Bergs einnimmt. Die Landschaftsräume werden ebenfalls als Stadtteile geführt. === Katastralgemeinden === Salzburg ist in 14 Katastralgemeinden aufgeteilt (Fläche Stand 31. Dezember 2019): Die Namen der Stadtteile entsprechen großteils den gleichnamigen Katastralgemeinden, deren Grenzen weitestgehend im frühen 19. Jahrhundert (vor 1830) festgelegt wurden. Die Bezeichnung Aigen I besagt, dass die einstige Gemeinde Aigen 1939 zum weitaus größten Teil in die Stadt Salzburg eingemeindet wurde. Der verbleibende Teil wurde unter der Bezeichnung Aigen II als kleine eigene Katastralgemeinde der Nachbargemeinde Elsbethen zugeteilt. Gleich bzw. entsprechend umgekehrt verhält es sich bei den Katastralgemeinden Liefering I, Siezenheim II und Wals II (zur Gemeinde Wals-Siezenheim), Bergheim II (zur Gemeinde Bergheim), Hallwang II (zur Gemeinde Hallwang) und Heuberg II (zur Gemeinde Koppl). Das Größenverhältnis der Katastralgemeinden Gaisberg I in Salzburg und Gaisberg II in Elsbethen ist etwa ausgeglichen. == Geschichte == === Frühgeschichte und bayerische Zeit === Das Gebiet der Stadt ist seit der Jungsteinzeit bis heute durchgehend besiedelt. In der La-Tène-Zeit war es ein Verwaltungszentrum der keltischen Alaunen im Königreich Noricum. Die Bewohner der Stadtberge wurden nach dem Einmarsch der Römer im Jahr 15 v. Chr. entsprechend der römischen Stadtplanung in den Raum der Altstadt übersiedelt. Das neu entstandene Municipium Claudium Iuvavum war seit der Regentschaft Kaiser Claudius´ eine der wichtigsten Städte der nun römischen Provinz Noricum. Als die Provinz Noricum 488 zu Beginn der Völkerwanderung zerfiel, verblieb ein Teil der romano-keltischen Bevölkerung im Land, die gemeinsam mit den Ureinwohnern im 6. Jahrhundert unter die Herrschaft der Bajuwaren kamen. Bischof Rupert von Salzburg erhielt um 696 n. Chr. die Reste der Römerstadt (oppidum) von Herzog Theodo II. von Bayern sowie ein castrum superius (Obere Burg) auf der Nonnbergterrasse zum Geschenk und sollte im Gegenzug, das Land im Osten und Südosten missionieren. Rupert errichtete eine Kirche bei St. Peter oder an der Stelle des heutigen Doms und gründete vermutlich auch das dazugehörende Männerkloster, sowie das Frauenstift Nonnberg für seine Verwandte Erentrudis. Seit 739 ist Salzburg Sitz eines Diözesanbischofs, seit 798 Erzbistum. Unter Erzbischof Virgil wurde der erste Dom errichtet. Die Marienkirche, ab 1139 Pfarrkirche, dann Kirche der Petersfrauen, heute Franziskanerkirche, bestand spätestens seit Anfang des 9. Jahrhunderts. Das Land Salzburg und seine Grafschaften bekamen durch den aufblühenden Salzbergbau und die weiträumige Missionstätigkeit immer mehr Einfluss und Macht innerhalb Bayerns. Im Jahr 996 verlieh Kaiser Otto III. Erzbischof Hartwig das Marktrecht und das Münzregal (vermutlich auch das Mautrecht). 1077 entstand der erste Teil der Festung Hohensalzburg. 1120/30 wurde erstmals ein Stadtrichter urkundlich erwähnt. Am linken Salzachufer war mit dem Dom, der Bischofsresidenz nordwestlich des Doms, dem Domkloster an dessen Südseite, dem St Peter-Stift und dem Frauengarten (wohl nach einem ehemaligen Frauenkonvent, der 1583 aufgehoben wurde) ein weitläufiger geistlicher Bezirk entstanden. Erst während des 12. Jahrhunderts begann sich die bürgerliche Siedlung – in der Getreidegasse, in der Abtsgasse (= Sigmund Haffner-Gasse) und entlang des Kais – mit neuen Siedlungsstätten auszubreiten. Um 1280 wurde die erste Stadtbefestigung angelegt. Das älteste bekannte Stadtrechts-Dokument stammt aus dem Jahr 1287. === Fürsterzbischöfliche Residenzstadt === Seit der Schlacht bei Mühldorf 1322 war das Erzbistum mit dem Mutterland Bayern verfeindet. Von 1328 bis 1803 war Salzburg ein selbständiges Territorialfürstentum innerhalb des Heiligen Römischen Reichs Deutscher Nation, das vom jeweiligen Erzbischof regiert wurde. Die wirtschaftliche Blüte der Stadt im 15. Jahrhundert führte zu einem wachsenden Selbstbewusstsein der Bürger, das sich Rechte erkämpft hatte, im Gegenzug aber auch zu Pflichten herangezogen wurde. Erzbischof Leonhard von Keutschach, der das Erzbistum mit hohen Schulden übernommen hatte, führte das Land durch kluge Politik und planvollen Wirtschaftsmaßnahmen zu großem Wohlstand. Im Zug der Reformation kam es nach Martin Luthers Thesenanschlag an der Schlosskirche in Wittenberg zu einer Zerrüttung innerhalb der Bevölkerung. Viele Bürger wandten sich dem Protestantismus zu und wurden bald vom Landesvater aufgefordert, sich entweder wieder zum Katholizismus zu bekehren oder Salzburg zu verlassen. Wer hartnäckig der Luther-Religion treu blieb, wurde bis 1590 des Landes verwiesen. Diese autoritäre Vorgehensweise brachte dem Erzbischof scharfe Kritik von Seiten der Bevölkerung ein. Schließlich belagerten aufständische Knappen und Bauern im Jahr 1525 die Festung Hohensalzburg, in der sich Keutschachs Nachfolger Erzbischof Matthäus Lang von Wellenburg verschanzt hatte. Erst mit Hilfe von erkauften Truppen des Schwäbischen Bundes konnten die Aufständischen zum Rückzug gezwungen werden. Durch den Salz- und Goldabbau und den Handel damit zählte das Erzbistum um 1600 zu den reichsten Fürstentümern des Heiligen Römischen Reichs. Wichtige Voraussetzungen dafür waren die Verbindung nach Venedig über die Tauernstraße, der Verkehrsweg in den süddeutschen Raum und auch die schiffbare Salzach. Die Straße von Gnigl in Richtung Linz und Salzkammergut war die Transportroute für das steirische Eisen.1587 wurde Wolf Dietrich von Raitenau Fürsterzbischof und begann mit Freude und Eifer, die Altstadt – nach dem Vorbild Roms – neu zu gestalten. Gemeinsam mit Vincenzo Scamozzi ging er daran, den mittelalterlichen Baubestand abzureißen und durch neue Gebäude zu ersetzen oder sie zumindest teilweise zu barockisieren. Auf der Altstadtseite und auch vor der Stadtmauer, am Gries, entstanden neue Straßenzüge, am rechten Salzachufer auch das Lustschloss Abtenau (Mirabell). Nach dem Brand des spätromanischen Doms im Jahr 1598 setzten die Planungen für einen Neubau ein, das mächtige neues Gotteshaus entstand allerdings erst unter Wolf Dietrichs Nachfolger Fürsterzbischof Markus Sittikus, dem Erbauer des Lustschlosses Hellbrunn. Der Dom gilt bis heute als der bedeutendste barocke Kirchenbau nördlich der Alpen. Dass er fertiggestellt werden konnte und in den damals unruhigen Zeiten keinen Schaden erlitt, ist u. a. dem folgenden Fürsterzbischof Paris von Lodron zu verdanken, dem es gelang, Salzburg durch kluge Neutralitätspolitik aus dem Dreißigjährigen Krieg (1618–1648) herauszuhalten. Nichtsdestotrotz wurde es zu einer der am besten befestigten Städte Europas ausgebaut (s. Beitrag Befestigungen der Stadt Salzburg). Entscheidend für die weitere architektonische und künstlerische Prägung der Stadt war die Persönlichkeit des nächsten Fürsterzbischofs Johann Ernst Thun, der Johann Bernhard Fischer von Erlach nach Salzburg berief. Unter Erzbischof Hieronymus Franz Josef Colloredo von Wallsee und Mels entwickelte sich Salzburg in den Jahren 1772 bis 1800 zu einem kulturellen Mittelpunkt der Spätaufklärung, in dem Wissenschaft und Künste eine Blütezeit erlebten.Die von Martin Luther initiierte Bewegung der Reformation fand ab den 1520er-Jahren zahlreiche Anhänger unter der Salzburger Bevölkerung. Fürsterzbischof Matthäus Lang (1519–1540) verbot den Protestantismus und kriminalisierte seine Anhänger. Seine Nachfolger Michael von Kuenburg, Johann Jakob von Kuen-Belasy, Georg von Kuenburg, Wolf Dietrich von Raitenau und Markus Sittikus führten im Rahmen der Gegenreformation Maßnahmen gegen die Protestanten und zur Rekatholisierung ein. Wolf Dietrich verwies sie im Jahr 1588 aus dem Erzbistum, hatte aber nur in der Stadt durchschlagenden Erfolg. Salzburg wurde ein Zentrum der Gegenreformation, in dem als sichtbare Zeichen des blühenden Katholizismus Klöster und ein Priesterseminar errichtet sowie zahlreiche Barockkirchen gebaut wurden. Ein Großteil der Bevölkerung war damals in Laienbruderschaften zusammengeschlossen. Wer sich dem Protestantismus zugewandt hatte und nicht mehr zum katholischen Glauben zurückkehren wollte, wurde spätestens 1732 von Fürsterzbischof Leopold Anton von Firmian gezwungen, das Land zu verlassen und sich in die Emigration zu begeben (Salzburger Exulanten). Ein unrühmliches Kapitel Kulturgeschichte war in den Jahren zwischen 1675 und 1690 geschrieben worden. In dieser Zeit fanden in Salzburg die Zauberbubenprozesse statt, in deren Folge über 150 Personen wegen angeblicher Hexerei hingerichtet wurden. Ein Großteil von ihnen waren Kinder und Jugendliche. === Teil Österreichs === ==== 1800 bis 1900 ==== Im Verlauf des Zweiten Koalitionskriegs endete die geistliche Herrschaft in Salzburg, im Jahr 1800 begann die erste Franzosenzeit. Der letzte Fürsterzbischof Graf Hieronimus Colloredo floh 1800 nach Wien und dankte als Landesfürst ab. Salzburg fiel als Kurfürstentum an den als Großherzog von Toskana abgesetzten und des Landes verwiesenen Ferdinand IV. Habsburg-Lothringen (bis dahin bestand die Sekundogenitur, der zufolge der zweitgeborene Sohn des Kaisers Großherzog von Toskana wurde). 1805 fiel Salzburg gemeinsam mit Berchtesgaden an das neugegründete Kaisertum Österreich, kam 1809 unter französische Verwaltung, 1810 an das Königreich Bayern und 1816 mit dem Vertrag von München – als Kreisamt des Landes Oberösterreich – endgültig an Österreich. Im Jahr 1850 wurde das Land Salzburg ein selbständiges Kronland, die Stadt 1861 Sitz einer Landesregierung. In dieser Frühzeit der neuen Landesgeschichte verirrten sich nur wenige Kurgäste, Maler und Literaten nach Salzburg. Im Laufe des Jahrhunderts besuchten immer mehr Touristen aus aller Welt Salzburg. Am 30. April des Jahres 1818 brach am rechten Salzachufer ein Brand aus, der vier Tage wütete und 78 Wohnhäuser sowie Schloss Mirabell beschädigte. Abgesehen vom Wiederaufbau nach der Brandkatastrophe stagnierte die Bautätigkeit in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. 1852 begann man, die Ufer der Salzach zu regulieren, acht Jahre später riss man die Stadtbefestigungen ab. Das dabei gewonnene Baumaterial wurde für die neue Salzachbeschlachtung verwendet. Im selben Jahr fand die Eröffnung der Bahnlinien Wien–Salzburg und Salzburg–München statt, die Befestigung wurde geschleift und das frei gewordene Gebiet zwischen Schloss Mirabell und dem Kapuzinerberg fiel der Stadtgemeinde zu. Dort, aber auch nördlich der Bahnlinie und an der Südseite des Mönchsbergs entstanden bis zum Anfang des 20. Jahrhunderts moderne Viertel. Die Stadt wuchs; Handel und Gewerbe blühten auf. ==== 1901 bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs ==== Das Ende des Ersten Weltkriegs brachte auch für Salzburg eine Zeit des Hungers und Notstands, die Wirtschaft erholte sich nur langsam. Im Zusammenhang damit wurde ein kommunales Wohnbauprojekt gegründet, und bald begann man, in der Elisabeth-Vorstadt und in Lehen Wohnbauanlagen zu errichten. Während des Krieges war im Jahr 1917 die Festspielgemeinde ins Leben gerufen worden. Ab 1925 wurde der ehemalige Hofmarstall in mehreren Etappen zum Festspielbezirk umgebaut. Mit den seit den frühen 1920er-Jahren regelmäßig stattfindenden Festspielen begründete Salzburg seinen Weltruhm als Kulturstadt. In der Landeshauptstadt stimmten im Jahr 1919 13,95 % der Wahlberechtigten für die Deutsche Nationalsozialistische Arbeiterpartei (DNSAP); Hitler besuchte die Stadt öfters, etwa bei einer Tagung seiner Partei in Salzburg im Jahr 1920 oder am 14. August 1923, als er in der Felsenreitschule vor hunderten Sympathisanten aus dem Kreis österreichischer Nationalsozialisten sprach. Zwischen 1935 und 1939 wurden verschiedene Nachbarorte eingemeindet. Nach dem „Anschluss“ an das Deutsche Reich im März 1938 kam es während der Zeit des NS-Regimes zu Verhaftungen und Deportationen politischer Gegner sowie von Juden und Mitgliedern anderer Minderheiten. Kriegsgefangene erhielten das Wirtschaftsleben aufrecht. Bei Luftangriffen der US Army Air Forces in den Jahren 1944/45 beschädigten Fliegerbomben große Teile der Stadt. Um weiteres Blutvergießen und um Bombardements zu vermeiden, übergab Oberst Hans Lepperdinger entgegen den Befehlen die Stadt am 4. Mai 1945 kampflos an Truppen der US-Armee. Nach Kriegsende wurde Salzburg Sitz des US-Oberkommandos im besetzten Österreich. Die durch Bombentreffer zerstörte Kuppel des Salzburger Doms, ein Teil des Neugebäudes und des Bürgerspitals wurden nach Kriegsende rekonstruierend wiederhergestellt. Aber auch die zerstörten Bürgerhäuser im Kaiviertel und am Gries wurden wieder aufgebaut. In den ersten Nachkriegsjahren befanden sich viele Flüchtlinge in der Stadt. Die Einwohnerzahl stieg von 66.000 vor 1938 auf 129.000 im Jahr 1971. Folglich setzte eine intensive Bautätigkeitein ein, die bis heute anhält und zu neuen Stadtteile beiträgt. 1962 wurde die 1810 bis auf die theologische Fakultät aufgelöste Universität wiedergegründet. === Entwicklung der Stadt Salzburg zwischen 1800 und 2010, dargestellt als Zeitreihe von je 30 Jahren === Detailscharfe historische Pläne der Stadt Die Grafik rechts unten zeigt die zunehmende Entkoppelung von bebauter Fläche und der jeweiligen Zahl der Einwohner nach etwa 1970. Trotz einer beinahe gleichbleibenden Einwohnerzahl wächst der Flächenbedarf für Neubauten (auch) in der Stadt Salzburg weiter stark an. (Daten: jeweilige Summe der bebauten Flächen und Übernahme der jeweiligen Einwohnerzahlen) == Einwohner == === Bevölkerungsentwicklung === Um das Jahr 1550 hatte die Stadt Salzburg etwa 8.000 Einwohner. In der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts stieg die Bevölkerungszahl nur wenig, in der zweiten Hälfte stark an. Im Jahre 1795, kurz vor dem Ende der Herrschaft der Fürsterzbischöfe, wurden 16.837 Bewohner gezählt. Am Ende der napoleonischen Zeit, die von Besatzung, Plünderung und Erniedrigung geprägt war, war die Einwohnerzahl im Jahre 1817 auf 12.037 gesunken. Nach 1860 und nach Ende des Ersten Weltkriegs stieg sie rasch an. 1934 lebten bereits 40.232 Menschen im damals noch kleinen Stadtgebiet.Mit den Eingemeindungen der Jahre 1935 und 1939 stieg die Einwohnerzahl sprunghaft auf 77.170 an. Der Zweite Weltkrieg verursachte große Verluste unter den aus Salzburg stammenden Soldaten und in der Zivilbevölkerung. Durch die US-amerikanische Besatzung bis 1955 erhöhte sich die Einwohnerzahl nach dem Krieg. Mit etwa 15.000 Flüchtlingen, vor allem Volksdeutschen, die in Salzburg eine neue Heimat suchten, erhöhte sich bis 1947 die Einwohnerzahl auf 99.244. Der folgende Wirtschaftsaufschwung brachte bis 1970 wiederum große Bevölkerungszuwächse. Während zwischen 1979 und 1990 die Einwohnerzahl etwa gleich blieb, wuchs sie in den folgenden 18 Jahren um weitere 12.000 an.Im Ballungsraum Salzburg leben aktuell rund 367.000 Menschen (Stand 2019). Der Einwohnerstand betrug am 1. Jänner 2023 156.619 Einwohner. === Bevölkerungsstruktur === Die durchschnittliche Kinderzahl der im Jahr 2007 ansässigen 36.396 Familien betrug 0,97. Trotz des erwarteten Zuzugs von Personen aus dem Stadtumfeld und von Migranten ging die Stadtplanung zu diesem Zeitpunkt davon aus, dass die Bevölkerungszahl mittelfristig stagnieren oder sogar sinken werde.77 % der Bewohner der Stadt Salzburg im Jahr 2001 wurden in Österreich geboren 4,1 % in Bosnien und Herzegowina 4,0 % in Serbien oder Montenegro 3,9 % in Deutschland 2,9 % in den übrigen EU-Staaten 2,0 % in der TürkeiDen höchsten Anteil der außerhalb Österreichs Geborenen hat mit 36,9 % die Elisabeth-Vorstadt, in Schallmoos wurden 35,0 % der Bewohner nicht in Österreich geboren. Einen hoher Anteil an Nichtösterreichern lebt auch in Lehen, im Süden dieses Stadtteils bekennen sich 15 % der Einwohner zum Islam. Den niedrigsten Ausländeranteil hat der Stadtteil Leopoldskron-Moos.Im Jahr 2006 waren 13 % der Bevölkerung der Stadt unter 15 Jahren alt, 69 % zwischen 15 und 64 Jahren, 18 % älter als 64 Jahre. Der Anteil von Kindern und Jugendlichen unter 15 war im Äußeren Maxglan und in Maxglan-West am höchsten (21 %), jener der Senioren in Riedenburg (22 %). Den größten Anteil an Erwachsenen im Erwerbstätigenalter findet man in der Rechten Altstadt (80 %). === Religionsbekenntnisse === Salzburg ist durch die jahrhundertelange Herrschaft der katholischen Fürsterzbischöfe geprägt, bis heute hat die katholische Kirche die Glaubensmehrheit. Bis zur Auflösung des Fürsterzbistums Salzburg im Jahr 1800 (bzw. 1803) bildeten Kirche und Staat eine Einheit. Die Schwierigkeiten, die die Mitglieder der evangelischen (siehe Salzburger Exulanten) und der jüdischen Gemeinde sowie die der Täufer hatten, zeugen davon. Die Kirchtürme der katholischen Kirchen beherrschen das Bild der Stadt, die bis ins 19. Jahrhundert Das deutsche Rom genannt wurde.In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts kam es, bedingt durch Krieg, Vertreibung und Migration, zu einer größeren Vielfalt an Religionen. 2001 waren die Katholiken mit 55,4 % der Stadtbevölkerung die mit Abstand größte kirchliche Gemeinschaft. Seit 2001 hat die Anzahl der Katholiken (wie auch in anderen Teilen Österreich) abgenommen. Die zweitgrößte Gruppe (17,1 %) waren die Bewohner ohne religiöse Bekenntnisse, bei weiteren 6,5 % waren die Bekenntnisse unbekannt.Die Muslime waren mit 6,8 % der Stadtbevölkerung die viertgrößte Gruppe. An fünfter Stelle befanden sich mit 6,7 % die Bekenner der Evangelischen Kirche A.B. (Augsburger Bekenntnis) in Österreich und die der Evangelischen Kirche H.B. (Helvetisches Bekenntnis) in Österreich. Diese Glaubensgemeinschaften sind vor allem in drei Pfarrgemeinden mit den zugehörigen Kirchen in der Neustadt, in Gneis und in Taxham präsent. Zu den Gemeinschaften des orthodoxen Christentums (Serbisch-Orthodoxe Kirche, Rumänisch-Orthodoxe Kirche und Russisch-Orthodoxe Kirche) bekannten sich 5,3 % der Bevölkerung. Die russisch-orthodoxe Kirche Maria Schutz steht in Lehen, die rumänisch-orthodoxe Kirche befindet sich im Osten von Schallmoos. Zu den Glaubensgemeinschaften der Altkatholiken, der Methodisten, der Neuapostolischen Kirche, der Mormonen-Gemeinde, der Zeugen Jehovas, des Bundes evangelikaler Gemeinden, der Christengemeinschaft und der Freien Christengemeinde-Pfingstgemeinde bekannten sich insgesamt 1,6 % der Stadtbevölkerung. Daneben bestehen Gemeinden der Mennoniten (Friedensgemeinde) und der Baptisten.Die katholische Kirche steht mit den orthodoxen Kirchen, der evangelischen Kirche, der altkatholischen Kirche und den Methodisten in ökumenischen Arbeitskreisen im Dialog; regelmäßig werden gemeinsame Gottesdienste gefeiert. Zu weiteren Religionsgemeinschaften, wie der buddhistischen Gemeinde, den Bahai, der hinduistischen Gemeinschaft und der Gemeinschaft der Sikhs bekannten sich insgesamt 0,7 % der Stadtbevölkerung. In der Salzburger Synagoge der Israelitischen Kultusgemeinde finden mehrmals im Jahr Gottesdienste statt. Neben den drei Moscheen der Muslime in Schallmoos, Itzling und der Neustadt gibt es einen Gurdwara der Sikhs in Schallmoos. Buddhistische Gebetsräume befinden sich in der rechten Altstadt, in Lehen und in Liefering. == Politik == === Kommunalpolitik nach 1880 === In der Zeit vom Erwachen der politischen Kräfte bis zum Ende der Monarchie war die Stadt mit steigender Tendenz antiliberal geprägt. Sie besaß starke klerikale und deutsch-nationale Kräfte, die vielfach zersplittert und untereinander verfeindet waren. Robert Preußler war 1914 der erste Sozialdemokrat im Salzburger Gemeinderat. Überhöhte Ausgaben führten um 1890 beinahe zum finanziellen Ruin der Stadt. Mit dem Zerfall der Monarchie endete die Abhängigkeit des Gemeinderats von der kaiserlichen Zentralmacht. Die Zahl der Gemeinderatsmitglieder wurde von 30 auf 40 erhöht. Christlichsoziale, Sozialdemokraten und Deutschnationale besaßen in der Folge einen ähnlich hohen Stimmenanteil. Während der autoritären Zeit des Ständestaates und im Nationalsozialismus wurde Salzburg zwar kommunal verwaltet, besaß aber kaum politische Freiheiten und war weisungsgebunden. === Kommunalpolitik nach 1945 === Die erste Nachkriegszeit war von einer engen Zusammenarbeit der SPÖ (von 1945 bis 1991 Sozialistische Partei Österreichs, seit 1991 Sozialdemokratische Partei Österreichs) mit ihrem Bürgermeister Anton Neumayr, der ÖVP und der KPÖ geprägt. Von 1957 bis 1970 regierte der populäre Bürgermeister Alfred Bäck Salzburg. 1972 traten erstmals Bürgerinitiativen (zunächst erfolglos) zur Wahl an. Auslöser zur Gründung war die geplante Verbauung von Freisaal und von Teilen des Landschaftsgartens der Hellbrunner Allee. In einem Kompromiss wurde der weitgehende Erhalt des Grünraumes und die Errichtung der Universität Freisaal vorgeschlagen. Neue Konflikte zwischen Wohnbau und Landschaftsschutz, die bis heute andauern, brachte die im Jahr 1976 geplante Erweiterung des Straßennetzes und die stete Zunahme des (sozialen) Wohnbaus. „Was jahrelang als Gemeinwohl gefeiert wurde – nämlich Menschen ein Dach über dem Kopf zu schaffen, entartete und wurde zum Krebsgeschwür der Stadtlandschaft“.1965 hatte der Kunsthistoriker Hans Sedlmayr auf die Demolierung und Aushöhlung der Altstadt hingewiesen. Der kulturbewusste Landeshauptmann Hans Lechner sorgte 1967, unterstützt durch von den Mitgliedern der Bürgerinitiativen, für einen ersten Ensembleschutz. 1980 erreichten die Bürgerinitiativen mit Schauspieler Herbert Fux an der Spitze, dem Maler Wilhelm Kaufmann und Richard Hörl, ein Mitbegründer der Bürgerliste, dass die Altstadt mit ihren zahlreichen historischen Gebäuden erhalten bleiben muss.Der stark zunehmende innerstädtische Verkehr war und ist ein ewiger Zankapfel innerhalb der Stadtpolitik. Die Innenstadtgenossenschaft bekämpfte ab 1960 die Pläne zur Errichtung einer Fußgängerzone in der Altstadt und die „Abschnürung des Verkehrs“. Im Zug der Neuorientierung, wobei dem öffentlichen Verkehr der Vorrang eingeräumt wurde, was maßgeblich von der Bürgerliste initiiert wurde, errichtete man zwischen 1970 und 1994 in 22 Straßenzügen eigene Busspuren. - Seit 1997 ist Salzburg Teil des Weltkulturerbes der UNESCO. Seit 1999 wird der Bürgermeister der Stadt Salzburg direkt vom Volk gewählt. Bürgermeister war seitdem bis 20. September 2017 Heinz Schaden (SPÖ). Erster Stellvertreter blieb nach der Wahl 2009 Harald Preuner (ÖVP). Martin Panosch wurde zweiter Stellvertreter für die SPÖ, Claudia Schmidt (ÖVP) neue Stadträtin, Johann Padutsch (Bürgerliste) blieb Stadtrat. Am 20. September 2017 übernahm der bisher erste stellvertretende Bürgermeister Harald Preuner das Amt des Bürgermeisters, Neuwahlen wurden für den 26. November 2017 festgelegt. Preuner erreichte bei der Bürgermeisterwahl mit 35,0 % die meisten Stimmen, aber nicht die nötigen 50 Prozent. In der Stichwahl am 10. Dezember 2017 setzte er sich mit 50,32 % (294 Stimmen Vorsprung) gegen Bernhard Auinger (SPÖ) durch. === Stadtverwaltung === Der Gemeinderat setzt sich aus 40 Mitgliedern zusammen. Neben dem regierenden Bürgermeister besteht die Stadtregierung aus zwei Bürgermeister-Stellvertretern und zwei Stadträten, die gemäß der Stimmenstärke der jeweiligen Parteien (Proporzsystem) ernannt werden. Der Stadtsenat ist als ständiger Ausschuss des Gemeinderates vor allem für Rechts- und Finanzfragen zuständig und besteht aus zwölf Mitgliedern. Innerhalb des Stadtrechts werden Bürgerbegehren und Bürgerbefragungen auf Antrag des Gemeinderates abgehandelt. * „FPÖ“ einschließlich ihrer Vorläuferin „WDU“; ** ABP: Österreichische Autofahrer- und Bürgerinteressenpartei, LM: Liste Masopust, TAZL: Liste Tazl & BZÖ, SALZ: Bürger für Salzburg === E-Government === Über das E-Government-Portal der Stadt Salzburg können Bürger Anträge online ausfüllen und elektronisch an die zuständige Behörde schicken. Diese Form der Antragsstellung vereinfacht den Behördenweg, und das anliegende Verfahren kann schneller erledigt werden. Die Formularlösungen decken u. a. die Bereiche „Bauen und Wohnen“, „Kulturförderungen“ sowie „Natur & Umwelt“ ab. === Städtepartnerschaften === Die erste Städtepartnerschaft wurde 1964 mit Reims, der alten Hauptstadt der Champagne, geschlossen. Diese Stadt war und ist wie Salzburg ein wichtiges geistiges und geistliches Zentrum innerhalb Europas. Der Erzbischof von Reims ist der Chef der Bischöfe von Frankreich, so wie der Bischof von Salzburg der Primas Germaniae (der Erste/Hervorragendste) auf deutschsprachigem Gebiet ist. 1967 schloss Salzburg eine Städtepartnerschaft mit Atlanta, die aber nicht mehr besteht. Im Jahr 1973 folgte Verona, das ebenfalls über eine Weltkulturerbe-Altstadt verfügt. Die Städtepartnerschaft Salzburg-León (Nicaragua) besteht seit 1984. Salzburger Entwicklungsprojekte unterstützen diese Stadt ebenso wie seit 1984 die Partnerregion Singida in Tansania. Singida liegt abseits des Tourismus im Zentrum von Tansania und ist besonders auf Hilfe besonders. Busseto in Italien ist seit 1988 ein Partner und in seiner musikalischen Tradition Salzburg besonders verbunden. Eine weitere Partnerschaft besteht seit 1989 mit Vilnius in Litauen. Dresden weist seit 1991 auf den kulturellen Austausch Salzburgs mit dem Osten Deutschlands hin. Kawasaki in Japan wurde 1992 als Partnerstadt aufgenommen. Meran in Südtirol ist seit 2000 Partnerstadt. Ebenso existiert seit 2004 eine Städtefreundschaft mit Shanghai. === Wappen === Das Wappen zeigt auf rotem Hintergrund eine gezinnte silberne Stadtmauer, deren Seitenteile perspektivisch zurücktreten und in deren Mitte sich ein Stadttor mit offenen Torflügeln und hochgezogenem Fallgatter befindet. Hinter der Stadtmauer stehen drei silberne Türme - ein sechseckiger mit goldenem Dach und zwei schmälere, gezinnte Rundtürme mit etwas niedrigeren goldenen Spitzdächern. Die älteste erhaltene Darstellung des Salzburger Stadtwappens stammt aus dem Jahr 1249 und befand sich auf einem Stadtsiegel. Man hat es in dieser Form bis ins 15. Jahrhundert weiterverwendet. Das heutige Stadtwappen ist eine Weiterentwicklung des spätgotischen Typus. Wurde bis vor etlichen Jahren ein kleinteiliges, detailreiches Wappen verwendet, so hat sich später ein stark stilisiertes eingeführt, das bis heute verwendet wird. == Bauwerke == === Überblick === Die gesamte bebaute Altstadt, die Neustadt, Mülln, der Mönchs- und der Kapuzinerberg sowie Teile von Nonntal wurden am 5. Dezember 1996 von der UNESCO in die Liste des Weltkulturerbes aufgenommen. === Kirchen und Klöster === Das älteste bestehende Kloster im deutschen Sprachraum ist Stift Sankt Peter mit der berühmten Stiftskirche. Seit 696 leben, beten und arbeiten hier Mönche. Die Benediktinen-Abtei Nonnberg mit der der Himmelfahrt Mariens geweihten Stiftskirche Nonnberg ist das weltweit älteste ununterbrochen bestehende Frauenkloster. Es wurde zwischen 712 und 715 von Rupert von Salzburg gegründet. Die Franziskanerkirche Unsere Liebe Frau ist vermutlich die älteste Kirche der Stadt. Sie wurde wahrscheinlich sogar vor dem ersten Domgebäude errichtet. Zunächst gehörte sie zum Benediktinerstift St. Peter, zwischen 1130 und 1583 war sie die Klosterkirche der Petersfrauen, nach 1139 bis 1583 war sie auch die Pfarrkirche der Stadt. 1592 übergab sie Fürsterzbischof Wolf Dietrich von Raitenau den Franziskanern. Die Architektur ist romanisch und gotisch, der Altarraum mit dem Hochaltar von Johann Bernhard Fischer von Erlach ist von Chorkapellen umgeben, die im 17. und 18. Jahrhundert entstanden. Ebenso wurde der Innenraum der gotischen Müllner Pfarrkirche in den 1730er-Jahren barockisiert. Eine Gründung von Admonter Mönchen ist die Bürgerspitalkirche St. Blasius. Sie bauten ab 1183 auf eigenem Grund nahe dem Gstättentor eine erste Kapelle, die sie ihrem Schutzpatron, dem hl. Blasius widmeten. Die dem hl. Georg geweihte Festungskirche ist laut Bauinschrift mit den Jahreszahlen 1501 resp. 1502 bezeichnet. Die erste Barockkirche nördlich der Alpen, der Salzburger Dom, wurde zwischen 1614 und 1628 auf dem Platz eines mittelalterlichen, mehrfach erneuerten und umgebauten Vorgängerbaus errichtet. Zu den zahlreichen barocken Kirchen Salzburgs zählen die dem hl. Maximilian vom Pongau und dem hl. Kajetan geweihte Kajetanerkirche, die dem Stift St Peter gehörende Michaelskirche nahe der Residenz, die im unteren Teil des Kapuzingerbergs liegende Imberg- oder Johanneskirche, die Johannsspitalkirche, die Erhardkirche im Nonntal und die Kollegienkirche. Zu Unserer Lieben Frau, die ein Hauptwerk des Barockbaumeisters Johann Bernhard Fischer von Erlach ist. Nach seinen Plänen entstanden in Salzburg auch die Dreifaltigkeitskirche und die ehemals den Ursulinen gehörende Markuskirche. === Festung Hohensalzburg === Das Wahrzeichen der Stadt, die auf einem steilen Felskegel gelegene Burg, beherrscht nicht nur das Stadtbild, sondern kann aus vielen Himmelsrichtungen weithin gesehen werden. Die Festung wurde ab dem Jahr 1077 im Investiturstreit vom papsttreuen Fürsterzbischof Gebhard als zentrale und wichtigste landesfürstliche Burg des Erzstiftes Salzburg errichtet. Aus dieser Zeit stammen auch die ältesten erhaltenen Teile der Architektur. Die Ringmauer um die Burg wurde in der Zeit der beginnenden Bauernunruhen und der ersten Bedrohung durch die Türken 1465–1485 verstärkt, die Anlage zwischen 1480 und 1484 am Palas umgebaut. Fürsterzbischof Leonhard von Keutschach ließ die Festung in der Zeit von 1495 bis 1519 wesentlich erweitern und stattete die Räume prunkvoll aus. Unter ihm wurde auch der Reißzug, die weltweit älteste erhaltene Standseilbahn, errichtet. Während der Regierungszeit Fürsterzbischofs Kardinal Matthäus Lang von Wellenburg fand während der Bauernkriege im Jahr 1525 die einzige, vergebliche Belagerung der Festung statt. Fürsterzbischof Paris Lodron veranlasste den Anbau westlich vorgelagerter Artillerie-Basteien (wie die Hasengrabentorbastei, die Hasengrabenbasteien, die beiden Nonnbergbasteien, sowie die sogenannte Katze) und ließ eine Verbindung zu anderen Wehrbauten auf dem Mönchsberg herstellen. Die letzte Erweiterung fand 1681 mit dem Bau der Kuenburgbastei statt. Die Festung ist mit über 7.000 m², einschließlich der Basteien umfasst sie über 14.000 m² bebaute Fläche, eine der größten Burgen innerhalb Europas. Auf dem Mönchsberg befinden sich noch andere, eigenständige Schlösschen, einige davon in Privatbesitz, wie das Freyschlössl mit dem Roten Turm, aber auch die Edmundsburg, die der Universität Salzburg gehört. === Schlösser und andere bedeutende Profanbauten === Zwischen Mittelalter und Barock entstanden in und um die Stadt Salzburg mehrere Residenzen, die die Fürsterzbischöfe errichten ließen. Die älteste ist Schloss Freisaal. Sie wurde unter Administrator Prinz Ernst von Bayern im 16. Jahrhundert auf dem Platz eines schon 1392 erwähnten Ansitzes als Wasserschloss erbaut. Die Alte Residenz ist eine mehrere Höfe umschließenden Palastanlage im Zentrum der Stadt. Sie diente den reichsunmittelbaren Fürsten und Erzbischöfen als repräsentativer Wohnsitz. Ab dem 19. Jahrhundert bis zum Ende des Ersten Weltkriegs wohnten dort Mitglieder der Kaiserfamilie. Das bestehende Gebäude wurde unter Einbeziehung mittelalterlichem Mauerwerks vom 16. bis zum 18. Jahrhundert neu errichtet. Die Neue Residenz, auch Neugebäude genannt, ist eine Palastanlage des 17. Jahrhunderts. Fürsterzbischof Wolf Dietrich hatte sie als Gästehaus für durchreisende Fürsten errichtet, möglicherweise wollte er sie sogar als neue ständige Residenz verwenden. In ihr sind das Glockenspiel und das Salzburg Museum untergebracht. Ein anderes bedeutendes Gebäude der Innenstadt ist das Rathaus mit Turm und Rokoko-Fassade. Es wurde zu Beginn des 15. Jahrhunderts von der Stadt erworben, 1616-1618 vollständig umgebaut und erhielt 1772 seine Außengestalt.Die Alte Universität ist ebenfalls ein Baukomplex des 17. Jahrhunderts, das ursprünglich im nordwestlichen Flügel ein von Fürsterzbischof Markus Sittikus gegründetes Gymnasium mit Sacellum, einer dem Hl Karl Borromäus geweihten Hauskapelle, beherbergte. 1620 wurde die Anlage zu einer Benediktiner-Universität umgewandelt, ab 1630 weitläufig umgebaut. Südlich, der Alten Universität gegenüber, stehen die Festspielhäuser, die früher den Fürsterzbischöfen als Hofmarstall dienten. Sie bestehen aus der ehemaligen Sommer- (Felsenreitschule) und Winterreitschule. Westlich davon befindet sich, durch eine Fahrbahn davon getrennt, die Pferdeschwemme. Diese Straße, die durch das Sigmundstor oder Neutor führt, verbindet die Altstadt mit dem Stadtteil Riedenburg. Es handelt sich dabei um den ältesten Straßentunnel Österreichs, der im 18. Jahrhundert aus dem Fels gehauen wurde. Wolf Dietrich von Raitenau ließ ab 1606 das Gartenschloss Mirabell für Salome Alt errichten, das er ihr zu Ehren Schloss Altenau nannte. Unter Markus Sittikus von Hohenems entstand in den Jahren 1613–1615 außerhalb der Stadt die Schlossanlage Hellbrunn, die mit ihr durch die Hellbrunner Allee verbunden ist. Der Lustgarten ist eine manieristische Gartenanlage mit dekorativen Architekturen, Teichen, Brunnen, Grotten, Skulpturen und Wasserspielen. Auf dem Hellbrunner Berg stehen das Monatsschlössl und das aus dem Fels herausgehauene Steintheater. Der Park mit Schloss und Nebengebäuden, befinden sich in der Nordwestecke der Anlage, am Fuß des Bergs. Die Anlage ist beinahe vollständig von einer Mauer umgeben. Die ehemalige Sommerresidenz der Fürsterzbischöfe ist über eine Zufahrt in Verlängerung einer von der Salzach herführenden Allee symmetrisch angelegt. Die große Gartenachse ist auf Schloss Goldenstein ausgerichtet. Auch Schloss Anif wurde über eine Landschaftsachse einbezogen. Entlang der Hellbrunner Allee liegen kleine, bald nach der Fertigstellung von Schloss Hellbrunn entstandene Schlösschen, die den Landschaftsgarten gliedern. Die Kayserburg erinnert an den Erbauer Hauptmann Kayser, die Frohnburg an Freifrau von Frohberg. Schloss Herrnau hat seinen Namen von den Wiesen und Wäldern der Herren-Au. Der Name des Lasserhofes leitet sich vom Geschlecht der Lasser ab. Schloss Emslieb und Schloss Emsburg im Süden der Allee erinnern an Fürsterzbischof Markus Sittikus von Hohenems., einer der Miterbauer der Residenzen. Fürsterzbischof Johann Ernst von Thun beauftragte Johann Bernhard Fischer von Erlach mit dem Bau von Schloss Kleßheim (im Nordwesten der Stadt), den Leopold Anton von Firmian weiterführen ließ. Dessen Nachfolger als Fürsterzbischof, Reichsfürst Franz Anton von Harrach, ließ die Arbeiten an Schloss Kleßheim unterbrechen und gab Johann Lucas von Hildebrandt den Auftrag zum Ausbau von Mirabell zu einem stattlichen Barockschloss. Fürsterzbischof Leopold Anton von Firmian ließ Schloss Leopoldskron mit dem großen Schlossweiher für sich und seinen Neffen Laktanz erbauen.Schloss Aigen, seit dem Mittelalter ein Herrensitz am Fuß des Gaisbergs, war im frühen 15. Jahrhundert im Besitz des Domkapitels, danach wechselten die Eigentümer rasch. Kleine Ansitze auf dem Mönchsberg sind das den Pallottinern gehörende Johannesschlössl und das Marketenderschlössl. Zu den schlossartigen Wehrbauten gehören das von Paris Lodron erbaute Franziskischlössl auf dem Kapuzinerberg und Schloss Neuhaus auf dem Kühberg. === Plätze und Gassen der Altstadt === Obwohl die Römer die Fläche der bis heute bestehenden mittelalterlichen und neuzeitlichen Altstadt unbesiedelt ließen, deckt sich der Verlauf der drei wichtigsten römischen Landstraßen innerhalb der Stadtgrenzen mit denen der Getreidegasse, der Linzer Gasse und der Steingasse. Die zentral gelegene Getreidegasse, die Hauptstraße der Bürgerstadt, spielt seit jeher eine wichtige Rolle für den Handel. In ihr befindet sich auch das Geburtshaus von Wolfgang Amadeus Mozart. Weitere wichtige Straßenzüge und Plätze der Altstadt sind der rechteckige, der Domfassade vorgelagerte Domplatz, der an allen Seiten geschlossen, aber durch Arkaden mit dem Residenzplatz, dem Kapitelplatz und der Franziskanergasse verbunden ist. In seiner Mitte befindet sich die 1766–1771 errichtete Mariensäule.Auf dem Mozartplatz mit dem Mozartdenkmal befindet sich auch das Zaun des Anstoßes genannte Denkmal. Es soll daran erinnern, dass die Bevölkerung Bayerns und Salzburgs durch massive Proteste den Bau einer Wiederaufarbeitungsanlage für abgebrannte Brennstäbe aus Kernreaktoren in Wackersdorf verhindert hat. Der Alte Markt ist ein rechteckiger Platz, der sich im Süden zur Residenz öffnet. Die heutige Anlage ergab sich aus einem im 13. Jahrhundert angelegten Platz, der später teilweise verbaut wurde. Der in seiner Mitte stehende Markt- oder Florianibrunnen wurde 1488 nach Fertigstellung der ersten städtischen Wasserleitung anstelle eines Ziehbrunnens errichtet. Der kleine, unregelmäßige, sich zum Mozartplatz öffnende Waagplatz ist aus dem Alten Markt, dem ältesten Marktplatz der Stadt, hervorgegangen. Er verfügt über stattliche fünfgeschossige im Kern mittelalterliche Häuser. Die Sigmund-Haffner-Gasse verbindet den Kranzlmarkt mit der Franziskanerkirche nach Einmündung der Churfürststraße. Sie wurde durch den Umbau der Residenz im 18. Jahrhundert trichterförmig erweitert. Der angrenzende kleine Rathausplatz zwischen Getreidegasse und Kranzlmarkt öffnet sich zur Salzach. Die Platzwände werden von der Seitenfassade des Rathauses und von hohen, ihn umgebenden Bürgerhäusern gebildet. Die Judengasse ist eine enge Gasse zwischen hohen 5- bis 6-stöckigen Häuserfronten in der Verlängerung der Achse Getreidegasse-Kranzlmarkt. Die schmale, leicht gewundene Herrengasse am Fuß des Festungsberges verbindet den Kapitelplatz mit der Kaigasse. Sie ist ausschließlich auf der Bergseite verbaut, wobei die Häuser im ersten Abschnitt frei stehen, ab Nummer 22 bilden sie eine geschlossene Zeile. Die Kaigasse ist der Hauptstraßenzug der Altstadt östlich des Domes. Sie ist aus mehreren in der Anlage mittelalterlichen Gassen zusammengesetzt. Die Krotachgasse verbindet die Kaigasse mit der Chiemseegasse. Sie endet beim Hauptportal des Chiemseehofs, einem Gebäudekomplex, in dem sich bis 1814 die Residenz der Bischöfe zu Chiemsee befand. Die nahe liegende Pfeifergasse ist eine schmale Gasse, die vom Mozartplatz in mehreren Krümmungen zum Kajetanerplatz führt. Wie in den meisten Straßenzügen dieses Viertels stammen die Bürgerhäuser im Kern aus Mittelalter und 16. sowie 17. Jahrhundert. Der Altbestand wurde jedoch durch Bombentreffer während des Zweiten Weltkriegs weitgehend dezimiert. An der österlichen Seite der Altstadt liegt die Griesgasse, eine breite, mit leichtem Knick gerade verlaufende Straße zwischen Staatsbrücke und Gstättengasse. Sie wurde in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts planmäßig außerhalb der Stadtmauer angelegt.Am rechten Salzachufer gehört die Steingasse zu den wichtigsten Straßenzügen. Sie ist eine langgezogene, enge und mehrfach gewundene Gasse entlang des Salzachufers und war ehemals Hauptverkehrsweg und Ausfallstraße in Richtung Süden. Ihren besonderen historischen Charme erhält sie durch die Anlage auf an- und absteigendem Terrain zwischen Kapuzinerberg und Salzach. Im ersten Abschnitt ist sie blockhaft geschlossen verbaut. Die schluchtartige Enge der Gasse wird nur durch kleine platzartige Ausweitungen und Durchgänge zur Salzach aufgelockert. Die Linzer Gasse, der Hauptstraßenzug in der rechtsufrigen Altstadt und Ausfallstraße in Richtung Nordosten, ist eine langgezogene Gasse, die vom Platzl an ansteigt und sich im äußeren Bereich krümmt. Sie verfügt über einen geschlossenen Bestand an im Baukern mittelalterlichen oder auf das 16. Jahrhundert zurückgehenden Bürgerhäusern. Sie sind sie teils auf tiefen Parzellen errichtet, haben auf der rechten Seite (stadtauswärts) häufig kleine Höfe und sich an die Felswand des Kapuzinerbergs anlehnende Hinterhäuser.Im Mai 2018 präsentierten die Mitarbeiter des Stadtarchivs eine Liste mit mehr als 60 Straßen und Plätzen mit nationalsozialistisch belasteten Namen. 46 tragen die Namen prominenter NSDAP-Mitglieder. Der Antrag auf Umbenennung ist im September 2021 im Gemeinderat mit einer knappen Mehrheit abgelehnt worden. === Friedhöfe === Salzburg verfügt über zwei große historische Friedhöfe, die kunst- und kulturhistorisch von großer Bedeutung sind. Der südlich und östlich der St Peter-Stiftskirche gelegene Petersfriedhof ist der älteste erhaltene Friedhof der Stadt. Die unregelmäßige Anlage befindet sich auf leicht ansteigendem Gelände und wird im Norden und Nordosten gegen die Mönchsbergwand durch Gruft-Arkaden abgeschlossen. Sie wurden von um 1600 bis gegen die Mitte des 17. Jahrhunderts errichtet. Der zweite historische Friedhof der Stadt ist der Sebastiansfriedhof. Er wurde zwischen 1595 und 1600 im Auftrag Fürsterzbischofs Wolf Dietrich von Raitenau nach dem Vorbild italienischer Campi Santi erbaut. Es handelt sich um eine annähernd quadratische Anlage, die auf allen vier Seiten von Pfeilerarkaden umgeben ist. In der Mitte des Friedhofs befindet sich die Gabrielskapelle (1597-1603), in der sich das Mausoleum Wolf Dietrichs befindet. Der größte Friedhof von Stadt und Land Salzburg ist der 1879 erbaute Kommunalfriedhof in Gneis. Hier befindet sich auch das bislang einzige Krematorium des Landes Salzburg (1931 errichtet). Der später erweiterte große Friedhof in Aigen wurde 1891 an der Stelle des kleinen Kirchhofes geweiht. Mehrmals erweitert wurde der aus dem Mittelalter stammende Friedhof in Maxglan. Etliche kleinere Friedhöfe befinden sich rund um die Vorstadtkirchen. Im idyllisch gelegenen Klosterfriedhof des Benediktinen-Frauenstifts Nonnberg werden seit Jahrhunderten verstorbene Ordensangehörige beigesetzt. Auf dem Soldatenfriedhof in Nonntal wurden zwischen 1803 und 1879 Salzburger gefallene, aber auch in Ruhestand gegangene verstorbene Soldaten des Erzherzog Rainer-Regiments bestattet. In Aigen befindet sich seit 1893 der Jüdische Friedhof, auf dem verstorbene Mitglieder der jüdischen Glaubensgemeinde beigesetzt werden. == Architektur == === Bauten aus der Zeit der Romanik und der Gotik === Die romanischen und gotischen Kirchen, Klosterbauten und Fachwerkhäuser prägten lange Zeit das Bild der mittelalterlichen Stadt, allen voran der Dom, dessen Erstbau im 7./8. Jahrhundert entstand. Nach einem Brand im Jahr 1598 und dem Einsturz des Mittelschiffgewölbes begann Fürsterzbischof Wolf Dietrich von Raitenau einen Neubau zu planen. Der barocke Dom entstand allerdings erst unter seinem Nachfolger; der mittelalterliche Vorgängerbau fiel ihm vollständig zum Opfer. Ein kleines Überbleibsel findet man noch in der Sigmund Haffner-Gasse Nr. 16: Vor der Durchfahrt des sogenannten Langenhofs steht ein romanischer Löwe aus der Mitte des 12. Jahrhunderts, der aus dem mittelalterlichen Dom stammt.Im Unterschied zum Dom ist das romanische Langhaus der Franziskanerkirche noch erhalten. Der spätgotische Chor wurde wahrscheinlich noch im ersten Viertel des 15. Jahrhunderts unter Meister Hans von Burghausen begonnen. Am Anlauf der Treppenbrüstung zur spätgotischen Kanzel steht ebenfalls ein romanischer Löwe (mit Krieger) aus dem 13. Jahrhundert. - Die Benediktinerinnen-Abtei Nonnberg befindet sich nordöstlich der Festung Hohensalzburg auf einer Terrasse des steil abfallenden Festungsberges. Die der Himmelfahrt Mariens geweihte Kirche stammt aus der Spätgotik. Sie entstand wie das Kloster nach einem Brand im Jahr 1423, wobei beim Neubau der Kirche der Grundriss des romanischen Vorgängerbaus beibehalten wurde. Aus der Romanik ist auch der Westturm erhalten, der in der ersten Hälfte des 12. Jahrhunderts gebaut wurde. - Die zum St Peter-Stift gehörende Margarethenkapelle inmitten des Petersfriedhofs ist einheitlicher spätgotischer Saalbau. Die dem Hl Georg geweihte Kirche der Festung Hohensalzburg mit steilem Satteldach und Spitzbogenportal wurde um 1500 unter Fürsterzbischof Leonhard von Keutschach errichtet. Auf ihn geht auch die spätgotische Ausstattung der im dritten Obergeschoß des inneren Schlosses befindlichen Fürstenzimmer mit der Goldenen Stube und den angrenzenden Räumen zurück. === Renaissance- und Barock-Bauten === Fürsterzbischof Wolf Dietrich von Raitenau, der in Rom studiert hatte und mit einem Papst und Bischöfen verwandt war, hatte, nachdem er zum Bischof von Salzburg ernannt wurde, nur ein Ziel: die Stadt architektonisch dem Zentrum der Christenheit anzupassen. Gemeinsam mit dem Architekten und Architekturtheoretiker Vincenzo Scamozzi begann er, diesen Plan zu verwirklichen. Nach einem Brand des alten Doms im Jahr 1598 und dem Einsturz des Mittelschiffgewölbes wurde der italienische Baumeister mit dem Neubau beauftragt. Seine Projekte aus den Jahren 1601–1607 waren allerdings so überdimensioniert, dass sie nicht zur Ausführung kamen. Der Baubeginn an einem kleineren Bau im Jahr 1611 wurde nach dem Sturz Wolf Dietrichs ein Jahr später gestoppt. Im Auftrag des folgenden Fürsterzbischofs Markus Sittikus entwarf Santino Solari Pläne für einen neuen Dom, der unter seiner Leitung zur Ausführung kam und der der erste frühbarocke Kirchenbau nördlich der Alpen war. Die Fürsterzbischöfe Markus Sittikus und Paris Lodron setzten den von Wolf Dietrich geplanten Umbau der Stadt zur fürstlichen Barockresidenz fort. Unter ihnen entstanden das Lustschloss Hellbrunn, die Fürstenresidenz in der Innenstadt, das Universitätsgebäude, der Festungsgürtel und etliche andere Bauwerke. Giovanni Antonio Daria leitete im Auftrag Fürsterzbischofs Guidobald von Thun vermutlich ab 1656 den Bau des Residenzbrunnens und die Neugestaltung des Domplatzes. Der aus Roveredo stammende Architekt Giovanni Gaspare Zuccalli wurde mit der Errichtung der Erhardkirche und der Kajetanerkirche im Süden der Altstadt betraut. Vollendet wurde die immer barocker werdende Stadt mit Bauten von Johann Bernhard Fischer von Erlach, der im Auftrag Fürsterzbischofs Graf Johann Ernst von Thun tätig war. Von ihm stammen u. a. die Fassade des Hofmarstalls (heute Festspielhaus an der Seite zum Neutor), die Dreifaltigkeitskirche am Makartplatz, die Universitäts- oder Kollegienkirche, die Markus- oder Ursulinenkirche am Rudolfskai, das außerhalb der Stadt liegende Schloss Kleßheim und der Hochaltar der Franziskanerkirche. Danach erlahmte der weitere Ausbau der Stadt, weshalb es keine Rokoko-Kirchen gibt. Erst Fürsterzbischof Sigismund Graf Schrattenbach setzte mit dem Bau des Sigmunds- oder Neutors und der Marienstatue am Domplatz neue Akzente. Die architektonische Gestaltung des Tors übernahmen Wolfgang Hagenauer und sein Bruder Johann Baptist Hagenauer, der für die Bildhauerarbeiten verantwortlich zeichnete. Gemeinsam schufen sie auch – in Auseinandersetzung mit einem älteren Modell – die Marienstatue am Domplatz. Nachdem das Gebiet des früheren Erzstifts Salzburg zu Beginn des 19. Jahrhunderts an Oberösterreich, Bayern (Rupertigau) und Tirol (Zillertal, Matrei in Osttirol) aufgeteilt wurde, stand die architektonische und künstlerische Entwicklung einige Zeit still. Erst ab der Gründerzeit entstanden neue, hauptsächlich profane Gebäude. Gegen Ende des Jahrhunderts schuf der Architekt Jakob Ceconi u. a. die Bazargebäude, während Carl Freiherr von Schwarz großen Anteil am Ausbau des Bahnnetzes und der Salzach-Regulierung hatte. === Bauten der Klassischen Moderne und der Nachkriegsmoderne === Wie in beinahe allen Städten auf deutschsprachigem Gebiet gab es auch in Salzburg während des Zweiten Weltkriegs Bombentreffer. Es folgte eine Zeit des Wiederaufbaues und des architektonischen Neubeginns mit Bauwerken der klassischen Moderne und der Nachkriegsmoderne. Zu den bedeutendsten zählen das 1924–1926 errichtete Druck- und Verlagsgebäude Kiesel in der Elisabeth-Vorstadt, das 1925-1926 gebaute Alte Festspielhaus (seit 2006 Haus für Mozart), das im Zweiten Weltkrieg schwer beschädigte und 1957 fertiggestellte Hotel Europa (an der Stelle des früheren Grand Hôtel de l´Europe) ebenfalls in der Elisabeth-Vorstadt, das 1960-1962 von Clemens Holzmeister erbaute Große Festspielhaus, sowie einige andere Gebäude (das Freibad in Leopoldskron aus dem Jahr 1964 und das ursprünglich 1957 errichtete Kongresshaus), die mittlerweile neuer Architektur gewichen sind.Zur Architektur seit den 1980er-Jahren siehe den Hauptartikel Liste von Bauwerken der Moderne in Salzburg. Dank einer strengen Bauordnung, gemäß der die einzigartigen historischen Gebäude der Salzburger Innenstadt weder verändert noch niedergerissen werden dürfen und auch der Bau moderner Architektur nicht vorgesehen ist, sollte die Altstadt, die vielen Menschen als eine der schönsten der Welt gilt, den Bewohnern und Touristen in ihrer Gesamtheit erhalten bleiben. Auf der anderen Seite der Salzach wurde das aus 1978 stammende Gebäude des Mozarteums (am barocken Mirabellgarten gelegen) wegen Verdachts krebsauslösender Baustoffe geschlossen, renoviert und entstand nach Plänen Robert Rechenauers neu. Der frühere Makart-Steg, seit 2021 Marko Feingold-Steg, der Ende des 20. Jahrhunderts baufällig geworden war, wurde zwischen 2000 und 2001 vom Salzburger Architekturbüro Halle 1 errichtet. Im Jahr 2011 wurde der Unipark Nonntal eröffnet. Das Architektenteam Storch Ehlers Partner hatte ihn geplant, das Projekt wurde 2012 mit dem Architekturpreis des Landes Salzburg ausgezeichnet. Etwas früher entstand das Wohn- und Atelierhaus des Architektenpaares Christine und Horst Lechner, das in der Priesterhausgasse hinter der Dreifaltigkeitskirche steht. Das Projekt hatte den Architekturpreis 2010 gewonnen. Zu den umstrittenen, aber notwendigen Gebäuden im Innenstadtbereich gehört das Heizkraftwerk Mitte, das sich an der Grenze der Schutzzone befindet. Die östliche, zum Kapuzinerberg gewandte Seite, verfügt über ein an eine Festung erinnerndes Dekor, wodurch das Aussehen eines Geschlechterturms (z. B. in San Gimignano) verstärkt wird. Außerhalb der Altstadt waren um die Jahrtausendwende bedeutende moderne Bauwerke entstanden, etwa das Gebäude der Naturwissenschaftlichen Fakultät, das im Rahmen der Neugestaltung des Universitätsviertels Nonntal in der Akademiestraße errichtet wurde. Architekt war der in Itzling geborene Wilhelm Holzbauer. Als eigenes Stadtteilzentrum entstand die Neue Mitte Lehen. Es wurde wie der Marko Feingold-Steg vom Salzburger Architektur-Büro Halle 1 geplant. In dem stadtteilprägenden Gebäude sind die Stadtbibliothek und ein Seniorenzentrum untergebracht. Der aufwändige Glasbau des Hangar-7, ein Beispiel der Blob-Architektur, befindet sich am Flughafen Salzburg und wurde von Volkmar Burgstaller geplant. Der Europark (Architektur: Massimiliano Fuksas) in Taxham zählt ebenfalls zu den neueren Bauten der Moderne in Salzburg und stellt auch einen der wirtschaftlich wichtigsten Betriebe des Bundeslandes dar. Darüber hinaus gibt es auch experimentelle Ansätze zur zeitgenössischen Architektur an der Bauakademie Salzburg der Gruppe soma. Ein Beispiel zeitgenössischer Technik-Architektur ist das von Max Rieder und Erich Wagner in unmittelbarer Nähe zum Weltkulturerbe-Schutzgebiet in skulpturaler Formensprache errichtete Wasserkraftwerk Sohlstufe Lehen, das 2014 mit dem Europäischen Betonbaupreis ausgezeichnet wurde. == Kultur == === Musikstadt Salzburg === ==== Geschichte ==== Schon unter dem am Übergang zum 9. Jahrhundert lebenden Erzbischof Arn von Salzburg bestand eine frühe Musiktradition. Salzburger Komponisten hatten eine enge Verbindung zu Gelehrten, die für Karl den Großen tätig waren. 870 bat Papst Johannes VIII. angesichts des schon damals guten Rufes der Musikstadt Salzburg den Erzbischof um eine Orgel und einen Organisten für den Vatikan. Unter Fürsterzbischof Eberhard II. wirkte der Lyriker und Minnesänger Neidhart von Reuental. Unter Fürsterzbischof Pilgrim II. von Puchheim lebte am Salzburger Hof der anonym gebliebene Mönch von Salzburg, dessen volksliedhaften, geistlichen und weltlichen Lieder bis heute populär sind. 1424 hielt sich der Sänger, Dichter und Komponist Oswald von Wolkenstein in Salzburg auf und war für Fürsterzbischof Eberhard III von Neuhaus tätig. Unter Fürsterzbischof Matthäus Lang von Wellenburg wirkten um 1500 die Komponisten Heinrich Finck, Caspar Clanner und der damalige König der Organisten Paul Hofhaimer. Auch der frühe Reformator und Dichter von Kirchenliedern, Paul Speratus, lebte hier bis zu seiner Vertreibung. 1591 erfolgte unter Fürsterzbischof Wolf Dietrich von Raitenau eine Neugründung der Hofkapelle und der Chormusik mit insgesamt 78 Musikern. Am 27. Jänner 1614 eröffnete Fürsterzbischof Markus Sittikus das neue Hoftheater und wurde so zum Ahnherrn der Musik- und Theaterstadt Salzburg, in der die ersten Opernaufführungen außerhalb Italiens stattfanden. Äußerst glanzvoll war das Einweihungsfest des fertiggestellten Salzburger Doms im Jahr 1628 unter der musikalischen Leitung von Stefano Bernardi, der auch eigene Werke zur Aufführung brachte. Der von Fürsterzbischof Max Gandolf von Kuenburg geförderte Komponist und Star-Musiker Georg(es) Muffat, der aus Megève stammte, war von 1678 bis 1687 Hoforganist. Er zählte zu den bedeutendsten Musikern seiner Zeit, verfasste innovative Werke und trug dazu bei, Salzburg musikalisch auf europäisches Niveau zu heben. - Als Hofkapellmeister und Leiter der Sängerknaben, die seit Fürsterzbischof Pilgrim II die Domkapelle verstärkten, wirkte Heinrich Ignaz Franz Biber. Sein Sohn Carl Heinrich Biber, der fürsterzbischöflicher Kapellmeister war, wurde von Leopold Mozart abgelöst. Vor Mozart wirkten außerdem die Komponisten Johann Ernst Eberlin und dessen Schüler Anton Cajetan Adlgasser in der Stadt. Zwei Schüler von Johann Michael Haydn, dem Bruder Joseph Haydns und bekanntesten Salzburger Kirchenmusiker, waren Carl Maria von Weber und Sigismund von Neukomm. Als das selbständige Fürstentums Salzburg 1805 zu existieren aufhörte, endete auch die Tradition der fürstlichen Hofkapelle. Im Jahr 1841 wurde der Dommusikverein und Mozarteum als Konservatorium und zur Sammlung von Mozart-Dokumenten gegründet, im Jahr 1847 die Salzburger Liedertafel, die beide bis an dessen Lebensende unter der Leitung von Alois Taux standen. 1842 wurde das erste Mozart-Denkmal der Stadt mit einem Festakt eingeweiht. Es steht am Beginn einer Ära, die Salzburg mit den Gedenkstätten und Festspielen zur bedeutendsten Mozart-Stadt machen sollte. Die Einweihungsfeier für das Mozart-Denkmal wurde von Joseph Friedrich Hummel und Lilli Lehmann geleitet. 80 Jahre später wurden die Salzburger Festspiele eröffnet, deren musikalische Höhepunkte jeweils neu einstudierte Mozart-Opern darstellen. Der Franziskaner Pater Peter Singer, der ab 1840 in Salzburg lebte, war Organist und Chorleiter in der Franziskanerkirche. Als Komponist schuf er über hundert Messen. 1881 erhielt der damals 21-jährige Komponist Hugo Wolf am Salzburger Hoftheater eine Stelle als Hilfskapellmeister. Franz Xaver Gruber, Enkel des gleichnamigen Komponisten, der Schöpfer der Melodie von Stille Nacht, Heilige Nacht, gründete 1921 den Domchor. Der Sängerzusammenschluss, der ehrenamtlich arbeitete, erreichte unter der Leitung von Joseph Messner große Popularität. Die Internationale Stiftung Mozarteum, die auch ein eigenes Orchester hatte, wurde 1870, die Musikschule Mozarteum zwei Jahre später gegründet. Berühmte Rektoren und Professoren waren Clemens Krauss, Bernhard Paumgartner, Gerhard Wimberger, Klaus Ager sowie die Komponisten Cesar Bresgen und Carl Orff.Nach dem Ersten Weltkrieg löste sich das Mozarteumorchester Salzburg, das älteste Orchester der Stadt, vom Konservatorium. Es war aus dem Zusammenschluss von Lehrern und fortgeschrittenen Studenten der Akademie entstanden. Als Symphonieorchester von Stadt und Land Salzburg widmet es sich bis heute vorrangig der Musik der Wiener Klassik. Das Kammerorchester Camerata Salzburg wurde 1952 von Bernhard Paumgartner gegründet und später über 20 Jahre lang von Sándor Végh geleitet. Das Österreichische Ensemble für Neue Musik mit Sitz in Salzburg wurde 1975 von Klaus Ager und Ferenc Tornai ins Leben gerufen und anfangs von Klaus Ager geleitet.1998 gründete die Dirigentin Elisabeth Fuchs mit jungen Musikern die Junge Philharmonie Salzburg, deren Leitung sie bis heute innehat. ==== Mozart und Salzburg ==== Das weltberühmte Musikgenie Wolfgang Amadeus Mozart kam 1756 als Sohn des Hofkomponisten und Vizekapellmeisters Leopold Mozart und dessen Frau Anna Maria (geb. Pertl) im Haus Getreidegasse 9 zur Welt. Dort ist ihm zu Ehren ein Museum untergebracht. Mozarts Vater wirkte damals in der fürsterzbischöflichen Hofkapelle unter Graf Sigismund Schrattenbach, der ein wichtiger Arbeitgeber und Förderer war. Die Hofkapelle stand in dieser Zeit unter der Leitung Johann Michael Haydns, des Bruders von Joseph Haydn. Wolfgang Amadeus Mozart erhielt ab dem Alter von vier Jahren gemeinsam mit seiner älteren Schwester Maria Anna, Nannerl genannt, Klavier-, Geigen- und allgemeinen Musikunterricht. Von einem Jahr später stammen seine ersten Kompositionen. Ab 1762 – da war Mozart 6 Jahre alt – unternahm die Familie Konzertreisen, die sie an die Höfe der deutschen Fürsten, nach Wien an den Kaiserhof und später auch nach Paris und London führte. In die Zeit dieser Reisen und eines längeren Aufenthalts in Wien fallen auch Mozarts erste Kompositionen von Singspielen und Opern, von denen einige bei der Rückkunft in Salzburg uraufgeführt wurden. Als Mozart 13 Jahre alt war, wurde er zum unbesoldeten Hofkonzertmeister bestellt. Mit 16 Jahren ernannte ihn der neu gewählte Fürsterzbischof Hieronymus von Colloredo 1772 zum Konzertmeister seiner Kapelle. Für den freiheitsliebenden jungen Mann, der vor allem vom Fürsterzbischof künstlerisch und persönlich stark eingeschränkt wurde, war der Aufenthalt in Salzburg bald unerträglich. Es war ihm nur noch ein „Bettelort“, an dem er sein Genie nicht „verschlänzen“ wollte. Colloredo zeigte zudem wenig Verständnis, Mozart ständig für Tourneen zu beurlauben. In Folge kündigte er 1781 den Salzburger Dienst und setzte seine Laufbahn in Wien fort, wo er nur zehn Jahre später im Alter von 35 Jahren starb. Mozart und seine Musik wurden erst lange nach seinem Tod bekannt. Der Schriftsteller Julius Schilling regte im Jahr 1835 als einer der Ersten an, ihm in Salzburg ein Denkmal zu errichten. 1842 wurde auf dem nach dem Komponisten benannten Mozartplatz feierlich eine Statue eingeweiht. Der Name des Komponisten war damals nur wenigen Besuchern ein Begriff. Dennoch zählte die Feierlichkeit lange Zeit zu den größten, die die Stadt je erlebt hatte. Schifffahrten, Fackelzüge und anderen volksfestartige Veranstaltungen waren der Denkmal-Enthüllung vorausgegangen. Die erste Gesamtausgabe der Werke Mozarts wurde 1907 von der Stiftung Mozarteum fertiggestellt. Heute erinnern viele Orte und Institutionen an den Musiker. Die vielen internationalen Musikfeste, die ab 1877 in Salzburg zu Ehren von Mozarts Schaffen stattfanden, führten 1920 u. a. zur Gründung der Salzburger Festspiele. ==== Salzburger Festspiele ==== Die größte künstlerische Veranstaltungsreihe mit Konzerten, Opern, Liederabenden und Schauspielen findet seit 1920 alljährlich im Sommer im Rahmen der Salzburger Festspiele statt. Sie hatten sich aus den seit Ende des 19. Jahrhunderts immer häufiger werdenden Festen Mozart zu Ehren und anderen internationalen Musikveranstaltungen entwickelt. Heinrich Damisch, der schon 1913 die Wiener Akademische Mozartgemeinde gegründet hatte, verfolgte gemeinsam mit Friedrich Gehmacher den Plan für regelmäßig in Salzburg stattfindende Festspiele. Der Verein der Festspielgemeinde wurde 1917 ins Leben gerufen. Die künstlerische Leitung der Festspiele übernahm der Regisseur Max Reinhardt, der dabei von Hugo von Hofmannsthal unterstützt wurde. Die erste Aufführung der Festspiele fand am 22. August 1920 statt. Auf dem Programm stand das – spätmittelalterlichen Mysterienspielen nachempfundene – Theaterstück Jedermann von Hofmannsthal in der Inszenierung von Reinhardt, das schon damals auf dem Platz vor dem Dom gespielt wurde. Heute verfügen die Festspiele zudem über drei Festspielhäuser, in denen unabhängig von Wetterkapriolen Vorstellungen stattfinden können: 1925 wurde das erste Festspielhaus (heute Haus für Mozart) eröffnet, 1926 erstmals die Felsenreitschule bespielt und 1960 das Große Festspielhaus eröffnet. Auch der Große Saal des Mozarteums, das Salzburger Landestheater und seit 1992 die Pernerinsel in Hallein werden als Spielstätten miteinbezogen. Weitere Aufführungsorte der Salzburger Festspiele verteilen sich über das gesamte Stadtgebiet.1956 wurde auf Veranlassung von Mitgliedern der Internationalen Stiftung Mozarteum die Mozartwoche gegründet, die Ende Jänner/Anfang Februar stattfindet. Zeitlich-ideeller Ausgangspunkt ist Mozarts Geburtstag am 27. Jänner. Herbert von Karajan rief 1967 als Ergänzung zu den Sommerfestspielen die Osterfestspiele ins Leben. Auf ihn gehen auch die 1973 gegründeten Pfingstfestspiele zurück. Letztere sind seit dem Tod Karajans hauptsächlich der Musik des 18. Jahrhunderts gewidmet. ==== Klassische Musik – Veranstaltungen und Aufführungsorte ==== Zu den Salzburger Konzertsälen für klassische Musik gehören der Wiener und der Große Saal des Mozarteums, die Große Aula der Universität, der Yamaha Saal im Orchesterhaus des Mozarteumorchester Salzburg sowie der Solitär im Gebäude der Universität Mozarteum, der für Kammermusik-Aufführungen zur Verfügung steht. Im ebenfalls dort befindlichen Großen Studio werden Theaterstücke aufgeführt. Der barocke Marmorsaal von Schloss Mirabell ist seit 1954 Spielstätte der Salzburger Schlosskonzerte. Die über 250 jährlich dort veranstalteten Kammerkonzerte stehen seit 1991 unter der musikalischen Leitung des Solo-Geigers Luz Leskowitz. Außerhalb der Festspielzeit zählen seit 2006 die DIALOGE der Internationalen Stiftung Mozarteum zu den wichtigsten Programmpunkten des Salzburger Kulturjahres. Es handelt sich dabei um ein Festival, das sich zeitgenössischer Musik widmet. Zu den Konzerten der Salzburger Kulturvereinigung gehören neben bekannten Konzertreihen vor allem die Salzburger Kulturtage und einige Opernabende, wie z. B. das Oper im Berg Festival und Ballettvorstellungen im Landestheater. Die Aspekte Salzburg ist ein jedes zweite Jahr stattfindendes Musik-Festival für zeitgenössische Musik. Reich ist das Angebot an Kammermusikveranstaltungen in Salzburg. Regelmäßig finden die Salzburger Festungskonzerte, die Salzburger Schlosskonzerte in Schloss Mirabell und Konzerte der Salzburger Hofmusik statt. Das Salzburger Adventsingen, das Tobi Reiser 1950 gründete, ist weit über Salzburg hinaus bekannt. Volksmusikalische Chor- und Instrumental-Darbietungen sowie ein Hirtenspiel in der Weihnachtszeit – kommen alljährlich im Großen Festspielhaus zur Aufführung. ==== Jazzmusik und alternative Musik ==== Der Salzburger Jazz-Herbst war ein jährlich stattfindendes Musik-Festival, das von 1996 bis 2012 stattfand. Dabei wirkten internationale Stars der Jazz-Szene ebenso wie österreichische Musiker mit. Die Veranstaltungsreihe Jazz & The City findet seit 2000 jedes Jahr Ende Oktober/Anfang November an verschiedenen Plätzen, in Sälen, Lokalen und Clubs. Der Eintritt ist frei. Aus der 1981 gegründeten Konzertreihe Jazz im Theater entwickelte sich im Jahr 2002 das Jazz-Lokal Jazzit. Der alternative Jazzclub bietet zudem Raum für experimentelle elektronische Musik. Seit 1983 existiert der Jazzclub Life Salzburg, der sich vorrangig traditionellen Formen des Jazz widmet. Die ARGE-Kultur Salzburg ist das größte unabhängige Kulturzentrum der Stadt und ging aus der ARGE Rainberg (November 1981) hervor. Der Name stand im Zusammenhang mit dem erwünschten Einzug in ein Gebäude am Rainberg. Da das nicht möglich war, weil der Platz anderweitig verwendet wurde, wurde der Gruppe der HTL-Lehrbauhof im Nonntal zur Verfügung gestellt, die sich fortan ARGE Nonntal nannte. Sie ist Veranstalterin und Produzentin für zeitgenössische, innovative und gesellschaftskritische Kultur. Das Rockhouse ist ein Veranstaltungsort im Stadtteil Schallmoos. Es wurde 1993 eröffnet und bietet jährlich etwa 200 Veranstaltungen an. Die sechs Proberäume, die bei Salzburger Bands und Musikern sehr begehrt sind, werden einmal pro Jahr in einer Proberaum-Vergabesitzung Interessenten für die Dauer eines Jahres zugeteilt. Kinder zwischen 6 und 10 Jahren können dort an einem Rock- und Pop-Schnupper-Workshop teilnehmen. Seit 2004 besteht die Kultur-Initiative Akkorde-On-Stage Salzburg, die von Mitgliedern des Akkordeon-Orchesters Viel-Harmonie Salzburg gegründet wurde. Sie versteht sich als Gegenpol zur sonst volksmusikbezogenen Tonkunst der Zieh- oder Knöpferlharmonika. Auf dem Programm stehen Werke zeitgenössischer Komponisten, die an verschiedenen Orten Euroopas vorgetragen werden, vorrangig aber im Raum in und um Salzburg. Zwei jährlich stattfindende Großveranstaltungen in Innsbruck und Wien gehören zu den Fixpunkten der Gruppe. Die JIMS – summer academy for Jazz and Improvised Music Salzburg wurde 1997 gegründet, um das Fehlen einer professionellen Ausbildungsstätte für Jazz in Salzburg zu kompensieren. Im Jahr 2008 musste das Festival wegen finanzieller Engpässe eingestellt werden. === Sehenswürdigkeiten und Museen === Die Festung Hohensalzburg zählt zu den meistbesuchten Sehenswürdigkeiten Österreichs: Sie liegt hinter dem Stephansdom, Schloss Schönbrunn, dem Kunsthistorischen Museum und Schloss Belvedere (alle in Wien) an fünfter Stelle. Die beiden größten und meistbesuchten Museen der Stadt sind das Salzburg Museum und das Haus der Natur Salzburg. Das Salzburg Museum wurde im Jahr 1834 als Provincialmuseum gegründet und 1846 in das Eigentum der Stadt Salzburg übergeführt. 1850 übernahm Kaiserinwitwe Caroline Augusta, die seit dem Tod ihres Mannes Kaiser Franz II./I.1 in Salzburg lebte, die Patronanz, woraufhin es Carolino Augusteum genannt wurde. Diesen Namen behielt es bis in das Jahr 2007, als es in die Neue Residenz übersiedelte. Seit damals heißt es Salzburg Museum. Die Ausstellungen haben die Kunst- und Kulturgeschichte von Stadt und Land Salzburg zum Hauptinhalt. Angeschlossene Museen sind das Panorama Museum für das Sattler-Panorama der Stadt aus dem Jahr 1825, das Volkskunde Museum im Monatsschlössl Hellbrunn, das Spielzeug Museum im ehemaligen Bürgerspital, das Domgrabungsmuseum am Residenzplatz und das Festungsmuseum. Das Haus der Natur ist ein Museum, das sich der Wissenschaft der Naturkunde und der Technik widmet. Es wurde 1924 vom Zoologen Eduard Paul Tratz ins Leben gerufen, der fortan auch dessen Direktor war. Zehn Jahre zuvor hatte er schon das Österreichische Ornithologische Institut gegründet, das damals im Monatsschlössl in Hellbrunn untergebracht war. Heute ist es im Haus der Natur am Museumsplatz beheimatet. Ende 2008 wurden die einstigen Ausstellungsräume des ehemaligen Museums Carolino Augusteum dem Haus der Natur eingegliedert. Das vergrößerte Museum wurde Ende Juni 2009 wiedereröffnet. Das Salzburger Barockmuseum, das sich früher in der Orangerie des Mirabellgartens befand, wurde 2012 geschlossen. Die Sammlung der barocken Artefakte fiel an das Salzburg Museum. Das Dommuseum Salzburg wurde am 16. Mai 2014 eröffnet und ist wie die Ausstellungsräume der Residenz und das Museum der Erzabtei St Peter Teil des Domquartiers Salzburg. Der gesamte Museumskomplex zählt mit seinen zahlreichen Sammlungen zu den wichtigsten Museen Europas. Es werden ständig wechselnde Sonderschauen gezeigt, die der Wunderkammer der Salzburger Fürsterzbischöfe, ihrer Bildersammlung in der Residenzgalerie und der Sammlung der Erzabtei St Peter entstammen. Zudem können die in der Residenz befindlichen ehemaligen fürsterzbischöflichen Prunkräume besichtigt werden. Insgesamt werden in dem 15.000 Quadratmeter umfassenden Museum mehrere Tausend Exponate gezeigt.Auch dem Schaffen Mozarts sind Museen und wechselnde Ausstellungen an verschiedenen Orten gewidmet. Die bekanntesten sind das der Stiftung Mozarteum gehörende Geburtshaus in der Getreidegasse und das ehemalige Tanzmeisterhaus, das Wohnhaus der Familie, am Makartplatz. Im Museum der Moderne Salzburg mit seinen Standorten am Mönchsberg und im Rupertinum werden Werke zeitgenössischer Künstler gezeigt. Im Rupertinum befindet sich auch eine der beiden für die Österreichische Fotografie wichtigen Institutionen: die von Otto Breicha 1983 gegründete Sammlung Fotografie und Medien mit der Österreichischen Fotogalerie. Zwei Jahre früher war der Fotohof, eine Galerie und ein Verlag für zeitgenössische künstlerische Fotografie in Salzburg, entstanden, der sich zunächst im Nonntal befand. Seit 2012 ist er in Lehen beheimatet. === Literatur === Eine der ältesten literarischen Schilderungen Salzburgs ist das Loblied, das der Nürnberger „Meistersinger“ Hans Sachs im Jahr 1549 auf die Stadt schrieb. Nur wenige Jahre später (1594) wurde die Buchhandlung Höllrigl, die älteste Österreichs, gegründet, die vom frühen Interesse der Salzburger an Literatur zeugt. – Von den folgenden zwei Jahrhunderten lassen sich keine bekannten Dichter und Schriftsteller ausmachen. Die nächsten Zeugnisse datieren aus dem 19. Jahrhundert. Der aus Oberösterreich stammende Mundartdichter Franz Stelzhamer lebte und wirkte lange Zeit in Salzburg. Auch Sylvester Wagner war ein Mundartdichter, der sich in seinen Werken bevorzugt dem Leben auf dem Land widmete. Er wurde in Henndorf am Wallersee geboren. Dort und in Salzburg wurden Straßenzüge nach ihm benannt. Während seiner Gymnasialzeit und in den späten Jahren der Monarchie hatte Hermann Bahr in Salzburg gelebt. Sein literarisches Werk umfasst mehrere zeitgenössische Strömungen. Als er 1912 im Alter von knapp fünfzig Jahren mit seiner zweiten Frau, der Opernsängerin Anna von Mildenburg, wieder nach Salzburg zog, wohnte er in Schloss Arenberg. Er empfand die Stadt als Stein gewordene Musik. Als Freund Hugo von Hofmannsthals und Max Reinhardts engagierte er sich gemeinsam mit ihnen und mit seiner Frau für die Verwirklichung der Salzburger Festspiele. Der in Pola/Pula in Kroatien (damals Österreich-Ungarn) geborene Novellen- und Romanautor Franz Karl Ginzkey lebte ab 1921 in Salzburg, und auch er war an der Gründung der Salzburger Festspiele beteiligt. Einen noch stärkeren Bezug dazu hatte der Librettist, Lyriker und Dramatiker Hugo von Hofmannsthal, der nicht nur Mitbegründer der Salzburger Festspiele war, sondern dessen Mysterienspiel Jedermann von Beginn an bis heute (mit einigen wenigen Unterbrechungen) auf dem Spielplan steht. Der Schriftsteller Stefan Zweig hatte während des Ersten Weltkriegs das Paschinger Schlössl auf dem Kapuzinerberg gekauft, in das er nach Kriegsende einzog. Hier schrieb er u. a. das Libretto zur Oper Die schweigsame Frau von Richard Strauss. Erik von Wickenburg, der als Journalist und Schriftsteller tätig war, hatte zwar seine Schul- und Studienzeit in Wien verbracht, war aber geborener Salzburger, der hier auch viele Jahre lebte und ebendort kurz vor der Jahrtausendwende verstarb. Der Salzburger Schriftsteller Georg Trakl, ein Vertreter des lyrischen Expressionismus, ist für sein bildhaftes poetisches Werk bekannt. Mit seinen Geschwistern hauptsächlich von einer französischen Gouvernante erzogen, interessierte er sich früh für die großen Lyriker Frankreichs, Charles Baudelaire allen voran. Im Alter von 17 Jahren begann er mit ersten literarischen Versuchen, die fortan hauptsächlich der Dichtkunst gewidmet waren. Es gibt aber aus der künstlerischen Frühzeit auch Theaterstücke und Prosawerke. Dem großen Künstler zu Ehren wurde 1952 der Georg Trakl-Preis für Lyrik geschaffen. Zwanzig Jahre später erwarb das Land Salzburg sein Geburtshaus und richtete dort eine Forschungs- und Gedenkstätte ein. - Die Lyrikerin Erna Blaas, die aus Oberösterreich stammte und früh verwitwete, lebte ab 1928 in Salzburg. Sie war eine der Ausgezeichneten, die den Georg Trakl-Preis erhielt. In Salzburg lebte auch die russische Schriftstellerin Alja Rachmanowa, die sich in der bewegten Zeit des Bolschewismus in den österreichischen Kriegsgefangenen Arnulf von Hoyer verliebt hatte. Nach der Heirat und der Geburt des einzigen Sohnes wurde die aus großbürgerlichen Verhältnissen stammende Frau aus der Sowjetunion verwiesen. Mit Mann und Kind verbrachte sie einige Zeit in Wien, bis die kleine Familie 1927 nach Salzburg, in die Heimatstadt Hoyers, zog. Hier gelang es Rachmanowa erste Werke zu veröffentlichen und als Schriftstellerin Fuß zu fassen. Als ihr Leben 1945 durch die anrückende russische Armee neuerlich gefährdet war, floh sie mit ihrem Mann in die Schweiz, wo sie 1991 verstarb. Der aus Henndorf stammende Heimatdichter Johannes Freumbichler, dessen literarisches Werk erst durch seinen Enkel Thomas Bernhard bekannt wurde, lebte ab den 1940er-Jahren mit der Familie in Salzburg. Hier verbrachte Thomas Bernhard seine Schulzeit und seine erste Schaffenszeit als Schriftsteller. Gerhard Amanshauser, der in Salzburg geboren wurde, studierte in Graz, Wien und Innsbruck und kehrte im Jahr 1955 nach Salzburg zurück, wo er fortan als Schriftsteller tätig war. Dort wurde auch sein Sohn Martin Amanshauser geboren, der sich wie sein Vater als Schriftsteller der Lyrik und der Prosa zuwandte. Ab 1972 lebte der Wiener Dichter H. C. Artmann mehr als zwanzig Jahre in Salzburg. Wenig später zog der aus Kärnten stammende Schriftsteller Peter Handke in die Stadt und wohnte acht Jahre auf dem Mönchsberg. Zu den in Salzburg geborenen Autoren gehören unter anderen Bodo Hell, Kathrin Röggla, Karl-Markus Gauß und Walter Kappacher. Die 2021 verstorbene Christine Haidegger lebte ab 1964 als freie Schriftstellerin in Salzburg. Seit 1991 tritt das Literaturhaus Salzburg im Eizenbergerhof in Lehen als Vermittler anspruchsvoller Gegenwartsliteratur auf. Dort finden alljährlich im Frühjahr das Festival Europa der Muttersprachen und im Herbst das Krimifest Salzburg statt. Im Literaturhaus arbeiten neben den Beschäftigten des Trägervereins auch die Mitarbeiter von Erostepost, die jährlich einen Literaturpreis vergeben. 2008 wurde das jährlich im Frühjahr stattfindende Literaturfest gegründet. Unter seiner Ägide finden an verschiedenen Orten der Stadt Lesungen von Werken namhafter zeitgenössischer Autoren statt. Außerdem sind in Salzburg die Grazer Autorenversammlung/Salzburg, prolit & Edition Eizenbergerhof, die Salzburger Autorengruppe und das Literaturforum Leselampe (Herausgeber der Literaturzeitschrift SALZ) beheimatet. Die vom Germanisten Adolf Haslinger ins Leben gerufene Stiftung Salzburger Literaturarchiv wurde aus Anlass des ersten Todestages ihres Gründers in Adolf Haslinger Literaturstiftung umbenannt. Seit 2011 besteht eine enge Kooperation mit dem Literaturarchiv Salzburg, dem Forschungszentrum von Universität, Land und Stadt Salzburg. === Theater === Das heutige Salzburger Landestheater wurde 1775 von Fürsterzbischof Hieronymus Colloredo als Hoftheater gegründet und war hauptsächlich zur Bildung und Unterhaltung der Salzburger Bürger gedacht. Das Gebäude befand sich ebenfalls am Makartplatz, lag aber dem Salzachufer näher. Mit der Abschaffung des Fürsterzbistums verschwand auch die Institution des Hoftheaters, das unter den wechselnden politischen Gegebenheiten einmal Kurfürstliches Theater, einmal Königliches Nationaltheater und zuletzt Stadttheater hieß. 1892 wurde es wegen Sicherheitsmängeln abgerissen und innerhalb eines Jahres an der jetzigen Stelle neu errichtet. Seit 1940 heißt es Landestheater. Es befindet sich im Eigentum von Land und Stadt Salzburg und ist ein Mehrspartenhaus, in dem Theaterstücke, aber auch Opern, Operetten, Ballett- und Tanzaufführungen sowie Kindertheater gezeigt werden. Mit der Gründung des Salzburger Marionettentheaters erneuerte Anton Aicher 1913 eine alte Salzburger Tradition im Geist der Barockzeit. Es befand sich zunächst im Künstlerhaus, später im Borromäum. Während des Zweiten Weltkriegs und auch noch Jahre später ging man auf Tournee – zunächst innerhalb Europas, später auch nach Amerika und nach Asien. Seit 1971 hat es seinen festen Sitz im Haus in der Schwarzstraße. Am Marionettentheater werden Opern von Mozart und Werke anderer Komponisten sowie Märchenstücke aufgeführt. Es zählt zu den Publikumslieblingen der Stadt. Außer dem Landestheater und der Salzburger Festspiele gibt es auch das Schauspielhaus Salzburg, die ehemalige Elisabethbühne, das regelmäßig bespielt wird. Es handelt sich dabei um das größte freie Ensemble-Theater Österreichs. Jährlich kommen etwa zehn Schauspiele und ein Kinderstück in zwei Theatersälen zur Aufführung. Zudem sind eine Schauspielschule und ein Verlag für Kindermusicals angeschlossen. Auch im Toihaus in der Franz Josef-Straße, im Kleinen Theater in der Schallmooser Hauptstraße und im Republic, dem Veranstaltungsort der Szene Salzburg am Anton Neumayr-Platz, werden regelmäßig Schauspiele aufgeführt. Im Oval, der Bühne im Europark, finden Theater- und Tanzvorstellungen für Erwachsene und Kinder, aber auch (Kino-)Filmvorführungen statt. Auf die Theatertradition des antiken Thespiskarrens bezieht sich das Salzburger Straßentheater, das 1970 gegründet wurde. Jährlich zur Festspielzeit begibt sich ein von Pferden gezogener Wagen mit Theaterbühne durch Stadt und Land Salzburg. Gespielt werden Werke der klassischen Komödienliteratur von Johann Nestroy, Carlo Goldoni, Molière, George Bernard Shaw, mitunter stehen aber auch Stücke zeitgenössischer Autoren, wie von Dario Fo, auf dem Spielplan. === Bildende Kunst === ==== Malerei ==== Die Malerei des Mittelalters wurde in Salzburg wie an den meisten Orten, in denen es Klöster gab, von Mönchen geprägt. Das Illuminieren von Büchern – das Ausmalen der Seiten mit textbezogenen Illustrationen und die Gestaltung der Ränder mit dekorativen Elementen – war ein Zeichen von gehobener künstlerischer Bildung und förderte das Ansehen des Klosters. Das Antiphonar der Erzabtei von St. Peter, eine mit Feder- und Tintenzeichnungen reich dekorierte Handschrift, gehört zu den wertvollsten Kunstschätzen des Stifts. Es befindet sich heute in der Österreichischen Nationalbibliothek. Auch die meiste andere Malerei dieser Epoche – Tafelbilder, Fresken, Glasfenster – entstand hauptsächlich im Auftrag von Kloster- oder Kirchenherren. Bedeutende Werke befinden sich u. a. in der Stiftskirche Nonnberg. Die Fresken stammen aus der Mitte des 12. Jahrhunderts und zeigen Brustbilder von heiliggesprochenen Päpsten, Bischöfen, Äbten und Märtyrern. Das Glasfenster (bez. 1480) in der Hauptapsis stiftete Augustin Clanner im Jahr 1473. Der Glasmaler Peter Hemmel von Andlau, dessen Werke zu den technisch und künstlerisch ausgefeiltesten der Epoche gehören, schuf es. Der im schwäbischen Raum geborene Conrad Laib führte ab 1445 eine bedeutende Werkstatt in Salzburg. Er gehörte zu den ersten deutschen Malern, die die Neuerungen der niederländischen Kunst in seinem Werk aufnahm. Wandmalereien von ihm befinden sich in der Franziskanerkirche, ein Tafelbild im Salzburg Museum. Der in Salzburg geborene Rueland Frueauf der Ältere wirkte in seinen ersten Lebensjahrzehnten in der Stadt, bis er sich 1478 in Passau niederließ. Etliche seiner Werke – Flügelaltäre und Tafelbilder – befinden sich in der Österreichischen Galerie von Schloss Belvedere in Wien. Die Werke seines Sohnes Rueland Frueauf der Jüngere stehen künstlerisch am Übergang von Gotik zur Renaissance. Das Werk des aus Mondsee stammenden Hans Bocksberger des Älteren ist in der frühen Neuzeit anzusiedeln. Zu seinen bekanntesten Bildern zählt das Standportrait Kaiser Ferdinands I. Bocksberger lebte lange Zeit in der Stadt Salzburg, wo er eine eigene Werkstatt betrieb und u. a. seinen Sohn und einen Neffen ausbildete. Einer der bedeutendsten Barockmaler des süddeutschen Raums war der Salzburger Johann Michael Rottmayr. Gemälde von ihm finden sich in der Franziskanerkirche und im Franziskanerkloster, in der Erhard- und in der Kajetanerkirche. Für die Dreifaltigkeitskirche, für die Residenz und für die Winterreitschule schuf er Deckenfresken. Seinen künstlerischen Durchbruch in der Kaiserstadt Wien verdankte er Fürst Johann Adam I Andreas Liechtenstein, der ihn als Erster als Freskenmaler im Sommerpalais (im heutigen 9. Gemeindebezirk) beschäftigte. Später schuf Rottmayr Deckengemälde für Schloss Schönbrunn (nicht mehr erhalten) sowie für die Peters- und für die Karlskirche. Zu den großen Malern der Epoche zählte auch Paul Troger. Er schuf in Salzburg am Beginn seiner Karriere das Hochaltarbild und das Kuppelfresko der Kajetanerkirche. Ein ebenfalls von ihm stammendes Hochaltarbild und ein Deckenfresko in der Sebastianskirche gingen beim großen Stadtbrand im Jahr 1818 verloren. In der Romantik entdeckten Maler und (Reise)Schriftsteller die Schönheit der Stadt (wieder). Ihre Begeisterung, Salzburg in Wort und Bild zu erfassen, verbreitete sich bald in Europa und bildete eine frühe Grundlage für den aufkommenden Fremdenverkehr. Der in Niederösterreich geborene Maler Johann Fischbach ließ sich 1840 in Salzburg nieder, hatte hier eine Werkstatt und eine kleine Akademie, an der er Künstler ausbildete. Seine Ansichten von Salzburg fanden viel Anklang und später als Stahlstiche große Verbreitung. Der aus Bayern stammende Andreas Nesselthaler wirkte in Venedig, Bologna, Florenz, Rom, Neapel und für den russischen Hof, bevor er ab 1789 im Dienst Fürsterzbischofs Hieronymus Colloredo stand. Etliche seiner Werke befinden sich in der Residenzgalerie und im Salzburg Museum. Von Hubert Sattler stammt die wohl bekannteste und detailreichste Salzburg-Ansicht dieser Epoche - das 26 Meter lange Panoramabild, das im Panorama-Museum zu besichtigen ist. Rudolf von Alt verbrachte viele Jahre die Sommermonate in Salzburg, wo er Ansichten der Stadt und des Landes schuf. Eine Künstlergeneration später wirkte der in Salzburg geborene Hans Makart, der seinen großen Durchbruch in Wien hatte. Sein üppiger Stil, der sich an Tizian und Rubens orientierte, fand in der Ringstraßen-Epoche großen Zuspruch. Der in Radtstadt geborene Landschaftsmaler Franz Kulstrunk, der künstlerisch und thematisch wesentlich konservativer arbeitete, fand seine Berufung als Vedutenmaler. Sein Hauptwerk Die Stadt Salzburg im Jahre 1916, das sich im Rathaus befindet, ist ein monumentales Panorama-Bild und baugeschichtliches Porträt der Stadt dieser Epoche. Nach Ende des Ersten Weltkriegs lebte Anton Faistauer in Salzburg, Er schuf 1922/1923 die Deckengemälde in der Pfarrkirche Morzg mit zahlreichen Bild-Zitaten der Stadt und ihrer Umgebung (Schloss Hellbrunn, Rathaus, Maria Plain, Untersberg, Mönchsberg, Gaisberg usw.). Wenig später erhielt er den Auftrag, Fresken für das Festspielhaus auszuführen. Oskar Kokoschka gründete nach dem Zweiten Weltkrieg gemeinsam mit dem Salzburger Kunsthändler und Verleger Friedrich Welz die Internationale Sommerakademie für Bildende Kunst Salzburg, die bis heute alljährlich auf der Festung Hohensalzburg stattfindet. Der in Salzburg geborene Wilhelm Kaufmann war als junger Mann gemeinsam mit Anton Faistauer an der Ausmalung der Morzger Kirche sowie an der Herstellung der Gobelins für das Festspielhaus beteiligt. ==== Skulptur ==== Die frühesten und größten Auftraggeber für Skulpturen waren im Mittelalter Fürsten und Ordensgemeinschaften. Wie schon in der Malerei dominierten sakrale Themen. Einer der bekanntesten Bildhauer der Spätgotik, Michael Pacher, stammte aus Tirol und verbrachte seine letzten Lebensjahre in Salzburg. Hier schuf er für die Franziskanerkirche und für die St. Michaelskirche Flügelaltäre, von denen nur Einzelfiguren erhalten sind. Wenig ist von der Bildhauerkunst der Renaissance bekannt. Die Epoche war von Fürsterzbischof Wolf Dietrich von Raitenau geprägt, der am Übergang von Renaissance zu Barock wirkte und Auftraggeber etlicher Architektur war. Malereien und Skulpturen seiner Ära waren schon stark vom aufkommenden Barock beeinflusst. Der bekannteste Salzburger Bildhauer dieser Ära war Bernhard Michael Mandl. Er wurde in Böhmen geboren, lebte aber ab seinem 30. Lebensjahr in Salzburg, wo er hauptsächlich für Fürsterzbischof Johann Ernst von Thun arbeitete. Zu seinen bedeutendsten Werken gehören der Rossebändiger der Marstallschwemme, die Statuen der Apostel Peter und Paul vor der Fassade des Domes, Athletenfiguren im Mirabellgarten oder Giebelfiguren an der Markus-/Ursulinenkirche. Vor 1730 schuf Georg Raphael Donner die Marmorstiege im Schloss Mirabell, die ein bedeutendes Werk seiner frühen Schaffenszeit darstellt. Wichtige Künstler des 18. Jahrhunderts waren Sebastian Stumpfegger und Andreas Götzinger, die gemeinsam Portale und Oratorien in der Kollegienkirche schufen. Die Fassade der Pfarrkirche Mülln sowie das Klosterportal sind auf Sebastian Stumpfegger zurückzuführen, der am Umbau mehrerer Kirchen in Salzburg beteiligt war. Von Andreas Götzinger stammen das innere Paar der Borghesischen Fechter sowie Postamente und Balustraden im Mirabellgarten, die Fassade, der Hochaltar und der Brunnen am Sockel der Erhardkirche sowie einige Arbeiten in der Dreifaltigkeitskirche. Johann Georg Hitzl ist für sein zartes Schnitzwerk bekannt, mit dem er Kanzeln (wie die in der Pfarrkirche Mülln) überzog, und er schuf feingliedrige Statuen für die Pfarrkirche in Maxglan und für die Stiftskirche St Peter. Von Josef Anton Pfaffinger stammen etliche Statuen des damals populären Brückenheiligen Nepomuk, wie die bei den Barmherzigen Schwestern an der Salzach, an der Brücke über die Glan in Maxglan und beim Leopoldskroner Weiher. Johann Baptist Hagenauer schuf die Marienstatue am Domplatz und die künstlerische Ausgestaltung des Sigmundstors. Johann Piger, der Mitte des 19. Jahrhunderts im Oberinntal geboren wurde, lebte und wirkte beinahe sechzig Jahre in Salzburg. Holzstatuen von ihm befinden sich in der Herz-Jesu-Kirche in der Riedenburg, im Kapuzinerkloster und in der Franziskanerkirche. Giacomo Manzù, ein Bildhauer des 20. Jahrhunderts, ist der Schöpfer der Porta dell’Amore („Tor der Liebe“) am Dom und der Figur Kardinal vor den Bögen des Doms. Anselm Kiefer schuf als erster Künstler ein Werk für die Salzburg Foundation, das begehbare Kunstwerk A.E.I.O.U., das im Furtwänglerpark steht. Von Manfred Wakolbinger stammt die Figur Connection für den Walk of Modern Art, ein auf zehn Jahre angelegtes Kunstprojekt der Salzburg Foundation. Für dieses breitgefächerte Kunstprojekt haben auch Mario Merz, Marina Abramović, Markus Lüpertz, James Turrell, Stephan Balkenhol, Anthony Cragg, Christian Boltanski, Jaume Plensa, Brigitte Kowanz und Erwin Wurm Werke beigesteuert. Alle Skulpturen stehen im öffentlichen Raum und können besichtigt werden. === Kino und Filmproduktion === Salzburg hat eine lange Kino- und Filmtradition. Das Mozartkino in der Kaigasse 33, eines der ältesten Kinos der Welt; es wurde im Jahr 1905 eröffnet. Seit 1918 ist es im Altstadthotel Kasererbräu untergebracht. Der bislang größte Umbau zum modernen Kino-Center fand 1987 statt. Es ist heute die letzte privat geführte Institution dieser Art in Salzburg. Das Maxglaner Kino war nach dem in Wien das zweitgrößte Österreichs. Am Beginn der Steingasse befindet sich Das Kino, dessen Programmschwerpunkt auf Kulturfilmen und Retrospektiven liegt. Jeden Herbst findet hier ein Bergfilmfestival statt. In Salzburg gab es auch ein Filmstudio. 1921 hatte die Salzburger Stiegl-Brauerei in Maxglan der neu gegründeten Firma Salzburger-Kunstfilm Gebäude zur Verfügung gestellt. Dort errichtete die Filmproduktionsgesellschaft ein Labor und ein Filmatelier. Der erste Dokumentarfilm hieß Die Festspiele 1921, der erste Spielfilm, Die Tragödie des Carlo Prinetti, wurde 1924 gedreht. Der Vorläufer des Elmo Kinos entstand 1947 im Turnsaal der Volksschule Plain. 1949 errichteten Alfred und Else Morawetz an der Lehener Brücke ein Gebäude mit einem Kinosaal für hundert Besucher. 1977 wurde um einen zweiten Saal erweitert, vier Jahre später um einen dritten und vierten. Nach 1980 fügte man einen fünften Saal hinzu, der größte verfügt über 435 Sitzplätze. Im Jahr 2012 musste das Elmo Kino wegen finanzieller Probleme zusperren. Noch bedeutender waren die Auftritte Salzburgs in heimischen und internationalen Filmproduktionen. An vorderster Stelle seien Der Kleine Grenzverkehr von Erich Kästner (1943) und die spätere Verfilmung desselben Themas unter dem Titel Salzburger Geschichten (1956) genannt. Vier Jahre früher hatte Gene Kelly in Salzburg und am Walserberg für den Thriller The Devil Makes Three gedreht. 1965 entstand der Film The Sound of Music, dessen Beliebtheit im englischsprachigen Raum bis heute ungebrochen ist. 2009 wurde einige Tage für den Hollywood-Action Film Knight and Day mit Tom Cruise und Cameron Diaz in Salzburg gedreht. Schauplätze waren die Linzer Gasse, die Steingasse und das Haus für Mozart. === Konzerte, Theater- und Literatur-Veranstaltungen === Zu den jährlich wiederkehrenden überregionalen Veranstaltungen gehören die Mozartwoche im Jänner, das Aspekte Festival im März, die Osterfestspiele Salzburg, die Begegnungen und das Literaturfest im Mai, die Salzburger Pfingstfestspiele, im Juni/Juli das Internationale Cantus MM Musik & Kultur Festival sowie nur im Juli die Sommerszene und als Höhepunkt des Theaterjahres im Juli und August die Salzburger Festspiele. Im Herbst finden die Salzburger Kulturtage, der Jazz-Herbst, das Krimifest und das Dialoge Festival statt. === Brauchtumsveranstaltungen === Die Erhaltung und die Pflege der Volkskultur stellen den Salzburgern hohe Werte dar. Darin beinhaltet sind alle Arten der Volksmusik, wie die Blasmusik, das Volkslied, der Volkstanz, das chorische Singen und verschiedene Brauchtumsrituale zu bestimmten Anlässen und Festen. Initiatoren und Ausführende sind die zahlreichen Trachten- und Schützenvereine, Musikkapellen und Chöre. Ihre Mitglieder arbeiten fast alle ehrenamtlich. Ein Höhepunkt bilden für sie die im Sommer während der Festspielzeit stattfindenden Freiluftaufführungen im Heckentheater im Mirabellgarten. Die Bürgergarde hat ihre Anfänge im 13. Jahrhundert. Sie übte damals hauptsächlich eine militärische Funktion zum Schutz der Bürger aus. Ihre Mitglieder widmen sich heute der Traditionspflege und nehmen an etlichen Großveranstaltungen, wie der Georgi-Kirchweih, der Eröffnung der Sommerfestspiele und der Martini-Feier, teil. Das Brauchtums-Kalenderjahr beginnt in Salzburg, einschließlich von Neujahrskonzerten und -veranstaltungen, mit dem am 5. Januar stattfindenden Glöcklerlauf der Lichtperchten. Wer sich auf Palmsonntag, auf die Karwoche und auf Ostern vorbereiten möchte, kann im Salzburger Freilichtmuseum das Palmbuschen-Binden und andere Osterbräuche erlernen. Diese Zeit bildet einen Höhepunkt des katholischen Kirchenjahres, in der zahlreiche Gottesdienste stattfinden (am Karfreitag mit eigener Trauerliturgie), die auf das Hochfest Ostern vorbereiten. Das VolksLiedWerk unterstützt die Salzburger Straßenmusik, deren verschiedene Gruppen zwischen April und September jeden Samstag auf Plätzen der Innenstadt auftreten. Um den 1. Mai findet wie an den meisten Orten Österreichs das Aufstellen geschmückter Maibäume statt. Meist wird das Fest musikalisch umrahmt. Von Anfang Mai bis Ende August geben die Mitglieder der Blasmusik-Kapellen jeden Mittwoch abends und an Sonn- und Feiertagen vormittags Leuchtbrunnen- und Promenadenkonzerte im Mirabellgarten. Ein beliebtes Volksfest im Jahreskreis ist die Salzburger Dult (aus dem Althochdeutschen: Dult = Feier, Fest) um Pfingsten. Dieser ursprüngliche Jahresmarkt, eine Art Messe, hat seine Wurzeln im 10. Jahrhundert. Am Mittwoch vor Christi Himmelfahrt findet alljährlich die Lange Nacht der Chöre statt. Die Sommerfestspiele im Juli werden traditionell mit einem Fackeltanz begonnen. Daran nehmen rund hundert Tanzpaare der verschiedenen Brauchtumsgruppen Salzburgs teil. Der Erntedank wird am zweiten Sonntag im September gefeiert, und der seit Jahrhunderten existierende Ruperti-Kirtag, das Domkirchweihfest, am Namenstag des Stadtpatrons, des Hl. Rupert, am 24. September. Den meisten Festen gehen Gottesdienste im Dom voraus, der Rest des Tages gehört der Volkskultur und dem Brauchtum mit Auftritten von Blasmusik-Ensembles, Volkstanzgruppen, Heimatvereinen, Schützen und Chören. In der Zeit um den 6. Dezember, dem Namenstag des Hl Nikolaus, beginnen die traditionellen Krampus- und Perchtenläufe. Sie gehören zur Vorweihnachtszeit wie der Christkindlmarkt und das Advent-Singen, das den Beginn des Kirchenjahres darstellt. Nicht zu vergessen sind auch die (Bio-)Bauernmärkte auf dem Kajetaner- und Universitätsplatz sowie die jährlich stattfindenden, vorweihnachtlichen Christkindlmärkte, auf denen u. a. auch Hersteller handwerklicher Erzeugnisse ihre Produkte ausstellen. Die bekanntesten sind die Märkte auf dem Domplatz, auf dem Mirabellplatz, innerhalb des Areals der Festung Hohensalzburg und im Park von Schloss Hellbrunn. Einen musikalischer Höhepunkt des Christkindlmarktes auf dem Dom- und Residenzplatz bildet das historische Turmblasen an Donnerstagen und Samstagen abends. Nach Weihnachten ist eine Krippentour angesagt – die Krippe von St. Michael ist das ganze Jahr über zu besichtigen, die anderen meist nach Weihnachten. Kleine Juwelen der Volkskunst sind die barocke Krippe der Franziskaner und die 1964 von Brigitte Aichhorn-Kosina begonnene AIKO-Krippe mit 309 Figuren und naturgetreu nachgebildeter Landschaftsszenerie. Letztere kann das ganze Jahr über in der Steingasse besichtigt werden. Das Winterfest ist ein Festival für zeitgenössische Zirkuskunst im Volksgarten Salzburg. === Dialekt === In Bezug auf den gesamtdeutschen Sprachraum zählt das Österreichische zur süddeutschen Redensart. Der Salzburger Dialekt kann der Gruppe der bairisch-österreichischen Dialekte zugeordnet werden, insbesondere dem mittelbairischen Dialekt. Er wird sprachwissenschaftlich auch als ostoberdeutsch bezeichnet und in Nordbairisch, Mittelbairisch und Südbairisch unterteilt. Allgemeines Kennzeichen dieser Sprache ist, dass die harten Laute p, t, k zu den weicheren b, d, g abgeschwächt werden. Lange Silben werden, häufig unter Verwendung mehrerer Vokale, verkürzt. Beispiele: spielen - schbuin, wollen - woin, fahren - foan, heizen - hoazen, daheim - dahoam usw. Obwohl das Salzburgerische von vielen jungen und alten Menschen des Landes verwendet wird, entwickelt sich die Sprache österreichweit in eine völlig andere Richtung. Da Kinder und Jugendliche viele Stunden des Tages weniger mit ihren Familien als vor dem Fernseher verbringen und deutsche oder deutsch synchronisierte Sendungen in bundesdeutschem Hochdeutsch sehen und hören, verwenden sie in der Schule und auch untereinander immer häufiger diese „deutsche Einheitssprache“. Irmgard Kaiser und Hannes Scheutz, zwei Sprachwissenschaftler der Universität Salzburg, haben in ihren Arbeiten festgehalten, dass der Prozentsatz von Dialektsprechern in der Stadt im Laufe der letzten paar Jahre gesunken ist. == Umwelt und Ökologie == === Geologie === Die Stadt befindet sich unmittelbar am Nordrand der Alpen. Der Gaisberg mit dem Kühberg, der Kapuzinerberg und der Festungsberg sind Teile der Kalkvoralpen. Ihre schroffen Nordabhänge bilden den nördlichen Alpenrand, der in ostwestlicher Richtung durch die Stadt verläuft. Das Hügelland im Norden gehört zur Flyschzone und damit zum Alpenvorland.Das Salzburger Becken wurde durch den eiszeitlichen Salzachgletscher ausgeschürft. Danach wurde das zuerst von einem See ausgefüllte Becken großteils wieder mit Sedimenten aufgefüllt. Nur der Mönchsberg, der Rainberg und der Hellbrunner Berg sind Reste von verfestigten Schottern (Konglomeraten) der letzten Zwischeneiszeit. Das Salzburger Becken besteht salzachnahe aus einer tiefer liegenden Alluvialebene. Oberhalb der linksufrig markanten, von Nord nach Süd durchs Stadtgebiet ziehenden Terrassenkante schließt sich die Friedhofsterrasse an, auf der sich in Liefering und Morzg ertragreiche frische Böden bildeten, während in Schallmoos und im Leopoldskroner Moos einst ausgedehnte Moorgebiete vorhanden waren. === Klima === Das Klima in Salzburg ist kühlgemäßigt. Der Einfluss des ozeanischen Klimas ist stärker als der des kontinentalen Klimas. Die mittlere Jahrestemperatur im Zeitraum zwischen 1971 und 2000 betrug 9 °C. Im Jänner liegt die Durchschnittstemperatur bei −0,8 °C, während sie im Juli auf 18,6 °C ansteigt. Die Niederschlagsmenge ist durch die Nordstaulage vergleichsweise hoch. Sie betrug im genannten Zeitraum durchschnittlich 1184 mm. Der niederschlagsreichste Monat ist der Juli mit durchschnittlich 160 mm, die niederschlagsärmsten Monate sind Jänner, Februar und März mit weniger als 70 mm. In Salzburg herrschen durch die Nähe zum Alpenraum ausgeprägte Föhnlagen mit warmem und trockenem Südwind. Bedingt durch das Salzachtal wehen die Winde in der Stadt überwiegend in südlicher und nördlicher Richtung. Starkwinde kommen vor allem aus Nordwesten. === Naturdenkmale und Schutzgebiete === Im Stadtgebiet finden sich 41 Naturdenkmale, großteils alte, landschaftsprägende oder kulturell bedeutsame Bäume. Zu den geschützten Landschaftsteilen zählt auch die 1615 angelegte Hellbrunner Allee. Sie ist eine der ältesten erhaltenen herrschaftlichen Alleen Europas und der größte Altholzbestand des Landes außerhalb der Gebirgsregion. Für den Artenschutz von holzbewohnenden Käfern, Fledermäusen und Spechten ist sie von besonderer Bedeutung. Die Kopfweiden am Almkanal mit über 500 Bäumen sind die einzigen alten Kopfweiden im Land Salzburg. Die ununterbrochene Kopfweidentradition reicht bis ins Mittelalter zurück. Die Felsensteppe am Rainberg beherbergt eine besonders trockenheitsliebende Pflanzen- und Tierwelt.Seit langem kaum genutzte Waldbestände sind die Itzlinger Au, der Kühberg und das Naturwaldreservat Gaisberg. Ein gut erhaltener Moorrest ist das Samer Mösl im Nordosten der Stadt. Große Teile des Grünraumes in der Stadt sind Landschaftsschutzgebiete, etwa der Kapuzinerberg, der Mönchsberg und der Rainberg. Auch der Grünraum um Hellbrunn und die Hellbrunner Allee, die kultivierte Moorlandschaft des Leopoldskroner Mooses, der Landschaftsraum um den Leopoldskroner Weiher und der Grünraum um die Salzachseen sind Landschaftsschutzgebiete. === Grünlanddeklaration === Im Jahr 1985 hat die Stadt Salzburg als Antwort auf die fortschreitende Zerstörung der wertvollen Stadtlandschaften eine Grünlanddeklaration beschlossen und damit eine unverrückbare Bauland-Grünlandgrenze festgelegt. In einer Erneuerung der Deklaration 2008 wurde diese rechtlich verankert und die Dauer der Deklaration auf 30 Jahre konkretisiert. Der Flächenverbrauch für den Siedlungsbau soll mit diesem Instrument gebremst und gleichzeitig die bauliche Entwicklung innerhalb der Siedlungsgrenze durch Nachverdichtung und Nutzung unbebauten Baulandes gefördert werden. == Freizeit == === Sport === ==== Sportstätten ==== In der Stadt Salzburg befinden sich 59 Turn- und Sporthallen sowie 39 Fußballplätze. Ebenfalls im Stadtgebiet etabliert sind 22 Tennisanlagen mit 68 Frei- und 18 Hallenplätzen. Fünf Freibäder und der Badesee Liefering stehen im Sommer zur Verfügung. Das Paracelsusbad neben dem Kurhaus ist ein ganzjährig genutztes Hallenbad. Elf Stockbahnen, drei Squash-Anlagen, eine Eisarena, drei Minigolf-Anlagen und sieben Sportschießstätten bereichern das Angebot. Eine wichtige Sportstätte, die für viele verschiedene Sportarten genutzt wird, ist die Sporthalle Alpenstraße mit einem Fassungsvermögen von 2200 Besuchern. 10 km vom Zentrum Salzburgs entfernt befindet sich in östlicher Richtung der Salzburgring, eine im Jahr 1969 eröffnete permanente Rennstrecke. ==== Sportvereine ==== Die meisten Sportvereine Salzburgs sind in die Dachverbände ASKÖ, ASVÖ und der christlich geprägten Sportunion zusammengeschlossen. Der Salzburger Turnverein wurde 1861 gegründet, der Maxglaner Turnverein 1902. Der älteste reine Sportclub im Bundesland Salzburg ist der Salzburger AK 1914 aus dem Nonntal. Der ASK Salzburg im Stadtteil Maxglan besteht seit 1922. Erfolgreichster Fußballverein Salzburgs war der 1933 gegründete SV Austria Salzburg. Im Jahr 2003 übersiedelte der Verein in das Stadion Wals-Siezenheim, in dem auch drei Spiele der Fußball-EM 2008 ausgetragen wurden. 2005 wurde der Verein in FC Red Bull Salzburg umbenannt, welcher in den darauffolgenden fünf Jahren drei Mal den Österreichischen Meistertitel erringen konnte. Der SV Austria Salzburg gründete sich als „moralischer“ Nachfolger neu und spielte erst in Nonntal und später in Maxglan. Der 1977 als Salzburger EC gegründete Eishockeyverein EC Red Bull Salzburg spielt seit 2004 in der ersten Liga. Die Damenmannschaft Ravens Salzburg gewann in der Saison 2005/06 den Meistertitel. Im American Football gewannen die Salzburg Lions 1984 den erstmals gespielten österreichischen Meistertitel dieser hier jungen Sportart. Heute spielen sie als Salzburg Bulls in der zweitklassigen Division I Amateursport auf hohem Niveau. Rollstuhltanzen kann man beim Salzburger Rollstuhltanzsportverein WheelChairDancers.Die Leistungstanzpaare des Vereins sind Mitglieder der Nationalmannschaft und repräsentieren Österreich bei internationalen Wettkämpfen. Bei der Weltmeisterschaft 2010 in Hannover ertanzte ein Paar die Bronzemedaille. ==== Überregionale Sportveranstaltungen ==== Seit Frühling 2004 findet jährlich der Salzburg-Marathon der AMREF statt. Bei den Lauffestspielen durch die Altstadt und die alten Alleen nehmen Läufer aus über 30 Nationen teil. Die Straßen-Radweltmeisterschaft wurde 2006 in Salzburg und Umgebung ausgetragen. An den vier Renntagen wohnten mehr als 330.000 Besucher dem Großereignis bei. Salzburg hat sich für die Olympischen Winterspiele 2010 und 2014 beworben, konnte die Jury jedoch nicht überzeugen. Die 5. Special Olympics World Winter Games fanden vom 20. bis 27. März 1993 in Salzburg und Schladming, Österreich, statt. Es waren die ersten Special Olympics World Winter Games, die außerhalb Nordamerikas veranstaltet wurden. An den Spielen beteiligten sich etwa 1.600 Athleten aus 50 Ländern. === Öffentliche Gärten und Parkanlagen === Weitum bekannt ist im Norden des weitläufigen Schlossparks von Hellbrunn der große Renaissancegarten mit seinen geometrischen Wegen und Teichanlagen. Im Süden befindet sich am Anifer Alterbach der einst sakral geprägte Wildnispark. Zu den bekannten Gärten gehört auch der barocke Mirabellgarten mit dem Heckentheater, dem Zwergelgarten und dem Bastionsgarten. An den Mirabellgarten grenzt in der Neustadt direkt der Kurgarten an. Der erhaltene Erdkern ist der letzte Überrest der einstigen großen Lodronschen St.-Vitalis-Bastion. Aus alten Gartenanlagen hervorgegangen ist der Baron-Schwarz-Park im Stadtteil Schallmoos. Er wurde anstelle des Gartens des Schallmooshofes und des späteren weitläufigen Gartens der Baron-Schwarz-Villa angelegt. Der Minnesheimpark in Gnigl ist der Rest des einstigen Gartens des Lodronschen Schlosses Minnesheim. Der Preuschenpark in Aigen-Abfalter war früher der Garten der Villa Preuschen, des früheren Abfalterhofes. Der Stölzlpark in Maxglan-Burgfried war im frühen 20. Jahrhundert der Garten des Villenbesitzers und späteren Maxglaner Bürgermeisters Stölzl. Der Volksgarten in Parsch, früher Franz-Josefs-Park genannt, wurde anlässlich des 50. Regierungsjubiläums von Kaiser Franz Joseph I. neu gestaltet. Anstelle der Brothäuslau errichtet ist er bis heute ein Naherholungsraum für die Salzburger. In die gleiche Zeit fiel die Anlage des Kernbereiches des Donnenbergparks in Nonntal. Er entstand, mehrfach erweitert aus dem Garten des Seniorenheimes Versorgungshaus Nonntal. Das Erholungsgebiet Salzachsee nahe der Salzachseesiedlung ist ein parkartig gestalteter Raum. Er wurde auf einer großen 1967 rekultivierten Mülldeponie angelegt und mit einem Badesee sowie weiteren kleinen Baggerseen der Bevölkerung zur Verfügung gestellt. In Lehen befindet sich stadteinwärts der Lehener Park, ein Rest der einstigen Au. 1996 übergab die Salzburg AG den Dr.-Hans-Lechner-Park in Schallmoos der Salzburger Bevölkerung. === Gastronomie === In Salzburg stark vertreten ist die traditionelle regionale und österreichische Küche, die sowohl in bodenständiger Variante als auch in gutbürgerlicher Umgebung und teilweise in gehobener Atmosphäre anzutreffen ist. Etliche solcher Gaststätten genießen auch in weiterem Umkreis einen guten Ruf. In der Altstadt befinden sich neben einigen gehobenen und bürgerlichen Restaurants auch zahlreiche Szenelokale und Bars mit jugendlichem Publikum, die sich besonders entlang der Salzachkais angesiedelt haben. Ein Aushängeschild angestammter Salzburger Gastronomie ist das 1621 gegründete Augustiner Bräu Kloster Mülln – im Volksmund „Bräustübl“ genannt. Hier wird Bier ausschließlich in Steinkrügen direkt aus dem Holzfass ausgeschenkt. Die historischen Räumlichkeiten umfassen mehrere Säle, einen Biergarten sowie Geschäfte für Brot- und Fleischwaren etc. für eine typische Jause. Das traditionsreiche Bierlokal, das altbayrischen Charakter aufweist, ist nicht nur ein beliebter Treffpunkt für Salzburger, sondern gilt auch als touristischer Anziehungspunkt. === Kulinarische Spezialitäten === 1890 erfand der Salzburger Konditor Paul Fürst die Mozartkugel, eine Schokoladenkugel mit einem Marzipankern. Sie wurde zum kulinarischen Wahrzeichen der Stadt, und Mozartkugeln werden seitdem von verschiedenen Herstellern angeboten. Typisch sind auch die Salzburger Nockerln, eine gebackene Süßspeise aus gezuckerten und aufgeschlagenen Eiern. Beliebt ist auch die Bosna, ein Imbiss, der aus Schweinsbratwürsteln in einem Weißbrotwecken mit gehackten Zwiebeln und Currygewürz besteht und erstmals 1949 angeboten wurde. == Wirtschaft und Infrastruktur == === Überblick === Die Stadt Salzburg ist das Wirtschaftszentrum einer Region, die im Norden bis nach Oberösterreich und im Westen bis in die bayerischen Landkreise hineinreicht. Sie ist damit der wirtschaftliche Motor des Bundeslandes. Die Wirtschaftskraft der Stadt liegt, gemessen an der Bruttowertschöpfung des gesamten Landes Salzburg, bei rund 43 %.Im Jahr 2001 hatten 7.838 Betriebe mit zusammen 100.055 Beschäftigten in 10.210 einzelnen Arbeitsstätten hier ihren Standort. 2001 wurden in Salzburg 10.729 mehr Arbeitskräfte beschäftigt als zehn Jahre vorher, das entspricht einer Steigerung von 12 %. Die Zahl der Arbeitsstätten wuchs von 1991 bis 2001 um 24,8 %, von 8.182 auf 10.210. Salzburg besitzt dabei eine ausgeprägt kleinbetriebliche Struktur.Nicht wenige in Salzburg Beschäftigte sind Pendler. 44.082 oder 57 % der nach Salzburg einpendelnden Beschäftigten stammen aus dem Flachgau, 13 % aus dem Tennengau. Aus den restlichen Salzburger Gauen kommen 9 %. Aus Oberösterreich – vor allem aus den Bezirken Braunau und Vöcklabruck – pendeln über 14 % der hier beschäftigten Nichtsalzburger ein, aus den übrigen Bundesländern 7 %. Der Anteil der aus Salzburg auspendelnden Beschäftigten liegt bei 15.027 Personen, die überwiegend in stadtnahen Betrieben im Flachgau arbeiten. === Unternehmen (Auswahl) === Salzburg ist der Sitz bekannter internationaler Unternehmen. Der größte Wirtschaftsbetrieb in Salzburg ist mit einem Konzernumsatz von 24,2 Milliarden Euro im Jahr 2021 die Porsche Holding. Sie ist im Kraftwagen-Import, -Export -Handel und in der Verwaltung von Grundstücken und Immobilien tätig. An zweiter Stelle folgt mit 17,4 Mrd. Euro (2021) die Spar Österreichische Warenhandels-AG. Das Unternehmen ist im Lebensmitteleinzelhandel und in Entwicklung und Betrieb von Einkaufszentren eines der führenden österreichischen Unternehmen. Die größte und älteste österreichische Bausparkasse ist die in Salzburg-Süd beheimatete Wüstenrot-Gruppe. Bedeutend sind die beiden Kraftwagen-Importfirmen BMW Austria und Mercedes-Benz Österreich. Die größte Spedition Salzburgs ist die Lagermax Lagerhaus und Speditions AG, die neben der Güterbeförderung einen Paketdienst, Fahrzeuglogistik und Expressdienste anbietet. Die größte private Brauerei Österreichs ist die Stieglbrauerei. Sie wurde 1492 in der Altstadt gegründet und befindet sich seit 1863 im Stadtteil Maxglan. Im Jahr 2005 wurde die Stieglbrauerei erweitert und das zu dieser Zeit modernste Sudhaus eingeweiht.Mit der Unito Versand & Dienstleistungen ist die weltweit agierende Otto Group in Salzburg. Das zweitgrößte Bauunternehmen Österreichs, die Porr, hat eine Niederlassung in Salzburg, in der auch weitere Konzernunternehmen wie die Teerag-Asdag vertreten sind. === Einkaufszentren === Die beiden überregionalen Einkaufszentren Salzburgs sind die Geschäfte der Altstadt (Umsatz 2005: 206 Mio. Euro) und der Europark in Taxham. Der Europark ist, gerechnet auf den Umsatz pro Quadratmeter, das erfolgreichste Einkaufszentrum Österreichs. Zudem erreichte es 2007 als erstes Shoppingcenter Österreichs die Auszeichnung der ICSC als Bestes Shopping Center der Welt. Regionale Zentren sind die Shopping Arena Alpenstraße, früher Shopping Center Alpenstraße (SCA mit 135 Mio. Euro Umsatz), das Zentrum Im Berg (ZIB) samt Umgebung (66 Mio.) und der Bahnhofsbereich (56 Mio.). Einschließlich der lokalen Einkaufszentren wurde salzburgweit auf 217.514 m² Verkaufsfläche ein Jahresumsatz von 909 Mio. Euro erzielt. Im Jahr 2009 wurde in der Nähe des Salzburger Flughafens das Designer Outlet auf einer Gesamtfläche von 28.000 m² eröffnet. === Tourismus === Der Tourismus ist für die Stadt ein bedeutender Wirtschaftsfaktor. Mit über drei Millionen Nächtigungen im Jahr 2017 liegt sie nach Wien unter Österreichs Städten an zweiter Stelle. Der wachsende Kongress- und Messetourismus sowie neue Flugverbindungen begünstigen diese Entwicklung.Der Gesamt-Tourismus-Umsatz in der Stadt Salzburg beträgt rund 800 Mio. Euro. Der Anteil des Tourismus am lokalen Bruttosozialprodukt liegt einer Schätzung nach bei rund 20 %. Über 8.000 Arbeitsplätze werden durch den Tourismus in der Stadt gesichert.Im Tourismusbereich selbst arbeiten zwar nur 5,6 % der Salzburger, seine Wirkungen auf andere Dienstleistungsbranchen, vor allem den Handel sind aber hoch. Die Festspiele haben pro Jahr einen gesamtwirtschaftlichen Nutzen von rund 276 Mio. Euro und einen Beschäftigungseffekt von etwa 5000 Arbeitsplätzen (etwa 220 Mitarbeiter im Jahresschnitt). Neben den Festspielen tragen Mozartwochen, Osterfestspiele, Pfingstfestspiele & Barock und das Salzburger Adventsingen zur Attraktivität Salzburgs bei. Daneben sorgen Besuchermagneten wie die Festung Hohensalzburg (rund 1,14 Mio. Besucher), Mozarts Geburts- und Wohnhaus (rund 500.000 Besucher) und Schloss Hellbrunn (rund 300.000 Besucher) für hervorragende Ergebnisse. Auch das Messe- und Kongresswesen hat für den Tourismus der Stadt Salzburg Bedeutung, es führt zu verbesserten Auslastungen der Beherbergungskapazitäten außerhalb der Hauptsaison. === Messen === Salzburg erlangt durch das Messezentrum als Messestadt immer mehr Bedeutung. 1973 gründeten die Stadt Salzburg, das Land Salzburg und die Wirtschaftskammer Salzburg die „Salzburger Ausstellungs Zentrum Ges.m.b.H.“, heute Messezentrum Salzburg GmbH. Die Messezentrum Salzburg GmbH steht jeweils zu einem Anteil von 39,3 % im Eigentum des Landes Salzburg und der Stadt Salzburg sowie zu einem Anteil von 21,4 % im Eigentum der Wirtschaftskammer Salzburg.Mit der A1-Anschlussstelle „Messe“ (Exit 291) verfügt das Messegelände über eine eigene Autobahnauffahrt und -abfahrt, die direkt in die Parkareale mit rund 3.300 Parkplätzen leitet.Das Messezentrum Salzburg mit seinen zehn Messehallen und einer Ausstellungsfläche von insgesamt 36.625 m² sowie der 2.545 m² großen Salzburgarena zählte 2011 rund 630.000 Besucher. Dabei werden von der Betreibergesellschaft Messezentrum Salzburg GmbH und den Gastveranstaltern etwa 32 Fach- und Publikumsmessen jährlich angeboten.Im Herbst 2011 wurde der Bau einer neuen Kongressmessehalle mit einer Ausstellungsfläche von 15.163 m² abgeschlossen. Im August 2012 eröffnete zudem ein 4.600 m² großer Tagungsbereich. === Verkehr === ==== Verkehrsentwicklung ==== Die Verkehrsentwicklung in der Stadt Salzburg ist von der stetigen Zunahme im privaten Kfz-Verkehr gekennzeichnet. Der mit öffentlichen Verkehrsmitteln zurückgelegte Anteil der Wege sank dagegen zwischen 1995 und 2004 von 21 % auf 16 %, ein Wert der im mitteleuropäischen Vergleich unterdurchschnittlich ist. Zugenommen hat aber der Radverkehr zwischen 1995 und 2008 von 12 % auf 20 %. Im Jahr 2017 lag der Motorisierungsgrad (Personenkraftwagen pro 1000 Einwohner) bei 557.Der folgende Graph zeigt einen Vergleich der österreichischen Landeshauptstädte in sieben umwelt-relevanten Bereichen, welcher 2020 durch die Umweltorganisation Greenpeace durchgeführt wurde (je mehr Punkte umso besser): Verkehrsmittelwahl: Anzahl der Wege im Personenverkehr, die umweltfreundlich zu Fuß, per Rad oder mit öffentlichem Verkehr zurückgelegt werden. Luftqualität: Belastung mit Stickstoffdioxid und Feinstaub. Radverkehr: Länge des Radnetzes, Anzahl der City-Bikestationen, Anzahl der Verkehrsunfälle. Öffentlicher Verkehr: Preis, zeitliche und räumliche Abdeckung. Parkraum: Preis für das Parken, Anteil der Kurzparkzonen. Fußgänger: Flächen der Fußgängerzonen und der verkehrsberuhigten Zonen, Anzahl der Verkehrsunfälle. Auto-Alternativen: Anzahl Elektro-Autos, Anzahl der Elektro-Ladestationen, Anzahl der Car-Sharing-Autos. Durchschnitt: Summe der sieben Einzelwertungen geteil durch sieben.Die Darstellung von Grafiken ist aktuell auf Grund eines Sicherheitsproblems deaktiviert. Vom frühen Mittelalter bis 1859 war die hölzerne Stadtbrücke, an der Stelle der heutigen Staatsbrücke, die einzige Brücke über die Salzach. Damals lag die nächste Brücke knapp 20 km nördlich in Laufen sowie im Süden in der Stadt Hallein. Zuerst in der Mitte der Stadtbrücke, später am linken Salzachufer, wurde von Mautnern die Brückenmaut eingehoben. 1859 wurde als zweite Brücke in der Stadt die erste Karolinenbrücke eröffnet, ein Jahr später die Eisenbahnbrücke. Nach der Autobahnbrücke sind die Lehener, Karoliner und Staatsbrücke die drei wichtigsten Querungen der Salzach. ==== Spezielle Verkehrsregulierungsmaßnahmen ==== Ein seit langem bestehendes Problem stellen die Zufahrten von Kraftfahrzeugen in die Fußgängerzone in der Altstadt dar. Aufgrund häufiger Nichtbeachtung von Fahrverboten trat am 21. Juni 2010 die „Pollerregelung“ in Kraft. Diese Regelung sorgte vor allem bei Anrainern zu Beschwerden, da ihre Bedürfnisse nicht berücksichtigt und von den verantwortlichen Politikern nicht angehört wurden. Insgesamt 36 Verkehrspoller sollen illegale Zufahrten in die Altstadt verhindern. Die Poller sind zum Teil fest montiert und an manchen Stellen per Fernbedienung versenkbar. Letztere können auch mit einem Polizeischlüssel, einer Codekonsole und am Mozartplatz mit dem Euroschlüssel versenkt werden. Während der Lade- und Lieferzeit von 6:00 Uhr bis 10:00 Uhr sind die Poller stets versenkt. In der Fußgängerzone wurde die Ladezeit bis 11:00 Uhr ausgedehnt. Aufgrund des hohen Verkehrsaufkommens im Sommer wurde 2012 eine sogenannte „Mittagsregelung“ eingeführt. Vom 16. Juli bis 17. August wurden die Zufahrten Neutor, Müllner Hügel und Staatsbrücke in den Bereich der linken Altstadt montags bis freitags von 10:00 bis 14:00 Uhr untersagt. Ausnahmen bestanden unter anderem für Anrainer und Hotelgäste.Die Maßnahme wurde höchst unterschiedlich bewertet und öffentlich heftig diskutiert.Seit 2016 wird versucht bei Schlechtwetter-bedingten hohen Verkehrsaufkommen den Verkehr mit „Pförtner“-Ampeln mit verlängerten Rot-Phasen in der Linzer Bundesstraße, Innsbrucker Bundesstraße und Münchner Bundesstraße, Umleitung der Autos per Überkopf-Hinweisen auf der Autobahn, verstärkter Beschilderung zu den Park & Ride-Parkplätzen und speziellen Park & Ride Tickets zu regulieren. ==== Fußgänger- und Fahrradverkehr ==== Besonders in der Innenstadt sind viele Ziele zu Fuß oder mit dem Fahrrad schnell erreichbar. Ein Großteil der Altstadt ist als Fußgängerzone ausgewiesen. Eine wichtige Rolle spielt das Fahrrad, dessen Anteil am Gesamtverkehr bei 18 % und damit österreichweit (nach Innsbruck und Bregenz gleichauf mit Graz) im Spitzenfeld liegt. Im Juni 2017 beschloss die Stadt, eine „Radverkehrsstrategie 2025+“ zu erstellen, nach der der Radverkehrsanteil bis 2025 auf 28 % steigen soll und welche die Stadtverwaltung zu Investitionen in die Infrastruktur für den Radverkehr verpflichtet.Seit 1991 arbeitet in der Stadtverwaltung ein eigener Radverkehrskoordinator. Heute sind in der Stadt über 170 km Radwege vorhanden. Besonders die Fahrradwege entlang der Salzach sind stark genutzt. Sie erlauben eine Durchquerung der gesamten Stadt ohne Kreuzung mit dem Kraftfahrverkehr. Brücken werden unterquert, Stege über den Fluss ermöglichen ein problemloses Wechseln der Salzachseiten.Auch das seit Ende 2005 von Gewista betriebene teils kostenlose Fahrradleihsystem Citybike mit einer Verleihstation am Ferdinand-Hanusch-Platz trägt zum hohen Fahrradverkehrsaufkommen bei. Am Hauptbahnhof, am Bahnhof Itzling und anderen Standorten wurden gesicherte Fahrradgaragen errichtet. ==== Öffentlicher Personennahverkehr ==== Die Stadt besitzt seit 1940 ein später oft erweitertes Oberleitungsbus-Netz. Der Oberleitungsbus Salzburg, von der Salzburg AG unter dem Namen Obus betrieben, ist der Hauptträger des öffentlichen Verkehrs in der Stadt Salzburg. Das Netz ist hauptsächlich sternförmig ausgerichtet. Dadurch fehlen einige wichtige Querverbindungen. Die Obusverbindungen werden durch ein Netz an Autobuslinien ergänzt, die nicht ans Obusnetz angebundene Gebiete erschließen und nach einem zuletzt entwickleeten Verkehrskonzept vermehrt Tangentialverbindungen und einen Ring um die Altstadt herstellen sollen.Die Salzburg AG betreibt ein Netz mit insgesamt zwölf Obuslinien auf einer Streckenlänge von 124 Kilometern. Mit 120 Obussen werden jährlich 5,3 Mio. Kilometer zurückgelegt und 41,5 Mio. Fahrgäste befördert. Das Autobusnetz der Stadt wird vom Salzburg AG-Tochterunternehmen Albus Salzburg betrieben und umfasst 15 Linien (Stand Mai 2023). Die Umlandgemeinden sind durch ein Regionalbusnetz der Postbus GmbH erreichbar. Die Verkehrsträger sind im Salzburger Verkehrsverbund aufeinander abgestimmt und in einem gemeinsamen Tarifsystem zusammengefasst. Salzburg ist ein wichtiger Bahnknotenpunkt in Österreich. Der Hauptbahnhof Salzburg wird von täglich etwa 28.000 Reisenden frequentiert (Stand 2019). Über die Westbahn gelangt man in den Osten Österreichs und in die Bundeshauptstadt Wien. Die Salzburg-Tiroler-Bahn führt in den Westen des Landes Salzburg bis nach Tirol, und die von ihr abzweigende Tauernbahn erreicht den Süden Österreichs. München und Innsbruck sind über die Bahnstrecke Rosenheim–Salzburg mit Salzburg verbunden, zudem existieren Verbindungen nach Graz. Internationale Verbindungen bestehen mit Zügen der ÖBB im 2-Stunden-Takt nach Budapest, München und Zürich. Deutsche Bahnbetreiber bieten Verbindungen Richtung Landshut und München. Die Deutsche Bahn betreibt außerdem EC-Verbindungen nach Stuttgart und Dortmund. Zusätzlich ist der Bahnhof ein wichtiger Haltepunkt im Nachtzugnetz der ÖBB. So kann man von Salzburg aus Ziele in Italien, Slowenien, Tschechien, Ungarn, Kroatien und der Schweiz erreichen.Die von Salzburg ausgehenden Bahnstrecken sind im Regionalverkehr für Pendler von Bedeutung. Zu den wichtigsten Nahverkehrsträgern zählt die S-Bahn Salzburg. Auf dem Abschnitt zwischen Salzburg Hauptbahnhof und Freilassing wurde von etwa 2005 bis 2015 ein dreigleisiger Ausbau vorgenommen und neue Haltepunkte (Mülln-Altstadt, Aiglhof, Taxham/Europark, Liefering) kamen hinzu. Auch die Haltestellen entlang der Tauernbahn Richtung Süden (Salzburg-Süd, Aigen, Gnigl, Parsch und Sam) wurden großteils neu gestaltet, ebenso der Halt Kasern Richtung Osten. Die Salzburg AG betreibt auf der Bahnstrecke Salzburg–Lamprechtshausen und der Bahnstrecke Bürmoos–Ostermiething zwei wichtige S-Bahn-Linien im Norden des Landes Salzburg. Die S1 verkehrt vom Lokalbahnhof über Oberndorf und Bürmoos nach Lamprechtshausen, die S11 bedient die Zweigstrecke ins angrenzende Oberösterreich. Von Ende 2008 bis Sommer 2014 wurde der Salzburger Hauptbahnhof neu gestaltet. Durch den Ersatz der bisherigen Kopfbahnsteige durch zusätzliche Durchgangsbahnsteige wurde der Bahnhof zu einem Durchgangsbahnhof, um mehr Züge abfertigen zu können. Besonderes Augenmerk galt neben der Barrierefreiheit der Erhaltung der unter Denkmalschutz stehenden Bausubstanz, wobei auch die historische Dachkonstruktion über dem Mittelbahnsteig erhalten blieb.Seit 2021 wird unter dem Projektnamen S-Link die Regionalstadtbahn Salzburg errichtet. Diese wird in der ersten Ausbaustufe den Hauptbahnhof unterirdisch mit dem Mirabellplatz verbinden. Nach Vollendung der Ausbaustufen zwei bis vier soll die Stadt Hallein erreicht werden. ==== Güterverkehr per Bahn ==== Der Güterbeförderung dienen der im Osten des Hauptbahnhofs gelegene Frachtenbahnhof sowie der große Rangierbahnhof zwischen den Stadtteilen Gnigl und Schallmoos. Gleisstränge für den Güterverkehr führen von den Hauptbahnen auch in die Gewerbegebiete von Gnigl, Schallmoos, Itzling sowie nach Maxglan, bei letzterem handelt es sich um die sogenannte Stieglbahn. Dem Hauptbahnhof Salzburg vorgelagert, hat sich mit dem Container-Terminal Salzburg eine hochfrequente Anlage des Kombinierten Verkehrs, mit einem Jahresumschlag von über 150.000 Ladeeinheiten Container/Auflieger entwickelt. ==== Individualverkehr ==== Die höchsten Verkehrsbelastungen finden sich innerstädtisch im Norden der Vogelweiderstraße (50.000 Kfz je Tag), der Lehener Brücke (43.000 Kfz), der Fürbergstraße (34.000) und der Alpenstraße (33.000). In den wichtigen Radialstraßen der Stadt wuchs der Verkehr zwischen 1961 und 2005 um etwa 300 %. Zum Erhalt der Luftgüte sind in Vollziehung des EU-Rechtes Maßnahmen gegen den zunehmenden Individualverkehr erforderlich.Das tourismusbedingte Spitzenverkehrsaufkommen belastet zusätzlich das Verkehrssystem der Stadt. In der Festspielzeit müssen daher zur Vermeidung eines Zusammenbruchs des Innenstadtverkehrs alle Fahrzeuge ohne Salzburger Kennzeichen auf große Parkplätze an der Peripherie umgeleitet werden. Sowohl im Süden der Alpenstraße als auch im Osten beim Messegelände befinden sich große Park-and-ride-Parkplätze. Die gesamte Innenstadt ist außerhalb der Fußgängerzone eine gebührenpflichtige Kurzparkzone. Von dort ist das Zentrum mit öffentlichen Verkehrsmitteln gut zu erreichen. Im Knoten Salzburg laufen die Autobahnen A1 und A10 zusammen. Anschlussstellen im Stadtgebiet sind Salzburg Nord, Messezentrum, Salzburg Mitte, Kleßheim, Siezenheim (Halbanschluss), Flughafen, Salzburg West und Salzburg Süd. Im Planungsstadium befindet sich der Autobahn-Halbanschluss Hagenau. Der Abschnitt zwischen Salzburg Nord und Salzburg West ist auch als Stadtautobahn wichtig. ==== Flugverkehr ==== Der Flughafen Salzburg liegt im Stadtteil Maxglan im Westen der Stadt nur 3 km westlich der Salzach und des Stadtzentrums. Im Jahr 2014 wurden 1.819.520 Fluggäste abgefertigt. Die Tendenz ist aufgrund des starken Wintertourismus in der Region weiter steigend. Die Landesstraße B1 unterquert Lande- und Rollbahn und schließt zum westlich davon gelegenen Flughafengebäude an. ==== Schifffahrt, Wassersport ==== Der Fluss Salzach hat den Namen von den in früher Zeit darauf erfolgten Salztransporten. Im Jahr 1891 wurde aufgrund zahlreicher Untiefen und zu schwacher Motore die motorisierte Schifffahrt eingestellt. Seit 2002 befährt die Amadeus Salzburg für stadtnahe Rundfahrten etwa von März bis November den Fluss. Das Jetboot nimmt 80 Passagiere auf und hat nur 38 cm Tiefgang, über 1000 PS Motorisierung lassen es bis zu 50 km/h schnell gleiten.Seit September 2016 bietet derselbe Betreiber Erich Berer einen Amphibienbus an, der über einen Feuerwehrsteg einbootet und 26 Passagiere am Schiffssteg aufnimmt. Die Amadeus Salzach Insel Bar ist ein am linken Flussufer etwas unterhalb des Markartstegs liegender Schiffsrumpf, der fest vertäut an einem Steg liegt und als Gastlokal oder Veranstaltungsraum für 90 bis 140 Personen dient.Bootfahren mit Kanu, Kajak oder Ruderboot ist aufgrund einer Verordnung von 2001 von der Altstadt abwärts bis Lehen wegen zu großer Gefahr verboten. Das Verbot erstreckt sich vom Müllnersteg bis zum Traklsteg, der seit der Eröffnung des Flusskraftwerks Salzburg-Lehen 2013 im Unterwasser des Kraftwerks liegt. Die Salzburg AG als Kraftwerksbetreiber verweisen auf die Gefahr einer Sohlstufe, die bei Absenkung des Aufstaus bei Wartung des Kraftwerks eine gefährliche Wasserwalze bildet. Das Christian-Doppler-Gymnasium in Salzburg-Lehen hat als Anrainer des neuen „Stausees“ für seine Schüler ein Rennruderboot gekauft, darf es aber nicht einsetzen.Zehn Kilometer oberhalb Salzburg-Zentrum liegt das Kraftwerk Urstein der Salzburg AG in Anif (linksufrig) in seinem Staubereich auf Höhe Puch bei Hallein (rechtsufrig) ist seit einigen Jahren ein Ruderclub etabliert, hier ist Bootfahren erlaubt. 7 km südsüdwestlich von Salzburg-Zentrum liegt die Almwelle im Almkanal, eine Stelle mit ausgebauter Wasserwalze für Paddelbootsakrobatik. === Energie- und Wasserversorgung === Die Versorgung der rund 60.000 Stromkunden erfolgt zum überwiegenden Teil durch die Salzburg AG, ebenso wie die Versorgung mit Trinkwasser. Nur ein sehr geringer Teil der Einwohner, vor allem am Gaisberg, besitzt private Quellfassungen. Zwei große Hochbehälter am Mönchsberg und Kapuzinerberg mit je 25.000 Kubikmeter und verschiedene kleinere Hochbehälter gewährleisten mit die Versorgung mit Wasser. Der Hauptteil des Trinkwassers stammt aus den Tiefbrunnen von St. Leonhard und Glanegg am Fuß des Untersbergs. Bis vor wenigen Jahrzehnten versorgte noch die Fürstenbrunner Quelle vorrangig die Stadt mit Wasser. Die stets gleichbleibende Qualität von Tiefenwasser sprach jedoch für den Umstieg auf Grundwasser aus sehr tief liegenden Wasserhorizonten. Als Besonderheit existiert mit dem Almkanal ein schon seit dem Mittelalter bestehendes, zusätzliches Kanalsystem, das der Stadt Wasser vom Untersberg zuführt. === Abwasserinfrastuktur und Abfallentsorgung === Das städtische Kanalnetz wurde ab 1852 stetig erweitert und umfasst heute rund 380 km Netzlänge. 2005 wurde der Ausbau weitgehend abgeschlossen. Nur rund 100 entlegene Gebäude, vor allem am Gaisberg, sind nicht an das Kanalnetz angeschlossen. Die Stadt Salzburg liegt im Einzugsgebiet des Reinhalteverbands (RHV) Großraum Salzburg. Dieser betreibt zur Reinigung der gesammelten Abwässer in Siggerwiesen in der angrenzenden Gemeinde Bergheim eine Abwasserreinigungsanlage (ARA). Die gereinigten Abwässer werden in die Salzach eingeleitet. Die Abfallentsorgung der Stadt wird durch das Abfall-Service des Magistrats vorgenommen. In den Umweltschutzanlagen Siggerwiesen erfolgt die mechanisch-biologische Vorbehandlung von Hausabfällen durch die Salzburger Abfallbeseitigung GmbH (SAG). Seit 1994 wird Biomüll der Stadt getrennt gesammelt. Die Behandlung, bei der Biogas und Kompost gewonnen wird, erfolgt ebenfalls in Siggerwiesen. === Gesundheitswesen === Die beiden mit Abstand größten Spitäler sind die Christian-Doppler-Klinik (CDK) am Südrand von Liefering und das Landeskrankenhaus, auch: St.-Johanns-Spital, in Mülln. Sie sind seit 2004 mit weiteren Salzburger Krankenhäusern zur Dachgesellschaft Salzburger Landeskliniken (SALK) zusammengefasst. Das St.-Johanns-Spital wurde 1695 durch Fürsterzbischof Johann Ernst von Thun gegründet. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde es neu gestaltet und ausgebaut. Zuletzt wurde 2001 die Abteilung Chirurgie West errichtet. In über 1.000 Krankenbetten werden jährlich rund 48.000 Patienten in 19 Fachabteilungen und sieben Instituten stationär betreut. Neben den beiden Spitälern bestehen das Unfallkrankenhaus der Unfallversicherungsanstalt am Äußeren Stein, das Krankenhaus der Barmherzigen Brüder neben der Kajetanerkirche, das Diakonissen-Krankenhaus in Aigen, das Dr.-Pierer-Sanatorium, die Privatklinik Wehrle sowie ein Sonderkrankenhaus und ein Genesungsheim für Alkohol- und Medikamentenabhängige. === Polizei === Als Sicherheitsbehörde für die Stadt fungiert die Landespolizeidirektion Salzburg. Ihr unterstellt als Dienststelle des Wachkörpers für das Stadtgebiet ist das Stadtpolizeikommando Salzburg. === Seniorenbetreuung === In Salzburg sind in 13 Seniorenheimen etwa 1600 Personen untergebracht. Gut 1000 von ihnen leben in den fünf größten, den Seniorenheimen Hellbrunn, Itzling, Liefering, Nonntal und Taxham, die alle von der Stadtverwaltung geführt werden. Zudem werden von der Diakonie im Aigner Diakonie-Zentrum und von der Caritas Salzburg je ein Haus für Senioren geleitet. Neben den Heimverwaltungen bietet die Stadt Salzburg viele Seniorenveranstaltungen, Seniorenerholungsaktionen, einen Seniorenmittagstisch sowie Essen auf Rädern an. == Bildung und Forschung == === Kinder- und Jugendbetreuung === In der Stadt Salzburg bestehen 30 Krabbelstuben mit mehr als 600 Plätzen und über 200 Tageselternplätzen. Über 65 % der Kinder im Kindergartenalter werden in den 31 Kindergärten der Stadt betreut. Auch die Nachmittagsbetreuung ist in diesen Kindergärten möglich. Sechs Schülerheime mit 350 sowie vier Lehrlingsheime mit 240 Plätzen stehen Salzburger Schülern und Lehrlingen zur Verfügung. Mit 20 Studentenheimen für mehr als 2000 Bewohner bietet Salzburg auch auswärtigen Studenten die Möglichkeit, sich in Salzburg weiterzubilden. Die Schüler- und Studentenheime werden größtenteils von Vereinen wie dem Salzburger Studentenwerk und kirchlichen Organisationen getragen.In der Stadt Salzburg gibt es elf Jugendzentren und das mobile Projekt „Streusalz – mobile Jugendarbeit in der Stadt Salzburg“, bei dem Jugendliche von Streetworkern betreut werden. === Schulen === In den 24 Salzburger Stadtteilen befinden sich 21 städtische Volksschulen, neun städtische Neu Mittelschulen, vier städtische Sonderschulen und sieben nicht-städtische Pflichtschulen.Drei der zwölf Gymnasien werden von kirchlichen Institutionen geführt. Mehrere höhere Schulen befinden sich im Stadtteil Nonntal, unter ihnen das Bundesgymnasium Nonntal, das BORG Nonntal, das Bundesrealgymnasium Akademiestraße, das Musik und Sport Realgymnasium und das Wirtschaftskundliche Bundesrealgymnasium. Mit dem Unipark-Nonntal wurde der Stadtteil Nonntal zu einer geschlossenen Einheit und der zentrale Bildungsstandort der Stadt. Weitere Gymnasien sind das Akademische Gymnasium Salzburg in Riedenburg, das Bundesgymnasium Zaunergasse in Maxglan, das Christian-Doppler-Gymnasium am Franz-Josef-Kai in Mülln und das Musische Gymnasium in Itzling. Katholische Privatschulen sind das erzbischöfliche Privatgymnasium Borromäum in Parsch, das Privatgymnasium der Herz-Jesu-Missionare in Liefering und das Gymnasium und Oberstufenrealgymnasium St. Ursula in Aigen. Eine weitere Privatschule ist die Rudolf-Steiner-Schule (Waldorf-Schule) mit mehr als 200 Schülern. Englischsprachige Schulen sind die International Preparatory School an der Moosstraße und das Salzburg Seminar im Schloss Leopoldskron.Neben den allgemeinbildenden Gymnasien befinden sich in Salzburg sechs berufsbildende mittlere und höhere Schulen, die von mehr als 3500 Schülern besucht werden. Dazu zählen die Bundeshandelsakademie und Bundeshandelsschule I und II, die Höhere Bundeslehranstalt für Wirtschaftliche Berufe, genannt Annahof.Seit dem Jahr 1867 ist auch eine Höhere Technische Bundeslehr- und Versuchsanstalt in Salzburg beheimatet, mit circa 2700 Schülern und circa 300 Lehrkräften. Katholische Privatschulen sind die Höhere Lehranstalt für Sozialmanagement, die Bildungsanstalt für Kindergartenpädagogik und die Fachschule für wirtschaftliche Berufe. === Akademien === Eine künstlerische Akademie ist die Internationale Sommerakademie für Bildende Kunst. Die Pädagogische Hochschule des Bundes bildet Volks- und Hauptschullehrer aus, die Religionspädagogische Akademie katholische Religionslehrer. Die Werbedesign-Akademie Salzburg dient dem Studium des Kommunikationsdesigns. Angehenden Journalisten dient die Österreichische Medienakademie des Kuratoriums für Journalistenausbildung. Im medizinischen Bereich bestehen die Hebammenakademie und die Akademien für ergotherapeutische und orthopädische Dienste. Für medizinisch-technische Laboratoriumsdienste, den radiologisch-technischen Dienst und den physiotherapeutischen Dienst gibt es ebenfalls Ausbildungsmöglichkeiten. Die Nährstoffakademie Salzburg widmet sich wissenschaftlich der angewandten Ernährungsmedizin. === Universitäten === In Salzburg sind folgende Universitäten bzw. Hochschulen angesiedelt: Die älteste ist die Paris-Lodron-Universität Salzburg. Sie wurde 1622 gegründet, 1810 aufgelassen und 1962 mit den vier klassischen Fakultäten Katholische Theologie, Rechtswissenschaften, Geisteswissenschaften (heute: Kultur- und Gesellschaftswissenschaften) sowie Naturwissenschaften wiedergegründet. Sie ist mit 18.000 Studierenden und 2.700 Mitarbeitern in Forschung, Lehre und Verwaltung die größte Bildungseinrichtung in Stadt und Land Salzburg.Die Salzburg Management Business School wurde 2001 eingerichtet. Angeboten werden ausschließlich Universitätslehrgänge für Wirtschaftsstudenten, die akademischen Grade werden von der Universität Salzburg vergeben.Das bereits in den Jahren 1939 bis 1953 als Hochschule geführte Mozarteum wurde 1970 als Hochschule wiedergegründet. Am Mozarteum werden Konzertfachstudien für Streicher, Bläser und andere Instrumentalisten angeboten. Auch pädagogisch orientierte Fächer sowie Studienmöglichkeiten in Schauspiel, Bühnenbild und Regie sind gegeben. Die Paracelsus Medizinische Privatuniversität (PMU) wurde 2003 zu zwei Drittel mit privaten und einem Drittel mit staatlichen Mitteln errichtet und bietet Studiengänge für Humanmedizin, Pflegewissenschaften sowie ein Postgraduate-Studium der Molekularen Medizin. Die klinische Ausbildung der Studierenden erfolgt an den Universitätskliniken Salzburg. Die PMU kooperiert bei der praktischen Ausbildung auch mit Krankenhäusern in Oberbayern, vor allem mit dem Klinikum Rosenheim. === Erwachsenenbildung === Einen großen Teil der Erwachsenenbildung vermittelt mit über 1000 Kursen die Salzburger Volkshochschule. Weiters sind das kirchliche Bildungshaus St. Virgil, das Katholische Bildungswerk, das Salzburger Bildungswerk und das Ländliche Fortbildungsinstitut in der Erwachsenenbildung aktiv. In der beruflichen Fortbildung, aber auch in der Erwachsenenbildung sind das Berufsförderungsinstitut der Kammer für Arbeiter und Angestellte und das Wirtschaftsförderungsinstitut der Wirtschaftskammer tätig. === Bibliotheken === Die Stadtbibliothek Salzburg (früher Stadtbücherei) zählt mit täglich über 1000 Besuchern zu den beliebtesten Serviceeinrichtungen der Stadt. Die früher großteils im Schloss Mirabell untergebrachte Bücherei übersiedelte Anfang 2009 in einen, vom Architekturbüro HALLE1 entworfenen, Neubau in Lehen. Sie gliedert sich in die Abteilungen Hauptbücherei, Kinderbücherei, Mediathek und mobiler Bücherbus. Seit März 2009 ist es auch möglich, digitale Medien auf dem Online-Weg zu entlehnen. Die Universitätsbibliothek, zu der auch die einzelnen Fakultätsbibliotheken und Fachbereichsbibliotheken zählen, ist vorrangig eine Bildungseinrichtung für Studenten, Akademiker, Lehrer und Wissenschaftler, die aber auch der Öffentlichkeit zur Verfügung steht. Die Universität Mozarteum besitzt ebenfalls eine umfangreiche eigene Bibliothek. Eine weitere öffentlich zugängliche Fachbibliothek ist die 1985 von Robert Jungk gegründete Robert-Jungk-Bibliothek für Zukunftsfragen in der Strubergasse. Hier werden auch regelmäßig Buchvorstellungen, Workshops und Diskussionen organisiert. Daneben bestehen etliche privat geführte Fachbibliotheken, die meist nur beschränkt zugänglich sind, so etwa die Bibliothek der Stiftung Mozarteum mit dem Schwerpunkt Mozart-Forschung, die Wilfried-Haslauer-Bibliothek (politologische Fachbibliothek), die Bibliothek im Stift St. Peter oder die Max-Reinhardt-Bibliothek im Schloss Leopoldskron. === Medien === Zu den wichtigsten Medien der Stadt Salzburg zählen die Salzburger Nachrichten. Ihr Verbreitungsschwerpunkt liegt in Stadt und Land Salzburg. Die Druckauflage der Zeitung betrug 2008 knapp 100.000 Exemplare.Das Salzburger Fenster (gegründet 1979) und die Stadt-Nachrichten (seit April 2002) sind wöchentlich erscheinende Gratiszeitungen. Die Straßenzeitung Apropos erscheint monatlich und wird von Menschen in sozialer Not verkauft. Die Zeitung – 1997 als Sozialprojekte gegründet und bis zur Umbenennung 2003 als Asfalter veröffentlicht – wird vorwiegend von professionellen Journalisten verfasst.Seit 2005 erscheint monatlich die Nachrichtenillustrierte Echo. Das Stadtmagazin Qwant ist auf ein jüngeres Publikum ausgerichtet, erscheint seit 2017 vierteljährlich und ist gratis erhältlich. Das ORF-Landesstudio Salzburg in Nonntal ist eine Außenstelle des Österreichischen Rundfunks. Das Bauwerk, 1972 vom Wiener Architekten Gustav Peichl entworfen, steht unter Denkmalschutz. Im Studio werden die Sendungen von Ö2 und Radio Salzburg sowie die Fernsehnachrichtensendung Salzburg heute aufgenommen. Der überregionale Sendemast des ORF-Salzburg steht seit 1930 am Gipfel des Gaisberges. Weiters sendet in Salzburg mit Antenne Salzburg das zweitälteste Privatradio Österreichs. 1995 nahm es unter dem Namen Radio Melody seinen Sendebetrieb am Messezentrum auf. Die 1998 gegründete Radiofabrik – Freier Rundfunk Salzburg ist das einzige Community Radio Salzburgs. Das Programm wird von freiwilligen Mitarbeitern gestaltet. Die Radiofabrik ist auch am Community TV FS1 beteiligt, das seit Februar 2012 nach einem ähnlichen Konzept sendet. Ebenfalls 1998 ging das Privatradio Welle 1 auf Sendung. Der ehemalige Regionalsender Salzburg TV mit Sitz außerhalb der Stadt befasste sich vor allem mit übergreifenden Themen aus Stadt und Land Salzburg, heute ist der Sender als Servus TV in Österreich und Deutschland und über Satellit zu empfangen. Ende 2010 bis Anfang 2012 sendete Salzburg Plus. Der aktuelle Regionalsender ist RTS–Regionalfernsehen Salzburg. Seit dem 27. November 2007 ist das News-Portal Salzburg24 online, das vorrangig über regionale Nachrichten aus Salzburg, Oberösterreich und Bayern berichtet. == Persönlichkeiten == Die Ernennung zum Ehrenbürger ist die höchste von der Stadt Salzburg zu vergebende Auszeichnung. Mit ihr verbunden sind alle Rechte eines Salzburger Bürgers ohne dessen Pflichten. Erstmals vergeben wurde die Ehrenbürgerschaft am 6. Mai 1829 an den Landschaftsmaler Johann Michael Sattler. Nach beinahe 100 Jahren wurde 1920 mit der Kammersängerin Lilli Lehmann die erste Frau zur Ehrenbürgerin der Stadt Salzburg erkoren.Neben den bereits im Kapitel Kultur genannten Personen sind für Salzburg vor allem Christian Doppler und Paracelsus von besonderer Bedeutung: Christian Doppler wurde 1803 als Sohn einer wohlhabenden Steinmetzfamilie im Haus Makartplatz 1, direkt neben dem Wohnhaus Mozarts geboren. Er wurde 1850 als Universitätsprofessor für Experimentalphysik nach Wien berufen und wurde dort Begründer und Leiter des Physikalischen Instituts der Universität. Er entdeckte vor allem den heute vielfach angewandten Doppler-Effekt. Dopplers Entdeckungen bilden die Grundlage vieler wissenschaftlicher Arbeiten, etwa von Ernst Mach, Albert Einstein und Werner Heisenberg. Doppler starb lungenkrank während eines Genesungsurlaubs in Venedig im Jahr 1853.Theophrastus Bombastus von Hohenheim, genannt Paracelsus, ist am Salzburger Sebastiansfriedhof in der Linzer Gasse bestattet. 1524/25 war er im Kumpfmühlhaus in der Pfeifergasse 11 zu Hause. Paracelsus, der 1525 mit den Aufständischen sympathisiert hatte, floh im selben Jahr überstürzt aus Salzburg und kehrte erst 1540 zurück. Er wohnte im Haus Platzl 3 und starb dort 1541.Dreizehn Straßen in Salzburg sind bis heute nach Männern benannt, die gravierend in das NS-Regime verstrickt waren: Kuno Brandauer (1895–1980, Volkskundler, seit 1931 NSDAP-Mitglied), Heinrich Damisch, Herbert Karajan, Erich Landgrebe, Hans Pfitzner, Ferdinand Porsche, Tobias Reiser, Gustav Resatz, Franz Sauer, Erich Schenk, Hans Sedlmayr, Josef Thorak und Karl Heinrich Waggerl. 46 Straßen sind nach NSDAP-Mitgliedern benannt; nur 37 Straßen sind nach Frauen benannt. Die Empfehlung einer Historikerkommission, diese Straßen umzubenennen, wurde im Dezember 2021 vom Salzburger Gemeinderat mit Stimmen von ÖVP, FPÖ, SPÖ und Neos abgelehnt. == Literatur == Josef Brettenthaler: Salzburger Synchronik. Salzburg 2005, ISBN 3-85380-055-6. Paul Buberl: Die Denkmale des Gerichtsbezirkes Salzburg. Band 11. Wien 1916. Bernd Euler: Salzburg Stadt und Land. Hrsg.: Dehio Salzburg. Wien 1986, ISBN 3-7031-0599-2. Heinz Dopsch, Hans Spatzenegger: Geschichte Salzburgs. Salzburg 1984, ISBN 3-7025-0197-5. Heinz Dopsch, Robert Hoffmann: Salzburg. Die ganze Geschichte der Stadt. 2., aktualisierte Auflage. Pustet, Salzburg/Wien/München 2008, ISBN 978-3-7025-0598-1. Lieselotte Eltz-Hoffmann: Die Kirchen Salzburgs. Salzburg 1993, ISBN 3-7025-0308-0. Franz Fuhrmann: Salzburg in alten Ansichten. Salzburg/Wien 1963, ISBN 3-7017-0291-8. Adolf Haslinger, Peter Mittermayr: Salzburger Kulturlexikon. Residenzverlag, 2001, ISBN 3-7017-1129-1. Robert Messner: Salzburg im Vormärz. Hrsg.: Verband der wissenschaftlichen Gesellschaft Österreichs. Wien 1993, ISBN 3-85369-930-8. Bernhard Paumgartner: Salzburg. Salzburg 1966. Historischer Atlas der Stadt Salzburg. In: Stadt Salzburg (Hrsg.): Schriftenreihe des Archivs der Stadt Salzburg. Nr. 11. Salzburg 1999. Hans Sedlmayr: Stadt ohne Landschaft: Salzburgs Schicksal morgen. Salzburg 1970, ISBN 3-7013-0445-9. Hans Tietze, Franz Martin: Österreichische Kunsttopographie Band IX. Die kirchlichen Denkmale der Stadt Salzburg. Wien 1912. Friederike Zaisberger: Geschichte Salzburgs. Wien 1998, ISBN 3-7028-0354-8. Franz Valentin Zillner: Geschichte der Stadt Salzburg. In: Sonderbände der Mitteilungen der Salzburger Landeskunde. Salzburg 1885, DNB 551619767 (Neuauflage: 1985). Gerhard Ammerer, Ingonda Hannesschläger, Jan Paul Niederkorn, Wolfgang Wüst (Hrsg.): Höfe und Residenzen geistlicher Fürsten. Strukturen, Regionen und Salzburgs Beispiel in Mittelalter und Neuzeit (= Residenzenforschung. Band 24). Ostfildern 2010, ISBN 978-3-7995-4527-3. Florian Stehrer: Das Gebilde, das wir Groß-Salzburg nennen wollen: Die Eingemeindungen der Umlandgemeinden durch die Stadt Salzburg. Stadtarchiv und Statistik der Stadt Salzburg, Salzburg 2019, ISBN 978-3-900213-41-1. == Filme == Aufgrund seiner historischen Bausubstanz dient Salzburg häufig als Kulisse für Filmprojekte. Die folgende Liste zeigt eine kleine Auswahl der über 200 in Salzburg gedrehten Filme. 1943: Der kleine Grenzverkehr, Verfilmung des Romans Georg und die Zwischenfälle von Erich Kästner. 1965: The Sound of Music, Verfilmung des Lebens der Familie Trapp. 1993: Heidi, basierend auf einer Novelle von Johanna Spyri. 2004: Jedermann, Verfilmung durch Christian Stückl. 2004: Silentium (Film), Verfilmung des gleichnamigen Romans von Wolf Haas 2005: La traviata, Opernverfilmung mit Anna Netrebko im Großen Festspielhaus. 2006: Mozart – Ich hätte München Ehre gemacht, verfilmte Biographie Wolfgang Amadeus Mozarts. 2006: Le nozze di Figaro, italienischer Musikfilm, gedreht im Kleinen Festspielhaus. 2009: Knight and Day, US-Actionkomödie mit Tom Cruise und Cameron Diaz 2013: Eyjafjallajökull – Der unaussprechliche Vulkanfilm, Filmkomödie mit Dany Boon und Valérie Bonneton 2017: Die beste aller Welten, Spielfilm von Adrian Goiginger. == Weblinks == Literatur von und über Salzburg im Katalog der Deutschen Nationalbibliothek stadt-salzburg.at, Website des Magistrats Salzburg Salzburg im Österreich Lexikon == Einzelnachweise ==
https://de.wikipedia.org/wiki/Salzburg
Mangan
= Mangan = Mangan [maŋˈɡaːn] ist ein chemisches Element mit dem Elementsymbol Mn und der Ordnungszahl 25. Im Periodensystem steht es in der 7. Nebengruppe (7. IUPAC-Gruppe), der Mangangruppe. Mangan ist ein silberweißes, hartes, sehr sprödes Übergangsmetall, das in manchen Eigenschaften dem Eisen ähnelt. Mangan kommt in der Natur vorwiegend als Braunstein vor und wird in großen Mengen abgebaut. 90 % des abgebauten Mangans werden in der Stahlindustrie in Form von Ferromangan als Legierungsbestandteil von Stahl eingesetzt. Dabei entzieht es dem Stahl Sauerstoff und Schwefel und verbessert gleichzeitig die Durchhärtung. Wirtschaftlich wichtig ist zudem Mangan(IV)-oxid, das als Kathode in Alkali-Mangan-Batterien eingesetzt wird. Das Element besitzt eine hohe biologische Bedeutung als Bestandteil verschiedener Enzyme. So wirkt es an einer zentralen Stelle im Photosynthese-Zyklus, wo ein Mangan-Calcium-Cluster für die Reduktion von Wasser zu Sauerstoff verantwortlich ist. == Geschichte == In der Natur vorkommende Manganoxide wie Braunstein sind schon lange als natürliche Pigmente bekannt und in Gebrauch. So wurden schwarze Manganoxid-Pigmente unter anderem in den etwa 17.000 Jahre alten Höhlenmalereien in den Höhlen von Ekain und Lascaux nachgewiesen. In der Glasherstellung werden Manganverbindungen seit dem vierten Jahrhundert vor Christus im Römischen Reich eingesetzt. Dabei hat das Mangan zwei Funktionen: Wird Braunstein eingesetzt, färbt dieser das Glas intensiv braun-violett. Wird dagegen dreiwertiges Manganoxid in eisenhaltige Gläser gegeben, entfärbt es diese, indem es das grünfärbende zweiwertige Eisen zum schwach gelben dreiwertigen oxidiert, was zusammen mit dem Violett des Mangans ein graues „entfärbtes“ Aussehen ergibt.Die erste Gewinnung des Elements gelang wahrscheinlich 1770 Ignatius Gottfried Kaim (1746–1778), der Braunstein mit Kohlenstoff reduzierte und dabei unreines Mangan erhielt, das er Braunsteinkönig nannte. Diese Entdeckung ist jedoch nicht sehr bekannt geworden. 1774 erkannte Carl Wilhelm Scheele, dass Braunstein ein unbekanntes Element enthalten müsse, im gleichen Jahr stellte Johan Gottlieb Gahn auf Scheeles Anregung hin Mangan durch Reduktion von Braunstein mit Kohlenstoff her. Als Name wurde nach der lateinischen Bezeichnung für Braunstein manganesia nigra zunächst Manganesium gewählt, nach der Entdeckung des Magnesiums jedoch wegen möglicher Verwechslungen zu Mangan(ium) abgekürzt. Braunstein wurde von Plinius wegen der Ähnlichkeit zum Magneteisen (oder magnes masculini sexus) als magnes feminei sexus (da Braunstein nicht magnetisch ist) bezeichnet, was im Mittelalter zu manganesia wurde.1839 wurde erkannt, dass Mangan die Formbarkeit von Eisen verbessert. Als 1856 Robert Forester Mushet (1811–1891) zeigte, dass durch Zusatz von Mangan eine Massenproduktion von Stahl im Bessemer-Verfahren möglich ist, wurde Mangan in kurzer Zeit in großen Mengen zur Stahlproduktion verwendet. Auch Braunstein erlangte ab 1866 technische Bedeutung, als Walter Weldon das Weldon-Verfahren zur Chlorherstellung entwickelt hatte, bei dem Salzsäure mithilfe von Braunstein zu Chlor oxidiert wird. == Vorkommen == Mangan ist auf der Erde ein häufiges Element, in der kontinentalen Erdkruste kommt es mit einem Gehalt von 0,095 % ähnlich häufig wie Phosphor oder Fluor vor. Nach Eisen und Titan ist es das dritthäufigste Übergangsmetall. Dabei kommt es nicht elementar, sondern stets in Verbindungen vor. Neben Mangansilikaten und Mangancarbonat ist es vor allem in Oxiden gebunden. Häufige Minerale sind die Mineralgruppe der Braunsteine, Manganit, Hausmannit, Braunit, Rhodochrosit und Rhodonit. Mangan kommt dabei in unterschiedlichen Oxidationsstufen zwei-, drei- und vierwertig vor, mitunter, wie im Hausmannit, auch in einem einzigen Mineral. Während viele Verbindungen des zweiwertigen Mangans leicht wasserlöslich sind, sind Verbindungen in höheren Oxidationsstufen meist schwerlöslich und auch physikalisch und chemisch stabil. Darum bilden sich Manganerze vor allem unter oxidativen Bedingungen. Obwohl sich Eisen ähnlich wie Mangan verhält und ebenfalls unter oxidativen Bedingungen vom leichtlöslichen zweiwertigen zum schwerlöslichen dreiwertigen Eisen oxidiert, gibt es nur wenige Eisen-Mangan-Mischerze. Verantwortlich hierfür ist, dass Mangan sehr viel höhere Sauerstoffkonzentrationen für die Oxidation benötigt als Eisen.Abbauwürdige Manganerze lassen sich geologisch in drei Gruppen einteilen. Der erste Typ sind Rhodochrosit-Braunit-Erze, die in präkambrischen vulkanischen Gesteinen eingeschlossen sind. Diese Erze finden sich vorwiegend um den südlichen Atlantik, etwa in Brasilien, Guyana, der Elfenbeinküste, Ghana, Burkina Faso oder im Kongo. Erze des zweiten Typs finden sich in stark oxidierten, eisen- und silikatreichen Sedimentgesteinen aus dem Proterozoikum. Die Vorkommen dieses Typs bei Hotazel in Südafrika und Corumbá in Brasilien zählen zu den größten Manganvorkommen auf der Welt. Zum dritten Typ zählen Mangan-Schiefer-Erze, die durch Sedimentation in flachen Schelfmeeren entstanden sind. Zu diesem Typ zählen unter anderem Vorkommen in Gabun, der Ukraine und weiteren Ländern um das Schwarze Meer.Etwa 75 % der bekannten Ressourcen an Mangan liegen in der Kalahari Südafrikas. Auch in der Ukraine, Brasilien, Australien, Indien, Gabun und China finden sich größere Manganvorkommen. Größte Manganförderstaaten sind Südafrika, Australien, Gabun, China und Brasilien, wobei die Weltgesamtförderung 2010 bei 18,9 Millionen Tonnen lag. 2020 wurde ein größeres Vorkommen in New Brunswick in Kanada entdeckt, das auf 194 Millionen Tonnen geschätzt wird.In größeren Mengen kommt Mangan in Manganknollen vor, knollenförmigen, bis zu 20 Zentimeter großen, porösen Konkretionen von Schwermetalloxiden in der Tiefsee, die bis zu 50 % aus Mangan bestehen können. Besonders hohe Konzentrationen an Manganknollen finden sich im Pazifik südlich von Hawaii sowie im Indischen Ozean. Deren Abbau, vor allem zur Gewinnung von Kupfer, Cobalt und Nickel, wurde zeitweise intensiv untersucht, scheiterte bislang jedoch an hohen technischen Anforderungen und hohen Abbaukosten bei gleichzeitig vergleichsweise niedrigen Preisen für an Land abgebaute Metalle.Einen Überblick über die globalen Abbaumengen gibt folgende Tabelle: == Gewinnung und Darstellung == Abbauwürdige Manganerze enthalten mindestens 35 % Mangan. Je nach Gehalt und enthaltenen anderen Elementen werden die Erze für verschiedene Anwendungen bevorzugt genutzt. Metallurgisch genutztes Manganerz enthält zwischen 38 und 55 % Mangan und wird im Tagebau oder im Kammerbau-Verfahren unter Tage abgebaut. Daneben gibt es battery-grade-Erz, das mindestens 44 % Mangan enthält sowie nur einen geringen Anteil an Kupfer, Nickel und Cobalt enthalten darf, damit es für die Produktion von Alkali-Mangan-Batterien geeignet ist, sowie chemical-grade-Erz, das für die Produktion von reinem Mangan und Manganverbindungen verwendet wird.Für einen Großteil der Anwendungen wird kein reines Mangan benötigt. Stattdessen wird Ferromangan, eine Eisen-Mangan-Legierung mit 78 % Mangan, gewonnen. Dieses wird durch Reduktion oxidischer Mangan- und Eisenerze mit Koks in einem elektrischen Ofen hergestellt. Eine weitere Legierung, die auf diesem Weg hergestellt wird, ist die Mangan-Eisen-Silicium-Legierung Silicomangan. Hier wird zusätzlich Quarz als Siliciumquelle in den Ofen eingebracht.Reines Mangan kann technisch nicht durch die Reduktion mit Kohlenstoff gewonnen werden, da sich hierbei neben Mangan auch stabile Carbide, insbesondere Mn7C3, bilden. Erst bei Temperaturen über 1600 °C entsteht reines Mangan, bei dieser Temperatur verdampft jedoch schon ein Teil des Mangans, so dass dieser Weg nicht wirtschaftlich ist. Stattdessen wird Mangan durch Hydrometallurgie gewonnen. Hierbei wird Manganerz oxidiert, gelaugt und einer Elektrolyse unterzogen. Bei letzterer wird eine möglichst reine Mangansulfat-Lösung verwendet, die mit Edelstahl-Elektroden bei 5–7 V elektrolysiert wird. An der Kathode entsteht dabei reines Mangan, an der Anode Sauerstoff, der mit Manganionen weiter zu Braunstein reagiert. 2 MnSO 4 + 2 H 2 O ⟶ 2 Mn + 2 H 2 SO 4 + O 2 {\displaystyle {\ce {2\ MnSO_{4}\ +2\ H_{2}O\longrightarrow 2\ Mn\ +2\ H_{2}SO_{4}\ +O_{2}}}} Zur Verringerung des Energieverbrauchs werden dem Elektrolyt kleinere Mengen Schwefel- oder Selendioxid beigesetzt.Daneben sind auch die Gewinnung von Mangan durch die Reduktion von Manganoxiden mit Aluminium (Aluminothermie) oder Silicium möglich. == Eigenschaften == === Physikalische Eigenschaften === Mangan ist ein silberweißes, hartes, sehr sprödes Schwermetall. Es schmilzt bei 1246 °C und siedet bei 2100 °C. Im Gegensatz zu den meisten anderen Metallen kristallisiert Mangan bei Raumtemperatur nicht in einer dichtesten Kugelpackung oder in der kubisch-raumzentrierten Kristallstruktur, sondern in der ungewöhnlichen α-Mangan-Struktur. Insgesamt sind vier verschiedene Modifikationen bekannt, die bei unterschiedlichen Temperaturen stabil sind. Bei Raumtemperatur ist Mangan paramagnetisch, die α-Modifikation wird unter einer Néel-Temperatur von 100 K antiferromagnetisch, während β-Mangan kein solches Verhalten zeigt.Bis zu einer Temperatur von 727 °C ist die α-Mangan-Struktur thermodynamisch stabil. Es hat eine verzerrte kubische Struktur mit 58 Atomen in der Elementarzelle. Die Manganatome der Struktur lassen sich in vier Gruppen mit unterschiedlichen Umgebungen und Koordinationszahlen zwischen 12 und 16 einteilen. Oberhalb von 727 °C bis 1095 °C ist eine weitere ungewöhnliche Struktur, die ebenfalls kubische β-Mangan-Struktur, mit 20 Formeleinheiten pro Elementarzelle und Koordinationszahlen von 12 und 14 für die Manganatome thermodynamisch günstiger. Erst oberhalb von 1095 °C kristallisiert das Metall in einer dichtesten Kugelpackung, der kubisch-flächenzentrierten Kristallstruktur (γ-Mangan, Kupfer-Typ). Diese geht bei 1133 °C schließlich in eine kubisch-innenzentrierte Struktur (δ-Mangan, Wolfram-Typ) über. === Chemische Eigenschaften === Als unedles Metall reagiert Mangan mit vielen Nichtmetallen. Mit Sauerstoff reagiert kompaktes Mangan langsam und oberflächlich, feinverteiltes Mangan ist dagegen an der Luft pyrophor und reagiert schnell zu Mangan(II,III)-oxid. Auch mit Fluor, Chlor, Bor, Kohlenstoff, Silicium, Phosphor, Arsen und Schwefel reagiert Mangan, wobei die Reaktionen bei Raumtemperatur nur langsam stattfinden und erst bei erhöhter Temperatur schneller sind. Mit Stickstoff reagiert das Element erst bei Temperaturen von über 1200 °C zu Mangannitrid Mn3N2, mit Wasserstoff reagiert es nicht.Wie andere unedle Elemente löst sich Mangan in verdünnten Säuren unter Wasserstoffentwicklung, im Gegensatz zu Chrom ist es dabei auch nicht durch eine dichte Oxidschicht passiviert. Diese Reaktion findet langsam auch in Wasser statt. Wird es in konzentrierter Schwefelsäure gelöst, bildet sich Schwefeldioxid. In wässriger Lösung sind Mn2+-Ionen, die im Komplex [Mn(H2O)6]2+ rosa gefärbt sind, besonders stabil gegenüber Oxidation oder Reduktion. Verantwortlich hierfür ist die Bildung einer energetisch begünstigten halbgefüllten d-Schale (d5). Manganionen in anderen Oxidationsstufen besitzen ebenfalls charakteristische Farben, so sind dreiwertige Manganionen rot, vierwertige braun, fünfwertige (Hypomanganat, MnO43−) blau, sechswertige (Manganat, MnO42−) grün und siebenwertige (Permanganat, MnO4−) violett. == Isotope == Es sind insgesamt 28 Isotope sowie acht weitere Kernisomere des Mangans zwischen 44Mn und 72Mn bekannt. Von diesen ist nur eines, 55Mn, stabil, Mangan zählt somit zu den Reinelementen. Weiterhin besitzt 53Mn mit 3,74 Millionen Jahren eine lange Halbwertszeit. Alle weiteren Isotope weisen kurze Halbwertszeiten auf, davon 54Mn mit 312,3 Tagen die längste.Das langlebigste radioaktive Manganisotop 53Mn kommt in Spuren in der Natur vor. Es bildet sich durch Spallationsreaktionen in eisenhaltigen Felsen. Dabei reagiert 54Fe mit 3He aus der kosmischen Strahlung und es wird das kurzlebige 53Fe gebildet, das zu 53Mn zerfällt. 26 54 F e + 2 3 H e ⟶ 26 53 F e + 2 4 H e → − e − 25 53 M n {\displaystyle \mathrm {^{54}_{26}Fe+{}_{2}^{3}He\longrightarrow _{26}^{53}Fe+{}_{2}^{4}He\ {\xrightarrow {-e^{-}}}\ _{25}^{53}Mn} } == Verwendung == Reines Mangan wird nur in sehr geringem Umfang genutzt. 90 % des geförderten Mangans wird als Ferromangan, Spiegeleisen oder Silicomangan in der Stahlindustrie eingesetzt. Da Mangan sehr stabile Mangan-Sauerstoff-Verbindungen bildet, wirkt es wie Aluminium und Silicium desoxidierend und verstärkt die Wirkung dieser Elemente. Zudem verhindert es die Bildung des leicht schmelzenden Eisensulfides und wirkt dadurch entschwefelnd. Gleichzeitig wird die Löslichkeit von Stickstoff im Stahl erhöht, was die Austenit-Bildung fördert. Dies ist für viele rostfreie Stähle wichtig. Eine weitere wichtige Eigenschaft von Mangan in Stahl ist, dass es die Härtbarkeit des Stahls erhöht.Auch in Legierungen mit Nichteisenmetallen, insbesondere Kupfer­legierungen und Aluminium-Mangan-Legierungen, wird Mangan eingesetzt. Es erhöht dabei die Festigkeit, Korrosionsbeständigkeit und Verformbarkeit des Metalls. Die Legierung Manganin (83 % Kupfer, 12 % Mangan und 5 % Nickel) besitzt, ähnlich wie Konstantan oder – noch besser – Isaohm, einen niedrigen elektrischen Temperaturkoeffizienten, d. h. der elektrische Widerstand ist nur wenig von der Temperatur abhängig. Diese Materialien werden daher vielfach in elektrischen Messgeräten verwendet.Mangan wird auch als Aktivator in Leuchtstoffen eingesetzt. Je nach Oxidationsstufe liegt die Wellenlänge des emittierten Lichts nach heutigem Wissensstand zwischen 450 und 750 nm (Mn2+) bzw. 620 und 730 nm (Mn4+). Praktische Bedeutung haben vor allem BaMgAl10O17:Eu2+,Mn2+ (grüner Emitter) und Mg14Ge5O24:Mn4+ (roter Emitter) als Leuchtstoffe in weißen LED.YInMn-Blau ist ein Mischoxid aus Yttrium-, Indium- und Manganoxiden, das ein sehr reines und brillantes Blau zeigt. Reines Mangan wird in einer Größenordnung von etwa 140.000 Tonnen pro Jahr produziert. Es wird zu einem großen Teil für die Produktion von Spezialstählen und Aluminiumlegierungen eingesetzt. Weiterhin werden daraus Zink-Mangan-Ferrite für elektronische Bauteile hergestellt. == Biologische Bedeutung == Mangan ist ein für alle Lebewesen essentielles Element und Bestandteil verschiedener Enzyme. Dort wirkt es in verschiedenen Arten unter anderem als Lewis-Säure, zur Bildung der Enzym-Struktur und in Redoxreaktionen. In manchen Bakterien wird es außerdem zur Energieerzeugung genutzt. So betreibt Shewanella putrefaciens, ein im Meer vorkommendes Bakterium, eine anaerobe Atmung mit Mn4+ als terminalem Elektronenakzeptor, das hierbei zu Mn2+ reduziert wird.Mangan spielt eine essentielle Rolle in der Photosynthese, und zwar bei der Oxidation von Wasser zu Sauerstoff im Photosystem II. Zentraler Bestandteil des Photosystems ist ein Komplex aus vier Manganatomen und einem Calciumatom, die über Sauerstoffbrücken miteinander verbunden sind, der sauerstoffproduzierende Komplex (oxygen-evolving complex, OEC). Hier wird in einem mehrstufigen Zyklus, dem Kok-Zyklus, bei dem das Mangan zwischen der drei- und vierwertigen Oxidationsstufe wechselt, durch Sonnenlicht Wasser gespalten und Sauerstoff, Elektronen sowie Protonen freigesetzt. 2 H 2 O ⟶ O 2 + 4 H + + 4 e − {\displaystyle \mathrm {2\ H_{2}O\longrightarrow O_{2}+4\ H^{+}+4\ e^{-}} } In manganhaltigen Superoxiddismutasen, die in Mitochondrien und Peroxisomen zu finden sind, wird die Reaktion von Superoxid zu Sauerstoff und Wasserstoffperoxid durch Redoxreaktionen mit zwei- und dreiwertigen Manganionen katalysiert. M n 3 + + H O 2 ⋅ ⟶ M n 2 + + O 2 + H + {\displaystyle \mathrm {Mn^{3+}+HO_{2}\cdot \ \longrightarrow Mn^{2+}+O_{2}+H^{+}} } M n 2 + + H O 2 ⋅ + H + ⟶ M n 3 + + H 2 O 2 {\displaystyle \mathrm {Mn^{2+}+HO_{2}\cdot \ +\ H^{+}\longrightarrow Mn^{3+}+H_{2}O_{2}} } Dioxygenasen, durch die molekularer Sauerstoff in spezielle organische Moleküle eingebaut wird, enthalten meist Eisen, jedoch sind auch mehrere manganhaltige Dioxygenasen unter anderem aus den Bakterien Arthrobacter globoformis und Bacillus brevis bekannt. Manganperoxidase, ein in dem Pilz Phanerochaete chrysosporium entdecktes Enzym, ist eines der wenigen bekannten Enzyme, die einen Abbau von Lignin erlauben. Weiterhin ist Mangan an der Reaktion von Arginasen, Hydrolasen, Kinasen, Decarboxylasen und Transferasen wie Pyruvat-Carboxylase, Mevalonatkinase und Glycosyltransferase, sowie bestimmten Ribonukleotidreduktasen und Katalasen beteiligt. === Mangan im menschlichen Körper === Mangan wird vom Menschen über den Dünndarm aufgenommen und vor allem in Leber, Knochen, Nieren und der Bauchspeicheldrüse gespeichert. Im Zellinneren befindet sich das Element vor allem in Mitochondrien, Lysosomen und im Zellkern. Im Gehirn liegt Mangan an spezielle Proteine gebunden vor, hauptsächlich an der Glutamat-Ammonium-Ligase in Astrozyten. Die Gesamtmenge an Mangan im menschlichen Körper beträgt etwa 10 bis 40 mg. ==== Bedarf ==== Der tägliche empfohlene Bedarf für einen Erwachsenen liegt gemäß der Deutschen Gesellschaft für Ernährung zwischen 2,0 und 5,0 mg. Die durchschnittliche Manganzufuhr in Deutschland liegt bei ca. 2,5 mg. ==== Mangel ==== Manganmangel ist selten, bei manganarm ernährten Tieren traten Skelettveränderungen, neurologische Störungen, Defekte im Kohlenhydrat-Stoffwechsel sowie Wachstums- und Fruchtbarkeitsstörungen auf. ==== Vorkommen in Nahrungsmitteln ==== Besonders manganreiche Lebensmittel sind schwarzer Tee, Weizenkeime, Haselnüsse, Haferflocken, Sojabohnen, Leinsamen, Heidelbeeren, Aroniabeeren und Roggenvollkornbrot. == Sicherheit und Toxizität == Wie viele andere Metalle ist Mangan in feinverteiltem Zustand brennbar und reagiert mit Wasser. Zum Löschen können daher nur Metallbrandlöscher (Klasse D) oder Sand verwendet werden. Kompaktes Mangan ist dagegen nicht brennbar.Wird manganhaltiger Staub in hohen Dosen eingeatmet, wirkt er toxisch. Dabei kommt es zunächst zu Schäden in der Lunge mit Symptomen wie Husten, Bronchitis und Pneumonitis. Weiterhin wirkt Mangan neurotoxisch und schädigt das Zentralnervensystem. Dies äußert sich bei akuten Vergiftungen im Manganismus (englisch: „Manganese madness“), einer Krankheit mit Verhaltensauffälligkeiten, Halluzinationen und Psychose. Bei chronischen Vergiftungen zeigen sich Parkinson-ähnliche Symptomen wie motorischen Störungen (extrapyramidale Störungen). Für Manganstäube existiert darum ein MAK-Wert von 0,02 mg/m3 für besonders feine Stäube, die in die Lungenbläschen eindringen können und 0,2 mg/m3 für einatembare Stäube.Erkrankungen durch Mangan oder seine Verbindungen sind in Deutschland als Nr. 1105 in die Berufskrankheitenliste aufgenommen. Eine Exposition kann bei Gewinnung, Transport, Verarbeitung und Verwendung von Mangan oder seinen Verbindungen entstehen, sofern diese Stoffe als Staub oder Rauch eingeatmet werden. Dies trifft auch für das Elektroschweißen mit manganhaltigen ummantelten Elektroden zu. == Nachweis == Der qualitative chemische Nachweis von Manganionen kann durch Bildung von violettem Permanganat nach einer Reaktion mit Blei(IV)-oxid, Ammoniumperoxodisulfat (mit Silberionen als Katalysator) oder Hypobromit in alkalischer Lösung erbracht werden. 2 M n 2 + + 5 P b O 2 + 4 H + ⟶ 2 M n O 4 − + 5 P b 2 + + 2 H 2 O {\displaystyle \mathrm {2\ Mn^{2+}+5\ PbO_{2}+4\ H^{+}\longrightarrow 2\ MnO_{4}^{-}+5\ Pb^{2+}+2\ H_{2}O} } Reaktion von Mangan mit Blei(IV)-oxid in saurer LösungFür eine Abtrennung im Rahmen des Kationentrennganges kann der sogenannte Alkalische Sturz genutzt werden, bei dem Mangan durch eine Mischung von Wasserstoffperoxid und Natronlauge zu festem Mangan(IV)-oxidhydroxid oxidiert wird und ausfällt. M n 2 + + H 2 O 2 + 2 O H − ⟶ M n O ( O H ) 2 ↓ + H 2 O {\displaystyle \mathrm {Mn^{2+}+H_{2}O_{2}+2\ OH^{-}\longrightarrow MnO(OH)_{2}\downarrow +\ H_{2}O} } Reaktion von Mangan mit Wasserstoffperoxid und Natronlauge zu Mangan(IV)-oxidhydroxidWeitere mögliche Nachweisreaktionen, die auch als Vorprobe genutzt werden können, sind die Phosphorsalzperle, die sich durch die Bildung von Mangan(III)-Ionen violett färbt, sowie die Oxidationsschmelze, bei der durch die Reaktion mit Nitrationen eine grüne Schmelze von Manganat(VI) (MnO42−), bei geringer Sauerstoffzufuhr auch blaues Manganat(V) (MnO43−) gebildet wird. Wird eine Säure zugesetzt, bildet sich violettes Permanganat.Quantitativ kann Mangan durch die Atomabsorptionsspektroskopie (bei 279,5 nm), durch photometrische Bestimmung von Permanganat, wobei das Absorptionsmaximum bei 525 nm liegt oder durch Titration bestimmt werden. Hierbei werden im manganometrischen Verfahren nach Vollhard-Wolff Mn2+-Ionen mit Permanganat titriert, wobei sich Braunstein bildet. Der Endpunkt ist an der Rosafärbung durch verbleibendes Permanganat erkennbar.Durch Zugabe von Formaldoxim-Reagens zu einer Lösung von Mangan(II)-Salzen entsteht ein orange bis rot-braun gefärbter Metallkomplex. == Verbindungen == Es sind Manganverbindungen in den Oxidationsstufen zwischen −3 und +7 bekannt. Am stabilsten sind zwei-, drei- und vierwertige Manganverbindungen, die niedrigeren Stufen sind vor allem in Komplexen zu finden, die höheren in Verbindungen mit Sauerstoff. === Sauerstoffverbindungen === Mit Sauerstoff bildet Mangan Verbindungen in den Oxidationsstufen +2 bis +7, wobei in den höheren Stufen +5, +6 und +7 vor allem anionische Manganate sowie Manganhalogenoxide, aber auch die grüne, ölige, explosive Flüssigkeit Mangan(VII)-oxid bekannt sind. Von Bedeutung sind überwiegend die siebenwertigen, violetten Permanganate (MnO4−), wobei vor allem Kaliumpermanganat eine wirtschaftliche Bedeutung besitzt. Dieses wird unter anderem als starkes Oxidationsmittel in organischen Reaktionen, Nachweisreaktionen im Rahmen der Manganometrie sowie medizinisch als Adstringens und Desinfektionsmittel eingesetzt. Die fünfwertigen blauen Hypomanganate (MnO43−) und sechswertigen grünen Manganate (MnO42−) sind instabiler und Zwischenprodukte bei der Permanganatherstellung. Daneben gibt es noch komplexe Permanganate wie die Hexamanganato(VII)-mangan(IV)-säure, (H3O)2[Mn(MnO4)6] · 11 H2O, eine nur bei tiefen Temperaturen stabile tiefviolette Verbindung. Mangan(IV)-oxid wird vorwiegend in Alkali-Mangan-Batterien als Kathodenmaterial eingesetzt. Bei der Entladung der Batterie entstehen daraus Manganoxidhydroxid sowie Mangan(II)-hydroxid. Weiterhin sind auch noch das zweiwertige Mangan(II)-oxid, das dreiwertige Mangan(III)-oxid sowie Mangan(II,III)-oxid bekannt. Als Manganhydroxide sind Mangan(II)-hydroxid, Mangan(III)-oxidhydroxid und Mangan(IV)-oxidhydroxid bekannt. Aus Mangan(II)-salzen mit Natronlauge gefälltes weißes Mangan(II)-hydroxid ist allerdings unbeständig und wird durch Luftsauerstoff leicht zu Mangan(III,IV)-oxidhydroxid oxidiert. Wegen der leichten Oxidierbarkeit findet Mangan(II)-hydroxid zur Sauerstofffixierung bei der Winkler-Methode eine Anwendung. === Halogenverbindungen === Mit den Halogenen Fluor, Chlor, Brom und Iod sind jeweils die zweiwertigen Verbindungen sowie Mangan(III)- und Mangan(IV)-fluorid sowie Mangan(III)-chlorid bekannt. Entsprechende Brom- und Iodverbindungen existieren nicht, da Br−- und I−-Ionen Mn(III) zu Mn(II) reduzieren. Technisch wichtigstes Manganhalogenid ist das durch Reaktion von Mangan(IV)-oxid mit Salzsäure gewinnbare Mangan(II)-chlorid, das unter anderem für die Produktion von Trockenbatterien, korrosionsbeständigen und harten Magnesiumlegierungen sowie die Synthese des Antiklopfmittels (Methylcyclopentadienyl)mangantricarbonyl (MMT) verwendet wird. === Weitere Manganverbindungen === Mangan bildet keine bei Raumtemperatur stabile, binäre Verbindung mit Wasserstoff, lediglich Mangan(II)-hydrid konnte bei tiefen Temperaturen in einer Argon-Matrix dargestellt werden. Es sind viele Komplexe des Mangans, vorwiegend in der Oxidationsstufe +2, bekannt. Diese liegen überwiegend als High-Spin-Komplexe mit fünf ungepaarten Elektronen und einem dementsprechend starken magnetischen Moment vor. Die Kristallfeld- und Ligandenfeldtheorie sagt hier keine bevorzugte Geometrie vorher. Entsprechend sind je nach Ligand tetraedrische, oktaedrische, quadratisch-planare oder auch dodekaedrische Geometrien von Mn2+-Komplexen bekannt. Die Komplexe zeigen durch (quantenmechanisch verbotene) d-d-Übergänge eine schwache Färbung, wobei oktaedrische Mn2+-Komplexe meist schwach rosa, tetraedrische gelb-grün gefärbt sind. Mit sehr starken Liganden wie Cyanid existieren auch Low-Spin-Komplexe mit nur einem ungepaarten Elektron und einer starken Ligandenfeldaufspaltung. Zu den Komplexen in niedrigeren Oxidationsstufen zählt Dimangandecacarbonyl Mn2(CO)10 mit der Oxidationsstufe 0 des Mangans sowie einer Mangan-Mangan-Einfachbindung. Auch weitere ähnliche Komplexe wie Mn(NO)3CO mit der niedrigsten bekannten Oxidationsstufe −3 im Mangan sind bekannt. Mangafodipir ist ein leberspezifisches paramagnetisches Kontrastmittel, das für die Magnetresonanztomografie (MRT) zugelassen ist. Die kontrasterhöhende Wirkung beruht auf den paramagnetischen Eigenschaften von Mn2+-Ionen, die durch die fünf ungepaarten Elektronen bedingt sind. Die toxische Wirkung der Mn2+-Ionen wird beim Mangafodipir durch die Komplexierung mit dem Liganden Dipyridoxyldiphosphat (DPDP, bzw. Fodipir) unterdrückt. Für die Bildgebung der Leber ist es den Standard-MRT-Kontrastmitteln auf der Basis von Gadolinium überlegen.Das Metallocen des Mangans ist Manganocen. Dieses besitzt im Vergleich zu Ferrocen ein Elektron weniger und somit entgegen der 18-Elektronen-Regel nur 17 Elektronen. Trotzdem kann es wegen der günstigen High-Spin-d5-Konfiguration nicht zu Mn+ reduziert werden und liegt im Festkörper in einer polymeren Struktur vor.Eine Übersicht über Manganverbindungen bietet die Kategorie:Manganverbindung. == Literatur == David B. Wellbeloved, Peter M. Craven, John W. Waudby: Manganese and Manganese Alloys. In: Ullmann's Encyclopedia of Industrial Chemistry. Wiley-VCH, Weinheim 2005 (doi:10.1002/14356007.a16_077). A. F. Holleman, E. Wiberg, N. Wiberg: Lehrbuch der Anorganischen Chemie. 102. Auflage. Walter de Gruyter, Berlin 2007, ISBN 978-3-11-017770-1, S. 1607–1620. Heinz Cassebaum: Die Stellung der Braunstein-Untersuchungen von J. H. Pott (1692–1777) in der Geschichte des Mangans. In: Sudhoffs Archiv. 63, 1979, Heft 2, S. 136–153. == Weblinks == Eintrag zu Mangan. In: Römpp Online. Georg Thieme Verlag, abgerufen am 29. März 2011. Mineralienatlas:Mangan (Wiki) == Einzelnachweise ==
https://de.wikipedia.org/wiki/Mangan
Åland
= Åland = Åland ([ˈoːland] ; auch Landskapet Åland finnisch Ahvenanmaa, auch Ahvenanmaan maakunta, in deutscher Amtssprache Ålandinseln) ist eine mit weitgehender politischer Autonomie ausgestattete Region Finnlands. Sie besteht aus der gleichnamigen Inselgruppe in der nördlichen Ostsee am Eingang des Bottnischen Meerbusens zwischen Schweden und dem finnischen Festland. Schwedisch ist die einzige Amtssprache der Region, die infolge einer Entscheidung des Völkerbundes aus dem Jahr 1921 als entmilitarisierte Zone zu Finnland gehört, aber ihre inneren Angelegenheiten weitgehend autonom verwaltet. Bestimmte politische und wirtschaftliche Rechte stehen auch finnischen Staatsangehörigen nur begrenzt zu. Die Wirtschaft der Inseln wird heute vom Fremdenverkehr und dem Schiffsverkehr bestimmt. Letzterer wird durch steuerliche Sonderregelungen begünstigt, die beim Verkehr mit Åland steuerfreien Einkauf ermöglichen. == Geographie == === Allgemeines === Die Inselgruppe besteht aus über 6700 Inseln und Schären und bildet einen Archipel am südlichen Eingang des Bottnischen Meerbusens in der nördlichen Ostsee. Åland reicht bis circa 40 km an die schwedische Küste und bis 15 km an die finnische Küste heran. Die Hauptinsel Fasta Åland mit etwa 90 % der Einwohner liegt im Westen, 40 km von der schwedischen und 100 km von der finnischen Küste entfernt. Die Inseln haben eine Landfläche von insgesamt 1552,38 km². Unter Einrechnung der Wasserflächen der Ostsee erreicht die Region eine Größe von 13.517 km². Die Gesamtzahl der Inseln beträgt 6757, wenn man als Mindestgröße einer Insel 0,25 ha ansetzt. Die auf 60 Inseln verteilte Gesamteinwohnerzahl von 30.074 Menschen ergibt eine Bevölkerungsdichte von 18,4 Einwohnern/km². Åland ist eine relativ flache Inselgruppe. Der höchste Berg ist der Orrdalsklint im Norden von Fasta Åland (Gemeinde Saltvik) mit 129 m Höhe. === Geologie === Die Inseln Ålands bestehen zum größten Teil aus metamorphen und magmatischen Gesteinen, die oft als Fels zum Vorschein treten. Sie sind präkambrischen Alters (circa 1,6 Milliarden Jahre) und gehören zum Baltischen Schild. Vor allem im östlichen Teil der Inselgruppe steht Gneis an. Auf der Hauptinsel und in ihrer Umgebung findet man meist Granite. Bekannt bei Geologen ist die auf den Inseln vorkommende rötliche Granitvarietät Rapakiwi, die man auch sehr häufig in Norddeutschland als eiszeitliches Geschiebe findet. Die Landschaft wurde von den Vereisungen des Eiszeitalters geprägt. Typisch sind Rundhöckerlandschaften und Schären. In der letzten Eiszeit wurde das Land von den Eismassen vollständig unter den Wasserspiegel gedrückt, so dass nach dem Abschmelzen der Gletscher die Ålandinseln fast komplett von Wasser bedeckt waren. Seit etwa 13.000 Jahren hebt sich das Land allmählich aus dem Meer, beginnend mit dem höchsten Punkt Ålands, dem Orrdalsklint. Im Laufe der Zeit stieg das Land weiter an und immer mehr Inseln bildeten sich. Dieser Prozess setzt sich bis heute fort: Åland steigt mit einer Geschwindigkeit von etwa sieben Millimetern pro Jahr aus dem Meer empor. Dort, wo sich Meeresablagerungen (meistens Feinsande und Schluffe) in größerer Mächtigkeit (einige Meter) absetzen konnten, ist nach der postglazialen Landhebung Landwirtschaft möglich. Landwirtschaftlich nutzbar sind auch die Areale, auf denen die Gletscher beim Abschmelzen noch geringmächtige Sedimente auf den anstehenden Felsen ablagerten. === Klima === Das Klima auf Åland ist aufgrund der Insellage in der Ostsee im Vergleich zum schwedischen und finnischen Festland gemäßigt. Die Ostsee erwärmt im Winter die kalten Nordostwinde und kühlt im Sommer die heißen Südostwinde. Der jährliche Niederschlag liegt bei durchschnittlich 541 mm pro Jahr und ist damit geringer als auf dem schwedischen und dem finnischen Festland. Die Jahresdurchschnittstemperatur liegt bei 5,5 Grad Celsius. Die höchste jemals auf Åland gemessene Temperatur betrug 31,3 Grad Celsius, die niedrigste −32,4 Grad Celsius. Die Durchschnittswerte für die einzelnen Monate des Jahres aus den Jahren 1971 bis 2000 sind der untenstehenden Klimatabelle zu entnehmen. === Flora und Fauna === Åland gehört zur Vegetationszone des borealen Nadelwaldes. Neben den vorherrschenden Tannen- und Fichtenarten gibt es jedoch auch zahlreiche Laubbäume, insbesondere Eichen, Eschen, Ulmen, Ahorne und Linden. Auf den Inseln wachsen auch viele Orchideenarten, von denen die meisten zu den etwa fünfzig unter Naturschutz stehenden Pflanzen gehören. In Åland sind 25 Säugetierarten beheimatet, darunter viele Nagetiere, aber auch Rothirsche und Rehe. Durch die Meerlage und das relativ milde Klima gibt es eine reichhaltigere Vogelwelt als auf dem finnischen Festland. Auf den Inseln brüten über 130 Vogelarten, darunter bedrohte Wasservögel wie die Bergente. Der Seeadler, der Mitte der 1970er Jahre in ganz Finnland praktisch ausgerottet war, kann nach erfolgreichen Schutz- und Wiederansiedlungsbemühungen in Åland in großer Zahl angetroffen werden. Von dem Jagdwild abgesehen stehen fast alle Tiere Ålands unter Naturschutz. == Bevölkerung == Die Bevölkerungszahl von Åland ist seit 1970 langsam, aber stetig gestiegen. Lebten 1970 noch 20.666 Menschen auf den Inseln, waren es Ende 2014 insgesamt 28.916, was einem Wachstum von etwa einem Prozent pro Jahr in diesem Zeitraum entspricht. Das Bevölkerungswachstum kommt vorwiegend von im übrigen Finnland oder im Ausland geborenen Einwohnern. 1970 machten sie noch rund 20 % aus, heute sind es rund 35 %. === Sprache === Einzige offizielle Sprache Ålands ist gemäß § 36 Abs. 1 und 2 des Selbstverwaltungsgesetzes Schwedisch. Die große Mehrheit der Åländer Bevölkerung, derzeit 88,3 % (Stand Ende 2014), gibt Schwedisch als Muttersprache an. Allerdings sinkt dieser Anteil leicht: 1990 betrug er noch 94,5 %.Der auf Åland gesprochene schwedische Dialekt, das Åländische (åländska), steht dem in Schweden gesprochenen Reichsschwedischen näher als dem von der schwedischsprachigen Minderheit in Finnland gesprochenen Finnlandschwedischen. Auch innerhalb des Åländischen gibt es noch einige unterschiedliche Dialekte. So sprechen die Einwohner im Westen der Inselgruppe (in den Gemeinden Eckerö und Hammarland) einen Dialekt, der dem Reichsschwedischen mehr ähnelt als andere åländische Dialekte. In den östlichen Schären wird ein Schwedisch mit leicht finnischem Akzent gesprochen (vor allem auf Brändö). Der åländische Dialekt verfügt über eine Reihe von eigenständigen Wörtern, die es weder auf dem schwedischen Festland noch im Finnlandschwedischen gibt. Als Beispiele seien genannt: inga statt inte (nicht) blystra statt vissla (pfeifen) byka statt tvätta (waschen)Eine Minderheit von 4,8 % der Einwohner Ålands gibt als Muttersprache Finnisch an. Diese ist schon seit langem die mit Abstand größte Minderheitensprache; sie wies bis ungefähr 2010 mehr Muttersprachler auf als die sonstigen Sprachen zusammen. Mittlerweile machen die Muttersprachler anderer Sprachen zusammengenommen 6,9 % aus. Die derzeit (Stand Ende 2014) meistvertretenen Sprachen in dieser Gruppe sind Lettisch und Rumänisch mit je 1,0 %, gefolgt von Estnisch 0,7 %, Russisch 0,5 % und Thailändisch 0,5 %. === Religion === Soweit sich die Åländer zu einer Glaubensgemeinschaft bekennen, gehören sie praktisch ausschließlich der Evangelisch-Lutherischen Kirche Finnlands an. Die Åland-Inseln gehören seit 1923 zum Bistum Borgå (auch Bistum Porvoo), das die schwedischsprachigen Regionen Finnlands betreut. Die Propstei Åland des Bistums Borgå besteht aus zehn Gemeinden. Heute (Stand Ende 2014) gehören 78,3 % der Åländer dieser Kirche an. Nur eine Minderheit von 1,2 % gehört einer Freikirche oder einer anderen Glaubensgemeinschaft an (Zeugen Jehovas 0,2 %, Römisch-Katholisch 0,3 %, Griechisch-Orthodox 0,3 %, Sonstige 0,3 %).Die Zahl der Konfessionslosen ist in den vergangenen Jahren angestiegen, von 4,7 % im Jahr 1990 auf 20,5 % im Jahr 2015. == Geschichte == === Vorgeschichte === In der Steinzeit siedelten sich erste Fischer und Seehundjäger auf der entstehenden Inselgruppe an (Jettböle). Die ersten Bronzegegenstände, zunächst Schmuck, bald auch Waffen, erreichten Åland während des 1. Jahrhunderts v. Chr. und markierten den – in diesem Teil Europas späten – Beginn der Bronzezeit. Die Periode dauerte bis in das 4. Jahrhundert. Für die folgenden etwa 200 Jahre konnten keine Spuren menschlichen Lebens nachgewiesen werden, die Inseln waren anscheinend unbewohnt. Die Gründe für die Entvölkerung sind ungeklärt. Eine neue Welle von Siedlern erreichte die Inseln im 7. Jahrhundert aus dem Westen. Sie stellte die Vorfahren der heutigen Bevölkerung dar. Während der Eisenzeit und zur Zeit der Wikinger waren die Inseln relativ dicht besiedelt. An diese Zeit erinnern zahlreiche Gräberfelder und sechs Wallburgen, von denen die Wallburg Borge die größte ist. === Schwedische Zeit === Zum Zeitpunkt der schwedischen Reichsgründung im Hochmittelalter zwischen 1000 und 1300 war Åland unter der Herrschaft der Diözese Linköping. Åland wurde Teil des neuentstandenen schwedischen Reiches, lange bevor sich der Einflussbereich des Reiches auf das heutige Finnland ausdehnte. In diese Zeit fällt auch die Christianisierung der Inseln. Die Geschichte Ålands verlief in der Folgezeit synchron mit der Geschichte Schwedens. Aufgrund seiner Lage kam Åland dabei strategische Bedeutung zu. Dies führte bereits zur Errichtung der Burg Kastelholm durch Bo Jonsson Grip († 1386). Die Burg wurde 1388 erstmals urkundlich erwähnt. In den Wirren der Kalmarer Union wechselte die Burg mehrmals den Besitzer. Sie wurde 1440 von Karl Knutsson erobert, der sich vorübergehend die schwedische Königskrone sichern konnte. Svante Nilsson († 1512) übernahm Kastelholm 1480 für den dänischen König. Nachdem Svante allerdings die Seiten gewechselt hatte, übergab er die Burg 1497 an Sten Sture den Älteren, von dem die Burg wiederum an Gustaf Wasa überging. Nach heftigen Angriffen der Dänen wurde die Inhaberschaft zunächst 1502 durch ein Duell zwischen dem dänischen Feldherrn Lyder Frisman und Wasas Vertreter Henning von Brockenhus zugunsten der Dänen entschieden, welche die Burg jedoch nach zwei Jahren wieder aufgaben. In den folgenden Jahrhunderten rückte Åland aus dem Fokus des Geschehens. Der Burgbezirk verlor zunehmend an Bedeutung. Die Bewohner Ålands spürten dennoch die Auswirkungen der Kriegsunternehmungen des expandierenden Reiches. Sie hatten hohe Steuern zu leisten und Soldaten, hauptsächlich für die schwedische Flotte, abzustellen. Als Folge des Großen Nordischen Krieges geriet der größte Teil des heutigen Finnlands, insbesondere Åland, 1714 unter russische Besatzung. Die bis 1721 andauernde gewalttätige Herrschaft der russischen Marine führte dazu, dass in diesen Jahren ein Großteil der åländischen Bevölkerung nach Schweden floh. Ein weiterer Krieg führte zur erneuten Besetzung Ålands von 1741 bis 1743. Erneut flohen viele Einwohner, jedoch war diese Besatzungszeit von weniger Übergriffen geprägt. === Russische Zeit === Der Burgbezirk Åland ging 1809 im Zuge des Friedens von Fredrikshamn zusammen mit Festland-Finnland an das Zarenreich und wurde Teil des autonomen Großfürstentums Finnland. Russland baute auf den Inseln die Befestigungsanlage Bomarsund. Während des Krimkrieges landeten am 8. August 1854 französische Truppen auf Åland. Sie belagerten und bombardierten die Festung acht Tage lang, bevor sich die Besatzung ergab. Vor ihrem Abzug zerstörten die Franzosen die Festung. Nach dem Krieg wurden die Inseln auf Verlangen von England und Frankreich demilitarisiert. Russland verpflichtete sich im Pariser Friedensvertrag von 1856, Åland nicht zu befestigen. Während des Ersten Weltkrieges brachte Russland mit Einverständnis der Verbündeten England und Frankreich erneut Truppen nach Åland und begann wieder mit der Befestigung der Inseln. Rechtsgerichtete Kreise in Schweden nahmen dies zum Anlass, den Kriegsbeitritt auf deutscher Seite zu fordern und Åland dem schwedischen Königreich anzuschließen. === Finnland oder Schweden? === Die russische Februarrevolution im Jahr 1917 führte in Finnland zu turbulenten politischen und gesellschaftlichen Entwicklungen, die am 6. Dezember des Jahres in die Unabhängigkeitserklärung des finnischen Parlaments mündeten. Gleichzeitig schwand die Disziplin der in Finnland stationierten russischen Streitkräfte. In Åland kam es 1917 vermehrt zu gewaltsamen Übergriffen gegen die Bevölkerung. In der Folge wurde auch in Åland offen über einen Anschluss an Schweden nachgedacht. Im Winter 1917/18 sammelten Aktivisten in der rund 21.000 Einwohner zählenden Inselgruppe über 7000 Unterschriften unter eine Adresse, die den Anschluss an Schweden forderte.Der Ausbruch des finnischen Bürgerkrieges Ende Januar 1918 leitete für Åland eine Phase turbulenter Ereignisse ein. Das weiße Schutzkorps aus Uusikaupunki, das zu Anfang des Krieges im Hinterland des Roten Finnland operierte, zog sich am 7. Februar nach Åland zurück und übernahm, während sich die russischen Truppen neutral verhielten, die Kontrolle über die Inseln. Am 20. Februar trafen schwedische Kriegsschiffe ein und erklärten, von der schwedischen Regierung zum Schutz der Åländer Zivilbevölkerung gesandt worden zu sein. Die russischen Truppen verließen die Inseln ebenso wie das finnische Schutzkorps. Zur Entwaffnung des Letzteren hatte der finnische Botschafter in Stockholm scheinbar sein Einverständnis gegeben. Tatsächlich war ein entgegengesetztes Telegramm an den Botschafter vom Oberbefehlshaber der weißen Armee in Finnland, Carl Gustaf Emil Mannerheim, durch den schwedischen Seeminister Erik Palmstierna abgefangen worden.Die schwedische Präsenz in Åland blieb kurz. Das bürgerliche Finnland hatte sich inzwischen an das Deutsche Reich gewandt, um Hilfe im Bürgerkrieg zu erhalten. Mit Einverständnis von Edvard Hjelt als Vertreter der weißen Regierung in Berlin landeten deutsche Truppen am 5. März 1918 in Åland und besetzten die Inseln schnell (siehe: Finnland-Intervention), während sich die Schweden umgehend zurückzogen.Die deutschen Truppen verschwanden nach dem Zusammenbruch der deutschen Kriegsführung im November 1918. Åland blieb zunächst militärisch unbesetzt. Als Teil des alten finnischen Großfürstentums gehörte Åland formell zu Finnland. Der Anschluss an Schweden wurde jedoch weiterbetrieben. Führer der separatistischen Bewegung in Åland war der Zeitungsjournalist Julius Sundblom. In Schweden fand die Übernahme Ålands prominente Unterstützung in König Gustav V. und der Regierung unter Ministerpräsident Hjalmar Branting. Die schwedische Seite berief sich in erster Linie auf das Selbstbestimmungsrecht der Åländer, ein Prinzip, auf das sich immerhin die Finnen selbst bei ihren gleichzeitigen Ostkriegszügen nach Karelien beriefen.1919 versuchte Schweden zweimal vergeblich, die Ålandfrage auf die Tagesordnung der Friedenskonferenz von Versailles zu bringen. Finnland verabschiedete seinerseits im Frühjahr 1920 ein Gesetz, das Åland eine weitgehende Selbstverwaltung zugestand, sandte aber auch Streitkräfte auf die Inseln. Nachdem Finnland im Dezember 1920 in den Völkerbund aufgenommen worden war, wurde diesem die Ålandfrage schließlich auf britische Initiative zur Entscheidung vorgelegt. Nach dessen am 24. Juni 1921 ergangener Entscheidung sollten die Inseln im Staatsverbund Finnlands verbleiben. Jedoch seien zur Sicherung der Nationalität, der Sprache und der Kultur der schwedischsprachigen Bevölkerung der Inseln verschiedene Garantien zu geben. Ferner sollte der demilitarisierte Status der Inseln wiederhergestellt werden.Finnland akzeptierte die Bedingungen und setzte sie als Ergänzungen zu der bereits 1920 gewährten Selbstverwaltung in Kraft. Am 20. Oktober 1921 wurde in Genf ein Abkommen über die Demilitarisierung und Neutralität Ålands geschlossen, das mit Ausnahme der Sowjetunion alle Anrainerstaaten der Ostsee unterzeichneten. Die Befestigungen auf der Insel waren schon 1919 abgebaut worden. === Autonome Region Finnlands === 1922 fanden in Åland die ersten Wahlen statt, und am 9. Juni 1922 trat das åländische Parlament, das damals noch Landsting (heute Lagting) hieß, zu seiner ersten Plenarsitzung zusammen. Der 9. Juni ist seither åländischer Nationalfeiertag. Vom 23. bis 26. September 1941 kreuzte die sogenannte Baltenflotte der Deutschen Kriegsmarine unter dem Befehl von Vizeadmiral Otto Ciliax auf dem Schlachtschiff Tirpitz in der Ålandssee, um einen Ausbruch der sowjetischen Rotbannerflotte aus dem belagerten Leningrad zu verhindern.Am Ende des Zweiten Weltkrieges (1944) plante die deutsche Kriegsmarine ein Landungsunternehmen zur Besetzung der Inseln im Kampf gegen die Sowjetunion (Unternehmen Tanne West). Es wurde jedoch nicht durchgeführt, nachdem die Landung auf der Ostseeinsel Hochland gescheitert war (Unternehmen Tanne Ost). Am 3. April 1954 erhielt Åland seine eigene Flagge, die auf die historischen Beziehungen zu Schweden Bezug nimmt: ein rotes Kreuz auf gelbem Kreuz mit blauem Hintergrund. Der blaue Hintergrund mit gelbem Kreuz stellt die schwedische Flagge dar, das rote Kreuz auf dem gelben Kreuz stellt die alten schwedischen Farben für Finnland dar (Farben des finnischen Wappenlöwen). Åland hat seit 1984 eigene Briefmarken und seit 1993 das eigene Postunternehmen Åland Post. Die Mehrzahl der Einwohner Ålands verhält sich gegenüber dem finnischen Hauptland weiterhin distanziert, jedoch ist man mit dem geltenden Autonomiestatus in der Regel zufrieden. Die Idee eines unabhängigen Ålands ist noch nie ein großes Thema gewesen, wenn auch dieser Gedanke langsam mehr Anhänger gewinnt (siehe Tabelle unten). Die Wiedervereinigung mit Schweden ist ebenfalls kein Thema mehr, obwohl sich Åland hauptsächlich an Schweden orientiert. == Politik == === Selbstverwaltung === Åland ist eine von 19 Landschaften (maakunta/landskap) Finnlands, nimmt aber durch seinen Autonomiestatus eine Sonderrolle ein. Das Selbstverwaltungsrecht Ålands ist in § 120 der Verfassung Finnlands verbürgt. Die Einzelheiten sind in einem eigenen Selbstverwaltungsgesetz geregelt, das heute in der Fassung vom 16. August 1991 in Kraft ist und im Rang der Verfassung gleichsteht. Åland verfügt für die Beschlussfassung in Selbstverwaltungsangelegenheiten über ein eigenes Parlament, das Lagting ‚Landtag‘, sowie eine eigene Landschaftsregierung. Der Landtag wird alle vier Jahre in allgemeinen Wahlen gewählt. Die Åländische Landschaftsregierung (Ålands landskapsregering) wird vom Landtag ernannt. Der Landtag besitzt Gesetzgebungskompetenz für die Angelegenheiten, die der Selbstverwaltung unterfallen. Zu diesen Angelegenheiten gehören praktisch alle Regelungen der inneren Verwaltung, des örtlichen Wirtschaftslebens, der Sozialfürsorge sowie der inneren Ordnung. Beim finnischen Staat verbleiben die Kompetenzen in der Außenpolitik, der größte Teil des Zivil- und Strafrechts, die Organisation der Gerichte sowie Zoll- und Steuerangelegenheiten. Die in Åland tätigen politischen Parteien sind organisatorisch völlig unabhängig von den im übrigen Finnland tätigen Gruppierungen. Wahlergebnisse der letzten fünf Wahlen: Åland ist Mitglied des Nordischen Rats. Am 5. September 2007 wurde dort das Ålandsdokument beschlossen, das den Autonomiegebieten Åland, den Färöern und Grönland die gleichwertige Mitgliedschaft im Nordischen Rat ermöglichen soll. === Verhältnis zu Finnland === Åland nimmt wie alle anderen Teile Finnlands an den in Finnland abgehaltenen allgemeinen Wahlen, insbesondere den Wahlen zum finnischen Parlament und zum Europäischen Parlament sowie der Direktwahl des Präsidenten teil. Bei den Wahlen zum finnischen Parlament bildet Åland einen eigenen Wahlkreis. Der autonomen Inselgruppe steht nach § 25 der finnischen Verfassung unabhängig von der Bevölkerungszahl einer der 200 Sitze im Parlament zu. Unabhängig von der Parteizugehörigkeit schließt sich der Vertreter Ålands im Parlament Finnlands regelmäßig der Fraktion der Schwedischen Volkspartei an. Seit der Wahl von 2015 wird der Sitz Ålands von Mats Löfström vom Åländischen Zentrum eingenommen. Die Bewohner Ålands sind Staatsangehörige Finnlands. Aufgrund des Selbstverwaltungsgesetzes gibt es aber parallel dazu ein sog. Heimatrecht (Hembygdsrätt), das in seinen Funktionen einer åländischen Staatsangehörigkeit ähnelt. An den Wahlen zum Landtag dürfen aktiv wie passiv nur Personen mit åländischem Heimatrecht teilnehmen. Auch der Erwerb von Grundeigentum auf den Inseln sowie die Aufnahme einer unternehmerischen Tätigkeit setzen in der Regel das Heimatrecht voraus. Das åländische Heimatrecht kann nur von finnischen Staatsangehörigen erworben werden, die mindestens fünf Jahre ununterbrochen in Åland gewohnt haben und der schwedischen Sprache mächtig sind. Verbindungsorgan zwischen der nationalen Regierung und der autonomen Region ist die Ålandabordnung (Ålandsdelegation). Dieser sitzt der Landeshauptmann (landshövding) vor, der vom finnischen Präsidenten im Einvernehmen mit dem Landtag ernannt wird. Die finnische Regierung sowie der åländische Landtag entsenden jeweils zwei weitere Mitglieder. == Verwaltungsgliederung == Åland besteht aus 16 Gemeinden. Hauptort und einzige Stadt Ålands ist Mariehamn. Die Schärengemeinde Sottunga ist mit 111 Einwohnern die kleinste Gemeinde Finnlands. Die Gemeinden Ålands gruppieren sich in drei Verwaltungsgemeinschaften (ekonomisk region). Die Gemeinden auf der Hauptinsel außer Mariehamn gehören der Gemeinschaft Åländer Land (Ålands landsbygd), die Gemeinden auf den Nebeninseln der Gemeinschaft Åländer Schären (Ålands skärgård) an. Mariehamn bildet eine eigene Verwaltungsgemeinschaft. == Wirtschaft == === Allgemeines === Åland gehört mit Finnland zur Europäischen Union. Aufgrund des Protokolls Nr. 2 des Vertrages zum Beitritt Finnlands zur Europäischen Gemeinschaft ist Åland allerdings von der Anwendung der gemeinschaftlichen Vorschriften zur Angleichung der Umsatz- und Verbrauchsteuern ausgenommen. Als Konsequenz besteht zwischen Åland und dem Rest der Europäischen Union, auch zum finnischen Festland, eine Steuergrenze. Warentransporte von und nach Åland müssen daher eine Zollabfertigung durchlaufen. Wegen der Steuergrenze ist auf Reisen von Finnland oder Schweden nach Åland aber auch weiterhin steuerfreier Einkauf möglich. Die offizielle Währung ist wie im restlichen Finnland der Euro, jedoch kann auf Åland oft auch mit der Schwedischen Krone bezahlt werden. Die Wirtschaft Ålands ist durch eine hohe Quote von kleinen und mittleren Unternehmen geprägt. Es sind etwa 2600 Unternehmen tätig. Von diesen gehören etwa 700 zum traditionellen Landwirtschaftssektor. In etwa 90 Prozent der Unternehmen sind weniger als zehn Arbeitnehmer beschäftigt. Die Arbeitslosenquote ist seit Jahren sehr niedrig und in den Sommermonaten oft die niedrigste in Europa. Sie lag Ende September 2007 bei 2,0 Prozent. Wegen der großen Bedeutung des Tourismus wird der Arbeitsmarkt teilweise durch sommerliche Saisonarbeitsplätze geprägt, wodurch die Arbeitslosigkeit in dieser Zeit regelmäßig am niedrigsten liegt. === Verkehr und Tourismus === Neben dem traditionellen Hauptgewerbe der Landwirtschaft ist der Fremdenverkehr, insbesondere der Fährverkehr, in Åland zum bedeutendsten Wirtschaftszweig aufgestiegen. Begünstigt durch die Möglichkeit des steuerfreien Einkaufs produziert die Schifffahrt inzwischen 40 Prozent des åländischen Bruttosozialprodukts. In diesem Bereich werden mehr Arbeitnehmer benötigt, als auf dem åländischen Arbeitsmarkt verfügbar sind. Auf den åländischen Schiffen sind daher auch viele Arbeitnehmer aus Finnland und Schweden tätig. 2004 wurde Åland von 224.800 Gästen besucht. Die meisten Gäste kamen mit 111.400 aus Schweden, die zweitgrößte Gruppe stellte Finnland mit 92.500 Besuchern, und an dritter Stelle steht Deutschland mit 6700 Gästen. ==== Fährverkehr ==== Von Helsinki, Turku, Stockholm oder Tallinn aus fahren die großen Fähren der Reedereien Viking Line, Rederiaktiebolaget Eckerö und Tallink mit der Silja Line. Fährverbindungen bestehen auch zu den schwedischen Orten Kapellskär und Grisslehamn. Von der finnischen Seite kommt man auch mit den Schärenfähren von Osnäs, Kustavi und Galtby, Korpo nach Åland, die von Ålandstrafiken betrieben werden. Ålandstrafiken verkehrt mit ihren Schiffen auch zwischen den Inseln Ålands. ==== Luftverkehr ==== Der Flughafen Mariehamn befindet sich 3 km nordwestlich von Mariehamn. Der Flugplatz Kumlinge mit einem Hubschrauberlandeplatz befindet sich in der Verwaltungsgemeinschaft Åländer Schären. 2005 wurde unter Federführung der Landschaftsregierung Åland mit breiter Unterstützung der åländischen Wirtschaft eine eigene Fluggesellschaft, Air Åland, gegründet. 2012 wurde der Flugbetrieb wieder eingestellt und von der Fluggesellschaft Nextjet übernommen. Am 16. Mai 2018 erklärte NextJet die Insolvenz und stellte den Flugbetrieb ein. Aus den Teilen von Nextjet wurde die schwedische Air Leap, die im Juni 2018 den Flugbetrieb am Flughafen Mariehamn wieder aufnahm. Es gibt vom Flughafen Mariehamn regelmäßige Verbindungen nach Helsinki-Vantaa, Stockholm und nach Turku. ==== Straßenverkehr ==== Die Inseln verfügen über ein dichtes Straßennetz mit einer Gesamtlänge von 912,7 km, wovon 646,8 km asphaltiert sind. 2016 lag der Motorisierungsgrad in Åland bei 799 (Personenkraftwagen pro 1000 Einwohner). Die Buslinien auf Åland werden von Ålandstrafiken betrieben. === Land- und Forstwirtschaft === Die traditionellen landwirtschaftlichen Gewerbe sind in neuerer Zeit in ihrer Bedeutung hinter den Dienstleistungssektor zurückgetreten, nehmen aber unverändert eine wichtige Rolle im åländischen Wirtschaftsleben ein. 2004 waren 5,3 % der Arbeitnehmer in der Land- oder Forstwirtschaft beschäftigt. Auch die Industrie Ålands, in der 9,8 % der Arbeitnehmer tätig sind, steht mehrheitlich mit der Veredelung von landwirtschaftlichen Erzeugnissen und Fischereiprodukten in Verbindung. Von der Landfläche Ålands sind 9 % Ackerland, 4 % Weideland und 58 % Wald. Die Hauptprodukte der Landwirtschaft Ålands sind Zuckerrüben (44.514 Tonnen im Jahr 2004), Kartoffeln (15.969 Tonnen), Zwiebeln (5669 Tonnen), Gerste und Hafer (5597 Tonnen) sowie Weizen (4836 Tonnen). In der Viehwirtschaft überwiegt die Milchproduktion (14.433 Tonnen). Die åländischen Fischer fuhren 2004 einen Fang von insgesamt 3300 Tonnen ein, überwiegend Heringe (2541 Tonnen). Die 36 Fischzuchten in der Region erzeugten im gleichen Jahr einen Ertrag von 3210 Tonnen. == Kultur == Åland verfügt über ein – gemessen an der Einwohnerzahl – lebhaftes Kulturleben. Dieses wird in erster Linie von privaten Vereinen getragen. Fünfzig dieser Vereine werden aus den Erträgen der staatlichen (åländischen) Glücksspielgesellschaft unterstützt. Typisch für Åland ist der Midsommarstång – ein hoher Mast, der im Sommer in jedem Dorf aufgestellt wird, einem Maibaum ähnelt und mit Bändern in den Farben der åländischen Flagge geschmückt ist. Der Ursprung dieses Brauchs, der 1795 erstmals schriftlich erwähnt wurde, ist unbekannt. Typisch für Åland sind ebenfalls die zahlreichen kleinen Windmühlen, von denen noch rund 100 bis heute erhalten sind – ursprünglich verfügte jeder Bauernhof über eine eigene Windmühle.Weiteren Rückhalt erhält das kulturelle Leben in Åland durch die Tätigkeit des Nordischen Åland-Instituts (Nordens Institut på Åland), einer vom Nordischen Ministerrat getragenen Institution zur Förderung der åländischen Kultur. Das Institut hat unter anderem zahlreiche umfangreiche Theaterproduktionen ermöglicht, in denen sowohl Profischauspieler als auch Laien mitgewirkt haben. Die bäuerliche Kultur der Inseln wird im Freilichtmuseum Jan Karlsgarden dargestellt. Eine wichtige Rolle in der Kultur Ålands nimmt das Åländische Musikinstitut ein, das rund 300 Schüler beherbergt. Auch außerhalb des Instituts sind in Åland viele Chöre und Musikgruppen tätig. === Architektur === Die Architektur Ålands weist kaum nennenswerte Eigenheiten gegenüber der finnischen und schwedischen Architektur auf. Kulturgeschichtlich bedeutsam ist aber die für finnische Verhältnisse hohe Dichte alter Bausubstanz. Aus der Eisenzeit sind sechs Wallburgen erhalten, von denen die Wallburg Borge in Finström die größte ist. Da die Inselgruppe bereits früh unter dem Einfluss des Schwedischen Reiches stand, ist auf Åland eine größere Zahl mittelalterlicher Gebäude erhalten. Hierzu gehören neben der aus dem 14. Jahrhundert stammenden Burg Kastelholm, einer von nur sieben Burgen im Gebiet des heutigen Finnlands, die 13 Feldsteinkirchen des Archipels. Der mittelalterliche Kirchenbau setzte auf Åland früher ein als auf dem finnischen Festland. So ist die zwischen 1275 und 1285 errichtete Kirche von Jomala wahrscheinlich das älteste erhaltene Gebäude Finnlands. Ein ähnlich hohes Alter erreichen die Kirchen von Lemland, Sund, Hammarland, Saltvik und Eckerö. Während die restlichen mittelalterlichen Steinkirchen Finnlands der Gotik zuzurechnen sind, zeigen die ältesten åländischen Kirchen noch romanische Einflüsse. Anders als auf dem finnischen Festland verfügen die Kirchen auf Åland meist nach dem Vorbild der Landkirchen Gotlands über einen Kirchturm. Das Innere der Kirchen ist mit Seccomalereien von teils hohem künstlerischem Wert ausgeschmückt. === Bildungswesen === Åland hat ein gut ausgebautes Bildungsnetz. Jede der 16 Gemeinden verfügt über eine Grundschule, in der die Schüler die ersten neun Schuljahre und damit die gesamte Dauer der Schulpflicht verbringen. Alle weiterführenden Lehranstalten, insbesondere die gymnasiale Oberstufe, sind in der Hauptstadt Mariehamn konzentriert. In Mariehamn werden auch zahlreiche Berufsausbildungen angeboten. In der Hochschule Åland (Högskolan på Åland) können Studenten verschiedene Fachhochschulabschlüsse machen. Für weitergehende universitäre Ausbildung müssen Universitäten außerhalb Ålands aufgesucht werden, wobei die große Mehrheit der åländischen Studenten, rund zwei Drittel, sich für die schwedischen Hochschulen entscheidet. === Medien === Auf Åland erscheinen zwei lokale Tageszeitungen. Die mit einer Auflage von rund 10.000 Exemplaren knapp größere, 1891 gegründete Tidningen Åland erschien traditionell an den fünf Werktagen nachmittags, bis sie 2007 auf morgendliches Erscheinen und sechs wöchentliche Ausgaben umstellte. Das seit 1981 bestehende Konkurrenzblatt Nya Åland erschien schon immer morgens und stellte ebenfalls 2007 von fünf auf sechs Ausgaben pro Woche um.1984 wurde auf Åland der erste åländische Rundfunk gegründet, Radio/TV Åland. Zuvor standen den Åländern nur die staatlichen finnischen Fernseh- und Radioprogramme, die auch schwedischsprachige Sendungen senden, sowie die Programme Schwedens zur Verfügung. Zunächst wurde 1984 der Radiobetrieb von Radio Åland aufgenommen. Seit Ende der 1990er Jahre haben sich daneben auch Steel FM, der sich vornehmlich an die jüngeren Leute richtet, und Soft FM etabliert. Daneben kann man auch die schwedischen Radiosender empfangen, die teilweise auch ein eigenes Lokalradio für Åland anbieten. Seit Oktober 2007 gibt es auf Åland zwei private Fernsehsender, TV Åland und Åland 24. === Sport === Ebenso wie die Kultur wird auch der Breitensport in Åland aus den Mitteln der staatlichen Glücksspielgesellschaft (PAF) gefördert. Auf den Inseln sind etwa sechzig Sportvereine aus allen Sommer- und Wintersportarten tätig. Zudem nimmt Åland an den Island Games teil. Im Sommer 1991 und 2009 fanden die Island-Games jeweils auf Åland statt. Im Fußball hat zuletzt der IFK Mariehamn für Aufsehen gesorgt, als er 2016 finnischer Meister wurde, nachdem er 2004 in die oberste finnische Liga (die Veikkausliiga, schwedisch: Tipsligan) aufgestiegen war und seitdem die Klasse halten konnte. 2017 war er für die zweite Qualifikationsrunde der UEFA Champions League qualifiziert, in der er jedoch ausschied. In den Jahren 2013 und 2016 hatte sich der Verein für die Qualifikation zur UEFA Europa League qualifiziert, scheiterte jedoch jeweils in der ersten Runde. Die Frauenmannschaft von Åland United gewann 2009, 2013 und 2020 die finnische Meisterschaft und wurde 2013 und 2014 Vizemeister. 2020 gewannen sie auch den finnischen Pokal. Diese Erfolgsgeschichte hat in Åland eine große Fußballbegeisterung ausgelöst. Andere åländische Fußballvereine spielen teilweise in den unterklassigen finnischen und teilweise in schwedischen Ligen. Größtes Fußballstadion und Heimat sowohl von IFK Mariehamn als auch von Åland United ist der 2005 in Wiklöf Holding Arena umbenannte Idrottsparken. Die 2005/2006 erbaute neue Haupttribüne hat 1650 Sitzplätze, insgesamt stehen 5637 Plätze sowie ein Restaurantbereich mit 120 Plätzen zur Verfügung. Das Stadion entspricht den UEFA-Anforderungen für internationale Pflichtspiele und Länderspiele. Der Leichtathlet Janne Holmén wurde 2002 für die finnische Mannschaft Europameister im Marathon. Am 13. Dezember 2008 schafften zunächst die Herren vom Volleyballverein Jomala IK, einen Tag später auch die Damen den Aufstieg in die höchste schwedische Spielklasse „Allsvenskan“. Eine ebenfalls beliebte Sportart ist das aus Schweden stammende Unihockey (schwedisch Innebandy). Es gibt auf der Insel mehrere Innebandyvereine und Ligen. == Literatur == Eija Mäkinen: Åland und sein Sonderstatus. In: Jahrbuch des Föderalismus. Nomos-Verlagsgesellschaft, Baden-Baden 2005, ISSN 1616-6558, S. 350–362. Markku Suksi: Ålands konstitution separat bilaga med författningstexter. Åbo 2005, ISBN 952-12-1566-6. Markku Suksi: The Åland Islands in Finland. In: Local self-government, territorial integrity and protection of minorities. Hrsg. v. Council of Europe. Ed. du Conseil de l'Europe, Strasbourg 1996, ISBN 92-871-3173-2, S. 20–50. Birgitta Roeck Hansen: Township and territory. A study of rural land-use and settlement patterns in Aland c. A.D. 500–1550 (= Acta Universitatis Stockholmiensis. Stockholm studies in human geography. Band 6). Almquist and Wiksell, Stockholm 1991, ISBN 91-22-01445-4. James Barros: The Aland Islands Question. Its settlement by the League of Nations. New Haven 1968. Norbert Burger: Die Selbstverwaltung der Alands-Inseln. Eine Studie über die Lösung einer Minderheitenfrage durch eine wirkliche Autonomie. Mit Vergleichen zur Südtirolfrage. Mondsee 1964. J. O. Söderhjelm: Demilitarisation et neutralisation des îles d’Aland en 1856 et 1921. Helsingfors 1928. Robert Fillips: Briefmarkenkatalog Åland-Spezial 2019. Katalogisierung sämtlicher Briefmarken, Sonderstempel von Åland. Kornwestheim 2018, ISBN 978-3-928470-22-3 (408 Seiten). Franz Schausberger: Regionalwahlen in Åland 1979–2007 (= Institut der Regionen Europas. Kurzstudien 2/2007). Salzburg, ISBN 978-3-902557-03-2. == Weblinks == www.finlex.fi/ Gesetz über die Selbstverwaltung Ålands (englisch, PDF; 68 kB) http://www.visitaland.com/de Touristeninformation (deutsch) http://www.aland.ax/ Offizielle Homepage (schwedisch, englisch) http://www.alandinseln.info/ Touristeninformation (deutsch) Musterautonomie Åland. In: Öffentliche Sicherheit, 07–08/2006; abgerufen am 28. Februar 2020. Matts Dreijer, The History of the Åland Islands, 1963. Tore Modeen, Völkerrechtliche Probleme der Åland-Inseln (PDF; 1,3 MB), 1977. Regierung und Parlament Åland: [1] Statistik- und Forschungsbüro Åland, Åland in Zahlen (PDF; 914 kB), 2010. == Einzelnachweise ==
https://de.wikipedia.org/wiki/%C3%85land